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German Pages 594 Year 2008
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 45
Verbindlichkeit Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft
Von
Heinrich Stieglitz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
HEINRICH STIEGLITZ
Verbindlichkeit
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 45
Verbindlichkeit Eine kritisch-realistische Bestimmung der Erkenntnis und des Wesens der Gesellschaft
Von
Heinrich Stieglitz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-12793-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
11
Erstes Kapitel Die Vorstellungen von der Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis
11
§ 1 Über das Vorverständnis der Gesellschaft und ihre unwillkürliche Erkenntnis
11
§ 2 Über die ausdrückliche Erkenntnis der Gesellschaft durch die Gesellschaftsphilosophie und die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Zweites Kapitel Die Bestimmung des „Menschen“ als eines im Ganzen gesellschaftlichen Wesens durch die herrschenden Gesellschaftswissenschaften
24
§ 3 Das „Wesen“ der Gesellschaft als „Struktur“ der humanen Existenz . . . . . . .
24
§ 4 Die Erkenntnis des Verhältnisses zwischen „Mensch“ und „Gesellschaft“ als nicht bewältigte wissenschaftliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Zweiter Teil Die Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft (Grundzüge der Entwicklungsgeschichte des Gesellschaftsdenkens und der Kritik ihrer Entwicklung)
68
Erstes Kapitel Die aus ihrer ursprünglich praktischen Erkenntnis zunehmend sich herausbildende theoretische Erkenntnis der Gesellschaft § 5 Die in der Lehre vom gesellschaftlichen Sollen verborgene Lehre vom gesellschaftlichen Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Auffassungen der Antike und ihre Folgen für das Mittelalter . . . . . . .
68
68 68
6
Inhaltsverzeichnis I. II. III. IV. V.
Das griechische Altertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Hellenismus zum Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sein und Sollen in der polis-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Idealrealismus der griechischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen des griechischen Idealrealismus für die Erkenntnis der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die christlich erfüllten Auffassungen der Antike im Mittelalter . . . . . . . .
68 73 75 80
§ 6 Die Ausbildung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . A. Die Entbergung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft im Übergang des Mittelalters zur Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Ausbau der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft in der Neuzeit I. Der Kartesianismus und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Bemühen um eine Benennung der Vergesellung von „Menschen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gesellschaft als Gesellschaft „einzelner Menschen“ . . . . . . . . . . IV. Die Gesellschaft als ein „menschliches Ganzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Zusammendenken von Einzelnheitlichkeit und Ganzheitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
84 92
95 122 122 127 130 141 154
Zweites Kapitel Der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein als realistische Urmodi des endlich Seienden § 7 Die gegenwärtige theoretische Erkenntnis der Gesellschaft im Streit der wissenschaftlichen Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die herrschende theoretische Erkenntnis der Gesellschaft in der Krise . . I. Das neuzeitliche humane Zusammensein als problematischer gesellschaftlicher Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Unvermögen der zeitgenössischen Gesellschaftsphilosophie, das Wesen der Gesellschaft zu bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die vielfach in sich zerfallende Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die rätselhafte Bestimmung der Soziologie im Allgemeinen . . . . . . V. Der Aufstieg der Soziologie zur akademischen Disziplin und ihr Verfall durch ihre Überschätzung als zeitgeschichtliche Schlüsselwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft als metagesellschaftliche und als gesellschaftsdefiziente Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Auffassung der bzw. einer Gesellschaft im herkömmlichen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158
158 158 158 162 167 181
206 219 225
§ 8 Die entdeckten Seinskategorien des Selbstandes und des Zustandes und die zu entdeckende Seinskategorie des Zusammenseins sowie die aus deren Verhältnissen folgenden seinskategorialen Ordnungsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Inhaltsverzeichnis A. Das Unbehagen im herkömmlichen realistischen Gesellschaftsdenken: Die Gesellschaft als Bestand personaler Beziehungen einerseits und als Bestand einer Sinneinheit aus Personen andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die humane Existenz in ihren Seinskategorien und auf ihren seinskategorialen Ordnungsstufen: Der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein sowie das Beisichsein und das Verbundensein . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die seinskategorial erweiterte realistische Erkenntnis der ursprünglichen Bestandsweise der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs über die Benennung der dritten ursprünglichen Seinsweise des endlich Seienden: Mitsein oder Zusammensein? . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nicht-realistische Bemühungen der Bestimmung des ersten Ursprungsgrundes des inneren Aufbaus der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die intuitiv bestimmte phänomenologische Erkenntnis des ursprünglichen Bestandes der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
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243
243 251
272
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Drittes Kapitel Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz § 9 Folgeprobleme der Erweiterung der realistischen Lehre von den Seinskategorien um die Seinskategorie des Zusammenseins auf dem Vollkommenheitsgrad des „menschlichen“ Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die bisher unerkannten Elemente der Existenz-Gestalten der humanen Existenz: Deren Seinsverhältnis als reale Differenz und als intentionale Identität sowie deren Verwirklichungsverhältnis als wechselseitige existentielle Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Grundzüge der Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Frage nach dem seelischen Sein der menschlichen ExistenzGestalt vor dem Hintergrund des Problembewußtseins der zeitgenössischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abriß einer sachlichen Erklärung der Seele bzw. des Seelischen als der „bestimmenden Form“ der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt: Der Mensch als Person, als Ich und als Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . § 10 Die humane Existenz als menschliche Existenz-Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die menschliche Existenz-Gestalt in ihren Existenzkategorien und in den ihnen zugeordneten Grundgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Mensch in seiner Befindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Mensch in seiner Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Mensch in seinem Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
300
300 318
318
325 340 359 359 378 383 392
8
Inhaltsverzeichnis B. Selbstzeugnisse der als Einheit ihrer Grundgestalten verwirklichten menschlichen Existenz-Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Dritter Teil Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft (Die universalwissenschaftlichen und die spezialwissenschaftlichen Grundfragen nach dem logos der societas) 419 Erstes Kapitel Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft § 11 Kleines Kompendium der realistischen Lehre von der Wissenschaft und damit auch von der realistischen wissenschaftlichen Lehre von der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Philosophie der Gesellschaft und Allgemeine Soziologie: Ihre wissenschaftssystematische Problematik als Universal- und als Spezialwissenschaft und ihre erkenntnistheoretische Problematik als empirische und als rationale Erkenntnisgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vom Erkennen zum Wissen und vom Wissen zur Wissenschaft . . . II. Die ersten und die nächsten Gründe als Ziel der universalwissenschaftlich-allgemeinen und der universalwissenschaftlich-besonderen sowie der spezialwissenschaftlichen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . III. Der Realismus als Erkenntnisgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Empirismus als Erkenntnisgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Rationalismus als Erkenntnisgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Lehre von den Seinsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Das Aufbaugeschehen und der Aufbaubestand der Gesellschaft . . . . . . . . . . . A. Die ersten Ursprungsgründe des inneren Aufbaus der Gesellschaft . . . . . I. Der Aufbau des Bestandskerns der Gesellschaft: Die Gesellschaft als endlich Seiendes (1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Aufbau des Bestandskerns der Gesellschaft: Die Gesellschaft als körperlich Seiendes (2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Aufbau der Bestandsfülle der Gesellschaft: Das Bewußtsein der Gesellschaft (3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Aufbau der Bestandsfülle der Gesellschaft: Die Ordnung der Gesellschaft (4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Verhältnis zwischen dem Bestandskern und der Bestandsfülle der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die ersten Ursprungsgründe des äußeren Aufbaus der Gesellschaft (5) . .
419
419
419 419
425 432 453 465 475 486 486 486 492 501 507 509 511
Inhaltsverzeichnis
9
Zweites Kapitel Grundzüge der Allgemeinen Soziologie § 13 Die Soziologie als einzelwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft . . . . . A. Die wissenschaftlich verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Ausdruck der Gesellschaft im gesellschaftsphilosophischen und im soziologischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Unterschied zwischen dem Umfang und dem Inhalt eines Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der weite und deshalb inhaltsarme Begriff der Gesellschaft in der Gesellschaftsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der inhaltsreiche und deswegen umfangarme Begriff der Gesellschaft in der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Ausrichtung der Grundfragen der Allgemeinen Soziologie nach den Grundfragen der Philosophie der Gesellschaft . . . . . . . . . . B. Das soziologische Erkennen der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft als Regelfall der herrschenden soziologischen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Formen der Allgemeinen Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die in sogenannten Ansätzen ausgebildete „Allgemeine“ Soziologie der eigenen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Allgemein-soziologische Systementwürfe aus der frühen Zeit der deutschen Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gesellschaft als Beziehung: Georg Simmel (1858–1918) . . . . . . . . . II. Gesellschaft als Gruppe: Alfred Vierkandt (1867–1953) . . . . . . . . . . III. Gesellschaft als Gebilde (Organismus-Analogien) . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesellschaft als Handeln: Max Weber (1864–1920) . . . . . . . . . . . . . . V. Gesellschaft als Wandeln: Hans Freyer (1889–1969) . . . . . . . . . . . . . VI. Gesellschaft als Gestalten: Gerhard Mackenroth (1903–1953) . . . . . VII. Gesellschaft als Gemeinschaft und Gesellschaft: Ferdinand Tönnies (1855–1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Gesellschaft als Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517 517 517 517 517 518 519 520 522 525 525 527 527 529 530 533 535 536 538 539
Drittes Kapitel Die Allgemeine Soziologie und die Besonderen Soziologien
541
§ 15 Eine Gesellschaft als Bestand im Ganzen und in ihren Teilen . . . . . . . . . . . . . 541 A. Die Auffassung einer Gesellschaft durch die Allgemeine Soziologie und durch die Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 I. Die soziologische Erkenntnis einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und in ihren Bereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
10
Inhaltsverzeichnis II.
Die herrschenden Auffassungen vom Verhältnis zwischen der Allgemeinen Soziologie und den Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . 541 B. Die Bereiche der Gesellschaft und ihr Erkennen durch die Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 § 16 Versuch einer Einteilung der Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die bestehenden Auffassungen von der Ordnung der Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Vorschlag einer sinnvollen Einteilung der Besonderen Soziologien . . . . . . I. Der Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Ziel der Einteilung der Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . III. Die Gliederung der Besonderen Soziologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
546 546 548 548 548 549
Vierter Teil Das Wirksamsein der Gesellschaft
551
Erstes Kapitel Die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit
551
§ 17 Die Gesellschaft als Realität und als Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 § 18 Das wirksame Denken der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Zweites Kapitel Kritische Aufgaben der theoretischen Erkenntnis einer Gesellschaft
559
§ 19 Die Wahrung der Sozialität einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 § 20 Die Wahrung der Lebendigkeit des sozialen Bewußtseins einer Gesellschaft 563 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Verzeichnis der Tafeln Tafel Tafel Tafel Tafel Tafel Tafel
der der der der der der
Erweiterung der realistischen Seinskategorialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . psychischen Existenzkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ursprünglichen Gegenstände der Philosophie der Gesellschaft . . . . . . . . . sozialen Existenzkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ursprünglichen Gegenstände der Allgemeinen Soziologie . . . . . . . . . . . . . besonderen gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 364 486 492 521 548
Erster Teil
Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht Erstes Kapitel
Die Vorstellungen von der Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis § 1 Über das Vorverständnis der Gesellschaft und ihre unwillkürliche Erkenntnis Es gehört zur humanen Existenz, sich über die Dinge und über ihr eigenes Leben ein Bild zu machen. Üblicherweise heißen diese Bilder Vorstellungen. Unter einer Vorstellung versteht man einen Inhalt des Denkens bzw. im weitesten Sinn des Auffassens im äußeren oder im inneren Sinn, der auf einen Gegenstand gerichtet ist. In Vorstellungen stellen sich „Menschen“ in Gedanken und Veranschaulichungen Etwas vor Augen. Sie bringen Etwas zur Darstellung, wie man sagt. Besteht diese Darstellung in einer Vergegenwärtigung früherer Auffassungen, spricht man von Gedächtnisbildern. Werden Grundbestände von Auffassungen frei miteinander verbunden, sind diese Vorstellungen Phantasiebilder. Sie heißen auch Einbildungen. Die Lehre von den Vorstellungen bemüht sich darum, ihre Beschaffenheit aufzuspüren und zu bestimmen. Zum ersten versucht sie, ihren Herkunftsort zu ermitteln. Sie fragt also danach, in welchem Maße sie den Wahrnehmungen entstammen bzw., diese verarbeitend, dem menschlichen Geist entspringen. Zweitens geht sie der Art der Verursachung der Vorstellungen nach. Wie es scheint, ist es das tätige Bewußtsein, das aufgenommene Inhalte durch ihre Freisetzung hervorbringt, die Vorstellungen also auslöst. Dabei treten diese Vorstellungen stets als Zusammenhänge einzelner Gedankeninhalte auf, also als Vorstellungstypen. Denn die verschiedenen Darstellungen sind bald mehr dem Schauen, bald mehr dem Hören verpflichtet, wobei diese sich teils auf Bestände, teils auf Bewegungen richten. Hierbei kann einerseits deren Gestalt, andererseits deren Farbigkeit überwiegen. Die so bestimmten Typen unterscheiden sich sodann dadurch, daß manche leicht hervorgebracht und erhalten werden können, für die Hervorbringung anderer Gedankenbilder jedoch rechte Mühe
12
1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
aufgewendet werden muß. Zum dritten kommt es darauf an, die Stärke der Vorstellungen zu erforschen. Nicht ohne Grund gelten sie gegenüber der Realität als schwach. So lautet das Urteil jedenfalls zunächst. Denn Vorstellungen sind nur eine „Ansicht“ des wahrhaft Bestehenden. Dem entgegen heißt es, daß sie nicht weniger real sind als die Realität. Womöglich übertreffen sie sogar deren Bestehen. Um dies zu belegen, wird auf die sogenannten Anschauungsbilder hingewiesen, die so mächtig sein können, daß sie imstande sind, die wahrnehmungsbestimmten Empfindungsbilder zu beherrschen. Des weiteren kennt man Vorstellungen, die die Gewalt einer inneren Nötigung besitzen. Sie heißen Zwangsvorstellungen. Der Zwang dieser Vorstellungen kann sich derart steigern, daß das Gedankenbild das Bild der Realität verdrängt. Ist das der Fall, spricht man von einer Trugwahrnehmung, also von einer Vorstellung, die Etwas vortäuscht. Ein solches Trugbild eines Gegenstandes entsteht dadurch, daß die Einbildung die aufgenommenen Inhalte derart beeinflußt, daß aus dem Bild, das sie bieten, ein Trugbild von ihnen wird. Die Darstellung eines Gegenstandes wird zu einer Darstellung seines Scheins. In diesem Fall ist die Vorstellung eine Illusion. In dieser illusionären Darstellung wird der Gegenstand nicht so dargestellt, wie er real da ist. An seine Stelle setzt sich der Anschein, daß er so beschaffen ist. Fragt man nach dem Grund, aus dem „Menschen“ sich einer Illusion hingeben, muß man wohl antworten, daß sie meinen, sich dadurch das Leben erleichtern zu können. Indem sie die reale Vorstellung aufheben und sie durch die Selbsttäuschung ersetzen, hoffen sie, sich von der Vorstellung der oft nüchternen Realität befreien zu können. Aber damit nicht genug. Denn wie man weiß, können die Trugwahrnehmungen einen solchen Realitätscharakter annehmen, daß sie zur Darstellung von Gegenständen werden, die es überhaupt nicht gibt. Dabei kann man absehen von den Vorstellungen, die durch Krankheiten hervorgerufen werden. Zu ihnen zählen Wahnvorstellungen, Euphorien, Halluzinationen und dergleichen. Sie sind zu unterscheiden von Trugwahrnehmungen, die das Bewußtsein gesunder humaner Existenzen auslöst. Sie bezeichnet man als Schwärmereien, Traumbilder und ähnlich. Zu ihnen zählen auch manche sogenannte Ideologien und Utopien. Sie sind nicht-verwirklichungsfähige Wunschvorstellungen insbesondere der Verbesserung der Welt. Blickt man auf das Ganze dieser vielfältigen Beschaffenheit der Vorstellungen, dann stellt sich die Frage nach den Folgen, die sie für das humane Existieren besitzen. Im vorliegenden Zusammenhang hat diese Frage ein besonderes Gewicht. Daß die „Menschen“ Vorstellungen auch von der Gesellschaft besitzen, ist unmittelbar aus dem Bewußtsein gewiß. Vom Anfang ihrer Existenz an bis zu ihrem Ende lösen sie diese Vorstellungen aus. In ihnen veranschaulichen und denken sie ihre Existenz als Wesen, die miteinander verbunden sind. Sind diese Vorstellungen einmal entwickelt, sind sie in der Regel auch existentiell wirksam. Ihre zumeist allgegenwärtige Wirksamkeit ist vor allem für die Erkenntnis der Gesellschaft folgenschwer. Sie ist nicht weniger als ihre Bedingung im Sinn
1. Kap.: Die Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis
13
ihrer realen Voraussetzung. Sie besteht des näheren als ein voraufliegendes Verstanden-Haben. Üblicherweise wird es als Vorverständnis bezeichnet, da es zeitlich und sachlich vor dem Erkennen da ist. Es ist die Versammlung von Bestimmungen eines Gegenstandes, die darauf zielt, ihn zu erschließen. Das gilt auch von den Bedingungen seines Seinshorizontes, d.h. dessen, was er real zu Ende zu bringen imstande ist. In diesem Vorverständnis ist die Gesellschaft also auf diese oder jene Weise, wie angedeutet, schon immer bekannt. Mit anderen Worten: Wer sich bemüht, die Gesellschaft zu erkennen, der hat sie irgendwie bereits erkannt. In ihrem Vorverständnis der Gesellschaft stellen die „Menschen“ innerlich dar, was es mit der Gesellschaft auf sich hat. Es ist üblich, zwei verschiedene Vollzugsweisen des Erkennens zu unterscheiden. Die erste Weise des Erkenntnisvollzugs ist das unwillkürliche Erkennen. Man spricht auch vom nicht-ausdrücklichen oder alltäglichen Erkennen. Die zweite Form ist das absichtsvolle Erkennen, das auch ausdrückliches oder außeralltägliches Erkennen heißt. Das unwillkürliche Erkennen achtet nicht darauf, daß ihm ein Vorverständnis zugrunde liegt. Es läßt es auf sich beruhen, d.h. es läßt es eingewoben sein in die selbstverständlich vollzogene humane Existenz. Deswegen ist dieses Erkennen der Gesellschaft von seinem Grunde her ein ursprüngliches oder natürliches Erkennen, seiner Form nach ein bildhaftes und seinem Inhalt nach ein vor-rationales, d.h. ein „ganzmenschliches“ Erkennen. Es wird zusammenfassend bisweilen auch als naives Erkennen bezeichnet. Von diesem Erkennen unterscheidet sich das sogenannte kritische Erkennen. Es hat seinen Grund in der spontan möglichen Erfassung des Vorverständnisses als Vorverständnis sowie des Erfassens des unwillkürlichen Erkennens als dieses. Die Fähigkeit dazu besitzt die humane Existenz im Reflektieren-Können, d.h. in der vergleichenden und prüfenden Besinnung auf das, worauf sie sich zuvor schon besonnen hat, ohne daß dies jedoch ausdrücklich geschah. Indem die reflexive Besinnung solchermaßen um sich weiß und sich damit der Zugehörigkeit zur selbstverständlichen humanen Existenz gleichsam entwindet, begründet sie das absichtsvolle Erkennen der Gesellschaft. Da es sich der möglichen Fehler im Erkennen bewußt ist, bemüht es sich, alle Feststellungen und Einsichten sowie deren Begründungen so zu prüfen, daß der Erkenntnisweg nachvollzogen werden kann, d.h. es verfährt methodisch. Dieses Streben nach Wissen weitet sich zur Wissenschaft, wenn es das Ganze eines Gegenstands(bereichs) erkennen will, also gliedernd und ergründend verfährt. Die Frage, ob jenes wie dieses Erkennen gleichermaßen fähig ist, zu begründeten und sicheren Erkenntnissen zu gelangen, zählt zu den nach wie vor strittig erörterten Fragen. Teilt man in diesem Streit den realistischen Standpunkt, dann ist man davon überzeugt, daß zwischen dem Sein und dem Denken ein Geben und ein Nehmen besteht. Deswegen wird man der Ansicht nicht zustimmen, daß dem Erkennen, das vom Reflexionsstandpunkt seinen Ausgang nimmt, der Vorrang zukommt. Aber wie immer es mit dieser Frage bestellt sein mag, an dieser
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
Stelle ist sie nicht weiter zu verfolgen. Die Untersuchung hat sich vielmehr dem unwillkürlichen sowie dem ausdrücklichen Erkennen der Gesellschaft im Allgemeinen zuzuwenden, wie es sich heute fassen läßt. Die Vorstellung von der Gesellschaft im Allgemeinen oder, hinsichtlich des Bemühens um ihre unwillkürliche Erkenntnis genauer gesagt, das Vorverständnis der Gesellschaft im Allgemeinen, ist ein Bewußtseins- bzw. Denkinhalt von „Menschen“ ihrer Zeit. Ein Erkennen dieser Art besitzen vor allem diejenigen unter ihnen, die diese Gesellschaft bilden. Denn sie vermögen das Vorverständnis unvermittelt hervorzubringen. Als Bewußtseins- bzw. Denkinhalt gehört dieses Vorverständnis zum Innen-Sein der „menschlichen“ Existenz. Will diese einer anderen „menschlichen“ Existenz ihre Darstellung, mit der sie eine oder die eigene Gesellschaft im Allgemeinen meint, zur Kenntnis bringen, dann ist sie gehalten, sich zu äußern. Sie sieht sich genötigt, ihren inneren gedanklichen Bestand nach außen zu wenden. Sie muß ihm Ausdruck geben, wie man sagt. Es ist dieser Ausdruck, der das Verborgene offenkundig macht. Das Zum-Ausdruck-Bringen ist also der Vorgang und das Ergebnis der Äußerung eines Inneren. Zahlreich sind die Probleme, die dieses Verhältnis zwischen der Gedankenwelt und der Sinnenwelt aufwirft. Aber sie müssen hier auf sich beruhen. Denn zu erörtern ist die Tatsache, daß es jenes Vorverständnis der Gesellschaft im Allgemeinen gibt und daß es zum Ausdruck gebracht wird. Die „menschlichen“ Ausdrucksformen des Vorverständnisses der Gesellschaft im Allgemeinen oder kurz, der Gesellschaft, sind vielfältig. Wie es scheint, sind wenigstens drei große Gruppen des Ausdrucks zu unterscheiden. Es sind die Artefakte, die Sinngestalten und die Zeichenzusammenhänge. Artefakte sind diejenigen Dinge, die die „Menschen“ als Kulturwesen schaffen. Dadurch sind sie unterschieden von jenem Geschaffenen, das die Natur hervorbringt. Zu den Kulturerzeugnissen zählen vor allem die handwerklichen und technischen Geräte sowie die Leistungen der Künste als Architektur, Plastik, Malerei, usw. Sinngestalten können diejenigen Formen des Ausdrucks heißen, bei denen die „Menschen“ ihre Körperlichkeit einsetzen, um ihre innere Gegenstandsdarstellung äußerlich faßbar werden zu lassen. Stärker auf die gesellschaftliche Eigenexistenz bezogen, geschieht dies in der Körperhaltung, im Mienenspiel, im Gestus, usw., eher die sachliche Beschaffenheit der Gesellschaft meinend, geschieht dies in Gewohnheiten, in der befolgten Sitte, im Ritual, usw. Die Zeichenzusammenhänge endlich sind einerseits von natürlicher Art. Die Gesellschaft besitzt sie zum Beispiel in ihren Versammlungsorten, in Feiertagsrhythmen und dergleichen. Andererseits sind sie das Ergebnis einer Übereinkunft unter „Menschen“. Solche verabredeten Zeichen der Gesellschaft sind beispielsweise die Höflichkeitsformen, die Verkehrszeichen und Ähnliches. Gleichsam zwischen jenen und diesen Zusammenhängen liegen die Symbolzusammenhänge. Sie sind Zusammenhänge solcher Elemente, die Sinnbilder heißen. Als Sinnbilder bezeichnet man diejenigen Bilder, also anschauliche Darstellungen,
1. Kap.: Die Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis
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die das sind, was sie darstellen. Hebt der Hausvater über seine Familie segnend die Hand, dann ist diese Hand kein bloßer Hinweis auf einen Segen, vielmehr ist diese Hand sein Segen. Im Symbol ist das Symbolisierte anschaulich da. Vielleicht ist der vorzüglichste Symbolzusammenhang, über den die Menschen verfügen, die Sprache. Sie scheint in ihren Lauten zunächst nicht mehr zu sein als der wahrnehmbare Ausdruck von übersinnlichen Gedanken. In Wirklichkeit stehen jedoch die Silben, Worte und Sätze für das, das sie sagen. Die Sinnbilder sind das, wovon sie sprechen. Das bedeutungtragende Wort Haus zum Beispiel steht für alles, was Haus ist, sei es im Sinn des in der Erfahrung begründeten oder des in der Einsicht gewonnenen Allgemeinbegriffs des Hauses. Bedenkt man, daß dieses Zur-Sprache-Bringen von inneren Darstellungen ebenso umfassend wie unterschiedsreich und gleichermaßen konkret wie abstrakt möglich ist, dann verwundert es nicht, daß die Sprache – und in ihrer Erweiterung die Schrift – unter allen Ausdrucksformen des „Menschen“ den ersten Platz einnimmt. Deswegen sind wir dieser Ausdrucksform in einer besonderen Weise verpflichtet. Will man in Erfahrung bringen, welches der Bestand der unwillkürlichen Erkenntnis einer Gesellschaft ist, also jener Erkenntnis der Gesellschaft im Allgemeinen, die sich maßgeblich auf das gesellschaftliche Vorverständnis gründet, dann tut man gut daran, darauf zu hören, was die Leute über die Gesellschaft reden. In diesem Zusammenhang sogleich an die Gesellschaftswissenschaften zu denken, ist abwegig. Denn auch die Personen, die die Wissenschaften von der Gesellschaft betreiben, sind zunächst alltägliche Angehörige ihrer Gesellschaft. Daß man in unseren Tagen nicht auf die Straßen und Plätze zu gehen braucht, um jene Erkenntnis in Erfahrung zu bringen, verdanken wir unserer Zivilisation. Sie gestattet das Studium des Ausschnitts, der für das Ganze steht. Wir genießen überdies den Vorzug, daß wir Schriftwerke besitzen, die in zusammenfassender Weise immer wieder aufs neue jene im Alltag geltenden Erkenntnisse der Gesellschaft formulieren. Das sind die Gründe, die es erlauben, eine sprachlich heute zuständige Auskunftsstelle zu bemühen.1 Sie ist in ihrer Denkform eine Sacherklärung des unwillkürlichen Erkennens der Gesellschaft. Aus diesem Grund stellt sie auch das Verständnis der eigenen Gesellschaft im Allgemeinen dar. Damit die nachfolgende Beurteilung dieses Gesellschafts-„Begriffs“ leichter verständlich ist, sei der Beleg, der über das Gemeinverständnis unterrichten soll, mit einer Bezifferung der Grundbestände des Alltagsurteils über die Gesellschaft versehen. Das also durch Gliederungsziffern ergänzte Zitat lautet wie folgt: Als Gesellschaft bezeichnet man „die (1) (3) Gesamtheit (1) (4) von Individuen, deren (2) (3) Zusammen- (5) leben und (2) (3) gemeinsames (5) Handeln (2) (3) in einem System (6) organisiert und (7) meist zweck1 Vgl. Gerhard Wahrig (Hrsg.), Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Dritter Band, Art. Gesellschaft, Wiesbaden/Stuttgart 1981, S. 184.
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
gebunden (8) ausgerichtet ist“. Dieses Verständnis der Gesellschaft gilt es zu studieren. Auf den ersten Blick möchte man meinen, daß ein Erkennen, das sich derart bemüht, die Gesellschaft in ihrem tagtäglich erlebten Bestand klar erfaßt. Unterscheidend wird umschrieben, was man meint, wenn man von der Gesellschaft spricht. Deswegen mag man sich eingeladen fühlen, den nächsten Schritt zu wagen. Er besteht in dem Versuch, zu den Gründen und Gewißheiten der unwillkürlichen Erkenntnis der Gesellschaft vorzudringen. Begibt man sich auf diesen Weg, stellen sich jedoch sogleich Schwierigkeiten ein. Sie sind der Grund, aus dem man über die zitierte Erklärung nicht hinauskommt, mehr noch: Daß sie sich in jeder Hinsicht als problematisch erweist. Was sagt denn, so wird man zurückfragen, jene Erklärung über die Gesellschaft? Ist das, was sie meint, vernünftig? Erfährt man Triftiges, worin das Gesellschaftliche der Gesellschaft besteht? Sodann: Erfährt man, welches die wesentlichen Eigenschaften sind, die sie auszeichnen? Bringt sie wenigstens in Umrissen die Gesellschaft als eine Existenzweise des „Menschen“ zum Ausdruck, die von anderen „menschlichen“ Daseinsweisen unterschieden ist? Nachdenklich geworden, sollte die folgende Erörterung aufmerksam jener Gliederung folgen, die sich dem zitierten Alltagsverständnis der Gesellschaft entnehmen läßt. Danach ist zunächst nach dem zu fragen, was eine Gesellschaft zur Gesellschaft macht. In der Sprache der Alten gesprochen, ist das die Frage nach dem Was-Sein oder dem Wesen der Gesellschaft. Ist diese Bestimmung des Wesens erkannt, stellt sich in einem zweiten Schritt die Aufgabe, die Eigenschaften zu bestimmen, die die Gesellschaft besitzt. Wenden wir uns dem unter (1) genannten Sachverhalt zu. Dem Vorverständnis folgend, besteht nach der zitierten Quelle die unwillkürliche Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft darin, daß sie eine Gesamtheit ist. Des näheren handelt es sich um eine Gesamtheit von „menschlichen“ Individuen. Von ihnen als solchen wird alsbald die Rede sein. Zunächst geht es darum, zu klären, was es bedeutet, wenn das, was die Gesellschaft zur Gesellschaft macht, als Gesamtheit bestimmt wird. Ist diese Bestimmung klar? Was leuchtet ein, wenn man von einer Gesamtheit spricht? Wie es scheint, ist die Rede von der Gesellschaft als einer Gesamtheit so griffig nicht. Wenn es aber so ist, dann ist sie auslegungsbedürftig. Folgt man der Auskunft jenes Sprachwerks, dann besagt der Ausdruck der Gesamtheit (von Individuen) mindestens ein Dreifaches: Als Gesamtheit kann verstanden werden (a) eine unbestimmte Zahl, näherhin die unbestimmte Zahl aller derjenigen Individuen, die es betrifft. Die Gesamtheit ist danach eine Vielheit von „Menschen“, die durch das „Menschlich“-Einzelne gemessen wird. Sodann wird (b) die Gesamtheit verstanden als eine in sich begründete Ordnung, die das, woraus sie besteht, abschließend gliedert. Danach ist die Gesamtheit eine Ganzheit, die den Individuen als ihren Teilen voraufliegt, die in bestimmter Weise geordnet sind. Schließlich wird (c) die Gesamt-
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heit verstanden als eine Einheit von Individuen. Das will besagen, daß es irgend einen Ursprungsgrund gibt, der bewirkt, daß Individuen nach außen, d.h. gegenüber Anderem sich absetzen und nach innen, d.h. mit ihresgleichen sich zusammenschließen. Die Gesamtheit ist nach diesem Verständnis ein bestimmter einheitlicher Bestand, den ein natürliches oder ein geistiges oder ein ähnlich beschaffenes Vermögen hervorzubringen fähig ist. Bemüht man sich, diese Auslegungen der Gesellschaft als Gesamtheit auseinander zuhalten, dann besteht die unwillkürliche Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft sowohl in einer durch die Zahl gemessenen Vielheit als auch in einer in seine Teile sich ausgliedernden Ganzheit wie endlich in einer so oder so beschaffenen Einheit, die ihren Ursprung jenseits des menschlichen Seins besitzt. Vielheit, Ganzheit und Einheit aber sind Unterschiede, wie sie hinsichtlich des Begriffs der Gesellschaft schwerwiegender nicht sein können, ganz abgesehen davon, daß die Gesellschaft wesentlich womöglich weder das eine noch das andere noch das dritte ist. Andererseits gehorcht diese Wesensbestimmung dem Vorverständnis der lebensweltlichen Wirklichkeit. Dieses aber ist eine Erstgegebenheit, die man hinnehmen muß. Wenn es aber so ist, dann folgt daraus, daß nach dem unwillkürlichen Erkennen das Wesen der Gesellschaft mehrdeutig ist, wenn nicht sogar widerspruchsvoll. Eindeutig und widerspruchsfrei, was allein vernünftig ist, läßt es sich nicht bestimmen. In einer paradoxen Formulierung könnte man zusammenfassend sagen: So, wie sich gegenwärtig die unwillkürliche Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft aufweisen läßt, besteht sie in einer unbestimmten Bestimmung. Mit dem Aufweis der Eigenschaften, die die Gesellschaft besitzt, verhält es sich wie mit der Bestimmung ihres Wesens. (2) Unbeschadet der genannten vermeintlichen Beschaffenheiten des gesellschaftlichen Was-Seins heißt es in jenem Erkenntnisbemühen überraschend des weiteren, daß die Individuen diesseits ihres Seins als Gesamtheit ein von dieser Gesamtheit unterschiedenes Zusammensein bzw. eine Gemeinsamkeit darstellen bzw. diese herzustellen imstande sind. Dabei bilden sie jene Gesamtheit bzw. dieses Zusammensein bzw. diese Gemeinsamkeit unter einer bestimmten Rücksicht als System aus. Verständlich ist das nicht. Denn es ist (3) unmöglich, daß (a) neben jenem gesellschaftlichen Wesen als Gesamtheit noch ein gesellschaftliches Wesen als Zusammensein bzw. als Gemeinsamkeit besteht. Sollte jedoch entgegen der ersten Behauptung die Gesamtheit das Wesen der Gesellschaft gar nicht darstellen, sondern sollte es vielmehr im Zusammensein bzw. in der Gemeinsamkeit bestehen, dann stellt sich (b) die Frage, wie sich diese als Eigenschaft der Individuen begründen, wobei diese Individuen jetzt als die Träger diese Grundes zu verstehen sind. Sodann erweist sich (4) in der zitierten Erklärung der sprachliche Ausdruck des Individuums als mehrdeutig. Im üblichen Sprachgebrauch bezeichnet der Ausdruck menschliches Individuum den Menschen als Einzelwesen, d.h. als Diesen-Menschen-da. Dieser Ausdruck hat wenigstens zwei Bedeutun-
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
gen, nämlich (a) den menschlichen Einzelfall in der gesellschaftlichen Gesamtheit und (b) den menschlichen Einzelfall im Gegensatz zu ihr. Zu unterscheiden ist also die humane Existenz als menschliche Existenz-Gestalt und als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Dabei ist die menschliche Existenz-Gestalt in charakteristischer Weise frei von und frei für die Gesellschaft. Diese Ansicht des menschlichen Existierens als eines Seins-durch-sich gilt maßgeblich von seinem Existieren als einem geistig bestimmten Wesen der Befindlichkeit, der Würde und des Denkens. Im übrigen ist (c) der Gegensatz des Einzelnen nicht das Gesamte, sondern das Allgemeine. (5) Nicht minder dunkel ist das Verständnis der Gesellschaft, das sie ausschließlich als in Bewegung befindlich auffaßt. Darüber, ob und wie die Gesellschaft auch als Bestand da ist, wird jedenfalls nicht gesprochen. Nur von gesellschaftlichen Vorgängen ist die Rede. Sie werden als Leben einerseits und als Handeln andererseits benannt. Daß Leben ein Wirken besagt und Handeln ein Geschehen, ist der Bestimmung der Eigenschaften der Gesellschaft zusätzlich unbekannt. (6) Organisieren heißt so viel wie planen und durchführen. Zweifellos findet sich in jeder Gesellschaft aber auch der polare Gegensatz dieser Gestaltungsweisen, also die Einfühlung und der Ausdruck. (7) Die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Leben und Handeln zumeist zweckgerichtet sind, stellt sich naturgemäß dann, wenn der Zweck des Lebens und des Handelns nicht erfaßt wird oder nur mit Mühe erfaßt werden kann. Bestimmt das unwillkürliche Erkennen dieses Wirken bzw. Geschehen als zumeist zweckgerichtet beschaffen, dann spricht es von dem durch „Menschen“ hervorgebrachten Wirken bzw. von dem von ihnen bewirkten Geschehen, wie es einer Gesellschaft entspricht, die eine Gesellschaft von „menschlichen“ Wesen ist. Diese Vorgänge unterscheiden sich nämlich von solchen, die den Gesetzen der nicht-humanen Natur gehorchen. Über das Verhältnis und die Bedingungen von humanem Tätigsein bzw. Geschehen einerseits und des natürlichen Ablaufs andererseits sagt die Bestimmung nichts. Abschließend ist (8) die Rede von der Ausgerichtetheit des gesellschaftlichen Lebens und Handelns. Das besagt, daß gesellschaftliche Individuen eine Absicht verfolgen. Meint man, daß die Gesellschaft so beschaffen ist, dann besteht sie nicht in einer Verwirklichung von Zwecken, sondern in einem Ausgerichtetsein auf sie. Damit ist aber das, was man Gesellschaft nennt, am Ende nicht mehr da. Was es gibt, sind allein die Individuen mit der Ausrichtung ihres Erkennens, Strebens, Fühlens, usw. Damit lassen sich die Bemühungen, die Eigenschaften der Gesellschaft im Sinn ihres unwillkürlichen Erkennens zu bestimmen, zusammenfassen. Der Überblick bestätigt das oben ausgesprochene Urteil über die herrschende, dem Vorverständnis folgende alltägliche Erkenntnis der Gesellschaft: Auch die Bestimmung der Eigenschaften der Gesellschaft im Allgemeinen ist eine unbestimmte Bestimmung.
1. Kap.: Die Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis
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§ 2 Über die ausdrückliche Erkenntnis der Gesellschaft durch die Gesellschaftsphilosophie und die Soziologie Wissenschaft nennt man die methodisch-systematische Erkenntnis eines Gegenstands bzw. Gegenstandsbereichs. Die Wissenschaft hat ihr Ziel erreicht, wenn sie von dem Gegenstand(sbereich) ein begründetes und sicheres Wissen erarbeitet hat. Durch das Wissen um ihre Voraussetzungen, durch ihre Erfahrungen und durch ihre Einsichten zu einem solchen Wissen von der Gesellschaft zu kommen, ist die Aufgabe der außeralltäglichen Erkenntnis der Gesellschaft, also der absichtsvoll ins Werk gesetzten Gesellschaftswissenschaften. Deren Mitte bilden die Gesellschaftsphilosophie und die Allgemeine Soziologie. Bemüht sich die Gesellschaftsphilosophie, die Gesellschaft von ihren ersten Ursprungsgründen her zu bestimmen, so versucht die Soziologie als Allgemeine, die bzw. eine Gesellschaft aus ihren nächsten Gründen zu erklären. Deswegen verfährt jene methodisch vorzugsweise grundsatzbestimmt, d.h. den Aufbau der Gesellschaft betreffend, diese dagegen lehrsatzbestimmt, d.h. die aufgebaute Gesellschaft betreffend. Dieser Unterschied darf nicht mißverstanden werden, zum Beispiel in dem Sinn, daß jene nur eine Wissenschaft von den Prinzipien ist und diese nur eine Wissenschaft von den Phänomenen. Daß es eine einheitliche Gesellschaftsphilosophie gibt, kann man nicht behaupten. Die gesellschaftsphilosophischen Lehren entsprechen vielmehr den philosophischen Strömungen der Zeit. Soweit diese Lehren Philosophie sind und nicht als Doktrin sich deswegen aus der ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion selbst ausschließen, scheinen sie mehr Fragen zu stellen als zu beantworten. In diesem Sinn ist auch die Gesellschaftsphilosophie, wenn sie sich mit dem Sein, dem Wesen und dem Erkennen der Gesellschaft befaßt, mehr ein fragendes Umkreisen dieser Gegenstände als ein begründetes und gewisses Urteilen. Was sie über die Gesellschaft lehrt, sind Erkenntnisse, die der Zweifel beherrscht. Die gesellschaftsphilosophischen Urteile unserer Tage über die Gesellschaft sind nicht mehr als ein wissenschaftliches Meinen. Um für den genannten Zustand der Gesellschaftsphilosophie ein Beispiel zu geben, das verdeutlichen kann, daß der Zweifel bis zu den Wurzeln reicht, seien aus dem Grundsatzkapitel einer Gesellschaftsphilosophie einige Sätze zitiert. Daß die in ihnen ausgesprochene Ansicht dem philosophischen Realismus verbunden ist, macht sie für die vorliegende Untersuchung bemerkenswert. Es heißt: Gesellschaftsphilosophie ist „die Reflexion auf Sinn und Wesen der Gesellschaft (ist das Soziale als Organismus, Mechanismus, Prozeß usw. zu verstehen?) und auf die Prinzipien einer möglichen gesellschaftlichen Ordnung (z. B. Subsidiaritätsprinzip, Solidarismus u. ä.) sowie auf die Frage des Verhältnisses von Einzelnem und Gemeinschaft (Sozialethik) und das Problem“: Ist das „,bonum commune‘ . . . Dienstwert . . . oder Selbstwert?“ Weil „diese Reflexion auf das Grundsätzliche der Gesellschaftlichkeit des Menschen“ gerichtet ist, ist
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
sie „zwar auf das gesamte empirische Material aus Anthropologie und vor allem Soziologie verwiesen, nimmt diesem gegenüber jedoch eine wesentlich kritische Haltung ein“.2 Nach dieser Bestimmung wüßte man gern, welche Antworten die Gesellschaftsphilosophie auf die Fragen gibt, die sie stellt. Schon die erste Frage, ob die Gesellschaft als Organismus, Mechanismus oder Prozeß zu verstehen ist, kann man nicht gerade als beiläufiges Problem ansehen. Zu vermuten ist, daß keine dieser Annahmen zutrifft. Sodann bleibt unbestimmt, was mit den Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung gemeint ist. Vermutlich hat die Gesellschaftsphilosophie die Ursachen im Auge, die die Aufbaugliederung der Gesellschaft bewirken, also die statische und die dynamische Ordnung ihrer Angehörigen. Offensichtlich liegen diese Gründe im Dunklen. Besser bestellt ist es mit dieser Gesellschaftsphilosophie, soweit sie sich als Ethik der Gesellschaft versteht, also als Lehre davon, was „Menschen“, die miteinander leben, tun sollen. Aber ist es deren vordringlichstes Problem, das Verhältnis zu bestimmen, das zwischen dem sogenannten Einzelnen und der Gemeinschaft besteht? Also dürfte die Frage nach dem Wertcharakter des Gemeinwohls beantwortet sein: Einen Dienstwert stellt die Gemeinschaft dar, wenn sie ihren Mitgliedern hilft; daß ihnen die Gemeinschaft helfen kann, macht ihren Selbstwert aus. Im übrigen bedarf es zur Klärung dieser Frage nach der formalen Wertbeschaffenheit der Gesellschaft kaum der Berücksichtigung jenes empirischen Materials, das vor allem die Besonderen Soziologien erarbeiten und bereitstellen. Diese Materialien sind Erkenntnisse einer Gesellschaft im Sinn der Feststellung bzw. der Erklärung ihrer aufgebauten Existenz. Das ist zum Beispiel die eigene gegenwärtige Gesellschaft. In einem letztlich empfangenden Erkennen wird sie erfaßt als so oder so beschaffener Zusammenhang der Verwirklichung ihrer Grundgestalten und in den ihnen folgenden Ausformungen, in den verschiedenen Gestaltungsräumen und in den unterschiedlichen Gestaltungsmächten sowie in den zahlreichen Gestaltungsordnungen mit ihren Gestaltungszusammenhängen besonderer Art, usw. Auf diese Erfahrungsgegebenheiten im Ganzen wie in ihren Teilen ist die Gesellschaftsphilosophie also verwiesen. Über ihre Berücksichtigung erfährt man jedoch nichts. Statt dessen heißt es, daß die Gesellschaftsphilosophie ihnen gegenüber vor allem kritisch ist. Gewiß besteht dieser wissenschaftstheoretische Hinweis zu Recht. Einen Beitrag zur Mehrung des Wissens von der Gesellschaft stellt er jedoch nicht dar. Weil das so ist, hat man allen Anlaß, jene Unterscheidung zwischen der prinzipiellen und der empirischen Erkenntnis in einem anderen Sinn zu verstehen. Offenkundig markiert sie weniger die wissenschaftliche Arbeitsteilung als vielmehr einen erkenntnistheoretischen Streit zwischen der Gesellschaftsphilosophie und den Fachwissenschaften von der Gesellschaft und damit auch der Soziologie. In dieser Ausein-
2 Max Müller/Alois Halder, Art. Sozialphilosophie, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 1988, S. 287.
1. Kap.: Die Gesellschaft und das Bemühen um ihre Erkenntnis
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andersetzung scheint die Verteidigung der eigenen Ansicht die gesellschaftsphilosophische Arbeitskraft geradezu aufzubrauchen. Durch die grundsätzliche und damit die Erfahrung streng beurteilende methodische Einstellung will die Gesellschaftsphilosophie sich also unterschieden wissen insbesondere von der Soziologie. Wer gesellschaftswissenschaftlich im gemeinten Sinn grundsätzlich denkt, möchte die Gesellschaft absolut erfassen, sie also zuletzt in unmittelbar einsichtigen allgemeinen Sätzen beurteilen. Diese Sätze sind der Grund für alle weiteren Sätze, d.h. der Lehrsätze zunächst der Gesellschaftsphilosophie selbst und sodann natürlich der Sätze der Soziologie. Je mehr diese Grundsätze aller Erfahrung der Gesellschaft voraufliegen, desto kritischer ist die erwähnte Haltung gegenüber dem Material der Erfahrung. Auf diesen hohen Anspruch reagieren die Soziologen durchgängig gereizt. Ihre streitbare Antwort auf jene Erfahrungskritik lautet in der Regel, daß diese Philosophie nichts anderes anzubieten hat als ihre Schau sozialer Ideen, daß sie sich also erschöpft in Spekulationen über die Gesellschaft im verächtlichen Sinn dieses Wortes. Die Folge ist, daß die Soziologie – und zwar in nahezu allen ihren Ausformungen – in eigener Zuständigkeit sich darum bemüht, die Gesellschaft zu bestimmen. Von dieser Bestimmung heißt es in der Soziologie, daß sie im Gegensatz zu jener grundsätzlichen philosophischen Betrachtung eine erfahrungsgesättigte Bestimmung ist. Logisch betrachtet, beurteilt die Soziologie die Gesellschaft also in Allgemeinbegriffen der Erfahrung. Diese sind zwar keine Wesensbegriffe, aber eben doch Allgemeinbegriffe, nämlich dessen, was allen Gesellschaften, die man studiert hat, der Erfahrung nach gemeinsam ist. Die Urteile der soziologischen Erfahrung unterscheiden sich somit von den Urteilen über wahrnehmbare konkrete gesellschaftliche Sachverhalte, also über gesellschaftliche Tatsachen, wie sie die sogenannte empirische Sozialforschung formuliert. Sie beschränkt sich nämlich auf die Erkenntnis dessen, was die sinnliche Anschauung von einer Gesellschaft zu erfassen vermag. Die Allgemeinbegriffe der Erfahrung, deren Zusammenhang in der Soziologie gern als soziologische Theorie bezeichnet wird, beziehen sich demgegenüber auch auf diejenigen Erscheinungen, die Eigenschaften der Gesellschaft sind, die sie als diese kennzeichnen sowie auf diejenigen, die ihr nicht-notwendig zukommen. Sie sind die zeitgebundenen Ausprägungen der jeweiligen Gesellschaft als diese einerseits sowie des Wesensgrundes dieser und jener Gesellschaft andererseits. Deswegen kann man nicht begründet behaupten, daß die „Soziologen aller Tendenzen, wenn sie sich über die Orientierung ihrer eigenen Wissenschaftsgemeinschaft klarer werden wollen, unvermittelt auch Philosophen werden“3. Wenn diese These dennoch vertreten wird, dann besagt dies nur, daß der erkenntnistheoreti-
3 Gerd Haeffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982, S. 61 bzw. erw. 20003, S. 83.
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sche Streit zwischen der Gesellschaftsphilosophie und vor allem der Soziologie an Schärfe nichts verloren hat. Wie weit die Soziologie auf ihrem Weg gekommen ist, die Gesellschaft im Allgemeinen zu erkennen, ist eine andere Frage. Überblickt man die vorliegenden soziologischen Erkenntnisse, muß man feststellen, daß der in ihren Erfahrungen gründende Allgemeinbegriff der Gesellschaft die Alltagserkenntnis der Gesellschaft nicht übersteigt. Bestenfalls wird dieser Erkenntnisbestand durch erweiternde oder verengende Besonderungen abgewandelt. Diese Bemühungen um eine Verdeutlichung entsprechen den Forderungen der jeweiligen Forschungsinteressen. Was die Soziologen jeweils unter dem Begriff der Gesellschaft verstehen, ist der Beleg hierfür. So heißt es zum Beispiel im weithin herrschenden Sinn: „Als soziologischer Grundbegriff bezeichnet Gesellschaft die umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten Zusammenlebens von Menschen innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereichs.“4 Demgegenüber setzt ein Denken, das sich als fortgeschritten versteht, andere Akzente: „In der neueren Soziologie“, so heißt es, „finden sich vor allem die folgenden Konzeptionen von Gesellschaft“: Gesellschaft ist zu begreifen erstens „als Summe von Individuen, die durch ein Netzwerk sozialer Beziehungen miteinander in Kontakt und Interaktion stehen“; zweitens als „Kollektivität (= soziales System mit gemeinschaftlicher Wertorientierung und Handlungsfähigkeit), die alle erhaltungsnotwendigen Funktionen in sich erfüllen kann“; drittens wird Gesellschaft „als Gruppe von Individuen definiert, die sich durch eine gesonderte Kultur (Wertsystem, Tradition) auszeichnet und unabhängig von anderen Gruppierungen ist“5. Daß es an weiteren Bestimmungen dieser Art nicht fehlt, ist bekannt. Es ist jedoch nicht nötig, die lange Liste dieser Bemühungen um eine Sacherklärung der Gesellschaft zu studieren. Im Wesentlichen finden sich in ihr nur Wiederholungen von Bekanntem. Deswegen läßt sich der Schluß formulieren: Auch die als soziologische Erkenntnis ausdrücklich entwickelte Erkenntnis der Gesellschaft im Allgemeinen besteht nur in wissenschaftlichen Meinungen. Daß tatsächlich bloß Meinungen die Soziologie beherrschen, wird von ihren Vertretern unumwunden zugegeben. Und man lebt damit. Wohl darauf bedacht, die eigene Ansicht zu verteidigen, aber bereit, auch andere Ansichten gelten zu lassen, heißt es in diesem Sinn: Gesellschaft ist „das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis.“6 Also wird festgestellt, daß das, was der Begriff der Gesellschaft besagt, wohl einen „zentralen“, aber einen „sehr komplexen 4 Karl-Heinz Hillmann, Art. Gesellschaft, in: Gerd Reinhold (Hrsg.), SoziologieLexikon, München/Wien 19973, S. 215. 5 Hans Wienold, Art. Gesellschaft, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 236. 6 Niklas Luhmann, Art. Gesellschaft, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 235.
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und zunehmend umstrittenen“7 Sachverhalt bezeichnet. Folgerichtig hat sich in der soziologischen Literatur zur Bestimmung der Gesellschaft im Allgemeinen die logisch fragwürdige Formel eingebürgert, nach der der „Begriff der Gesellschaft“ als „vieldeutig“8 anzusehen ist. Diese Rede von der Vieldeutigkeit des Gesellschafts-„Begriffs“ kann man nicht genau genug prüfen. Denn sie vereint Denkinhalte und Denkgegenstände, die logisch und real nicht miteinander vereinbar sind. Verwirrend behauptet sie ein Doppeltes. Zum ersten ist sie der förmliche Ausdruck des Eingeständnisses, daß die Soziologie einen Begriff der Gesellschaft im Allgemeinen nicht besitzt. Wie es scheint, folgt aus diesem Bewußtsein das zweite. Um den offenkundigen Mangel wettzumachen, wird die Soziologie nicht müde, daran zu erinnern, daß der Ausdruck der Gesellschaft schon immer verschiedene Bedeutungen besitzt. Sie gilt es ins Auge zu fassen. So ist der Ausdruck Gesellschaft beispielsweise das Sprachzeichen des sozialkategorialen Begriffs der Gesellschaft im Gegensatz zu dem der Gemeinschaft; oder er ist der sozialgeschichtliche Begriff der Gesellschaft der Gegenwart im Gegensatz etwa zur mittelalterlichen Ständeordnung; oder er ist der schichtungsspezifische Begriff der guten Gesellschaft im Gegensatz zu deren nichtprivilegierten Mitgliedern; oder er ist der Begriff eines gesellschaftlichen Wirkens, nämlich einer Gesellschaft, die man gibt, im Gegensatz zu einer Gesellschaft, die man jemandem leistet, usw. Das sind ohne Frage eindeutige Begriffe der Gesellschaft, und sie sind zumeist sogar klar und deutlich. Aber als diese Begriffe sind sie nur solche von Eigenschaften und Erscheinungen der Gesellschaft, wenn nicht sogar nur von Eigenschaften und Erscheinungen dieser oder jener einzelnen Gesellschaft. Damit ist das unterscheidende Merkmal benannt, durch welches diese Begriffe sich vom Begriff der Gesellschaft überhaupt unterscheiden. Ihn vermochte die Soziologie bis heute nicht auszubilden. Er ist und bleibt „einer der vieldeutigsten Grundbegriffe der Soziologie“9 Am Ende wird sogar behauptet, daß es sich bei ihm um einen „unergründlichen Grundbegriff“ der Soziologie handelt. Oder mit Karl Jaspers gesagt: „Das meiste, was unter dem Namen Soziologie geht, ist Schwindel.“10 Ist das der Fall, dann muß man darauf verzichten, von der Soziologie als von einer Wissenschaft zu sprechen. Sie wäre ein Gaukelspiel, das ein schaulustiges Publikum unterhält. 7 Karl-Heinz Hillmann, Art. Gesellschaft, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 285. 8 Vgl. z. B. Günter Büschges, Art. Gesellschaft, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. Band 1, Stuttgart 1989, S. 245 oder Jörg Pannier, Art. Gesellschaft, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, Stuttgart/Weimar 1996, S. 190. 9 P. Kaupp, Art. Gesellschaft, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Basel 1974, Sp. 459. 10 Jürgen Ritsert, Gesellschaft. Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt a. M./New York 1988, S. 7 sowie ders., Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt a. M./New York 2000; Karl Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958, S. 8.
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Zweites Kapitel
Die Bestimmung des „Menschen“ als eines im Ganzen gesellschaftlichen Wesens durch die herrschenden Gesellschaftswissenschaften § 3 Das „Wesen“ der Gesellschaft als „Struktur“ der humanen Existenz Die Darstellung der vorwissenschaftlichen wie der wissenschaftlichen Bemühungen, die Gesellschaft zu erfassen, kam zu dem Ergebnis, daß jenes Erkennenwollen sich im Unbestimmten verliert und daß dieses nicht mehr ist als ein Meinen. Dieser dürftige Erkenntnisertrag ist freilich die Frucht des Erkennenwollens der Gesellschaft im strengen Sinn, was heißt: Das Erkennen dieser Art will die Gesellschaft als diese begreifen. Man kann auch sagen, daß dieses Erkennen auf die humane Existenz zielt, insofern sie als gesellschaftliche Existenz-Gestalt besteht und nur als diese. Dieses Erkennen läßt sich also leiten von der in einem besonderen Bewußtseinsinhalt begründeten Annahme, daß es real ein Verbundensein von menschlichen Existenzen gibt, daß es also an sich besteht, somit inhaltlich bestimmt und wesentlich verfaßt ist. Deshalb läßt es sich als dieses erfassen und in der Folge als ein Gegenstand, der von anderen Gegenständen unterschieden ist. In der herrschenden Sprache formuliert, besteht dieser Unterschied vor allem hinsichtlich der humanen Existenz, insofern sie nicht-gesellschaftlich beschaffen ist. Begreift man die gesellschaftliche Existenz-Gestalt zurecht als ein Verbundensein, dann darf man wohl begründet die nicht-gesellschaftliche Existenz-Gestalt als ein Beisichsein von Menschen verstehen. Dem Alltag wie den Wissenschaften sind diese verschiedenen Existenzweisen nicht unbekannt. Jene Existenzweise des „Menschen“ heißt deswegen Gesellschaft, diese wird als das Existieren des Menschen bezeichnet. Diese Benennungen meinen in jenem Fall das humane Vereinigtsein und in diesem Fall das humane Durchsichsein. Das humane Durchsichsein wird heute freilich nahezu durchgängig anders benannt. Es wird vor allem ausgedrückt durch den Namen „der einzelne Mensch“ bzw. abgekürzt „der Einzelne“. Mit einem Fremdwort bezeichnet, ist vom „Individuum“ die Rede. Nach dieser Auffassung benennt der Name des Einzelnen den „Menschen“, insofern er der Gesellschaft gegenübersteht. Der Einzelne ist der Gegensatz zu dem, was als Gesellschaft besteht. Entgegen diesem Verständnis behaupten die herrschenden Gesellschaftswissenschaften freilich nahezu einhellig, daß die Gesellschaft denjenigen Bestand darstellt, der den bzw. die Einzelnen umgreift. Also ist der Einzelne kein Einzelner gegenüber der Gesellschaft, sondern immer ein Einzelner in der Gesellschaft. Wie entschieden auch erklärt wird, daß es als humane Realität allein dieses gesellschaftliche Existieren des „Menschen“ gibt, so entgeht den
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genannten Gesellschaftswissenschaften in der Regel keineswegs, daß der Einzelne zugleich in einem menschlichen Existieren des „Menschen“ real ist. Aber offenkundig erfreut sich dieser Befund keiner weiteren Aufmerksamkeit, sofern ihm nicht absichtsvoll ausgewichen wird. Für die herrschenden Gesellschaftswissenschaften gilt dem Grundsatz nach, daß der Begriff der Gesellschaft denkbar weit zu fassen ist. Das bedeutet, daß die Bezeichnung des gesellschaftlichen Existierens des „Menschen“ dessen nicht-gesellschaftliches Existieren immer irgendwie umfaßt. Die sprachlich verwirrenden Redeweisen sind der Ausdruck des unbewältigten Problems des Verhältnisses von „Mensch und Gesellschaft“. Das Erkennen der Gesellschaft im angedeuteten umfassenden Sinn zeichnet sich dadurch aus, daß es auf die in sich selbst bestehende Existenz-Gestalt der humanen Existenz nicht achtet oder sich über diese Existenz-Gestalt keine Klarheit verschafft, sofern es diese Existenz-Gestalt nicht schließlich leugnet. Diese Einstellungen haben zur Folge, daß die menschliche Existenz-Gestalt irgendwie schon immer oder vorherrschend, wenn nicht ausschließlich als Existieren beurteilt wird, das, wie angedeutet, im Ganzen als ein gesellschaftliches Existieren besteht. Mit dem angegebenen weiten Begriff der Gesellschaft arbeiten die herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Ihr Erkennenwollen entwickeln sie im wesentlichen in denjenigen Disziplinen, die man seit gut einem Jahrhundert als Gesellschaftsphilosophie und als Soziologie bezeichnet. Ihre Grund- und Lehrsätze beherrschen nicht nur das akademische Leben. Weithin bestimmen sie auch das vorwissenschaftliche Denken der humanen Existenz als Durchsichund als Vereinigtsein, wie es im Alltag, aber auch im geistigen Leben und Schaffen sich findet. Will man in Erfahrung bringen, wie man heute über die Gesellschaft denkt, wird man also die Urteile der Gesellschaftsphilosophie und der Soziologie studieren. Dabei ist es kaum nötig, auf die wissenschaftstheoretischen Unterschiede des Erkennens zu achten, die zwischen den genannten Disziplinen bestehen. Denn wie man weiß, geht jene universalwissenschaftliche und diese spezialwissenschaftliche Betrachtung der Gesellschaft immer wieder bald beiläufig, bald absichtsvoll in die andere über. Wie angedeutet, kennen sie die humane Existenz vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich als ein Wesen, das in jeder Hinsicht ein gesellschaftliches Wesen ist. Diese gesellschaftliche Bestimmung betrifft zum ersten die Form der humanen Existenz als gesellschaftliche Existenz-Gestalt, also das Sosein dieser Gestalt, und zum zweiten deren Gehalt, also zum einen als physischer oder körperlicher und zum anderen als psychischer bzw. als kultureller Gehalt. Mit dieser Erstreckung der humanen Realität zwischen Gestalt, Natur und Geist ist der Umfang des Begriffes der Gesellschaft bestimmt, mit dem die modernen Gesellschaftswissenschaften in der Regel arbeiten. Um die Ansicht der herrschenden Gesellschaftswissenschaften zu verstehen, derzufolge die humane Existenz in ihrer realen Existenz-Gestalt ein gesellschaftliches Wesen ist, mag es ratsam sein, mit diesen Wissenschaften das Wer-
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den des „Menschen“ ins Auge zu fassen. Den „Menschen“ unter dieser Rücksicht betrachtend, lehren sie, daß er an seinem Anfang ein Etwas ist, das ausschließlich der Natur angehört. Diese Natur besteht als der umfassende Zusammenhang aller raum-zeitlichen Wesen, vorzugsweise der Wesen des biologischen Lebens. Daß jedes dieser Wesen und damit auch der „Mensch“ verursacht ist, wodurch sich nicht zuletzt seine Entwicklung erklärt, soll hier auf sich beruhen. Daß ein göttlicher Schöpfer etwa in einem Akt der Beseelung ein natürlich-lebendiges Substrat zu einem humanen Lebewesen erhebt, ist den modernen Gesellschaftswissenschaften in jeder Hinsicht mirakulös. Ihnen kommt es auf die Tatsache an, daß mit der Geburt eines „Menschen“ sich die Frage stellt, wie er weiterhin zu existieren vermag. Soll der „Mensch“ nämlich zu einem Menschen im Vollsinn dieses Wortes werden, ist er genötigt, jenen Naturzusammenhang zu verlassen. Er muß hinüberwechseln in denjenigen Bestand, den man Gesellschaft nennt. Denn nur dieser Zusammenhang vermag das bloße Naturwesen Mensch zum wahren Menschen fortzubilden. Diese Fortbildung geschieht dadurch, daß die Gesellschaft dieses Wesen zunächst in sich aufnimmt und sodann für seine Entwicklung sorgt. Jener erste Schritt, also das Übernahmeverfahren, ist in der Regel ein gesellschaftlich ritenreiches Geschehen. Gesellschaftswissenschaftlich wird es unter dem Stichwort der sozial-kulturellen oder der zweiten Geburt des Menschen umfassend erörtert. Der Lehrsatz besagt, daß „der zunächst ,nur‘ physisch geborene Mensch seine durch Instinktreduktion bedingte Verhaltensunsicherheit und -diffusität überwindet und zum gesellschaftlich handlungsfähigen Wesen wird“11. Das derart aus seiner bloß natürlichen Natur befreite „Menschsein“ ist vorerst jedoch nicht mehr als eine nur mögliche „menschliche“ Existenz. Denn allseits besteht die Gefahr, daß dieses nur auf sich selbst bezogene und deswegen für das Leben in der Welt untaugliche Wesen zum zerstörerischen Widerpart der Gesellschaft wird, sofern es nicht, schwach wie es ist, in den Naturzustand zurückfällt, zum Beispiel dadurch, daß es psychisch oder sogar physisch erkrankt und deswegen zu einem von der Gesellschaft zu unterhaltenden Wesen wird. Aus diesem Grund ist es zweitens unerläßlich, aus dem möglichen „Menschen“ einen wirklichen „Menschen“ zu machen. Es gilt, das „Menschsein“ umfassend zu vergesellschaften. Die modernen Gesellschaftswissenschaften nennen diesen bisweilen lebenslang andauernden Vorgang, der auf die zweite Geburt des „Menschen“ folgt, die Sozialisation des bloßen Menschen oder des Individuums, wie man leichthin zu sagen sich angewöhnt hat. Ihr Ergebnis ist die sogenannte sozial-kulturelle Persönlichkeit, also der Bestand des „Menschen“ in der oder als die Gesellschaft. Die Sprache der Soziologie formuliert diese Wirkung wie folgt: „Durch Prozesse der Sozialisation gewinnt das Individuum seine Identität als eine in Gesellschaft handlungsfähige Persönlichkeit. Sozialisation ist zugleich a) ,Verge11 Karl-Heinz Hillmann, Art. Geburt, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 257 f.
2. Kap.: Die Bestimmung des „Menschen‘‘
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sellschaftung‘ des Menschen im Sinne der Übernahme und Internalisierung (,Verinnerlichung‘) von soziokulturellen Werten, Verhaltenserwartungen und sozialen Rollen als auch b) Personalisation des Menschen im Sinne von ,Besonderung‘ seiner individuell bestimmten Auseinandersetzung mit den Angeboten und Einflüssen seiner Gesellschaft.“12 Solchermaßen qualifiziert, lebt das bloß natürliche Menschenwesen beherrscht, tugendhaft und sinnvoll als „Mensch unter Menschen“, wie es seine Bestimmung ist. Dieses Menschenwesen als gesellschaftliche Existenz ist in seinem Gehalt eine leibliche Existenz einerseits und eine seelische bzw. kulturelle Existenz andererseits. Weit in diese Gehalte hinein erstreckt sich die Gesellschaft als eine formende Kraft, die sie zu gesellschaftlichen Gehalten umbildet. Als charakteristisch für den Zusammenhang von Gesellschaft und Natur erwähnen die Gesellschaftswissenschaften das „menschliche“ Mühen, sich zu erhalten und zu regenerieren, die Weise des Siedelns des „Menschen“ im Raum und sein Verhalten in der Ehe und in der Familie, in der Verwandtschaft und in der Nachbarschaft; dasselbe gilt von seinem Geschlecht bzw. von seiner tabubestimmten Sexualität, von seiner Jugend und von seinem Alter, von seinem Altruismus, von seinem Nepotismus und von seiner Aggression; damit jedoch nicht genug: Natürlich-gesellschaftliche Verhältnisse bestimmen auch die Weise des Arbeitens, d.h. das Bemühen des leibgebundenen „Menschen“, die natürlichen Rohstoffe zu nutzen, der Tausch von Gütern sowie die Form der Machtausübung der „Menschen“ untereinander; endlich bestimmen jene Verhältnisse sein Existieren im Ganzen, vorgestellt als die umfassende Aufbaugliederung eines mechanisch oder organisch verstandenen Zusammenhanges bzw. eines Systems, das diesem Zusammenhang entspricht, usw. Daß alle diese Befunde sich so oder so schon im Tierreich finden, sofern es sie nicht bereits in der Pflanzenwelt gibt, erweitert die gesellschaftswissenschaftliche Betrachtung der „menschlichen“ Gesellschaftlichkeit bis an die Grenze der physikalischen Natur. In einer gewissen Gegenläufigkeit zu dieser, seit der Begründung der Gesellschaftswissenschaften bestehenden und bis heute einflußreichen biosoziologischen Erkenntnisabsicht vermochte sich in der jüngsten Zeit eine Denkweise zu begründen und durchzusetzen, die ebenso natur- wie gesellschaftswissenschaftlich ehrgeizig ist. Es ist die Soziobiologie. Indem sie den Gedanken des Lebens der Gesellschaft mit dem der Evolution des natürlichen Lebens verbindet, versteht sie sich als die Spitze der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung. Was sie auszeichnet ist der Wille, „über die Vergleiche und Analogien der Ethologie hinaus den Inhalt der Sozialwissenschaften neu zu deuten“13.
12 Karl-Heinz Hillmann, Art. Sozialisation, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 805. 13 Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziobiologie, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 818.
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
Dem Erkennenwollen der gesellschaftlich bestimmten „menschlich“-natürlichen Gehalte entspricht das Bemühen der Gesellschaftswissenschaften um die gesellschaftlich geformte „menschliche“ Geistigkeit. Allerdings ist der Geist, den dieses Bemühen meint, kaum das „menschliche“ geistige Sein als dieses und im Ganzen. Bezüge zu diesem Sein gibt es in den Gesellschaftswissenschaften wohl nur noch dort, wo in ihnen die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels unvergessen ist oder eine Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Arbeit im Sinn Wilhelm Diltheys besteht. Jener Geist ist immer derjenige, wie er vom Menschen als einem sogenannten Einzelnen und als einem tätigen Wesen getragen wird. Das ist der Geist als subjektiver Geist. Betrachtet man ihn des genaueren, dann fällt auf, daß die Gesellschaftswissenschaften sich mit diesem Geist nicht jedoch als solchem befassen. Ihrer Grund- und Gesamtauffassung folgend, nach denen das humane Existieren im Gesellschaftsein besteht, begreifen sie jenen subjektiven Geist zum ersten als den Geist, den die „menschlichen“ Subjekte als Mitglieder der Gesellschaft besitzen. Der subjektive Geist ist im Gegensatz zur überkommenen Bestimmung ein Geist vergesellschafteter „Menschen“. Sodann wird dieser Geist im Sinn der seelischen Beschaffenheit der „menschlich“-gesellschaftlichen Subjekte verstanden. Dieses seelische Sein ist das, was als das Psychische die physischen Einstellungen und Leistungen des „Menschen“ weitgehend steuert. In der inneren Erfahrung läßt es sich unmittelbar und in seinem leiblichen Ausdruck mittelbar erfassen. In einer noch engeren Bestimmung besteht das seelische Sein im Bewußtsein des vergesellschafteten „Menschen“ oder genauer, als der indirekt ermittelte, also beobachtete, oder als der direkt erfaßte, also in der eigenen Wahrnehmung erkannte Bewußtseinsinhalt. Diesen Bewußtseinsinhalt nennt man auch das Leben des Gesellschaftsmitglieds „Mensch“. In der Folge dieser zunehmend sich verengenden Bestimmung begreifen die modernen Gesellschaftswissenschaften das geistige Sein also als „das Sich-Innesein, das Präsent-Haben von Erlebnissen, von psychischen Vorgängen und Zuständen“, oder, in einzelnen Erlebnissen benannt, als „Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken, Intentionen, usw., die einem Subjekt als Gegenstände seines Erlebens gegeben sind“14. Wenn bisweilen behauptet wird, daß diese Bewußtseinsinhalte jenseits des Erlebens der Gesellschaftsmitglieder ein eigenes Dasein besitzen, also als sogenanntes Kollektivbewußtsein bestehen, so ist das nicht die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Meinung. Ihr zufolge gibt es das Erleben immer nur als ein Erleben dieses und jenes Angehörigen der Gesellschaft. Freilich sprechen die Gesellschaftswissenschaften von diesen Angehörigen bald im ungegenständlichen, bald im gegenständlichen Sinn. Es entspricht diesen Blickrichtungen, wenn von diesem subjektiv-gesellschaftlichen Bewußtsein in der Folge einerseits vom individuellen und andererseits vom gesellschaftlichen Bewußtsein die 14 Rolf Klima, Art. Bewußtsein, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 98.
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Rede ist. Ohne weiteres verständlich ist diese Ausdrucksweise nicht. Deshalb sollte die Ermunterung erlaubt sein, sich durch die Sprache der herrschenden Gesellschaftswissenschaften nicht verwirren zu lassen. Denn dieses wie jenes Bewußtsein ist, wie gesagt, immer ein Bewußtsein, das durch die Gesellschaft bestimmt ist. Die Bedeutung der Unterscheidung liegt allein darin, daß der Begriff des individuellen Bewußtseins das Bewußtsein der Angehörigen der Gesellschaft im ichhaft-befindlichen Sinn meint und deswegen als etwas „Menschlich“-Ungegenständliches; der Begriff des gesellschaftlichen Bewußtseins bezeichnet dagegen das Bewußtsein der Gesellschaftsangehörigen im sachhaft-geregelten Sinn und deswegen als etwas „Menschlich“-Gegenständliches. Eine klare Rede würde jenes Bewußtsein als gesellschaftliche Bewußtheit bezeichnen und dieses als gesellschaftliches Bewußthaben. In der Betrachtung der modernen Gesellschaftswissenschaften gilt jedenfalls, „daß die Akte, Formen und Inhalte des Bewußtseins im wesentlichen gesellschaftlich bestimmt werden. Es wird das individuelle vom gesellschaftlichen Bewußtsein unterschieden. Das letztere“ – es ist dasjenige, dem sich die Gesellschaftswissenschaften in ihrer versachlichenden Denkweise bevorzugt zuwenden – „wird als die Gesamtheit der individuellen und realen Gemeinsamkeiten menschlicher Orientierung und daraus abgeleiteter Handlungen und Handlungsergebnisse (sowohl in integrativen wie konfligierenden Zusammenhängen) verstanden, die überhaupt erst Gesellschaft möglich macht. Es gilt als das Produkt der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft.“15 Auf diese Weise das Erleben betrachtend, weitet das moderne gesellschaftswissenschaftliche Erkennen sich aus zu einem Erkennenwollen des bewußten Erlebens schlechthin. Indem die Gesellschaftswissenschaften dieses Erleben sogleich als einen in jeder Hinsicht gesellschaftlichen Sachverhalt ansehen, entwickeln sie sich zur zuständigen und deswegen maßgeblichen Lehre von den Ideen als den Ideen der humanen Existenz als eines Gesellschaftswesens. Soweit sie diese Ideen versachlicht betrachten, werden die Gesellschaftswissenschaften zur Lehre vom Zeitgeist bzw. vom Wissen in der Zeit. In nicht-versachlichter Denkweise verfolgen sie das Ziel, die verschiedenen Sinnesarten und die in ihnen gründenden Auffassungen und Urteilsweisen der Existenz des „Menschen“, also der Gesellschaft, zu erfassen. In diesem weiten Erkenntnishorizont sind die Gesellschaftswissenschaften bemüht, des näheren erstens zu bestimmen, was man einen Wert nennt oder genauer, was man als Wertvorstellung zu bezeichnen pflegt. Also erörtern sie diese Vorstellungen in ihrer Art, in ihrer Ordnung, in ihrer Geltung, in ihrem Wandel, ihrem Widerstreit in einer Gesellschaft und nicht zuletzt in ihrem Verfall. Indem die Gesellschaftswissenschaften derart weit gefächert über die Welt der Werte sprechen, verhandeln sie umfas15 Karl-Heinz Hillmann, Art. Bewußtsein, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 98.
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
send über die Ziele des gesellschaftlich bestimmten „menschlichen“ Daseins. Was immer man als „menschliches“ Geschehen bzw. als Handeln ansehen kann, ist deswegen ein Gegenstand der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis. Mit ihr aufs engste verbunden ist zweitens das Erkennen der Normen des Tuns, also der Regeln, die bestimmen, welche Ziele das Tun erstreben soll. Im Einzelnen versuchen die Gesellschaftswissenschaften ihre Herkunft, ihre Begründung, ihre Verbindlichkeit, ihren Ausdruck und ihre Befolgung sowie die dadurch entstandenen Aufbaugliederungen der Gesellschaft zu erfassen, und sie bemühen sich, die mit den Normierungen einhergehenden Überwachungen und Ahndungen zu ermitteln. Spätestens mit dieser Erkenntnisabsicht verdeutlichen die modernen Gesellschaftswissenschaften, daß sie sich als die Wissenschaften der Kultur des „Menschen“ begreifen. Daß die „menschlich“-gesellschaftliche Existenz als Kultur besteht, besagt, daß sie sich als ihr eigenes Werk auffaßt. Die der Natur entsprungenen Mitglieder der Gesellschaft erreichen durch sie die Bestimmung ihrer Existenz. Daß die einmal erarbeiteten Zugänge zu den Idealen des Lebens erhalten bleiben und um weitere Zugänge bereichert werden, besorgt die Gesellschaft durch ihre Institutionalisierung, also durch die Verfestigung erprobter Existenzregelungen. Unter diesen Einrichtungen besitzen die Wissenschaften von der Gesellschaft den hervorragenden Platz eines gesellschaftlichen „Selbstreflexionsunternehmens“16. Damit sind sie der Garant des Fortschritts. In seinem Dienst haben die modernen Gesellschaftswissenschaften Forschungsprogramme entwickelt, die sich inzwischen weit auffächern. Denn es gilt, die zahlreichen Gestaltungen der Gesellschaft zu durchdringen. Wie erwähnt, bestehen sie im wesentlichen als Familie, Gemeinde und Staat, als Wirtschaft, Kultur und Politik, als Religion, Erziehung und Recht, als Generationsordnung und als Sittenordnung sowie als Leistungs- und als Rangordnung. Daß diese Gestaltzusammenhänge sich ausgliedern und sich dadurch zu besonderen gesellschaftlichen Existenzverhältnissen auszuformen vermögen, ist bekannt. Im Studium der symbolischen Vermittlungen der Gehalte der Kultur sowie in der Besinnung auf ihre vergangene und ihre zukünftige Geschichte erstrebt die gesellschaftswissenschaftliche Forschung den systematischen Zusammenschluß der von ihr erörterten Problematik des Bewußtseins einerseits und der Kulturgestaltung andererseits. Sie erreicht ihren Höhepunkt in der Frage nach dem Sinn der „menschlichen“ als gesellschaftlicher Existenz. Der Sinnbegriff faßt zusammen, worum es der Lehre von der Gesellschaft als Kultur geht. Sie will die „grundlegende Tatsache“ benennen, inwiefern „für Angehörige eines Kollektivs und für einzelne Individuen“ – also für die umfassend als gesellschaftlich existierend verstandene humane Existenz im gegenständlichen und im ungegenständlichen Sinn – „bestimmte Gegebenheiten wert- und bedeutungsvoll, wichtig, in-
16 Volker Koch/Joachim Milles, Art. Moderne, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 447.
2. Kap.: Die Bestimmung des „Menschen‘‘
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teressant, erstrebenswert und dementsprechend sinnvoll sind“17. So aufgefaßt, sind die herrschenden Gesellschaftswissenschaften die Wissenschaften von dem, was im „menschlichen“ Leben, also im Zusammenleben von „Menschen“, von Bedeutung ist. Um die Beschaffenheit eines Begriffs zu kennzeichnen, unterscheidet man – neben verschiedenen weiteren Bestimmungen – zwischen seinem Umfang und seinem Inhalt. Als Umfang wird die Gesamtheit der Gegenstände bezeichnet, die der Begriff meint. Demgegenüber besteht der Inhalt in der Gesamtheit der Merkmale dessen, was der Begriff besagt. Vom Verhältnis zwischen dem Umfang und dem Inhalt eines Begriffs gilt im allgemeinen der Satz: Je größer der Umfang, desto geringer ist der Inhalt und umgekehrt. Klärend darf man diesen begriffstheoretischen Zusammenhang auch auf den Begriff der Gesellschaft beziehen, wie die modernen Gesellschaftswissenschaften ihn verwenden. Der Umfang des Begriffes der Gesellschaft wurde zu bestimmen versucht. Er besagt: Die Gesellschaft ist das Ganze der humanen Existenz bzw. der „menschlichen“ Existenz-Gestalt oder näher bestimmt, die Gesellschaft ist die in jeder Hinsicht als vergesellschaftet gedachte Realität des „Menschen“ mit seinen natürlichen und geistigen bzw. kulturellen Gehalten. Dieser, das Ganze der humanen Existenz meinende Begriff der Gesellschaft ist also denkbar weit. Der begriffs-logischen Regel zur Folge ist deswegen sein Inhalt gering. Womöglich erschöpft sich dieser Inhalt in zwei Merkmalen. So ist zum ersten jede Gesellschaft als „menschliche“ dadurch charakterisiert, daß sie sich von jeder nicht-menschlichen Gesellschaft unterscheidet, und zwar durch ihr soziales Existenzziel, das als werthafte Idee besteht. Zweitens beinhaltet der Begriff die zahlenmäßige Gesamtheit aller je bestehenden Gesellschaften. Jede weitere Bestimmung von Merkmalen scheint unmöglich zu sein, da sie dem genannten Umfang des Begriffes der Gesellschaft widerspricht. Im Gegensatz zu dieser Folgerung besondern sich die modernen Gesellschaftswissenschaften in ihrem Bemühen, Merkmale der Gesellschaft zu bestimmen. Ihre Forschung kennt eine überwältigende Fülle von unterscheidbaren Teilinhalten, die im Ganzen die Gesellschaft charakterisieren. Diese Tatsache, die die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis beherrscht, ist erstaunlich. Weil es sich so verhält, sucht die Kritik der modernen Gesellschaftswissenschaften nach ihrer begriffslogischen Erklärung. Wie es scheint, liegt sie, wie man zurückhaltend sagen kann, in der auslegungsfähig gehaltenen Bestimmung des Umfangs bzw. des Inhalts des Begriffs der Gesellschaft, den man denkt. Sie schwankt hinsichtlich der gemeinten Gegenstände. Der von den modernen Gesellschaftswissenschaften verwendete Ausdruck der Gesellschaft erstreckt sich in seinem Umfang von der Gesellschaft als einem Gegenstand im Universellen bis zur Gesellschaft als einem im Separaten be17 Karl-Heinz Hillmann, Art. Sinn, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 782.
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
stehenden Gegenstand. Der letztere wird zumeist im Sinn der eigenen, vielfältig beschaffenen gesellschaftlichen Existenzverhältnisse verstanden. Der Ausdruck der Gesellschaft stuft sich in seinem begrifflichen Umfang also ab von deren gemeintem Wesen über ihren in der Erfahrung gegebenen Bestand im Allgemeinen bis zur zusammenfassenden Bezeichnung eines „menschlichen“, als Gesellschaft verstandenen Existierens zu jeweils dieser besonderen Zeit und in jeweils diesem besonderen Raum. Bedenkt man die verschiedenen umfangsweiten Bestimmungen des Begriffs der Gesellschaft, läßt sich ein Zusammenhang zwischen diesen und den von den Gesellschaftswissenschaften als Inhalt der Gesellschaft benannten Kennzeichnungen herstellen. Die Gesellschaft im Allgemeinen zwar immer mitmeinend, ist für die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis die Gesellschaft in der Regel doch die sogenannte moderne Gesellschaft. Sie entsteht mit der Neuzeit der europäischen Kultur, bildet sich in der Folgezeit in verschiedenen Gestaltungen aus und erreicht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts denjenigen Zeitabschnitt, der in die eigene Gegenwart hineinreicht. Die gesellschaftswissenschaftlichen Ermittlungen der Merkmale der Gesellschaft sind im wesentlichen also Ermittlungen der Merkmale dieser besonderen Gesellschaft. Auf die durch diesen Gebrauch des Begriffs der Gesellschaft entstehende Erkenntnisproblematik wird zurückzukommen sein. Die Gelegenheit wird sich ergeben, wenn über die letztlich bestehende Absicht der modernen Gesellschaftsphilosophie bzw. der Soziologie zu sprechen ist. Es soll sich zeigen, daß ihre Arbeit mit einem in seinem Umfang auslegungsfähigen Begriff der Gesellschaft vor allem in ihrem Ehrgeiz begründet sein dürfte, ein gesellschaftswissenschaftlich geformtes Weltbild der Moderne auf- und auszubauen. Vorerst hat die Bestimmung des Inhalts des Gesellschaftsbegriffs sich an die erklärten Behauptungen zu halten. Also kommt es darauf an, die Merkmale der modernen Gesellschaft aufzuzeigen, wie die herrschenden Gesellschaftswissenschaften sie erarbeitet haben. Ihre Darstellung muß an dieser Stelle in der gebotenen Kürze geschehen. Aus diesem Grund hält die Untersuchung sich im folgenden an einen Text, der einen Überblick über die Merkmale der Moderne geben will. Man mag ihn durch vergleichbare Texte vervollständigen, wenn man das als nötig erachtet. Der nachstehende Überblick ist also nicht mehr als die Wiedergabe der verbreiteten Meinung über das, was die moderne Gesellschaft auszeichnet.18 In einem umfassenden kulturgeschichtlichen Ausgriff ist zum Eingang der Übersicht, die zitiert werden soll, zu lesen, daß der Begriff der Moderne „die weltgeschichtlich einmalige Eigenart des neuzeitlichen okzidentalen bzw. abendländischen Kulturkreises bezeichnet, die im Kern durch eine Entfesselung und kumulative Entfaltung der Fähigkeit des Menschen zum rationalen Denken 18 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Art. Moderne, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 569 f.
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und Handeln bestimmt ist“. Was es mit dieser Eigenart unserer Kultur auf sich hat, wird im folgenden durch eine Vielzahl von Daten oder vielleicht besser, von Stichworten zu belegen versucht. Dabei hält sich der Text an die geschichtliche Abfolge der gesellschaftlichen Ereignisse. Deswegen wird erstens über den Beginn der Moderne gesprochen. Über ihn heißt es: „Der entscheidende Durchbruch der Moderne erfolgte mit der Philosophie der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert (Religions- und Ideologiekritik, Aufwertung individueller Freiheit und Vernunft), der Industriellen Revolution, der Französischen Revolution von 1789 und der fortschreitenden Demokratisierung, mit dem Aufschwung rationaler Wissenschaft und der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft“. Die Folgezeit entfaltet und verfestigt diesen Anfang: „Im 19. Jahrhundert wurde die Ausbreitung der Moderne durch den beschleunigten (natur-)wissenschaftlich-technischen Fortschritt, Industrialisierung, Kapitalismus, säkulare Weltanschauungsbewegungen (Liberalismus, Sozialismus, Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung) und allgemeinen Fortschrittsoptimismus angetrieben. Wirtschaftliche Entwicklung, die Heraufkunft des Rechts- und Sozialstaates und gesteigerte soziale Mobilität verstärken Tendenzen zur Auflösung sakraler, kollektivistisch-gemeinschaftlicher Bindungen des Individuums zugunsten persönlicher Unabhängigkeit, Autonomie und Verantwortung (zunehmende Individualisierung).“ Die solchermaßen herausgebildeten Daseins- und Wirkweisen des „menschlichen“ als eines gesellschaftlichen Existierens werden zunehmend nicht nur zum Lebensprogramm, sondern auch zum Lebensvollzug der europäischen bzw. europäisch geprägten Zivilisation. Als Modernisierung werden sie zum Ziel einer weltweiten Bewegung. Jedoch ist diese optimistische Modernisierung nur die eine, bis heute durchgehaltene Entwicklungslinie der Moderne. Denn das zur modernen gesellschaftlichen Existenz entfaltete „menschliche“ Leben muß auch „folgenreiche Rückschläge“ hinnehmen. Das 20. Jahrhundert kennt sie als „oppositionelle Strömungen gegen den Rationalisierungsprozess, religiöser Fanatismus, irrationalistische Heilslehren, totalitäre Ideologien und Herrschaftssysteme (diktatorischen Staatssozialismus und -kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus), machtpolitischen Mißbrauch von Wissenschaft, Technik und Bürokratie, menschenverächtliche (Bürger-)Kriege, durch Wirtschafts- und Wohlstandswachstum bedingte Umweltschäden und -zerstörungen, zunehmende Gefährdung der natürlichen Überlebensbedingungen, Erschütterung des Fortschrittsglaubens und Zukunftsoptimismus, weitverbreitete Unzufriedenheit.“ Ob diese Rückschläge die Moderne an ihr Ende gebracht haben, wird heute freimütig diskutiert. Wie es scheint, werden sie jedoch kaum als bedrohlich empfunden. Ein Glaube an eine andere, sozusagen nachmoderne Moderne, kommt zwar zur Sprache, bleibt aber unbestimmt. Denn, so sagt die herrschende Meinung, zur modernen Existenz gibt es keine Alternative. Also erörtern die Gesellschaftswissenschaften ihre „Zukunftschancen“. Sie „hängen entscheidend von einer sozial- und umweltverträglichen Steuerung der wissen-
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schaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung ab, insbesondere auch zugunsten einer allgemeinen Durchsetzung freiheitlich-humaner Lebensformen und einer entsprechenden Steuerung der Gesellschaft und des sozialen Wandels“. Diese Stichworte zur Bestimmung des als Gesellschaft verstandenen zeitgenössischen „menschlichen“ Existierens mögen genügen. Sie benennen im Großen und Ganzen diejenigen neuzeitlichen Geschehnisse und Zustände, die üblicherweise als Moderne bzw. als moderne Gesellschaft bezeichnet werden. Die genannten Merkmale sind durchgängig jedoch kaum mehr als Benennungen von Wirkungen, die geschichtlich eingetreten sind. Um sie nicht nur als Gegebenheiten hinzunehmen, sondern sie auch zu begreifen, sollte man ihre Ursachen kennen. Von ihnen ist bestenfalls in Ansätzen die Rede. So wurde beispielsweise eingangs bemerkt, daß die moderne Gesellschaft sich aus einer Entfesselung und kumulativen Entfaltung des „Menschen“ zum rationalen Denken und Handeln erklärt, und daß dieser entscheidende Durchbruch der Moderne von der Philosophie der Aufklärung geleistet wurde. Ein Denken, das ergründen will, wird sich mit diesen Angaben zu den inneren und den äußeren Entstehungsursachen der modernen Gesellschaft nicht zufrieden geben. Es wird nachdrücklicher und ausgreifender fragen. Entfesselte nicht schon die griechische „Liebe zur Weisheit“ das rationale Denken und Handeln? Und findet sich nicht schon zu ihrer Zeit die sophistische Aufklärung? Hier wären Unterscheidungen vonnöten. Zudem wären sie auf das Mittelalter auszudehnen, welches das Erbe des Altertums antritt. Zugleich erfüllt es zum Beispiel durch seine Theologie die Zeiten mit einer durchaus verstandes-bestimmten Gläubigkeit und Sittlichkeit. Der zur Begründung der Heraufkunft der Neuzeit bzw. der Moderne angeführte Hinweis auf die erstrebenswerte Rationalität des Denkens und Handelns ist also zu unbestimmt und deswegen womöglich irreführend. Die genannte innere Entfesselung und äußere Aufklärung sind von anderer Natur. Das heißt des näheren, daß man den Wandel in der Auffassung und in der Beurteilung jener bestehenden Realität studieren muß, der zum Ende des Mittelalters führt und die Neuzeit bzw. die Moderne entstehen läßt. Zu achten ist also darauf, daß die Erfahrung und das Denken der Weltwirklichkeit im Mittelalter durch und durch religiös bestimmt sind. Deshalb ist es allseits transzendenzbezogen. Diese Anschauung der Welt ist es, die sich ändert. Die Neuzeit begreift die Realität demgegenüber als profan beschaffen und deswegen als in ihrer Immanenz verbleibend. Der Grund für diese verschiedenen Weisen der Wahrnehmung und des Denkens der humanen Existenz und der Welt dürfte im Erkennen und Streben des „Menschen“ liegen, der sich schon immer durch seine Freiheit auszeichnet. Die Aufhellung dieses Grundes bleibt aber ein vielschichtiges Problem, zumal die Realität so geartet ist, daß sie, jedenfalls in gewisser Weise, auf die verschiedenen Haltungen der humanen Existenz entsprechend antwortet.19
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Für die Erfahrung und Beurteilung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz folgt aus den genannten unterschiedlichen Auffassungen und Denkweisen der Realität, daß die Gesellschaft ab einer geschichtlich einigermaßen genau datierbaren Zeit sich nicht mehr im mittelalterlichen Sinn versteht. Deswegen ist die Gesellschaft nicht mehr das pilgernde Gottesvolk, das von der christlichen Kirche als einer Heilsanstalt unterwiesen wird und die im Ganzen eine natürliche Aufbaugliederung in Ständen darstellt. So verfaßt, stand den Angehörigen dieser Gesellschaft ein ewiges Lebensziel vor Augen, das es nach den vorhandenen Kräften zu erreichen galt, nämlich die Welt zu überwinden. Im Ausgang des Altertums hat maßgeblich Aurelius Augustinus (354–430) dieses theologische Bild der Geschichte und der Gesellschaft gezeichnet. Es bestimmt in einer bald personal und bald total betonten Ausprägung den europäischen Lebensstil über die folgenden 1200 Jahre. Gegen die Gesellschaft, die nach ihm gestaltet ist,20 wendet sich das Erkennen und das Streben der Neuzeit bzw. der Moderne. In diesem Sinn gilt es, Etwas zu entfesseln und kommt es darauf an, über die neuen Zeiten aufzuklären. Die Absicht, die verfolgt wird, besteht im wesentlichen darin, die bisherige Vollzugsweise der humanen Existenz als alt zu bestimmen und deswegen umzubilden. Im Unterschied zu der Überzeugung, nach welcher der „Mensch“ seine Existenz als Bürger der civitas terrena in eine Existenz als Bürger der civitas Dei zu verwandeln hat, kommt es jetzt darauf an, die Mitgliedschaft in der Gesellschaft der Jetztzeit zu nutzen, um die Gesellschaft der Zukunftszeit aufzubauen. Wissenschaftlich wird dieses Programm durch die neuen natur- und sodann humanwissenschaftlichen Disziplinen formuliert. Die letzteren bilden den neuzeitlichen bzw. modernen Begriff der Gesellschaft aus, und sie entfalten sich in seiner Bestimmung letztlich zu den herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Dieser Begriff der Gesellschaft in seiner weiten Bedeutung besagt erstens, daß der „Mensch“ von Grund auf und in jeder Hinsicht als ein gesellschaftliches Wesen zu begreifen ist. Nur in dieser Bestimmung entwickelt er seine „Identität“ im neuen, d.h. im profanen und immanenten Sinn. Sodann wird dieser Gedanke erkenntnis-praktisch abgewandelt zu jenen genannten Begriffen von Gesellschaft, deren Umfang von der Ausrichtung auf das Wesen der Gesellschaft bis zum Meinen einer je besonderten Gesellschaft reicht. Die genannte Erkenntnis der „menschlichen“ als einer gesellschaftlichen Existenz, die in einer gesellschaftsgestaltenden Absicht ins Werk gesetzt worden ist und weiter ins Werk gesetzt wird, verbindet sich zu einem Erkenntnis-Ganzen. Es wird im Ergebnis zurecht als gesellschaftswissenschaftliches Weltbild verstanden. Die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis besteht also nicht nur in der Betrachtung der gesellschaftlichen Realität, son19 Vgl. zu dieser komplexen Problematik Gerhard Krüger, Religiöse und profane Welterfahrung, Frankfurt a. M. 1973. 20 Vgl. Werner Ziegenfuß, Augustinus. Christliche Transzendenz in Gesellschaft und Geschichte, Berlin 1948.
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dern maßgeblich in einer Anleitung, den „Menschen“ zum modernen Gesellschaftswesen um- und auszubilden. In jenem theoretischen wie in diesem praktischen Sinn bestehen die modernen Gesellschaftswissenschaften in der Tat als „die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“21. Treffender kann man ihr Betrachten und Wollen nicht zum Ausdruck bringen. Die Idee, die die modernen Gesellschaftswissenschaften antreibt, ist die Idee, unter dem Namen der Gesellschaft den „menschlichen Menschen“ auszubilden oder, um es mit der Forderung von Jean-Jacques Rousseau zu sagen: „Menschen, seid menschlich, das ist eure erste Pflicht; seid es gegen alle Stände, gegen alle Lebensalter, gegen alles, was der menschlichen Natur eigen ist. Kennt ihr noch eine Weisheit außer der Humanität?“22 Unter den modernen Gesellschaftswissenschaften versteht sich im besonderen die Soziologie als diejenige Wissenschaft, die fähig ist, die Befreiung des „Menschen“ zu sich selbst voran zu bringen. Denn, so heißt es, „trotz ihrer durchgehenden weltanschaulichen Askese“ ist die Soziologie „nicht ohne eine leitende Idee. Und zwar erscheint Soziologie in diesem Sinne als ein Teilstück im gesellschaftlichen Selbstdomestikationsprozeß der Menschheit, indem sie nach den Möglichkeiten zur Gestaltung des sozialen Lebens einzig im gesellschaftlichen Prozeß selber sucht. Der beste Weg, auf dem sich dies Ziel mit unseren heutigen wissenschaftlichen Mitteln verwirklichen läßt, ist der Aufbau eines möglichst umfassenden Inventars der lebenden Gesellschaften im Sinne gegenwartswissenschaftlicher Forschung. Dieser Systemtrieb hat jedoch nicht nur eine theoretische, sondern auch eine ausgesprochen praktische Seite, wie gerade das Auftreten sozial-moralischer Leitideen in diesem Zusammenhang beweist. Und wenn man hat meinen können, daß die ,prometheische‘ Aktion unauflösbar mit der teils messianisch verheißenen, teils ,mit Naturnotwendigkeit‘ eintretenden Weltrevolution verbunden sei, was . . . nur zum ,Primat des Politischen‘ führte, so erweist sich dies hier noch einmal als keineswegs schlüssig. Vielmehr erwächst gerade bei dem von uns entwickelten Gedanken des sozialen Wandels die Aufforderung zur Aktivität mit viel größerer Unmittelbarkeit als in den visionären Systemen von einer allgemeinen Weltkatastrophe. Bezieht sich doch für uns die ,Praxis‘ auf Einleitung und Vorbereitung der sozialen Anpassung, letztlich auf die Anpassung des konkreten Einzelmenschen in einer genau umschreibbaren Situation und in begrifflich formulierbaren Einzelverhältnissen. Die einzig gänzlich unnachprüfbare Voraussetzung, die alle Leitideen der Soziologie zu einem einheitlichen Organon zusammenschließt, läßt sich ebenfalls mit wenigen Worten resümieren. Sie liegt darin, daß die soziale 21 Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (zuerst New York 1966), Frankfurt a. M. 1970/200420. 22 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (1762), zitiert in: Werner Ziegenfuß, Jean-Jacques Rousseau. Eine soziologische Studie, Erlangen 1952, S. 49.
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Selbstdomestikation der Menschheit als Kooperation menschlicher Einzelpersonen in einer freien Gesellschaft in keinerlei Vergangenheit zu finden ist, sondern ganz und gar in der Zukunft gesucht werden muß. Diese Gewißheit gibt der Soziologie heute wie ehedem ihre ungeheure Stoßkraft. Die Soziologie entspringt nicht nur aus dem Willen einer bestimmten Gegenwart, sie wirkt auch im Sinne der Zukunftsgestaltung auf diese zurück. An ihr ist es, die Mittel dazu bereitzustellen; an uns ist es, diese Zukunft wirklich zu wollen. – Wir wollen schließen mit den Worten, die Saint-Simon in einer seiner Lebensbeschreibungen auf sich selbst anwandte und die der Überlieferung nach auch seine letzten Worte auf dem Totenbett gewesen sein sollen, Worte, die diesen Glauben der Soziologie in eine unvergeßlich einprägsame Formel zusammenpressen. Sie lauten ,Je vis encore dans l’avenir‘, denn: ,L’homme c’est l’avenir de l’homme‘“: Der „Mensch als integrale sozialkulturelle Persönlichkeit ist erst die Zukunft des Menschen.“23 In der voraufliegenden Erörterung wurde darzustellen versucht, auf welche Weise oder deutlicher, auf welche Weisen die Gesellschaft nach der Ansicht der herrschenden Gesellschaftswissenschaften real besteht. Die Gesellschaft, die als Realität aufgefaßt wird, ist verschieden von ihrer Auffassung als einem Gedachtsein. Nach der kritisch-realistischen Überzeugung von der Beschaffenheit der Realität wird das, was besteht, zuletzt durch sein Wesen bestimmt. Da die modernen Gesellschaftswissenschaften den herrschenden Ansichten über das Erkennen folgen, sind sie an der Bestimmung des Wesens der Gesellschaft kaum interessiert. In der Regel beschränken sie sich darauf, das, was sie im Denken oder auch nur in der Wahrnehmung erfaßt haben, in seinen Merkmalen an sich 23 René König, Soziologie heute, Zürich 1949, S. 121 ff. – René König wiederholt jedoch nur, was seit den Anfängen der Soziologie gelehrt wird. Bei Emile Durkheim, dem ihm am nächsten stehenden soziologischen Gründervater, liest man unter dem Titel Die moralische Autorität der Kollektivität (1906), Abdruck in: Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie (zuerst Paris 1924), Frankfurt a. M. 1967, S. 130: „Der Gesellschaft verdanken wir unsere Herrschaft über die Dinge, die einen Teil unserer Größe ausmacht. Sie ist es, die uns von der Natur befreit. Versteht es sich dann nicht von selbst, daß wir sie uns als ein psychisches Wesen vorstellen, das dem unseren überlegen ist und aus dem das unsere hervorgeht? Dementsprechend läßt es sich erklären, daß wir uns ehrfurchtsvoll vor ihr neigen, wenn sie uns jene kleinen oder großen Opfer abverlangt, die unsere Sittlichkeit gestalten. Der Gläubige neigt sich vor Gott, weil ihm das Sein, insbesondere sein geistiges Sein, seine Seele, von Gott zu stammen scheint. Aus den gleichen Gründen hegen wir ein solches Gefühl gegenüber der Kollektivität.“ – Einzelnachweise über die Urheberschaft und die Ausgestaltung des gesellschaftswissenschaftlichen Weltbildes der modernen „menschlichen“ Existenz sind inzwischen reich belegt. Vgl. auswahlsweise Michael Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. Zur Entstehung des modernen Weltbildes, Stuttgart 1980; Helmut Kuhn, Soziologische Plausibilität und politische Wahrheit, in: Zeitschrift für Politik 27. Jg., 1980/4, Wiederabdruck in: ders., Ideologie – Hydra der Staatenwelt, Köln/Berlin/Bonn/München 1985; Wilhelm Weber, Wenn aber das Salz schal wird . . . Der Einfluß sozialwissenschaftlicher Weltbilder auf theologisches und kirchliches Sprechen und Handeln, Würzburg 1984.
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selbst und insbesondere im Verhältnis zu anderen Gegenständen festzustellen und wenn möglich zu erklären. Deswegen beschäftigen sie sich nahezu durchgängig nur mit den Fragen des Wie-Seins der Gesellschaft im Unterschied zu denen ihres So- und damit ihres Wozu-Seins. Indem dieser Regelfall formuliert wird, ist jedoch sogleich eine Richtigstellung vonnöten. Denn immer wieder stößt man auf ein gesellschaftswissenschaftliches Bemühen, die Frage nach dem Wesen der Gesellschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Im Sinn der realistischen Erkenntnistradition wird gesellschaftswissenschaftlich hier oder dort also auch nach dem So-Sein der Gesellschaft gefragt. Das ist die Form des humanen Mit-Anderen-Eins-Seins. Sofern so gedacht wird, erschöpfen die Gesellschaftswissenschaften sich nicht in einer theoretischen Ordnung von wahrgenommenen bzw. von geistig erfaßten „menschlichen“ Verhältnissen. Im Bewußtsein eines „Wesens“, das die Gesellschaft charakterisiert, suchen sie nach dem „Grund“, der ihre erscheinenden Merkmale trägt. Die gesellschaftswissenschaftliche Frage nach dem „Intelligibel-Sozialen“ im „Sensibel-Gesellschaftlichen“ ist noch nicht vergessen. Versucht man, sich einen Überblick über die Bemühungen zu verschaffen, was in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften als „Wesen“ der modernen humanen Existenz oder eben der Gesellschaft gelten könnte, stößt man auf verschiedene Meinungen. So heißt es etwa zum ersten, daß dieses „Wesen“ der Gebrauch der Kräfte des Verstandes ist, den eine vernünftige Vernunft anleitet; oder zum zweiten, daß es in der freiheitlichen Gestaltung der Kultur zu erblikken ist; oder zum dritten, daß es in der sittlichen Selbstbestimmung besteht. Deswegen scheint es notwendig zu sein, diese und zahlreiche weitere Untersuchungen darüber, was als das „Wesen“ der Gesellschaft benannt wird, aufmerksam zu studieren. Andererseits muß man jedoch feststellen, daß gegenüber allen diesen Bestimmungsversuchen der Einwand vorgetragen wird, daß sie die in Frage stehende Gesellschaft nicht im Allgemeinen zu erfassen vermögen. Sie benennen sie, wie nicht ohne Grund kritisiert wird, nur in einzelnen Existenzbeständen, sofern es sich überhaupt um das zu bestimmende „Wesen“ handelt. Darüber hinaus weiß heute jedermann, in welchem Maße die den Verstand orientierende Vernunft von unvernünftigen Einbildungen in Frage gestellt, die Formung eines Kulturstils vom Kulturverfall untergraben, die Welt der sittlichen Werte von einer Moral ohne Sünde zerstört wird, usw. Das sind die hauptsächlichsten Gründe, aus denen alle diese Bestimmungen letztlich verworfen werden. Denn sie sind untauglich, die Gesellschaft in ihrem So-Sein zu begreifen. Die genannten Mängel sind der Anlaß, aus dem nicht nur die herausragenden Persönlichkeiten der Zeit dazu kommen, sondern aus dem auch und gerade „man“ dazu kommt, das „Wesen“ der Gesellschaft auf eine ganz andere Weise zu bestimmen. Beispielsweise heißt es, daß das, was die Gesellschaft zur Gesellschaft macht, als System oder jedenfalls im Sinn eines Systems zu begreifen
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ist, d.h. als eine Anordnung von mehreren Teilen zu einem Ganzen. Ähnlich sagt man, wenn auch gänzlich unbestimmt, daß das „Wesen“ der Gesellschaft in einem Insgesamt von „menschlichen“ Lebensverhältnissen besteht. Diese Unbestimmtheit gilt es zu überwinden. Des weiteren heißt es aber auch, daß das gesuchte „Wesen“ eine Beziehungseinheit bildet. Dieser Ausdruck will besagen, daß die „wesentliche“ Einheit eine Mehrzahl unterschiedlicher Beziehungen in sich umgreift und miteinander verbindet, so daß sie als diese Vereinheitlichung von allen anderen Dingen sich abhebt. Das „Wesen“ der Gesellschaft besteht also in einem Ordnen. Offensichtlich laufen jene Ganzheits- und diese Ordnungsvorstellungen auf denjenigen formalen Sachverhalt hinaus, den in der Regel der Begriff der Struktur oder weniger geläufig der des Gefüges bezeichnet. Was die Gesellschaft zur Gesellschaft macht, besteht also in ihrer Struktur. Mit andern Worten: Ihr „Wesen“ besitzt die Gesellschaft in ihrer Aufbaugliederung. Wie sorgfältig die herrschenden Gesellschaftswissenschaften mit dieser Bestimmung umgehen, ist im folgenden zu prüfen. Denn was man zunächst als eine klare und deutliche Erkenntnis halten mag, erweist sich alsbald als bloßer Schein. Es soll sich zeigen, daß der Ausdruck der Struktur, der die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis aufschließen soll, eine beachtliche Bedeutungsvielfalt besitzt. Sie reicht vom Sinn des Wortes Struktur als jenes gesuchte – und vermeintlich gefundene – „Wesen“ der Gesellschaft bis zum Sinn des Wortes, der sich aus den jeweiligen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsumständen ergibt. Dieser letztere Wortgebrauch ist von Haus aus also unbestimmt und deshalb stets sorgfältig zu bedenken. Sodann wird der Ausdruck der Struktur in einer gänzlich anderen Absicht verwendet. Er erklärt sich aus der Zielsetzung der herrschenden Gesellschaftswissenschaften, die sich bemühen, das Weltbild der modernen humanen Existenz auszulegen und einzurichten. In diesem Zusammenhang ist der Ausdruck stets appellativ gemeint. Er versteht sich also als gebieterische Regel oder zumindest als ein auffordernder Hinweis. In dieser Bedeutung verstanden, will er besagen, daß das jeweils erörterte Problem nicht beiläufig ist und deswegen besondere Aufmerksamkeit verdient. Oder trivial gesagt: Wenn die Gesellschaftswissenschaften Etwas als strukturell beschaffen bezeichnen, ist die Sache irgendwie wichtig. So eingestellt, sprechen sie absichtsvoll in der Sprache des Alltags. Denn sie wissen, daß in ihr der Gebrauch des Ausdrucks Struktur unbegrenzt möglich zu sein scheint. Das dürfte daran liegen, daß dieses Wort im tagtäglichen Zusammenhang als ein sprachliches Signal verstanden wird, das zu einem ordnenden Verhalten auffordert. Wie es scheint, weiß jedermann im Alltag, was der Fall ist und was er zu tun hat, wenn, von wem auch immer, Dinge und natürlich auch „Menschen“ als strukturiert bzw. als zu strukturieren bezeichnet werden.24 24 Vgl. hierzu z. B. die folgenden sprachwissenschaftlichen Untersuchungen: Hans Weigel, Die Leiden der jungen Wörter. Ein Antiwörterbuch, München/Zürich 19742; Uwe Pörksen, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
Um den gesellschaftswissenschaftlichen Gebrauch des Ausdrucks der Struktur bestimmen zu können, kann man sich eines Einteilungsgrundsatzes bedienen, der in der Tradition der wissenschaftlichen Arbeit erprobt ist. Es könnte ratsam sein, zwischen drei grundlegenden, logisch in sich geschlossenen Ordnungen der Dinge zu unterscheiden. Zu nennen ist zum ersten die Seinsordnung und die aus ihr unvermittelt folgende Wirk- bzw. Gestaltungsordnung, zum zweiten die Erkenntnisordnung sowie zum dritten die Ordnung des sittlichen Sollens. Offenkundig verwenden die modernen Gesellschaftswissenschaften den Begriff der Struktur in jeder dieser Ordnungen und darüber hinaus auch innerhalb ihrer in verschiedenen Bedeutungen. Deswegen seien im folgenden sechs Begriffe von Struktur unterschieden, die der eine Ausdruck der Struktur zur Sprache bringt. Im Rahmen erstens der Ordnung des Seins bzw. des Wirkens besagt Struktur der Gesellschaft (1) das, kraft dessen die Gesellschaft besteht. In diesem Sinn liest man zum Beispiel: „Der Begriff der Struktur hat in der modernen Soziologie zentrale Bedeutung gefunden. Er bietet einen doppelten Aspekt“. In seiner ersten Bedeutung bezeichnet er „das innere Gefüge der Gesellschaft oder Gruppe (d.h. eines sozialen Systems) . . ., vermittels dessen sie in der Zeit überleben“25. Vom Überleben der Gesellschaft ist also die Rede, d.h. von ihrem Bestehen in der Zeit. Damit ist ausgesprochen, was man in der Ausdrucksweise der Tradition als Substantialität der Gesellschaft bezeichnen würde. Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Substantialität jedoch nicht mehr im umfassenden herkömmlichen Sinn gemeint. Die vorgenommene Einschränkung, derzufolge die Struktur nur als ein Beharren, nicht jedoch auch als ein Selbstand sowie als ein Tätigsein aus sich heraus verstanden wird, läßt erkennen, daß die zitierte Bestimmung wohl mit dem Substanzdenken der Tradition vertraut ist, daß sie sich jedoch dem Kritizismus Immanuel Kants verpflichtet weiß. In seinem Sinn besagt der Begriff der gesellschaftlichen Struktur also das verstandeskategorial definierte substantielle Bleiben der Gesellschaft in ihren, in der Zeit sich abwandelnden Erscheinungen. Von dieser Struktur als substantiellem zeitlichen Bleiben der Gesellschaft ist verschieden der Begriff der Struktur, der (2) dieses Bleiben im Sinn eines Zusammenhanges jener ursprünglichen Formkräfte versteht, welche die nicht-gesellschaftlich existierenden Menschen zu einer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt umbilden. Diese Kräfte bestehen als die Wesensformen oder logisch betrachtet, als die Kategorien der Gesellschaft. Sie werden in den „Grundbegriffen“ der Gesellschaftswissenschaften zum Ausdruck gebracht. „Dazu gehören“, so kann man lesen, „etwa Begriffe wie der des sozialen Handelns, der Regelung durch Erwartungsnormen, der sozialen Rolle,
19882; Eckhard Henscheid, Dummdeutsch. Ein Wörterbuch, Stuttgart 1993; Roland Kaehlbrandt, Deutsch für Eliten. Ein Sprachführer, Stuttgart 1999. 25 René König, Art. Struktur, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 314.
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der Gruppe und viele andere mehr, deren Entwicklung der allgemeinen Soziologie zukommt. Diese ist also zweifellos keine empirische Wissenschaft, sondern begrifflich-analytisch, obwohl sich ihre Grundbegriffe, wenn sie tragbar sein sollen, auch an der Erfahrung müssen, ,illustrieren‘ lassen, ohne jedoch aus ihr ,abgeleitet‘ werden zu können.“26 Der durch seine „Grundbegriffe“ erfaßte Bestand der Gesellschaft erscheint in der Erfahrung in teils notwendigen, teils kennzeichnenden und teils zufälligen Eigenschaften. Sie bilden (3) die empirische Struktur der Gesellschaft. Die Eigendynamik ihres Seins und ihre Erkenntnis durch die Gesellschaftswissenschaften als empirische Wissenschaften, die von der empirischen Sozialforschung als der gesellschaftlichen Beobachtungsforschung beherrscht werden, sorgen dafür, daß dieser Begriff der Struktur in der Regel durch das Wort Sozialstruktur zum Ausdruck gebracht und dadurch von der Struktur im Sinn des substantiellen Bleibens sowie im Sinn der Wesensformen bzw. der Kategorien der Gesellschaft unterschieden wird. Die als Sozialstruktur bezeichnete Struktur meint den „Aufbau des gesellschaftlichen Erscheinungszusammenhanges“, also das gegliederte Insgesamt der beobachtbaren Eigenschaften der Gesellschaft. Dieses gesellschaftliche Gefüge wird als Tatsache nicht nur im Ganzen untersucht, sondern auch, wenn nicht sogar vor allem, in seinen Teilen: Im Ganzen gliedert es sich in seine „gesellschaftlichen Funktionsbereiche und Subsysteme, und zwar in Überschneidung mit der Wirtschaftsstruktur, ferner sozioökonomisch unterscheidbare Bevölkerungskategorien bzw. die soziale Ungleichheit (vertikale Sozialstruktur), Herrschaftsstruktur, Siedlungsstruktur, Altersaufbau der Gesellschaft . . ., regionalkulturelle und ggf. die religiöse, sprachliche, ethnische und nationale Struktur“; im einzelnen bildet das in der Erfahrung gegebene Gefüge unter „Berücksichtigung der direkten Kommunikation und Interaktion die Figurationen unmittelbarer sozialer bzw. mitmenschlicher Beziehungen in kleinräumigen Umweltbereichen“27. Von diesen drei Bestimmungen der Struktur als Beschaffenheit der Gesellschaft, sofern sie der Seins- bzw. der Wirkordnung angehören, ist verschieden die Bestimmung der Struktur der Gesellschaft als Befund der Erkenntnisordnung. Ihn meinen die herrschenden Gesellschaftswissenschaften, wenn sie (4) in der gesellschaftlichen Struktur den Leitgedanken des Erfassens der Gesellschaft erblikken, also deren Idee oder auch Urbild. Der Begriff der Struktur benennt also ein Erkenntnisprinzip. Er ist ein per se notum, wie die Alten gesagt haben. Oder mit Immanuel Kant gesprochen, ist der Begriff der Struktur der Gesellschaft das regulative Prinzip ihrer gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis. Das Denken der gesellschaftlichen Struktur bietet somit „die Möglichkeit
26 René König, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1, Stuttgart 19733, S. 2. 27 Karl-Heinz Hillmann, Art. Sozialstruktur, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 815.
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einer objektiven, d.h. wertungsfreien Erkenntnis sozialer Zusammenhänge“28. Schließlich kommt der Begriff der Struktur zur Anwendung in der Ordnung des sittlichen Sollens. Deren Mitte bildet die normative Ethik. Als Sozialethik berührt sie sich vielfach mit denjenigen Gesellschaftswissenschaften, die auf die Erkenntnis der Vergesellungen und ihres Seins gerichtet sind. Daß dieser Zusammenhang jedoch weniger Anlaß gibt, einen besonderen Begriff der Struktur der Gesellschaft auszubilden, ist bekannt. Die normativen sozialen bzw. politischen Ethiken sprechen lieber von der Kommunikation als dem Grund, der sie trägt und ihre Regeln bestimmt. Anders verhält es sich mit der Ethik bzw. der Sozialethik im deskriptiven Sinn. Denn von Anfang an und weitgehend bis heute verstehen die modernen Gesellschaftswissenschaften sich auch als Wissenschaften von den sittlichen oder, wie es in der Regel heißt, von den moralischen Lebensverhältnissen, die sich bald so und bald anders begründen und ausgestalten. Sie methodisch-systematisch verschieden erforschend, sind sie ausgebildet als Philosophie metamoralischer Probleme einerseits sowie andererseits als fachwissenschaftlicher Moralpositivismus und als Statistik des moralischen Verhaltens. Diese Wissenschaften befassen sich nicht zuletzt mit den je geltenden Werten zum einen und den je verpflichtenden bzw. befolgten Normen zum anderen. Dabei stoßen jene Disziplinen auf das „Reich der Werte“, das sie in der Regel (5) als ein „System mit Anzeichen einer hierarchischen Struktur“29 begreifen, während diese Disziplinen den Zusammenhang der Normen zu erfassen suchen, der (6) eine Struktur besitzt, die jener entspricht.30 Denn die gegliederte Ordnung der Normen wird bestimmt durch die gegliederte Ordnung der Werte. Die genannten sechs Begriffe von Struktur, die unterschieden worden sind, dürften diejenigen sein, die die modernen Gesellschaftswissenschaften in „theoretischer“ Absicht am häufigsten verwenden. Durch den Hinweis auf einen siebten Begriff von Struktur mag die Untersuchung beendet werden. Dieser Begriff wurde bereits benannt und durch seinen appellativen Sinn gekennzeichnet. Dieser Strukturbegriff (7) bezieht sich nicht auf das Gefüge der Gesellschaft, wie das die aufgewiesenen Begriffe in dieser oder jener Weise tun. Sein Inhalt besteht vielmehr darin, den Leser bzw. den Hörer von gesellschaftswissenschaftlichen Darlegungen auffordernd anzusprechen. Indem der Begriff bzw. der Ausdruck der Struktur formuliert und ausgesprochen wird, soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß der dargelegte Sachverhalt für die Erkenntnis der Gesellschaft und über sie hinaus in deren Folge für die Lebensvollzüge der modernen „menschlichen“ Existenz wesentlich ist. In diesem Sinn beschäftigen 28 René König, Art. Struktur, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 314. 29 Karl-Heinz Hillmann, Art. Wert, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 929. 30 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Art. Norm, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 615 und Art. System, S. 857.
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sich die herrschenden Gesellschaftswissenschaften allerorten mit strukturellen Problemen, zum Beispiel in der gesellschaftswissenschaftlichen Theoriebildung oder zur Kennzeichnung der Beschaffenheit der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft oder in der Diskussion über die eigenen Lebensverhältnisse, die so oder so zu ordnen sind, usw. In diesem Sinn kann man an zuständiger Stelle unter dem Stichwort Gesellschaft zum Beispiel das folgende lesen: Aus der Sicht der Soziologie „bezeichnet Gesellschaft die umfassende Ganzheit eines dauerhaft geordneten, strukturierten Zusammenlebens von Menschen . . .“31 Was, so fragt man sich, meint in diesem Zusammenhang das Wort strukturiert? Ändert sich der Sinn der Aussage, wenn man auf diesen Ausdruck verzichtet? Das ist offensichtlich nicht der Fall. Also meint das Wort „strukturiert“ nichts anderes als eben dies: Daß die Gesellschaft als ein dauerhaft geordnetes Zusammenleben von „Menschen“ wahrhaftig als ein dauerhaft geordnetes Zusammenleben besteht. Das gilt es zu begreifen, und es möchte endlich der Fall sein, weil die Bestimmung des dauerhaft geordneten Zusammenlebens klarer nicht gesagt werden kann. Nun mag es die Meinung geben, daß dieser, zu einer Zustimmung auffordernde Gebrauch des Wortes Struktur dann und wann eben vorkommt. Indessen, man kann dieser Ansicht nicht entschieden genug widersprechen. Deswegen sei dem ersten Beispiel ein zweites hinzugefügt. Es belegt die bestehenden, um eine Zusicherung bemühten Verhältnisse. Das Beispiel findet sich nicht irgendwo, sondern in einem jüngst veröffentlichten Beitrag des Mitteilungsblattes der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. In diesem Exposé stellt sich eine Arbeitsgruppe „Alter(n) und Gesellschaft“ vor. Ihre „Initiative“ besteht in dem zielstrebigen Wunsch, als professionelle gesellschaftswissenschaftliche Organisation anerkannt zu werden. Gesellschaftswissenschaftler wenden sich ambitioniert an ihresgleichen. In diesem Fall ist nichts nützlicher als der Gebrauch des Wortes Struktur. Die Fachkollegen schreiben: Bereits von der „Soziologie der späten 1950er und 60er Jahre“ . . . wurde „der gesellschaftliche Zusammenhang von ,Altersproblemen‘ reflektiert. Schon damals findet sich . . . die Forderung nach Theorien der (Struktur-)Entwicklung von Gesellschaft“: Die „,ständig steigende Intensität der struktursoziologischen Altersforschung . . . deutet bereits darauf hin, daß die allgemeine Altersproblematik . . . in der Gegenwart eine besondere Artikulation in der Struktur der Gesamtgesellschaft erfahren hat‘. Heute bestimmt über soziale und sozialpolitische Bezüge hinaus das Alter wesentlich deutlicher als zu Beginn der sechziger Jahre gesellschaftliche Strukturen. Die ,soziale und strukturelle Altersproblematik‘ . . . hat sich zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Problematik entwickelt.“32 31 Karl-Heinz Hillmann, Art. Gesellschaft, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 285. 32 Gertrud M. Backes, Arbeitsgruppe Alter(n) und Gesellschaft, in: Rüdiger Lautmann (Hrsg.), Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Heft 4, 1998, S. 58.
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Die Untersuchung des vieldeutigen Gebrauchs des Ausdrucks der Struktur dient nicht zuletzt dem Zweck, auf die Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die das Verständnis gesellschaftswissenschaftlicher Abhandlungen begleiten. Es mag ratsam sein, diesen mißlichen Zustand durch ein Beispiel zu verdeutlichen. Es findet sich leicht, und es genügt dafür ein kurzer gesellschaftswissenschaftlicher Text. Die Passage, die zitiert werden soll, entstammt einem kürzlich verteilten Prospekt eines Verlages, mit dem dieser auf die Veröffentlichung eines Handwörterbuches zur Gesellschaft Deutschlands aufmerksam macht. Dieser Text vereinigt auf knappstem Raum jene sieben unterschiedenen Begriffe der Struktur der Gesellschaft. Um sie zu verstehen und damit den Text im einzelnen wie im ganzen zu begreifen, bedarf es eines gewissen Maßes an begrifflichem Unterscheidungsvermögen und der Gabe, das Unterschiedene wieder zusammenfassen zu können. Zum leichteren Verständnis sei der jeweils gemeinte Begriff durch die vorgenommene Numerierung gekennzeichnet. Es heißt: „Das Handwörterbuch stellt in 65 Artikeln Grundlagen und Grundstrukturen – das meint: Struktur (1) und (2) bestimmt durch Struktur (4) – des gesellschaftswissenschaftlichen Systems – das meint: Eine Menschenmehrzahl bestimmt durch Struktur (3) – Deutschlands dar. Es ist ein umfassendes, zuverlässiges Grundlagenwerk für alle, die sich in Studium und Beruf mit der Gesellschaft Deutschlands auseinandersetzen. Jedem Beitrag liegt folgende Gliederung zugrunde: Definition und Abgrenzung; sozialgeschichtlicher Hintergrund; gegenwärtige sozialstrukturelle – das meint: Struktur (3) – Ausprägung; sozialpolitische Relevanz. Das Gewicht – das meint: Struktur (7) – liegt auf der gegenwärtigen sozial-strukturellen – das meint: Struktur (3) mit den Beziehungen zu Struktur (5) und (6) – Ausprägung des betrachteten Gegenstandes.“33 Die Auseinandersetzung mit den vielen Bedeutungen des einen Ausdrucks der Struktur ist jedoch nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Bestimmung des „Wesens“ der Gesellschaft. Mit einem zweiten ist zum Kern dieser Aufgabe vorzudringen. Sie zu lösen besteht darin, anzugeben, inwiefern die aufgewiesenen verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Struktur ein Sinnganzes bilden. Sollen sie nämlich zurecht bestehen, dann müssen ihre Verhältnisse untereinander sinnvoll sein. Die folgende Untersuchung will sich mit der Überprüfung eines einzelnen Verhältnisses begnügen. Seine Klärung mag beispielhaft den Grund verdeutlichen, aus dem es geboten ist, den gesellschaftswissenschaftlichen Gebrauch der verschiedenen Strukturbegriffe zu klären und dieser Klärung entsprechend zu ändern. Zu erörtern ist das Verhältnis zwischen dem Begriff der Struktur (1) und dem Begriff der Struktur (3), also das Verhältnis zwischen seiner Bedeutung als substantielles Bleiben der Gesellschaft und als in der Erfahrung gegebener Aufbau der Gesellschaft. 33 Leske & Budrich-Verlag, Anzeige von Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, S. 2.
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Wie erinnerlich, stieß die Erörterung auf ihrer Suche nach dem „Wesen“ der Gesellschaft auf das gesellschaftswissenschaftliche Urteil, nach dem dieses „Wesen“ in der Struktur der Gesellschaft besteht. Die Vergewisserung, wie man diese Struktur zu verstehen hat, ergab, daß sie vorzugsweise als kategoriale Substanz im kritizistischen Sinn zu begreifen ist. Des näheren besagt dieses Verständnis, daß die Struktur die Gesellschaft in der Zeit beharren läßt oder, anders ausgedrückt, daß sie die Gesellschaft in ihrer Verwirklichung trägt. In diesem Punkt stimmt die realistische Definition der Substanz mit ihrer kritizistischen Bestimmung überein, ohne sich freilich, wie bekannt, hierin zu erschöpfen. Die Problematik der im Kritizismus eingeschränkten Geltung der Substanz bzw. der Struktur der Gesellschaft mag jedoch auf sich beruhen. Denn im anstehenden Zusammenhang kommt es darauf an, daß die modernen Gesellschaftswissenschaften überhaupt von der Konstitution der Gesellschaft reden, oder, wie man auch sagen kann, von ihrem inneren Aufbau. Kraft ihrer Struktur also ist die Gesellschaft das, was sie ist. Den Begriff der gesellschaftlichen Struktur versteht man somit richtig, wenn man ihn, mit Immanuel Kant gesprochen, als einen konstitutiven Begriff versteht oder, im Sinn der Tradition gesagt, als einen Begriff, der einen ersten Ursprungsgrund benennt. Dasjenige, das durch eine Konstitution konstituiert wird, heißt bei Immanuel Kant Phänomen. Es stellt den Gegenstand der Erkenntnis dar, da dieser nach der Einheit der Verstandeskategorien gedacht worden ist. Nach der Lehre der Tradition ist das, was kraft seines Seinsprinzips besteht, das Reale bzw. das Wirkliche. Die Anlässe, die zu diesen tiefgreifenden unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Seienden führen, brauchen an dieser Stelle nicht untersucht zu werden. Denn die Behandlung des Problems, das zu lösen ist, kann sich davon leiten lassen, daß die gelehrte Welt am Unterschied festhält, der zwischen einem Ursprungsgrund besteht und dem, was er begründet, also dem von ihm innerlich Aufgebauten, sofern er wirksam geworden ist. Diese Unterscheidung beachtend, ist festzustellen, daß die modernen Gesellschaftswissenschaften die Gesellschaft vorzugsweise als eine diesseits ihrer Begründung bestehende Erscheinung studieren. Der Erkenntnisweise zufolge, der sie gehorchen, ist die Gesellschaft nur etwas sinnlich Gegebenes. Das ist die Gesellschaft, wie sie tatsächlich besteht und geschieht. Sind die Gesellschaftswissenschaften mit der bloßen Beobachtung dieser Bestände und ihres Geschehens nicht zufrieden, dann sind sie gehalten, die zu ihrer Erfassung geeigneten Begriffe auszubilden, also Allgemeinbegriffe, mit deren Hilfe sie Erscheinungen erkennen können, die vielen tatsächlichen Befunden gemeinsam sind. Ein Zusammenhang von empirischen Begriffen wird in den modernen Gesellschaftswissenschaften zumeist als Theorie bezeichnet. Begriffszusammenhänge dieser Art bzw. Theorien haben die Gesellschaftswissenschaften in großer Zahl entwickelt. Unter ihnen nimmt die Theorie von der Struktur der Gesellschaft einen hervorragenden Platz ein. Im Unterschied zu jenem Begriff der Struktur, der den Ursprungsgrund des Auf-
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baus der Gesellschaft besagt, bezeichnet dieser Begriff der Struktur die Gesellschaft, soweit sie als deren gegliederter Aufbau erscheint. Liegt jener Begriff der Grundlegung der Gesellschaft in der Ebene des Transzendenten bzw. des Transzendentalen, so liegt dieser in der Ebene des Empirischen, und er ist dienlich, Wahrnehmungsurteile zu formulieren. Deswegen besteht zwischen den beiden Begriffen der Struktur hinsichtlich des Erkenntnisvollzugs wie hinsichtlich des Erkenntnisgegenstandes ein sachlich vollkommener Unterschied. Natürlich ist es möglich, verschiedene Gegenstände, wie die genannten, mit einunddemselben Wort zu bezeichnen. Will man Mißverständnissen vorbeugen, dann empfiehlt es sich, die jeweiligen Wortbedeutungen zu erklären. Schwierig ist das nicht. Im anstehenden gesellschaftswissenschaftlichen Fall des Wortes Struktur gibt es eine solche Vereindeutigung nicht. Das gilt auch und gerade von der Verwendung des Ausdrucks der transzendenten bzw. der transzendentalen Struktur einerseits und des Verlegenheitsausdrucks der empirischen Sozialstruktur andererseits. Der homonyme Gebrauch des Wortes Struktur bleibt erhalten und mit ihm der Schein von etwas Bleibenden durch eine reich gegliederte gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Denn jene Bedeutungen des Wortes Struktur und diese Bedeutung des Wortes Struktur gehören Zusammenhängen an, die logisch in sich geschlossen sind, weshalb sie sich nicht aufeinander hinentwickeln lassen. Das ist der Grund, aus dem die Gesellschaftswissenschaften den Ausdruck Struktur sinnwidrig verwenden. Die vorgetragene Kritik findet ihre Begründung zuletzt in einer Besinnung auf die Alltagssprache. Denn sie gilt in der Regel als der erste und vornehmste Symbolzusammenhang der Verständigung unter den humanen Existenzen. In der Folge trägt er alle anderen Sprachen und deswegen auch diejenigen der Wissenschaften. In diesem Bedeutungszusammenhang des ursprünglichen Sich-Verstehens gründet auch der Sinn des Ausdrucks der Aufbaugliederung, der jenem Fremdwort entspricht. Als Aufbaugliederung verstanden, ist eine Struktur niemals ein Ursprungsgrund. Es gibt keine Struktur im Sinn des „Wesens“ von Etwas. Denn alles, was sich als Struktur wahrnehmen läßt, besteht als eine bestimmte Beschaffenheit von Etwas, also als eine Weiterbestimmung eines zuvor Bestimmten. Zur Verdeutlichung dieses Ausdrucks der Struktur wird gern darauf verwiesen, daß sie sich anschaulich im Bauwesen findet. In den Kennzeichnungen dieses Zusammenhanges hat der Ausdruck der Struktur wohl seinen Ursprung. Er meint die Aufbaugliederung von Bausteinen zu einem Mauerwerk. In dieser Bedeutung als „Geordnetheit einer Ordnung“ hat dieser Name in die Sprache zahlreicher Wissenschaften Eingang gefunden, in denen er den Erkenntnisgegenständen entsprechend in feinen Veränderungen seiner Bedeutung gebraucht wird. Am Ende stellt er sich in der Alltagssprache wieder ein, zum Beispiel als Bezeichnung einer besonderen Eigenschaft einer textilen „Substanz“. Sie wird dann als strukturiert benannt, wenn ihre Oberfläche sich durch
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ein (erhaben) gestaltetes Muster auszeichnet. In der Bedeutung des Gerade-soAngeordnetseins von Etwas ist das Wort Struktur zum Beispiel mit dem Wort Bewußtsein vergleichbar. Es wird auch immer wieder falsch verwendet. Denn auch das Bewußtsein ist kein „Sein“, d.h. etwas an sich. Das Bewußtsein ist vielmehr stets das Bewußtsein von Etwas, das ein Jemand hat. Dieses Bewußtsein wie jene Aufbaugliederung sind also Zustände oder, wenn man will, Eigenschaften, die ein Selbstand, eine „Substanz“, besitzt. Hält man an der genannten alltäglichen Bedeutung des Ausdrucks der Struktur fest, also im Sinn einer hinzutretenden Bestimmung eines zuvor bestimmten Sachverhalts, dann wahrt nur jener oben genannte (3) Begriff der gesellschaftlichen Struktur seine ursprüngliche Bedeutung. Allein als sogenannte Sozialstruktur benennt er eine Eigenschaft der Gesellschaft, die, wie auch immer, vorgängig als diese bestimmt ist. Jener (1) und jener (2) Begriff der Struktur der Gesellschaft besagen diese Weiterbestimmung gerade nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Als transzendente wie als transzendentale Struktur meint er keine Eigenschaft der Gesellschaft. Er meint ihren inneren seienden bzw. denkkategorialen Grund als Prinzip bzw. als Aufbau ihrer Erscheinung. Das Aufbaugliederungsein besteht im Gliedern von Etwas. Benennt man dieses Etwas nicht, ist die Rede des Gliederns ohne Sinn. Wenn aber der transzendente bzw. der transzendentale Sinn der ursprünglichen Bedeutung des Wortes widerstreitet, dann darf man sagen, daß die Verwendung des Strukturbegriffes in jenen Deutungen widersinnig ist. Diese Einsicht veranlaßt zu einer Folgerung, die nicht umgangen werden kann. Sie lautet: Sofern das sprachliche Symbol für das Symbolisierte steht, ist der Schluß erlaubt, daß der Begriff der Struktur im Sinn des Ursprungsgrundes der Gesellschaft diesen Ursprungsgrund nicht erfaßt, weil er ihn noch nicht einmal zum Inhalt hat. Der Begriff der Struktur als Ursprungsgrund, als „Substanz“ oder als „Wesen“ der Gesellschaft ist ein leerer Begriff. Er ist eine Leerformel, wie man heute zu sagen pflegt. Daß diese Formel nützlich ist, ist jedoch keine Frage. Denn als Bestandteil des gesellschaftswissenschaftlichen Weltbildes läßt sie sich mit vielen Inhalten füllen. Es mag erlaubt sein, an Goethe zu erinnern: Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch etwas denken lassen. Die Alten, da sie für diese subtile Psychologie noch keinen rechten Sinn entwickelt hatten, bezeichneten einen Fall, wie den anstehenden, wenig zimperlich als flatus vocis, also als „leeres Gerede, (als) Geschwätz“34.
Franz Austeda, Art. Flatus vocis, in: ders., Lexikon der Philosophie, Wien 19896, S. 113. 34
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§ 4 Die Erkenntnis des Verhältnisses zwischen „Mensch“ und „Gesellschaft“ als nicht bewältigte wissenschaftliche Aufgabe Der Unterschied zwischen dem weiten Begriff der Gesellschaft, wie ihn die herrschenden Gesellschaftswissenschaften zu verwenden pflegen, und dem engen Begriff der Gesellschaft, wie ihn eine bedachte Gesellschaftslehre kennt, besteht im wesentlichen in der unterschiedlichen Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Gesellschaft. Nach dem weiten Begriff der Gesellschaft bestimmt dieses Verhältnis sich dergestalt, daß durch ihn der Mensch zu Gunsten der Gesellschaft gleichsam aufgelöst wird. Das will besagen, daß dem weiten Begriff der Gesellschaft zufolge diese den Menschen sich derart zueigen macht, daß sie mit ihm in gewisser Weise zu einem und demselben wird. „In gewisser Weise“ will besagen, daß der „Mensch“ zur Gesellschaft dadurch erhöht wird, daß er „gesellschaftlich strukturiert“ wird. Versteht man den Menschen als auf diese Weise existierend, dann existiert er, abgesehen von seiner natürlichen Existenz, in jeder Weise als ein gesellschaftliches Wesen. Das „Menschsein“ erfüllt sich in der Gesellschaft bzw. als Gesellschaft. Ihr Sein ist der Vollbestand des „menschlichen“ Seins, wenn so zu reden erlaubt ist. Diese Ansicht, die nicht nur akademisch als Soziologismus zu bezeichnen ist, ist der Grund, aus dem diejenigen Gesellschaftswissenschaften, die den weiten Begriff der Gesellschaft gebrauchen, ein Problem des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Gesellschaft nicht kennen. Durch die umfassende gesellschaftliche Bestimmung des Menschen hat dieses Problem sich in Nichts aufgelöst. Um so mehr erstaunt es, daß die herrschenden Gesellschaftswissenschaften auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft immer wieder zurückkommen und sie behandeln. Offensichtlich ist der „Mensch“ in die Gesellschaft so einfach nicht auflösbar, wie dies zunächst als möglich, sodann als folgerichtig und schließlich als notwendig erscheint. Im gesellschaftlichen Blick auf den in jeder Hinsicht in der bzw. als Gesellschaft lebenden „Menschen“ taucht der Mensch immer wieder als solcher auf, d.h. als ein menschlicher und deswegen als ein nicht-gesellschaftlicher oder zumindest als ein nicht in jeder Rücksicht gesellschaftlich existierender Mensch. Als dieser lebt er, wie man sagen könnte, als Irgendjemand vor den Toren der Gesellschaft, also als ein Wesen, das noch nicht oder nicht mehr oder nicht ganz in sie einverleibt ist. Die Gesellschaftswissenschaften im herrschenden Sinn müssen diesen Bestand als einen Problemfall des normalen, also des gesellschaftlichen Existierens ansehen, sozusagen als die ungute menschliche Ausnahme von der guten gesellschaftlichen Regel. Andererseits geben die herrschenden Gesellschaftswissenschaften, wenn auch notgedrungen, zu, daß der Mensch, der am gesellschaftlichen Leben keinen Anteil hat, dieses Leben stört oder jedenfalls stören kann, da er sich in einem Gegensatz zu ihm befindet bzw. zumindest in
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einem Spannungsverhältnis zu ihm existiert. Denn irgendwie verwirklicht der menschlich lebende Mensch ein Ich- oder, wie man auch sagt, ein Selbst-Sein. So seiend, gründet er in sich und wirkt er aus sich heraus. Bemerkt die gesellschaftswissenschaftliche Forschung Bestände dieser Art, also Bestände eines vernünftigen und normalen Menschseins jenseits der Gesellschaft, dann läßt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft nicht mehr abweisen. Die wissenschaftsgeschichtliche Überprüfung zeigt im übrigen, daß diese Frage die modernen Gesellschaftswissenschaften seit ihrer Entstehung begleitet. In einer Erscheinung wie dieser sehen sich nicht zuletzt jene Soziallehren bestätigt, die meinen, jedenfalls in diesem Punkt den herrschenden Gesellschaftswissenschaften widersprechen zu müssen. Denn, so heißt es, das Verhältnis zwischen „Mensch“ und Gesellschaft ist gänzlich anders zu bestimmen. Es ist kein Verhältnis einseitiger Art, wie die herrschenden Gesellschaftswissenschaften dies behaupten. Es ist ganz und gar ein Verhältnis zwischen zwei gleich mächtigen Größen. Erst der Mensch und die Gesellschaft zusammen bilden das Ganze aus, das angesichts der „Frage nach dem Menschen“ – eine gewiß alles andere als klare Redeweise – zur Diskussion steht. Lassen sich diese Lehren auf die modernen Gesellschaftswissenschaften also ein, so unterscheiden sich von ihnen noch einmal die traditionellen Ansichten des Verhältnisses zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft. Nach ihrer Meinung läßt sich nicht daran zweifeln, daß es der Mensch ist, der das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft zu dem macht, was es ist. Im Gegensatz zur Ansicht der herrschenden Gesellschaftswissenschaften ist es der Mensch, der die Gesellschaft bestimmt, indem er Beziehungen hervorbringt, eingeht und unterhält, die zusammen als Ordnung, als Gefüge oder ähnlich benannt werden und als eben das bestehen, was man Gesellschaft heißt. Diesen unterschiedlichen Meinungen folgend, lassen sich für die Gegenwart drei charakteristische Bestimmungen des Verhältnisses zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft aufweisen. Nach der ersten von ihnen ist jenes Verhältnis eine Beziehung der Aufhebung des bloß menschlichen Menschseins in sein wahres gesellschaftliches Menschsein, also eine Verwandlung des möglichen in den wirklichen „Menschen“; das ist die in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften sich findende Ansicht. Dementgegen besagt die zweite, daß das Verhältnis in einem polaren Gegensatz besteht; so behaupten es dialogisch-personale Lehren von der Gesellschaft. Von beiden unterschieden ist die dritte, dem Herkommen verpflichtete Meinung; nach ihr handelt es sich bei diesem Verhältnis einerseits um Beziehungen zwischen Menschen, die, andererseits, nämlich als Zusammenhang, Gesellschaft heißen, was insbesondere, wenn nicht überhaupt, der Fall ist, wenn dieser Zusammenhang als ein sittlich gebotener Zusammenhang verwirklicht ist. Daß diese drei Versuche, das Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft zu bestimmen, nebeneinander bestehen, erklärt sich ohne Frage aus den Mängeln ihrer jeweiligen Begründung.
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Aber sie berichtigen sich auch nicht wechselseitig. Zusammengenommen stellen sie kein einheitliches und gut begründetes gesellschaftswissenschaftliches Lehrstück dar. Vermittlungsunfähig und zumeist auch stumm, also noch nicht einmal polemisierend, steht vielmehr die eine Meinung gegen die andere. Diese gegensätzlichen Ansichten sind im folgenden aufzuweisen. Die modernen Gesellschaftswissenschaften interessieren sich für die Gesellschaft, nicht für den Menschen. Daß diese Redeweise womöglich verwirrt, ist verständlich, mag sie die Blickrichtung dieser Wissenschaften auch beim Namen nennen. Besteht die Gesellschaft zwar aus nichts anderem denn aus Menschen, weshalb die Gesellschaftswissenschaften immer Wissenschaften vom „Menschen“ sind, geht es ihnen aber gerade nicht um sie als diese, sondern, sie sozusagen aus dem Auge lassend, um ihr Vergesellschaftetsein. Selbst für den Adepten der modernen Gesellschaftswissenschaften ist der Zusammenhang also ein Vexierspiel. So kommt es, daß wissenschaftliche Begeisterung nicht selten in wissenschaftliche Plage umschlägt. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis von jener Regel bisweilen abweicht. Diese Ausnahme besteht darin, daß sie sich vom gesellschaftlichen Menschen abwendet und sich dem menschlichen Menschen zukehrt. Diese Änderung des Erkenntnisinteresses stellt sich zumeist dann ein, wenn gesellschaftswissenschaftliche Grundsatzfragen erörtert werden und in diesem Zusammenhang ein erklärender Hinweis auf den Menschen als diesen unerläßlich erscheint. Dabei erfolgen derartige Bezugnahmen zumeist nur nebenbei oder zwischen den Zeilen, wie man sagt. Jedenfalls finden sich keine nennenswerten monographischen Untersuchungen über den gesellschaftlich bedeutsamen menschlichen Menschen, und selbst die zahlreich vorliegenden gesellschaftswissenschaftlichen Nachschlagewerke enttäuschen rundum. Gesellschaftswissenschaftliche Auskünfte unter dem Stichwort „Mensch“ sind offenkundig noch nicht lexikonreif. Um so größer ist die Freude, daß wenigstens eines der greifbaren soziologischen Wörterbücher einen Artikel enthält, der Fragen anspricht, die dem genannten Zusammenhang angehören. Unter dem überraschenden Stichwort „Menschlich“ versucht der Beitrag zu erklären, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht „das Menschliche“, also der menschliche Mensch, für die Gesellschaft Bedeutung besitzt.35 Aus ihm ist im folgenden Lehrreiches zu zitieren. Zaghaft die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Denkweise abwandelnd, wie es der Gegenstand verlangt, heißt es zum Eingang: „Menschlich, ein im alltäglichen sozialen Zusammenleben oft benutztes Wort mit mannigfaltigem und widersprüchlichem Bedeutungsgehalt, der die biologisch einzigartig große Spannweite der Verhaltensmöglichkeiten des Menschen zum Ausdruck bringt.“ Um der genannten Spannweite der Verhaltensmöglichkeiten nachgehen 35 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Art. Menschlich, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 544–546.
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zu können, wendet sich der forschende Blick zunehmend von den Gesellschaftswissenschaften ab und der Anthropologie zu. „Anthropologisch“, so fährt der Text fort, „besteht das Besondere des menschlichen Verhaltens darin, daß es nicht in artspezifischer Weise instinktgebunden . . . ist, sondern sich durch einen hohen Grad der Plastizität, der soziokulturellen Formbarkeit und möglicher individuell-rationaler Selbststeuerung auszeichnet.“ Insbesondere mit der Erwähnung der zuletzt genannten Besonderheit des „menschlichen“ Verhaltens weitet sich die maßgeblich biologisch orientierte anthropologische Betrachtung zum Versuch einer philosophisch-anthropologischen Bestimmung des Menschlichen. Sie strebt danach, die Voraussetzungen zu erkennen, die erfüllt sein müssen, damit die genannten Verhaltensbesonderungen des „Menschen“ sich ausbilden können. Zu ihnen zählen, wie es heißt, „neben der ,Instinktreduktion‘ (A. Gehlen), die ,Weltoffenheit‘ (M. Scheler) des Menschen, seine großen kognitiven Fähigkeiten (gesteigerte Lernfähigkeit, Aufbau von Sprachen, Fähigkeit zum abstrakt-logischen Denken, kulturelle Leistungen), die Fähigkeit zum normativ geregelten gesellschaftlichen Zusammenleben, das Sich-selbst-Bewußtsein des Individuums“. Mit dem Aufweis dieser Voraussetzungen der Spannweite des „menschlichen“ Verhaltens dringt die Untersuchung zu dem vor, was man als das Eigentliche des menschlichen Menschen zu benennen pflegt. In einem besonderen Erkenntnisschritt wird es als jene Voraussetzung festgestellt, die die genannte individuell-rationale Selbststeuerung trägt. Damit jeder einzelne „Mensch“ sein Leben vernünftig führen kann, wie man die Formel von der individuell-rationalen Selbststeuerung übersetzen könnte, muß er die folgenden Fähigkeiten besitzen: Sein Wirken muß „antizipatorisch (zukunftsbezogenvorausschauend), wert-, sinn- und zielorientiert, planvoll, einsichtig, verantwortungsbewußt“ sein sowie „unabhängig von Affekten, aggressiven Impulsen, materiell-egoistischen Bestrebungen“, und es muß frei sein „von Verlockungen zu . . . mißbilligten Aktivitäten“. In diesem Sinn schreitet der locker berichtende Artikel voran, indem er eine Fülle von Voraussetzungen benennt, die im menschlichen Menschen liegen, und die man, zumal im Alltagsleben, als menschlich, also als gut, und die man als unmenschlich, also als schlecht, wenn nicht als böse, zu benennen pflegt. Folgerichtig werden die ersteren den ethischen Normen entsprechend geachtet und die letzteren verurteilt. Mit dieser ethischen Folgerung übersteigt die Übersicht das Ziel, das sie sich gesetzt hat, nämlich die Voraussetzungen anzugeben, die die Spannweite der Verhaltensmöglichkeiten des „Menschen“ erklären. Bemühungen um die Bestimmung des „Menschen“ von dieser Art pflegt man als soziologische Anthropologie zu bezeichnen. Sie durchforscht gleichsam kreuz und quer die erarbeiteten anthropologischen Materialien, um zu prüfen, welche von ihnen gesellschaftlich bedeutsam sind. In einem nächsten Schritt werden sie von der soziologischen Anthropologie geordnet. Denn ihr Ziel ist es, diese menschlichen Rohstoffe der gesellschaftlichen bzw. der gesellschaftswis-
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senschaftlichen Erkenntnis anzubieten, damit jene bzw. diese sie als ihre Gegenstände ergreift. Sofern die Gesellschaftswissenschaften jenes Sichten und Aufbereiten der auf Grund ihrer Voraussetzungen je möglichen „menschlichen“ Verhaltensweisen selbst leisten, bemüht die soziologische Anthropologie sich „um die Klärung der den soziologischen Einzeltheorien zugrundeliegenden anthropologischen Prämissen“36. Dieser Begriff der anthropologischen Prämisse ist der Schlüssel, der den Zugang zum Verständnis des „Menschen“ im Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft zu eröffnen vermag. Prämisse heißt im anstehenden Zusammenhang so viel wie reale Voraussetzung. Sie besagt, allgemein gesprochen, das wirkliche Bestehen von Etwas, damit etwas Anderes der Fall sein kann. Als reale Voraussetzung der Gesellschaft bestimmt, meint die Prämisse nicht weniger als eben, daß „das Menschliche“ oder deutlicher, „das je, also das bald so und bald so bestehende Menschliche“, die materiale Ermöglichung der Gesellschaft ist und zwar im Mindestmaß ihres in sich stimmigen Bestandes. Mit anderen Worten: Soll es möglich sein, die Gesellschaft zu verwirklichen, müssen, ihr voraufliegend, reale menschliche Verhaltensmöglichkeiten bestehen, die ihrerseits von Bedingungen abhängen. Sie sind oben durch die Stichworte der Instinktreduktion, der Weltoffenheit, der kognitiven Fähigkeiten und der Wirkfreiheit benannt worden. Die auf diese Voraussetzungen bezogenen Möglichkeiten des Verhaltens des „Menschen“ besitzen, wie es hieß, eine „einzigartig große Spannweite“. Der Kategorialität der menschlichen Existenz-Gestalt im wohlbestimmten Sinn entsprechend, gliedern sie sich in die Zustände der Singularität, der Personalität und der Komplexität. Weder der soziologischen Anthropologie noch den Gesellschaftswissenschaften ist dieser Unterschied jedoch bekannt. Das ist an dieser Stelle der vorliegenden Untersuchung als Erkenntnis hinzunehmen, die später begründet werden soll. Deswegen fassen die genannten Disziplinen die „menschlichen“ Verhaltensmöglichkeiten immer nur als je besondere Möglichkeiten auf, d.h. als dieses Vermögen und als jene Ermöglichung, wie sie der menschliche Mensch entsprechend seiner raum-zeitlichen Bestimmtheit besitzt. Im Grundsatz gibt es also so viele Verhaltensmöglichkeiten wie es menschliche Menschen gibt. Der Zusammenhang sodann der jeweiligen Möglichkeiten kann folgerichtig nur als ihre Ansammlung begriffen werden oder, wie man sagt, als das Ganze der Anlagen eines „Menschen“. Dieses jeweilige Ganze in der Vielzahl der menschlichen Menschen ist der Stoff, aus dem die Gesellschaft besteht. Daß die Materie der Gesellschaft nur als dasjenige menschliche Menschsein bestimmt ist, das jenseits seiner natürlichen Natur da ist als ein singuläres Bündel von Stoffen als Inhalt der Gesellschaft, besitzt seinen Grund darin, daß sowohl die soziologische Anthropologie als auch die herrschenden Gesellschafts36 Karl-Heinz Hillmann, Art. Anthropologie, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 32.
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wissenschaften darauf verzichten, das menschliche Menschsein des weiteren zu untersuchen. Man meint, mit den genannten Bestimmungen den Sachverhalt erschöpfend erkannt und, indem man ihn als den Fall des „menschlichen Individuums“ benennt, auch klar bezeichnet zu haben. Ein etwas genauerer Blick auf die Zusammenhänge belehrt jedoch darüber, daß das Gegenteil der Fall ist. Dies erweist sich schon angesichts der ersten Frage, die zu stellen ist. Es ist die Frage, ob es vernünftig ist, den gemeinten menschlichen Menschen mit seinen Verhaltensmöglichkeiten als menschliches Individuum zu bezeichnen. Nach allem sprachlichem Herkommen und nach den bestehenden Bedeutungszusammenhängen ist ein Individuum ein Einzelnes, d.h. ein Dieses-da. Im anstehenden Zusammenhang besagt der Begriff des Individuums den einzelnen Menschen oder kurz, den Einzelnen, d.h. diesen Menschen Peter und diesen Menschen Paul. Gemeint ist also die konkret erfaßbare menschliche Existenz. Von ihr heißt es, daß über sie zuletzt, also über ihr ureigenstes Wesen, eine Mitteilung nicht mehr möglich ist. Daß sie jedoch im Allgemeinen begriffen werden kann, liegt daran, daß sie eine sie bestimmende Form besitzt, die sich in einem abstrahierenden Vorgang begreifen läßt. Denn es gibt ein Wesen des Wesens. Stimmt man dieser Bestimmung des Erkennens zu, das einerseits also ein konkretes und andererseits ein formales Erkennen ist, dann verweist der Gebrauch des Begriffs der Individualität auf den Gebrauch des Begriffs der Universalität. Hieraus folgt hinsichtlich der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis, daß es nur dann vernünftig ist, das menschliche Menschsein im Sinn des Menschlich-Einzelnen ins Auge zu fassen, wenn man es auch im Sinn des Menschlich-Allgemeinen zu verstehen versucht. Diese Hinwendung zur Universalität des menschlichen Menschen liegt der soziologischen Anthropologie wie den Gesellschaftswissenschaften überhaupt jedoch fern. Sie würde eine Existenzweise der humanen Existenz zum Vorschein bringen, die zum ersten von der natürlichen Existenz des Menschen zu unterscheiden ist und die zum zweiten als jenes In-sich-Sein real da ist, das im Sinn des menschlichen Menschen der gesellschaftlichen Existenz des Menschen gegenübersteht. Da dies einerseits infolge des weiten Begriffs der Gesellschaft jedoch nicht sein kann, andererseits die reale Voraussetzung des menschlichen Menschen aber gegeben sein muß, damit die Gesellschaft verwirklicht werden kann, kommt es zur irrig gefolgerten und deswegen verwirrenden Gleichsetzung des menschlichen Individuums mit dem menschlichen Menschen in seiner Existenzweise der Singularität, d.h. des menschlichen Einzelseins mit dem menschlichen Einmaligsein des in sich begründeten menschlichen Menschseins. Für die soziologische Anthropologie und für die modernen Gesellschaftswissenschaften ist der menschliche Mensch deswegen immer nur der „individuell“ gegebene vorgesellschaftliche Rohstoff, der durch nichts Allgemeines ausgezeichnet ist. Der soziologisch-anthropologische bzw. der gesellschaftswissenschaftliche Begriff des menschlichen Individuums bezeichnet also nicht mehr als eine einheitliche und in gewissen Graden
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ausgebildete „Entität“. Individualität von Etwas oder vielleicht von Jemandem besagt, daß es bzw. er zwar wohl da ist, sein Wesen aber unbestimmt bleibt. Aus diesem Grund ist das sogenannte menschliche Individuum nur derjenige Bestand, auf den hin der Mensch „wesentlich“ angelegt ist, nämlich in der Gesellschaft mit anderen Menschen zu existieren. Deswegen steht das „einzelne“ menschliche Individuum – wenn so zu reden sinnvoll sein sollte – der Gesellschaft nicht gegenüber. Es ist nichts anderes als ein unbestimmter Bestand des „Menschen“ im Vorhof der Gesellschaft. In ihm formuliert der „Mensch“, wenn nicht eben „das Menschliche“, seine Bitte um Aufnahme in die Gesellschaft, eine Bitte, die die Gesellschaft gern erhört. Die Gesellschaft hat ihr entsprochen, sobald der menschliche Mensch die Schwelle in die Gesellschaft überschritten hat. Mit diesem Übergang ist aus dem sogenannten menschlichen Individuum ein gesellschaftliches Individuum geworden, also aus dem bedeutungslosen menschlichen Individuum ein sinnvolles menschliches Individuum. Denn die herrschenden Gesellschaftswissenschaften erklären, „daß das Individuum im sozialen Sinn erst durch die Gesellschaft zu dem werden kann, was es in der spezifischen Ausprägung seines . . . genetischen Potentials als soziales Wesen . . . darstellt“, nämlich eine Persönlichkeit: „Persönlichkeit bezeichnet die Nahtstelle zwischen“ (dem bloß menschlichen) Individuum, (der aus gesellschaftlichen Individuen gebildeten) Gesellschaft und (der gesellschaftlich hervorgebrachten) „Kultur. Persönlichkeit entsteht, indem das naturhaft Vorgegebene am (menschlichen) Individuum durch soziale Umgebungseinflüsse überformt und zu einer neuen Qualität gebracht wird.“37 Weil die herrschenden Gesellschaftswissenschaften dies so lehren, ist es unerläßlich, aufs genaueste zwischen der Individualität des Menschen und der „Individualität“ in der Gesellschaft zu unterscheiden. Denn nur als gesellschaftliches kann das sogenannte Individuum seine menschlichen Verhaltensmöglichkeiten verwirklichen. Eine von ihnen besteht darin, daß dieses oder jenes gesellschaftliche „Individuum“ in einer allein ihm zukommenden Weise sich auf alle anderen „Individuen“ seiner Gesellschaft bezieht und wirksam ist. Besteht dieser Bezug, sprechen die modernen Gesellschaftswissenschaften von einem Verhältnis zwischen dem – im gesellschaftlichen Sinn gemeinten – Individuum und der Gesellschaft, diese irgendwie inbegrifflich meinend, also Menschen zusammenfassend. Das kann zum Beispiel das zahlenmäßige Insgesamt von Vielen sein oder ein „organisches“ Ganzes mit seinen Teilen. Die Redeweisen sind nicht klar. Unbeschadet dessen wird die Beziehung zwischen jenem gesellschaftlichen „Individuum“ und dieser Gesellschaft in der Regel mit dem Wort „Wechselwirkung“38 bezeichnet. Dieser Ausdruck ist im weiteren, wenn nicht sogar im alltäglichen Sinn zu verstehen, 37 Karl-Heinz Hillmann, Art. Individuum, S. 360 sowie Art. Persönlichkeit, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 661. 38 Frank Thieme, Art. Individuum und Gesellschaft, in: Gerd Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, München/Wien 19973, S. 528.
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also als irgendwie bald statisch, bald dynamisch bestehende Zueinanderordnung von Etwas, hier also als die Zueinanderordnung des Einen zum Anderen bzw. zu allen Angehörigen der Gesellschaft. Daß es derartige gesellschaftliche Seinsund Geschehenszusammenhänge gibt, ist nicht zu bestreiten. In einer singulär gestalteten Gesellschaft bestehen sie sogar als Regelfall. Um so dringender ist es, dieses Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen sogenannten Individuum und seiner Gesellschaft zu unterscheiden von dem ihm zugrundeliegenden Verhältnis zwischen dem menschlichen sogenannten Individuum, also dem menschlichen Menschen, und der Gesellschaft als dieser. Die Meinung, daß der nicht-gesellschaftliche, d.h. der menschliche Mensch, als ein Bündel menschlicher Verhaltensmöglichkeiten existiert und als dieses ein vor-gesellschaftliches menschliches Individuum ist, hat sich als ein Lehrstück der soziologischen Anthropologie bzw. der herrschenden Gesellschaftswissenschaften erwiesen, das nicht überzeugt. Seine Mängel verspüren die genannten Disziplinen offensichtlich selbst. Denn in der Regel reichen sie die von ihnen nicht bewältigte Problematik an die Psychologie weiter. Daß diese Entlastung als erlaubt, wenn nicht sogar als geboten erscheint, liegt an der herrschenden Ansicht über das Verhältnis zwischen diesen Erkenntniszusammenhängen. Danach sind erstens „die Grenzen zwischen der Psychologie . . . und den Sozialwissenschaften . . . fließend“, und zweitens beziehen sich im Gegensatz zu deren Aussagen die psychologischen Feststellungen „primär auf die einzelnen Organismen oder das Individuum als Analyseeinheit“39. Deswegen besitzen die soziologische Anthropologie und die Gesellschaftswissenschaften die Gewißheit, daß ihre Problematik in der weit sich auffächernden psychologischen Forschung gut „aufgehoben“, also der Vergessenheit anheim gegeben ist. Den genannten Disziplinen liegt es jedenfalls fern, sich für ihre Zwecke jene Einsichten zunutze zu machen, wie sie im besonderen in der überkommenen Philosophie zu finden sind, die immer auch eine Lehre von der humanen Existenz war und bis heute ist. Ihre Tradition besteht seit den ältesten Zeiten. Bündig ist ihr Gehalt wohl erstmals in jener berühmten Inschrift im Apollotempel in Delphi formuliert worden, welche lautet: Gnothi seauton. Dieser göttliche Spruch wollte die humane Existenz ermahnen, ihre Grenzen zu erkennen und sich ihrer bewußt zu bleiben. Platon hat diesen Appell, maßzuhalten, wiederholt zu ergründen und als vernünftig zu erweisen versucht.40 Von diesen, seinerzeit selbst schon dem Herkommen angehörenden Überlegungen ihren Ausgang nehmend, entfaltet sich die Lehre vom „Menschen“ durch die Jahrhunderte der europäischen Erkenntnisgeschichte. Als Fundament dieser Erforschung des „menschlichen“ Seins sehen wir Heutigen diejenigen Sätze an, die sich erstens auf der Grund39 Rolf Klima, Art. Psychologie, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 528. 40 Vgl. Platon, Protagoras, (Edition Meiner), 343a und Charmides, (Edition Meiner), 164d sowie Philebos, (Edition Meiner), 48c.
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lage des Selbstbewußtseins auf die vernünftige Selbsterkenntnis, zweitens auf die willentliche Selbstliebe und drittens auf den Selbstbesitz und damit auf die tätige Selbstbestimmung des Menschen beziehen. Die derart begründete Lehre vom „Menschen“ ist vor allem eine Erkenntnis des menschlichen Menschen. Denn erst spät weitet sie sich aus zu einer ausdrücklichen Lehre von der menschlichen Gesellschaft. Als Inbegriff des wesentlich erkannten menschlichen Menschen, also als seine zusammenfassende Bestimmung, gilt der Tradition gemeinhin der Begriff der Person. Er wird im Ausgang des Altertums unter dem Einfluß der christlichen Glaubensdogmatik formuliert. Der locus classicus findet sich im Werk des Manlius Severinus Boethius (um 480 – um 524). Er lautet: „Persona est naturae rationabilis individua substantia.“41 Als Person ist der Mensch also der je einzelne Selbstand einer vernünftigen Natur. Das ist dieser Mensch da und jener Mensch da an sich und für sich. Diese Bestimmung des Menschen wirkte ungebrochen durch die Zeiten hindurch, und sie beansprucht auch heute noch – jedenfalls vielerorts – zu gelten. Es ist nützlich, daran zu erinnern, daß Immanuel Kant die personale Bestimmung der humanen Existenz aufgegriffen, bestätigt und ihr jene Wendung verliehen hat, die die Ethik der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit charakterisiert. Kant erklärt: „Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen und jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ Deswegen heißen jene Wesen, die „vernunftlose Wesen sind“, weil sie „nur einen relativen Wert“ besitzen, „Sachen“. Hierzu im Unterschied werden „vernünftige Wesen Personen genannt“, „weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst . . . auszeichnet“.42 Die genannte Bestimmung des „Menschen“ als Person, die bald in jener ontischen, bald in dieser ethischen Betonung bzw. in einer ihrer Verbindungen ausgebildet ist, gehört zu den Grundsätzen einer heute gewiß nicht breiten, dafür aber ihrem Herkommen nach klar ausgeprägten, weil von den ersten Ursprungsgründen her denkenden gesellschaftswissenschaftlichen Zeitströmung. Ihr Einfluß ist nicht zu unterschätzen. Herausragend kommt er in der Erörterung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gesellschaft zur Geltung sowie in deren Folge in der Existenz der Person, soweit sie der Gesellschaft angehört. Es liegt in der Natur der humanen Existenz als Person, daß ihr Umgang mit „Menschen“ immer ein Umgang mit Personen ist. Die eine Person steht der anderen Person von Gleich zu Gleich gegenüber. Ob dieses Verhältnis duopersonal oder pluripersonal beschaffen ist, ist unerheblich. Stets handelt es sich um ein Ver41 Manlius Severinus Boethius, Liber de persona et duabus naturis contra Eutychen et Nestorium, (Edition Migne, Patrologiae Latinae, Tomus 64), Cap. 3,74. 42 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), (Edition Meiner), Hamburg 1965, S. 51.
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hältnis, das, bzw. um die Verhältnisse, die dem Wesen der Personen, also ihrem Geist, entsprechen. Diese Verhältnisse sind, wie man sagt, persönliche Beziehungen. Sie werden zu solchen gesellschaftlicher Art, sobald sie als ein verbindlicher Zusammenhang gewollt und verwirklicht sind. Er ist die erste Bestandsweise der Gesellschaft. Ihre Vollgestalt erreicht diese Gesellschaft dann, wenn sie sich zu ihren Gebilden ausgestaltet hat. Sie sind ihrer Natur nach „gesellschaftlicher“ Art und deswegen „unpersönlich“. Die vollständig ausgebildete Gesellschaft der Personen ist deswegen ein persönlicher bzw. überpersönlicher, also ein in sich spannungsreicher Zusammenhang. Aus dem genannten Grund, aus dem Personenverhältnisse in Nicht-Personenverhältnisse nicht abgleiten können, meint die personale Gesellschaftslehre, keinen Anlaß zu besitzen, der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft nachzugehen. Die Gesellschaft, das sind die anderen Personen gegenüber der einen Person. Dieses Verhältnis geht aus der personal beschaffenen Existenz des „Menschen“ hervor. Kraft ihrer Geistigkeit und ihrer Sittlichkeit ist sie unbeschränkt offen und deswegen von Haus aus auf jedes andere bzw. auf alle anderen geistigen und sittlichen Wesen bezogen. Dieser Bezug ist „menschlich“ allgemein, also gilt er auch von der Gesellschaft, jedenfalls dem Grundsatz nach. Damit ist alles gesagt, was zum Verhältnis zwischen der humanen Existenz als Person und der Gesellschaft zu sagen ist. Ein aktuelles, die Gesellschaftslehre des Personalismus zusammenfassendes Beispiel formuliert die aufgezeigte Ansicht über das Verhältnis zwischen der Person und der Gesellschaft wie folgt43: „Mit den heutigen Humanwissenschaften“ kann man „einen spezifischen Doppelcharakter des Menschseins beschreiben. In der menschlichen Person begegnet uns eine Grundstruktur, die wir als Polarität bezeichnen können, als Spannungsverhältnis zwischen Elementen, die sich gegenseitig bedingen und zugleich begrenzen.“ Das Arbeitsziel, das der zitierte Autor im Auge hat, läßt ihn zwischen drei „Doppelcharakteren des Menschen“ unterscheiden. Es sind dies die Polarität zwischen Person und Gesellschaft, zwischen Natur und Kultur sowie zwischen Überlieferung und Fortschritt. Ob dieser Aufweis vollständig ist und ob die genannten Gegensätze in einem begründeten Zusammenhang stehen, muß hier auf sich beruhen. Von Interesse ist allein jener zuerst genannte polare Gegensatz, also derjenige zwischen der Person und der Gesellschaft. Er wird auch als die Polarität bezeichnet, die zwischen „Individualität und Sozialität“ besteht, eine Ausdrucksweise, die für die Klärung des anstehenden Problems freilich wenig hilfreich ist. Denn die menschliche Person und die menschliche Individualität sind etwas Verschiedenes. Zur genannten Polarität heißt es zusammenfassend: „Wir sind je einmalige Wesen und zugleich in dieser Einmaligkeit sozial geprägt. Wir erfahren die 43 Bernhard Sutor, Kleine politische Ethik, Bonn 1997, S. 28. – Vgl. ausführlicher ders., Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn 1991, S. 19 ff.
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anderen und alles, was uns gesellschaftlich vorgegeben ist, als Grenzen und sind doch zugleich auf sie angewiesen für unser individuelles Dasein. Gesellschaft ist der Inbegriff aller Beziehungen zwischen individuellen Personen und der objektivierten Gebilde (Normen, Institutionen, Strukturen), die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind. Als Einzelne wachsen wir in sie hinein fast wie in einen Naturbestand, und wir lernen erst in dem Maße, wie wir mündig werden, an der Gestaltung dieser gesellschaftlichen Gegebenheiten mitzuwirken. Der Mensch ist immer Quelle und Produkt der Gesellschaft zugleich.“ Nimmt man diesen Text beim Wort, dann ist festzuhalten, daß der Personalismus die Gesellschaft zum ersten als in Beziehungen bestehend ansieht, und zwar als Beziehungen aller, die es betrifft. Die Träger, die Ziele und die Gründe dieser Beziehungen sind „Menschen“, die als Personen existieren, d.h. als geistige Selbstände in ihrer konkreten Vereinzelung, also nicht in ihrer abstrakten Allgemeinheit begriffen. Die Rede von den „individuellen Personen“ will diesen Bestand betonen. Der Sache nach ist sie jedoch irreführend. Jene sinnhaften Beziehungen bestehen gesellschaftlich als eine geistige und deswegen innerlich verbindende Einheit. Wenn der zitierte Text hierüber nicht ausdrücklich spricht, so deswegen, weil die Beziehungseinheit als ein geistiges Verbundensein in einer gesinnungshaften Werthaltung sich folgerichtig aus dem rechtverstandenen Personsein ergibt, wie dies eingangs auseinandergelegt worden ist. Diesem ersten Schritt in der Bestimmung der Gesellschaft folgt ein zweiter. In ihm wird die Gesellschaft in ihrer Sachhaftigkeit erkannt. So begriffen, besteht sie aus Gebilden, die aus den Beziehungen bzw., genau genommen, aus der Einheit dieser Beziehungen irgendwie hervorgehen. In diesen Gebilden besteht die Gesellschaft nicht mehr in ihren ungegenständlichen Sinn- und Wertbeziehungen, sondern als gegenständliche Ordnung „fast wie ein Naturbestand“. Der zitierte Text spricht von „objektivierten Gebilden“ und meint damit „Normen, Institutionen und Strukturen“. Die Eigenart dieser Zusammenhänge besteht also darin, daß sie die bestehende Einheit der persönlichen Beziehungen in einen Aufbau von Verhältnissen verwandelt, die gegenüber dem Ausgangssinn als nicht- oder un-persönlich zu bezeichnen sind. An die Stelle der „Gemeinschaft von Personen“ ist die „Gesellschaft aus Individuen“ getreten. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der gesellschaftlichen Person und der Gesellschaft gilt somit, daß jenes Gebildesein den Gegenpol zu den persönlichen Beziehungen in ihrer Einheit bildet. Damit aber ist die angesprochene Polarität nicht mehr durchgängig personal. Die Gesellschaft ist kein Pol gegenüber dem Pol der Personen, sondern besteht als ein konträrer oder zumindest als ein relativer Gegensatz zu ihnen. Diese Vergewisserung läßt erkennen, daß das Verhältnis zwischen dem „Menschen“ als Person und der Gesellschaft sich hinreichend nicht als ein polares Verhältnis begreifen läßt. Nach dem Sprachgebrauch wie in der üblichen wissenschaftlichen Bestimmung bezeichnet der Ausdruck der Polarität zum
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ersten einen Gegensatz, also den Ausschluß des Einen, wenn ein Anderes gesetzt ist. Im Fall des polaren Gegensatzes besteht dieser Gegensatz dergestalt, daß das Entgegengesetzte, also die Pole, Bestandteile einer Ganzheit sind. Zur Veranschaulichung dieses Gegensatzes wird gern der Gegensatz zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht der humanen Existenz genannt. Der Mann als der eine Pol und die Frau als der andere sind die sich ausschließenden Entgegensetzungen innerhalb des „Menschlichen“ als eines Ganzen. Bezieht man diese Beschaffenheit des polaren Gegensatzes auf das Verhältnis zwischen der Person und der Gesellschaft, müßte man einen Sachverhalt aufweisen und begründen können, der wie folgt beschaffen ist, und zwar zunächst im „menschlichen“ Sinn im Allgemeinen und sodann im Sinn des Folgeverhältnisses zwischen der gesellschaftlichen Person und ihrer Gesellschaft. Zum ersten: „Menschlich“ begriffen, bildet die nicht-gesellschaftliche Person den ersten der Pole; die von ihr unabhängig, also irgendwie aus sich heraus bestehende Gesellschaft bildet sodann den zweiten Pol; jene nicht-gesellschaftliche Personalität und diese Sozialität sind drittens Entgegensetzungen innerhalb einer Ganzheit: Indessen, was ist diese? Was es mit ihr auf sich hat, vermag die personale Gesellschaftslehre noch nicht einmal in Ansätzen zu sagen. Zum zweiten: Begreift man die Person als gesellschaftliche Person, um das Folgeverhältnis zwischen der Person und der Gesellschaft zu bestimmen, ist zu sagen: Besteht die Beziehungseinheit der Personen als der eine Pol der Gesellschaft und bestehen deren Gebilde als der andere Pol, so fragt es sich, ob die Person oder ob die Gesellschaft das Ganze ist, innerhalb dessen sich die polaren Entgegensetzungen erstrecken. Wie in jenem allgemeinen Fall erhält man auch in diesem besonderen auf die gestellte Frage keine Antwort. Damit ist die Aporie benannt, in der sich die personale Gesellschaftslehre in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Person und der Gesellschaft bzw. zwischen der gesellschaftlichen Person und ihrer Gesellschaft befindet. Aporie besagt die Unmöglichkeit, die anstehende Problematik zu bewältigen. Das Versagen in der Bestimmung des Zusammenhanges zwischen der Person und der Gesellschaft ist folgenreich. Was als Erörterung einer Prinzipienfrage gemeint war, verwandelt sich unterderhand in eine bloße Beschreibung von Erlebnissen, von denen nicht-gesellschaftliche wie gesellschaftliche Personen, ohne also daß sie das, was sie erleben unterscheiden, immer wieder sprechen. Genau genommen handelt es sich um eine Darstellung von Bewußtseinsinhalten von der Art alternativer Existenzgestaltungen. Als Lebenslagen in der Ausprägung des Einerseits-Andererseits mögen sie bisweilen als Pole des humanen Existierens erscheinen, das als personales Existieren verstanden wird. In Wirklichkeit ist es nicht mehr als die Möglichkeit so oder anders als Person zu leben. Das bringen die fernab von jeder Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Person und der Gesellschaft liegenden, im Zitat genannten, Entgegensetzungen zum Ausdruck. So ist die Person ebenso „einmalig“ wie „sozial geprägt“,
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sie ist ebenso auf die Gesellschaft „angewiesen“, wie sie durch sie ihre „Grenzen“ erfährt, sie ist ebenso eine „Quelle der Gesellschaft“ wie ein „Produkt der Gesellschaft“, weshalb am Ende in einem unbestimmten Sinn die Person die Gesellschaft ebenso bedingend ist, wie sie durch sie bedingt wird. Die gegenwärtige personale Gesellschaftslehre hat allen Anlaß, darüber nachzusinnen, wie sie auf der Höhe der Einsichten bleiben kann, die zur Zeit ihrer Grundlegung formuliert worden sind.44 Die personale Gesellschaftslehre kann man als den jüngsten Ast an jenem Stamm bezeichnen, der seit alters her die Bemühungen trägt, das gesellschaftliche Leben der humanen Existenz in einem wesentlichen Sinn zu erfassen. Er wurzelt in der klassischen griechischen Philosophie. Ihre Sorge galt nicht zuletzt der Bestimmung und der Begründung des sittlich guten Zusammenlebens der Menschen und damit immer auch der Erkenntnis der Natur des Gemeinwesens. Deren heute lebendige Gestalt, die nicht viel älter als ein Jahrhundert ist, wird am besten wohl durch den Inbegriff dieser Lehre gekennzeichnet. Das ist der Begriff der Solidarität. Vom lateinischen solidus abgeleitet, was soviel wie dicht, gediegen, fest, ganz, besagt, bedeutet Solidarität „die Bereitschaft, sich für gemeinsame Ziele oder für Ziele anderer einzusetzen, die man als bedroht und gleichzeitig als wertvoll und legitim ansieht, besonders die engagierte Unterstützung eines Kampfes gegen Gefährdungen, vor allem gegen Unrecht, im weiteren Sinne auch: Zusammenhalt, soziale Bindung, Zusammengehörigkeitsgefühl“.45 Den heute umgangssprachlich so verstandenen Ausdruck der Solidarität, der ursprünglich nur die gemeinsame Haftung im rechtlichen Sinn bezeichnete, haben inzwischen verschiedene Wissenschaften in sich aufgenommen, und sie verwenden ihn abgewandelt nach ihren Gegenstandsbezügen und Erkenntnisweisen. Hierin unterscheidet sich jene genannte, der Tradition verpflichtete Lehre von der Gesellschaft. Sie hat den Begriff der Solidarität zu ihrem Grundbegriff erklärt. Als dieser bezeichnet er den Grund und die aus ihm erwachsende Beschaffenheit des Vereinigtseins des einen „Menschen“ mit dem anderen „Menschen“. Da der Begriff der Solidarität diese Lehre wesentlich kennzeichnet, wird sie zurecht Solidarismus genannt. Von ihm verwendet, bedeutet Solidarität „nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl oder eine soziale Gesin44 Vgl. beispielsweise die einschlägigen Arbeiten von Martin Buber aus den 20er Jahren. Sie sind zusammengefaßt in: ders., Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954; Emmanuel Mounier, Das personalistische Manifest (zuerst Paris 1936), Zürich 1937; Romano Guardini, Welt und Person, Würzburg 1939; August M. Knoll, Von den drei Wesenstheorien der Gesellschaft, Wien 1949; Oswald von Nell-Breuning, Art. Personalismus, in: ders./Hermann Sacher (Hrsg.), Wörterbuch der Politik, Freiburg/Brsg., 1952; Ernst Michel, Der Prozeß Gesellschaft contra Person, Stuttgart 1959; Dietrich von Oppen, Das personale Zeitalter, Stuttgart/Gelnhausen 1960; Georg Wildmann, Personalismus, Solidarismus und Gesellschaft, Wien 1961; Remigius C. Kwant, Soziale und personale Existenz, Wien/Freiburg/Basel 1967. 45 Andreas Wildt, Art. Solidarität, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 1004.
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nung, als ob mit dem Solidaritätsprinzip an den Einzelnen appelliert werden solle, sich nach dem Grundsatz ,Einer für alle – alle für einen!‘ zu verhalten. Gemeint ist vielmehr ein sozialphilosophischer Zusammenhang, eine in der menschlichen Natur seinshaft begründete Wechselbezogenheit: Der Mensch ist als Person zwar mehr als nur ein Teil des gesellschaftlichen Ganzen. Er ist aber seinem Wesen nach hingeordnet auf die Gesellschaft; ebenso wesensnotwendig ist die Gesellschaft ihrerseits hingeordnet auf die Einzelmenschen, die ihre Glieder sind.“46 Eine Prüfung dieser Bestimmung im Ganzen erkennt in ihr alsbald eine zeitgemäße Auslegung dessen, was man seit alters her über die Beschaffenheit der Gesellschaft zu sagen pflegt. Zuletzt bezieht dieses Urteil sich auf jenen berühmten Satz des Aristoteles, demzufolge zum ersten „die Gesellschaft zu den von Natur bestehenden Dingen gehört“, also von Anfang an besteht und durch diesen Anfang wohlgeordnet ist, und zum zweiten, daß „der Mensch von Natur ein geselliges Wesen ist“47, daß die humane Existenz also nicht nur als sie selbst existiert, sondern auch als ein „Mensch“, der mit anderen „Menschen“ als Vereintsein lebt. Mit diesen Urteilen haben jene zeitgemäße Auslegung und diese klassische Definition ihre in den Grundsätzen übereinstimmende Meinung zum Ausdruck gebracht, wie es um das Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen „Menschen“ und seiner Gesellschaft und wie es um das ihm voraufliegende Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft bestellt ist. Diese Meinung ist im folgenden daraufhin zu prüfen, ob sie begründet ist. Dabei wird die Untersuchung sich an die zitierten Behauptungen aus unseren Tagen halten. Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft besitzt ihren Ausgang in einem Urteil über die humane Existenz als den in seiner Gattung bestimmten „Menschen“. Ihm zufolge ist der „Mensch“ allem vorweg ein Sein, das an sich besteht. Das will besagen, daß der „Mensch“ ein Jemand ist, der erstens in sich existiert, d.h. losgelöst von jeder Beziehung zu Anderem, und der zweitens für sich existiert, d.h. daß er sich zu sich selbst verhält. Der an sich und für sich existierende „Mensch“ ist deswegen etwas Absolutes. Diese Unbedingtheit des Seins des „Menschen“ besitzt ihren Grund darin, daß der körperlich existierende „Mensch“ seine Existenz maßgeblich geistig verwirklicht. Geistig zu sein besagt, sich selbst zu besitzen, um von sich zu wissen und über sich frei zu bestimmen. Ergänzt man diesen statischen Bestand des „Menschen“ durch seine auch dynamische Beschaffenheit, begreift man das Wesen des „Menschen“ also auch im Sinn seiner Natur, dann besagt geistig zu existieren überdies die Fähigkeit des „Menschen“, übersinnliche Werte erfassen und verwirklichen zu können. Den derart wesentlich bzw. seiner
46 Walter Kerber, Art. Solidaritätsprinzip, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 1015. 47 Aristoteles, Politika, (Politik), (Edition Meiner), 1253a; vgl. auch 1278b.
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Natur gemäß existierenden „Menschen“ begreift und benennt der Solidarismus als Person. Personsein besagt, daß der geistig bestehende und wirksame „Mensch“ er selbst ist. Der auf diese Weise bestimmte „Mensch“ wird immer wieder als geistiges Einzelwesen bezeichnet. Das ist irreführend. Denn der „Mensch“ als er selbst besteht zum einen nicht nur im Einzelnen, sondern auch im Allgemeinen und zum anderen auch als dieses und jenes einzelne Verbundensein von Menschen. Deswegen ist es angebracht, mit dem Ausdruck der Person nicht das geistige Einzelwesen, sondern den „Menschen“ als ihn selbst zu meinen. In dieser Absicht wurde bisher vom menschlichen Menschen gesprochen, eine Wendung, die dasselbe sagt wie der Ausdruck des Menschen als er selbst. Das damit angesprochene Problem muß an dieser Stelle jedoch auf sich beruhen. Im anstehenden Zusammenhang kommt es darauf an, die Folgen ins Auge zu fassen, die sich aus der Bestimmung des „Menschen“ ergeben, vor allem als er selbst zu existieren. Über sie hat der zitierte Text sich klar geäußert. Zum Verhältnis zwischen der nicht-gesellschaftlichen humanen Existenz und der Gesellschaft hieß es in einem ersten Schritt: „Der Mensch ist als Person . . . mehr als nur ein Teil des gesellschaftlichen Ganzen.“ Nach den Erläuterungen, die gegeben worden sind, erfolgt dieses Urteil nicht ohne Grund. Es dürfte jedoch ratsam sein, seine Ausdrucksweise noch deutlicher zu fassen. Berichtigungsbedürftig ist zum ersten die Bestimmung des „Mehr“-Seins der Person. Abgesehen von der überraschend hergestellten und ungeklärten Beziehung zwischen dem Personsein und dem Teilsein, ist die Person niemals ein Mehr von Etwas und dieses auch noch gegenüber einem Anderen. Als geistiges Sein als es selbst ist sie stets ein Alles-Sein, wenn so zu sprechen sinnvoll ist. Dieser Bestimmung folgend, ist es zur Klärung des Verhältnisses zwischen der nichtgesellschaftlichen Existenz und der Gesellschaft sodann sinnvoll, sich an das Lehrstücks zu erinnern, nach dem die Person gemäß „der menschlichen Natur“ existiert. Unter dieser Rücksicht wird sie in ihrem Wirkvermögen begriffen, wie es sich aus ihrem Wesen ergibt. Dieses Wirkvermögen folgt dem Sein, wie das der Grundsatz des agere sequitur esse formuliert. Wirkt der personale „Mensch“ entsprechend seiner Natur, dann bringt er jene Art von Beziehungen hervor, in denen man das zu erblicken hat, was man die Gesellschaft nennt, nämlich den Bestand gesellschaftlicher Beziehungen. Sie unterscheiden sich von den vielen anderen Beziehungen des menschlichen Menschen bzw. des Menschen als diesem selbst, wie sie sein Wesen bzw. dessen Weiterbestimmung hervorbringt. Denn im Unterschied zu ihnen sind sie gegenseitige Beziehungen oder, wie man auch sagt, Wechselbeziehungen. In diesem Sinn spricht der zitierte Text von der gesellschaftlichen Beziehung als einer „in der menschlichen Natur seinshaft begründeten Wechselbezogenheit“. In ihr oder als diese besteht die Gesellschaft. Was immer als gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ real ist, ist eine von Personen hervorgebrachte Beziehung gegenseitiger Art.
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Mit dieser Behauptung formuliert der Solidarismus eine Ansicht vom Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der „Gesellschaft“, die weit verbreitet ist. Denn nichts scheint einleuchtender zu sein als zu sagen, daß die Gesellschaft ein Hin und Her von Beziehungen zwischen den „Menschen“ ist, die sie hervorbringen. Gegenüber dieser Ansicht, mag sie auch durch noch so viele Erlebnisse bestätigt sein, zumal in der Gesellschaft der Gegenwart, sind schwerwiegende Einwände geltend zu machen. Zum ersten ist zu prüfen, was der Ausdruck der Wechselbezogenheit, also der gegenseitigen Beziehung, genau besagt. Verläßt man sich auf die umgangssprachliche wie auf die relationstheoretische Bestimmung seiner Bedeutung, dann meint er, daß ein „Mensch“ dann in einer gegenseitigen Beziehung existiert, wenn seine Beziehung als die Beziehung des „Menschen“ Peter zum „Menschen“ Paul abhängt von einer Beziehung des „Menschen“ Paul zu ihm, dem „Menschen“ Peter, wobei diese umgekehrt abhängt von der Beziehung des Peter zum Paul. Die gegenseitige Beziehung besteht also in Beziehungen, die wechselseitig von einander abhängen: Es gibt die eine dann, wenn es die andere gibt, und umgekehrt. Für die Beurteilung der gegenseitigen Beziehung als des Gegenstandes, der vermeintlich die Gesellschaft ausmacht, gilt es im Auge zu behalten, daß diese Beziehung nur ein Sonderfall der Beziehung überhaupt ist. Diese ist die einseitige Beziehung im Sinn des Sich-Verhaltens des Einen zum Anderen. Aus diesem Grund bleibt die Beziehung, die Peter zu Paul besitzt, eine andere als diejenige, die Paul zu Peter hat. Die gegenseitige Abhängigkeit ist also nicht mehr als eine Bedingung der Hervorbringung und des Bestandes der Wechselbeziehung. Am Träger, am Ziel und am Grund sowie an allen weiteren Merkmalen dieser Beziehung ändert sie nichts. Daß es im Leben derartige gegenseitige Beziehungen gibt, ist keine Frage. Sie finden sich vielmehr überall. Das ist der Grund, aus dem sie sprichwörtlich sind. So sagt man, daß die eine Hand die andere wäscht, daß Verhältnisse bestehen, in denen die „Menschen“ sagen, wie du mir, so ich dir, oder daß „Menschen“ Auge um Auge, Zahn um Zahn miteinander verkehren. Die seit den ältesten Zeiten bestehende und dabei vielleicht am meisten überzeugende Formel zur Kennzeichnung der Gegenseitigkeitsbeziehung ist die Rede des do, ut des, d.i. ich gebe, damit auch du mir gibst. Diese Fassung formuliert trefflich die Gegenseitigkeit des Gebens und Nehmens. Versteht sie sich einerseits von selbst, so wird sie andererseits doch alsbald zum Problem. Aus diesem Grund haben schon früh die Rechtskundigen sich ihrer angenommen. Sie bemerkten, daß das Geben und Nehmen auf verschiedene Weise vonstatten gehen kann, und daß es schließlich auf den gerechten Austausch ankommt. Diesen Fall nennt man einen Vertrag zwischen gleichen Partnern. Was ihn auszeichnet, besteht nicht nur in deren gesinnungshafter Treue. Denn über diese hinaus gründet er in gewissen Regeln, die gleichsam unabhängig von den Vertragspartnern vorhanden sind und gelten. Sie bilden, wie man es ausdrücken könnte, die Form, die das bisher gesellschaftliche formlose, weil allein durch die Partner be-
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1. Teil: Was man heute meint, wenn man von der Gesellschaft spricht
stimmte Geben und Nehmen, zu einem verbindlichen Austausch erhebt. Damit ist das bloß persönliche Übereinkommen zu einem Übereinkommen zwischen Personen umgestaltet, das einen von der Gesellschaft anerkannten, gewährleisteten und im Streitfall auch durchsetzbaren Vertrag darstellt. Mit anderen Worten und hinsichtlich der gegenseitigen Beziehungen im Allgemeinen gesagt: Sollen die gegenseitigen Beziehungen als durch und durch gegenseitige Beziehungen real möglich sein und in der Folge Bestand besitzen, dann bedarf es dessen, was man ihre Verbindlichkeit nennt. Sie ist die gesellschaftliche Form der „menschlichen“ Gegenseitigkeitsbeziehung. Ob der zitierte Text, wenn er von der „Wechselbezogenheit“ unter den „Menschen“ spricht, immer auch deren gesellschaftliche Form mitmeint, mag man vermuten. Ausdrücklich ist von ihr jedenfalls nicht die Rede. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß der Solidarismus jene gegenseitigen Beziehungen nur als menschliche Gegenseitigkeitsbeziehungen versteht, als Beziehungen also, die ihre Form ihren menschlichen Trägern verdanken. Es ist nicht auszumachen, daß der Solidarismus zu einer Bestimmung der gesellschaftlichen Form der gegenseitigen Beziehungen vordringt. So jedenfalls muß die Feststellung im diskutierten Zusammenhang lauten. In der aufgezeigten Weise über den Menschen und über die Gesellschaft denkend, erweist der Solidarismus sich als spiegelbildlich umgekehrte Wiedergabe der herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Wie erinnerlich, bestimmen diese entsprechend ihrem Urteil über die Gesellschaft die humane Existenz als eine in jeder Hinsicht als gesellschaftlich bestehende Existenz. Diese Bestimmung hat zur Folge, daß der nicht-gesellschaftliche Mensch zum vor-gesellschaftlichen Menschen verflüchtigt wird und damit nahezu ein Nichts ist. Als dieser ist er nicht mehr als der menschliche Rohstoff der Gesellschaft. Er besteht, wie erinnerlich, als die „Spannweite der Verhaltensmöglichkeiten des Menschen“. Diesem Weltbild entgegengesetzt sagt der Solidarismus in der Folge seiner Betrachtung des „Menschen“, daß dessen gesellschaftliche Existenz in Gegenseitigkeitsbeziehungen besteht. Deren gesellschaftliches Formvermögen wird wohl erahnt, bleibt aber unbestimmt. Deswegen bleiben die menschlichen Gegenseitigkeitsbeziehungen menschlich beschaffen. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß die herrschenden Gesellschaftswissenschaften und der Solidarismus sich nichts zu sagen haben. Sie bestehen als nachgerade hermetisch geschiedene Welten des Sozialdenkens. Man kann in diesem Befund einen beredten Beleg für die tiefgreifende Asozialität erblicken, in der sich die Gesellschaft der Gegenwart befindet.48 Irgendwo zwischen jenen Gesellschaftswis48 Das Prinzip der Solidarität begründet den Solidarismus nicht nur als gesellschaftliche Seinslehre, sondern auch als gesellschaftliche Sollenslehre, also als Sozialethik. Aus diesem Grund meint der Solidarismus, Kritik üben zu müssen. Die Kritik ist praktisch, wenn sie die ethischen Unzulänglichkeiten der weltanschaulichen Gegenspieler des Solidarismus aufdeckt und zu überwinden versucht. Diese Gegenspieler sind wirksam als Individualismus und als Kollektivismus. Der Solidarismus kritisiert sodann theoretisch vor allem die herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Weil sie in den
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senschaften und diesem Solidarismus bewegt sich schließlich kompromißhaft die dargestellte personale Gesellschaftslehre. Mit seiner Ansicht, daß der „Mensch“ natürlicherweise Gegenseitigkeitsbeziehungen hervorbringt, die er als gesellschaftliche Beziehungen aber im Unbestimmten beläßt, so daß sie nur als menschliche Beziehungen bestehen, hat der Solidarismus zu dem anstehenden Problem sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Indem er wahrnimmt, daß er seinen Gegenstand nicht wesentlich erfaßt, sofern er ihn nicht sogar verfehlt, befreit er sich aus der Enge seines Blickes auf das Hin und Her der Wechselbezogenheit dadurch, daß er sich in einem gleichsam ruckartigen Schwenk der Betrachtung des „Menschen“ und der Gesellschaft als eines ganzheitlichen Zusammenhanges zuwendet. Unter dieser Rücksicht wird die Gesellschaft vorrangig. Sie erscheint als eine Ordnung, die Elemente, Teile, Glieder oder dergleichen zusammenschließt. Im Fall, der vorliegt, sind es Personen mit ihren gegenseitigen Beziehungen, die geordnet werden. Da sie, wie erinnerlich, dem Prinzip der Personalität gehorchen, sind sie mehr als ein Teil des Ganzen. Das heißt nicht, daß sie sich doch wie ein Teil zum Ganzen verhalten. So ist das Gesagte zu verstehen. Im oben zitierten Text über das Solidaritätsprinzip wurde dieses Verhältnis wie folgt benannt: Der Mensch, also die Person, ist ihrem „Wesen nach hingeordnet auf die Gesellschaft; ebenso wesensnotwendig ist die Gesellschaft ihrerseits hingeordnet auf die Einzelmenschen“. Dieser Ausdruck des Einzelmenschen benennt, was stets als „Teil des gesellschaftlichen Ganzen“ bezeichnet wurde. Daß der Solidarismus mit dieser Vergesellschaftung der Person wirklich rechnet, obwohl solches von seinen Voraussetzungen her ausgeschlossen ist, bringt die Feststellung zum Ausdruck, daß die „Einzelmenschen“ der Gesellschaft nur „ihre Glieder“ sind; wie es hieß, Glieder, wie sie abhängig im Lebenszusammenhang eines Organismus bestehen. Mag man überrascht sein, daß an die Stelle des Ganzheitstheorems die Organismusanalogie getreten ist, so ändert dieser Wechsel in der zweiten Deutung des Verhältnisses zwischen dem „Menschen“ und der Gesellschaft nichts. Womöglich verschärft er sie nur. Denn jene gesellschaftliche Ganzheit bzw. dieser gesellschaftliche Organismus zielen wesentlich darauf, die Person mit ihren Gegenseitigkeitsbeziehungen in sich aufzunehmen. Diese wie jene besorgen ihre gesellschaftliche Einordnung, Unterordnung und Anordnung. In der Methoden ihres Erkennens nicht unabhängig von den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen sind, stellen sie eine „vielfach gefährdete Selbsterhellung der menschlichen sozialen Welt“ dar, was es „bewußtzumachen“ gilt. Das ist jedoch zu wenig. Gegenüber dem bestehenden methodologischen Individualismus bzw. Kollektivismus ist ein methodologischer Solidarismus zu begründen, also eine Erkenntnisweise des sozialen Wesens der Gesellschaft. Er ergänzt bzw. vereindeutigt die genannten Erkenntniswege. Vgl. zu jenem begründeten praktischen Anspruch und zu dieser mangelhaften theoretischen Kritik Norbert Brieskorn, Der Mensch als zoon politikon, sowie ders., Das Menschenbild der Soziologie, in: Rainer Koltermann, Universum – Mensch – Gott. Der Mensch vor den Fragen der Zeit, Graz/Wien/Köln 1997, S. 266 et passim.
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Folge ist der „Mensch“ bzw. ist die Person ein durch und durch gesellschaftliches Wesen. Daß der „Mensch“ bzw. daß die Person diese Wandlung erfährt, hat seinen guten Grund. Er besteht in dem, was man ihre Kultivierung nennen könnte. Sie ist, wie es in lexikalischer Knappheit heißt49, „etwas dem Menschen Wesentliches, worin überhaupt erst sein wahres Menschtum sich erfüllt“. Die „gesellschaftliche Naturanlage des Menschen“ folgt also nicht aus einer „Unzulänglichkeit und folglich Ergänzungsbedürftigkeit zu gewissen äußeren Zwecken“, vielmehr besteht diese Veranlagung „in der Möglichkeit“ des „Menschen“, „durch den Reichtum seiner Anlagen eine Gemeinschaft als höhere Ganzheit“ (als die der Person mit ihren Gegenseitigkeitsbeziehungen) „aufzubauen und in der Gemeinschaft mit anderen zu seiner vollen Entfaltung zu kommen“. Die durch ihre kulturelle Zielsetzung voll zur Entfaltung gebrachte Gesellschaft ist selbstverständlich mehr als eine Vielheit von jetzt eindeutig als gesellschaftlich geformt erkannten Gegenseitigkeitsbeziehungen. Denn jede entwickelte Gesellschaft besitzt ihre charakteristische Aufbaugliederung, mag sie vielfach auch nur in der Absicht und nicht in der Wirklichkeit bestehen. Vereinfachend gesprochen, besteht diese Gliederung in den „natürlichen“ Gegenseitigkeitsbeziehungen bzw. Teileinheiten der Ehe bzw. der Familie, in den „frei“ genannten Beziehungen bzw. Untereinheiten der Freundschaft, des Berufsverbandes, der politischen Partei, usw., also in allen verwirklichungsfähigen humanen Zusammenschlüssen, und endlich in jener gegenseitigen Beziehungseinheit, die Staat genannt wird. Als natürliche, vollkommene und vollständige Gesellschaft schließt der Staat alle in ihm bestehenden gesellschaftlichen Einheiten und gesellschaftlichen Personen in sich zusammen. Will der Solidarismus eine Lehre vom Menschen und von der Gesellschaft sein, die in sich stimmig ist, dann sieht er sich gehalten, jenes zunächst erörterte Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft und das soeben skizzierte Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und seiner Gesellschaft wohlbegründet aufeinander zu beziehen. Worauf es also ankommt, ist, den Bezug zu bestimmen zwischen dem Zusammenhang der menschlichen Gegenseitigkeitsbeziehungen einerseits und dem Zusammenhang, der zwischen der Gesellschaft als einem Ganzen und den Menschen als seinen Teilen besteht. Überblickt man den Forschungsstand, dann belehrt er darüber, daß der Solidarismus sich zwar schon seit langem um eine Beantwortung der anstehenden Frage bemüht, daß er ein befriedigendes Ergebnis bis jetzt aber noch nicht zu erreichen vermochte. Zu den genannten Bemühungen ist der folgende Versuch einer Definition des Verhältnisses zwischen dem „Menschen“ und der „Gesellschaft“ zu zählen. Sie lautet: Gesellschaft ist „jene dauernde, wirksame Verbundenheit von Menschen in der Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles oder 49 Oswald von Nell-Breuning, Art. Gesellschaftsphilosophie, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 141.
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Wertes“50. Die Prüfung dieser Bestimmung ergibt, daß sie formal eine beschreibende Definition darstellt. Material umfaßt sie zwar beide Urteile über das Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der „Gesellschaft“, aber sie vermittelt sie nicht. Denn von beiden Verhältnissen kann man sagen, daß sie im weitesten Sinn Vereinigungen sind, die gewisse und deswegen unter anderem jeweils auch die genannten Merkmale besitzen. Was der Definition ermangelt, ist erstens die Bestimmung dessen, was der vernünftige Gattungsbegriff der Verbundenheit besagt sowie zweitens die Angabe desjenigen Unterschieds in der Verbundenheit von Etwas, der die Wesensart der humanen Verbundenheit benennt. Darin aber besteht die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Gesellschaft sowie die Bestimmung des sich aus diesem ableitenden Verhältnisses zwischen dem gesellschaftlichen Menschen und seiner Gesellschaft.
50 Oswald von Nell-Breuning, Art. Gesellschaft in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 140.
Zweiter Teil
Die Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft (Grundzüge der Entwicklungsgeschichte des Gesellschaftsdenkens und der Kritik ihrer Entwicklung) Erstes Kapitel
Die aus ihrer ursprünglich praktischen Erkenntnis zunehmend sich herausbildende theoretische Erkenntnis der Gesellschaft § 5 Die in der Lehre vom gesellschaftlichen Sollen verborgene Lehre vom gesellschaftlichen Sein A. Die Auffassungen der Antike und ihre Folgen für das Mittelalter I. Das griechische Altertum
Die europäische Geschichte des Erkennens hebt an mit dem Erkennen der Natur. Die Fragen, die dieses Erkennen stellt, zielen auf ein Erfassen dessen, was diese Natur ist. In diesem Sinn wird zunehmend aber auch die humane Existenz befragt oder genauer, fragt sie nach sich selbst. Von Heraklit (etwa 535–465) ist der Satz überliefert, daß er nicht versäumte, stets zugleich über sich nachzudenken.1 Dieses Nachsinnen teilt er mit erlauchten Männern seiner Zeit. Das ist der Übergang aus dem sechsten in das fünfte Jahrhundert vor Christus. Zu jenen herausragenden Geistern zählt unter anderem der Arzt und Philosoph Alkmaion (um 520), ein Pythagoreer, der im unteritalienischen Kroton lebte. Er hat wohl als erster ausgesprochen, was zu einer bleibenden Erkenntnis des Wesens der humanen Existenz geworden ist. Er lehrte, daß diese Existenz oder, wie wir ungenau zu reden pflegen, der Mensch, nicht nur physisch, sondern auch psychisch existiert. Von dem als zo¯on logon echo¯n d.i. als vernünfti1 Vgl. Herakleitos von Ephesos, fr.101: „Ich erforschte mich selbst.“ – In: Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 148.
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ges Sinnenwesen begriffenen Menschen sagt er, „daß sich der Mensch von den übrigen Wesen dadurch unterscheidet, daß er allein denkt, während die anderen Wesen zwar Sinneswahrnehmungen haben, aber nicht denken“2. Wenn die folgende Untersuchung über den Ursprung und die Beschaffenheit der Erkenntnis des humanen Zusammenseins bzw. der Gesellschaft mit einer Erinnerung an diese frühen Einsichten in das Wesen der humanen Existenz eröffnet wird, so geschieht das weniger aus wissenschaftsgeschichtlichen als vielmehr aus wissenschaftssystematischen Gründen. Denn mit jenen Urteilen beginnt das, was man als das theoretische Erfassen von Etwas zu bezeichnen pflegt. Theoretisch ist dieses Erfassen deswegen, weil es in einem prüfenden Betrachten des Seins der Dinge und des „Menschen“ besteht. Es erfüllt sich im Erkennen seiner Wahrheit. Darin ist es sich selbst genug. Diese erste Einsicht in die Beschaffenheit der Theorie begleitet sogleich eine zweite. Das auftretende Erkennen unterscheidet nämlich von Anfang an zwischen dem Erfassen von Etwas als Sein und seinem Erfassen als Tätigkeit. Das gilt insbesondere von der Erkenntnis des „Menschen“. An ihr fällt auf, daß sie die humane Existenz nicht nur als bestehend, sondern auch als sollensgebunden begreift. Dementsprechend entfaltet sich das Erkennen einerseits in den „Meinungen der Physiker“, also als ein Erkennen der humanen Existenz als eines Bestandes, und andererseits in den „Sprüchen der Weisen“, also als ein Erkennen dieser Existenz als eines Tuns. Der Athener Solon (etwa 640–561) zum Beispiel zählt zu diesen weisen Männern. Ihm verdanken wir ursprüngliche Einsichten in die Wirklichkeit der humanen Existenz, d.h. in ihre vom Handeln her verstandene Existenz. Allem voran lehrte er: (Tue) „nichts zu sehr“, also handle nicht im Übermaß. Aber auch die folgenden Einsichten in die Tätigkeit des „Menschen“ sind nicht unbekannt: „Fliehe die Lust, die Unlust gebiert.“ – „Wenn du gehorchen gelernt hast, wirst du auch zu befehlen verstehen.“ – „Rate deinen Mitbürgern nicht das Angenehmste, sondern das Beste.“ – „Erschließe das Unsichtbare aus dem Sichtbaren.“3 Besinnt man sich auf die Absichten der Aussprüche, die ins Gedächtnis gerufen wurden, dann fällt auf, daß sie sich nicht nur auf das Tätigsein der Existenz des „Menschen“ beziehen, wie es sich aus deren Sein ergibt. Sie meinen den „Menschen“ vor allem als ein Wesen, das etwas tun soll. Weniger also der humane Bestand und seine Wirksamkeit stehen vor Augen, sondern maßgeblich das, was die humane Existenz als Gebot erlebt und ihr Tun, das ihm gehorcht bzw. zu gehorchen sucht. In dieser Denkweise wird das Tun, das aufgrund eines Sollens erfolgt, als Etwas betrachtet, das sich vom seinshaften Wirken der hu2 Alkmaion von Kroton, in: Theophrast, Von den Sinneswahrnehmungen 25 = fr.1a, in: Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 112. 3 Solon, des Exakestides Sohn aus Athen, in: Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 65.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
manen Existenz unterscheidet. Um diesen Unterschied auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, wird es seit den frühesten Zeiten als Praktizieren bezeichnet. Tätigsein bzw. Handeln gehören somit verschiedenen Seins- und Erkenntnisordnungen an. Daß es sich so verhält, weiß das Denken, das sich zunehmend diszipliniert, seit seiner Heraufkunft. Es begründet und entfaltet sich also nicht nur als Theorie, d.h. als aufmerksames Hinsehen, sondern auch als Praxis, d.h. als ein Sich-Besinnen auf den Urbefund des Sittlichen. Als ethische Erkenntnis ist diese ein Erkennen des Gesolltseins bzw. der Praxis sowie des Tuns, das ihr entspricht. Die Erkenntnis als Theorie und die Erkenntnis als Praxis bzw. Ethik unterscheiden sich also in doppelter Hinsicht. Zum ersten betrifft sie den jeweils herrschenden Bestand und die jeweils waltende Gesetzlichkeit des Tuns. Was den Bestand angeht, also das Sein einerseits und das Gesolltsein andererseits, erweist dieser sich hinsichtlich des Seins als der Aufbau der humanen Existenz durch deren erste Ursprungsgründe. Gegenüber dem Gesolltsein erweist er sich als die Haltung der humanen Existenz gegenüber ihrer Pflicht oder, wie man auch sagen kann, gegenüber der sittlichen Notwendigkeit. Zum zweiten: Dem „Menschen“ erlebnishaft näher als diese Dimension seiner Konstitution sind die Arten der Gesetzlichkeit, die das jeweilige Tun bestimmen. So ist erstens vom Tun zu sagen, daß es vorgegebene Gesetze kennt. Als gegebene Gesetze bezeichnet man diejenigen Gesetze, die ehern gelten, was heißen soll, daß sie sich unabhängig von jeder Erkenntnis behaupten sowie gegenüber jeder auf sie bezogenen Entscheidung. Sie finden sich nicht nur in der Natur der humanen Existenz als die Gesetze ihres Entstehens, Bleibens und Vergehens, sondern auch in ihr als Kultur. In ihr bestehen sie als aufgegebene Gesetze ihrer Gestaltung, d.h. des möglichen Umgangs mit den darstellbaren Stoffen und ihren Formen, durch die die humane Existenz sich und ihre Welt selbst verwirklicht. Anders als die der gegebenen und der aufgegebenen Gesetze ist die Weise der Geltung der sogenannten vorgegebenen Gesetze. Sie werden als die Gebote erlebt, die vorschreiben, daß das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen ist. Die vorgegebenen Gesetze gelten als Sollensbestimmungen. Um ihnen zu entsprechen, muß die humane Existenz sie als sittliche Regeln erfassen und sodann aus eingesehenen Beweggründen danach streben, ihnen gemäß zu handeln. Gegen die vorgegebenen Gesetze kann also verstoßen werden. Im besonderen Maße folgenschwer ist dieses Zuwiderhandeln in jenen Zusammenhängen, in denen sie vorzugsweise gelten. Das ist zum ersten die Ordnung des Denkens und zum zweiten die Ordnung der Sittlichkeit. Wird in der ersten Ordnung gefordert, daß der „Mensch“ gut, d.h. wahr und richtig denken soll, so verlangt die zweite Ordnung das Tun des Guten, d.h. die Vervollkommnung auf die rechte Art und Weise. Die Unterscheidung zusammenfassend, läßt sich somit sagen, daß jene Aussprüche des Solon immer auch Urteile über die sittliche humane Existenz sind. Als diese sind sie Einsichten in deren Wesen, insofern sie seinsollend exi-
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stiert und durch ihre Tätigkeit diesem Sollen entspricht bzw. zu entsprechen sucht. Im Horizont der Theorie des humanen Seins und Wirksamseins sowie der Praxis bzw. der Ethik des humanen Seinsollens stellt sich der antiken Welt die Frage nach der Beschaffenheit der Gesellschaft. Überblickt man die Bemühungen um ihre Beantwortung von Anfang an und in der Weite ihrer voranschreitenden Entwicklung, dann gelangt man zu dem Ergebnis, daß das Denken der Gesellschaft sich wesentlich als ethisches Denken begründet und entfaltet. Überlegungen darüber, wie das Zusammenleben von „Menschen“ sein soll und welche Schritte zu unternehmen sind, um den erkannten Forderungen zu entsprechen, beherrschen die Urteile über die Gesellschaft. Geradezu durchgängig wird das gesellschaftliche Leben als ein Fragenzusammenhang des sittlichen Lebens verstanden. Daß die Gesellschaft im Ganzen der humanen Existenz auch einen von allem Sittlichen unterschiedenen Sachverhalt darstellt, ist ein Gedanke, der ursprünglich und bis auf weiteres außerhalb der Absicht des ausdrücklichen Erkennens liegt. Andererseits ist jedoch die Beobachtung richtig, daß das ethische Denken der Gesellschaft nicht darauf verzichtet, ja sogar darauf angewiesen ist, auch nach dem Sein und Wirken des menschlichen Zusammenlebens zu fragen. Denn nur wenn die Gesellschaft als ein besonderer Aufbau mit einem besonderen Wirken besteht, kann auch über ihr Gesolltsein und die Tätigkeiten, die ihm entsprechen, gesprochen werden. Das ist der Grund, aus dem das ethische Gesellschaftsdenken von Anfang an sich auch theoretisch begründet. Allerdings gelangt diese Betrachtung der Gesellschaft um ihrer bloßen Erkenntnis willen zunächst und in einer lang andauernden Folgezeit nicht über deren unwillkürliches Erfassen hinaus, und selbst dieses bleibt eingebunden in die ethische Fragestellung. Deswegen besteht zumal das anfängliche theoretische Gesellschaftsdenken in nicht mehr als in der naiven Gewißheit, daß es die Gesellschaft als das Zusammensein von Menschen überhaupt gibt, und daß dieses Zusammensein sich im gesellschaftlichen Tun ereignet. So belegen es jedenfalls der Anfang und die frühen Zeiten des gesellschaftlichen Erkennens. Um diesen Befund der sozusagen theorielosen ethischen Erkenntnis der Gesellschaft zu erhärten, wird zumeist die Darstellung jener gesellschaftlichen Begebenheit zitiert, die das Geschichtswerk des Titus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) überliefert. Sie dürfte der älteste förmliche Ausweis des Gesellschaftsdenkens sein, den unsere Kultur besitzt.4 Niedergeschrieben um die Zeitenwende, erzählt der Autor von jenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die fünfhundert Jahre vor seinen Lebzeiten sich zugetragen haben. Es geht um die Bestimmung der Rechte, die den Angehörigen des sich aufbauenden römischen Gemeinwesens jeweils zukommen sollen. Von den Patriziern zwar geleitet, aber auch be4
32.
Vgl. Titus Livius, Ab urbe condita, (Römische Geschichte), (Edition Reclam), II,
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
herrscht, begehren die Plebejer auf. Gegen den politisch-militärischen Adel erhebt sich die selbstbewußte Bauernschaft, die ihren Wohlstand nicht zuletzt der großen Zahl ihres hörigen Gesindes verdankt. Der Konflikt erreicht einen ersten Höhepunkt in jener secessio plebis, die sich 494 vor Christus ereignet hat. Indem die Plebejer wohl ihre Güter zurücklassen, aber im Gemeinwesen Rom verbleiben, verdeutlichen sie den Patriziern, daß deren Autorität einer gesellschaftlichen Norm unterliegt. Deswegen sieht (die Sagengestalt) Menenius Agrippa, eine Person von adligem Stand, sich veranlaßt, zu vermitteln. Um jedermann klar zu machen, daß die beiden Bürgerschaften ohne einander nicht auskommen, beschwört er den gesellschaftlichen Bestand, wie er sein soll, nämlich als ein gutes Ganzes. Übersetzt man die von ihm gesprochene in unsere Sprache, dann redet er vom Verhältnis, das zwischen dem Haupt der Gesellschaft und ihren Gliedern besteht. Den Plebejern erwidernd und sie zur Rückkehr in ihre Häuser bewegend, bezeichnet er sie als diejenigen Glieder Roms, die ohne die Leistungen des Bauches bzw. des Magens, d.h. ohne die Ordnungsleistungen des römischen Adels, nicht überleben können. Er verdeutlicht das Zusammenleben also durch jenes Bild, das besagt, daß die Regeln, nach denen der Organismus des Menschen lebt, auch diejenigen sind, die die Gesellschaft durchherrschen. Daß alles in Wirklichkeit sich so zugetragen haben mag, besitzt gute Gründe. Denn die streitenden Bürgerschaften verstanden ihn und versöhnten sich, weil das geläufige Organismusgleichnis in seinen Normen überzeugte. Dies mochte um so leichter der Fall gewesen sein, als diese Auffassung der Gesellschaft ihren Ursprung in einem langen Herkommen besitzt. Wie man heute annimmt, findet sie sich schon im alten Orient bzw. in Ägypten. In Fabeln weitererzählt, ist diese Deutung der Gesellschaft in die europäische Kultur eingegangen. Die Verdeutlichung der Gestalt des Gesellschaftsdenkens durch das zitierte Beispiel läßt erkennen, daß dieses Denken wesentlich sittlicher Art ist. Es will erfassen, was sein soll und besteht in dem Bemühen, zur Tätigkeit im Sinn der geltenden Regeln zu bewegen. Auf naive Weise begreift es aber auch, daß der gedachte Zusammenhang als ein „seiender Aufbau“ besteht, nämlich als diejenige Gestalt der humanen Existenz, die Gesellschaft heißt. Ihre sittliche Auffassung ist das schon genannte erste Merkmal des Denkens der Gesellschaft. Es begreift sie betrachtend nur beiläufig. Das Gesellschaftsdenken ist nicht theoretisch. Nach diesem ersten fällt ein zweites Merkmal der gesellschaftlichen Denkweise auf, die zu bestimmen ist. Offensichtlich faßt dieses Denken die Gesellschaft bildhaft auf. Das will besagen, daß ihr Erkennen sich bemüht, die Erkenntnisgegenstände so wiederzugeben, wie sie vor Augen stehen. Deswegen unterscheidet sich ihr sprachlicher Ausdruck vom sprachlichen Ausdruck des Begriffs. Dieser ist nicht anschaulich, sondern allgemein. Als Erkenntnis im Allgemeinen löst der Begriff gedanklich Etwas aus einem konkreten Wesen heraus, das als dieses nicht selbständig existiert. Beispielsweise ist das die Form,
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die die Gesellschaft besitzt. Sie ist dasjenige abstrakt erfaßte Vermögen, das den Gehalt der Gesellschaft, also eine Menschenmehrheit, zur Gesellschaft bestimmt. So zu erkennen, ist der vor Augen stehenden Denkweise der Gesellschaft fremd. Sie besteht durchgängig als der Hinblick auf die konkrete Fülle, in der die Gesellschaft unmittelbar, d.h. sinnfällig da ist. Die Methode dieser Denkweise verfährt des näheren in der Art, daß sie sich zunächst den von Natur aus existierenden „Menschen“ vor Augen stellt. Sie schaut, wie man zu sagen pflegt, auf den „Menschen“ als einen Einzelnen. Was diese Anschauung über ihn lehrt, wird sodann auf diejenige humane Existenz übertragen, die als Gesellschaft da ist und deswegen so bezeichnet wird. Wie der „einzelne“ Mensch da ist und wirkt und sodann maßgeblich, wie er sein soll und deswegen den Lebensgeboten entsprechend tätig ist, so ist alles auch in der Gesellschaft. Die anschauliche Denkweise der zu charakterisierenden Gestalt des Gesellschaftsdenkens eröffnet den Zugang zur Bestimmung ihres dritten Merkmals. Wie nämlich der Einzelne, also die konkrete psycho-physische Existenz-Gestalt, als etwas Vollständiges wahrgenommen wird, so trifft dies auch und zumal von der Gesellschaft zu. Wie sollte sie, die Menschlich-Mannigfaltiges zusammenbindet, etwas Anderes sein als ein Gesamtes in dieser seiner Anschaulichkeit. Betrachtet man es des näheren, erweist es sich als ein lebendiger Körper, der aufgebaut ist im statischen Sinn aus Gliedern und im dynamischen Sinn aus Organen. Sie bestehen als die Angehörigen der Gesellschaft, also aus den Menschen, die sie bilden. Deswegen richtet sich der Blick des gesellschaftlichen Denkens auch nicht auf sie als Menschen, sondern auf sie als Teile eines Ganzen. Dabei ist dieses Ganze naturgemäß von höherem Rang. Das gesellschaftliche Ganze vermag nämlich aufgrund seiner sittlichen Gesamtzielrichtung die „einzelnen“ Menschen in sich einzuordnen, aufgrund seines Wertvorzuges ist es imstande, sie sich unterzuordnen und aufgrund seines Vermögens, den Menschen Lebensaufgaben zuzuweisen, ist es fähig, sie anzuordnen. In dieser reich gegliederten Vollständigkeit erblickt die in Frage stehende Denkweise der Gesellschaft deren Wirklichkeit. Sie herbeizuführen, auszugestalten und zu bewahren ist die Aufgabe der sittlichen gesellschaftlichen Erkenntnis. In der Zusammenfassung ihrer Merkmale wird diese Art des Gesellschaftsdenkens seit alters her als normative organische Auffassung der Gesellschaft bezeichnet. II. Vom Hellenismus zum Mittelalter
Die aufgewiesene Ansicht der Gesellschaft, die im einzelnen praktisch denkt, anschaulich erkennt und das menschliche Zusammensein in seiner Ganzheitlichkeit vor Augen hat, ist diejenige Bestimmung des Zusammenseins von Menschen, die nicht nur das Altertum durchherrscht, sondern weit durch die folgenden Jahrhunderte wirkend bis zum Ausgang des Mittelalters das Gesellschaftsdenken prägt. Die Ergebnisse der Erforschung der frühen Geschichte des
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gesellschaftlichen Denkens bestätigen dieses Urteil. Zusammenfassend heißt es an repräsentativer Stelle deswegen: „Vergleiche zwischen dem menschlichen Körper, einschließlich der Seele in ihrer Beziehung zum Körper, und staatlichen oder anderen sozialen Gebilden gehören mit wenigen Ausnahmen zum festen Bestand der antiken und mittelalterlichen Sozialphilosophie.“5 Die Folge dieses Befundes ist, daß das Gesellschaftsdenken der Antike und des Mittelalters auf jenes sittliche organische Verständnis der Gesellschaft zurückbezogen bleibt. Vom Bemühen um ein theoretisches Denken des humanen Zusammen-seins gilt vollends, daß es sich nur in seinem Rahmen zu bewegen vermag. Diese Bedingung beherrscht nicht nur die Überlegungen als Politik und Geschichte, sondern auch die Betrachtungen der Dichtung, die Lehren der Philosophie und wenig später auch die einschlägigen Sätze der Theologie des Christentums. Es überrascht also nicht, daß im klassischen griechischen Altertum von der polis-Gesellschaft in der Regel im Sinn der überkommenen Auffassung die Rede ist. Deswegen lehrt Platon (427–347) wie selbstverständlich, daß die Gesellschaft, wie der Leib des Menschen, der seelischen Führung bedarf, daß sie sich, wie jener, aus Gliedern aufbaut, und daß sie, wie jener, im Ganzen Schaden nimmt, wenn auch nur einer ihrer Angehörigen beschädigt ist.6 Also wird die polis richtig verstanden, wenn man sie als das Menschsein im Großen versteht.7 In diesem Sinn urteilt auch Aristoteles (384–322), was nur dann überrascht, wenn man die Voraussetzungen nicht mitbedenkt, die im allgemeinen bestehen. Sie achtend, schreibt er über die Menge der Menschen: „Die vielen nämlich, von denen jeder einzelne kein tüchtiger Mann ist, mögen trotzdem, vereint, besser sein als sie, nicht als einzelne, sondern als Gesamtheit . . . Denn da ihrer viele sind, so kann jeder einen Teil der Tugend und Klugheit besitzen, und kann die Gesamtheit durch ihren Zusammentritt wie ein einziger Mensch werden, der viele Füße, Hände und Sinne hat. So ist es auch mit den Sitten und der Einsicht.“8 Im Voranschreiten der Zeit nimmt die hellenistische Welt diese Vorstellung auf und bezieht sie auf alle humanen Vergesellschaftungen, also auf die Ökumene als die ganze bewohnte Erde. Bestimmungen im Sinn dieses ausgeweiteten Gebrauchs der normativen organischen Auffassung der Gesellschaft finden sich insbesondere im Werk des Marcus Tullius Cicero (106–43), so etwa, wenn er über den Ausgleich des Nutzens zwischen dem je besonderen Mitglied der Gesellschaft und dem Nutzen der gesellschaftlichen Gesamtheit spricht.9 In der Folgezeit entfaltet die christliche Gemeinde ihre gesellschaftsgestaltende 5 Eckhart Scheerer, Art. Organismus, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6, Basel 1984, Sp. 1338. 6 Vgl. Platon, Politeia, (Der Staat), (Edition Meiner), 462a. 7 Vgl. Platon, Politeia, a. a. O., 368b; vgl. auch 435e. 8 Vgl. Aristoteles, Politika, (Politik), (Edition Meiner), 1281b. 9 Vgl. Marcus Tullius Cicero, De officiis, (Von den Pflichten, auch: Vom rechten Handeln, auch: Vom pflichtgemäßen Handeln), III, 22 f. (Edition Reclam).
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Kraft. Ihr Lehrer ist vor allem der Apostel Paulus (um 10–66/67). Er sieht sich veranlaßt, die bisherige Bestimmung des gesellschaftlichen Organismus im Sinn einer physisch-kosmisch verbürgten, unwillkürlichen Sittlichkeit abzulösen durch eine Auslegung im Sinn einer transzendent begründeten sittlich-religiösen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Am Bild, daß das Gemeinwesen wie ein Organismus beschaffen ist, braucht er hierbei nichts zu ändern. Dieses Bild in seinen Briefen vielfach verwendend, lehrt er, daß jede christliche Gemeinde bzw. deren Einheit als christliche Kirche wie der Leib beschaffen ist, ein Leib freilich, der Jesus Christus zu seinem Haupt hat und diejenigen, die an ihn glauben, seine Glieder sind. Deswegen leben diese Glieder wesentlich ein geistig-geistliches Leben, d.h. sie sind personale Existenzen kraft ihres religiösen Glaubens: „Durch ein und denselben Geist sind wir alle zu einem Leib getauft, Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie . . .“ Christus „aber ist allem zuvor. Das All hat durch ihn seinen Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche.“10 Aurelius Augustinus (354–430) wird dieses Verständnis der Gesellschaft aufgreifen und die als Organismus bestimmte civitas Dei als denjenigen Körper bestimmen, dem alle „harmonischen Maßverhältnisse“11 zukommen, wodurch er sich von den bloßen Ordnungsverhältnissen der civitas terrena unterscheidet. Zunehmend erstarkt diese Auffassung, so daß sie für das mittelalterliche Verständnis der Gesellschaft allgemeingültig wird. Indem es den Blick einerseits auf die Kirche und andererseits auf die Welt in deren vollem Bestand und sodann auf beide zusammen „im Ganzen“ richtet, folgt es der göttlichen Weisheit. Denn „Gott sieht immer zunächst auf das Ganze“12. Andererseits gilt jedoch, daß die Menschen, die „zunächst“ nur seine abhängigen Teile sind, ontologisch substantiell wie in der Bestimmung ihres ewigen Heils real das Erste sind. „Das Gut der Gnade eines Einzigen ist größer als das Gut der Natur des ganzen Weltalls“13, verdeutlicht Thomas von Aquin (1224/5–1274) den Zusammenhang, indem er scharfsinnig das Rangverhältnis zwischen dem Menschen in seinem ersten konkreten und in seinem zweiten formalen Wesen unterscheidet. III. Sein und Sollen in der polis-Gesellschaft
Die Geschichte der normativen organischen Gesellschaftsauffassung bricht mit dem Ausgang des Mittelalters nicht ab. Sie reicht vielmehr bis in unsere Tage. Daß sie die vorliegende Untersuchung aber nicht weiter zu beschäftigen 10
Das Neue Testament (Edition Ulrich Wilckens), 1. Kor. 12,13 sowie Kol. 1,17 f. Aurelius Augustinus, De civitate Dei, (Der Gottesstaat), (Edition Carl Johann Perl), Paderborn/Wien/München/Zürich 1979, XXII, 30. 12 Edelbert Kurz, Individuum und Gemeinschaft beim hl. Thomas von Aquin, München 1932, S. 37. 13 Thomas von Aquin, Summa theologiae, (Summe der Theologie), (Edition Joseph Bernhart), 1, II 113, 9 ad 2. 11
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braucht, besitzt seinen Grund darin, daß sie dem Begründungs- und Entwicklungszusammenhang der Gesellschaftsethik angehört. Anders verhält es sich mit jenem Denken der Gesellschaft, das in ihrem Schatten sich alsbald begründet, rasch aus ihm heraustritt und sich reich entfaltet. Damit ist dasjenige gesellschaftliche Denken gemeint, das auf die Erkenntnis der polis zielt und zurecht als Theorie der Gesellschaft bezeichnet wird. Seine Urheberschaft darf die klassische griechische Philosophie beanspruchen. Ihr gelingt es, neben der Ethik der Gesellschaft vor allem in der erörterten Form der überkommenen normativen organischen Gesellschaftsauffassung eine Denkweise der Gesellschaft zu entwickeln, die auf ihre theoretische Erkenntnis zielt und auf nichts außerdem. Freilich ist diese philosophische Betrachtung der Gesellschaft keine Gesellschaftswissenschaft im heutigen ausdrücklichen Sinn, wie das zumeist behauptet wird. Denn sie bleibt vielfach in die überkommenen Vorstellungen vom humanen Zusammensein eingebunden, und sie ist vor allem zurückbezogen auf die unter denselben Arbeitsbedingungen gewonnenen Einsichten in die Gesetze des sittlich guten Lebens. In einer ersten Bestimmung kann man die Merkmale der sich ankündigenden Theorie der Gesellschaft wie folgt charakterisieren. Entsprechend der Weise ihres Denkens zielt dieses Erkennen zum ersten auf das Erfassen des Seins der Gesellschaft und damit auch auf sie als einen Zusammenhang des Wirkens. Um nichts Geringeres geht es ihr als um die Erkenntnis der Konstitution des humanen Zusammenseins. Sie fragt also nach den Ursprüngen seines Aufbaus. Durch die Erscheinungen der Gesellschaft hindurch lassen sie sich als deren erste Ursache begreifen. Indem derart nach dem Sein und in der Folge nach dem Wesen der Gesellschaft gefragt wird, ist die Erkenntnis der gesellschaftlichen Praxis und dem Tun, das ihr entspricht, zu einer zweiten Sorge geworden. Deswegen verzichtet die theoretische Denkweise der Gesellschaft auch auf die Beschreibung des humanen Zusammenseins, nach der sie (wie) ein Organismus ist. Im Maße des systematischen Gebrauchs des formalen Begriffs der Gesellschaft wird es dem Erkennen möglich, über sie im Allgemeinen zu urteilen. Dieses Urteil bezieht sich, zweitens, maßgeblich auf die existentielle Ordnung der Gesellschaft. Versteht sie die überkommene Auffassung im Sinn eines ganzheitlichen Zusammenhanges, so wird sie jetzt auch als ein Besonderungszusammenhang begriffen, nämlich als derjenige der Menschen, die jeweils eine Gesellschaft bilden. Wollte man die derart charakterisierte gesellschaftliche Denkweise mit einem zusammenfassenden Namen bezeichnen, wäre sie wohl treffend als die Theorie der polis-Gesellschaft zu benennen. Deren Grundzüge sollen im folgenden in vier Schritten aufgewiesen werden. Im ersten Schritt soll versucht werden, die polis-Gesellschaft in ihrer konkreten Existenz zu skizzieren; da die formale Bestimmung dieser Gesellschaft sich in einen bedeutungsvollen und bis heute wirksamen Gegensatz verstrickt, seien in einem zweiten Schritt die Grundsätze der Seins- wie der Erkenntnislehre ins Gedächtnis geru-
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fen, wie sie die klassische griechische Philosophie formuliert hat; sodann wird der dritte Schritt sich um den Aufweis der formalen Bestimmung der polis-Gesellschaft gemäß jener Grundsätze bemühen; der vierte Schritt endlich wird verdeutlichen, auf welche Weise die Theorie der polis-Gesellschaft in die rationale sittliche Erkenntnis einbezogen ist, die das klassische griechische Altertum als Eudaimonismus begründet und entfaltet hat. Der Begriff der polis bezeichnet im weitesten Sinn eine Mehrzahl von Menschen, deren Verbindung den besonderen Bestand einer Bürgerschaft bildet. Sie umfaßt in der Regel auch deren Hinterland mit seinen Bewohnern. Von Anfang an in der Mehrzahl existierend, sind die poleis die Lebenszentren des Siedlungsgebietes der Griechen, das sich seit dem neunten Jahrhundert vor Christus zunehmend zwischen der westlichen Türkei und Süditalien ausdehnt. Unter ihnen gilt die Bürgerschaft von Sparta als die erste gefestigte polis-Gesellschaft. Es sei der legendäre Politiker Lykurg gewesen, der den dorischen Stamm um 820 vor Christus zur polis geformt habe. Ähnliches sagt man von den anderen poleis der Griechen. Gewiß sind sie nach den örtlichen Gegebenheiten und über die Zeiten hin verschieden. Gemeinsam ist ihnen aber die Art, auf die sie die gesellschaftliche Kultur begründen und diese bis ins zweite Jahrhundert vor Christus hinein prägen. In der Folgezeit breitet sich mit der Weltmacht Rom diese Art der Gesellschaft im damals bekannten Erdkreis aus. Deswegen ist vom Hellenismus die Rede. Er dauert an bis zum Untergang des römischen Reiches. Daß es mit der polis etwas Besonderes auf sich hat, bemerken zuerst die griechische „Dichtung und Historiographie des 6. und 5. Jahrhunderts vor Christus“, denen man noch immer jenen ersten Aufweis von Merkmalen entnehmen kann, „die als konstitutiv für die Polis als Gemeinwesen sui generis“14 gelten. Alsbald finden sich an ihrer Stelle diejenigen Bestimmungen, die als die Theorie der polis-Gesellschaft benannt worden sind. Sie ist spätestens im vierten Jahrhundert vor Christus voll entfaltet. Die maßgeblichen Werke dieser Betrachtung sind die Politeia des Platon und die Politika des Aristoteles. Soweit diese und die ihnen verwandten ethischen Arbeiten die polis theoretisch zu erkennen versuchen, bezeichnen sie mit diesem erfahrungsgesättigten Eigenbegriff die von den Griechen selbstbewußt ausgebildete und unterschiedene Hochform des humanen Zusammenseins. Was diese Verbindlichkeit der Gestalt nicht besitzt, aber dennoch als menschlicher Zusammenschluß existiert, ist keine polis, sondern bloß ein demos. Das ist ein Existenzzusammenhang von Menschen, der durch ihre natürliche Natur bestimmt ist. Was diesen Vereinigungen fehlt, ist der eigentümliche polis-Charakter, also das, was wir heute – zumal im geschichtlichen Rückblick – ohne Bedenken als Gesellschaft bezeichnen. Dieser Charakter wird des näheren erkannt zum einen im Begriff der politeia, d.i. im 14 Wilfried Nippel, Art. Polis, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 7, Basel 1989, Sp. 1032.
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Begriff der Verfaßtheit der polis, sowie zum anderen im Begriff der politika, welcher das kennzeichnende Ganze der politeia in ihren Teilen benennt. Deswegen mag es ratsam sein, der herrschenden Meinung unter den Altphilologen nicht zu folgen, d.h. diese und alle anderen aus dem Begriff der polis abgeleiteten Begriffe nicht zu übersetzen. Denn sie sind Begriffe einer besonderen geschichtlichen Wirklichkeit des humanen Zusammenseins oder, wie man zu sprechen gewohnt ist, einer Gesellschaft an diesem Ort und zu dieser Zeit, was hier besagt, des griechischen Altertums. Vom Staat oder vom Stadtstaat zu sprechen sowie von seinen Bürgern und deren Politik, usw., so, wie wir heute diese Ausdrücke benutzen, trifft nicht den Gehalt des politeuein, d.h. die maßgeblich sittliche Bewerkstelligung der polis. Er kann nur aufgewiesen werden, indem man deren positive, in der einstmaligen Erfahrung gegebenen Merkmale zu benennen versucht, so gut das dem praktischen und dem theoretischen Gesellschaftsdenken heute möglich ist. Blickt man auf den Bestandskern der polis, so charakterisiert ihn zum ersten das koinon, d.i. die Gemeinsamkeit, die die Angehörigen der polis verbindet. Ihr Gegenteil ist nicht etwa das ethnos, d.i. die menschliche Existenz bloß als Menge der Einwohner, die die polis besitzt. Ihr Gegenteil besteht vielmehr im barbarikon, d.i. das Nicht-Griechische als das ganz und gar Andere. Es ist das Trennend-Fremde und schließlich das „Barbarische“. Das zweite Merkmal des Bestandskerns der polis ist der nomos, der in ihr herrscht. Tief im Urverständnis der physis, d.i. in der Natur gründend, wie die Griechen sie verstehen, wird dieser nomos in der polis vorgefunden und zum Ausdruck gebracht. Er ist die vermittelnde Regel der Gemeinsamkeit. Sie besteht als Brauch oder als Sitte, sodann als rechte Satzung und schließlich als sittliches Gesetz. Gegenüber dem Ansinnen des idios, d.i. des gesellschaftlichen „Einzel“-Falls, sagt der nomos, dessen Wesen in der dikaiosynê, d.i. in der Gerechtigkeit, besteht, wie die eudaimonia, d.i. das Glück, zu erreichen ist. Es ist das Glück der polis und als dieses das Glück aller ihrer Angehörigen bzw. umgekehrt. Die derart in ihrem Bestandskern beschaffene polis erfährt ihre Vervollständigung durch ihre Bestandsvielfalt. Sie ist deren menschliche Seite, wenn so zu reden angemessen ist. Sie besteht im Gegensatz zum inneren Grund der polis als ihre je verwirklichte Gestalt. Sie umfaßt im Besonderen auch deren stasis, d.i. ihre Bedrohung nicht so sehr von außen, als vielmehr durch ihre Auflösung von innen heraus. Weil diese Gefahr besteht, ist der Bestand der polis nur in dem Maße gewährleistet, in dem jeder ihrer Angehörigen in ihrem Sinn mitdenkt und mithandelt. Ihren Ausdruck findet diese Gesinnung der Gemeinsamkeit in der aretê, d.i. im Einsatz der persönlichen Fähigkeiten einerseits und in der gegenseitigen Achtung andererseits sowie zusammengefaßt im tugendhaften Leben gemäß den Geboten der Sittlichkeit. Ist diese innere Bestandsvielfalt der polis verwirklicht, dann fügt sich auch ihr äußerer Aufbau zu einer bleibenden Wirklichkeit. Sie besteht als taxis, d.i. als Ordnung. Sie ist ausgebildet im besonderen als thera-
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peia, d.i. als kultische Ordnung, also als Verehrung der Götter; als archê, d.i. als Bestimmung der Herrschaftsverhältnisse, die auch diejenigen zwischen Mann und Frau sowie zwischen dem Herrn und dem Sklaven betrifft; als erga und technai, d.i. als Ausgestaltung des Arbeitslebens und der Künste; als paideia, d.i. in den Bemühungen der Erziehung; als agora, d.i. als Ordnung des wirtschaftlichen Austausches und des politischen Verkehrs miteinander sowie in den weiteren Ordnungen dieser Art. Sie durchziehend und die polis dadurch in Stufen gliedernd, herrscht die Ordnung des genos, d.i. die Ordnung der aus dem Leben erwachsenen Stände. Abgeschlossen wird der Aufbau der polis durch ihre Grundgestalten. Es gibt sie als oikos, d.i. als familiäre Privatheit einerseits und als polis, d.i. als Öffentlichkeit des Gemeinwesens andererseits. Ausgangspunkt wie Endpunkt dieser philosophischen Bemühungen, die polis, so wie sie vor Augen steht, in ihrer Vielfalt und in ihrem Kern zu erfassen, ist die Frage nach ihrer Ursache. Das Problem ist vielschichtig genug. Denn die Entstehung der polis erklärt sich zum ersten entsprechend dem Erleben, das ihre Angehörigen vom Ursprung ihrer Gesellschaft besitzen. Ihm zufolge ist es die chraia, d.i. die Bedürftigkeit des Menschen, die die polis entstehen läßt. Denn nur indem er mit anderen Menschen zusammenlebt, existiert er seiner Bestimmung gemäß. Andererseits gibt es jedoch keinen Zweifel daran, daß die polis von Anfang an besteht, d.h. daß sie der Existenz des Menschen voraufliegt. Wäre es anders, wie sollte sie dann fähig sein, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen? Das ist der Grund, aus dem Platon urteilt, daß die polis wesentlich als paradeigma, d.i. als eine vorbildhafte Gegebenheit zu begreifen ist, wenn nicht eben als Idee15: Denn ihr entsprechend richtet der verständige Mensch sein Leben ein, weil die polis „im Himmel . . . vielleicht als Muster hingestellt“ ist, nämlich „für den, der sie anschauen und gemäß dem Geschauten sein eigenes Innere gestalten will“16. Die gezeichnete Skizze hat sich bemüht, die Merkmale der Existenz der polis-Gesellschaft aufzuweisen. Dieser auf die Existenz gerichtete konkrete Blick ist verschieden von der Betrachtung dessen, wodurch die polis das ist, was sie ist. Allgemein gesprochen, handelt es sich bei diesem Unterschied von Etwas als Existenz einerseits und von dessen Konstitution andererseits. Daß dieses aufbauende Vermögen verschiedene Namen besitzt, ist nicht unbekannt. Zumeist gelangen durch sie jedoch nur Nuancen in der Bestimmung des Sachverhalts zum Ausdruck, der schließlich stets derjenige der inneren Begründung oder, wie man es auch nennen kann, des bestimmenden So-Seins von Etwas ist. Im Allgemeinen und damit auch im Fall der in Frage stehenden polis-Gesellschaft ist von deren Idee, deren Gestalt, deren Wesen, deren Prinzip oder ähnlich die Rede. Im folgenden soll dieser Grund bevorzugt als die Form der polis15 16
Vgl. Platon, Politeia, (Der Staat), (Edition Meiner), 507b und 596a. Platon, Politeia, a. a. O., 592b.
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Gesellschaft bezeichnet werden. Nach der Bestimmung der Existenz der gesellschaftlichen Wirklichkeit zielt das Bemühen deswegen auf die Erkundung desjenigen Vermögens, das es gestattet, das Wesen der polis-Gesellschaft zu begreifen. Im übrigen ist zu bemerken, daß die Unterscheidung zwischen jener konkreten und dieser formalen Erkenntnis eine derjenigen genialen Leistungen ist, die die klassische griechische Lehre vom Erkennen als bleibende Einsicht formuliert hat. Alle Versuche, sie in Frage zu stellen, um die Realität anders bestimmen zu können, vermochten den bestehenden Anforderungen nicht gerecht zu werden. Andererseits ist es jedoch richtig, daß die genannte Unterscheidung im Lauf ihrer Geschichte, die Jahrhunderte zählt, vielfach aus ihren ursprünglichen Bezügen herausgeholt und anderen Zusammenhängen eingegliedert worden ist. Unverfälscht wie modifiziert lebt die Unterscheidung indessen bis heute fort. Wie die Griechen das formale Denken begründet, verstanden und fruchtbar verwendet haben, soll die weitere Untersuchung beschäftigen. Damit wird das Vorhaben, die Form der Gesellschaft aufzuweisen, wie die Theorie der polis-Gesellschaft sie bestimmt hat, durch die Vergegenwärtigung der Seins- und insbesondere der Erkenntnislehre, wie sie die klassische attische Philosophie erarbeitet hat, freilich unterbrochen. Für eine kleine Weile wendet die Aufmerksamkeit sich also vom griechischen Denken der Gesellschaft ab und der Seinsund Erkenntnismetaphysik zu, wie diese maßgeblich durch die Philosophie des Sokrates (469–399), den Platonismus und den Aristotelismus begründet und entfaltet worden sind. IV. Der Idealrealismus der griechischen Philosophie
Der Standpunkt, der die klassische griechische Philosophie auszeichnet, um über das, was ist, zu urteilen, wird in der Regel als Idealrealismus bezeichnet. Diesen Realismus heißt man deswegen ideal, weil er annimmt, daß das Seiende als real Seiendes von seinem Ursprung her als bzw. gemäß einer Idee besteht, d.h. durch die Macht des Geistes bestimmt ist. Folglich sind auch die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, diejenigen also, die ihren Ursprung in der Materie besitzen, durch etwas Ideelles bestimmt. Deswegen besteht das Reale als eine Stufung von Realitäten. So oder so in ihrem Bestand verfaßt, erstrecken sie sich in ihrem Bestand zwischen dem, was der Geist als er selbst ist, und dem, das gerade noch am Geist teilhat. Sind diese Seienden, also diejenigen, die vor allem materiell beschaffen sind, am wenigsten real, so sind jene Seienden, die vor allem geistig sind, von größerer und als reiner Geist schließlich von der größten Realität. Diesen seinsmetaphysischen Grundsätzen über das Verhältnis zwischen dem Sein einerseits sowie dem Geist und der Materie andererseits entsprechen die erkenntnismetaphysischen Grundsätze über das Verhältnis zwischen dem Erkennenden und dem Erkenntnisgegenstand. So gilt zum ersten, daß jener wie dieser, insofern sie reale Seiende sind, als verschiedenen Realitäten bestehen. Solchermaßen jeweils an sich seiend, d.h. geformt, waltet sodann zwischen ih-
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nen eine Beziehung im Sinn einer Angleichung des Erkennenden an seinen Gegenstand und zwar dergestalt, daß jenes Subjekt dieses Objekt als das zu erfassen vermag, was es ist, jedenfalls dem Grundsatz nach. Mit diesen Bestimmungen des Seienden als gestufter Bestand und der Erkenntnis als Verhältnis des erfassenden gegenüber dem erfaßten Bestand, sind kurz jene Gründe benannt, von denen aus die klassische griechische Philosophie zu einer Gesamtauffassung des Seienden zu gelangen versucht. Sie ist folgenreich vor allem für zwei Teilbereiche des Erkennens, nämlich zum einen hinsichtlich der Welt des Wahrnehmbaren und zum anderen hinsichtlich der Beschaffenheit des Allgemeinen. Was jene Welt des Wahrnehmbaren betrifft, so ist diese das, was man heute als Außenwelt bzw. als Sinnenwelt zu bezeichnen pflegt. Sie bildet im Erkenntnisbezug das Gegenstück zu jener Welt, die man die Innen- bzw. die Bewußtseinswelt nennt. Für eine Problematisierung des Verhältnisses zwischen diesen Welten besitzt der Realismus der Alten, wie er ins Gedächtnis gerufen worden ist, keinen Anlaß. Er vertraut darauf, daß die Sinnesgegebenheiten von Etwas die Gewähr dafür sind, daß dieses Etwas immer auch als so-seiende Realität erkannt werden kann. Ihn drängt es nicht, sich über die Einstellung des Subjekts gegenüber dem Objekt Gewißheit zu verschaffen. Sie wird als natürlich bestehend erlebt, d.h. als untrügliche Erfahrung der sich mitteilenden Gegebenheiten. Die idealrealistische Erkenntnis der Außenwelt ist insofern naiv. Als diese entspricht sie nicht der Forderung des kritischen Realismus, welche verlangt, daß die Berechtigung der natürlichen Überzeugung von der Erkenntnis der Außenwelt der Begründung bedarf. Ist diese Kritik deswegen wohl notwendig, so rührt sie doch nicht an der realistischen Annahme der grundsätzlichen Bezogenheit des Subjekts auf das Objekt im Sinn der Erkennbarkeit und schließlich der Erkenntnis seiner Wahrheit. Dieser Bezug wird erst durch den erkenntnistheoretischen Idealismus in Frage gestellt, indem dieser das erkennende „Bewußtsein“ den Erkenntnisgegenständen derart überordnet, daß diese als von ihm gesetzt gelten bzw. nur als ideale Denkinhalte bestehen. Zum zweiten, so hieß es, sind jene metaphysischen Grundsätze folgenreich für die Bestimmung des Allgemeinen. Nach den Voraussetzungen leuchtet es ein, daß die klassische griechische Philosophie davon überzeugt ist, daß es das Allgemeine an sich gibt. Es heißt, daß in allem, was als etwas Reales besteht, immer auch das Universale verwirklicht ist. Des näheren ist es die Form dieser und jener Realität. Das erkennende Subjekt denkt sie im Allgemeinbegriff. Mit dieser Bestimmung wird zumeist die Klarstellung verbunden, daß die Seinsweise des Allgemeinen im Objekt sich von derjenigen im Subjekt unterscheidet. Während nämlich das Allgemeine im einzelnen Wesen mit diesem verbunden ist, ist es als dessen Begriff von dessen anderen Begriffen geschieden. Zugleich dient diese Klärung dem Zweck, der Behauptung zu widersprechen, daß es das Allgemeine nur als Denkinhalt gibt, sofern nicht sogar die Meinung besteht, daß es sich nur im sprachlichen Ausdruck aufweisen läßt.
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Mit der genannten Bestimmung des realistischen Allgemeinbegriffs oder kurz, des Begriffs, hat die klassische griechische Philosophie sich den Zugang zu jener Lehre eröffnet, die als formale Logik die Ordnung der materialen Logik aufweist, also des Erkennens. Sie ist zum ersten Lehre vom Begriff, zum andern Lehre vom Urteil und endlich Lehre vom Schluß. Dergestalt entfaltet, ermöglicht sie das methodische Erkennen und damit das, was seitdem Wissenschaft heißt. Das Ziel der Untersuchung im Auge behaltend, kommt es im folgenden darauf an, die Bestimmungen des Begriffs aufzuzeigen, soweit dies geboten ist. Von Platon als hê kat’eidê diairesis begründet, d.i. als Lehre von der Trennung der Begriffe und damit als Lehre vom Aufbau des Denkens als der Lehre vom Erfassen des ideenbestimmten Aufbaus der Dinge, entfaltet sie Aristoteles zur vollkommenen Logik des Begriffs. Danach ist der Begriff nicht nur begriffener und definierter Bestandteil möglicher Urteile, sondern im Sinne Platons stets der logos tês ousias, d.i. der Begriff des Wesens von Etwas. Als dieser erfaßt er das, was Mehreren, als Einzelne genommen, gemeinsam ist. Von Platon als eidos, d.i. als Idee oder Wesen, und von Aristoteles als ousia, d.i. als Wesen oder als Substanz bezeichnet, benennen diese Ausdrücke die Wesensart von Dingen. Sie findet sich beispielsweise als die Wesensart des Sokrates, des Kallikles, usw., die in diesem Fall das anthro¯po¯ einai besagt, d.i. das menschliche So-Sein, wie es den einzelnen Menschen zukommt. Dem realistischen Verständnis des Seienden entsprechend ist es möglich, jede Bestimmung dieser Art in einer umgreifenden Weise weiter zu bestimmen. Umfaßt ein weniger bestimmter Begriff Seiende von verschiedener Wesensart, dann ist dieser der Begriff ihrer Gattung. Verfolgt man einen begrifflichen Inhalt in weiteren gedanklichen Schritten bis zu dessen letzter Gattung, dann ist man zur Urbestimmtheit dieses Inhalts vorgedrungen. Diese logisch höchsten Gattungen bzw. ontologisch ursprünglichen Seinsweisen heißen, seit Aristoteles sie so benannt hat, Kategorien. Sie sind die Bestimmungen der urgeschiedenen Ordnungen des real Bestehenden. Endlich ist ein letzter Überstieg möglich. Jenseits der Kategorien oder, wie Platon sagt, epekeina tês ousias, d.h. über das Seiende hinaus, waltet das, wie es heißt, hikanon, d.i. das, was sich selbst genügt. Das sind die Ideen Platons, deren oberste die des agathon ist, d.i. die Idee des Guten bzw. des Göttlichen. Für Aristoteles besteht dieses Göttliche in der noêsis noêseo¯s, d.i. im Denken seiner selbst. Wendet der Blick von diesem Geist schlechthin sich wieder ab, um, wenn so zu reden gestattet ist, sich den untersten Beständen des Seienden zuzuwenden, dann befindet man sich inmitten der Dinge, wie man sie mit dem sinnlichen Auge wahrnimmt. Diese Dinge bilden die Welt des Zufälligen, die aus Diesem-da und aus Jenem-da, usw. besteht, also aus der unüberschaubaren Vielzahl des raum-zeitlich bestimmten Einzelnen. Das ist der Grund, aus dem es heißt, daß die sinnfälligen Dinge wohl ihr eigenes Wesen besitzen, daß dieses Wesen aber nicht mehr angemessen begriffen werden kann. Diese Realitäten sind für die Erkenntnis der sonderbare Fall
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des atomon eidos oder kurz, des atomon, d.i. des Wesens des Realen als eines Unteilbaren, also des Wesens eines Einzelnen. Cicero wird diesen Grenzbegriff später durch den Ausdruck individuum übersetzen. Begrifflich wie wesentlich baut das reale Seiende sich somit aufsteigend auf vom Grenzfall des atomon über die Allgemeinheit des eidos und des genos zur idea bzw. gliedert sich absteigend von dieser höchsten Allgemeinheit über jene untereinandergeordneten Allgemeinheiten hin zum Allgemeinen des Einzelwesens, das dem Aufbau zuunterst angehört. Indem Aristoteles die Überzeugung Platons abwandelt, der zufolge die „Welt in der Idee“ besteht und statt dessen lehrt, daß das Umgekehrte der Fall ist, nämlich daß die „Idee in der Welt“ besteht, rückt er das einzelne Seiende in den metaphysischen wie logischen Vordergrund. Energisch behauptet er diesen Vorrang, und er wird nicht müde, auf diese erste Realität aufmerksam zu machen. Mit Platon bezeichnet er sie als to atomon, d.i. das Unteilbare, als to kath’hekaston, d.i. jeder Fall oder, wie man heute bevorzugt sagt, das Einzelne, als to synholon, d.i. das, was zuletzt noch ein Ganzes ist und vor allem als to de ti, d.i. dieses Etwas. Dabei entgeht Aristoteles freilich nicht, was Platon wohl bedacht hat und was bereits angedeutet wurde, nämlich, daß das Wesen dieses Einzelnen sich der bestimmten begrifflichen Fassung entzieht. Das Mittelalter wird den Sachverhalt auf die Formel bringen, individuum est ineffabile. Nicht mehr vermag die Erkenntnis des Einzelnen, als Fingerzeige auf dessen Wesen zu geben, die der Erkennende am Ende durch hinweisende Gebärden zum Ausdruck bringt. Beispielsweise mag er mit seiner Hand auf den Sokrates deuten und erklären: Ich sehe jemanden, der Sokrates genannt wird und daß er mit Männern aus Athen redet; ich höre seinen ironischen Spott, und ich beobachte seine Hebammenkunst, durch die er jene Männer zur Vernunft zu bringen versucht, usw. So und nicht anders läßt sich das Wesen des Sokrates verstehen, so gut man das Sokrates-Sein verstehen kann. Denn von einem Einzelnen lassen sich immer nur dessen Wesenszüge und in deren Folge Eigenschaften erfassen und wiedergeben und auf den gemeinten Grund beziehen, der sie trägt. Deswegen definiert Aristoteles, daß das pro¯teron pros hêmas, d.i. das Frühere für uns, ein Einzelnes ist. Denn es ist das Sinnfällige. Andererseits ist dieses Frühere das, was uns am Ende fremd bleibt. Das gno¯rimo¯teron, d.i. das, was uns bekannter ist, erreichen wir nämlich erst in einem zweiten Erkenntnisschritt. Es ist das proteron tê physei, d.i. das Frühere der Natur nach oder das Frühere schlechthin. Dieses ist das katholou, d.i. das Allgemeine, das, was die bestimmende Art eines Einzelnen ausmacht. Sie ist das, was wir wahrhaft begreifen können. Es ist dieser, aus dem Platonismus herrührende Begründungszusammenhang, der Aristoteles unterscheiden läßt zwischen der ousia pro¯tê, d.i. zwischen dem ersten Wesen bzw. der ersten Substanz eines Seienden und seiner ousia deutera, d.i. sein zweites Wesen bzw. seine zweite Substanz. Jene erste ousia ist diejenige, wie sie dem Einzelnen zukommt, diese zweite ist diejenige,
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wie sie diesem zukommt, insofern es ein Einzelnes seiner Art ist.17 Wenn es sich aber so mit dem Sein und mit dem Erkennen verhält, dann heißt das, daß die wissenschaftliche Erkenntnis sich dem Erkennen der Wesensart der Dinge, also deren zweitem Selbstand, zuzuwenden hat. Der Kategorie der ousia mit dem Unterschied zwischen ihrem konkreten und ihrem formalen Sein und Erkennen ordnet Aristoteles sodann das kategoriale symbebêkon zur Seite. Als dieses bezeichnet er „dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet“18. Das symbebêkon versteht man also richtig als eine Weiterbestimmung der ousia. Aus ihr erwachsend, kann sie bestehen, wie Aristoteles sagt, als „eine Quantität oder eine Qualität oder eine Relation oder ein Wo oder ein Wann oder eine Lage oder ein Haben oder ein Wirken oder ein Leiden“19. Diese Bestimmungen, die später Akzidentien heißen und heute zumeist als die Zustände oder die Eigenschaften der Dinge bezeichnet werden, eröffnen jener geistigen Arbeit das Feld, in dem sich die wissenschaftliche Erfahrungsforschung bewährt. Der Gefahr, daß sie sich ins Belanglose verirrt, beugt die sittliche Erkenntnis vor. Sie wird als rationaler Eudaimonismus begründet, entfaltet und zur Geltung gebracht. Sie ist der praktische Teil der theoretischen Philosophie des Seins, des Wesens und der Erkenntnis der humanen Existenz und der Welt in einem Kosmos, der zuletzt als göttlich beschaffen aufgefaßt wird. V. Die Folgen des griechischen Idealrealismus für die Erkenntnis der Gesellschaft
Der kleine Exkurs über einige Grundsätze der idealrealistischen Philosophie setzt instand, die Ergebnisse aufzuweisen und zu verstehen, die diese Philosophie als Theorie der polis-Gesellschaft erarbeitet hat. Ihren Ausgangspunkt besitzt sie in der Annahme, daß das Seiende bevorzugt ideell da ist und insoweit geistig existiert; also sind auch die sinnlich wahrnehmbaren Dinge ideell bzw. geistig, woran ihre Stofflichkeit im Grundsatz nichts ändert; zu diesen Seienden zählt schließlich die humane Existenz, die offenkundig einerseits durch sich selbst und andererseits mit anderen Menschen lebt; realistisch betrachtet existiert der „Mensch“, wie jedes Ding, als ein Sein an sich, also unabhängig vom erkennenden Bewußtsein; deswegen ist er zugleich immer auch eine transsubjektive Realität; sie ist ihrem Wesen gemäß verfaßt; die so beschaffene Realität kann das erkennende Subjekt dem Grundsatz nach als Einzelnes bedingungsweise und im Allgemeinen bedingungslos begreifen; jenseits ihrer substantiellen Form werden die Dinge durch ihre Zustände weiterbestimmt, die als Erfah17 18 19
Vgl. Aristoteles, Peri to¯n katêgorio¯n, (Von den Kategorien), (Edition Meiner), 2a. Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1025a. Aristoteles, Peri to¯n katêgorio¯n, a. a. O., 1b.
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rungsgegebenheiten wahrnehmbar sind. In dieser Weise eingestellt, fragt die Erkenntnis nach dem, was ist. Einer dieser Gegenstände ist die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“. Darüber, daß die Frage nach der Gesellschaft bedeutungsschwer ist, gibt es keinen Zweifel. Denn in der geschichtlichen Epoche der Selbstfindung der humanen Existenz wird sie als geradezu schicksalhaft erlebt. Sie stellt sich als eine Frage, die unabweisbar ist. Dieser Umstand wiederum erklärt das Gewicht, das die Antwort auf sie besitzt. Wie wir wissen, prägt sie nicht nur die damalige Zeit, sondern das gesamte Altertum, und sie durchherrscht darüber hinaus das Gesellschaftsdenken der europäischen Geschichte, so daß sie das Erkennen der Gesellschaft bis in unsere Zeit beeinflußt. Das ist der Grund, aus dem die Wahrheit des eigenen Denkens der Gesellschaft von der Wahrheit abhängt, wie sie im Übergang unserer Kultur vom Mythos zum Logos gefunden worden ist. Sogleich ist zu zeigen, daß diese Wahrheit jedoch nicht so klar erkannt und ausgesprochen worden ist, wie das die vorausgesetzten Einsichten in das Erkennen fordern. Gehorcht man dem Anspruch dieser Lehre, dann stellt sich ein herbes Urteil ein. Denn das Ergebnis der Theorie der polisGesellschaft kann man nicht anders als diffus bezeichnen. Indem wir derart urteilen, unterscheiden wir uns von der Meinung, die die Philosophie und die Gesellschaftswissenschaften heute beherrscht. In der Regel erblicken sie nämlich in der polis-Lehre der attischen Philosophie eine wohlbegründete Theorie der Gesellschaft. Dieser optimistischen Auffassung kann man nicht beipflichten, weil sie über die wahren Begründungsprobleme hinwegsieht. In diesem sich selbst ermutigenden Sinn kann man beispielsweise das folgende lesen: „Besäßen wir erst noch die auf ausgedehnter Sichtung des Erfahrungsmaterials beruhenden 158 Staatsverfassungen des Aristoteles, dann stünde dieser Philosoph als der Anatom auch des sozialen Lebens vor uns, wie wir ihn schon kennenlernten als den Anatom der Gliederungen des logischen Geistes und des metaphysischen Seins.“20 Gegenüber dieser Ansicht ist zu bemerken, daß Aristoteles und mit ihm das gelehrte Altertum im Ganzen angesichts jener damals geläufigen Studien keine Veranlassung sahen, ihre Logik der Erkenntnis im Allgemeinen und derjenigen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz im Besonderen anders zu formulieren, als sie es getan haben. Sie aber wirkt sich zuletzt in dem verwirrenden Urteil aus, nach dem sich das humane Zusammensein nicht als einheitliches Sein bestimmen läßt. Nicht das Verbundensein macht die Gesellschaft zur Gesellschaft, wie wesentlich über sie zu urteilen ist, vielmehr besteht sie als ein gänzlich anders beschaffener Selbstand oder genauer, als ein Selbstand, der in zwei verschiedene Selbstände zerfällt. Der Theorie der polis-Gesellschaft zufolge besitzt die Gesellschaft ihre wesentliche Form nämlich zum ersten in einer geschlossenen Ordnung von menschlichen Existenzen, weshalb sie als ein „übermenschliches“ Ganzes existiert. Zum zweiten existiert 20 Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Band I, Freiburg/Basel/Wien 199114, S. 242.
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sie aber auch kraft der Wesensform der Menschen, die sie bilden, weshalb sie irgendwie als Einigung der vielen „Einzelnen“ da ist. Deswegen besteht aller Anlaß, die so beschaffene Theorie der polis-Gesellschaft als diffus zu bezeichnen. Sie verstrickt das Gesellschaftsdenken in eine Alternative, in der es sogleich zerfällt und damit unsachlich wird. Dies klärend aufzuweisen und dadurch zu überwinden, ist eines der Ziele, die die vorliegende Untersuchung im Auge hat. Jene erste Bestimmung der polis-Gesellschaft erweist sich des näheren als die Theoretisierung der seit alters her überkommenen Deutung des humanen Zusammenseins, die als normative organische Gesellschaftsauffassung gekennzeichnet worden ist. Im Gegensatz zu ihr, die den Blick auf die gesellschaftliche Praxis und auf das Tun richtet, die ihr entspricht, ist sie diejenige gesellschaftliche Denkweise, die darauf zielt, die gesellschaftliche Existenz in ihrem Ganz-Sein und in dem ihm folgenden Wirken zu erkennen. Dabei entfaltet sich dieses Erkennen, indem es eine geeignete Begrifflichkeit ausbildet und damit das anschauliche Denken bald mehr, bald weniger hinter sich läßt. Mögen die hierbei geprägten Begriffe zumeist auch nur Eigenbegriffe sein, so besitzen sie doch die Absicht, sich zunächst zu empirischen und sodann natürlich zu wesentlichen Allgemeinbegriffen zu vervollkommnen. Was die Organismuslehre als die substanzbegründete Norm der Gesellschaft umschreibt, nämlich deren Bestehen wie ein menschlicher Leib mit seinen Gliedern, das wird jetzt abstrakt bestimmt als der Bestand einer Ganzheit mit ihren Teilen. Mag diese neue Sprache auch der neuen, nämlich theoretischen Denkweise der Gesellschaft angemessen sein, so verzichtet sie doch nicht darauf, weiterhin so zu reden, wie es überkommen ist. Also meint die beibehaltene Benennung der Gesellschaft als soma, d.i. als Körper, soviel wie to holon, d.i. als ein Ganzes, und deren merê bezeichnen die Teile jenes Körpers. Platon zum Beispiel ist sich dieses allgemeinen Sprachgebrauchs und damit der herrschenden Erkenntnisweise wohl bewußt. Ausdrücklich macht er darauf aufmerksam, daß er sich selbst dieser gemischten Redeweise bedient und darin kein Problem erblickt.21 Denn es kommt zuletzt auf die Absicht der Erkenntnis an. Sie besagt, und das ist den Zeitgenossen mitzuteilen, daß die humane Existenz ganz und gar Glied ihrer polis ist bzw. Teil der Gesellschaft. Sie allein ist katholou, d.i. substantiell, wesentlich, ganz. Aus diesem Grund ist der „Mensch“ nur im Kollektiv, wie man heute sagen würde, wahrhaft Mensch. Sein Glück ist niemals „individueller“ Natur, in welchem Sinn auch immer. Der Mensch ist glücklich nur, soweit die Gesellschaft glücklich ist.22 Diese Theorie der polis hat gegen sich deren Ansicht und Begründung im nicht-ganzheitlichen und deswegen im menschlichen Sinn. Der Inhalt des so ver21 22
Vgl. Platon, Politeia, (Der Staat), (Edition Meiner), 464b. Vgl. Platon, Politeia, a. a. O., 420b und 466a.
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standenen Ausdrucks des Menschlichen ist so weit, daß er sich mit dem Inhalt des umfassenden Begriffs der humanen Existenz deckt. Dieser umgreift die menschliche und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Im Gegensatz zur genannten kollektiven Auffassung bezeichnet man diese Betrachtung heute als individuelle Bestimmung der Gesellschaft. Sie hebt an mit der Vorstellung, daß die Gesellschaft als eine durch und durch menschliche Wirklichkeit zu verstehen ist. Der Lehrmeinung liegt es also fern, den Ausgangspunkt ihrer Erkenntnis in der einzelnen polis zu sehen, d.h. in der konkreten polis von Athen im Gegensatz zu derjenigen von Sparta oder von Korinth, usw. Dieser gesellschaftlich ursprüngliche Gedanke bleibt ungedacht, geschweige, daß er geprüft würde. Die Erkenntnis hält sich vielmehr – denkbar ungesellschaftlich – an den Menschen, und sie weiß sich im Fortgang ihrer Untersuchung an diese Voraussetzung gebunden. Also hält sie sich an die Erkenntnis des Sokrates, des Kallikles, usw. Hat sie diese in Augenschein genommen, besinnt sie sich darauf, daß es gilt, den Menschen im Allgemeinen zu begreifen. Dies geschieht im Begriff des to anthro¯po¯ einai, d.i. im Menschsein. Im weitesten Sinn benennt er jene Substanz, die den Menschen zum Menschen macht. Sie besteht des näheren als die Seele der humanen Existenz. Sie verfügt über diejenigen Vermögen, die den Menschen instand setzen, Etwas zu bewerkstelligen. Das ist zum Beispiel zu Denken und zu Wollen. Unter diesen Vermögen findet sich schließlich jene Fähigkeit, kraft welcher ein Mensch mit einem anderen Menschen in Beziehung treten kann. Da der Mensch diese Fähigkeit dank seines dynamischen Wesens besitzt, kann Aristoteles sagen, hoti ho anthro¯pos physei politikon zo¯on, d.i., daß der Mensch entsprechend seiner Natur ein Wesen der polis-Gesellschaft bzw. der Gesellschaft überhaupt ist.23 Daß der Mensch diese Beziehungen eingeht, was so viel meint wie eben: Daß er mit anderen Menschen die Gesellschaft verwirklicht, liegt daran, daß dieser Umgang dazu geeignet ist, Anlagen zur Entfaltung kommen zu lassen, die sonst ungenützt bleiben. Da die Menschen aus dem in ihrer Seele liegenden Grund, sich zu vervollkommnen, das, was sie können, auch wollen, nehmen sie natürlicherweise zu anderen Menschen Beziehungen auf. Diese Meinung veranlaßt Aristoteles zu jenem zweiten bekannten Satz, hoti to¯n physei hê polis esti, d.i., daß es die polis-Gesellschaft bzw. die Gesellschaft überhaupt dank der Natur gibt, seit es die Natur des Menschen gibt.24 Zu meinen, daß die Gesellschaft deswegen gegenüber dem Menschen etwas Selbständiges ist, ist abwegig. Die Gesellschaft besteht in nichts anderem als in einer Vielheit von Menschen, die sich aufeinander beziehen. Sich gegen Platons Neigung wendend, in diesem Punkt also anders denkend als er, schreibt Aristoteles, ihn zitierend, „daß es nach Sokrates am besten sein soll, wenn die ganze polis möglichst eine ist; denn das nimmt er zur Voraussetzung. Es ist aber doch klar, daß die polis je mit dem Fortschritt zu größerer Einheit 23 24
Vgl. Aristoteles, Politika, (Politik), (Edition Meiner), 1253a. Vgl. Aristoteles, Politika, a. a. O. sowie 1278b.
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mehr und mehr aufhören muß, noch eine polis zu sein. Sie ist ihrer Natur nach eine Vielheit, sowie sie aber mehr und mehr zu einer Einheit wird, muß sie statt einer polis ein Haus und statt eines Hauses ein Einzelmensch werden. Denn ein Haus, wird jeder sagen, sei in höherem Sinne eine Einheit als eine polis, und ein Einzelmensch sei es in höherem Sinne als ein Haus. Könnte man also auch diese Einheit verwirklichen, so dürfte man es nicht, weil man damit die polis aufhöbe.“25 Diese Begründung bestätigt jenes Urteil, das schon vorgetragen wurde, nämlich: Daß die Gesellschaft nicht mehr sein kann als bestenfalls ein symbebêkon, d.i. ein Akzidens des Menschseins, also nicht mehr als ein Zustand des Menschen, der von dessen Selbstand hervorgebracht worden ist. Deswegen kommt es auf diesen an. Was es mit diesem Selbstand auf sich hat, erörtert die Lehre vom menschlichen Selbstand. Sie besteht als Lehre von der Seele des Menschen. Denn durch sie sind wir Menschen das, was wir sind. Sie ist es, „wodurch wir primär leben, wahrnehmen und denken“26. Die mit diesen Vermögen zugleich benannte Gestuftheit der menschlichen Seele verdeutlicht, daß sich das Menschsein durch deren oberste Stufe auszeichnet. Der Mensch ist Mensch durch seine Geistseele. Als dianoia einerseits, d.i. als nachdenklicher Verstand oder als das Vermögen der Begriffe und als nous andererseits, d.i. als einsichtige Vernunft oder als das Erfassenkönnen der Ursprungsgründe besteht sie zuletzt als nous poiêtikos, d.i. als wirksamer Geist. Er ist es, der nur als dieser besteht, der sich also mit Anderem nicht mischt, der sodann nichts leidet und der endlich unsterblich ist.27 Als Geist vollzieht sich die menschliche Existenz im bios theo¯rêtikos, d.i. im Leben als einem geistigen Schauen. Dessen Kern ist die theo¯ria tês alêtheias, d.i. das Betrachten der Wahrheit. Damit definiert diese Lehre, was der Inhalt und das Ziel des menschlichen Lebens ist. Das in seinen Grundzügen gekennzeichnete menschliche Leben erschöpft jedoch nicht die Wirklichkeit der humanen Existenz, wie das bereits benannt worden ist. Sie besteht als menschliche in ihrer einen und als gesellschaftliche in ihrer anderen Gestalt. Ist man berechtigt, die umrissene theoretische Lehre vom Menschen auf die Existenz des Menschen als Gesellschaftswesen zu beziehen, dann kann man sie nur als den Aufweis einer Grenzsituation dieser Existenz verstehen. Denn jener geistig lebende Mensch hat sich seiner Gesellschaft nahezu entwunden. Er hat bald mehr, bald weniger vollständig seine gesellschaftliche Existenz zugunsten seiner seelischen Existenz aufgegeben. In der erörterten Bestimmung des Geistes läßt sich nämlich unter keiner Rücksicht sagen, daß die Gesellschaft denkt. Also besteht sie bestenfalls als der Vorhof des bios theo¯rêtikos. In ihm verhalten sich die Menschen zueinander im Hinblick auf jenes theoretische Leben. Einen so beschaffenen menschlichen Lebenszusam25 26 27
Aristoteles, Politika, a. a. O., 1261a; vgl. auch 1277a. Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Meiner), 414a. Vgl. Aristoteles, Peri psychês, a. a. O., 430a.
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menhang bezeichnet man heute als eine „Gesellschaft der Individuen“. Sie ist der Grenzfall des Zusammenseins um des sich selbst meinenden Geistes des Menschen willen, nicht nur im Allgemeinen, sondern vor allem auch im Einzelnen. Wie erinnerlich, ergab sich schon die Gelegenheit, die Ergebnisse der Theorie der polis-Gesellschaft mit ihrem Anspruch, diese Gesellschaft und damit die Gesellschaft im Allgemeinen zu bestimmen, als diffus zu bezeichnen. Indem dieses Urteil wiederholt sei, läßt es sich verdeutlichen. Mit ihm wird nicht behauptet, daß jene Urteile verschwommen oder gar unverständlich sind. Sie sind diffus vielmehr insofern, als der Sachverhalt, den die Beurteilung im Auge hat, im Ganzen wie in seinen Teilen von jedem anderen Sachverhalt nicht klar genug abgegrenzt ist. Mit anderen Worten: Jene Theorie arbeitet mit einem Begriff der Gesellschaft, der den über ihr liegenden, die Sache verschwimmen lassenden Schleier nicht aufhebt. Das hat zur Folge, daß sie nicht klar über die Gesellschaft als diese redet, sondern bald entsprechend dieser, bald entsprechend jener nicht durchschauten Vorstellung von ihr. Die nach einem gewissen Urteil über die Gesellschaft strebende Erkenntnis sieht sich deswegen veranlaßt, gegenüber den Ergebnissen der Theorie der polis-Gesellschaft zumindest die folgenden Einwände vorzutragen. Zum ersten ist zu fragen, ob die Bestimmung der polis-Gesellschaft bzw. der Gesellschaft im Allgemeinen als Beziehung von Menschen einerseits und als Ganzheit von Menschen andererseits den Gegenstand, über den sie urteilt, nicht überhaupt verfehlt. In der Diskussion während des gesamten in Frage kommenden spatium historicum findet sich jedenfalls keine Vergewisserung darüber, ob bzw. daß man auch von derjenigen Sache spricht, die man meint. Womöglich sind jene Ergebnisse also Irrtümer. Angenommen jedoch, daß die fraglichen Urteile nicht irren, stellt sich die zweite Frage. Sie erklärt sich aus der Erfahrung, daß die beteiligten vergesellschafteten Menschen die Beschaffenheit ihrer Vergesellschaftung naiv so verstehen, wie die Theorie der polis-Gesellschaft sie nachdenklich benennt. Ist dieser Schritt über die alltägliche Erkenntnis hinaus wohl bemerkenswert, so dringt er doch nicht vor bis zum Begriff jenes Grundes, aus dem das seelische Sein der menschlichen Beziehung und das unmittelbar einleuchtende Bestehen von Ganzheiten über deren Beschaffenheit als diese hinaus auch Prinzipien sind bzw. sein können, die die Gesellschaft begründen und gestalten. Wäre dies einsichtig gemacht, stellte sich freilich alsbald eine weitere Frage. Sie betrifft das Verhältnis zwischen den Wirkungen, die jene metagesellschaftlichen Ursprungsgründe hervorrufen. Des näheren hat diese Frage sich mit den Grundkräften des Aufbaus einer Gesellschaft zu befassen, denen zufolge sie zugleich als Beziehung und als Ganzheit existiert. Indessen sind diese und weitere Einwände gegenüber den Erträgen der Theorie der polis-Gesellschaft unter denjenigen Erkenntnisbedingungen formuliert, unter denen heute gesellschaftswissenschaftlich gearbeitet wird. Davon ver-
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schieden verfolgt zumal die klassische griechische Philosophie niemals das Ziel, die von ihr entfaltete Lehre von der Gesellschaft als Gesellschaftswissenschaft im heutigen Sinn zu begründen. Ihre Theorie war, wie man weiß, stets eingebunden in das Bemühen, das zu erkennen, was man im Leben sittlich zu tun und zu lassen hat. Die antike gesellschaftswissenschaftliche Theorie der polis versteht man also nur dann richtig, wenn man sie als bezogen auf, wenn nicht sogar als eingebunden in eine Ethik begreift. Sie ist nicht mehr als ein theoretisches Mittel zu einem praktischen Zweck. Er wird benannt in einer Lehre vom sittlichen Lebensziel des Menschen, also von dem, was als Sollen einsichtig und im Tun auch erreichbar ist. Dieses Ziel wird begründet, entfaltet und geltend gemacht als eudaimonia, d. i. als Wohlbefinden des daimon im Menschsein, sprich: Als das tugendhafte Leben gemäß der göttlichen Bestimmung der humanen Existenz. Diese eudaimonistische Lehre baut sich auf aus einem ersten theoretischen und aus einem zweiten praktischen Teil. Will jener bestimmen, wie das Betrachten sein soll, also das Tätigsein des Verstandes und der Vernunft, so will dieser sagen, was der Wille wollen soll. Das ist das Ganze des ins Werk gesetzten Tätigseins, ausgenommen das theoretische Tun. Deswegen wird es auch als die Praxis des Menschen bezeichnet. Jenen ersten Teil der Lehre vom sittlichen Leben des Menschen hat beispielsweise Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik dargelegt. Sie dürfte ihren Höhepunkt im siebten Kapitel des zehnten Buches dieser Schrift besitzen, in welchem davon die Rede ist, daß das vollendete Glück des „Menschen“ im Vollzug der Theorie besteht.28 Vielleicht aber hat Aristoteles mit noch größerer literarischer Meisterschaft über diese Vollendung in seinem Protreptikos gesprochen, also in der von ihm mit platonischer Begeisterung verfaßten Einladung zur Philosopie. Der Schluß dieses Werbens, aus dem Geist zu leben, lautet wie folgt: „So gibt es also für die Menschen nichts Göttliches oder Seliges außer jenem Einen, das allein der Mühe wert ist, nämlich das, was in uns an Verstand und Geisteskraft vorhanden ist. Von dem, was unser ist, scheint dies allein unvergänglich, dies allein göttlich zu sein. Kraft unseres Vermögens, an dieser Fähigkeit teilzunehmen, ist unser Leben, obwohl von Natur armselig und mühsam, so herrlich eingerichtet, daß der Mensch im Vergleich zu den anderen Lebewesen ein Gott zu sein scheint. Denn mit Recht sagen die Dichter: ,Der nous ist der Gott in uns‘ und ,Menschliches Leben birgt einen Teil eines Gottes in sich‘. Also soll man entweder philosophieren oder vom Leben Abschied nehmen und von hier weggehen; denn alles übrige scheint nur ein törichtes Geschwätz zu sein und leeres Gerede.“29
28 Vgl. Aristoteles, Ethika Nikomacheia, (Nikomachische Ethik), (Edition Meiner), 1177a ff. 29 Aristoteles, Protreptikos, (Mahnschrift), (Edition Klostermann), B 108 ff.
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Von diesem Teil der Ethik als der Sittenlehre des bios theo¯rêtikos ist verschieden das ethische Lehrgebäude vom bios praktikos. Es behandelt das Sollen des Willens und die von ihm bewirkte Tätigkeit. Daß der Eudaimonismus diese Praxis zumeist oder sogar im Ganzen ineinssetzt mit der gesellschaftlichen Praxis, überrascht. Denn sogleich stellt sich die Frage nach der Berechtigung dieser Einschränkung. Jede unvoreingenommene Betrachtung des humanen Seins wird nämlich geltend machen, daß die sittlichen Gesetze sich sowohl auf die menschliche als auch auf die gesellschaftliche Existenz der humanen Existenz beziehen. Denn die Erkenntniskraft zum einen und das Streben zum anderen finden sich in jener wie in dieser Existenz-Gestalt. Als diese und als jene führen sie zugleich, wie Aristoteles dies nennt, ein dianoetisches und ein ethisches oder sittliches, d.i. ein charakteristisches Leben.30 Der aufgestellte Katalog bestätigt diese Behauptung. Sind epistêmê, phronesis, sophia, euboulia und technê, d. s. „Wissenschaft“, Klugheit, Weisheit, Einsicht und „Kunst“ die Tugenden der Theorie, so sind phronêsis, dikaiosynê, andreia und so¯phrosynê, d. s. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß die erkannten Tugenden der Tätigkeit. Wenn jene Ineinssetzung des tätigen mit dem gesellschaftlichen Sollen dennoch erfolgt, so ist das als Tatsache hinzunehmen. Um diese Gegebenheit, so gut das möglich ist, zu verstehen, mag es ratsam sein, die Begründung nachzuzeichnen, die zu ihr geführt hat. Im übrigen mag dieser Aufweis nicht nur abermals die Feststellung belegen, daß die Theorie der polis-Gesellschaft in ihre Ethik eingebunden ist, sondern auch zeigen, in welchem Maße das der Fall ist. Es sei also nachgelesen, was zum Beispiel Aristoteles schreibt: „Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinsamkeit (koino¯nia) dieser Ideen aber begründet das Haus und die polis. Darum ist auch die polis der Natur nach früher (proteron de tê physei polis) als das Haus und jeder von uns (hekastos hemo¯n), weil das Ganze früher sein muß als der Teil (to gar holon proteron anagkaion einai tou merous).“31 Aus dieser Begründung leitet sich der Rang ab, den das gesellschaftliche als ein praktisches Sollen besitzt: „Wenn diese Ansicht richtig und die Glückseligkeit als rechte und vollkommene Tätigkeit zu bestimmen ist, so folgt, daß das tätige Leben (bios praktikos) für die Gesellschaft wie für den Einzelnen das beste (aristos) sein muß.“32 Aus dieser sittlichen Forderung ergibt sich wiederum, daß der Mensch „nicht meinen“ sollte, „daß irgend ein politês sich selber angehöre“, vielmehr sei er „überzeugt“, daß sie alle der polis angehören (pantas tês poleo¯s)“33. Der Lebenszweck des Menschen bzw. der humanen Existenz erfüllt 30 Vgl. Aristoteles, Ethika Nikomacheia, (Nikomachische Ethik), (Edition Meiner), 1103a. 31 Aristoteles, Politika, (Politik), (Edition Meiner), 1253a. 32 Aristoteles, Politika, a. a. O., 1325b. 33 Aristoteles, Politika, a. a. O., 1337a.
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sich also im Lebenszweck der Gesellschaft: „Dieser aber besteht, wie wir erklären, in einem glücklichen und erfüllten Leben (to zên eudaimo¯s kai kalo¯s).“34 Das ist im praktischen Leben das kyrio¯taton agathon, d.i. das höchste Gut.35 B. Die christlich erfüllten Auffassungen der Antike im Mittelalter Die Gestalt der polis-Gesellschaft ist tüchtig genug, so daß ihre griechische Begründung und Entfaltung überdauert. Im Fortschreiten der Zeit breitet sie sich über den gesamten, damals bekannten Erdkreis aus, um unter römischem Einfluß zur hellenistischen civitas zu werden. Natürlich darf man die zahlreichen Siedlungen in ihren verschiedenen Formen nicht übersehen, die neben jenem ausgezeichneten Gemeinwesen bestehen, etwa als villa, vicus, oppidum, municipium, castra, colonia oder urbs. Sie alle existieren jedoch in einer besonderen äußeren Absicht. Es ist nicht die innere Verfaßtheit als Bürgerschaft, die sie charakterisiert. Das gilt schließlich auch vom Zusammenschluß der zahlreichen Vorformen und vor allem von der einen Hochform der Vergesellschaftung als societas hominum. Diese Einigung besitzt in der stoischen Philosophie ihren weltanschaulichen Ausdruck. Im Rechtsdenken der Römer wird sie als res publica begründet und wirksam eingerichtet. Wo diese einer Sicherung bedarf, ist der Zusammenschluß ausgebildet als Imperium Romanum, also als Befehlsgewalt, zumal im militärischen Sinn. Eine Änderung dieser, durch die vorbildliche civitas-Gesellschaft geprägte menschliche Vergesellschaftung vollzieht sich schließlich mit der Ausbreitung des Christentums. Natürlich ereignet sich der Wandel des gesellschaftlichen Lebens nicht von heute auf morgen. Auf den ersten Blick scheint die christliche Botschaft an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen sogar uninteressiert zu sein. Denn zunächst ist sie erfüllt von den Eschata des Glaubens, also vom Anbrechen der letzten Dinge des Weltgeschehens. In diesem Sinn schreibt der Apostel Paulus um das Jahr 55 an die Christengemeinde in Korinth: „So ordne ich es in allen Gemeinden (in omnibus ecclesiis) an. Bist du als Jude berufen worden? So brauchst du deine Beschneidung nicht zu verbergen. Bist du als Nichtjude berufen worden? So brauchst du dich nicht beschneiden zu lassen. Weder Beschnitten- noch Unbeschnittensein ist etwas – allein auf die Bewahrung der Gebote Gottes kommt es an! Jeder soll in der Lage, in der er berufen ist (in qua vocatione vocatus est), bleiben. Bist du als Sklave berufen? Laß es dir nicht leid sein! Selbst wenn du die Möglichkeit hast, frei zu werden, so bleibe gleichwohl um so lieber in deinem Stande (potes liber fieri, magis utere). Denn der Sklave, der berufen worden ist, dem Herrn zu gehören, ist ein Freigelassener des Herrn; und wer als freier Mann berufen wor34 35
Aristoteles, Politika, a. a. O., 1281a. Vgl. Aristoteles, Politika, a. a. O., 1252a.
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den ist, ist ein Sklave Christi.“36 Die Geschichte belehrt jedoch darüber, daß dieses „Sklaventum Christi“ zu jenem Anlaß wird, der die societas scheiden soll. Die Aufspaltung der Gesellschaft kann dramatischer nicht sein! Denn sie sprengt von ihr nichts äußerlich ab, spaltet sie also nicht in Teile, die sodann für sich bestehen. Was sie bewirkt, ist eine innere Scheidung, nämlich diejenige zwischen profanem und religiösem humanem Zusammensein. In der Zeit des Niedergangs des römischen Reiches faßt der Kirchenlehrer Augustinus (354– 430) die neuen Gedanken zusammen und prägt damit für mehr als ein Jahrtausend die Gestalt der gesellschaftlichen Existenz Europas. Sie begreift sich als der Streit, der in die Welt gekommen ist. Er erweist sich als die Herausforderung, entweder im Diesseits zu bleiben oder bereit zu sein für den Anbruch des Jenseits. Die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ ist danach diejenige der profanen Immanenz oder der religiösen Transzendenz. Vom Zusammenschluß der Gläubigen als Kirche gilt deswegen, daß sie diese als bloß von dieser Welt verstehen und deswegen in der Immanenz verbleiben oder daß sie die Kirche als nicht von dieser Welt begreifen und sich in ihr der Transzendenz überantworten. Diese Auslegung der humanen Existenz in Geschichte und Gesellschaft beherrscht die Zeit bis zum Ausgang des Mittelalters. Eine ungewöhnliche und deswegen beachtenswerte geschichts- wie gesellschaftswissenschaftliche Studie urteilt über das Werden und Bleiben dieser Gestalt der Gesellschaft zusammenfassend wie folgt: „Die römisch-katholische Kirche entwickelt . . . mit dem verbindlich werdenden Höhepunkt ihrer Lehrgestaltung in Thomas von Aquino“ um (1225–1274) „ihre Gedankenwelt und ihre auf dieser begründete sittlich-gesellschaftliche Existenz soweit, daß sie fähig wird, unter maßgeblicher Einbeziehung der Lehren des Aristoteles auch die Gesamtheit aller natürlichen Ordnungen des Daseins zu umfassen, zu deuten und autoritär zu regeln. Den Grund hierfür legt Augustinus mit seiner kirchlich-christlichen Lehre und Praxis. Unabhängig davon und in einer gewissen Spannung zu dieser Denkweise hebt er die civitas dei gegen die civitas terrena ab und begreift die transzendent-personale sittliche Gemeinschaft wie die rein irdisch gesonnene und gerichtete Existenz als generelle Modalitäten alles gesellschaftlichen Lebens.“37 Im angeführten gesellschaftsgeschichtlichen Urteil spricht sich ein weiteres Mal jene gesellschaftstheoretische Erkenntnis aus, daß auch die mittelalterliche Gesellschaft formal bestimmt bleibt durch die gesellschaftliche Denk- und Existenz-Gestalt, die als die Gesellschaft der menschlichen Beziehung einerseits und als die Gesellschaft der Ganzheit von Menschen andererseits ausgebildet und begründet worden ist. Zur Bezeichnung dieses doppelten Wesens der gesellschaftlichen Existenz ist zunehmend die Rede von der Gesellschaft im Einzel-
36
Das Neue Testament, (Edition Ulrich Wilckens), 1. Kor. 7,17–22. Werner Ziegenfuß, Augustinus. Christliche Transzendenz in Gesellschaft und Geschichte, Berlin 1948, S. 145. 37
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nen und von der Gesellschaft im Allgemeinen. In dieser Denk- und Sprechweise werden in der Folge in scholastischer Subtilität das Menschliche mit dem ganzheitlichen Teil und dieser wiederum mit dem Einzelnen im Sinn des einzelnen Menschen zum einen sowie das Ganze mit dem Allgemeinen und dieses sodann mit dem eigentlich Gesellschaftlichen zum anderen gleichgesetzt. Diese Entgegensetzungen, die kurz in der Rede vom Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft zum Ausdruck kommen, besitzen ihren Grund nicht zuletzt in der Bekräftigung der überkommenen gesellschaftstheoretischen Lehre zunächst durch Augustinus und sodann durch Thomas von Aquin. An repräsentativer Stelle lautet in der Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur über die Gesellschaftsverfassung und die Gesellschaftslehre des Mittelalters das Urteil über das zweifache Wesen der zwischen Immanenz und Transzendenz sich erstreckenden Gesellschaft wie folgt: „Innerhalb der christlich-katholischen Gesellschaftsauffassung stehen mit besonderen Akzenten nebeneinander eine mehr an Augustinus oder an Thomas anknüpfende Tradition. Im Augustinischen Typus herrscht die Transzendenz vor, das Streben in das Geistige. Der Geist . . . erscheint als innerliches Ganzes und in ihm wird die Gemeinschaftsform als eine ,individuell-persönlich-innerliche‘ erlebt. ,Geht im Untergeistigen das Individuum fast in der Gemeinschaft unter, so konzentriert sich im Geistigen die Gemeinschaft fast im Individuum.‘ Im äußeren Dasein ist das durch eigene Schuld der Zwietracht verfallene Geschlecht der Menschen von Natur aus gesellig. Aber auch das Staatsleben, das die irdische Existenz ordnet, bleibt der Anleitung und Führung zu einem ewigen Leben unterstellt. Von daher gewinnt der Staat einen ethisch-religiösen Sinn und seine verpflichtende Macht.“ – „Für das Thomistische Denken ist grundsätzlich das ,Ganze‘ auch in der Gesellschaft stärker betont: Das Gute ist ein Gemeinsames und also ein Ganzes. So ist der Einzelmensch auch dem Staat als einem Ganzen eingeordnet. Dieses Ganze selbst hat Interesse dafür, daß er unversehrt bleibt, und verlangt darum nicht seine Hinopferung. Ontologisch hat einzig das Individuum ,substantielle Existenz‘. Aber ,das Ontologische und das Soziologische liegen nicht auf der gleichen Linie‘.“ Die zitierte sachkundige Literatur zusammenfassend „wird gesagt: ,Es ist die Gemeinschaft“ (als ein Ganzes), „deren Glieder Eigenwert haben, aber eben nur als Glieder“ (insofern sie ursprünglich selbst Ganze sind). „Das Individuum hat als Hauptglied und Säule des Ganzen höchsten Eigenwert, höchste Eigenwürde, höchstes Eigenglück; sein Ziel und seine Erfüllung ist . . . (jedoch) gegeben mit Ziel und Erfüllung des Ganzen und nur in ihm. Das Individuum ist dem Ganzen ein- und untergeordnet als Teil‘. Der Vorrang des Ganzen ist ein Wertvorrang, es repräsentiert das höhere Gute und erscheint in der Kirche als höchster Form der Gemeinschaft, für die das Bild des ,Organischen‘ als corpus mysticum gilt.“38 38 Werner Ziegenfuß, Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 144 f.
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§ 6 Die Ausbildung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft A. Die Entbergung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft im Übergang des Mittelalters zur Neuzeit Daß die humane Existenz, indem sie damit beginnt, sich über die Natur, die Götter und über sich selbst zu besinnen, auch ein Begreifenwollen ihrer Existenz als eines gesellschaftlichen Wesens begründet hat, wurde im voraufgehenden Abschnitt darzulegen versucht. Freilich mußte die Abhandlung immer wieder darauf aufmerksam machen, daß diese Absicht, sich als gesellschaftliche Existenz zu verstehen, unter einer besonderen Rücksicht geschieht. Wie erinnerlich, hebt das Denken dieser Existenz mit der Erfahrung an, daß das humane Existieren in oder als Gesellschaft sittlichen Normen unterliegt und daß diese Gesellschaft nach den Umständen jenen Regeln gemäß einzurichten ist. Dieses Denken wurde als dasjenige Erkennen bestimmt, das ergründen und anleiten will, wie die Gesellschaft beschaffen sein soll. Es wendet sich zum ersten den sittlichen Vorschriften zu, die für sie als bestandhaftes Gefüge gelten. In einem zweiten Schritt zielt diese Erkenntnis auf diejenige „Praxis“, die geeignet ist, die gesollten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewerkstelligen. Dieses gesellschaftliche Denken, das sich bemüht, die Gesetze des guten humanen Zusammenlebens und das ihnen entsprechende Tätigsein zu erkennen, wurde zusammenfassend als das ethische Denken der Gesellschaft bezeichnet. Indem dieses Denken als ein Denken des Praktizierens der Gesellschaft gekennzeichnet worden ist, wurde es von der zuschauenden oder der reinen Betrachtung der Gesellschaft unterschieden. Dieser Hinblick auf die Gesellschaft wurde als das theoretische Denken oder als die Theorie der Gesellschaft bestimmt. Als bloßes Betrachten zielt dieses Erkennen auf die Gesellschaft, nicht insofern sie ein Gesolltsein ist, sondern ein Sein, also nicht auf sie als eine Praxis, sondern auf sie als einen gestaltbaren Bestand. So zu denken ist die Eigenart desjenigen Erkennens, das in seiner absichtsvollen Verwirklichung heute als gesellschaftswissenschaftliches Erkennen bezeichnet wird. Deren Mitte bilden die Gesellschaftsphilosophie und die Soziologie. Sie sind es, die als Theorie den Gegensatz darstellen zum Denken der Gesellschaft im praktischen Sinn, also als Ethik der Gesellschaft. Die Begründung und vor allem die Entfaltung des gesellschaftlichen Denkens als ethisches Denken mit seiner Kraft, das humane Leben durchgängig zu erfüllen, bestimmt das Erkennen der humanen Existenz als gesellschaftliche Existenz-Gestalt folgenschwer. Die eröffnete sittliche Sicht auf die Gesellschaft wird nämlich zumeist in dem Sinn verstanden, daß sich in ihr das gesellschaftliche Denken erschöpft. Die Gesellschaft jenseits dieses Begreifens aufzufassen, besteht kein Anlaß. Gehorcht das Erkennen diesem Ansinnen, dann beruht das
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auf sich, was man das theoretische Denken der Gesellschaft nennt. Bleibt dieses Denken unbeachtet, dann liegen das Sein und das Bewirken der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz nur so weit als unbedingt nötig im Blickfeld des Erkennens. Diese Vernachlässigung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft hat zumeist die Meinung zur Folge, daß es sich bei der Gesellschaft, insoweit sie ist und wirkt, um etwas Belangloses handelt. Endlich wird sogar in Frage gestellt, ob es das gesellschaftliche Sein und Wirksamsein überhaupt gibt. Denn warum sollte das, was man als Gesellschaft bezeichnet, sich nicht darin erschöpfen, ein sittlicher Sachverhalt zu sein? Damit wird behauptet, daß die Gesellschaft in nichts anderem besteht als im Gesolltsein von menschlichen Verhältnissen und der Tätigkeit, sie als gute Verhältnisse einzurichten. Es bestand schon Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß seit alters her dem sittlichen Denken der Gesellschaft diese Gleichgültigkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Sein und Wirken naheliegt. In einer Auseinandersetzung mit dieser Einstellung, nach der das gesellschaftliche Denken vor allem, wenn nicht ausschließlich als ein gesellschaftliches Sollens- bzw. Praxisdenken besteht, schien es geboten, sogleich einen Einwand vorzutragen. Es war auf die Beziehung hinzuweisen, die zwischen dem praktischen und dem theoretischen Denken der Gesellschaft besteht. Des näheren wurde behauptet, daß das praktische notwendig auf das theoretische gesellschaftliche Denken verwiesen ist. Es besitzt den Primat. Der Grund für dieses Verwiesensein ist der folgende. Ist es wohl richtig, daß die Ethik der Gesellschaft sich als Ethik aus ihrem eigenen Ursprungsgrund ableitet, so ist sie als Ethik einer besonderen Gestalt der humanen Existenz auf diese doch notwendig hingeordnet. Mit anderen Worten: Will man die Gesellschaft im ethischen Sinn begreifen, muß man sie auch theoretisch ins Auge fassen. Soll es möglich sein, die Ethik, wie man heute zu reden pflegt, als Sozialethik im Unterschied zu einer Individualethik zu begründen und zu entfalten, dann muß das praktische gesellschaftliche Denken sich über die Realität besonnen haben, die mit dem Ausdruck des Gesellschaftlichen einerseits und mit dem des Individuellen andererseits gemeint ist. Das heißt zum ersten, daß dieses Denken eine Antwort auf die Frage besitzen muß, worin der Unterschied zwischen der menschlichen Existenz des „Menschen“ und der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ besteht. Es muß sich also Klarheit über das humane Sein-bei-sich und das humane Sein-im-Verbund verschafft haben. Ist diese Frage nach der Urbestimmtheit der humanen Existenz positiv beantwortet, muß die Ethik der Gesellschaft zweitens zu einem Urteil darüber kommen, wie beschaffen die Realität sein soll, die jener Grund trägt. Wie erscheint und was ist die Gesellschaft, wenn man sie als Sein und Wirken begreift, also im theoretischen Sinn? Offensichtlich zeichnet die Gesellschaft sich dadurch aus, daß sie als ein Aufbau einer Menschen-Mannigfaltigkeit besteht oder allgemein gesprochen, daß sie kraft jenes Seins-imVerbund eine besondere humane Existenz-Gestalt der humanen Existenz ist.
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Wird diese Existenz-Gestalt nicht nur als ein in sich gefügter Bestand erkannt, sondern auch als ein tätiger Bestand, dann vermag das gewonnene Urteil über das gesellschaftliche Sein und Wirken sich zu weiten zu einem Urteil über die gesellschaftlich gesollte Tätigkeit. Über das wirkliche Vorhandensein des theoretischen Denkens der Gesellschaft entscheidet im anstehenden Problemzusammenhang der folgende Schluß: Besteht alles praktische Denken der Gesellschaft nur unter der Voraussetzung eines Bezuges auf deren theoretisches Denken, so bezieht es sich auf dieses Denken, sofern ein praktisches Denken der Gesellschaft sich ausgebildet hat. Ob es tatsächlich entwickelt ist, lehrt der geschichtliche Befund. Ihm zufolge ist festzustellen, daß es das praktische Gesellschaftsdenken von Anfang an gibt, also seitdem die humane Existenz sich auf ihre Existenz als Gesellschaftswesen besinnt. Ist das aber der Fall, dann gibt es das Gesellschaftsdenken auch als theoretisches Denken, und zwar gleichfalls bestehend von Anfang an. Das Erkennen der Gesellschaft ist also schon immer ein Erkennen sowohl ihres Sollens als auch ihres Seins. Das Gesellschaftsdenken ist gleichursprünglich als praktisches wie als theoretisches Denken ins Werk gesetzt. Aus dieser Erkenntnis wiederum läßt sich schließen, daß es abwegig ist, nach einem späteren geschichtlichen Zeitpunkt zu forschen, zu dem das Gesellschaftsdenken sich als theoretisches begründet. Als theoretisches Denken ist es vielmehr anfänglich da als das gegenständliche Erfassen der Gesellschaft. Wird es ausdrücklich ausgebildet, dann nimmt es die Gestalt der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis an. Ist es richtig, daß das praktische Denken insoweit ein theoriebezogenes Denken der Gesellschaft ist, als es sich auf diese in ihrem Sein und Wirken bezieht, dann interessiert natürlich, wie beschaffen diese Theorie der Gesellschaft ist. Rückt dieses theoretische Denken gar in die Mitte der Erkenntnisabsicht, dann muß dieser Frage die volle Aufmerksamkeit gehören. Um die Bestimmungen dieses Denkens zu ermitteln, kommt es darauf an, die geschichtlichen Befunde zu studieren. Also gilt es, nach ihnen zu fragen und nach dem, was sie besagen, und zwar von Anfang an und ihren Bestand in der langen Zeit, ins Auge zu fassen, die diesem Anfang folgt. Um besser verstehen zu können, was sich ermitteln läßt, mag es ratsam sein, das Ergebnis der Nachforschungen zusammengefaßt vorwegzunehmen. Es lautet, daß jenes theoretische Denken nicht nur dürftig ist, vielmehr stellt sich die Frage, ob man hinsichtlich der genannten Epochen überhaupt von einem theoretischen Gesellschaftsdenken sprechen kann. Die Gründe, die zu diesem Urteil Anlaß geben, sind im folgenden aufzuzeigen. Das theoretische Gesellschaftsdenken ist zum ersten ausgezeichnet durch das Denken seines Gegenstandes. Nach dem, was das geschichtliche Material belegt, ist dieser Gegenstand eine besondere Realität der humanen Existenz. Es ist die polis- bzw. die societas-Gesellschaft. Ihre sich abwandelnde Gestalt ändert
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daran nichts, nämlich der Übergang von der physisch-kosmisch verstandenen polis der Griechen zur zunächst hellenistisch- und sodann römisch-ökumenisch ausgeformten, als in der Natur begründet begriffenen societas-Gesellschaft, die von dem in die Geschichte eintretenden Christentum als weltimmanent bestimmt wird und der es die welttranszendente Gesellschaft der Gläubigen entgegensetzt. Damit hat dieses Denken jedoch stets eine gesellschaftliche Besonderung im Auge. Es zielt nicht auf die humane Vergesellschaftung überhaupt. Gesellschaften, die der eigenen ähnlich sind, bleiben ebenso unberücksichtigt wie jene Gesellschaften, die räumlich neben und zeitlich vor – und vorausblickend auch nach – der eigenen Gesellschaft bestehen. Deswegen kann man nicht sagen, daß dieses Erkennen ein Erkennen des gesellschaftlichen Seins und Wirkens im umfassenden Sinn ist. Entsprechendes ist von den Ergebnissen dieses theoretischen Gesellschaftsdenkens zu sagen. Als konkretes Erkennen der eigenen Gesellschaft ist es ein Erkennen nur von Eigenschaften dieser Gesellschaft, also von tatsächlichen Gegebenheiten. Aus diesem Grund benennt es die wahrgenommenen Erscheinungen in Eigenbegriffen. Eigenbegriffe sind Begriffe, in denen die Erfahrung des gemeinten Gegenstandes gedacht wird, d. s. dessen Merkmale als positive Denkinhalte. Sie unterscheiden sich insbesondere von den Einzelbegriffen. Im gesellschaftlichen Erkenntniszusammenhang wird durch sie jeweils diese bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit im Gegensatz zu jener gedacht. Diese Erkenntnis leistet das in Frage stehende theoretische Denken der Gesellschaft nicht. Zum Beispiel ist der Begriff hê to¯n Athênaio¯n polis kein Einzelbegriff, obwohl diese polis wie diejenige der Spartaner, der Korinther, usw. auch und wesentlich eine gesellschaftliche Einzelwirklichkeit ist. In formaler Hinsicht sodann, also als das Denken der Gesellschaft im Allgemeinen, bleibt dieses Denken in jener Alternative stecken, über die ausführlich gesprochen worden ist. Nach ihr ist die Gesellschaft einerseits eine organische Ganzheit und andererseits eine Vielheit von Beziehungen zwischen, wie man heute sagt, einzelnen Menschen. Daß diese Alternative der alltäglichen Anschauung der humanen Existenz entstammt und auf sie zurückbezogen ist, wurde oben erläutert. Als theoretisches Lehrstück besteht sie als eine Folge der Behauptung, daß der „Mensch“ von Natur aus ein gesellschaftliches Wesen ist. Nach dieser Natur lebt der „Mensch“ einerseits schon immer mit anderen „Menschen“ zusammen, wie er andererseits nur eine gesellschaftliche Anlage besitzt. Daß er von ihr Gebrauch machen soll, schreibt das praktische Denken der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ vor. Sodann fällt an jenem theoretischen Gesellschaftsdenken auf, daß es keinen besonderen Erkenntnisweg entwickelt, der dem Begreifen der Gesellschaft angemessen ist, sie in ihrem Sein und Wirken zu betrachten. Auch verzichtet es darauf, das erworbene gesellschaftliche Wissen zu einem Wissensganzen wenigstens der eigenen Gesellschaft zu vereinen. Zusammenfassend läßt sich von dieser Charakteristik des theoretischen Denkens der polis und der societas bzw. von den poleis und den societates schließlich
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sagen, daß das praktische Denken der Gesellschaft die theoretische Erkenntnisbemühung sich samt und sonders botmäßig hält. Die entwickelte Theorie der Gesellschaft besteht deswegen nur als eine Theorie im Dienst der gesellschaftlichen Praxis. Wenn das theoretische Denken der Gesellschaft aber so beschaffen ist, dann muß man von ihm sagen, daß es kein Denken im theoretischen Sinn ist. Nur diejenige Betrachtung der Gesellschaft, die um ihrer Betrachtung willen geschieht, verdient es, als gesellschaftliche Theorie bezeichnet zu werden. Ein gesellschaftliches Denken, das dazu nützt, die sittlich gute Lebensführung der gesellschaftlichen Existenz des Menschen zu erkennen, ist eben dadurch etwas Praktisches. Das Ergebnis der Untersuchung der Begründung und der Beschaffenheit des theoretischen Denkens der Gesellschaft kann nicht befriedigen. Lautet es zum ersten, daß es dieses Denken geben muß, weil es den existentiellen Bestand erkennt und bestimmt, auf den das sittliche Denken des „Menschen“ als Gesellschaftswesen sich bezieht, um darin seine Bedingung zu finden und in der Folge sich zu jenem sittlichen Denken zu entfalten, als das es wirklich da ist, so lautet es zum anderen, daß dieses Denken nicht beanspruchen kann, das theoretische Denken der Gesellschaft zu sein. Schlicht zusammengefaßt, besagt dieses Ergebnis, daß es das theoretische Gesellschaftsdenken einerseits zwar geben muß, daß es dieses Denken andererseits aber nicht gibt. Der Ertrag der Bemühungen ist also paradox. Er ist sonderbar, wenn nicht befremdlich. Daß die herrschenden Gesellschaftswissenschaften sich durch diese einander entgegengesetzten Bestimmungen des theoretischen Denkens jedoch nicht beirren lassen, ist bekannt. Sie leben mit dieser Ungereimtheit.39 Gegenüber dieser lässigen 39 Das mangelhaft geklärte Verständnis der Beschaffenheit des theoretischen Gesellschaftsdenkens wird zumal in den auseinanderstrebenden Ansichten greifbar, in die deren geschichtliche Erforschung zerfällt. Meint die erste Ansicht, den Unterschied zwischen dem praktischen und dem theoretischen Gesellschaftsdenken vernachlässigen zu können, so beharrt die zweite auf einem Begriff der Theorie der Gesellschaft im Sinn der vorherrschenden Gesellschaftswissenschaften. In der Folge stellt die erste Meinung das theoretische Gesellschaftsdenken von seinen Anfängen an dar, ohne den genannten Unterschied zu berücksichtigen; die zweite läßt dieses Denken erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrtausends beginnen. Vgl. zu diesem Unterschied z. B. Helmut Schoeck, Die Soziologie und die Gesellschaften. Problemsicht und Problemlösung vom Beginn bis zur Gegenwart, Freiburg/München 1964. Dieses Werk setzt S. 37 mit dem Hinweis ein, daß es schon „in den frühen Großreichen des Orients ein erhebliches Wissen von sozialen Vorgängen“ gab, um nach der Erwähnung der Geschichtsschreibung durch Herodot und Thukydides sowie von Rechtsauffassungen in der Sophistik die Gesellschaftsethiken von Platon und von Aristoteles zu zitieren. Anders z. B. Hermann Korte, Einführung in die Geschichte der Soziologie, Opladen 1992/ 20037. Dieses Werk erwähnt als Beginn des theoretischen Gesellschaftsdenkens S. 18 die sog. Physiokraten als „eine Wissenschaftlergruppe, die politisch aktiv wird“, um S. 25 fortzufahren mit der Darstellung: „Der ,erste‘ Soziologe: Auguste Comte.“ Vgl. zur genannten Problematik auch Stephan Moebius, Praxis der Soziologiegeschichte. Methodologien, Konzeptualisierungen und Beispiele soziologischer Forschung, Hamburg 2004.
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wissenschaftlichen Einstellung kommt es erstens darauf an, am Grundsatz festzuhalten, daß alle Praxis sich auf einen theoretischen Bestand bezieht. Es gibt keine Praxis ohne Theorie. Ist dieser Satz wahr, so ist zweitens das als wirklich vorhanden aufgewiesene nicht-sittliche gesellschaftliche Denken, auf welches das sittliche gesellschaftliche Denken sich bezieht, daraufhin zu prüfen, inwiefern es ein theoretisches Denken der Gesellschaft ist. Studiert man das Denken der Gesellschaft, das bisher unbestimmt als theoretisches Denken der Gesellschaft bezeichnet worden ist des genaueren, dann zeigt sich in der Tat alsbald, daß der Begriff des theoretischen Denkens der Gesellschaft erklärungsbedürftig ist. Klar und deutlich ist er offensichtlich hinsichtlich dessen, was mit dem Theoretischen gemeint ist. In diesem Begriffsbestandteil besagt er das bloß zuschauende Betrachten. Das, was betrachtet wird, ist in vorliegendem Fall die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Soweit ist der Begriff des theoretischen Denkens der Gesellschaft vernünftig bestimmt. Anders verhält es sich jedoch mit dem Begriffsbestandteil, der den genannten Gegenstand der Betrachtung meint. Betrachtet das fragliche theoretische Denken die Gesellschaft? Faßt es die Gesellschaft im Sinn ihres Gesellschaftlichseins wirklich ins Auge? Der genaue Blick auf den betrachteten Gegenstand belehrt darüber, daß akkurat das nicht der Fall ist. Nicht die Gesellschaft wird erfaßt, so ist festzustellen, sondern Etwas, von dem dieses Denken meint, daß es die Gesellschaft ist oder genauer, das es als die Gesellschaft auffaßt. Mit anderen Worten: Das theoretische Denken, das zu studieren ist, hat das gesellschaftliche Sein und Wirken zwar im Auge, aber es erfaßt dieses nicht im gesellschaftlichen Sinn. Dieses Sein und Wirken wird vielmehr als etwas Menschliches begriffen. Des näheren ist es ein irgendwie geordneter Bestand einer Mannigfaltigkeit von Menschen. Was diesen herbeiführt und welche Gestalt er besitzt, liegt im weltanschaulich so oder so ausgelegten Wesen des „Menschen“. Geistige Gründe mit ihren Folgen werden deshalb ebenso angeführt wie natürliche. Eine derart menschlich beschaffene Wirklichkeit ist jedoch in keinem Fall das, was man als die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz bezeichnet. Diese Unterscheidung verlangt jedenfalls der strenge Begriff der Gesellschaft. Ihm zufolge besteht nur diejenige humane Existenz als Gesellschaft, die kraft der Urbestimmung des Verbundenseins, das den Gegensatz zum Beisichsein darstellt, als humanes Zusammensein festgestellt werden kann. Aber natürlich ist nicht auszuschließen, daß das theoretische Denken der Gesellschaft dieses Zusammensein verfehlt und statt seiner jenen menschlichen geordneten Mannigfaltigkeitsbestand als Gesellschaft ansieht und seinen Grund als gesellschaftsbegründend auffaßt. In der Folge ist die so gedachte Gesellschaft in jeder Hinsicht etwas Menschliches und zwar kraft der menschlichen Natur. Sie ist nicht in ihrem gesellschaftlichen Wesen erfaßt und bestimmt, vielmehr besitzt die Gesellschaft ihre Urbestimmung in der menschlichen Natur, so daß alles gesellschaftliche Sein und Wirken menschlich be-
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schaffen ist. Diese Beschaffenheit des nicht-sittlichen und deswegen theoretisch genannten gesellschaftlichen Erkennens besteht von ihrem Beginn an und erstreckt sich bis zum Ausgang des Mittelalters. Erst in dessen Wandel zur Neuzeit bilden sich jene Bedingungen aus, die zum Anlaß werden, nach dem tragenden und bestimmenden Grund der Gesellschaft zu fragen. Bis zu diesem Umbruch weiß das theoretische Denken der Gesellschaft von ihm nur etwas in einer Ahnung. Es kennt ihn nur als einen verborgenen, verhüllten Grund. Der Grund der Gesellschaft ist also wohl da, aber sein Bestand ist der der Latenz.40 Deswegen ist es unmöglich, die Gesellschaft im gesellschaftstheoretischen Sinn zu erfassen. Das Sein und die Tätigkeit der Gesellschaft bleiben letztlich, d.h. in ihrer Gesellschaftlichkeit, unerkannt. Indem jedoch zunehmend der Grund der Gesellschaft sich lichtet, offenbart sie sich als das, was sie ist. Die Gesellschaft wird offenkundig von ihrer Urbestimmung her. Das ist das erwähnte Verbundensein. Man kann von einem Manifestwerden der Gesellschaft sprechen. Jenem Verdecktsein ihres Grundes entspricht also seine Entdeckung. Mit dieser Unterscheidung sei überdies verdeutlicht, daß es irrig ist, jene Erscheinungen des Verborgenseins und des Offenkundigwerdens des Grundes der Gesellschaft im Sinn des Überganges vom Ontischen zum Ontologischen zu verstehen. In der Fachsprache ist die Rede vom Übergang des intelligibile in potentia zum intellectum in actu. Er besagt die Überführung der unerschlossenen Tatsächlichkeit von Etwas in seine Erschlossenheit kraft der Einsicht in seinen Grund durch den erkennenden Geist, der dadurch mit ihm eins wird. In vorliegendem Fall ist der ontische Bestand überhaupt nicht vorhanden. Denn die Gesellschaft
40 Der Begriff der Latenz und der ihm zugeordnete Begriff der Manifestation sind in den modernen Gesellschaftswissenschaften nicht unbekannt. Sie werden in der Regel jedoch in einem anderen Sinn verstanden. Als latent werden zumeist diejenigen „Faktoren, Funktionen und Strukturen“ benannt, also durch ihr Wirken ausgezeichnete Erscheinungen, „die sich dem Selbstverständnis, der Einschätzung und Berücksichtigung durch die betreffenden sozialen Gebilde oder Personen entziehen“, wie es in Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 471, heißt. Latent ist also das, was als Tätigkeit besteht, aber nur mittelbar erkannt werden kann, d.h. nur mit Hilfe von Vorstellungen, die eine Beziehung zwischen dem offenkundigen Tätigsein von Etwas und seiner nicht-offenkundigen Ursache herstellen. Beispiel: Die verursachten unbeabsichtigten Nebenwirkungen des kapitalistischen Wirtschaftens und ihre Erkenntnis. Diese Art von Erscheinungen innerhalb einer Gesellschaft und diese Art ihrer Erklärung sind hier nicht gemeint. Gemeint ist, daß der Grund der Gesellschaft zunächst im Verborgenen besteht und des weiteren auch so bestehen kann. Unter bestimmten Bedingungen entbirgt er sich, um dadurch offenkundig zu werden. Das bestehende Problem läßt sich angemessen formulieren z. B. mit Hilfe der griechischen Begriffe der lêthê und der alêtheia, d.i. die Vergessenheit und die Wahrheit. Einen anderen Zugang eröffnet die griechisch-epikureische Lebensweisheit des lathe bio¯sas, d.i. lebe im Verborgenen oder, zeitgemäß gesagt, lebe als du selbst, also nicht so, wie es die herrschenden Lebensverhältnisse verlangen. – Vgl. zum Zusammenhang HansGünter Janssen, Art. Latent/Latenz, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5, Basel 1980, Sp. 39–42.
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als Tatsache ist nicht als gesellschaftliche bestimmt. Sie wird vielmehr ausdrücklich als menschliche Tatsache begriffen. Die Ausbildung der Bedingungen der Erkenntnis der Gesellschaft im genannten strengen theoretischen Sinn ist in der Sache ein vielschichtiger, in sich verschränkter Zusammenhang, welcher der Zeit nach mehrere Jahrhunderte umfaßt. Aus diesem Grund erklärt sich die Fülle des Materials, das die Geschichtsschreibung des theoretischen Gesellschaftsdenkens zu bearbeiten hat. Diese gesellschaftsgeschichtlichen Dokumente so umfassend als möglich aufzulisten, in ihren wesentlichen Gehalten zu verstehen und in ihren Folgen für die Gestaltung der humanen Existenz zu bestimmen, ist an dieser Stelle ausgeschlossen. Die folgende Untersuchung kann nicht mehr leisten als diejenigen Forschungsbefunde zu sichten, die gemeinhin als die entscheidenden Bedingungen der Ausbildung des theoretischen Gesellschaftsdenkens gelten. Ausdrücklich erwähnt werden können überdies nur einige wenige gesellschaftstheoretisch herausragende Dokumente und die Namen ihrer Urheber. Zu studieren sind also jene literarischen Zeugnisse, die die geistige Bewegung des Aufdeckens der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft zum einen grundsätzlich und zum anderen zielstrebig in Gang gesetzt, getragen und vorangetrieben haben. Alles, was diesem Streben entgegensteht, bleibt ebenso unberücksichtigt wie alles das, was in der Herausbildung jener Bedingungen strittig ist. Was die Weise ihrer Darstellung betrifft, scheint es ratsam zu sein, nicht darauf zu verzichten, auch aus den Quellen der Zeit zu zitieren. Mit diesen Wiedergaben der wegweisenden Auffassungen und der sich durchsetzenden Urteile verbindet sich die Hoffnung, daß die Lebensumstände und die persönlichen Beweggründe, die das theoretische Gesellschaftsdenken an den Tag brachten, sich leichter verstehen lassen. Die Zeit, die ins Auge zu fassen ist, reicht von der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Übersichtlicher mag der Abriß dadurch werden, daß er sich an das zeitliche Nacheinander jener Bedingungen hält, die zur Ausbildung der Theorie der Gesellschaft geführt haben. Es dürfte zweckmäßig sein, den Entwicklungsraum zu unterteilen, nämlich zum ersten in die Zeit zwischen 1300 und 1450, zum zweiten in die Zeit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zu den Jahren etwa um 1650 sowie zum dritten in die Zeit seit dem Ende des 30jährigen Krieges bis zu jenen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, seit denen diese in die eigene geschichtliche Gegenwart übergehen. Finden sich in der ersten Epoche diejenigen Kräfte, die aus der Ständegesellschaft heraus die Veränderung dieser Gesellschaft bewirken, so ist die folgende Epoche erfüllt vom Wandel der Lebensweisen der humanen Existenz, während der dritte Epochenabschnitt dadurch ausgezeichnet ist, daß diese Existenz dahin drängt, sich als moderne Existenz zu begreifen, was unter anderem besagt, daß sie sich im theoretischen Sinn als Gesellschaft erkennt. Als Ständegesellschaft in Europa versteht man diejenige societas-Gesellschaft, die äußerlich gekennzeichnet ist durch die gruppenhafte Gliederung ihrer
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Angehörigen. Sie besteht aus Einheiten, also den Ständen, die ein charakteristisches Gegenseitigkeitsverhältnis zu einander ausbilden, nämlich das der zueinander vermittelten Über- bzw. Unterordnung. Es gibt die Stände nicht getrennt von einander, stets sind sie aufeinander bezogen. In sich sind sie abermals ein Gradgefüge, etwa von Gilden und Zünften, in denen die Angehörigen eines Standes – irgendwie im Einklang mit ihrer Existenz als geistige Einzelwesen, also als Personen – ihre Lebensbestimmung erfahren und verwirklichen. Im Ganzen ist die Ständegesellschaft ein Aufbau, der von der obersten Stellung in Schritten sich abstuft bis zu den untersten Stellungen, die die in Gruppen und Gruppierungen eingebundene Mehrzahl der Angehörigen dieser Gesellschaft einnimmt. Es versteht sich, daß die Trennungslinien zwischen den Ständen deutlich gezogen sind und deswegen nur unter besonderen Umständen überschritten werden können. In den Benennungen, die besondere Tätigkeiten bezeichnen, spricht man vom Adel als dem ersten Stand und von der Geistlichkeit als dem zweiten. Ihnen untergeben ist der Stand der städtischen Bürger. Es sind das die Kaufleute und Handwerker. Ihnen wiederum nachgeordnet finden sich die verschiedensten Bediensteten der herrschenden Stände in einer sich weit untergliedernden Stufenordnung. Jenen Ständen vergleichbar leben auf dem Land zunächst diejenigen Bauern, die frei wirtschaften können. Ihnen untergeordnet ist die unfreie Bauernschaft als die Vielzahl der Leibeigenen und Hörigen. Als Randexistenzen schließlich kennt diese Gesellschaft das vagabundierende Volk und diejenigen Existenzen, die das besorgen, was als verfemt gilt. Vom Ursprung dieser gesellschaftlichen Ordnung heißt es, daß er in doppelter Hinsicht in der natürlichen Natur des „Menschen“ begründet ist. Er erklärt sich einerseits aus der Erhaltung und andererseits aus der Sicherung der gesellschaftlichen Existenz. Geschieht die Erhaltung durch die naturgegebene Geburt der humanen Existenz, indem sie über ihre Stellung in der Gesellschaft befindet, ein Vorgang, der nur dann und wann durch eine individuelle Leistung aufgehoben wird, so wird die Sicherung der gesellschaftlichen Existenz durch die naturgegebene Verteilung der Herrschaft gewährleistet. Sie besteht in der Vergabe bzw. in der Annahme eines Lebens, mit dem die Fürsorgepflicht des Herrn und die Dienstleistung des Knechts einhergeht. Die skizzierte gegenständliche Bestimmung der Ständegesellschaft hat zum Gegenpol deren ungegenständliche Beschaffenheit. Sie besteht als der sinnhafte Zusammenhang, den die Gesellschaft bildet. Er wird vor allem charakterisiert durch die Art der Geltung des Sittengesetzes. Sie erklärt sich aus der geistig verstandenen Natur des Menschen. Ihr zufolge soll er in Freiheit tun, was die Regeln seines Tätigseins vorschreiben. Sie zu erfassen, ist die Aufgabe der durch den christlichen Glauben angeleiteten vernünftigen sittlichen Erkenntnis. Sie begreift, daß jene Regeln sich auf Ziele des Tuns beziehen, die schließlich als Güter da sind. Ihre Rangordnung regelt im einzelnen, was der Angehörige eines Standes zu tun hat bzw. lassen soll, sowie den Lebenszusammenhang der
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Stände der Gesellschaft im allgemeinen. In diesem Sinn sagt die traditionsgebundene Sittenlehre das folgende: „Das höchste und unbedingte Gut ist Gott, dann folgt, was den Menschen Gott ähnlich macht und ihn mit Gott verbindet: Heiligkeit und Tugend. Hierauf kommen die inneren Güter der Geistseele: Wissen und Willensstärke. An diese reihen sich die äußeren Güter der Ehre und Freiheit. Dann erst kommen die inneren Güter des Leiblebens, wie Gesundheit, Kraft, Unversehrtheit. An letzter Stelle stehen die äußeren stofflichen Güter.“41 Solchermaßen verpflichtet, ist das Leben in der Ständegesellschaft ein Leben von Menschen als Personen von unterschiedlicher Begabung und Tüchtigkeit, die einen ganzheitlichen Zusammenhang bilden. Bleibt auch ungeklärt, wie das Verhältnis zwischen dem einzelnen Selbstand, also der Person, und dem organischen Ständeganzen, also der Gesellschaft, zu verstehen ist, so besteht doch kein Zweifel daran, daß der Mensch als dieser selbst und als derjenige, der mit anderen Menschen existiert, vielfältig tätig ist und sich in jener wie in dieser existentiellen Gestalt tugendhaft bewähren soll, zuletzt also im Sinn der Überwindung der Weltimmanenz. Im Transzendieren des Diesseits besteht die von ihm anzustrebende Vervollkommnung. Die Hinweise auf jene äußeren und diese inneren Bestimmungen mögen für eine Skizze der Beschaffenheit der Ständegesellschaft genügen. Ihre Ursprungsgründe sind zum ersten also die natürliche und die geistige Natur des Menschen, zum zweiten der sittliche Selbstand des „einzelnen“ Menschen sowie drittens dessen Ausweitung – wie immer sie erlebt, begründet und zum Ausdruck gebracht wird – zum organischen Miteinandersein. Es besteht zunächst als profane und sodann als religiöse societas. In seiner Untersuchung Über die Herrschaft der Fürsten umreißt Thomas von Aquin (1224/5–1274) dieses Sein und Sollen des Menschen und damit zugleich als wirksames Mitglied der Ständegesellschaft wie folgt: „Da also der Zweck eines guten Lebens, das wir jetzt führen, die himmlische Seligkeit ist, so gehört es zu dem Amt eines Königs, für ein gutes Leben des Volkes nach der Erwägung zu sorgen, inwieweit ihm zur Erreichung der himmlischen Seligkeit Bedeutung zukommt, damit er, was dazu fördert, anordnet und das Gegenteil, soweit das eben möglich ist, verbietet.“ – „Es bleiben uns weiter noch Überlegungen darüber anzustellen, daß diejenigen, die das königliche Amt mit Würde und des Lohnes wert erfüllten, ein besonderes Maß der himmlischen Seligkeit besitzen werden. Denn wenn die Seligkeit ein Lohn der Tugend ist, folgt daraus, daß der größeren Tüchtigkeit ein größerer Grad von Glückseligkeit zukommt. Nun ist aber das eine ganz besondere Tüchtigkeit, durch die ein Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch anderen den Weg zu bestimmen vermag; und dies um so mehr, für je mehr sie bestimmend ist. Auch hinsichtlich seiner körperlichen Tüchtigkeit wird einer um so tüchtiger gehalten, je mehr Feinde er niederringen oder je mehr Lasten er vom Boden heben kann. Wenn also schon für die Leitung eines Hausstan41 Johannes Kleinhappl, Art. Güter, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 164.
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des eine größere Tüchtigkeit erforderlich scheint, als um sich selbst zu lenken, eine wieviel größere erst zur Regierung einer Stadt oder eines Königreiches!“ – „Es ist also wohl das Zeichen ganz besonderer Tugend, wenn einer die Pflicht eines Königs gut erfüllt. So gebührt ihm auch ein ganz besonderer Lohn in der himmlischen Seligkeit. In allen Künsten und Fähigkeiten sind ferner immer die mehr des Lobes wert, die andere gut zu leiten wissen, also die sich selbst nach fremder Leitung wohl verhalten. Auch bei jeder gedanklichen Betrachtung bedeutet es mehr, den anderen lehrend die Wahrheit zu vermitteln, als selbst bloß das fassen zu können, was von anderen gelehrt wird. Auch im Gewerbe wird etwa der Architekt, der den Plan für die Gebäude entwirft, höher eingeschätzt und um mehr Geld angestellt, als der Handwerker, der bloß nach dessen Plan mit seiner Hand Arbeit tut. Und in den Kämpfen des Krieges folgt bei einem Sieg der Klugheit des Führers ein größerer Ruhm, als der Tapferkeit des Soldaten. Nun aber verhält es sich mit dem Führer der Gesellschaft bei allem, was von den einzelnen der Tugend entsprechend getan werden soll, wie mit dem Lehrer in den Wissenschaften, dem Architekten beim Häuserbau und dem Anführer im Kriege. Es ist also der König, wenn er seine Untertanen gut leiten kann, eines größeren Lohnes wert als irgend einer der Untertanen, der unter der Führung des Königs angemessen gelebt hat.“42
Die Beschaffenheit der skizzierten mittelalterlichen gesellschaftlichen Ordnung, die in ihrer formalen Bestimmung bevorzugt im Sinn eines belebten Körpers, also des Organismus, zum Ausdruck gebracht wird, versteht man zuletzt nur dann in angemessener Weise, wenn man sie als einen Teil des religiösen und des sittlichen Lebens gemäß der christlichen Glaubensoffenbarung erfaßt. Was diese Heilslehre über die Schöpfung und über die Erlösung der Welt und der humanen Existenz sagt, versucht die Theologie methodisch-systematisch zu erkennen. In ihrem Dienst arbeiten die Philosophie und die in sie eingeordneten wissenschaftlichen Disziplinen. Jene wie diese bemühen sich, die genannte, im Glauben erfaßte Realität mit Hilfe der Vernunft zu erkennen, zu ergründen und zu bestimmen. Das ist der Grund, aus dem ihre Urteile über die Beschaffenheit des real Seienden und in der Folge auch über die Beschaffenheit seiner Erkenntnis in der Regel nicht im Horizont der gemeinten Sachverhalte verbleiben, sondern alsbald auch auf das Reale als Erscheinung und auf seine Wahrnehmung bezogen werden. Am Ganzen dieser Denkweise fällt auf, daß die gelehrte Welt cum grano salis in den Grundsätzen wohl übereinstimmt, über die aus ihnen folgenden Lehrsätze aber vielfach und lebhaft streitet. Um diese Disputation zu belegen, sei aus den Bemühungen, die Beschaffenheit der Realität und des Erkennens zu bestimmen, wenigstens ein Beispiel angeführt. Dienlich scheint eine Problematik zu sein, die ersichtlich einen Bezug zum Menschen besitzt, also zur humanen Existenz. 42 Thomas von Aquin, De regimine principum, (Über die Herrschaft der Fürsten) (1267/9), (Edition Herdflamme), Jena 1923, S. 90 und S. 56 f. – Als erstes Werk der mittelalterlichen organischen Gesellschaftsauffassung gilt gemeinhin die Arbeit von Johannes von Salisbury (1115/1120–1180) mit dem Titel: Policraticus sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum; entstanden 1159; Brüssel ca. 1467.
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Die mittelalterliche Lehre vom endlich Seienden kennt als opinio communis unter anderem den Satz, daß es als Einzelsein besteht, d.h. so, wie die Sinne es unwillkürlich auffassen und der Verstand es nachdenklich begreift. Der Grund der Vereinzelung des Einzelwesens ist nach der herrschenden Meinung die sogenannte erste Materie oder, wie es heute zumeist heißt, die Bestimmtheit des Einzelnen durch den Raum und durch die Zeit. Die durch ihren Inhalt und durch ihre Form an sich seienden Dinge läßt der Urstoff bzw. das Raum-ZeitPrinzip als jeweils dieses Ding und als jenes Ding existieren. Auf den Menschen bezogen besagt diese Ansicht erstens, daß er kraft seiner Seele bzw. seines Geistes und kraft seines Leibes bzw. seines Körpers sowie kraft des Verhältnisses zwischen ihnen ein endliches Menschenwesen ist, was besagt, ein Mensch im Allgemeinen. Als dieser bestimmte Mensch ist er sodann dadurch da, daß er an dieser Stelle des Raumes und zu diesem Zeitpunkt existiert. Gegen das so bestimmte Prinzip der Individuation werden erstmals wohl durch den Theologen und Philosophen Johannes Duns Scotus (1266–1308) Einwände vorgetragen. Er gibt zu bedenken, daß der Urstoff, der unter allem Seienden am wenigsten vollkommen ist, Seiende höherer Stufe nicht bestimmen kann. Wenn diese Erkenntnis zurecht besteht, kann der behauptete Ursprungsgrund der Vereinzelung der Dinge und der Menschen nicht wahr sein. Also lehrt Duns Scotus, daß dieser Grund in den Dingen selbst liegt. Er nennt ihn die haecceitas, d. i. die Dies-heit von Etwas. Zusammen sind diese Dies-heiten die entitates individuantes. Ihrer Natur gemäß sind sie die Begründer der ersten Realität. Deswegen ist die Was-heit der Dinge, d.i. ihre natura communis oder ihr allgemeines Wesen, die Bestimmung ihrer zweiten Beschaffenheit. Aus dieser Zweitrangigkeit des Allgemeinen folgt, daß es vom Einzelnen bzw. von seinem Ursprungsgrund her zu verstehen ist und nicht umgekehrt, wie man es bisher meinte. Gewiß ist Sokrates ein Mensch, aber erst die socratitas macht ihn zum Sokrates, d.h. zu demjenigen Seienden, von dem her sein Menschsein zu begreifen ist. Erkennen heißt demnach, zuerst das Einzelne bzw. den Einzelnen zu erkennen, und dieses Erkennen ist vernünftig, umweglos und vollständig möglich. Wenigstens gilt diese Bestimmung dem Ideal nach. Denn Duns Scotus sieht durchaus, daß die Wirklichkeit des Erkennens anders beschaffen ist. Den Grund erblickt er darin, daß der Mensch ein sündiges Wesen ist. Zumal sein ursprünglicher Sündenfall hat zur Folge, daß er die Vollform des Erkennens nicht zu entfalten vermag. Dieses Erkennen als ein Begreifen durch die geistige Anschauung und durch den Einzelbegriff, wie es der ultima realitas angemessen ist, ist dem Menschen versagt. Sein Erkennen verharrt in dem Mangelzustand des abstrahierenden und allgemeinbegrifflichen Denkens als eines nur schwachen Begreifens der Realität in ihrem schwachen Sein. Allerdings erblickt Duns Scotus in der bestehenden Denkweise keinen Grund zur Klage. Denn die Fähigkeit der Seele, Etwas zu erkennen, ist durchaus nicht die vornehmste ihrer Fähigkeiten. Ausgezeichnet sind die einzelnen Wesen viel-
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mehr durch ihr Vermögen, Etwas zu erstreben. Im Fall des „Menschen“ besteht dieses Streben als sinnlicher Trieb und als geistiger Wille. In der „menschlichen“ Existenz kommt ihm der erste Rang zu. Denn er erfüllt das „Menschsein“ durch die Bejahung des Göttlich-Guten. Sie adelt den „Menschen“ durch seine Akte zunächst der Liebe zu Gott und sodann der Liebe zu sich selbst einerseits sowie der Liebe zum Nächsten andererseits. Mit diesem Lehrsatz verwirft Duns Scotus ein zweites Mal die herrschende Meinung, indem er die geltende Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Denken und dem Wollen umkehrt. Die lexikalische Zusammenfassung dieser Kehre lautet wie folgt: „Analog zum göttlichen hat auch der menschliche Wille gegenüber seiner Vernunft den metaphysischen Primat. Obwohl der Wille nicht vollends Ursache der Erkenntnis ist, bestimmt er das in ihr sich betätigende Interesse. Der Wille ist im Menschen das Vermögen der Freiheit und Selbstbestimmung, während der Intellekt an die Struktur des Erkannten gebunden, geradezu naturabhängig ist. Dieser Umsturz des Vernunftprimats folgt aus der Preisgabe der objektiven Vernunft der Metaphysik.“43 Es dauert nur eine Generation bis aus den Lehren des Duns Scotus vom Vorrang des Einzelnen vor dem Allgemeinen und vom Vorrang des Willens vor der Vernunft die erkenntnistheoretischen Folgerungen gezogen werden. Vor allem ist es sein Ordensbruder Wilhelm von Ockham (1300–1350), der sich der überkommenen Lehre, der via antiqua, in einer neuen Lehre, der via moderna, widersetzt. Diese moderne Denkweise behauptet, daß es gilt, auch das in den einzelnen Dingen waltende, von ihrer Dies-heit bestimmte Allgemeine zu verneinen. Denn in den Dingen gibt es kein Allgemeines. Worauf es in der Erkenntnis ankommt, ist die cognitio intuitiva. Sie besteht als ein unmittelbar wirksames Anschauungsvermögen dergestalt, daß es das Wesen der Dinge als Denkinhalt hervorbringt. Ockham setzt also an die Stelle der res, d. s. die Erkenntnisgegenstände in ihrer Bestimmtheit durch das Allgemeine, und an die Stelle des Urteils, das sie als diese meint, die termini et propositiones, also die begrifflichen Vorstellungen und die Aussagen über die wahrgenommenen gegenständlichen Einzelwesen, wie sie im erkennenden Subjekt bestehen. Der Satz vom Einzelnen als der wesentlich ersten Realität ist damit ebenso festgeschrieben wie der Satz von der leitenden Leistung des Willens in der Erkenntnis. Damit denkt Ockham das Denken um, nämlich von der Erfassung des intelligibile in sensibili in ein Mittel der logischen Einteilung und Ordnung der Dinge der Erfahrung. Die Folgen der derart veränderten Bestimmung des geistigen Erkennens für das Selbstverständnis der humanen Existenz kann man kaum überschätzen. Denn jener wie dieser Grundsatz und zumal das Zusammenwirken beider, demzufolge es darauf ankommt, willentlich die Welt der Erscheinungen zu erfassen, 43 Günther Mensching, Art. Duns Scotus, Johannes, in: Bernd Lutz (Hrsg.), Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart 1989, S. 203.
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lehren den „Menschen“, in welchem Maße er einerseits ein Wesen nur des Diesseits ist, daß er andererseits aber als dieses Wesen eigenständig existiert. Also löst die neue Haltung zunächst die erarbeitete Synthese von Glauben und Wissen auf. Denn ohne weiteres ist es jetzt nicht mehr möglich, die Erfahrung auf das Unerfahrbare hin zu übersteigen. Zum anderen drängt die neue Einstellung die humane Existenz, die Erkenntnis der Erscheinungen weit zu entfalten, um mit Hilfe ihrer Ergebnisse die Natur und die eigene Existenz als menschliche wie als gesellschaftliche Existenz zu erfassen und in der Folge auch zu gestalten. Daß zur Entwicklung dieser Lehre vom Erkennen auch die Lebenserfahrungen des Wilhelm von Ockham beigetragen haben, darf man vermuten. Denn es ging in seinen Tagen stürmisch zu. Auf die Seite Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) hinübergewechselt, weil er fürchten mußte, als Ketzer verurteilt zu werden, streitet er kirchenpolitisch wider das pompöse Papsttum in Avignon. In dieser Absicht unterstützt ihn vor allem der Philosoph, Mediziner und Diplomat, der als Laie ehedem auch das Rektorenamt der Universität Paris innehatte, Marsilius von Padua (1275/80–1342/3). Über dessen Theorie, die Ständegesellschaft von innen her zu verwandeln, liest man in der Kirchengeschichte: „,Marsilius brach nicht nur Steine aus dem Bau der päpstlichen Weltmonarchie heraus, er trug das Gebäude bis zu den Fundamenten ab und setzte an seine Stelle die Vision einer machtlosen, auf das Spirituelle beschränkten, einer armen und demokratisch regierten Kirche, über deren irdische Erscheinungsform und über deren Besitz der Staat gebietet.‘ (H. Jedin).“44 Natürlich folgt das Leben der Lehre nicht auf den Fuß. Noch lange Jahrzehnte wird es dauern, bis die Theorie der via moderna die Inhalte und die Formen der humanen Existenz bestimmt. In der Zeit, über die zu sprechen ist, beginnen erst die Spannungen, um zunehmend sich zu steigern. Als Beispiel für das Offenkundigwerden des Wandels der Lebensverhältnisse wird immer wieder auf die Person des Nicolaus Cusanus (1401–1464) verwiesen. Vermutlich ist das deswegen der Fall, weil er als Gelehrter der Moderne verpflichtet ist, während er als Kirchenfürst gemäß der Tradition denkt und handelt. Also lehrt er, wie es in Zukunft und schließlich nur noch heißen wird, daß der auf die endlichen Dinge gerichtete Verstand von der Unendlichkeit Gottes nur ein Nichtwissen besitzen kann. Angewandt auf die Erkenntnis der Schöpfung besagt dieser Satz, daß die Welt als eine Wirkung Gottes an seiner Unerkennbarkeit teilhat. Was der Mensch zu wissen vermag, ist nicht mehr als eine docta ignorantia. Als Landesherr in Südtirol hat diese Einsicht den Nicolaus Cusanus freilich nicht daran gehindert, sich wissend mit anderen Fürsten anzulegen, gegen aufrührerische Klosterleute und Bauern mit aller Härte vorzugehen und unerbittlich um die Sitten der Ständegesellschaft besorgt zu sein. Gemeinverständlich heißt es 44 Paul Mikat, Art. Marsilius von Padua, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Siebter Band, Freiburg/Brsg. 1962, Sp. 110.
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in einer Biographie über ihn: „Historisch gesehen spiegelt sein widersprüchlicher Charakter das zerrissene politische Klima seiner Epoche wider. Durch seine tiefen, wissenschaftlichen Ahnungen spürte er, daß eine neue Epoche auf die Menschen zukommt. Aber er will die Menschen nicht . . . dazu antreiben, mit der Tradition zu brechen und sich radikal der Zukunft zuzuwenden. Im Gegenteil: Cusanus bemüht sich, den Glauben der Menschen zu festigen, damit das anbrechende Zeitalter sie nicht verschlingt.“45 Die Lebensverhältnisse, die sich ändern, werden greifbar im 15. Jahrhundert. Dieser Wandel ist eine Veränderung nicht nur der Gehalte, sondern auch der Formen der humanen Existenz. Gehalt dieser Existenz ist das, was sie erfüllt. Das sind insbesondere diejenigen Güter, die sie erhalten, die ihre Sicherheit gewährleisten und die ihr ihren Sinn verleihen. Diese Zusammenhänge werden auch als das wirtschaftliche, sodann als das politische und schließlich als das sittliche und religiöse Leben bezeichnet. Es empfiehlt sich einen Blick zunächst auf das wirtschaftliche Leben zu werfen. Bestand das Wirtschaften in der Ständegesellschaft in der überlieferten Art der Herstellung, des Tausches und des Verbrauchs der Lebensgüter in den bzw. durch die einzelnen Haushaltungen, so wandelt sich diese Bedarfsdeckung zunehmend in eine planmäßig bewirkte Zweck-Mittel-Beziehung. In ihrer Folge ändern sich nicht nur die Verhältnisse zwischen den Grundgegebenheiten der Bedürfnisbefriedigung, vielmehr spalten sich diese auch in verschiedene Teilbereiche des Wirtschaftens auf. Unter den Voraussetzungen einer sich ändernden Eigentumsordnung vor allem zu Gunsten der bürgerlichen Existenzen heben sich von einander ab die Land- und Forstwirtschaft, der Handel und der Verkehr, die Betriebe der Rohstoffgewinnung wie Bergwerke und Hütten, die arbeitsteilige Produktion der Manufakturen, das Geld- und Kontorwesen, die Techniken und Künste, die die Anforderungen der Hofhaltung und des Luxus befriedigen können und endlich die Steuererhebung und -verwaltung. Hinzu kommen die Betriebe, die das Kriegswesen bedienen. Umgekehrt verflechten sich diese wirtschaftlichen Entscheidungen, Abläufe und Ergebnisse wiederum, so daß zunehmend wachsende wirtschaftliche Räume entstehen. In ihnen besitzt die erste Stellung die Republik von San Marco. Seit dem 12. Jahrhundert hat sie sich im östlichen Mittelmeerraum zur kraftvollsten Wirtschaftsmacht entwickelt. Nordwärts herrscht sie bis zu den Alpen und über Regensburg hinaus bis ins östliche Europa hinein. Erst mit dem Fall von Konstantinopel (1453) gelingt es einigen zentraleuropäischen Geschäftshäusern, mit Venedig zu konkurrieren. Unter ihnen ragt das Handels-, Bank- und Bergwerksunternehmen der Fugger hervor, ein Geschlecht, das seit 1367 in Augsburg nachgewiesen ist. Unter Jakob II. (1459–1523) steigt es zu einer Größe auf, die es gestattet, in den
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Heinz-Paul Koesters, Deutschland deine Denker, Hamburg 19814, S. 33.
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Belangen von Kaiser und Reich mitzureden. Zunehmend berührt sich damit die wirtschaftliche mit der politischen Rationalität. Der Wandel in den Herrschaftsverhältnissen ist das zweite Merkmal der sich verändernden ständegesellschaftlichen Existenz. Insbesondere löst sich Schritt für Schritt die Ansicht auf, nach der alle Herrschaft divina gratia besteht. Diese überkommene Überzeugung mit ihrer Kraft, die Ständegesellschaft politisch zu prägen, besitzt ihren machtvollsten Ausdruck vielleicht in der Bulle Unam sanctam von Papst Bonifaz VIII. (1294–1303). In ihr legt dieser Papst zunächst „die Grundlinien der Glaubenslehre von der Kirche dar: Ihre Einheit, ihre Heilsnotwendigkeit und die Begründung dieser Eigenschaften: Christus das Haupt der Kirche. Die Folgerungen daraus sind vor allem die Machtvollkommenheiten der Kirche zunächst auf geistlichem, dann auf weltlichem Gebiet.“ Also schließt dieses kirchenpolitisch einzigartige Dokument mit den Worten: „Dem römischen Papst sich zu unterwerfen ist für alle Menschen unbedingt zum Heile notwendig: Das erklären, behaupten, bestimmen und verkünden Wir.“46 Den Zusammenbruch der Herrschaft, den er, wie zitiert, aus der christlichen Heilsbotschaft begründet, erlebt Bonifaz VIII. noch in den Zeiten des eigenen Pontifikats. Seine Auseinandersetzungen mit zahlreichen europäischen Landesfürsten führt schließlich dazu, daß er sich am Ende dem damals mächtigsten unter ihnen, dem französischen König Philipp IV., beugen mußte. Die Vorgänge belegen, in welchem Maße die regionalen und nationalen politischen Gebilde bereits erstarkt sind. Also gilt es, sie auch theoretisch zu begreifen. Das, was zu leisten ist, erarbeitet der florentinische Kanzleisekretär, Diplomat und Schriftsteller Niccolo Macchiavelli (1469–1527). Worin besteht, so fragt er, die ratio status, also der Grund der neuen „staatlichen“ Zustände? In einem Wortspiel beantwortet er die Frage, indem er sagt: Im status rationis, d.h. in der Staatsräson. Sie ist es, die das politische Gemeinwesen begründet und erhält. Politik zu betreiben besagt danach, die Herrschaft zu behalten, die man besitzt. Also kommt es darauf an, zu begreifen, daß die Herrschaft frei ist von jeder sittlichen und religiösen Bindung. Sie gehorcht vielmehr ihrer eigenen Logik: „Man beurteilt die Handlungen aller Menschen“, so schreibt er, „besonders aber die Handlungen der Fürsten, welche keinen Richter über sich haben, ausschließlich nach dem Erfolge. Es muß also des Fürsten einziger Zweck sein, sein Leben und seine Herrschaft zu erhalten. Man wird alle Mittel, deren er sich hierzu bedient, rechtfertigen, und jeder wird ihn loben.“ – „Wo es sich um Sein oder Nichtsein des Vaterlandes handelt, hat völlig außer Betracht zu bleiben, ob etwas gerecht oder ungerecht, menschlich oder grausam, löblich oder schädlich ist: jede Rücksicht ist hintanzusetzen; alles ist zu tun, was dem Vaterland Leben und Freiheit retten kann.“47 46 Bonifaz VIII., Bulle Unam sanctam (1302), mit einer Einleitung auszugsweise wiedergegeben in: Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, hrsg. von Karl Rahner, Regensburg 19544, S. 209 f.
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Eng verbunden mit den Veränderungen in jenem wirtschaftlichen und in diesem politischen Leben sind schließlich die Neuerungen, die man als Erfindungen und als Entdeckungen bezeichnet. Es muß an dieser Stelle genügen, zum einen den Namen von Johannes Gutenberg (1397–1468) zu nennen, den Erfinder der Buchdruckerkunst. Seine, die Zivilisation umstürzende Erfindung ermöglicht es, daß Gedanken jeder Art und alsbald auch von jedermann, sei es mit Bedacht oder sei es streitsüchtig, in jedem Fall aber flugs allgemein verbreitet werden. Damit ist nicht weniger bewirkt als die Beförderung der Bildung wie der Gleichheit aller Menschen. Verschieden hiervon sind sodann die Entdeckungen, die mit Christoph Columbus (1451–1506) beginnen. Denn sie sind eine Sache der weltlichen Herrscher. Sie verstehen sich jetzt um so mehr als der kirchlichen Obrigkeit gleichgestellt, wenn nicht eben übergeordnet. Erst in zweiter Linie sind ihre allgemeinen Folgen bedeutsam, nämlich die Ertüchtigung in der Schiffahrtskunst, die europäische, dabei national geprägte Aneignung fremder Gebiete und Völker, ihre Ausbeutung, der Vergleich der eigenen Lebensverhältnisse mit denen anderer Länder, die Gewinnung neuer Rohstoffe durch die Erschließung bisher unbekannter Handelswege, usw. Als dritten Zusammenhang der sich verändernden Gehalte, welche die humane Existenz erfüllen, wurden die Sinngehalte dieser Existenz benannt. Bis jetzt bestehen sie maßgeblich im christlichen Glauben sowie in den sittlichen Regeln, die in ihm begründet sind. Sie leiten die gesellschaftliche Existenz dazu an, die Ständeordnung im Einzelnen zu wahren und sie im Ganzen in jenen Bezügen zu begreifen, die über sie hinausweisen, also in ihrer Transzendenz. Es kann nicht verwundern, daß die so bestimmte und deswegen spannungsreiche Gesellschaft von vielen ihrer Angehörigen als Herausforderung erlebt wird. Deswegen liegt es nahe, sie in ihrem profanen und in ihrem religiösen Maß auszuloten. Geschichtlich kommt dieses Vorhaben in jenen geistigen Bewegungen zum Ausdruck, die man als Humanismus und als Reformation bezeichnet. Ergänzt werden diese Bewegungen durch die sich ändernden Zielsetzungen der Naturwissenschaften und ihre zur Anwendung drängenden Forschungsergebnisse. Daß die damit angezielten Erkundungen der Ständegesellschaft diese Gestalt der gesellschaftlichen Existenz der humanen Existenz nicht nur ausloten, sondern wesentlich zu ihrer inhaltlichen Veränderung beitragen, ist bekannt. Das, was die Zeit als Humanismus anstrebt ohne dafür sogleich einen Namen zur Verfügung zu haben, besteht zunächst in nichts anderem als in dem, was das Mittelalter als humanitas bezeichnet. Vielleicht kann man sagen, daß diese humanitas die der Welt zugewandte Seite des corpus christianum ist, d.h. aller 47 Niccolo Macchiavelli, Erörterung über die erste Dekade von Titus Livius (1531); ders., Der Fürst (1532), in: Carlo Schmid (Hrsg.), Machiavelli. Auswahl, Frankfurt a. M./Hamburg 1956, S. 79 und S. 81.
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„Menschen“ als Christen in ihrer kirchlichen Verfaßtheit. In unserer Sprache ausgedrückt, bezeichnet dieser Begriff die Ständegesellschaft, sofern sie als Kultur besteht. Kultur ist derjenige Zusammenhang der Dinge und der humanen Existenz, der über sie als Naturgegebenheiten hinaus ausgebildet ist und der deswegen von der in ihrer Geschichte sich entfaltenden humanen Existenz geplant und gestaltet wird. Diesen Sinnzusammenhang auszumessen, ist das Ziel des humanistischen Geistes. Das Mittel, dessen er sich bedient, ist die geschichtliche Rückbesinnung. Sie führt zum ersten zu einer Begegnung mit der humanitas der Römer. Ihre Lebensart kennt die Macht und die Würde der humanen Existenz ebenso wie deren Not und Niedrigkeit. Wohl klug begreifend, aber nicht gerade feinsinnig unterscheidend, erfaßt das Dichterwort ihre Wesensart, wenn es heißt: Homo sum, humani nihil a me alineum puto. Was diese Verszeile meint, ist das, was man als Menschenfreundlichkeit oder Menschlichkeit zu bezeichnen pflegt. Diese Philanthropie verweist auf ihren griechischen Ursprung. Also versucht der Humanismus in einem zweiten Schritt, die paideia wiederzuentdecken. Sie ist der Inbegriff der Ideen des „Menschen“, der geistig, sittlich und künstlerisch zu seiner vollen Entfaltung gelangen soll. Dieser „Mensch“ ist allseits gebildet, er vermag seine Leidenschaften zu beherrschen, und er gestaltet ebenso tatkräftig das Leben wie er bereit ist, dem Nächsten zu helfen. In diesem Sinn ist der Humanismus eine Renaissance, eine Wiedergeburt also des römischen wie des griechischen Altertums. Indem er die Grenzen der verwirklichten christlichen Existenz übersteigt, bereichert er sie um nicht erfüllte Horizonte. Ein neuer Lebensstil wird Wirklichkeit. Er überwindet die Strenge des gotischen, womöglich als finster empfundenen Mittelalters durch eine neue Lebensart, eben die der Renaissance. Sie vermag den Lebensalltag, d.h. das Sich-Kleiden, das Wohnen, das Speisen und Trinken und den menschlichen Umgang ebenso zu prägen wie die Künste und die Wissenschaften zum Blühen zu bringen. Unter den Künsten gedeihen vor allem die Malerei, die Gestaltung der Skulptur und ein neuer Stil in der Architektur. In den Wissenschaften werden insbesondere die Dichtung und die Philosophie des Altertums gepflegt. Die erste Persönlichkeit, die den Geist des Humanismus herausragend verkörpert und damit beispielhaft wirkt, ist der preisgekrönte Dichter, Übersetzer und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca (1304–1374). Auf dem Weg, den er kennzeichnet, folgen ihm viele geistesverwandte Sänger, Künstler und in den alten Sprachen bewandte Gelehrte. Rasch breitet sich durch sie der Humanismus in Europa aus. Deswegen werden nicht nur Päpste zu Renaissance-Päpsten. Es sind auch und gewiß nicht zuletzt die Bürger der wohlhabenden Städte, allen voran in Florenz, die danach streben, sich humanistisch zu bilden. Wie angedeutet, bleiben die Folgen nicht aus. Niemand kann mehr übersehen, daß die überkommenen Grundsätze der Auffassung des Lebens sich lockern. Die Theorie wie die Praxis der humanen Existenz wandeln sich. Diese Veränderung bewirkt am Ende eine veränderte katholische und eine neue protestantische Be-
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stimmung der humanen Existenz. Beispielhaft für jene Ansicht sind das Leben und das Werk des Erasmus von Rotterdam (1469?–1536) und für diese die Persönlichkeit und die Leistung des Philipp Melanchthon (1497–1560). Von diesen Männern, die sich persönlich kennen, weiß jener sich der devotio moderna verpflichtet und dieser der Ausbreitung des Luthertums. Die zweite geistige Bewegung der Zeit, die die gesellschaftliche Gestalt der humanen Existenz vermutlich noch stärker verändert als der Humanismus, ist die angesprochene Reformation. Reformation heißt Umgestaltung oder Wiederherstellung. Im anstehenden Zusammenhang benennt der Begriff der Reformation das Ganze der von Martin Luther (1483–1546) ausgelösten Bestrebungen, die Kirche Jesu Christi durch eine Besinnung auf ihren Ursprung zu erneuern. Diese Absicht versteht man zurecht als das Bemühen, das innere Maß der Ständegesellschaft als religiös bestimmte Kultur auszumessen. Wie das geschichtliche Ergebnis ausweist, hat diese Prüfung die Einheit der christlichen Existenz überfordert. Die Reformation bzw. die Folgen der Reformation spalten sie in die überkommene katholische Kirche einerseits und in die sich reformierende Kirche der protestantischen Gemeinden andererseits. Diese Gemeinden verstehen sich als Gemeinschaften von – wie man unzutreffend zu sagen pflegt: einzelnen – gläubigen Christen. Was ihren Glauben auszeichnet ist der Glaube, begriffen als fides, qua creditur. Als dieser ist der Glaube unterschieden von jenem, der sich als fides, quae creditur versteht. Bezeichnet diese Bestimmung mit dem Begriff des Glaubens die Gesamtheit der für wahr gehaltenen Glaubenssätze, so meint jene Bestimmung mit dem Glaubensbegriff die Gesamtheit der Akte, durch die geglaubt wird. Das Beharren auf der vermeintlich theologisch-theoretischen wie religiös-praktischen Unüberbrückbarkeit dieser beiden Weisen, gläubig zu leben, bewirkt am Ende das charakteristisch katholische und das charakteristisch protestantische Verhalten. Betont jenes die Glaubenswahrheiten, so dieses den Glaubensvollzug. Deswegen ist jener Glaube ein Glaube in der Gestalt der Kirche als Kirchlichkeit, dieser dagegen ein Glaube in der Gestalt der Kirche als Gläubigkeit. Bei diesem Unterschied in der seelsorglichgesellschaftlichen Bestimmung der Kirche als communio sancta und als communio sanctorum wird es indessen nicht bleiben. Der Gegensatz verschärft sich vielmehr durch das nun anders werdende Verhältnis gegenüber der politischen Obrigkeit. Widersetzt die katholische Kirche sich den Neuerungen, indem sie an ihrer vollständigen und vollkommenen Gestalt mit dem Papst an der Spitze ihres hierarchischen Aufbaus festhält und sich also der Welt und ihren Herrschern entgegenstellt, so unterscheidet die protestantische Überzeugung zwischen einem „Reich Gottes zur Linken“, das die weltliche Herrschaft bezeichnet, und einem „Reich Gottes zur Rechten“, das die Herrschaft Christi durch sein Wort und sein Sakrament benennt. Obwohl Martin Luther vom Regiment Gottes in jenem wie in diesem Reich spricht, hat seine Unterscheidung geschichtlich zur Folge, daß die weltliche Gewalt die kirchlichen Gemeinden sich
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schließlich unterordnet. Insbesondere im Zusammenschluß der Gemeinden zu Landeskirchen vermochte sie sich bestimmend durchzusetzen. Diese Macht und Zuständigkeit formuliert der glaubenspolitische Grundsatz cuius regio, eius religio. Im ius reformandi, wie es der Augsburger Religionsfrieden von 1555 definiert, wurde er festgeschrieben. Zum dritten gilt es, einen Blick auf die Veränderungen im wissenschaftlichen Leben zu werfen und damit das Anderswerden der Arbeit an den Universitäten zu erwähnen. Daß die Lehrer und Forscher an den Hochschulen sich zunehmend dem neuen Geist verpflichtet wissen, steht außer Frage. Ihm entspricht das Bestreben, sich der wissenschaftlichen Tradition zu entwinden. Dieser Wandel trifft sich mit dem steigenden Interesse, das die Träger der Schulen am Nutzen der Wissenschaften besitzen. Dieses Zusammenwirken verschiedener Ursachen erklärt die zahlreichen Neugründungen von Universitäten in jener Zeit, sei es durch den Landesfürsten wie 1348 in Prag, 1365 in Wien, 1368 in Heidelberg, usw. oder durch die Bürgerschaft dieser und jener wohlhabend gewordenen Stadt wie 1388 in Köln, 1392 in Erfurt, 1409 in Leipzig, usf. Das Programm der sich ändernden wissenschaftlichen Arbeit wird erstmals wohl 1620 in der Magna instauratio imperii humani in naturam von Francis Bacon (1561– 1626) formuliert. Diese Instauration spricht aus, daß die Wissenschaften letztlich dazu dienen, die Natur zu beherrschen. Deswegen kommt es darauf an, daß sie sich die für diesen Zweck geeigneten Instrumente erarbeiten. Sie bestehen in Methoden des nützlichen Erkennens. Sie meint Bacon, wenn er von den neuen Organen spricht, wodurch er sie von den alten Organen unterscheidet, also von jenen Erkenntnisweisen, die Aristoteles begründet und dargestellt hat. Unter ihren Merkmalen ragen heraus (1) die Trennung der göttlichen Ideen von denen des humanen Geistes, also die Trennung von Glauben und Wissen; (2) die Überwindung der Getrübtheit des humanen Geistes durch die sogenannten Idole, worin die modernen Gesellschaftswissenschaften übrigens die Begründung ihrer ideologiekritischen Stoßkraft erblicken; (3) die nominalistische Begriffsbildung, die an die Stelle des gedachten Gegenständlich-Allgemeinen das zum Ausdruck gebrachte Sprachlich-Allgemeine setzt; (4) die Auswertung von planmäßigen Beobachtungen sowie Experimenten, die in herbeigeführten Bedingungen der Beobachtung bestehen und (5) die Schlußfolgerung vom Besonderen auf das Allgemeine, wodurch am Ende eine vernünftig-nützliche Erkenntnis vom Ganzen der erfahrbaren Welt herbeigeführt werden soll. Bei Galileo Galilei (1564–1642) findet sich die Zusammenfassung dieser neuen Organologie, wenn er verlangt, daß die Wissenschaft alles messen soll, was meßbar ist, und daß sie, was nicht meßbar ist, meßbar zu machen hat. Gewiß findet dieser methodologische Leitgedanke seinen Eingang zunächst nur in die Wissenschaften von der natürlichen Natur. Aber es wird nicht lange dauern, bis auch die Wissenschaften von der Natur der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz mit Vorliebe messend verfahren werden.
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Die Untersuchung der Bedingungen des Offenkundigwerdens der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz durch ihre theoretische Erkenntnis hat sich in einem ersten Schritt der Skizzierung der nachmittelalterlichen Veränderungen ihrer Lebensinhalte zugewandt. Diese Inhalte bestehen real nicht ohne ihre Form. Deswegen ließ es sich nicht vermeiden, bisweilen auch schon diese Form zu erwähnen. Unter der Bedingung ihrer gegenstandsbegründenden Kraft verlangt die Bestimmung der Form jedoch ihre besondere Erörterung. Aus diesem Grund hat die folgende Untersuchung sich der Frage zu widmen, ob sich Veränderungen auch in der Form der humanen Existenz aufweisen lassen, und, wenn das der Fall ist, von welcher Art diese Veränderungen insbesondere hinsichtlich ihrer Form als gesellschaftliche Existenz-Gestalt sind. Wie erinnerlich, versteht die Ständegesellschaft sich in ihrer formalen Bestimmtheit als so beschaffen wie ein Organismus. Er benennt sie maßgeblich als einen Körper, der im statischen Sinn seine Glieder und im dynamischen Sinn seine Organe sich einordnet, sie sich unterordnet und sie in sich anordnet. Abstrakt bringt diese Verhältnisse das Lehrstück vom Ganzen und seinen Teilen zum Ausdruck und zwar so, daß es den Zusammenhang für das Erkennen im einzelnen anschaulich aufschließt und in der Folge dem gesellschaftlichen Gestaltungswillen zugänglich macht. Des näheren behauptet es, daß das Ganze gegenüber seinen Teilen die umfassendere Zielsetzung, den umfassenderen Wert und die umfassendere Einheit besitzt. Mit Hilfe dieses einerseits anschaulichen und andererseits formalen organismusanalogen Begriffsgefüges wird das Wesen der Ständegesellschaft zu erfassen versucht. Das geschieht sowohl hinsichtlich ihres Allseitig- wie ihres Besondertseins. Allerdings unterscheiden sich diese Bemühungen bisweilen erheblich durch den Blickwinkel, aus dem heraus die gesellschaftlichen Zusammenhänge gesehen werden. So mag ein dem Papsttum ergebener Kleriker der Kurie die Ständeordnung anders erleben, auffassen und beurteilen als ein Franziskanermönch, der gelobt hat, in Armut zu leben, und dem kirchlichen Offizial mögen die ständegesellschaftlichen Verhältnisse sich wiederum anders darstellen als der kaiserliche Beamte sie beurteilt, usw. Das eine organische Verständnis der formalen Beschaffenheit der Ständegesellschaft entwickelt also alsbald verschiedene Standpunkte ihrer Betrachtung. Es wird relativ. Mit diesem Befund der formalen Erkenntnis der mittelalterlichen Gesellschaft ist die Geschichte der Entfaltung des theoretischen gesellschaftlichen Denkens wohl vertraut. Beispielsweise stellt sie fest, daß „die Definitionsmerkmale des Organismus“ einerseits, nämlich „bei Thomas von Aquin und anderen Vertretern der päpstlichen Partei zur Rechtfertigung der Monarchie“ herangezogen werden, während sie andererseits „im Sinne weltlicher Herrschaftsansprüche oder einer Gleichberechtigung der weltlichen und der geistlichen Gewalt“ Verwendung finden. Dieser mehrsinnige Gebrauch des „Organismus-Modells“ führt dazu, daß gesellschaftlich sich „neue Gedanken“ einstellen: „So wird z. B. aus
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der funktionalen Äquivalenz der Organe auf die wechselseitige Vertretbarkeit staatlicher und kirchlicher Herrschaftsfunktionen geschlossen, oder das Zentralorgan wird dem Gesamtorganismus untergeordnet, was zur theoretischen Rechtfertigung der Wahl-Monarchie und gelegentlich sogar der Republik verwendet wird.“ Die Folgen dieses wenig klaren, wenn nicht ausufernden Gebrauchs der Bestimmung der organischen Form der ständegesellschaftlichen Existenz stellen sich alsbald ein. Sie bestehen in einer Aushöhlung dieses Denkens. Zunehmend mehren sich die Zweifel, ob der Organismus-Gedanke zur Bestimmung der Form der Gesellschaft überhaupt tauglich ist. Zumal jene erwähnten verschiedenen Lehren über die weltliche Herrschaft führen dazu, daß „das mittelalterliche Organismus-Modell des Staates den Keim seines Zerfalls in sich“ trägt. Denn diese Lehren begreifen ihn unter anderem „bereits als Resultat ,freiwilliger Übereinkunft‘“. Damit bereiten diese und die ihnen entsprechenden innerkirchlichen Auffassungen „der neuzeitlichen, auf den Ideen des Gesellschaftsvertrages und der im Herrscher repräsentierten Volkssouveränität beruhenden Konzeption den Boden“. Die zitierte Zusammenfassung der nachmittelalterlichen Geschichte des theoretischen Gesellschaftsdenkens kommt aus diesem Grund zurecht zu dem Schluß, daß die Organismus-Auffassung der Gesellschaft hinfällig ist. Also werden im Leben und im Erkennen „die Organismus-Analogien für längere Zeit nur noch als Teil des humanistischen Bildungsgepäcks mitgeführt“.48 Die soziale Form, die die Ständegesellschaft sich zunehmend zu eigen macht, ist die Form der Beziehungseinheit. In dem Maße, in dem diese Gesellschaft sich dergestalt ausformt, gibt sie die Deutung ihrer organischen Beschaffenheit auf und damit ihre reale Gestalt als ständische Gesellschaftsordnung. Die als Beziehungseinheit verwirklichte Gesellschaft begreift sich als die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen den Menschen, die sie bilden. Sie sind ihre Träger, insofern sie sich als besondere Existenzen aufeinander beziehen, also nicht, insofern sie Teile des Ganzen sind. Darüber, daß man sich über diese soziale Form der Gesellschaft im klaren ist, gibt es keinen Zweifel. Denn in der vermeintlich noch immer durchgängig organisch beschaffenen Gesellschaft finden sich Zusammenhänge dieser gesellschaftlichen Art vielerorts, zum Beispiel als asketisch-personale Gemeinde oder als schwärmerisch-individuelle Bewegung. Theoretisch ist ihr diese Form der Gesellschaft aus der Dichtung und der Philosophie des griechischen und des römischen Altertums bekannt. Insbesondere das klassische philosophische Athen hat sie zu erfassen und zu bestimmen versucht, wie das im voraufliegenden Abschnitt aufzuzeigen versucht wurde. Die Erkenntnis lautet, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz ein Existieren kath’ hekaston ist d.i. ein Existieren nach der Art dieses Menschen 48 Eckhart Scheerer, Art. Organismus, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6, Basel 1984, Sp. 1340.
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und jenes Menschen und so fort. Die gesellschaftliche Existenz-Gestalt ist also die des Jedermann, eine solche, die dem Maß des jeweilig besonderen Menschen entspricht. Man mag es als naheliegend betrachten, daß die Betonung dieses Maßes natürlicherweise dazu führt, daß die besondere gesellschaftliche Existenz-Gestalt des „Menschen“ als die „einzelne“ gesellschaftliche Existenz des Menschen aufgefaßt und auch so bezeichnet werden darf. Folgt man dieser irrigen Meinung – denn die einzelne Gesellschaft ist zum Beispiel die mittelalterliche Ständegesellschaft im Gegensatz zur griechischen polis- und zur hellenistisch-römischen societas-Gesellschaft – dann besagt der Ausdruck „jeder Mensch“ soviel wie „jeder einzelne Mensch“ oder, in der Abkürzung gesagt, der „Einzelmensch“ oder noch kürzer: Der „Einzelne“. Hinter dieser Denk- und Redeweise, die wohl von Anfang an besteht, verbirgt sich eines derjenigen Probleme der gesellschaftlichen Theorie, die bis heute nicht angemessen erfaßt, geschweige denn durchleuchtet sind. Die Gleichsetzung eines „jeden“ mit dem „einzelnen“ Menschen in gesellschaftlicher Hinsicht geschieht im Griechischen als Gleichsetzung des Ausdrucks kath’ hekaston, d.i. in diesem und in jenem Fall, mit dem Ausdruck atomon, d.i. im einzelnen Fall, im Lateinischen in der Gleichsetzung der Bezeichnung singulare mit der Bezeichnung individuale und im Deutschen mit der Gleichsetzung der Benennung des einmaligen Menschen mit der Benennung des einzelnen Menschen. Diese Gleichsetzungen sind alles andere als selbstverständlich. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung wird dieser verwirrende Sprachgebrauch zu klären und die ihn bewirkende Ursache zu benennen sein. An dieser Stelle genügt es, festzuhalten, daß es dem spätmittelalterlichen Geist, der das Besondere der humanen Existenz zu finden und zu entfalten sucht, aufs glücklichste entgegenkommt, wenn deren singuläre mit ihrer individuellen Existenzweise ineinsgesetzt wird. Unterliegt nämlich die besondere „menschliche“ Existenz noch immer dem herrschenden ständegesellschaftlichen Zusammenhang, so ist die einzelne „menschliche“ Existenz diejenige, die zunächst in ihrer Gesinnung und sodann auch tatsächlich die Ständegesellschaft hinter sich läßt. Damit tritt die humane Existenz als der „Einzelne“ ihrer ständegesellschaftlichen Existenz gegenüber. So existierend, also nur als Mensch, entdeckt er sich in seiner Gesellschaftlichkeit und in seiner Menschlichkeit sowie im Zusammenhang dieser beiden Existenz-Gestalten als ein einzigartiges Wesen. Es dürfte sich lohnen, eine Passage aus der Schrift Über die Würde des Menschen von Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) zu zitieren. Sie gilt als das wohl gewichtigste anthropologische Dokument im Ausgang des Mittelalters. Denn es entwirft ebenso klar wie selbstbewußt das Bild des neu verstandenen „Menschen“. Es bestimmt ihn als ein Wesen, das in der kosmologischen Hierarchie eine Sonderstellung einnimmt. Sie ist es, die ihm sein Ich-Sein in schöpferischer Freiheit gewährt. „Ich habe mich denn schließlich um die Einsicht bemüht, warum das glücklichste und aller Bewunderung würdigste Lebewesen der Mensch sei und unter welchen
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Bedingungen es möglich sein konnte, daß er aus der Reihe des Universums hervorschritt, beneidenswert nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Sterne, ja sogar auch für die überweltlichen Intelligenzen. Geht das doch fast über den Glauben hinaus, so wunderbar ist es.“ „Bereits hatte Gott-Vater, der höchste Baumeister, dieses irdische Haus der Gottheit, das wir jetzt sehen, diesen Tempel des Erhabensten, nach den Gesetzen einer verborgenen Weisheit errichtet. . . . Aber als er dieses Werk vollendet hatte, da wünschte der Baumeister, es möge jemand da sein, der die Vernunft eines so hohen Werkes nachdenklich erwäge, seine Schönheit liebe, seine Größe bewundere. Deswegen dachte er, nachdem bereits alle Dinge fertiggestellt waren, wie es Moses und der Timaeus bezeugen, zuletzt an die Schöpfung des Menschen. Nun befand sich aber unter den Archetypen in Wahrheit kein einziger, nach dem er einen neuen Sprößling hätte bilden sollen. Auch unter seinen Schätzen war nichts mehr da, was er seinem neuen Sohne hätte als Erbe schenken sollen und unter den vielen Ruheplätzen des Weltkreises war kein einziger mehr vorhanden, auf dem jener Betrachter des Universums hätte Platz nehmen können.“ „Daher beschloß denn der höchste Künstler, daß derjenige, dem etwas Eigenes nicht mehr gegeben werden konnte, das als Gemeinbesitz haben sollte, was den Einzelwesen ein Eigenbesitz gewesen war. Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellt ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: ,Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz, noch ein eigenes Gesicht, noch irgend eine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst.‘“49
Die Bestimmung der neuen sozialen Form und die damit verbundene Erwartung, die künftige Gesellschaft in ihrem Sinn verwirklichen zu können, fasziniert die Geister der Zeit. Es ist jene erwähnte Form der Einheit aus Beziehungen, die die Menschen als besondere oder – wenn man dem irrigen, aber herrschenden Sprachgebrauch folgen will – als einzelne Menschen aufnehmen, erhalten und zur Geltung bringen. In der Dichtung wie in der Philosophie wächst die Zahl derer, die begeistert danach trachten, das Ich zu entdecken. Für den Zusammenhang der Poesie sei wenigstens der Name des französischen 49 Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, (zuerst Bologna 1486), (Über die Würde des Menschen), Jena/Leipzig 1905 u. Leipzig 1940, S. 48 ff.
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Moralisten Michel de Montaigne (1533–1592) erwähnt und für die philosophische Erkenntnis der Name des spanischen Jesuiten Francisco Suárez (1548– 1617). Das Leben des Michel de Montaigne ist bewegt. Seiner Herkunft nach ein Landedelmann, zeichnet er sich aus als Parlamentsrat und Bürgermeister von Bordeaux, als Berater seines Königs vor allem in konfessionspolitischen Fragen, als Ordensritter des Heiligen Michael und als Zeitgenosse, der gern und oft das westliche Europa bereist. Überragt, wenn nicht zusammengefaßt wird seine Lebenskunst durch seine Dichtkunst. Sie offenbart ein nachgerade grenzenloses Interesse an der Wirklichkeit der humanen Existenz. Das will besagen, daß ihn nicht seine Bestimmung als ein Geschöpf der Heilsordnung und nicht seine Bestimmung als ein Wesen dieser Welt beschäftigen, sondern die jeweilige Würde des „Menschen“. Sie besteht in der Fülle und in der Verschiedenheit seiner Akte. Sie gilt es zu erfassen. Also beobachtet Michel de Montaigne am Menschsein das Menschenwürdige und das Menschenunwürdige, das Herkömmliche und das Ungewöhnliche, das Einfältige und das Zwiespältige, das Ruhmreiche und das Alltägliche, usw., mag es als Herrschaft sich finden oder als Freundschaft, im Denken, im Reden oder im Gewissen, in gesunden Tagen oder in Zeiten der Krankheit, im Lachen oder im Weinen, und so fort. Unerschöpflich erscheint ihm die humane Wirklichkeit als die je besonders wirksame und überdies sich wandelnde „menschliche“ Existenz. In meisterlichen Skizzen hat er dieses „Vermischte des menschlichen Einzellebens“ in der offenen literarischen Form seiner „Essais“ dargestellt. Sie bestechen bis heute. Aber natürlich stellt sich in ihnen die Frage nach dem Humanen des Menschseins. Mit anderen Worten gefragt: „Wie sind die Menschen wirklich? Was steckt an eigentlich Menschlichem in oder hinter dieser Verschiedenheit? Welches sind die Grenzen, welches sind aber auch die Möglichkeiten dieses Menschlichen, und wie kann man sie erkennen? So sieht die Aufgabe aus, vor die Montaigne sich gestellt sieht, zu deren Lösung er beitragen und seine Leser anregen möchte.“ Es kann keinen Zweifel geben, daß zur Bewältigung der Aufgabe ein eigenwilliges Verfahren gewählt werden muß. Es „scheint ihm“, daß die Erkenntnis des Humanen „nur mit Hilfe der speziellsten Problemstellung einigermaßen lösbar“ ist, nämlich, „indem er die Frage so stellt: Wie bin ich, Michel de Montaigne, wirklich? Seine Methode ist die der Selbstbeobachtung.“50 In diesem Sinn ist die Dichtung des Michel de Montaigne ein einzigartiges humanexistentielles Dokument. Indem es das Denken des „Menschen“ als dasjenige Denken bestimmt, durch das zunächst der besondere Mensch sich in seinem Erleben erfaßt und aus diesem heraus das Denken des anderen je besonderen Menschen versteht, wird es zur inbegrifflichen Sinnfindung der humanen Ein50 Arthur Franz, Einleitung, in: Michel de Montaigne, Die Essais (1580/1588), Leipzig 1953, S. IX f.
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zelfälle. Deswegen wird Friedrich Nietzsche später urteilen: „Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in Betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.“51 Damit die humane Existenz, die erlebt, wie die Form ihrer Lebensverhältnisse sich verändert, in ihrem neuen Dasein sich einrichten kann, um dadurch gesellschaftlich wieder heimisch zu werden, ist auch die Philosophie bemüht, lebensorientierende Hilfen zu geben. Soweit sie der Tradition verpflichtet ist, versucht sie, die alten Denk- und Lebensweisen mit dem neuen Erleben, Auffassen, Beurteilen und Wirken in Einklang zu bringen. Es gilt, das erstarkende Bewußtsein wie die zunehmenden Vollzüge der humanen Existenz als einer je besonderen Existenz zu begreifen, d.h. sie in die Tradition der antiken, der arabischen und der christlichen Philosophie, die schon seit langem zum Thomismus, zum Skotismus und zum Ockhamismus sich ausgebildet hat, einzubinden und zukunftsträchtig weiter zu entwickeln. Diese Aufgabe findet in Francisco Suárez ihren Meister. Im Jahre 1597 legt er seine berühmten Disputationes Metaphysicae vor, jenes Werk, das wohl das erste systematische Lehrbuch der scholastischen Metaphysik ist. Rasch entfaltet es eine vielseitige und nachhaltige Wirkung. Aus der Vielzahl der in ihm erörterten philosophischen Grundund Lehrsätze, die in den höchsten Graden der Eristik formuliert werden, seien zwei Lehrstücke herausgegriffen, die für das Offenkundigwerden der Theorie der Gesellschaft von besonderem Gewicht sind. Im ersten Lehrstück geht es um die Bestimmung des Seienden durch das Sein. Scharfsinnig weicht sie von der vorherrschenden Überzeugung des Thomismus ab. Nach dessen Lehrmeinung ist ein Seiendes dadurch da, daß es im Sein real jene Gründe besitzt, die es aufbauen. Suárez sieht den Zusammenhang anders. Er ist überzeugt davon, daß das Sein nur im Dasein eines Seienden besteht. Die Verschiedenheit von Seienden ist folglich eine Verschiedenheit im Bestand. Sein und Wesen eines Seienden sind deswegen nach thomistischer Auffassung real verschieden, nach suarezianischer Auffassung sind sie real einunddasselbe. Als etwas Verschiedenes bestehen sie nur im Denken. Aus dieser subtilen Unterscheidung ergeben sich für die wissenschaftliche Forschungspraxis jedoch alsbald bedeutsame Folgen. Betrachtet der Thomismus nämlich die Welt und in der Welt die humane Existenz zuerst als innerlich begründet in ihrem Sein, so betrachtet der Suarezianismus sie zuerst als erscheinende Verwirklichungen ihres Seins. Zielt jenes Erkennen auf die Konstitution des Kon51 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen (1874), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1, Berlin/New York 1967–1977 und München 1980, S. 348.
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kreten, d.h. auf den Aufbauvorgang der Realität, so dieses auf das konkret Konstituierte, d.h. auf das Aufbauergebnis als Realität. Damit aber ist die Erkenntnis des inneren Grundes bzw. der inneren Gründe von Seienden nicht mehr das erste, sondern ein zweites Problem. Hinsichtlich des Gesellschaftsdenkens führt diese Ansicht dazu, daß die Theorie der Gesellschaft eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit erfährt. Sie veranlaßt dazu, die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ bald in dieser und bald in jener erscheinenden Verwirklichung zu begreifen. Es gilt, vorzugsweise die verschiedenen Gesellschaften in ihrer Verschiedenheit zu erkennen und sich erst in zweiter Linie der bisher vorrangig gestellten Frage nach dem Grund zuzuwenden, der sie aufbaut. Das zweite Lehrstück betrifft den Ursprungsgrund, aus dem Etwas ein Einzelnes ist. Lautet die überkommene Ansicht, daß das Raum-Zeit-Prinzip die Vereinzelung bewirkt, so lehrt Suárez, sich an Duns Scotus erinnernd, daß das Einzelne ganz durch sich selbst ein Einzelnes ist. Begeistert macht die Folgezeit sich diese Bestimmung zueigen. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wird sie in die zukunftsfähige Formel kleiden: Omne individuum sua tota entitate individuatur.52 Erkenntnistheoretisch besagt das derart definierte Prinzip der Individuation, daß der Verstand imstande ist, von dem, was ist, und damit von den einzelnen Dingen und den einzelnen „Menschen“ Begriffe zu bilden, in denen er diese als Individuen angemessen erkennt. Zum Sein des Einzelnen im Allgemeinen dringt die Erkenntnis dadurch vor, daß sie von denjenigen Merkmalen des Erkannten absieht, die seine Vereinzelung zum Ausdruck bringen. Das Begreifen von Etwas in seiner Universalität ist damit maßgeblich eine Verstandesleistung des erkennenden Subjekts. Vom Verhältnis der Begriffe gilt deswegen, daß dem Einzelbegriff der Vorzug vor dem Allgemeinbegriff zukommt. Bezieht man diese Bestimmungen der Lehre vom Begriff auf die gesellschaftstheoretische Begrifflichkeit, so besagen sie, daß es darauf ankommt, die humane Existenz zum ersten als eine Einzelne zu begreifen. Sodann ist zu erfassen, wie sie sich zu sich im Allgemeinen einerseits und zu ihrer Gesellschaft andererseits verhält, wobei auch die Gesellschaft zunächst als einzelne und sodann im Allgemeinen besteht. Folgt man der genannten Definition der Individualität des „Menschen“, dann existiert er erstens vor aller Gesellschaft. Das heißt, daß er sachlich früher als diese und daß er ihr gegenüber existiert, weil er von ihr geschieden ist durch seine Bestimmung ganz durch sich selbst. Zweitens ist es deswegen irrig, den „Menschen“ gesellschaftlich, also organologisch, wie bisher, als Teil zu verstehen, also als je besondere Existenz innerhalb einer Gesell52 Gottfried Wilhelm Leibniz, Disputatio Metaphysica de Principio Individui (1663), in: C. J. Gerhardt (Hrsg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Band IV, Berlin 1880/Hildesheim 1960, S. 18. – Vgl. zur Problemgeschichte Heinz Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters, Berlin 1922/Darmstadt 19878, Abschnitt: Das Individuum, S. 172–203.
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schaft. Denn die Individualität macht den „Menschen“ uneingeschränkt zu diesem einzelnen Menschen und zu jenem einzelnen Menschen. Mit diesem Verständnis der humanen Existenz als einer an sich und für sich seienden menschlichen Existenz ist der Weg eröffnet, sich vorzustellen, daß die Gesellschaft nur aus menschlichen Individuen besteht und allein durch menschliche Individuen gestaltet wird. Eine Würdigung des Suarezianismus aus unseren Tagen läßt die Dynamik erkennen, die die erwähnten Lehrstücke von der ersten Realität „der erscheinenden Verwirklichungen“ und vom Verhältnis „zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft“ gesellschaftstheoretisch entwickeln: „Wenn es keine strenge Gemeinsamkeit gibt, sondern letzten Endes nur individuelle Verschiedenheit, dann folgt hieraus eine größere Verschiedenheit und auch Variabilität der Wirklichkeit, als wenn es durchgängige reale allgemeine Strukturen der Wirklichkeit gäbe. Ein Geist, der die vorgegebene Wirklichkeit nicht einfach nur hinnehmen, sondern sie verändern möchte, wird darum geneigt sein, das Gegebene in einer Weise zu interpretieren, die nicht alles von vornherein auf ewige Zeiten festgelegt sein läßt und ihm so eine gewisse Offenheit für sein Tun verschafft.“ – „Das Individuelle kann man mit dem Konkreten gleichsetzen, weil bei Suárez alles ins Konkrete hinein vereinigt wird“. „Was die Tradition reale metaphysische Zusammensetzung nannte, kann Suárez nur noch als Zusammensetzungen verschiedener individueller Gegebenheiten verstehen und muß es darum ablehnen.“ Aber natürlich ist Suárez noch immer in die Tradition eingebunden. Das ist der Grund, aus dem die zitierte Untersuchung mit dem Blick auf das nach wie vor geltende Allgemeine, das irgendwie als das Wesentliche im Seienden besteht, wie folgt fortfährt: „Andererseits soll dies in einer klugen und abgewogenen Weise geschehen, die von dem ausgeht, was als gegeben vorfindbar ist, damit es nicht dazu kommt, daß in illusionärer Verkennung der Tatsachen alles und jedes für beliebig veränderbar angesehen wird.“53 B. Der Ausbau der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft in der Neuzeit I. Der Kartesianismus und seine Folgen
Die Spätscholastik, wie sie sich beispielhaft im großartigen Werk eines Francisco Suárez findet, hat der Jesuitenschüler René Descartes (1596–1650) im Auge, wenn er mit Eifer der „Philosophie der Jesuiten“ widerspricht. Er gilt als diejenige Schlüsselgestalt, die philosophisch die Loslösung vom mittelalterli-
53 Harald Schöndorf, Individuum und Indifferenz. Francisco Suárez. Philosophie im Geiste des Ignatius, in: Hochschule für Philosophie München, Jahresbericht 1990/91, München o. J., S. 7.
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chen Weltbild vollzieht. Seine Preisgabe bewirkt nicht zuletzt den Zerfall der theoretischen Grundlagen der Ständegesellschaft. In dem Bemühen, sich selbst und den Lesern seiner Schriften zu erklären, was ihn zum Bruch mit der Tradition veranlaßt, legt er wiederholt seine Gründe dar. Zumindest für ihn selbst, so sagt er, ist das Leben anders geworden. In seinem Discours de la Méthode berichtet er über seine Erfahrungen wie folgt: „Weil ich . . . schon auf der Schule gelernt hatte, daß man sich nichts so Sonderbares und Unglaubliches ausdenken kann, was nicht schon von irgendeinem Philosophen behauptet worden wäre; – weil ich später auf meinen Reisen festgestellt hatte, daß Leute, deren Gesinnungen den unseren geradewegs zuwiderlaufen, deswegen noch nicht Barbaren oder Wilde sind, sondern daß mancher von ihnen ebensoviel oder gar mehr Vernunft gebraucht als wir; – weil ich mir überlegt hatte, wie ein und derselbe Mensch mit denselben geistigen Anlagen ein ganz anderer wird, wenn er von Kind auf unter Franzosen oder Deutschen aufgewachsen ist, als er es sein würde, hätte er immer nur unter Chinesen oder Kannibalen gelebt, und wie – bis hin zur Kleidermode – dasselbe Ding, das uns vor zehn Jahren gefiel und das uns vielleicht in zehn Jahren wieder gefallen wird, uns jetzt unpassend und lächerlich erscheint, so daß es viel mehr Gewohnheit und Beispiel ist, was unser Urteil bestimmt, als irgendeine sichere Einsicht, und Stimmenmehrheit gleichwohl kein Beweis ist, der für schwer zu entdeckende Wahrheiten die geringste Kraft hat – denn es ist weit wahrscheinlicher, daß ein Mensch allein sie findet, als ein ganzes Volk –: deshalb konnte ich mir niemanden wählen, dessen Überzeugungen mir einen Vorzug vor anderen zu verdienen schienen, und fand mich gleichsam gezwungen, es selbst zu übernehmen, mich zu leiten.“54
Aus diesen Lebensverhältnissen erklären sich also die existentiellen Beweggründe, die René Descartes zum Entwurf seiner neuen Philosophie veranlassen. Sie besitzt drei Schwerpunkte. Ihr erster ist die Erkenntnislehre, ihr zweiter die Lehre von der humanen Existenz und ihr dritter die Gotteslehre. Es dürfte verständlich sein, daß im vorliegenden Zusammenhang die Theologie von nachrangigem Interesse ist. Anders verhält es sich mit der Lehre vom „Menschen“, wenn es auch richtig ist, daß im wesentlichen nur einer ihrer Grundsätze erwogen werden muß. Also wird sich die folgende Untersuchung maßgeblich der Erkenntnislehre Descartes’ zuwenden. Freilich sind an dieser neu formulierten Lehre weniger deren Behauptungen über die Gewißheit des Erkenntnisaktes von Belang. Bevorzugt zu erörtern ist vielmehr jene Folge der veränderten Bestimmung des Erkennens, die eine gänzlich neue Auffassung der humanen Existenz zur Folge hat. Sicherlich wird man nicht sagen können, daß mit der Lehre Descartes’ über die Beschaffenheit des Erkennens sich sogleich auch die Bestimmung der Natur des „Menschen“ geändert hat. Diese Änderung werden erst die Anhänger Descartes’ entfalten und Zug um Zug durchsetzen. So gilt die Aufmerksamkeit jenem Descartes, der als der Urheber der neuzeitlichen Lehre vom 54 René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637), (Edition Meiner), Hamburg 1960, S. 27.
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Erkennen durch eben diese Lehre diejenige Bedingung formuliert, die das neuzeitliche Urteil über den „Menschen“ nach sich zieht. Die Erkenntnislehre Descartes’ hebt an mit dem Zweifel an der Beschaffenheit des Erkennens, wie die überkommene realistische Überzeugung sie begreift. Nach ihr besteht die Erkenntniswahrheit als adaequatio rei et intellectus, d.i. in der Übereinstimmung zwischen der Sache und dem Verstand. Die Wahrheit des Objekts zeigt sich also, wenn das erkennende Subjekt durch sein wahrnehmendes und sein denkendes Vermögen sich ihm angleicht. Daß es sich mit dem Erkennen so verhält, vermag Descartes nicht mehr zu fassen. In seiner Besinnung über das Subjekt-Objekt-Verhältnis sucht er nach jener unerschütterlichen Grundlage, die das Erkennen als gewisses Erkennen verbürgt. Die Urteile über die Welt der Objekte prüfend, verwirft er die Überzeugung, daß die Dinge sich allemalen anschaulich zeigen. Wenn sie sich jedoch solchermaßen nicht zu erkennen geben und in der Folge in dem, was sie sind, erschließen lassen, kann die Erkenntnisgewißheit nur im erkennenden Subjekt liegen – es sei denn, man verneint als Skeptiker die Möglichkeit jeder wahren Erkenntnis. Seine Besinnung führt Descartes zu dem Schluß, daß die überkommene Erkenntnislehre von der Übereinstimmung von Sache und Verstand fallen gelassen und behauptet werden muß, daß die Erkenntnisgewißheit im erkennenden Subjekt begründet ist. Allein in ihm, so lehrt er, liegt der Grund der wahren Erkenntnis von Etwas. Im Denken des „Menschen“ bzw. der humanen Existenz kann jener bzw. kann diese gewiß sein, daß es nicht nur dieses Denken gibt, sondern auch denjenigen, der denkt. Als Denker ist er erhaben über jeden Zweifel ein Ich-Sein. Eben auf Grund dieses Zusammenhanges darf vom Denken auf das Sein geschlossen werden, also auf die Welt der Dinge. Descartes selbst erklärt diese Erkenntniskritik wie folgt: „Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ,ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“55 Bedenkt man diese Erkenntnisauffassung in der Vergegenwärtigung der überkommenen Erkenntnislehre, kann sie nicht anders als ein Bruch mit der Tradition verstanden werden. Selbstbewußt tritt Neues an die Stelle des Alten. Die Lehre vom Gewißheitsstandpunkt, daß ich bin, weil ich denke, löst das polare Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkennbaren Objekt zu Gunsten des Subjekts auf, und sie entthront damit die Lehre vom Erkennen als einem Übereinstimmen des menschlichen Verstandes mit der sachlich bestimm55 René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, a. a. O., S. 53.
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ten Realität. Damit definiert das Erkennen sich nicht mehr realistisch, sondern subjektivistisch. Für das Existieren der humanen Existenz besitzt das subjektivistische Erkennen zunächst kaum faßbare, mit der Zeit jedoch immer deutlicher erkennbare Folgen. Sie drängen sich spätestens dann auf, wenn das erkenntnistheoretisch maßgebliche Subjekt entdeckt, daß es sich existentiell folgerichtig als Individuum zu erfassen und zu verhalten hat. In dieser Bestimmung existiert die humane Existenz als sogenanntes menschliches Einzelwesen. Das grundlegende Ich-denke des Erkennens weitet sich zum umfassenden Ich-bin des Existierens. Die humane Existenz oder der „Mensch“ ist zum maßgeblichen Ich geworden. Nichts außer ihm existiert, wie es selbst. Es existiert an sich und für sich und ist sich darin genug. Man darf seine Existenz als absolute Existenz bezeichnen. Warum eine Ich-Existenz im genannten Sinn mit einer anderen solchen Existenz in Beziehung treten soll, ist schwer einzusehen. Was sich durch seine geradezu schöpferische Fülle auszeichnet, bedarf keines anderen. Aber immerhin könnte diese Beziehung gedacht werden als ein verschwenderisches Sichverschenken des einen Ich an das andere Ich und umgekehrt. Aber gerade deswegen bleibt die Beziehung einseitig. Nun mag es mit diesen Beziehungen stehen, wie es will. Denn eine andere Frage ist drängender. Es ist die Frage nach dem Grund, aus dem das menschliche Einzelsein im genannten Sinn jenen humanexistentiellen Bestand ausbildet, den man Gesellschaft nennt. Wie ist angesichts des sich selbst genügenden Individuums ein Zusammensein von Individuen möglich, ein Zusammensein, ohne das sie, wie es scheint, nicht sein können? Ein Bemühen, das geschichtlich zurückfragt und erklärt, daß die humane Existenz als Zusammenschluß sittlicher Personen bzw. als ein Ganzes im Sinn eines Organismus besteht, läßt der Grundsatz des „ich denke, also bin ich“, nicht mehr zu. Die Problematik der Vergesellung der humanen Existenz ist zu einer offensichtlich unlösbaren Problematik geworden. Das neu definierte menschliche Individuum, wie es jetzt existiert, widerspricht seiner gesellschaftlichen Bindung, die aber als diese nicht verneint werden kann. Die Formulierung dieser Aporie ist der Übergang der bisher verborgenen in die jetzt offenkundig gewordene Frage nach der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Ob Descartes sich dieses Seinsgeschicks bewußt gewesen ist, ist ungewiß. Er mag jedoch die Folgen seiner Erkenntniskritik erahnt haben. Verstand er sich nicht als ein Gelehrter, der, wie die Erforschung seines Lebenslaufs es nennt, maskiert sein Leben verbringt? Ein zweites gesellschaftstheoretisches Problem enthält seine Lehre vom „Menschen“. Wie erinnerlich, erblickte Descartes den Grund der Erkenntnisgewißheit in jener Substantialität, die er als res cogitans bezeichnete, d.i. als denkende Sache. Als an sich seiend – ein Problem, das Descartes etwa im Sinn des geistigen Seins nicht weiter verfolgt –, unterscheidet sich dieses Denken und
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sein Ich von jener anderen Substantialität, die als res extensa besteht, d. i. die ausgedehnte Sache. Altertümlich gesprochen ist jener Selbstand die Seele mit ihren Vermögen, dieser der Stoff mit seinen Bestimmungen. Besitzen die Seelen maßgeblich im Denken und Wollen ihre Eigentümlichkeiten, so sind die Körper dadurch ausgezeichnet, „daß die Natur der Materie oder des Körpers überhaupt nicht in Härte, Gewicht, Farbe oder einer anderen sinnlichen Eigenschaft besteht, sondern nur in seiner Ausdehnung in die Länge, Breite und Tiefe“56. Bezieht man diese Bestimmung auf die humane Existenz, so ist sie einerseits eine denkende und andererseits eine ausgedehnte Sache. Heute sagt man, daß der „Mensch“ einerseits etwas Psychisches und andererseits etwas Physisches ist. Aber wie die Erfahrung lehrt und jede vernünftige Lehre von der humanen Exixtenz erkannt hat, ist der „Mensch“ eine Einheit der aufgezeigten Beschaffenheiten. Mit dem benannten Grundsatz gerät die Philosophie Descartes’ in eine zweite Aporie. Die Geschichte der Philosophie weiß, daß er sich ihrer bewußt war.57 In der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft seit den Zeiten Descartes’ ist die Ratlosigkeit bis heute gegenwärtig. Sie besteht in der unerklärlichen, letztlich sich ausschließenden materialen Bestimmung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Wird sie einerseits gedacht als etwas Bewußtseinsmäßiges und damit, wie man im weitesten Sinn sagen könnte, als etwas Geistiges, so wird sie andererseits bestimmt als ein Seiendes im Sinn der natürlichen Natur, zuletzt also als Materie. Innerhalb der ständisch erfüllten Lebensordnung, die zunehmend sich zerfranst, erstarkt seit der Mitte des 17. Jahrhunderts jene Gestalt der Verwirklichung der humanen Existenz, die durch den sogenannten Dritten Stand bestimmt wird. Der bisher durch den Adel und die Geistlichkeit geprägte Kulturund Lebensstil wandelt sich zu einer Welt der Bürger. Da der Grundsatz der Gestaltung dieser Welt im Fortgang der Zeit auch und gerade den mitmenschlichen Lebenszusammenhang zu durchherrschen vermag, bezeichnet man die heraufkommende Ordnung der Gesellschaft in der Regel als bürgerliche Gesellschaft. Als Folge dieser Entwicklung entfaltet die Zeit vom Ende des 30jährigen Krieges bis zum Übergang des 19. in das 20. Jahrhundert unter anderem jene Denkweise, die man als das theoretische Denken der Gesellschaft bezeich56 René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (1644), (Edition Meiner), Hamburg 1965, S. 32. 57 Vgl. zu dieser Problematik z. B. Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Band II: Neuzeit und Gegenwart, Freiburg/Basel/Wien 198111, S. 115: „Die Tatsachen waren stärker als die zunächst aufgestellten Begriffe. Seine Schülerin, die Prinzessin Liselotte von der Pfalz, hat Descartes auf den Widerspruch der Wechselwirkungslehre zu seiner Substanzauffassung schon früh hingewiesen. Descartes mußte erwidern, daß es darüber eine klare und deutliche Einsicht nicht gibt, daß die Wechselwirkung überhaupt rätselhaft sei, aber immerhin Tatsache wäre. Trotz der damit offenkundigen Aporie hat Descartes mit seiner Substanzlehre ebenso in die Zukunft gewirkt wie mit seinem cogito.“
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net. Durch seine Begründung als Gesellschaftsphilosophie und als Soziologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und seine damit vorbereitete schulmäßige Einrichtung reift die theoretische Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz heran zur Wissenschaft von der Gesellschaft. Diese Entwicklung ist im folgenden zu umreißen. Ihren Schritten entsprechend, ist zuerst über dasjenige theoretische Gesellschaftsdenken zu reden, welches meint, daß die Gesellschaft durch eine Vielzahl von Menschen begründet und erfüllt wird, die als „einzelne“ Wesen leben. Eine spätere Zeit wird diese gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ als individualistische Existenz benennen. Die ihr entsprechende gesellschaftliche Weltanschauung wird sie als Individualismus bezeichnen. Der Aufweis seiner maßgeblichen Ausformungen endet mit der Feststellung, daß dieses Gesellschaftsdenken seine Begrenztheit einsieht, sofern es nicht erkennt, daß die von ihm entwickelten Lehren die Gesellschaft aus gesellschaftsfremden Gründen zu begreifen versuchen, so daß sie, wesentlich begriffen, die Gesellschaft verfehlen. Aus diesen Erfahrungen besinnt das theoretische Gesellschaftsdenken sich auf jene andere, von Anbeginn an als Form der Gesellschaft vermeintlich geltende Gestaltungskraft, die bildlich als Organismus mit seinen Organen und formalisiert als geschlossene Ordnung mit ihren Elementen überliefert ist und jetzt wieder aufgegriffen wird. Diesem Gesellschaftsdenken zufolge besteht, wie erinnerlich, die Gesellschaft als eine Ganzheit mit ihren Teilen. Diese gesellschaftliche Existenz des Menschen wird später als ganzheitliche bzw. als totale gesellschaftliche Existenz bezeichnet. Die ihr entsprechende gesellschaftliche Weltanschauung wird Sozialismus oder auch Kollektivismus genannt. Alsbald wird jedoch auch diese Auffassung der Gesellschaft kritisiert oder sogar verworfen, weil die Gründe, aus denen sie das Zusammenleben von Menschen erklärt, nur vermeintlich gesellschaftliche Gründe sind. Die Folgen jener wie dieser Lehre bleiben nicht aus. Sie bestehen darin, daß das sich entwickelnde Gesellschaftsdenken genötigt wird, nach einem Ausweg zu suchen, der es aus den Verstrickungen des Individualismus einerseits und des Sozialismus bzw. des Kollektivismus andererseits herausführt. Insoweit bemüht das spätere theoretische Gesellschaftsdenken sich darum, sachlich zu werden. II. Das Bemühen um eine Benennung der Vergesellung von „Menschen“
Das Bemühen, die Gesellschaft in ihrem sozialen Wesen zu begreifen, besitzt seinen Ausdruck nicht zuletzt in den verschiedenen Versuchen, eine der Theorie der Gesellschaft angemessene Sprache auszubilden. Die Aufgabe ist schwierig, denn sie kann sich auf kein Vorbild stützen, ja noch nicht einmal auf ein Beispiel beziehen. Das ist der Grund, aus dem die neue Rede über die Gesellschaft sich nahezu durchgängig entweder der alten Sprache oder derjenigen der heraufkommenden subjektivistischen Erkenntnis bedient. Im gesellschaftstheoreti-
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schen Sprachgebrauch werden naturgemäß diejenigen Ausdrücke besonders bedeutsam, die schlüsselhaft den Zugang zu den wesentlichen Sachverhalten der Theorie der Gesellschaft eröffnen. Zu ihnen zählt erstens der Ausdruck des „einzelnen Menschen“ oder kurz des Einzelnen bzw. des Individuums. Zweitens gehört zu ihnen der Ausdruck der Gesellschaft im Sinn einer Ganzheit. Soll die Theorie der Gesellschaft sachhaltig bleiben, ist darauf zu achten, in welcher Bedeutung diese Namen jeweils gebraucht werden. Studiert man die Texte der sich ausbildenden gesellschaftlichen Theorie, muß man feststellen, daß sie sich an die Bezeichnung der Wesensverhalte und Eigentümlichkeiten der Gesellschaft erst herantasten. Deswegen benennt die Theorie die ursprünglichen Beschaffenheiten der Gesellschaft im wesentlichen nur der Absicht nach. Dabei läßt sich ihre Erkenntnis- und Redeweise von einer Vorstellung leiten, die man im Allgemeinen am besten wohl als die Vorstellung eines Vorranges von Etwas über Etwas bezeichnet. Hinsichtlich der Gesellschaft besagt diese Kennzeichnung, daß die heraufkommende Theorie der Gesellschaft erstens meint, daß der Ausgangspunkt ihres Erkennens und Sprechens in einem Verhältnis besteht. Dieses Verhältnis ist, zweitens, real da, wie man sagt, als das Verhältnis zwischen dem „Menschen“ und der „Gesellschaft“. Wie es scheint, gründet diese, die gesellschaftliche Existenz-Gestalt wie die gesellschaftliche Erkenntnissprache lenkende Vorstellung in der Erfahrung der humanen Existenz im Ausgang des Mittelalters. Sie belehrt darüber, daß das menschliche Zusammenleben anders wird. Dieses Anderswerden glaubt man, am besten als eine Verschiebung im Verhältnis zwischen dem Einzelwesen „Mensch“ und der menschlichen Vergesellschaftung begreifen zu können. Unter dieser Voraussetzung kommt sodann, so heißt es, entweder den „einzelnen Menschen“ oder dem „gesellschaftlichen Ganzen“ der Vorrang zu. Insbesondere die Herauslösung der Glieder aus den ständegesellschaftlichen Bindungen dürfte die zunehmend sich durchsetzende Meinung erklären, daß in jenem Verhältnis die „Menschen“ gegenüber der „Gesellschaft“ den Vorrang besitzen. Die „Einzelnen“ sind es, die die „Gesellschaft“ bilden. In der Folge dieses Erlebens und Urteilens spricht die Theorie der Gesellschaft aus, daß die Gesellschaft aus den bzw. durch die menschlichen „Einzelwesen“ besteht. Alsbald findet sich aber auch die gegenteilige Meinung. Indem sie die Gesellschaft als ein „Ganzes“ beurteilt, bringt sie zum Ausdruck, daß es die Gesellschaft ist, die gegenüber den „einzelnen Menschen“ bevorzugt besteht und deswegen auch theoretisch so zu beurteilen ist. Zunehmend erstarken diese Redeweisen über die gesellschaftliche ExistenzGestalt der humanen Existenz. Klarer wird ihre Erkenntnis durch sie jedoch nicht. Mag es auch verständlich sein, daß der von den „Menschen“ als „Individuen“ getragene gesellschaftliche Wandel die genannten sprachlichen Gewohnheiten nahelegt, von einem Verhältnis zwischen „dem Menschen“ und „der Gesellschaft“ zu sprechen, so kann diese Redeweise doch nur in einem vorläufigen Sinn gelten. Im gesellschaftstheoretisch-allgemeinen Sinn ist sie eine sinnwid-
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rige Rede. Zu behaupten, daß bald „dem Einzelnen“ und bald „dem Ganzen“ ein Vorzug zukommt, widerspricht der gesellschaftlichen Vernunft. Wie zu gegebener Zeit zu zeigen sein wird, besitzen diese Meinung und die sie zum Ausdruck bringende Sprachgewohnheit ihren Grund in einem zunächst nicht erkannten und auch in der Folgezeit nur unzureichend gelösten anthropologischen Grundproblem. Es betrifft das als humane Existenz zu begreifende „Menschsein“. Dieser Begriff der humanen Existenz besagt, daß der Mensch als das dynamische zo¯on logon echo¯n einerseits ein menschliches und andererseits ein gesellschaftliches Wesen ist. Er existiert als einer in zwei Gestalten. Wie dieses Existieren als dieses und wie die Verhältnisse zwischen den Existenz-Gestalten zu bestimmen sind, wird ausführlich zu erörtern sein. Von der Zeit des Offenkundigwerdens des theoretischen Denkens der Gesellschaft kann indessen nur festgestellt werden, daß die Sprache dieses Denkens weithin im Zwielichtigen bleibt und deswegen klärungsbedürftig ist. Verzichtet man auf ihre Vereindeutigung, dringt die gesellschaftliche Erkenntnis nicht zu ihren theoretischen Gegenständen vor. Der Weg, den sie einschlägt, führt ins Unwegsame. Das ist das Gesellschaftlich-Doktrinäre. Deswegen sei im folgenden angegeben, in welchen Bedeutungen jene schlüsselhaften Ausdrücke vernünftigerweise zu verstehen sind. Die Texte der offenkundig werdenden Theorie der Gesellschaft, die sogleich zu studieren sind, lassen sich mit ihrer Hilfe eindeutig verstehen. Im genannten Sinn sei definiert: (1) Der Einzelne (oder der einzelne Mensch oder das Individuum) benennt den Bestand der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz als Diese-Existenz-da; sie ist ein metasozialer Bestand; die von ihr verwirklichten Beziehungen verwirklicht sie deswegen als je ihre Beziehungen. – (2) Das Ganze (oder die gesellschaftliche Ganzheit oder das Kollektiv) bezeichnet einen Bestand in einem auf die gesellschaftliche ExistenzGestalt der humanen Existenz übertragenen Sinn derart, daß diese als eine geschlossene Ordnung existiert; sie ist ein metasozialer Bestand; was als ein Ganzes besteht, besteht deswegen als eine Einheit je seiner Teile. – (3) „Der Mensch“ und „die Gesellschaft“ sind konkret und formal erkennbar; „der Mensch“ und „die Gesellschaft“ existieren konkret als etwas Einzelnes; insofern der einzelnen menschlichen Existenz-Gestalt einerseits und der einzelnen gesellschaftlichen Existenz-Gestalt andererseits etwas gemeinsam ist, existiert jene formal als der Mensch im Allgemeinen und diese als die Gesellschaft im Allgemeinen. (Die unter (3) genannten Bestimmungen verstehen sich als eine Annäherung an die Sachhaltigkeit jener Begriffe, deren klarer und deutlicher Sinn zu gegebener Zeit benannt werden soll.) Die genannten Unterscheidungen mögen als sprachliche Sonde dienen, um Unbestimmtheiten in der Ausdrucks- und deswegen in der Erkenntnisweise der offenkundig werdenden Theorie der Gesellschaft zu überwinden. Zum leichteren Verständnis des gemeinten Sinnes wird es im folgenden zweckmäßig sein, mehrdeutige, wenn nicht eben sinnwidrige Ausdrücke zu kennzeichnen bzw. die
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üblichen Möglichkeiten ihrer Vereindeutigung zu nutzen. Das gilt insbesondere vom metasozialen Sprachgebrauch in der gesellschaftlichen Theorie, also vom Gebrauch von Bezeichnungen, die aus dem Erkenntniszusammenhang der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz unversehens in die Sprache der Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz übertragen werden. III. Die Gesellschaft als Gesellschaft „einzelner Menschen“
Nach diesem Exkurs über einige Sprachprobleme, die die offenkundig werdende Theorie der Gesellschaft durchherrschen, soll der Blick sich wieder den voranschreitenden Veränderungen im menschlichen Zusammenleben des 17. Jahrhunderts zuwenden. Es kennt zahlreiche gelehrte Persönlichkeiten, deren Werke maßgeblich die Wirklichkeit der heraufkommenden Gesellschaft mitbestimmen. Bereits genannt wurden die Namen Francis Bacon, Galileo Galilei und René Descartes. Die Namen dieser Männer seien nicht zuletzt deswegen erwähnt, weil sie persönliche Bekannte, wenn nicht sogar Freunde jenes englischen Philosophen, Altertumsforschers und Erziehers sind, der in der Geschichte des Offenkundigwerdens des theoretischen Gesellschaftsdenkens eine Schlüsselstellung einnimmt. Es ist Thomas Hobbes (1588–1679). Obwohl er als Sohn eines Landvikars und einer Bauerntochter von einfacher Herkunft ist, nutzt er dank seiner Begabung die Gunst der Lebensumstände, die ihm die intellektuelle wie die politische Welt weit öffnen. Trotz mancher Mißgeschicke insbesondere aus konfessionellen Gründen, vermag er sich das Wohlwollen seiner Gönner zu erhalten. Unter seinen literarischen und wissenschaftlichen Werken besitzt gesellschaftstheoretisch seine Schrift Vom Bürger das größte Gewicht. Von ihr heißt es, daß sie das Gründungsdokument58 der modernen theoretischen Lehre von der Gesellschaft ist. Jede gesellschaftswissenschaftliche bzw. soziologische Handreichung, die über die Bemühungen, die Gesellschaft zu erkennen, informieren will, enthält deswegen auch eine Auskunft über die Person und das Werk von Hobbes. Es scheint sinnvoll zu sein, eine dieser Zusammenfassungen zu nutzen. Denn über die dankbar entgegengenommene Orientierung hinaus erfährt der Leser zugleich etwas über den Geist, der dem modernen theoretischen Denken der Gesellschaft innewohnt. Die ausgewählte Darstellung spricht eingangs über den Unterschied zwischen der alten und der neuen Auffassung der Gesellschaft, und sie fährt fort mit der Wiedergabe der 58 Vgl. Thomas Hobbes, Anfangsgründe der Philosophie. Dritter Abschnitt: Vom Bürger (1642/1647). – Eine Besprechung dieses Werkes durch Julian Nida-Rümelin, in: Franco Volpi/Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, schließt S. 207 wie folgt: „Das sofort nach seinem Erscheinen heftig umstrittene und 1654 auf den Index gesetzte Werk gilt als Gründungsdokument einer rationalistischen und (im methodologischen Sinn) individualistisch-neuzeitlichen Tradition des gesellschafts- und staatsphilosophischen Denkens.“
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wichtigsten theoretischen Sätze, die Hobbes über die gesellschaftliche Existenz des Menschen formuliert. Der Text lautet wie folgt: „Hobbes gilt als einer der ersten Theoretiker, die den Übergang von der philosophisch-spekulativen und normativen Staatslehre zu einer erfahrungswissenschaftlichen Gesellschafts- und Staatstheorie vollzogen. Entgegen der bisherige Suche nach den Aufbauprinzipien einer gerechten Gesellschaftsordnung stellt Hobbes die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung überhaupt. Gesellschaft und Staat werden nicht mehr als Niederschlag menschlichen Trieb- oder Vernunftlebens interpretiert, sondern als Institutionen zur Beherrschung und Regulierung der im ,Naturzustand‘ zerstörerisch wirkenden menschlichen Antriebskräfte. Damit es bei der Durchsetzung des jedem Menschen zustehenden ,Naturrechts‘, sich seinem individuellen Luststreben gemäß egoistisch auszubreiten, nicht zu einem ,Kampf aller gegen alle‘, d.h. zur Nutzung des Menschen durch seinesgleichen als Lustobjekt kommt, treten die Menschen ihre naturrechtlich verbürgten Individualrechte partiell an einen Herrscher, an eine Ordnungsinstanz ab. Diese entwickelt eine Rechtsordnung und eine Herrschaftsstruktur, die im sozialen Konkurrenzkampf der individuellen Freiheitsrechte allen die grundlegenden Lebensrechte garantiert. Gesellschaft erscheint demnach als ,notwendiges Übel‘ zur Sicherung des durch die menschliche Vernunft angeregten Überlebensbedürfnisses.“59
Dankenswerterweise bringt die zitierte Zusammenfassung der Theorie der Gesellschaft, wie Hobbes sie vorlegt, sogleich das zentrale Problem der vorliegenden Untersuchung zur Sprache. Sie tut dies dadurch, daß sie anhebt mit dem Hinweis auf die überkommene Betrachtungsweise der Gesellschaft. Diese gesellschaftliche Denkweise besteht als ein Erkennen normativer Art. So beschaffen, fragt sie nach den sittlichen Regeln, denen gemäß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt des „Menschen“ verwirklicht werden soll. Wie die voraufliegenden Nachforschungen ergeben haben, sind in diese ethische Betrachtungsweise der Gesellschaft immer auch Bemühungen um ihre theoretische Erkenntnis eingebunden. Dieses theoretische Erkennen vom ethischen Erkennen der Gesellschaft zu scheiden und es sodann zu begründen und zu entfalten, ist in der Tat die Absicht von Hobbes. Daß er es nicht bei einem Vorhaben beließ, sondern sein Wunschziel auch verwirklichte, ist der Grund, aus dem man ihn zurecht zu den Urhebern der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft zählt. Denn die Verselbständigung des theoretischen Denkens der Gesellschaft ist der erste Schritt auf dem Weg, daß sie als ein Seiendes offenkundig wird. Das Mittel dieses Offenkundigwerdens ist ihre Theorie. Jedes unvoreingenommene Studium der theoretisch sich zeigenden Gesellschaft wird deswegen die Leistung anerkennen, die im Vollzug der Scheidung des Seins vom Sollen der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ besteht. Ihr verdankt die Gesellschaftserkenntnis, daß von nun an von der Gesellschaft in einem nur betrachtenden Sinn gesprochen werden kann. 59 Karl-Heinz Hillmann, Art. Thomas Hobbes, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 336.
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Von dieser Eröffnung der theoretischen Frage nach der Gesellschaft sind die Anstrengungen von Hobbes zu unterscheiden, die er unternimmt, die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ als ein Seiendes zu ergründen und dieses in seinen Bestimmungen zu erfassen. Jede ernste Prüfung wird zu dem Ergebnis kommen, daß seine Erkenntnisse hinter dem Anspruch zurückbleiben, die er in seiner Gesellschaftsphilosophie geltend macht. Überdies versucht diese Philosophie das künftige Gesellschaftsdenken geradezu doktrinär durch die Behauptung zu binden, daß die überkommene Art der Erkenntnis für das Begreifen der Gesellschaft untauglich ist und deswegen auf sich beruhen kann. Den Schlüssel zum Verständnis der Theorie der Gesellschaft, wie Hobbes sie formuliert, benennt der zitierte Text dadurch, daß er dieses Betrachten als „erfahrungswissenschaftlich“ bezeichnet. Über das, was die Wissenschaft charakterisiert, braucht an dieser Stelle nicht verhandelt zu werden. Anders verhält es sich mit dem Begriff der Erfahrung. Er bezeichnet im allgemeinen die Entgegennahme eines Gegebenen. Im aufgeworfenen Problemzusammenhang besteht die Entgegennahme in sinnlichen Wahrnehmungen sowie in deren gedanklicher Ordnung. Das Gegebene wird sodann als Erscheinung begriffen. Sie ist des näheren ein unmittelbares Sich-Zeigen von Körpern, also von Sinnendingen in ihrer Bewegung als Ortsveränderung. Wird im genannten Sinn von Erfahrung die Realität gemeint, so wird sie aufgefaßt als ein Mechanismus von ausgedehnten Sachen. Diese Bestimmung gilt auch vom Ganzen der Menschenwelt. Indem Hobbes die Dinge und den bzw. die Menschen derart denkt, begreift er sie nicht mehr, wie der zitierte Text sich ausdrückt, „philosophisch“. Das will besagen, daß ihn ihr Wesen nicht interessiert. Aus diesem Grund verzichtet er im besonderen darauf, nach den Ursprungsgründen der Verwirklichung der humanen Existenz zu fragen. Für ihn spielen die erwähnten „Aufbauprinzipien“ nur noch in der sittlichen Betrachtung dieser Existenz eine Rolle. In ihr sind sie so etwas wie die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis und der Geltung der ethischen Normen der wirklichen humanen Existenz. Ihrem Sein nach ist diese Existenz schlicht da als Etwas, das in der äußeren Erfahrung aufgefaßt und durch begriffliche Vorstellungen geordnet wird. Deswegen trachtet Hobbes sogleich danach, die Merkmale ihrer Erscheinung zu erfassen. Diese sind insbesondere die Merkmale des erscheinenden humanen Miteinanderseins. Denn der Mensch als ein seelisches Wesen, d.h. als jemand, der wahrnimmt, strebt und fühlt und deswegen bald auf diese und bald auf jene Weise aufmerksam, begierig und gestimmt ist, besteht nur als die Eingangsstufe zum Menschsein im gesellschaftlichen Sinn. Damit sind die Voraussetzungen umschrieben, unter denen die Hobbessche Erfahrungslehre von der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt und damit von der Existenz des Menschen schlechthin ihre „Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung überhaupt“ stellt, wie es wenig glücklich im zitierten Text heißt. Denn gemeint ist, daß die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“, weil sie eine Erschei-
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nung im Raum und in der Zeit ist, kommt und geht, sich also immerwährend ausformt, weshalb jene Frage nicht auf die Möglichkeit, sondern auf die so oder so mögliche Tatsächlichkeit der bzw. einer Gesellschaft zielt. Hobbes entfaltet die genannte Frage in Erkenntniszusammenhängen, die in ihrer Ausrichtung für die Erforschung bis heute Bedeutung besitzen. Das erste Problem, dem er sich stellt, ist die Ermittlung der Bedingungen, unter denen die Gesellschaft, also das humane Zusammensein zu seiner Zeit, ins Dasein gebracht wird. Den zur Beantwortung dieser Frage seit alters her in Anspruch genommenen Lehrsatz des Aristoteles, nach dem der „Mensch“ seine gesellschaftliche Naturanlage nützt, um seine gesellschaftliche Existenz zu begründen, erachtet Hobbes als verfehlt. Was er als falsch erklärt, benennt auch der zitierte Text. In ihm heißt es in einer heute verbreiteten Ausdrucksweise, daß die Heraufkunft der Gesellschaft jetzt „nicht mehr als Niederschlag menschlichen Trieb- und Vernunftlebens interpretiert“ wird. Dieses Trieb- und Vernunftleben besteht vielmehr im „Naturzustand“, in dem „der Mensch“ sich vorfindet. Dem Beobachter ist er zugänglich in seinen ersten Erfahrungen der humanen Existenz. Ihnen zufolge besteht sie in nichts anderem als in einem „individuellen Luststreben“, das sich „egoistisch auszubreiten“ sucht. Deswegen verwundert es nicht, daß unter den „Menschen“ natürlicherweise Mord und Totschlag herrschen. Um sich dieses Übels zu erwehren, aktiviert die humane Existenz ein zweites Element ihres anfänglichen Zustands, nämlich die natürliche Vernunft. Mit ihrer Hilfe kämpft der Mensch sozusagen gegen sich für sich. In diesem ursprünglichen Streit behält die ratio gegenüber der cupiditas irgendwie die Oberhand. Als Folge stellt sich eine Übereinkunft unter den „Menschen“ ein. In ihr „treten die Menschen ihre Individualrechte partiell an einen Herrscher ab“. Diesem Vertrag ist es zu verdanken, daß das entsteht, was man als Gesellschaft bezeichnet, also geregelte Verhältnisse unter den „Menschen“. Es ist hier nicht der Ort, diesen Lehrsatz von Hobbes zu diskutieren, der zumal in seiner Begründung überrascht. Denn für die Untersuchung ist wesentlich, daß in ihm ein erstes Merkmal der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt des „Menschen“ zur Sprache kommt. Es ist der Befund des Entstehens und des Vergehens dieser Existenz. Indem Hobbes glaubt, ihn hinreichend bestimmt zu haben, ist er bemüht, weitere Eigentümlichkeiten der Gesellschaft aufzuweisen. In dieser Absicht voranschreitend, ist das zweite Merkmal der Gesellschaft, das er benennt, dasjenige, durch welches sie von anderen Erscheinungen unterschieden ist. Nach der Meinung von Hobbes besteht es in der erwähnten, von Anbeginn an existierenden Herrschaft. Die Wahrnehmung erweist sie als eine „Ordnungsinstanz“. Damit läßt sich das dritte Merkmal der Gesellschaft benennen. Denn die von der genannten Instanz ausgehende Formung der zahllos-vielfältigen menschlichen Lebensgehalte besteht darin, daß sie, wie es heißt, in der Gestalt von „Institutionen“ wirksam ist. Sie dienen der „Beherrschung und Regulierung der zerstörerisch wirkenden menschlichen Antriebskräfte“. Die Angehörigen der
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Gesellschaft erleben sie, viertens, als die „Sicherung des Überlebensbedürfnisses“, um welche sie sich sorgen. Diesem Erleben entspricht in seiner vergegenständlichenden Beobachtung, fünftens, „eine Rechtsordnung und eine Herrschaftsstruktur“. Die genannten Bestimmungen sind, formal verstanden, in der Tat erstrangige Probleme der theoretischen Gesellschaftserkenntnis. Mit den Fragen nach dem Entstehen und dem Vergehen der Gesellschaft, nach deren Bestandsart sowie nach der in ihr wirksamen Prägekraft und sodann nach dem Erleben der Gesellschaft durch ihre Angehörigen und endlich nach ihrer dinglichen Aufbaugliederung sind entscheidende Stücke der Theorie der Gesellschaft ins Auge gefaßt. Freilich benennt Hobbes sie nicht ausdrücklich. Sie sind vielmehr unwillkürliche Einsichten, die, weil sie seiner erklärten Erkenntnisabsicht geradezu entgegengesetzt sind, unbedacht bleiben. Diese Absicht besteht in einem kartesianisch geprägten Begreifenwollen insbesondere derjenigen „menschlichen“ Existenzen in ihren Verhältnissen, die in die ständegesellschaftliche Ordnung sich nicht mehr eingebunden wissen. Das Augenmerk von Hobbes gilt vorzugsweise also dem, wie man heute sagt, sich individualisierenden konfessionellen, politischen und wirtschaftlichen Leben, das nach den Regeln seiner Ordnung sucht. Über diese gesellschaftlichen Veränderungen heißt es an sachkundiger Stelle wie folgt: „Man muß sich vergegenwärtigen, daß ursprünglich der Begriff des Individuums in der vorrangigen Gültigkeit der Familienstruktur aufgelöst war, alle gesellschaftliche Arbeit Resultat gruppenspezifischer Prozesse war. Selbst am Ausgang des europäischen Mittelalters stand die Institution des Zunftwesens, das seinerseits familienähnlich organisiert war, ökonomisch im Konflikt mit einer neu sich etablierenden gesellschaftlichen Realität: der Markt- oder Tauschgesellschaft. Dort wurden Verträge zwischen Einzelnen geschlossen, zwischen ,Privatleuten‘, die begrifflich noch keinerlei Status innehatten, real aber die gesellschaftliche Entwicklung bestimmten. In diese Revolutionierung der Lebensverhältnisse hinein kollidierte die Frage nach dem rechten Glauben infolge Reformation und Gegenreformation.“60 Im Ganzen der natürlich nach wie vor wirksamen ständegesellschaftlichen Ordnung hat Hobbes also diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse im Auge, die an ihre Stelle etwas Neues setzen wollen, nämlich die bürgerliche Gesellschaft. Sie ist in ihrer Form geprägt durch die „Menschen“ als je eigene Wesen, unklar Individuen genannt, und in ihrem Gehalt bestimmt durch deren natürliche Interessen. Deswegen ist diese sich ausbildende Gesellschaft „individuell“ verfaßt und in ihrem Dasein erfüllt durch die Güter der natürlichen Natur des „Menschen“. Dieser Beschaffenheit der gesellschaftlichen Existenz entspricht, wie aufgezeigt, die von Hobbes ausgebildete Theorie der Gesellschaft. Denn das Maß ihres Erkennens ist das „menschliche“ Subjekt, weshalb sie subjektiv und infolge des Anspruchs, aus60 Thomas Schneider, Art. Hobbes, Thomas, in: Bernd Lutz (Hrsg.), Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart 1989, S. 363.
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schließlich zu gelten, subjektivistisch ist; insofern das Erkennen den Horizont des sinnlich Wahrnehmbaren nicht übersteigt bzw. leugnet, ist sie empirisch bzw. empiristisch. Abschließend gilt es, die genannte Entsprechung zu bedenken, also die Stimmigkeit zwischen jener Existenz-Gestalt und dieser Erkenntnis-Gestalt der Gesellschaft. Zurecht versteht man sie als den Ausdruck des Offenkundigwerdens der Gesellschaft als Tatsache in der dahingehenden Zeit. Sie belehrt darüber, daß das Sich-selbst-Begreifen der Gesellschaft durch ihre Theorie einhergeht mit einer einschneidenden Veränderung in der weltanschaulichen Orientierung der gesellschaftlichen, wenn nicht eben der humanen Existenz. Denn wie erinnerlich, verstand sich das menschliche Zusammensein, zu welcher Gestalt es sich bisher auch immer ausgeformt hat, gebunden an eine über ihm waltende Macht. Götter sind es, die die Geschicke der polis wie der societas bestimmen, und nach dem Glauben der Christen ist es der Schöpfergott, der das Weltgeschehen lenkt, weshalb die Geschicke der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz letztlich Geschicke der Heilsgeschichte sind. Für Hobbes und für die ihm gleichgesinnte gelehrte Welt ist diese Gewißheit zum Problem geworden. Zunehmend verflüchtigt sich für sie der Überstieg der Gesellschaft über sich hinaus, um in der Welt des Geistes ihre Erfüllung zu finden, was im religiösen Sinn bedeutet: Durch diese Welt hindurch bezogen zu sein auf den Urheber, den Lenker und den Erlöser der Welt und seinen Ratschluß. Das Gestaltungsgesetz des transcende te ipsum als das existentielle Ideal nicht nur der menschlichen, sondern auch der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt verblaßt. Gesellschaftlich zu existieren und gesellschaftlich zu denken wird zu einem immanenten Bestand. Er will nicht mehr „spekulativ“ sein, wie das oben angeführte Zitat den Problemzusammenhang kurz und bündig zusammenfaßt. Allemalen sind die Geschicke der Gesellschaft ein diesseitiges Geschehen. Gesellschaftlich zu existieren besagt, weltlich zu existieren, d.h. immanent und nicht transzendent. Die offenkundig werdende Theorie der Gesellschaft entfaltet sich wie die von ihr ins Auge gefaßte gesellschaftliche Existenz-Gestalt selbstbewußt profan. Daß diese Verwirklichungen der Gesellschaft wie ihres Denkens notwendig wären, kann man nicht sagen. Sie sind vielmehr frei gewollt. Das Ergebnis dieser Entscheidungen ist deswegen zwar nur eine Tatsache, aber es besteht als dieses von Anfang an, und es behauptet sich durch die Zeiten bis heute. Im Fortgang der Zeit vom 17. zum 18. Jahrhundert entfaltet das theoretische Denken der Gesellschaft sich rasch und in vielfältiger Weise. Geeint ist es durch seinen Ausgangspunkt. Er besteht im Mündigwerden der humanen als gesellschaftliche Existenz. Als diese begreift sie sich als der je besondere, weil aus der ständegesellschaftlichen Ordnung herausgetretene „Mensch“. Um ihn näher zu bezeichnen, spricht man selbstbewußt vom einzelnen Menschen, vom Einzelnen oder vom Individuum, also vom Ich als gesellschaftlichem Wesen. Denn in dieser Existenzweise der humanen Existenz erblickt man die Trägerschaft wie
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das Ziel der neu zu gestaltenden Gesellschaft. Die Lebenszusammenhänge, die in diesem Sinn sich ausweiten, sind also solche singulärer humaner Existenzen. Die Gesellschaft von ihnen her zu begreifen, empfindet die zukunftsfreudige Theorie der Gesellschaft als ihre vorrangige Aufgabe. Daß die einsetzende Erforschung der Gesellschaft sich in die verschiedensten Richtungen vortastet und dabei Fragen stellt, deren gemeinsames Ziel nicht ohne weiteres erkennbar ist, wird man verstehen. Der Zusammenhang der Erkenntnisse, der sich darbietet, ist mehr ein Entwurf als eine ausgearbeitete Darstellung des Gegenstandes. Finden sich in ihr wohl beachtliche Leistungen im Detail, so sind viele andere Stellen nicht mehr als erste Skizzierungen, und natürlich bleiben große Flächen des mutig begonnenen gesellschaftlichen Bildwerks überhaupt leer. Andererseits ist jedoch nicht zu übersehen, daß die thematischen Horizonte der Theorie der Gesellschaft sich zunehmend klären. Zwei Gesichtskreise beherrschen das Problemfeld. Zu einem ersten Fragenzusammenhang vereinigen sich diejenigen Erkenntnisabsichten, die die Gesellschaft der „Individuen“ formal zu begreifen versuchen. Dieses formale Begreifenwollen zielt auf die Bestimmung des Grundes oder genauer, auf die Bestimmung desjenigen Elementes im „Menschen“, kraft dessen die gemeinte Gesellschaft das ist, was sie ist. Herkömmlich gesprochen, ist diese Frage die Frage nach der Bedingung oder nach der Form oder zumindest nach der Art der Gesellschaft der „Individuen“. Der zweite Gesichtskreis umgreift die Fragen nach den existentiellen Gehalten, die jene gesellschaftlichen „Individual“-Verhältnisse erfüllen. Sie bestehen zum Beispiel im Austausch von Gütern, um die je eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, in der Bestärkung der Lebensführung des einen Mitglieds der Gesellschaft durch das andere, und sofort. In der Erörterung des Gesellschaftsdenkens bei Hobbes ließen sich diese Horizonte als geschiedene wie in ihrer Einheit erkennen. Besitzt, so hieß es, die Gesellschaft der menschlichen „Einzelwesen“ ihre Form im Naturzustand des „Menschen“ und in der irgendwie neben bzw. über ihr bestehenden Herrschaft, so besteht ihr Inhalt maßgeblich im wirtschaftlichen Tauschverkehr, in der Rechtssicherheit der Partner und in der Möglichkeit, zwischen verschiedenen religiösen Bekenntnissen wählen zu können. Das gesellschaftliche „Ganze“ aus der „individualisierenden“ Form einerseits und aus dem „individualisierten“ Inhalt andererseits bestimmt Hobbes im Geist Descartes’ als eine ausgedehnte Sache. Die derart als Gesellschaft begriffene humane Existenz ist deswegen nicht mehr als ein Bestand im Sinn des naturalistischen Individualismus. Der Fortschritt des theoretischen Gesellschaftsdenkens gründet im genannten Gestaltprinzip des Individualismus, und er hält an ihm fest. Seine Auslegung wird freilich alsbald zum Streitfall, sozusagen zum Streitgegenstand gelehrter Individuen. In der Folge werden auch die existentiellen Gehalte der Gesellschaft verschieden aufgefaßt und danach beurteilt. Zu den Widersachern von Hobbes gehört als erster sein Landsmann John Locke (1632–1704). Alles andere als realistisch erscheint ihm die Behauptung, daß es jenen genannten Na-
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turzustand des „Menschen“ gäbe und deswegen jene uranfängliche Herrschaft. Festzustellen ist vielmehr, daß die von Haus aus ungesellig lebenden „Menschen“ Bedürfnisse haben und unter diesen solche, die sie nur dadurch befriedigen können, daß sie mit anderen ihresgleichen übereinstimmen. Vorzugsweise bestehen diese Bedürfnisse darin, daß sie als Ergebnisse der eigenen Arbeit anerkannt und gesichert werden. Ihren Inbegriff besitzen sie in dem, was als Eigentum gilt. Um die je eigenen Güter zu schützen, gehen die Beteiligten also Beziehungen von der Art der Übereinstimmung miteinander ein. Als gesellschaftliche Form aufgefaßt, ist sie das, was Hobbes die Abtretung von „Individual“-Rechten nennt. Aber in der Lehre von Locke ist der Grund der Vergesellschaftung nicht die natürliche Begierde, die die „Menschen“ beherrscht, sondern das Recht, das sie haben, in Freiheit zu leben. Deshalb besteht das Ziel der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt nicht in der sich aus sich heraus durchsetzenden Herrschaftsordnung, sondern in der Ermöglichung, selbständige Lebensentwürfe zu verwirklichen. Bedarf es dazu des Gesellschaftsvertrages nicht mehr, kann die getroffene Übereinkunft wieder aufgehoben werden. An die Stelle des physischen Gedrängtseins des Menschen, das nach Hobbes den Grund der Gesellschaft bildet, tritt bei Locke also ein psychischer Grund. Er besteht im freien Willen des Einzelnen, also des je besonderen Menschen. Er ist es, der die „individuell“ geformte und deswegen vielfältig beschaffene Gesellschaft verwirklicht. Diese, schon aus dem optimistischen Geist der Aufklärung entwickelten Gedanken greift die sogenannte Schottische Moralphilosophie auf. Sie macht auf sich aufmerksam als eine Abfolge von hervorragenden Gelehrten. Ihre Heimat ist die politisch und konfessionell selbstbewußte Universitätsstadt Edinburgh. Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert werden in ihr Fragen der Theologie, der Erkenntnislehre, der Ethik und der Ästhetik, des Rechts und der Ökonomie traktiert. Indem man die vorliegenden Theorien der Gesellschaft aufgreift, werden ihre Lehrsätze auf die verschiedenen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz bezogen. So lehrt zum Beispiel Thomas Reid (1710–1796), daß die Form der Gesellschaft im gesunden Menschenverstand begründet ist. Deshalb besteht ihr Inhalt in der Entfaltung aller derjenigen Anlagen des „Menschen“, die nur im Umgang mit anderen „Menschen“ verwirklicht werden können. Anderer Auffassung ist David Hume (1711–1776). Er meint, daß die „Menschen“ nach dem streben, was ihnen nützt. Also verbinden sie sich aus seelischen Gründen im weitesten Sinn, weil die Vergesellung die begehrten Nützlichkeiten zu gewähren vermag. Adam Smith (1723–1776) zufolge wird die Gesellschaft durch menschliche Sympathien begründet. Sie führen zum Wohlstand aller „Menschen“ dadurch, daß sie sich arbeitsteilig bzw. im freien Austausch auf dem Markt aufeinander beziehen. Adam Fergusons (1723–1816) Blick nähert sich einem Vergleich gesellschaftlicher Verhältnisse. Denn nach seiner Meinung suchen die „Menschen“ einerseits
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aus Zuneigung das Zusammensein, andererseits jedoch aus Gründen der Sicherheit. Folglich bestehen die Gehalte der Gesellschaft in verschiedenen Zuständen. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind von Fall zu Fall zu studieren. John Millar (1735–1801) endlich betrachtet den Zusammenhang von gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Inhalt bevorzugt als rechtlich-herrschaftliches Problem. Deswegen rückt er die verschiedenen Rangordnungen, die die „Individuen“ einerseits vereinen, andererseits jedoch unterscheiden, ins Zentrum seiner Überlegungen. Die angedeutete Vielfalt der Bemühungen, den Grund bzw. die Form der individualistisch sich ausbildenden Gesellschaft zu erklären und die sie erfüllenden mannigfaltigen materiellen Güter sowie sittlichen und geistigen Werte aufzuzeigen, besitzt im Werk von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) eine erste Zusammenfassung. Von seinen gesellschaftstheoretischen Arbeiten wird zurecht gesagt, daß sie die verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen die Gesellschaft bis jetzt untersucht worden ist, zu bündeln versuchen. Folgerichtig gilt vom Ganzen der ständegesellschaftlichen Ordnung, daß sie nicht mehr ist als ein Zustand unter vielen möglichen gesellschaftlichen Ordnungen. Von ihr verschieden ist die neu zu schaffende Gesellschaft insbesondere dadurch, daß sie derjenige Stand prägt, der bis jetzt wenig geachtet und deswegen summarisch als der Dritte Stand bezeichnet wird. Ihre Errichtung ist ein Werk des Willens der menschlichen Individuen, wie es ausdrücklich heißt. Denn dieser Wille ist zum ersten der je eigene Wille eines „Menschen“. Durch ihn erstrebt er das je Seinige. Zweitens ist der Wille aber auch der allgemeine Wille eines „Menschen“. Er weiß, daß er sich auf die Einheit der Natur und der Kultur des „Menschen“ zu richten hat. Denn wie insbesondere die jüngste Geschichte lehrt, erweist die überkommene gesellschaftliche Existenz-Gestalt sich kulturell als von der Natur entfremdet. Die Kultur des Adels wie die der Geistlichkeit sind morbid. Das Mittelalter ist dem Untergang geweiht. Die verteidigte Kultur widerstreitet dem natürlichen Wesen des „Menschen“. Indem, wie es leichthin heißt, der Mensch zum Bürger wird, zum citoyen im Gegensatz zum bourgeois, also zum Gesellschaftswesen, entfaltet er sich wahrhaft zum Menschen. In dieser gesellschaftlichen Existenz ist die menschliche Existenz in Freiheit und Gleichheit verwirklicht. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages beantwortet die Frage, vor die Rousseau sich gestellt sieht: „,Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gemeinschaftsmitgliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?‘ Dies ist die Hauptfrage, deren Lösung der Gesellschaftsvertrag gibt.“61 Ob Rousseau die Frage nach dem Wesen der Gesellschaft bzw. 61 Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762), (Edition Reclam), Stuttgart 1958, S. 43.
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wenigstens nach dem Wesen der neuen, der bürgerlichen Gesellschaft, vernünftig erfaßt und beantwortet hat, war schon zu seinen Lebzeiten umstritten, und das ist bis heute der Fall. Zu denken gab und gibt jedenfalls die Erläuterung der im Mittelpunkt seiner Lehre stehenden Meinung von der freien Entfaltung des „Menschen“ zum Bürger, durch welche er sich zum sittlich vollkommenen Menschen entwickelt. Begabt, wie Rousseau ist, erkennt er die Kehrseite seines Lehrstücks, sofern er nicht der Meinung ist, daß sein zweiter Satz vor seinem ersten verwirklicht sein muß. Man sollte den Widerspruch zu seinem Spruch sich wieder einmal ins Gedächtnis rufen: „Damit . . . der Gesellschaftsvertrag keine leere Form sei“, so sagt er, „enthält er stillschweigend folgende Verpflichtung, die allein den übrigen Kraft gewähren kann; sie besteht darin, daß jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden soll; das hat keine andere Bedeutung, als daß man ihn zwingen werde, frei zu sein. Denn die persönliche Freiheit ist die Bedingung, die jedem Bürger dadurch, daß sie ihn dem Vaterlande einverleibt, Schutz gegen jede persönliche Abhängigkeit verleiht, eine Bedingung, die die Stärke und Beweglichkeit der Staatsmaschine ausmacht . . .“62 Mit Gedanken solcher Art verläßt Rousseau das theoretische Denken der Gesellschaft der „Individuen“. Sofern er sich dadurch nicht als Phantast erweist bzw. als einer der ersten gesellschaftlichen Doktrinäre63, verwandelt sich unter der Hand die Theorie der Gesellschaft der „Individuen“ in eine Theorie der Gesellschaft als eine „Ganzheit“. Über sie ist im folgenden zu sprechen. Zuvor ist festzuhalten, daß das in der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Ständeordnung offenkundig werdende theoretische Denken der Gesellschaft sich zwar als ein Erkennen der „individuellen“ gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ begründet und entfaltet, daß es jedoch alsbald im Gegensatz hierzu als ein gesellschaftliches Denken sich entwickelt, das das „menschliche“ Zusammensein „ganzheitlich“ begreift. Die offenkundig werdende Theorie der Gesellschaft ist nicht eindeutig. Sie ist von Grund auf mehrdeutig. Hat das theoretische Gesellschaftsdenken mit der Moderne wohl das Bewußtsein seiner selbst erlangt, so hat es jedoch keineswegs die Gesellschaft im sozialen Sinn gefunden, auf die die Theorie sich in ihrer Absicht richtet. Zwischen den Arbeiten von Rousseau und der französischen Revolution vergeht nur eine kleine Weile. In diesem Umbruch vollzieht sich die Auflösung der ständegesellschaftlichen Ordnung im äußerlich-förmlichen Sinn, mag sie als Gewohnheit mit ihrer prägenden Kraft auch in der ihr folgenden Epoche noch lange lebendig bleiben. Den Geist und das Leben der Zeit bestimmt die bürgerliche Welt. Sie ist der geschichtlich bedeutungsvolle Versuch, die humane Exi62
Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (1762); a. a. O., S. 48. Vgl. zur Kritik an Leben und Werk von Jean-Jacques Rousseau die aus dem Geist des sozialen Denkens der Gesellschaft verfaßte Untersuchung von Werner Ziegenfuß, Jean-Jacques Rousseau. Eine soziologische Studie, Erlangen 1952. 63
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stenz als „Einzelwesen“ und als „Gesellschaftswesen“ zusammenzubinden.64 So jedenfalls ist es üblich, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse zu kennzeichnen. Zugespitzt werden sie als die Verhältnisse der „ungeselligen Geselligkeit“65 bezeichnet, um die heikle Gestalt dieser Gesellschaft beim Namen zu nennen. Also ist von besonderem Interesse, was die Gesellschaft eigentlich zusammenhält. Wie wir heute wissen, ist es ein eigentümliches Verständnis des geistigen wie des sittlichen Lebens. In seinem Wesen ist es dem Herkommen entnommen und nach den Umständen zeitgemäß abgewandelt oder, deutlicher gesagt, entsubstantialisiert. Sich an die ehedem transzendent gebundene und dadurch sittlich verpflichtete Person erinnernd, spricht die praktische Vernunft der bürgerlichen Welt von den transzendentalen Bedingungen insbesondere der sittlichen Erkenntnis und in der Folge vom „Individuum“ als einer Person, die nicht „bloß als Mittel gebraucht werden“ darf, sondern immer „Zweck an sich selbst ist“66. Einerseits mit scharfem Verstand gesagt wie andererseits in einem einleuchtenden, weil bis heute erlebnisfähigen Bild zum Ausdruck gebracht, benennt Arthur Schopenhauer (1788–1860) als Beobachter seiner Zeit die ungesellige Geselligkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts wie folgt: „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“ – „So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: ,Keep your distance!‘ – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.“ – „Wer jedoch viel eigene innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen.“67
64 Zu den positiven und den negativen Merkmalen der bürgerlichen gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz vgl. beispielsweise Werner Ziegenfuß, Die bürgerliche Welt, Berlin 1948, S. 81 f. 65 So Immanuel Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) in: ders., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, (Edition Meiner), Hamburg 1959, S. 9. 66 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), (Edition Meiner), Hamburg 1974, S. 102. 67 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Zweiter Band (1851), Zürich 1988, S. 559 f.
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Der drastisch-eindeutige Aphorismus, durch den Schopenhauer das Wesen der Gesellschaft der „Individuen“ veranschaulicht, endet mit einem überraschenden Satz. In ihm ist ausgesprochen, was die „individuelle“ Gesellschaft von innen her in Frage stellt. Schopenhauers Einsicht ist denkwürdig genug. Denn das, was sie meint, scheint das theoretische Denken der Gesellschaft bis heute nicht recht begriffen zu haben. Für dieses Denken in seiner herrschenden Gestalt ist nämlich, wie erwähnt, ausgemacht, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt des „Menschen“ immer und überall sich findet, sofern der „Mensch“ als dieser nicht in jeder Hinsicht ein gesellschaftliches Wesen ist. Ahnungsvoll widersetzt Schopenhauer sich dieser Meinung. Die Beiläufigkeit ebenso wie die Eleganz seiner Rede mögen dazu verleitet haben und bis heute dazu verleiten, anzunehmen, daß jener Schluß nicht mehr ist als eine Zusammenfassung seines Aphorismus. Man sollte seinen Satz deswegen noch einmal lesen! Begreift man ihn nachdenklich, erkennt man seine Substanz. Sie besteht in dem Urteil, daß der Mensch, also das sogenannte Individuum, sofern es „viel eigene innere Wärme hat“, d.h. sofern der Mensch als sittliche Person selbständig existiert, am besten allein existiert, also als er selbst. Mit dieser Erkenntnis ist nicht weniger zum Ausdruck gebracht als eben dies: Daß das menschliche Individuum bzw. der Mensch als Person dann „keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen“ Veranlassung hat, wenn diese Existenz geschieden von aller Vergesellschaftung lebt. Das heißt des näheren, daß sie frei ist. Das ist zum ersten der Fall gegenüber anderen Individuen bzw. Personen und unter ihnen insbesondere gegenüber jenen, die so leben, wie man selbst, nämlich allein. Mit ihnen kann diese Existenz Beziehungen aufnehmen, die nach ihrem Willen gestaltet sind, oder auf diese Beziehungen verzichten. Zum zweiten ist das Individuum frei gegenüber jener Gesellschaft der „Individuen“. Von ihr vermag es fern zu bleiben oder, wenn der Sinn ihm danach steht, sich in jene „mittlere Entfernung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begeben, um sich ihrer zu erfreuen. Klar bestimmt Schopenhauer damit die Gesellschaft der ungeselligen Geselligkeit als diejenige gesellschaftliche Wirklichkeit, die dadurch ausgezeichnet ist, daß sie in einem immerwährenden Hervorgebracht- und Aufgelöstwerden besteht. Die aus der Überwindung der organischen gesellschaftlichen Existenz des Mittelalters geborene Existenz der Gesellschaft der „Individuen“ ist eine Gesellschaft in der Grenzsituation ihres Bestandes. IV. Die Gesellschaft als ein „menschliches Ganzes“
Es mag dahingestellt sein, ob das theoretische Denken der Gesellschaft, das die Umgestaltung der mittelalterlichen Ständeordnung in die Gesellschaft der „individuellen“ Existenzen bewirkt und diese Gesellschaft ausgestaltend begleitet, auch die genannten Folgen erfaßt oder zumindest erahnt hat. Tatsache ist jedoch, daß die offenkundig werdende Theorie der Gesellschaft im Erkennen-
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wollen der sogenannten individuellen gesellschaftlichen Existenz des Menschen sich nicht erschöpft, sondern alsbald eine gesellschaftliche Denkweise ausbildet, die ihrem eigenen Ausgang sich gleichsam entgegensetzt. Diese Entgegnung geschieht dadurch, daß die gesellschaftliche Theorie in sich ein Denken entfaltet, das im Gegensatz zum zuerst genannten „einzelnheitlichen“ Denken als „ganzheitliches“ Denken der Gesellschaft benannt zu werden pflegt. Wie jenes hat es den „Menschen“ als Gesellschaftswesen im Auge, aber es begreift ihn anders. Zielt das erste Erkennen auf die besondere, d.h. auf die singuläre gesellschaftliche Existenz, so meint die zweite die allseitige oder die komplexe Existenz des Menschen als Gesellschaftswesen. Führt jene schließlich zu Lebensverhältnissen in der Gestalt des Individualismus, so diese zu solchen in der Gestalt des Sozialismus. Darüber, daß der Individualismus diejenige geschichtlich wirksame Kraft ist, die den epochalen Wandel von der Stände- zur Bürgergesellschaft heraufgeführt hat, kann es keinen Zweifel geben. Das Erahnen, wenn nicht das Wahrnehmen der Ungeselligkeit der neuartigen Gesellschaft läßt jedoch ohne Zögern die „ganzheitliche“ gesellschaftliche Erkenntnisgestalt entstehen. Im theoretisch-eigentümlichen Sinn ist sie deswegen gleichursprünglicher Natur. Andererseits ist es richtig, daß die Zeitumstände das Offenkundigwerden des theoretischen Gesellschaftsdenkens sie überdecken. Jedenfalls ist sie zunächst erkennbar nur als ein hintergründiges Betrachten der Gesellschaft. Es besteht darin, daß es das dem neuen, gestaltungsmächtigen „individuellen“ Denken der Gesellschaft entgegengesetzte „ganzheitliche“ Denken ins Auge faßt, also irgendwie wieder zur Geltung bringt. Von diesem unaufdringlichen Ausgangspunkt aus entfaltet sich das „Ganzheits“-Denken der Gesellschaft zu einer schließlich klar umrissenen theoretischen Erkenntnisweise. Spätestens seit der Heraufkunft des 19. Jahrhunderts tritt sie machtvoll neben jenes Denken, das die Gesellschaft als eine Gesellschaft von „Individuen“ begreift. Energisch verlangt das Denken der Gesellschaft im „Ganzen“, einzusehen, daß die bürgerliche Welt nur eine besondere Ausgestaltung der ganz und gar vergesellschafteten humanen Existenz darstellt. Worauf es ankommt, ist, diese Gesellschaft in ihrer umfassenden Beschaffenheit zu begreifen, d.h. die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ in ihrer „Ganzheitlichkeit“. Den Beginn des theoretischen Denkens der Gesellschaft im umfassenden Sinn, also in demjenigen, der ihrer „menschlichen“ oder genauer, ihrer singulären Bestimmtheit entgegensteht, bilden vermutlich die gesellschaftsphilosophischen Ausarbeitungen im Werk von Baruch de Spinoza (1632–1677). Einerseits zurückbezogen auf die individualistische Philosophie von Thomas Hobbes, besitzen sie andererseits ihren Grund in den eigenständigen Einsichten in das Sein und das Erkennen des „Menschen“. Sind seine Theologisch-Politischen Traktate von 1670 und sein unvollendet gebliebener Politischer Traktat von 1677, in denen Spinoza sich mit der Frage der Herrschaftsausübung bzw. der Staatsverfassung und damit auch des gesellschaftlichen Lebens auseinandersetzt, dem
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Geist von Hobbes verpflichtet, so kehren sich seine Ansichten zunehmend von ihm ab, um einer das Gegenteil betonenden Überzeugung Platz zu machen. Sie findet sich in seiner Ethik von 1677 formuliert. Zurecht erkennt man in ihr eine metaphysische und erkenntniskritische Anleitung zu einem glücklichen Leben des „Menschen“ durch die Meisterung seiner Affekte. Aufgrund ihres umfassenden Charakters und der Art ihrer „geometrischen“, d.h. ihre Gegenstände mathematisch ausmessenden Darstellung, faßt man sie unter dem Namen Spinozismus zusammen. Dieser Spinozismus lehrt, daß alles, was ist, als Einheit besteht. Die ihrem Sein nach unterschiedslos und aus sich heraus vorhandene Gesamtwirklichkeit ist ihrem Wesen nach ein göttlicher bzw. ein natürlicher Selbstand. In der Folge besagt diese Wesensbestimmung, daß der Selbstand unendlich viele Eigenschaften besitzt. Freilich sind uns von ihnen nur zwei bekannt. Das ist die Eigenschaft des Denkens und die Eigenschaft der Ausdehnung. Mit dem Göttlich-Einen und unter sich weltlich Dasselbe, sind sie nur als Ausdruck etwas Verschiedenes. Das Verschiedene zeigt sich in den Erscheinungen. Je nach der Art und Weise, in der das Denken und die Ausdehnung bestehen, sind sie verschieden. Von den Erscheinungen des „Menschen“ gilt, daß er das Denken im Modus der Seele und die Ausdehnung im Modus des Körpers besitzt, wobei ihre Einheit in einem Parallelismus besteht. Weil diese Beschaffenheit die Beschaffenheit aller „Menschen“ ist, besitzt sie auch der einzelne „Mensch“. Hieraus ergibt sich im geläufigen Sinn, daß er wesentlich als eine notwendige Folge des notwendigen göttlichen Selbstandes existiert. Diese all-ein-heitliche Auffassung des Seienden bzw. des „Menschen“ veranlaßt Spinoza zu der Behauptung, „daß die menschliche Seele ein Teil des unendlichen Verstandes Gottes ist. Wenn wir daher sagen, die menschliche Seele nimmt dieses oder jenes wahr, so sagen wir nichts anderes, als daß Gott, . . . sofern er die Wesenheit der menschlichen Seele ausmacht diese oder jene Idee habe“. Diesem Existieren des einzelnen „Menschen“ gemäß der ihm zukommenden göttlichen Idee, also seine Existenz schlechthin, entspricht seine „einzelne“ Existenz mit anderen „einzelnen“ Existenzen als Idee, d.h. als Erzeugnis der Gesellschaft. Ihr zufolge ist der „Einzelne“ ein Teil des menschlich-gesellschaftlichen „Ganzen“. Der gesellschaftlich existierende „Mensch“ befindet sich deswegen in keinem „individuellen“, sondern in einem „partiellen“ Zustand. Er ist der „unselbständige“ Teil der „selbständigen“ gesellschaftlichen „Ganzheit“. Spinoza mag gespürt haben, daß er mit dieser Lehre dem Geist seiner Zeit – und darüber hinaus der Natur der humanen Existenz überhaupt – nicht gerecht wird. Also wirbt er darum, für sie Anhänger zu gewinnen. Das ist der Grund, aus dem er dem Lehrsatz, aus dem eine Passage zitiert wurde, eine Anmerkung hinzufügt. Ihr Ziel ist es, verständlich zu machen, daß das „Individuum“ keineswegs seine Eigenständigkeit des Denkens und seine Freiheit des Willens verliert, wenn es nur der Anweisung zur tugendhaften Selbsterhaltung folgt, wie
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Spinoza sie erteilt. Sie besteht in der Liebe zum Menschen und schließlich in der Liebe zu Gott. Diese ist die höchste der dem Menschen erreichbaren Seligkeiten. In diesem Sinn bemüht er sich um die Zustimmung zu seiner All-Einheits- bzw. Teil-Ganzheits-Lehre wie folgt: „Hier werden meine Leser ohne Zweifel stocken, und es wird ihnen mancherlei einfallen, was dem im Wege steht; und darum richte ich an sie die Bitte, langsam mit mir weiterzugehen, und nicht eher ein Urteil hierüber zu fällen, als bis sie alles durchgelesen haben.“68 Wie man weiß, hat seine Zeit und das ihr folgende Jahrhundert sich seinem Ansinnen verweigert. Sowohl im Allgemeinen, d.h. als Metaphysik und als Erkenntnislehre, wie im Besonderen, d.h. als Ethik und als Anthropologie bzw. als Gesellschaftstheorie wurde der Spinozismus abgelehnt, wenn nicht verfolgt. Drei oder sogar vier Generationen verstrichen, bis er wirksam wurde, und das nicht als Gesellschafts-, sondern als Religions- und als Naturphilosophie. Sein prägender Einfluß auf die Weltanschauung Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832), auf die Glaubenslehre Friedrich Ernst Daniel Schleiermachers (1768–1834) und auf die Identitätsphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775–1854) sollte nicht unerwähnt bleiben. Zu unterscheiden von diesem Zusammenhang ist der unauffällige Übergang von der offenkundig gewordenen Theorie der Gesellschaft als einer Theorie der „Individuen“ zu einer Theorie im „Ganzen“. In dieser Hinsicht ist der wissenschaftliche Lebenslauf von Spinoza von erstrangiger Bedeutung. Denn es findet sich aus jener Zeit kein anderes Lebensgeschick, in dem das genannte Hinüberwechseln greifbarer ist. Von Spinozas gesellschaftlichen Gelegenheitsarbeiten individualistischer Natur führen seine Bemühungen zur Ethik als der von ihm ausgestalteten Philosophie. Sie enthüllt als theoretisches Erkennen der Gesellschaft das „menschliche“ Verbundensein als etwas „Ganzheitliches“. In Spinozas Philosophie wird das betrachtende Begreifen der Gesellschaft in der Form der Gesellschaft der „Individuen“ ergänzt und schließlich in Frage gestellt durch das betrachtende Begreifen der Gesellschaft in der Form des „Ganzen“. Dieser Wechsel im Denken des gesellschaftlichen Seins bedeutet nicht weniger als die Theoretisierung der seit alters her begründeten und entfalteten Lehre vom Sollen des Menschen als Existenz in der Form des Organismus bzw. des Großen Menschen. Die Philosophie Spinozas überführt die in diesen Lehren geleistete Seinserkenntnis aus dem Verborgenen ins Offenkundige. Daß den Zeitgenossen Spinozas und deren nächsten Nachfolgern dieses „ganzheitliche“ theoretische Gesellschaftsdenken fremd bleibt, weshalb sie es weitgehend ablehnen, ist als Tatsache zur Kenntnis zu nehmen.
68 Baruch de Spinoza, Die Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt (1677), (Edition Meiner), Hamburg 1976, S. 60 f.
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In der geschichtlichen Folgezeit verharrt das offenkundig gewordene theoretische Denken der Gesellschaft im „Ganzen“ in einem Zustand des Schlummers. Den Grund für dieses Verbleiben in der Möglichkeit des Erkennens, erblickt man zurecht im aufklärerischen Geist des 17. und des 18. Jahrhunderts. Er kommt der „ganzheitlichen“ Seinsbetrachtung nicht entgegen, sofern nicht festzustellen ist, daß er ihr überhaupt widerspricht. Erst dadurch, daß die Ziele und die Leistungen der Aufklärung in Frage gestellt werden, vermag sie auf sich aufmerksam zu machen und schließlich sich durchzusetzen. Im geschichtlichen Fortgang bewirkt diesen Wandel vor allem jene geistige Bewegung, die – zumal in Deutschland – als Romantik die Aufklärung verdrängt. Zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Kraft entfaltend, erweist sie sich als ein vielgestaltiges und bisweilen auch schillerndes Gebilde. Zu seinem Bestand gehören die religiöse Besinnung insbesondere auf die katholische Gläubigkeit ebenso wie ein der Tradition verpflichtetes Philosophieren und Betreiben der Wissenschaften einerseits und die Pflege der schönen Künste und der Literatur andererseits. Über diese geistige Regsamkeit hinaus begreift das Romantische sich zweifellos auch in einem allgemeinen Sinn, also als Lebensstil. Ihn prägt das, was die menschliche Innerlichkeit ausmacht. Versucht man, die romantische Auffassung der gesellschaftlichen ExistenzGestalt der humanen Existenz zu ermitteln, so sind in einem ersten Zugang wohl die folgenden Erfahrungen zu nennen, von denen ihre theoretische Erkenntnis sich leiten läßt: Zum ersten ist das romantische Denken davon überzeugt, daß es sich nicht so sehr des unterscheidenden Verstandes und der allgemeinen Begriffe bedienen sollte, sondern der Vernunft und der Einbildungskraft. Sie gebieten, die Gesellschaft als einen Zusammenhang des Lebens zu verstehen. Zum zweiten: Da Leben ein Wirken von innen heraus besagt, kennzeichnet es alle Wesen, die als Organismen existieren. Diese lebendigen Gefüge gibt es als natürliche und als geistige Ganzheiten. Der „Mensch“ und die Werke des „Menschen“ sind organische Einheiten, die den Gegensatz von Natur und Geist umfassen. Dieses Verständnis der Realität veranlaßt die Romantiker, die humane Existenz neu zu sichten. Begeistert wenden sie sich den gewachsenen und lebendigen Existenzzusammenhängen im Menschenleben zu. Sie reichen vom Verbundensein als Volk bis zur Einheit des Menschengeschlechts. In ihrer Betrachtung verdient, drittens, ihr Gewordensein besondere Aufmerksamkeit. Damit ist der Zugang zu ausgreifenden geschichtlichen Studien eröffnet. In wahrer Entdeckerfreude wendet die Romantik sich insbesondere dem Geist und dem Leben des Mittelalters zu. In dieser Weise also anschaulich denkend, den Lebenszusammenhängen in ihrer gegliederten Ganzheit zugewandt und der Erforschung des geschichtlichen Geschehens verpflichtet, entfaltet eine große Zahl romantischer Gelehrter facettenreich die Theorie der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ im „Ganzen“.
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Einer der ersten unter jenen Männern ist der Bergbauingenieur, Philosoph und Theologe Franz von Baader (1765–1841). Früh fällt ihm das Mißverhältnis auf, das sowohl im Auskommen wie in intellektueller Hinsicht zwischen den Proletairs und den besitzenden Klassen sich ausbildet. Auf die Gesellschaft im Ganzen schauend, begreift er das Mißverhältnis als „soziale Frage“, d.h. als Problem der theoretisch zu ergründenden Gesellschaftsgestaltung. Gegenwartsgeschichtliche Befunde wie die genannten, veranlassen den Schriftsteller und Sprachforscher Friedrich von Schlegel (1772–1829), darüber nachzusinnen, welches wohl die letzten Bestimmungen der humanen Vergesellschaftung sind. Sie als jeweils organisch-individuell bestehende Ganzheiten auffassend, versucht er eine gesellschaftliche Kategorienlehre zu entwickeln. Nach ihr sind die Urmodi jeder Gesellschaft die Gemeinschaft, die Gleichheit und die Freiheit der „Menschen“. Was solchermaßen kategorial geschieden erkannt wird, findet sich in der humanen Wirklichkeit in einer „unendlichen Mischung“. Ihr wendet sich der Rechtsgelehrte Adam Heinrich Müller (1779–1829) zu. Indem er allem gesellschaftlichen Vertragsdenken widerspricht und damit den Individualismus verwirft, versucht er, einen werthaft begründeten, die „Totalität des gesamten Lebens“ umfassenden gesellschaftlich-staatlichen Universalismus zu begründen. Daß das angedeutete theoretische Denken der Gesellschaft im „Ganzen“ in seiner romantischen Gestalt bis weit ins 19. Jahrhundert hineinreicht, belegt das Werk des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897). Zunächst volkskundlich orientiert, untersucht er später die bürgerliche Gesellschaft im Sinn eines Volkskörpers. Er gliedert sich seiner Auffassung nach in die statischkonservativen Stände, d.h. in die Aristokratie und die Bauernschaft, in die dynamisch-fortschrittlichen Stände, d. s. die Bürger in Stadt und Land, und in das Proletariat, d.h. in den sogenannten vierten Stand. In seinen Arbeiten über das gewandelte Schicksal der Familie in der bürgerlichen Gesellschaft bringt er seine ethischen bzw. seine politischen Ziele zum Ausdruck. Daß diese Absicht allem theoretischen Denken der Gesellschaft im „Ganzen“ bald mehr, bald weniger nahe liegt, darf abschließend bemerkt sein. Wenn auch zur selben Zeit, so doch jenseits des romantischen Denkens erhebt sich die Gedankenwelt des sogenannten Deutschen Idealismus. Kühn türmt sich dieses geistige Hochland auf. Seinen gewaltigsten Gipfel dürfte es in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) besitzen. Ihren Gehalt an dieser Stelle angemessen auch nur zu skizzieren, kann nicht gelingen. Nicht mehr ist möglich als der Versuch, aufzuzeigen, in welchem Sinn die Philosophie Hegels unter anderem auch eine Theorie der Gesellschaft im „Ganzen“ enthält, eine gesellschaftliche Ganzheitstheorie, die bis heute schicksalhaft fortwirkt. Wie es scheint, läßt sich der Zugang zu ihr am ehesten wohl dadurch gewinnen, daß man die Phänomenologie des Geistes ins Auge faßt, ein Werk Hegels von schlüsselhaftem Charakter in dem von ihm vorgelegten System der Wissenschaft. Denn diese Schrift ist einerseits derart abgeschlossen, daß sie es
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gestattet, Hegels Theorie der Gesellschaft in den Grundzügen kennenzulernen, wie sie andererseits den Geist seines Gesamtwerkes erahnen läßt, auf den diese Theorie unverzichtbar bezogen ist, ein Gesamtwerk übrigens, das ganz und gar in sich zu ruhen scheint. Im genannten Werk lehrt Hegel, daß, zum ersten, die Realität in dem besteht, was man Geist nennt. Zum zweiten ist es das Schicksal dieses Geistes, sich selbst fremd zu werden. Er gerät deswegen in seine Entzweiung. Um sich mit sich wieder zu versöhnen, erfüllt, drittens, der Geist sich in seiner Geschichte: Als absolutes Wissen kommt er zu seinem Ende. Eine der bekanntesten Auslegungen dieser Lehre von der „Erscheinung des Geistes als Geschichte“ durch Hegel selbst lautet wie folgt: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat ist, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist.“69 Insofern die Endzeit angebrochen ist, übersieht Hegel den Grund, den Verlauf und die Vollendung der Realität. Deswegen kann er die Stufen benennen, über die hinweg der Geist von seinem Anfang an auf dem Weg zu seiner Wahrheit sich verwirklicht. Am Urbeginn ist er nichts anderes als Bewußtsein. Indem er sich über dieses hinaus erhebt, entwickelt er sich zum Selbstbewußtsein. Dieses überwindend, bildet er sich aus zur Vernunft. Sich in Stufen entfaltend, wird sie zum Geist. Die Entwicklung wiederum seiner gestuften Abfolge erhebt ihn zur Religion. Sie überbietend, findet der Entwicklungsgang des Geistes sein Ende im absoluten Wissen. In späteren Schriften, insbesondere in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, hat Hegel die Entwicklung des Weltgeistes von der Stufe des Geistseins zur Stufe des absoluten Wissens des näheren bestimmt. Diesen Kennzeichnungen zufolge besteht die erste Stufe der zum Geist gewordenen Vernunft als subjektiver Geist. Über sie hinausdrängend, wird dieser zum objektiven Geist. Indem er sich weiterentwikkelt, wird er zum abstrakten Recht, dieses übersteigend zur begrenzt geltenden Moralität und diese wiederum übersteigend zur allgemein vollzogenen Sittlichkeit. Fortschreitend entfaltet sie sich zunächst zur Familie, dieser nachfolgend zur bürgerlichen Gesellschaft und schließlich zum Staat. Indem der Geist auch über den Staat hinausdrängt, wird er zum Geist der Kunst, sodann zu dem über ihn hinausreichenden Geist der geoffenbarten Religion und endlich zum Geist der Philosophie. In ihr erfüllt der Geist sich als absolutes Wissen. Die Realität derart als geschichtlich-geschehenden Geist begreifend, spricht Hegel stets über das Ganze. Es besteht im jeweiligen, von ihm erfüllten Bestand. Er versteht sich als das konkrete Entwicklungsmoment in seinen Bezügen zu allen Entwicklungsmomenten des Geistes der Weltgeschichte und unter diesen besonders zum letzten Moment, also zu dem, in dem der Geist seine Er69 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), (Edition Meiner), Hamburg 1955, S. 21.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
füllung findet. Hegel spricht nicht abstrakt über Abschnitte der Menschen- und Naturgeschichte und über den Zeitgeist, der ihnen eigentümlich ist. In seiner Untersuchung über Die Vernunft in der Geschichte faßt er seine gegensätzliche Überzeugung wie folgt zusammen: „Die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt. Die Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheiten ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft. Diese Stufen zu realisieren, ist der unendliche Trieb des Weltgeistes, sein unwiderstehlicher Drang; denn diese Gliederung, sowie ihre Verwirklichung ist sein Begriff.“ – „Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit kommt; es dämmert in ihm, er findet Hauptpunkte, am Ende gelangt er zum vollen Bewußtsein. Über den Endzweck dieses Fortschreitens haben wir uns oben erklärt. Die Prinzipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge sind selbst nur Momente des einen allgemeinen Geistes, der durch sie in der Geschichte sich zu einer sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt.“70
Zahlreich sind die Nachfolger Hegels, die das Denken der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, das seine Philosophie enthält, sich zueigen machen und darum bemüht sind, es fortzuentwickeln. Um ihm ihre volle Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, lösen sie es jedoch aus dem metaphysischen System Hegels heraus, was zur Folge hat, daß die Einheitsbezüge der ursprünglichen Theorie der Gesellschaft in den Hintergrund treten, sofern sie nicht überhaupt fallengelassen werden. So ist zum ersten festzustellen, daß die „Gesellschaft“, die bei Hegel ein Durchgangsmoment des Werdeganges des Geistes ist, näherhin des objektiven Geistes, zunehmend gegenständlich aufgefaßt wird, also als ein der Geschichte des Geistes gegenüber unbestimmter, aber in sich irgendwie gefügter Bestand. Als dieser besteht er – jetzt wiederum Hegel zur Geltung kommen lassend – als die gesellschaftliche Ganzheit. Das ist das in der Zeit bzw. in der gegenwärtigen Zeit bestehende „menschliche“ Lebensganze. Von ihm heißt es – wiederum Hegel folgend –, daß es sich in seine drei Grundgestalten ausgliedert, nämlich in die Familie, in die bürgerliche Welt und in den Staat. Von ihnen gilt, daß sie ihren Gehalten entsprechend bald mehr als eine in sich entzweite, bald mehr als eine mit sich versöhnte gesellschaftliche Wirklichkeit bestehen. Die Angehörigen der Gesellschaft leben in ihr deswegen einerseits als gesellschaftlich unerfüllte, d.h. als „individuelle“ Existenzen, andererseits als gesellschaftlich erfüllte, d.h. als „gliedhafte“ Existenzen. Mit dem Gewicht seiner angestrengten Begrifflichkeit bestimmt Hegel die genannten Grundgestalten wie folgt. „Die Familie“, so ist zu lesen, „hat als die unmittel-
70 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I. Die Vernunft in der Geschichte (1830), (Edition Meiner), Hamburg 1955, S. 75.
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bare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung . . .“ Deswegen besitzt der Geist in ihr „das Selbstbewußtsein seiner Individualität in dieser Einheit als an und für sich seiender Wesentlichkeit . . .“ Hieraus folgt für die Angehörigen der Gesellschaft in der Familie, daß sie „nicht als eine Person für sich, sondern als Mitglied“ in ihr leben.71 Vermag die Familie den Individualismus also zu beherrschen, so ist die auf sie folgende gesellschaftliche Stufe denkbar gegensätzlich beschaffen. Die Angehörigen der Gesellschaft sind, sofern sie als Bürger existieren, nichts anderes als vertragschließende, d.h. egoistische „Individuen“. Diesen Entzweiungszustand kennzeichnet Hegel, indem er zwischen den Zwecken und den Mitteln der „Individuen“ und der zwischen diesen waltenden Vermittlung unterscheidet, wie folgt: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt.“72 Diese sich fremd gewordene, was besagt: Als bürgerliche noch in irgend einem sozialen Sinn bestehende gesellschaftliche Existenz-Gestalt vermag sich jedoch fortzubilden, um sich mit sich zu versöhnen. Diese Versöhnung gelingt den Angehörigen der Gesellschaft in ihrer staatlichen Existenz. Hegels immer wieder gewendetes und bis heute umstrittenes Urteil lautet wie folgt: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens . . . das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“ – „Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; ihre weitere besondere Befriedigung, Tätigkeit, Weise des Verhaltens hat dies Substantielle und Allgemeingültige zu seinem Ausgangspunkte und Resultate.“73 Der wirkmächtigste Schüler Hegels ist sicher Karl Marx (1818–1883). Er übernimmt das Gesellschaftsdenken bzw. die in der Folge seiner von ihm mitbewirkten Auslegung umgestaltete Theorie der Gesellschaft im formalen Sinn. Auch für Marx besteht die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz als ein Ganzes. Der „Mensch“ ist nichts anderes als „das Ensemble der 71 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), (Edition Meiner), Hamburg 1955, S. 149. 72 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie. Teil I. Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, hrsg. von Alfred Baeumler, (Edition Herdflamme), Jena 1927, S. 717. 73 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), (Edition Meiner), Hamburg 1955, S. 208.
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gesellschaftlichen Verhältnisse“74. Befindet dieses Ensemble sich im Einklang mit seiner Gesellschaft, dann lebt es mit sich versöhnt. Es existiert als sozialistische Existenz. Befindet der „Mensch“ sich jedoch im Widerstreit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, dann lebt er bloß als ein für sich seiender „Mensch“. Diese „individuelle“ Existenz ist ein „Menschsein“ im Zustand seiner Entfremdung. Von dieser formalen ist die materiale Existenz des „Menschen“ unterschieden. Wie sehr Marx hinsichtlich der Form der Gesellschaft Hegel zustimmt, so sehr widerspricht er ihm in der Bestimmung des Gehaltes der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Nicht der Geist ist es, der das Leben erfüllt, sondern sein Gegenteil, die Materie, lautet Marxens Behauptung. Deswegen gibt es wohl eine Weltgeschichte, aber sie besteht im Vollendungsgang der Materie. Dieser Gang ereignet sich als der voranschreitende Kampf zwischen den zu Klassen zusammengeballten wirtschaftenden „Menschen“. Seine Auffassung über die Form der Gesellschaft einerseits und über ihren Inhalt andererseits hat Marx verschiedentlich zusammenfassend dargestellt. Eine dieser Zusammenfassungen lautet wie folgt: „Der vorliegende Gegenstand ist zunächst die materielle Produktion. In Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt. Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts. Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überfeinerungen und Rückkehr zu einem mißverstandenen Naturleben ausdrücken. So wenig wie Rousseaus contrat social, der die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dies Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der ,bürgerlichen Gesellschaft‘, die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten, begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehn, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt, einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andrerseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangene sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das Naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehndes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen gewesen. Je tiefer wir in die Geschichte zurückgehn, je mehr erscheint das Individuum – daher auch das produzierende Individuum als unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und in der zum Stamme erweiterten Familie; später in dem aus dem 74 Karl Marx, Die Deutsche Ideologie. A. Thesen über Feuerbach (1845/46), in: ders., Die Frühschriften, Stuttgart 1953, S. 340.
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Gegensatz und Verschmelzung der Stämme hervorgehnden Gemeinwesen in seinen verschiednen Formen. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist grade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zo¯on politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagnen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.“75
Blickt man auf den Fortgang des Offenkundigwerdens des theoretischen Denkens der Gesellschaft, kann man feststellen, daß die Theoretiker der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz damit beginnen, sich aufeinander zu beziehen. Sahen sie sich bisher vor die Aufgabe gestellt, aus der Erkenntnis des gesellschaftlichen Sollens das gesellschaftliche Sein herauszulösen und es, so gut dies gelingen mochte, auch zu bestimmen, so begleitet dieses Bemühen zunehmend ein Nachdenken über die Art und den Ertrag dieser theoretischen Arbeit. Die Theorie der Gesellschaft wird reflexiv. Die derart sich ändernde Betrachtung der Gesellschaft läßt sich beispielsweise durch den Text belegen, der soeben zitiert wurde. Marx begnügt sich nicht damit, die Form der Gesellschaft als „ganzheitliche“ oder, wie es jetzt gern wieder heißt, als organische Form76 aufzuweisen. Ihm liegt daran, in aller Deutlichkeit verständlich zu machen, wie sehr sich seine Auffassung von derjenigen anderer Theoretiker unterscheidet. Naturgemäß wendet er sich mit seiner Bestimmung der Form der Gesellschaft insbesondere gegen diejenigen Ansichten der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“, denen zufolge sie als eine Einheit von Beziehungen zwischen ihren „Individuen“ besteht. Als Autoren, die diese Meinung besitzen, werden im zitierten Text die Namen Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith und David Ricardo genannt, wobei der letztere als der führende Kopf der liberalen Wirtschaftslehre gesellschaftstheoretisch Smith verpflichtet ist. Mit seiner „ganzheitlichen“ Überzeugung wendet Marx sich also gegen die „einzelnheit75 Karl Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1857), in: ders., Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1951, S. 235 ff. 76 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Band I (1867), Berlin 1955; z. B. im Vorwort, S. 8: „Es sind dies Zeichen der Zeit . . .“ – „Sie bedeuten nicht, daß morgen Wunder geschehen werden. Sie zeigen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.“ Oder passim, z. B. S. 404: „In der Manufaktur ist die Gliederung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses rein subjektiv, Kombination von Teilarbeitern; im Maschinensystem besitzt die große Industrie einen ganz objektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter als fertige materielle Produktionsbedingung vorfindet.“
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
liche“ Auffassung der Gesellschaft. Diese zum Streit herausfordernde Gesellschaftslehre hat zur Folge, daß die Meinung der kritisierten Theoretiker alsbald Verteidiger findet. Zeitgenossen treten also auf, die die Kritik, die geübt wird, ihrerseits kritisieren. Die Heraufkunft der wechselseitigen Kritik des „ganzheitlichen“ am „einzelnheitlichen“ Denken der Gesellschaft und umgekehrt, ist die Geburtsstunde des Ausdrücklichwerdens des seit dem 17. Jahrhundert offenkundig gewordenen theoretischen Denkens der Gesellschaft. Über das unwillkürliche theoretische Denken der Gesellschaft sich erhebend, diszipliniert sich dieses Denken. Es wird im weitesten Sinn zur Wissenschaft von der Gesellschaft. Als dieses versucht es, sich Rechenschaft zu geben über die Art seines Erkennens, die Verschiedenheit seines Erkenntnisgegenstandes, den Weg, den sein Erkennen nimmt, und schließlich über seine systematische Absicht. Unter diesen Umständen ist das Bestreben natürlich, das Ganze der absichtlichen theoretischen Bemühungen, die Gesellschaft zu bedenken und zu erklären, durch einen zusammenfassenden Namen zu benennen. Wie die Geschichte der Gesellschaftswissenschaften lehrt, ist es das Verdienst von Auguste Comte (1798–1857), diesen Namen gefunden zu haben. Sich zunächst für den Ausdruck „soziale Physik“ entscheidend, entschließt er sich angesichts der Tatsache, daß an anderer Stelle mit diesem Wort bevölkerungswissenschaftliche und statistische Studien benannt werden, das methodisch-systematische theoretische Erkennen der Gesellschaft als Soziologie zu bezeichnen. „Ich glaube“, schreibt er im vierten Band seines Cours de philosophie positive aus dem Jahre 1839, „von jetzt ab dieses neue Wort wagen zu dürfen, das meinem bereits eingeführten Ausdrucke soziale Physik völlig gleichkommt, um mit einem einzigen Namen diesen Ergänzungsteil der Naturphilosophie bezeichnen zu können, der sich auf das positive Studium der sämtlichen, den sozialen Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze bezieht.“77 Umgreift der Ausdruck der Soziologie bei Comte somit noch das Ganze der gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen, so wird die Folgezeit ihn zunehmend in einem engeren Sinn verwenden. Danach bezeichnet der Name der Soziologie allein die fachwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft, während ihre universalwissenschaftliche Erkenntnis als Gesellschaftsbzw. als Sozialphilosophie benannt werden wird. Gegenüber dieser erstarkenden Arbeitsteilung in der akademisch sich ausbildenden Theorie der Gesellschaft ist von weitaus größerem Gewicht indessen die Art und Weise, in der Comte die Frage nach der Form der Gesellschaft behandelt. Vergegenwärtigt man sich, daß er unter der Voraussetzung arbeitet, zu einer einheitlichen Erkenntnis der Gesellschaft vorzudringen, sollte man erwarten können, daß er die entwickelten gegensätzlichen Bestimmungen der Gesellschaft, die als die „ganzheitlichen“ Auffassungen einerseits und als die „ein77 Auguste Comte, Cours de philosophie positive. Sechs Bände (1830–1842), dt. Ausgabe der Bände 4–6 unter dem Titel Soziologie, (Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister), I. Band, Jena 19232, S. 184 f.
1. Kap.: Die sich herausbildende theoretische Erkenntnis
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zelnheitlichen“ Auffassungen andererseits bestehen, zur zentralen Frage seiner Untersuchungen macht, um sie, wenigstens nach den Umständen, zu beantworten. Daß Comte das anstehende Problem ersten Ranges erkannt hat, ist keine Frage. Denn er erfaßt und benennt es im seinshaften Sinn bevorzugt als die Alternative zwischen Individualismus und Sozialismus und im Sinn des Sollens bevorzugt als die Alternative zwischen Egoismus und Altruismus. Je gründlicher er dem gesellschaftstheoretischen Grundsatzproblem nachspürt, desto mehr macht er sich jedoch die Meinung zu eigen, daß die „individuelle“ Auffassung der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ der „alten Denkweise“ angehört, also dem „metaphysischen Geist“, „der auf sittlichem Gebiet niemals zu einer anderen wirksamen Theorie zu führen vermochte, als zu dem verhängnisvollen System des Egoismus“. Für jeden seiner „Anhänger ist der herrschende Gedanke ständig der des Ich“. Deswegen kann „der Begriff des Wir“ bei ihnen „keinen direkten und deutlich bestimmten Platz finden“78. Mit diesem Befund ist für Comte entschieden, daß der individuelle ein individualistischer Geist ist, der dem positivistischen Geist der Soziologie widerstreitet. Denn „der Geist des Positivismus ist . . . unmittelbar so sozial wie möglich (und zwar) ohne jede Anstrengung auf Grund seiner charakteristischen Wirklichkeit selbst. Für ihn gibt es nicht den eigentlichen (individuellen) Menschen, sondern nur die Menschheit, denn unsere gesamte Entwicklung danken wir – unter welchem Gesichtspunkt man sie auch betrachten mag – der Gesellschaft.“79 Dieser Lehrsatz vereindeutigt die Ansicht Comtes, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz nicht „einzelnheitlich“, sondern „ganzheitlich“ beschaffen ist. Rundheraus heißt es, daß die Gesellschaft als eine Gesellschaft der „Individuen“ kein Bestandteil der Theorie der Gesellschaft und deswegen zu verwerfen ist. Im Geist der „Soziologie“ ist die Gesellschaft etwas „Ganzheitliches“ bzw. etwas „Organisches“ oder eben etwas Sozialistisches.
78 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), (Edition Meiner), Hamburg 1956, S. 149 ff. 79 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), a. a. O. S. 155. Der Text fährt übrigens wie folgt S. 157 fort: „Da das Individuum sein Leben nur durch die Gattung zu verlängern vermag, wird es so dazu geführt, sich möglichst vollständig in sie einzugliedern, indem es sich zutiefst mit deren nicht allein gegenwärtiger, sondern auch vergangener und zukünftiger kollektiver Existenz verbindet, um so die volle Lebensintensität zu erlangen, die in jedem Falle die Gesamtheit der Gesetze der Wirklichkeit zuläßt.“ Die Kommentatoren dieses Urteils benennen diese antichristliche Polemik a. a. O. S. 247 wie folgt: „Hier spielt Comte auf die ,subjektive Unsterblichkeit‘ (immortalité subjective) an, die seinem System zufolge an die Stelle des christlichen jenseitigen Fortlebens tritt. Die subjektive Unsterblichkeit besteht in der Fortdauer eines Menschenlebens in seinen Werken und im Gedächtnis der künftigen Menschheit. (vgl. Système, Band II, Seite 60). Ähnliche Gedanken finden sich auch im Marxismus, der seinen Vorkämpfern und Helden ,ewigen Ruhm‘ und ,ewiges Gedächtnis‘ verspricht und diese ,Unsterblichkeit‘ ebenso ganz bewußt und polemisch gegen den christlichen Begriff derselben stellt.“
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft V. Das Zusammendenken von Einzelnheitlichkeit und Ganzheitlichkeit
Natürlich wird die gewaltsame Beantwortung der Frage nach der einerseits „einzelnheitlichen“ und andererseits „ganzheitlichen“ Form der Gesellschaft durch Comte von der gelehrten Welt als unbefriedigend empfunden. Die Verneinung der „individuellen“ gesellschaftlichen Existenz kann keine Lösung des theoretischen Problems der Gesellschaftserkenntnis sein. Dieser Umstand ist der Grund, aus dem sich das Problem der ausdrücklich gewordenen Theorie der Gesellschaft weiter aufdrängt. Einen der originellsten Versuche, seiner Herr zu werden, hat Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768–1834) in seiner Theorie des geselligen Betragens vorgelegt. Die Gesellschaft als Einheit begreifend, lehrt er, daß die gesellschaftliche Existenz des „Menschen“ sozusagen zwei Beschaffenheiten kennt. Die erste von ihnen ist diejenige, die überkommen ist. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie die „Individuen“ in jeder Hinsicht bindet. Schleiermacher bezeichnet diese gesellschaftliche Wirklichkeit – im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch – als die gemeinschaftlich beschaffene gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie ist also „ganzheitlicher“ Natur. Die Gesellschaft ist aber auch und zwar in zunehmendem Maße so beschaffen, daß sie die „Individuen“ freisetzt, d.h. ihnen die Freiheit der Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse einräumt. Diese Wirklichkeit benennt Schleiermacher – wiederum abweichend von der heute üblichen Redeweise – als die gesellschaftlich beschaffene Gesellschaft. Daß dieser Autor damit zum Urahnen der Unterscheidung der menschlich-gesellschaftlichen Existenz in ihrer einerseits gemeinschaftlichen und andererseits in ihrer gesellschaftlichen Gestalt geworden ist, ist hinreichend bekannt. Daß sein Bemühen in erster Linie jedoch darauf zielt, die „Einzelnheitlichkeit“ und die „Ganzheitlichkeit“ der Gesellschaft als ihre urmodalen Beschaffenheiten zu ergründen und zu kennzeichnen, ist indessen weniger geläufig. Also ist es ratsam, das Original nachzulesen. In ihm spricht Schleiermacher zunächst über die „individuelle“ und sodann über die „ganzheitliche“ gesellschaftliche Existenz, um diese Existenz-Gestalten schließlich miteinander zu vergleichen: „Jeder Mensch hat als ein endloses (endliches) Wesen seine bestimmte Sphäre, innerhalb der er allein denken und handeln, und also auch sich mitteilen kann. Die Sphäre des Einen ist nicht völlig die des Andern, so gewiß er selbst nicht der andre ist, und jeder – dies geht durch alle Mitglieder einer Gesellschaft hindurch – hat in der seinigen etwas, was nicht in der andern liegt. Wenn nun einer in der gesellschaftlichen Unterhaltung gegen einen andern einen Punkt berührt, der in der Sphäre desselben gar nicht zu finden ist, so schließt er dadurch, je nachdem sich die Übrigen für einen von beiden erklären, entweder diesen oder sich selbst aus der Gesellschaft aus.“ „Es muß also einen Zustand geben, der diese beiden ergänzt, der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als
1. Kap.: Die sich herausbildende theoretische Erkenntnis
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möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen gelöst.“ „Wenn die Geselligkeit um ihrer selbst willen gesucht wird, und sie selbst ist nichts anders, als ihre moralische Tendenz, so kann die Vollkommenheit des geselligen Betragens in nichts anderem bestehen, als in der Fertigkeit, überall, wo die physische Möglichkeit der Gesellschaft gegeben ist, auch eine wirkliche zu bilden, und sie, wo sie schon gebildet ist, beim Leben zu erhalten.“ – „Wenn wir den Begriff der freien Geselligkeit, der Gesellschaft im eigentlichen Sinn* zerlegen, so finden wir hier, daß mehrere Menschen auf einander einwirken sollen, und daß diese Einwirkung auf keine Art einseitig sein darf. Diejenigen, welche im Schauspielhause versammelt sind, oder gemeinschaftlich einer Vorlesung beiwohnen, machen unter einander eigentlich gar keine Gesellschaft aus, und jeder ist auch mit dem Künstler eigentlich nicht in einer freien, sondern in einer gebundenen Geselligkeit begriffen, weil dieser es nur auf irgend eine bestimmte Wirkung angelegt hat, und jener nicht gleichförmig auf ihn zurückwirken kann, sondern sich eigentlich immer leidend verhält. Denn das ist der wahre Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer Form, daß sie eine durch alle Teilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung sein soll. Ein Ball ist deswegen keine Gesellschaft; denn jeder Tänzer steht eigentlich nur mit der, die in diesem Augenblick seine Tänzerin ist, in Verbindung, und beide betrachten alle übrigen als Mittel oder Werkzeuge. . . . Das Spiel könnte eher unter diesen Charakter fallen, weil wirklich die Wechselwirkung bei den vernünftigeren Arten desselben alle Teilhaber umfaßt . . .“ – „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Tätigkeit der übrigen, und die Tätigkeit eines Jeden soll sein seine Einwirkung auf die anderen. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Tätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts sein, als die Tätigkeit des Auffordernden; es kann also auf nichts anderes abgesehen sein, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren. Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Tätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus. Beide Ansichten derselben müssen aber in der folgenden Untersuchung getrennt werden; sie wird zuerst als Form betrachtet, und liefert so das formelle Gesetz der geselligen Tätigkeit: Alles soll Wechselwirkung sein; dann als Stoff, und so gibt sie das materielle. Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mitteilung des meinigen.“ „* Das Wort sollte nur in diesem Verstande genommen werden. In jeder durch einen äußeren Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung ist den Teilhabern etwas gemein, und diese Verbindungen sind Gemeinschaften, koino¯niai; hier ist ihnen eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt, und dies sind Gesellschaften, synousiai.“80
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Zumal nach dem Fortgang der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis bis zum heutigen Tag ist anzuerkennen, daß mit der Unterscheidung Schleiermachers zwischen der gemeinschaftlichen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Gesellschaft Urbeschaffenheiten jedes humanen Zusammenseins erfaßt und formuliert worden sind. Aber wie die Ergebnisse der Forschung kundtun, gibt es neben diesen noch andere soziale Kategorien. Erst sie lassen eigentlich die genannten Wesensformen der Gesellschaft verständlich werden. Ohne ihren Aufweis sind sie womöglich nur leere gesellschaftliche Erstbegriffe. Hinzukommt, daß das genannte humane Zusammensein bei Schleiermacher als dieses ganz und gar im Unbestimmten bleibt. Die Bestimmung der Gemeinschaft und die der Gesellschaft ist deswegen keine sozial-gesellschaftliche Bestimmung der Gesellschaft, sondern benennt nur menschliche Weisen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Als diese sind sie metasozialer Natur, d.h. sie sind nicht aus dem Sein und aus dem Wesen des humanen Zusammenseins heraus erkannt. Aber die genannte Einsicht eilt der gesellschaftswissenschaftlichen Zeit voraus, von der die Rede ist. Jenseits der Frage nach der sozialen Form der Gesellschaft stürmt sie begeistert voran, um das wissenschaftliche theoretische Denken der Gesellschaft im einzelnen zu entfalten. Intuitiv wird der Horizont abgesteckt, in dem die gesellschaftlichen Sachverhalte bestehen und sich bewegen. Sie gilt es, als besondere Gestalten des menschlichen Miteinanderseins aufzufassen, zu beschreiben und, wenn irgend möglich, auch zu erklären. Jenseits der philosophischen Systeme bzw. Weltanschauungen, in die die Gesellschaftsphilosophie in der Regel eingebunden ist, breitet die Soziologie sich also aus und entfaltet sich in der vielfältigen Bedeutung dieses Namens. Deswegen mag es angebracht sein, keinen Angehörigen dieser mehrdeutigen Disziplin zu zitieren, sondern einen scharf beobachtenden Zeitzeugen, der bemerkt, mit welchem Fleiß die gesellschaftlichen Verhältnisse des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts soziologisch studiert werden. Friedrich Nietzsches (1844– 1900) Urteil unter dem Titel Etwas für Arbeitsame beschreibt die Emsigkeit, mit der das absichtsvolle theoretische Denken der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ sich ins Werk setzt: „Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, große und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an’s Licht hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte 80 Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, Theorie des geselligen Betragens (1799), in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden. Zweiter Band, Leipzig 19272 /Aalen 1967, S. 11 f., S. 3 f., S. 8 ff.
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des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmäßigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, daß es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker, – haben sie schon ihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre ,Existenz-Bedingungen‘ betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, – ist diess schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmäßig zusammen arbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas (,wesshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthemessers – und dort jene?‘). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in den Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.“81
81 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 3, Berlin/New York 1967–1977 und München 1980, S. 378 ff.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Zweites Kapitel
Der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein als realistische Urmodi des endlich Seienden § 7 Die gegenwärtige theoretische Erkenntnis der Gesellschaft im Streit der wissenschaftlichen Meinungen A. Die herrschende theoretische Erkenntnis der Gesellschaft in der Krise I. Das neuzeitliche humane Zusammensein als problematischer gesellschaftlicher Bestand
Das Studium der Veränderungen der Bedingungen des Lebens und des Denkens der humanen Existenz im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hat die Herauslösung des theoretischen aus dem ursprünglich praktisch verwirklichten Denken der Gesellschaft aufzuzeigen versucht. Das Ergebnis besteht in der jetzt vor Augen stehenden Unterscheidung zwischen dem Erkennen der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“, insofern diese Existenz so oder so etwas Seiendes ist, und dem Erkennen dieser Existenz, die im sittlichen Sinn so oder so sein soll. Dieses neu gewonnene Erkennen wurde als das theoretische im Gegensatz zum praktischen Erkennen der Gesellschaft bezeichnet. Ursprünglich im Verborgenen bestehend und als dieses unwillkürlich beschaffen, wird es zu einem offenkundigen und in der Folge zu einem beabsichtigten Erkennen, indem es ein Wissen um sich selbst entwickelt. Das zunächst nicht-ausdrückliche Erkennen vervollkommnet sich also mit der Zeit zu einem ausdrücklichen Erkennen. Zunächst in der Dichtung und in den Künsten beheimatet, diszipliniert es sich zur wissenschaftlichen Theorie durch die Besinnung auf seinen Gegenstand sowie auf die Methode und das System seines Erkennens. Nach den aufgewiesenen wissenschaftsgeschichtlichen Befunden begründet und entfaltet diese Denkweise der Gesellschaft sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Deswegen ist es richtig, davon zu sprechen, daß der Kanon der inzwischen weit sich auffächernden wissenschaftlichen Disziplinen seit etwa 150 Jahren um einen weiteren Forschungs- und Lehrzusammenhang bereichert wird, nämlich um die Wissenschaft bzw. um die Wissenschaften von der Gesellschaft. Andererseits wäre es jedoch irrig, anzunehmen, daß dieses wissenschaftliche theoretische Denken der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ mit seiner offenkundig gewordenen Begründung sogleich auch derart ausgebildet ist, daß es in seiner Erkenntnis in jeder Hinsicht den Sachverhalten entspricht, auf die es sich richtet. Schon der Übergang des theoretischen Denkens der Gesellschaft aus dem Verborgenen in das Offenkundige legt den Gedanken daran nahe, daß jenes theoretische Denken erst mit der Zeit sich entfaltet und dadurch reift. Sieht man genauer zu, dann bemerkt man, daß das wissenschaftliche theoretische
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Denken der Gesellschaft sich tatsächlich nur mühsam den Gegenständen nähert, die es meint. Der vermutlich gewichtigste Grund für diese, in beschwerlichen Schritten erfolgende Annäherung der gesellschaftlichen Erkenntnis insbesondere an das Sozialsein der Gesellschaft dürfte darin liegen, daß das wissenschaftliche theoretische Denken der Gesellschaft noch lange und in vielfacher Weise den Umständen verpflichtet bleibt, unter denen es zu sich gefunden hat. Im folgenden ist deswegen zu prüfen, ob und gegebenenfalls wie das wissenschaftliche theoretische Gesellschaftsdenken von den Bedingungen, unter denen es entstanden ist, bis heute abhängt. In diesem Sinn sind die Einflüsse aufzuzeigen, die die Erkenntnisabsichten der gegenwärtig herrschenden Gesellschaftswissenschaften bestimmen. Wie erinnerlich, werden die vom Altertum erarbeiteten Auffassungen des „Wesens“ der Gesellschaft bruchlos dem Mittelalter überliefert, das diese Denkweisen der Gesellschaft seinerseits an die Neuzeit weiterreicht, ohne sie zu ändern. Das offenkundig gewordene und nach geraumer Zeit unter anderem zur wissenschaftlichen Erkenntnis sich ausbildende Denken der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“ teilt also die zunächst unaufgedeckte überlieferte Meinung. Sie besagt, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt zwar irgendwie als eine einheitliche Existenz besteht, daß sie sich aber nicht als diese eine erkennen läßt, sondern nur in den Weisen des Einerseits und des Andererseits. Denn sie zeigt sich bald in dieser, bald in jener Gestalt. Ist sie zum einen ein „einzelnheitlicher“, so ist sie zum anderen ein „ganzheitlicher“ Bestand. Das offenkundig gewordene Denken begreift die Gesellschaft deshalb zum einen als sogenannte Vertragsgesellschaft, womit es sie als ein Zusammensein von „Menschen“ als „Einzel“-Wesen kraft ihrer Übereinkunft auffaßt, und es begreift die Gesellschaft zum anderen als beschaffen so wie ein organischer Körper, womit gesagt sein soll, daß das gesellschaftliche Zusammensein darin besteht, daß die „Menschen“, die es bilden, als dessen Glieder bzw. Organe existieren. Die formale als die wesentliche Bestimmung der Gesellschaft ist also von ihrem Anfang an bis zu ihrer „wissend“ gewordenen Erkenntnis dieselbe geblieben. Gegenüber dieser erstaunlichen Tatsache erscheinen alle andern Fragen, die mit dem Offenkundigwerden der Gesellschaft sich einstellen, als Fragen zweiter Sorge. Diese Anordnung der Probleme gilt auch und gerade hinsichtlich des Wandels der menschlichen Gehalte der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt, wie erheblich er auch immer ist. Dem Kartesianismus zufolge, der sich in einem geradezu unglaublichen Siegeszug durchsetzt, ist dieses „Material“ der Gesellschaft zuletzt entweder eine denkende oder eine ausgedehnte Sache. Mit anderen Worten gesagt: Mehr und mehr und schließlich nahezu ausnahmslos begreift die gesellschaftliche Existenz-Gestalt ihren Bestand einerseits als Gedachtsein und nichts außerdem und andererseits als Körpersein und nichts außerdem. Die Materie der Gesellschaft besteht also entweder als Bewußtsein und nur aus diesem oder als Stoffsein und dies ausschließlich.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Wie in der wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung aufgewiesen, verknüpfen sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend jene formalen Bestimmungen der Gesellschaft als Einzeln- und als Ganzsein mit ihren materialen Bestimmungen des Physisch- und des Psychischseins. Andererseits nähern die materialen Bestimmungen, insofern sie Bestimmungen des „Menschseins“ sind, die auseinanderstrebenden formalen Unterschiede wiederum an einander an. Die Verknüpfungen führen in der Folge zu vier Grundauffassungen der Beschaffenheit sowie des Erkennens der Gesellschaft. Ihnen entsprechend, ist die Gesellschaft bzw. kann die Gesellschaft etwas Einzelnheitliches von entweder seelischem oder leiblichem Gehalt sein oder sie ist bzw. kann etwas Ganzheitliches sein, dessen Gehalt in etwas Seelischem bzw. in etwas Leiblichem besteht. In einer anderen, heute vielleicht geläufigeren Sprache ausgedrückt, verwirklichen die Existenz und die Erkenntnis der Gesellschaft sich somit in einem Schema ihrer Formen und Gehalte, demzufolge sie einen natürlich-individuellen bzw. kulturell-individuellen oder einen natürlich-totalen bzw. einen kulturell-totalen Bestand darstellen. Angesichts der genannten Bestimmungen der Gesellschaft stellt sich naturgemäß die Frage, wie sie in ihrer Mehrzahl die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz in ihrer Einheit zum Ausdruck bringen können. Diese Frage läßt sich auch anders stellen: Wenn es die genannten Gestaltungen der Gesellschaft oder genauer, die genannten Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft wirklich gibt, wie verhalten sich dann diese Bestimmungen zu einander? In der Erkenntnisebene stellt sich diese Frage als das Problem der Verhältnisse der Erkenntnisweisen jener Gestaltungen bzw. Gestaltungsmöglichkeiten. Angesichts der wissenschaftsgeschichtlichen Gegebenheiten kann man mit der Antwort auf diese Frage nicht zögern. Es ist festzustellen, daß jene Bestimmungen keine Urteile über die Gesellschaft sind, sofern man sie im Sinne des Zusammenseins von Menschen begreift, wie es für sie wesentlich ist. Sie benennen noch nicht einmal Eigenschaften der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, und zwar weder deren kennzeichnende, geschweige denn deren notwendige Eigenschaften. Jene Bestimmungen sind nichts anderes als konkrete, von ihrem Gehalt des „Menschseins“ her begriffene Alternativen der Gestaltung dieser Existenz. Es sind diejenigen Verwirklichungen und Auffassungen, die das „Menschsein“ seit der Heraufkunft der Neuzeit bevorzugt als Gesellschaft ausgebildet hat. Als diese bringen sie nicht die neuzeitliche Gesellschaft und ihre Erkenntnis als auf einander bezogene Teileinheiten zum Ausdruck, sondern ihren problematischen, weil nicht-sozialen Bestand. Insofern jene Möglichkeiten der Wahl als gesellschaftliche zu gelten beanspruchen und diesem Anspruch gefolgt wird, wahren sie den Schein der Einheit der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Durchstößt man ihn, um die Absicht der Alternativen zu erkennen, begreift man alsbald, daß jede einzelne von ihnen behauptet, die Gesellschaft zunächst als Gesellschaft und zwar
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in jeder Hinsicht im Auge zu haben und deswegen sodann über sie im Sinn des eingeschlagenen Erkenntnisweges abschließend urteilen zu können. Aus diesem Grund schließen der Individualismus und der Totalismus als bestimmende Formen der Gesellschaft sich ebenso gegenseitig aus, wie ihre jeweiligen möglichen Gehalte als Natur und als Kultur sich gegenseitig ausschließen. Es ist unmöglich, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz unter der Rücksicht, unter der sie jenen Alternativen entsprechend wirklich da ist, zugleich, d.h. bruchlos übergehend, in einer anderen der genannten Gestaltungen existiert und begreifbar ist. Denn sie sind von grundverschiedener Art. Von ihren Voraussetzungen her bestimmt, besteht die Gesellschaft bzw. die Gesellschaftserkenntnis ihrer Form nach somit in vier nebeneinander bzw. gegeneinander wirksamen und nur insofern aufeinander bezogenen Existenzzusammenhängen. In den Bezeichnungen benannt, die die gegenseitigen Ausschlüsse der aufgezeigten gesellschaftlichen Alternativen am deutlichsten zum Ausdruck bringen, besteht die neuzeitliche Gesellschaft und die Erkenntnis dieser Gesellschaft somit (1) als naturalistischer Individualismus oder (2) als psychologistischer Individualismus oder (3) als materialistischer Totalismus oder (4) als idealistischer Totalismus. Versucht man, die wissenschaftliche theoretische Erkenntnis der Gesellschaft zu überblicken, wie sie sich seit gut einem Jahrhundert entwickelt hat, erkennt man in den genannten Alternativen die Regelfälle des offenkundig gewordenen betrachtenden Gesellschaftsdenkens. Die Tatsache des vierfachen Zerfalls kennzeichnet die herrschenden gesellschaftlichen bzw. gesellschaftswissenschaftlichen Verhältnisse. Gegenüber der genannten negativen Regel darf man die positive Ausnahme nicht übersehen. Schließlich ist sie es, die jene Auffassungen der Gesellschaft als gesellschaftliche überhaupt trägt. Das geschieht dadurch, daß sie die Gesellschaft als wesentlich sozial verfaßte Wirklichkeit begreift. Aber dieses einsichtige Gesellschaftsdenken erfreut sich nicht der Aufmerksamkeit, die ihm der Sache nach zukommt. Wie aufgewiesen, ist das Gegenteil der Fall. Denn das Denken der Gesellschaft im sozialen Sinn gilt als eine Eigenwilligkeit, mit der die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis, die „auf der Höhe der Zeit“ ist, nichts anfangen kann. Zumeist heißt es, daß es sich bei ihm um etwas Obsoletes, also um etwas Veraltetes, oder gar um etwas Spekulatives, also um etwas Gedankenverlorenes, oder dergleichen handelt. Verständnisvoll ist diejenige Ablehnung, die meint, das Sozialdenken der Gesellschaft als sozialethisches Denken auffassen zu müssen. Mit anderen Worten: Dieses soziale Gesellschaftsdenken erscheint den herrschenden Gesellschaftswissenschaften als abwegig. Deswegen sind sie der Meinung, daß es sie nichts angeht. Warum die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit derart tiefe Risse spalten, ist eine Frage, der nachzugehen sich wohl lohnt. An dieser Stelle der Untersuchung ist eine solche Bemühung jedoch verfrüht. Denn sie führt vom Zusammenhang weg, der zu behandeln ist. Später muß und wird das genannte Problem ausführlich
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
zur Sprache kommen. Um einen Zugang in seine Dimension wenigstens anzudeuten, sei an eine hellsichtige psychologische Beobachtung Friedrich Nietzsches erinnert. Er hat sie unter dem Stichwort „Licht-Feindschaft“ formuliert und darüber nachgesonnen, „wie viel lieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit hassen“82. Hat Nietzsche hiermit etwas Wahres gesagt – welche Herausforderung bedeutet seine Rede für die gelehrte Welt, die sich als die scientific community der Gesellschaftswissenschaften versteht! II. Das Unvermögen der zeitgenössischen Gesellschaftsphilosophie, das Wesen der Gesellschaft zu bestimmen
Der genannte vierfach zerfallende Bestand der herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis bezieht sich, wie angedeutet, sowohl auf die Geschichte als auch auf die gegenwärtige Lage der Gesellschaftswissenschaften. Deren Mitte bilden die Gesellschaftsphilosophie und die Soziologie, weshalb sie auch weiterhin bevorzugt erörtert werden. Im folgenden gilt es, die Aufmerksamkeit zunächst der Gesellschaftsphilosophie zuzuwenden. Sie wird im übrigen ohne Bedenken auch als Sozialphilosophie bezeichnet, obwohl sie weniger das Soziale, d.h. das Wesen des menschlichen Zusammenseins, als vielmehr die durch das Soziale begründete Gesellschaft, d.h. diese als menschliche Wirklichkeit im Auge hat. Nachdem die Begründungs- und Entwicklungsgeschichte der Philosophie der Gesellschaft in der voraufliegenden Skizze darzustellen versucht worden ist83, kann sie sich jetzt „der Situation und den Tendenzen“ der gegenwärtigen Gesellschaftsphilosophie zuwenden. An ebenso sachkundiger wie auskunftsfreudiger Stelle ist über sie eingangs das folgende zu lesen: „Wie allgemein in der westlichen Welt kein großer philosophischer Gesamtentwurf eindeutig das Denken beherrscht, so findet auch in der Sozialphilosophie die Diskussion der letzten Jahre mehr im Stil methodologischer Prolegomena als ausgeführter sozialphilosophischer Systeme statt . . .“84 Trifft diese einführende Bemerkung zu, dann befaßt die Philosophie der Gesellschaft sich zuerst, wenn nicht zumeist mit Vorbemerkungen, die die Weise ihres Erkennens betreffen. Als diese ist die Philosophie der Gesellschaft keine Philosophie des menschlichen Miteinanderseins, sondern besteht in der Erforschung der Art seiner Er82 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band (1887), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 2, Berlin/New York 1967–1977 und München 1980, S. 383. 83 Vgl. ergänzend z. B. Kurt Röttgers, Art. Sozialphilosophie, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 1217–1227. 84 Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, in: Alfred Klose/Wolfgang Mantl/Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, Innsbruck/Wien/München u. Graz/ Wien/Köln 19802, Sp. 2757 f.
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kenntnis. Sie ist also als Wisssenschaftslehre entfaltet, nämlich als die Wissenschaftslehre einer besonderen oder, wie es auch heißt, regionalen Philosophie. Auf sie hier einzugehen, besteht kein Anlaß. Anders verhält es sich mit den mehr oder weniger ausgearbeiteten „sozialphilosophischen Systemen“. Sieht man von ihnen ab, soweit sie als Ethik bzw. als Ethiken der Gesellschaft ausgebildet sind, so bestehen sie, wie es heißt, vielfach als „im Rahmen der Soziologie“ erarbeitete Erkenntniszusammenhänge, wobei der Soziologie „bisweilen an Stelle der Philosophie die Aufgabe zufällt, Orientierungshilfe in Grundsatzfragen zu bieten“85. Diese gesellschaftsphilosophisch-soziologische Gemengelage des Gesellschaftsdenkens versteht man richtig als eine kompilatorische Philosophie der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Kompilation heißt, daß das Erkennen darin besteht, aus erschließbaren Quellen Erkenntniserträge zusammenzustellen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist die Vereinigung von Erkenntnissen verschiedener Gültigkeit und unterschiedlichen Inhalts. Ihr Sinnzusammenhang und damit ihr Wert bleiben in der Regel unbestimmt. Überdies gliedert die Kompilation ihre Stoffe auf sehr verschiedene Weise. Was die Gesellschaftsphilosophie betrifft, so ist zum ersten die Historiographie der bzw. von gesellschaftsphilosophischen Lehrmeinungen beliebt. Diese Geschichtsschreibung läßt sich leiten entweder vom zeitlichen Nacheinander jener gesellschaftsphilosophischen Meinungen86 und nähert sich damit der Geschichtsphilosophie oder geht sogar in diese über87 oder sie orientiert sich an den Lebensdaten der von ihr ins Auge gefaßten Gesellschaftsphiloso85 Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, a. a. O., Sp. 2758. – Vgl. in diesem Sinn z. B. Heinz Maus, Art. Sozialphilosophie, in: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hrsg.), Philosophie, Frankfurt a. M. 1958/1967. – Vgl. auch Peter Sloterdijk, Sphären. Plurale Sphärologie. Band III, Schäume, Frankfurt a. M. 2004, mit dem der Autor den „dreiteiligen Versuch seiner neuen Erzählung der Menschheit“ vollendet. In der nach seiner Meinung heraufkommenden Gestalt der Menschenwelt, die schaumhaft beschaffen ist, also als ein Gefüge aus Luft bzw. aus Gas besteht, das aneinander haftende Bläschen erfüllen, liest man S. 25 Bekanntes: „Die Ersetzung der Soziologie durch die Theorie der Netzwerke von Akteuren ist eine noch wenig rezipierte Hypothese“. Würde sie entwickelt, ergäbe sich ein menschliches Zusammensein von der Art, über das S. 817 eigenwillig wie folgt geurteilt wird: „Die ,Gesellschaft‘ ist, ohne daß sie es an einem sammelnden Zentrum spüren könnte, multi-mikromanisch“ – also vielfach-nichtigkeitsbestimmt – „verfaßt; sie hat kein Organ, um wahrzunehmen, wieviel Wahnsinn, wie viele Katakombenkulte, wie viele Eskapismen sie beherbergt; sie bildet ein halbblindes Aggregat aus demokratischen Okkultismen“ – also Lehren von übersinnlichen, übernatürlichen, rätselhaften Erscheinungen und Kräften –. Zu Einzelheiten dieser Auffassung vgl. insbesondere den Abschnitt Nicht Vertrag, nicht Gewächs, S. 261– 307, worin der Autor die bekannten metasozialen Einseitigkeiten erörtert. Gesellschaftstheoretisch begründet kann man seine Bestimmung dessen, was eine Gesellschaft zur Gesellschaft verbindet, nicht nennen. – Das schlichte Gegenstück zur üppigen Bemühung Sloterdijks stellt z. B. dar Detlef Horster, Sozialphilosophie, Leipzig 2005. 86 Vgl. z. B. Josef Rhemann, Einführung in die Sozialphilosophie, Darmstadt 1979. 87 Vgl. z. B. René König, Art. Geschichts- und Sozialphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1958/1967; Richard Schaeffler, Einführung in die Ge-
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phen bzw. an den vorhandenen Veröffentlichungsdaten ihrer Werke.88 Eine weitere Art der Stoffbehandlung kann man als die Darstellung ausgewählter Probleme der Gesellschaftsphilosophie bezeichnen. Quer durch die Zeiten und durch die Räume hindurch und unabhängig von den Urhebern behandeln diese Schriften bald mehr diese, bald mehr jene gesellschaftsphilosophische Frage, sei es für sich allein oder irgendwie nebeneinander. Ihre Themen sind zumeist die möglichen Ursprungsgründe des Aufbaus der Gesellschaft, die aus ihnen erwachsenden gesellschaftlichen Verwirklichungen, die sinnhaften bzw. sittlichen Ziele der Gesellschaftsgestaltung und ihre Bedingungen und nicht zuletzt die Rechtsordnung der Gesellschaft, die einen vielfach behandelten Gegenstand darstellt.89 Von diesen Arbeiten sind jene kompilatorischen Gesellschaftsphilosophien unterschieden, die eine systematische Absicht verfolgen.90 Von jenem soeben zitierten lexikalischen Beitrag mag man sagen, daß er in beispielhafter Weise eine Übersicht über die gesellschaftsphilosophischen Arbeiten in systematischer Absicht zu geben versucht, die hier besonders interessieren. Deswegen sei er aufgegriffen und weiter verfolgt. Indem er der Kompilation gehorcht, wie sie in unseren Tagen allein als möglich erscheint, verbleibt der Autor im Vorläufigen. Mit dem vorsichtigen Satz: „Für die Interpretation menschlicher Gesellschaftlichkeit spielt eine Rolle . . .“91, leitet er seine systematische Darstellung ein. Sie besteht in der Benennung zahlreicher gelehrter Persönlichkeiten bzw. geistiger Strömungen sowie der ihnen zugehörigen Werke, die ihm als maßgeblich für die Thematik der gegenwärtigen Gesellschaftsphilosophie erscheinen. Sie seien im folgenden in der Ordnung des aufgewiesenen viergeteilten Gliederungsschemas wiedergegeben. Die gesellschaftsphilosophischen Lehren im Sinn des naturalistischen Individualismus faßt der Beitrag unter dem Stichwort des Sozialdeterminismus zusammen. Ihm zufolge ist „alles Denken durch die gesellschaftliche Interessenlage bestimmt“92 Diese Bestimmtheit der gesellschaftlichen Existenz durch ihre Herkunft bezieht sich bevorzugt auf das menschliche Individuum, das zu anderen Individuen Beziehungen beschichtsphilosophie, Darmstadt 1973/19802; Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1991. 88 Vgl. z. B. Burkhard Liebsch (Hrsg.), Sozialphilosophie, Freiburg/München 1999. 89 Vgl. z. B. Maximilian Forschner, Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie, Darmstadt 1989; Axel Honneth (Hrsg.), Pathologie des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 1994. 90 Vgl. z. B. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965; Karl Albert, Das gemeinsame Sein. Studien zur Philosophie des Sozialen, Sankt Augustin 1981; Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002. 91 Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, in: Alfred Klose/Wolfgang Mantl/Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, Innsbruck/Wien/München u. Graz/ Wien/Köln 19802, Sp. 2758. 92 Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, a. a. O., Sp. 2759.
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sitzt. Der Sozialdeterminismus umfaßt deswegen zuerst und zumeist diejenigen Meinungen, denen zufolge die menschlichen Individuen sich „gesellschaftlich“ ihrer natürlichen Natur gemäß verhalten. Dieses Verhalten gehorcht des näheren den physischen Gesetzmäßigkeiten, denen die gesellschaftliche Existenz unterliegt. Daß der zitierte Beitrag darauf verzichtet, die bestehenden Meinungen beim Namen zu nennen, dürfte seinen Grund darin besitzen, daß dem Autor jene Ansichten über das gesellschaftliche Sich-Verhalten philosophisch als nicht hinreichend begründet erscheinen. Deswegen wendet er sich alsbald den Lehren im Sinn des psychologistischen Individualismus zu. Nach seinem Urteil lassen sich fünf verschiedene Meinungen dieser Absicht anführen. Es sind dies erstens Edmund Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität sowie die ihr verwandte Existenzontologie des Mitseins bei Martin Heidegger; zweitens sind dies die Befindlichkeiten des gesellschaftlichen „Menschseins“, das nach der Anthropologie Arnold Gehlens durch dessen Institutionen und nach der Anthropologie Helmuth Plessners durch dessen vermittelte Unmittelbarkeit bestimmt ist; drittens handelt es sich um die Wissenschaftslehre des Kritischen Rationalismus, wie sie sich bei Karl R. Popper und Hans Albert findet. In ihrer gesellschaftlichen Anwendung zielt sie auf die Ermittlung von Verfahrenstechniken der fortschrittlich sich zivilisierenden gesellschaftlichen Existenz; viertens ist in diesem Zusammenhang der christliche Solidarismus zu nennen, dem sich der Autor verpflichtet weiß, weshalb er über ihn an einer Stelle spricht, die dem zitierten Text voraufliegt: Nach dieser Soziallehre existiert der „Mensch“ auch gesellschaftlich wesentlich als Person, d.h. als ein geistig-seelisches Einzelwesen. Die Vielheit dieser Einzelnen wandelt sich zur gesellschaftlichen Einheit kraft des Erstrebens derselben Werte; eine fünfte Absicht kommt in Martin Bubers und Ferdinand Ebners Ergründung des existentiellen Dialogs zum Ausdruck. Nach diesem Aufweis wendet der Beitrag sich dem dritten Zusammenhang der gesellschaftsphilosophischen Meinungen zu. Es sind dies die Ansichten im Sinne des materialistischen und des biologistischen Totalismus. Jene Meinung besteht als der von Karl Marx und seinen Nachfolgern ausgearbeitete Historische Materialismus; zu ihm zählt auch die sogenannte Frankfurter Schule mit ihrer neomarxistischen Absicht, eine umfassende und deswegen auch gesellschaftlich geltende praktische Rationalität des „Menschseins“ zu entwickeln; soweit sie dem marxistischen Lehrsatz des Klassenkampfes verpflichtet ist, gehört auch die sogenannte Konflikttheorie diesem Zusammenhang an. Sodann wird die Ansicht Niklas Luhmanns erwähnt, der zufolge die Gesellschaft als ein dem Überleben gehorchendes, sich selbst genügendes kommunikatives System besteht. An vierter Stelle endlich, an der die gesellschaftsphilosophischen Meinungen im Sinn des idealistischen Totalismus aufgelistet werden, wird Karl-Otto Apels Philosophie genannt; sie ist eine Philosophie der Gesellschaft, deren Existenz als Sprachgemeinschaft begründet ist, eine Auffassung, die sich in der Philosophie von Jürgen Habermas wiederfindet. Sodann ist die Rede über
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„Analogien zu naturhaft Seiendem“. Als diese werden verstanden „das Verhältnis des Ganzen und der Teile, systemtheoretische Modelle (sowie) Vergleiche aus dem Bereich des Organischen“93. Mit diesen Hinweisen auf formallogische Ganzheiten als Erklärung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz endet das Bemühen, die gegenwärtig herrschenden gesellschaftsphilosophischen Meinungen aufzuzeigen. Daß der Autor den von ihm erstellten Befund durchaus nicht gelassen zur Kenntnis nimmt, läßt sich aus seinen immer wieder eingestreuten kritischen Bemerkungen entnehmen. So gibt er zum Beispiel zu den zuletzt genannten Bestimmungen zu bedenken, daß „sich eine zureichende Philosophie des Sozialen doch nur mittels spezifisch menschlicher Kategorien entwickeln“ läßt. Aber welches sind sie? Da der Autor über sie nichts sagt, endet seine Untersuchung folgerichtig mit einer Frage. Sie lautet: Was aber „am Menschen ist genau die Grundlage des Sozialen?“94 Das Ausbleiben einer verbindlichen philosophischen Auskunft über das, wodurch die Gesellschaft das ist, was sie ist, kennzeichnet den desolaten oder deutsch: Den trostlosen Zustand der gegenwärtigen Gesellschaftsphilosophie. Er hindert sie freilich nicht daran, sich auch und gerade in jener anderen, von der theoretischen Denkweise unterschiedenen Form zu entfalten, also als Ethik des gesellschaftlichen Lebens. Der Grund, der diese gesellschaftswissenschaftliche Sollenslehre trägt, kann kein anderer sein als eine jener genannten Bestimmungen des Seins und Wesens der Gesellschaft, sofern nicht freimütig eingeräumt wird, daß man damit zufrieden ist, was man unwillkürlich bzw. intuitiv als das Soziale bzw. als etwas Soziales erfaßt hat. Für die Gesellschaftsphilosophie, die mit der Gesellschaftsethik ineins gesetzt wird, ergibt sich aus diesen Erkenntnisbedingungen eine widersinnige Folge. Sie besteht darin, daß wissenschaftlich die im Allgemeinen als Gesellschaftsethik ausgebildete Gesellschaftsphilosophie nur von einem Besonderen her, wenn nicht allein durch die je eigene Lebenserfahrung begründet wird. Über die Gesellschaftsphilosophie, die sich darauf beschränkt, in diesem Sinn Gesellschaftsethisches erkennen zu wollen, lautet ein treffendes Urteil wie folgt: Die Sozialphilosophie ist „die philosophische Untersuchung des sozialen Lebens“; sie „betrachtet nicht die konkrete Wirklichkeit des Gemeinschaftslebens, sondern stellt als soziale Normenlehre die Normen auf, nach denen es sich abspielen soll. Sozialphilosophie umfaßt alle theoretischen Überlegungen über die Möglichkeiten einer besseren Welt, daher auch alle sozialen Utopien und Ideologien, die sich durch den Anstrich der philosophischen Begründung für wissenschaftliche Theorien ausgeben.“95 93
Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, a. a. O., Sp. 2749. Walter Kerber, Art. Sozialphilosophie, a. a. O., Sp. 2749. 95 Georgi Schischkoff, Bearb., Art. Sozialphilosophie in: ders., Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 199122, S. 677. – Im angegebenen Sinn sind gegenwärtig herausragende Beispiele die rechtlich-ethischen Arbeiten von John Rawls (1921–2002) und Robert Nozick (1938–2002) und die politisch-ethischen Schriften von Jürgen Ha94
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III. Die vielfach in sich zerfallende Soziologie
Mit dem genannten Blick auf die Gesellschaftsethik wendet das forschende Interesse sich von der Gesellschaftsphilosophie ab und der fachwissenschaftlichen Erkenntnis der Gesellschaft zu. Diese fachwissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz heißt Soziologie. Von der Gesellschaftsphilosophie ist sie nicht durch ihren Erkenntnisgegenstand unterschieden, sondern durch ihr Erkenntnisziel und ihre Erkenntnismethode. Zielt die Gesellschaftsphilosophie gegenständlich auf die Konstitution der Gesellschaft, so hat die Soziologie sie als konstituierte im Auge, d.h. als dieses und als jenes humane Zusammensein, weshalb sogleich das Eigenartige einer Gesellschaft ihr Erkenntnisziel ist. Bildet deswegen die Gesellschaftsphilosophie ihre Erkenntniswege derart aus, daß sie vor allem fähig ist, die letzten Gründe der Gesellschaft zu erfassen, so legt die Soziologie Wert darauf, Erkenntniswege zu besitzen, die es ermöglichen, vor allem ihre je besonderen Ursprünge zu erkennen. Ist damit der Unterschied zwischen der Gesellschaftsphilosophie und der Soziologie benannt, so besagt diese Bestimmung nicht, daß die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit sich durchgängig auch an sie hält. Es war bermas (geb. 1929) und Otfried Höffe (geb. 1943). Vgl. als Übersicht z. B. Gisela Riescher (Hrsg.), Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2004. – Bei dieser Gelegenheit darf bemerkt sein, daß es ein Irrtum ist, zu meinen, das Werk von Jürgen Habermas zielt philosophisch bzw. soziologisch auf die Erkenntnis des gesellschaftlichen Seins. Habermas bedient sich des Ausdrucks der Gesellschaft im Seinssinn in seiner vorherrschenden Mehrdeutigkeit. Versteht er als Gesellschaft im Besonderen die humane Existenz mikrometrisch als deren Lebenswelt und makrometrisch als deren Systembestand, so im Allgemeinen im Sinn des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Diesen Ausdruck hat Karl-Otto Apel im Bemühen um einen ethischen Erkenntnisfortschritt geprägt. Durch ihn hat er jedoch kurzerhand und ohne Bedenken den Bestand des existentiellen Apriori der menschlichen Existenz-Gestalt aufgehoben. Vgl. Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik (zuerst 1967), in: ders., Transformation der Philosophie. Band II, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. als Verdeutlichung des Werkes von Habermas als Gesellschaftsethik z. B. Detlef Horster, Jürgen Habermas. Mit einer Bibliographie von René Görtzen, Stuttgart 1991, S. 1: „Meine These, die ich in diesem Buch erhärten will, ist, daß das Habermassche Werk eine einzige, großangelegte Ethik der Moderne ist.“ Es entspricht also seiner Erkenntnisabsicht, wenn Professor Habermas einen Austausch auch mit Kardinal Joseph Ratzinger sucht, dem vormaligen Präfekten der Glaubenskongregation der römisch-katholischen Kirche. Vgl. hierzu: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 34. Jg., 1/2004: Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. Über diese Unterredung wurde bemerkt, daß dem an ein vernünftiges Sprechen glaubenden und deswegen nachmetaphysischen Denker Habermas „die große Verheißung der Kritischen Theorie, daß die herrschaftsfreie Gesellschaft in der modernen potentiell enthalten sei . . ., nicht mehr über die Lippen“ kommt. Vielmehr könne „in den religiösen Gemeinden . . . ,etwas in Takt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist‘, nämlich ,Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Mißlingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge‘.“ So Alexander Kissler, Die Entgleisungen der Moderne. Wie Habermas und Ratzinger den Glauben rechtfertigen, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. Januar 2004.
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schon die Rede davon, daß die Soziologie vielfältig auch gesellschaftsphilosophisch urteilt. Der genannte Überstieg der Soziologie über ihre eigenen Grenzen hinaus und ihr Rückbezug, den sie wissenschaftstheoretisch zur Gesellschaftsphilosophie besitzt einerseits und insbesondere ihr Hinblick auf die gegenwärtige Gesellschaft andererseits legen die Vermutung nahe, daß die spezialwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft in noch größerem Maße sich aufsplittert als das universalwissenschaftliche Gesellschaftsdenken. Tatsächlich bestätigen schon erste Erkundungen einen solchen Zustand der Soziologie. Der Gesellschaftsphilosophie entsprechend, zerfällt sie in formaler Hinsicht in eine Soziologie der „einzelnheitlichen“ und in eine Soziologie der „ganzheitlichen“ Existenz des „Menschseins“. Diese wiederum spalten sich in materialer Hinsicht in Soziologien einerseits im physischen und andererseits im psychischen Sinn. Sodann besondern sich ihre Meinungen gemäß dieses Gliederungsschemas zusätzlich durch die Ausrichtungen der Soziologie auf die je verwirklichten gesellschaftlichen Existenzzusammenhänge, eine Besonderung, die die Gesellschaftsphilosophie aufgrund ihrer Absicht, die Gesellschaft von ihren ersten Ursprungsgründen her zu erfassen, nicht kennt, wenngleich es richtig ist, daß sie sich in eine Vielzahl gesellschaftsphilosophischer Systementwürfe aufgliedert. Die soziologische Gemengelage erweist sich somit als eine überaus vielschichtige, weil über sich ausgreifende, auf ihre Gründe zurückbezogene und in ihren Erkenntnissen ebenso ineinander verflochtene wie auseinanderstrebende wissenschaftliche Arbeit. Deswegen kann man nicht überrascht sein, wenn die herrschende Soziologie sich selbst auf geradezu monströse Weise beurteilt: „Je nach weltanschaulich-wissenschaftstheoretischer und methodologischer Orientierung, nach Problemstellung und Gegenstandsabgrenzung wird Soziologie unterschiedlich aufgefaßt und definiert: als eine nicht-normative, werturteilsfreie, rein empirische bzw. ,objektive‘ Wissenschaft (Erfahrungswissenschaft), theoretisch-systematische Fachwissenschaft, Reflexionswissenschaft, ,Krisenwissenschaft‘, problemorientierte, gesellschaftskritische, emanzipatorisch wirkende Wissenschaft (Emanzipationswissenschaft), ,Oppositions‘- oder sogar ,Revolutionswissenschaft‘, Planungs- und Ordnungswissenschaft, Wissenschaft vom sozialen Verhalten bzw. Handeln, verstehende, geisteswissenschaftlich ausgerichtete Disziplin, Wissenschaft von sozialen Systemen, Strukturen und Prozessen, Gesellschaftslehre, Gegenwartswissenschaft, historisch orientierte Disziplin.“96 Was nun untersucht die Soziologie auf welche Weise, in welcher Absicht, in welcher Sprache? Wie die fachwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft, die auf die genannte Weise bestimmt wird, als Einheit verstanden werden kann und zu einer produktiven Erkenntnis fähig sein soll, ist schwerlich einzusehen. Womög96 Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 821 f.
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lich kann man von der Soziologie nur sagen, daß sie nach wie vor oder jedenfalls wiederum damit beschäftigt ist, sich zu einer disziplinierten Fachwissenschaft auszubilden. In der verhältnismäßig kurzen Spanne ihres Bestehens, die ebenso viele zukunftsfreudige Hochgestimmtheiten kennt wie lähmende Verfallsvorgänge, scheint die Soziologie in unseren Tagen aufs neue an ihrem Anfang zu stehen: „Angesichts dieser Herausforderung befindet sich die gegenwärtige Soziologie“ wieder „in der Bewährungsprobe“. Sie besteht in nichts geringerem, als „das Problem der weit vorangeschrittenen Spezialisierung, Aufspaltung und Fragmentarisierung des Faches durch verstärkte Anstrengungen zur Synthese zu bewältigen“97. Ob von diesen Anstrengungen, die versuchen, die verschiedenen Erkenntnisteile zu einem soziologischen Erkenntnisganzen zusammenzubinden, ein vernünftiges Ergebnis erwartet werden kann, ist im folgenden zu prüfen. Jene Bemühungen um eine einheitliche soziologische Erkenntnis sind in der Tat zahlreich zu beobachten. An ihnen fällt jedoch schon äußerlich auf, daß sie sehr verschiedene Wege zur Bewältigung des Problems einschlagen. Den genannten gesellschaftsphilosophischen Kompilationen vergleichbar, lassen sich drei Verfahrensweisen feststellen, die geeignet sein sollen, die Soziologie als ein geschlossenes Erkenntnisganzes darzustellen. Die erste von ihnen ist, wie im gesellschaftsphilosophischen Fall, historiographischer Art. Sie bemüht sich, den Einklang der soziologischen Meinungen aus ihrer geschichtlichen Abfolge zu erklären98 bzw. aus den stetigen Beiträgen jener Persönlichkeiten, die man als Soziologen ansieht.99 Die zweite Darstellungsweise besteht in dem Bemühen, den inneren Zusammenhang der soziologischen Einzeluntersuchungen zu benennen und verständlich zu machen. Das geschieht zum ersten durch den Aufweis von Ergebnissen der Besonderen Soziologien und ihres Verhältnisses zueinander, worin, wie man meint, zumindest das Streben nach der Einheit der
97
Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziologie, a. a. O., S. 823. Vgl. z. B. Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie, Band I–IV, Reinbek bei Hamburg 1968/1969, 2 Bände, Wiesbaden 19812; Wolf Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Vier Bände, Frankfurt a. M. 1981; Gerhard Hauck, Geschichte der soziologischen Theorie. Eine ideologiekritische Einführung, Reinbek bei Hamburg 1984; Gertraude Mikl-Horke, Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe, München/Wien 1989/20015. 99 Vgl. z. B. Gábor Kiss, Einführung in die soziologischen Theorien. Vergleichende Analyse soziologischer Hauptrichtungen, 2 Bände, Opladen 1972/1973; Ernst M. Wallner/Margret Pohler-Funke, Soziologische Hauptströmungen der Gegenwart, Heidelberg 1977; Julius Morel u. a., Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter, München/Wien 1989/20017; Dirk Käsler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias; Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999/20034; Dietmar Brock/Matthias Junge/Uwe Krähnke, Soziologische Theorie von Auguste Comte bis Talcott Parsons. Eine Einführung, München 2002. 98
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Soziologie zum Ausdruck gebracht werden kann.100 Ein anderes beliebtes Verfahren besteht in der Auflistung der soziologischen Grund-, Haupt- oder Schlüsselbegriffe. Vermeintlich gewährt ihre Aufzählung und Ordnung das Erkennen der Soziologie, so daß deren Gegenstand bzw. deren Gegenstandsbereiche sich im Ganzen begreifen lassen.101 Der dritte Weg schließlich ist ausgezeichnet durch das Bestreben, die soziologische Materie systematisch darzustellen.102 Eine Prüfung der genannten Verfahren zeigt alsbald, daß es sich nur lohnt, die zuletzt genannten Arbeiten näher ins Auge zu fassen. Deswegen gehört ihnen die weitere Aufmerksamkeit. Überblickt man das Schrifttum, in dem versucht wird, die Soziologie systematisch darzustellen, d.h. im weitesten Sinn als eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen, die nach einer Idee ihrer Ganzheit gegliedert sind, so fällt alsbald der Riß auf, der diese Bemühungen durchzieht. Er betrifft die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Existenz des „Menschseins“ wie ihrer soziologischen Denkweise, und zwar durchgängig. Er besteht als „Einzelnheitliches“ einerseits und als „Ganzheitliches“ andererseits, also als jene Verschiedenheit, die nach den 100 Vgl. z. B. Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft. Ein Lehrbuch der Soziologie, Stuttgart 1969/19732; Otto Nigsch (Hrsg.), Hauptgebiete der Soziologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Wien 1978; Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Spezielle Soziologien, Opladen 1993/19972; Klaus Feldmann, Soziologie Kompakt. Eine Einführung, Wiesbaden 2000/20012; Hans Joas (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt a. M. 2001/20032; Heinz Abels, Einführung in die Soziologie. Band 1: Der Blick in die Gesellschaft; Band 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft, Wiesbaden 2001/20042; Hermann Korte, Soziologie, Stuttgart 2004. 101 Vgl. z. B. Franz Steinbacher, Die Gesellschaft. Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971; Alfred Bellebaum, Soziologische Grundbegriffe, Stuttgart/Berlin/Köln 1972/200113; Arbeitsgruppe Soziologie, Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York 1978/200415; Hans Paul Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 1984/20039; Gábor Kiss, Evolution soziologischer Grundbegriffe. Zum Wandel ihrer Semantik, Stuttgart 1989; Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1993/Wiesbaden 20036; Herlinde Maindok, Einführung in die Soziologie. Leitthemen, Theorien, Grundbegriffe, München 1998. 102 Vgl. z. B. Dirk Käsler, Wege in die soziologische Theorie, München 1974; Wigand Siebel, Einführung in die systematische Soziologie, München 1974; Horst Reimann (Hrsg.), Basale Soziologie: Theoretische Modelle, München 1975; Hans Peter Hennecka, Grundkurs Soziologie, Opladen 1985/Wiesbaden 20007 Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt a. M./New York 1993/19993; Günter Büschges/Martin Abraham/Walter Funk, Grundzüge der Soziologie, München/Wien 1995/19983; Anthony Giddens, Soziologie (zuerst Cambridge 1989), Graz/Wien 1995/ 19992; Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln, Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, Band 3: Soziales Handeln, Band 4: Opportunitäten und Restriktionen, Band 5: Institutionen, Band 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M./New York 2002/20042; Richard Münch, Soziologische Theorie. Band 1: Grundlegung durch die Klassiker, Band 2: Handlungstheorie, Band 3: Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M./New York 2002/20042.
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wissenschaftsgeschichtlichen und nach den gesellschaftsphilosophischen Untersuchungen, die skizziert wurden, wohlbekannt ist. Am treffendsten ist sie als formal disparate, also nicht nur differente Alternative zu bezeichnen, d.h. als grundverschiedene Wahl der Wirklichkeitsbestimmung der Gesellschaft. Zu beachten bleibt, daß diese Alternative hinsichtlich der Form der Gesellschaft gilt, nicht hinsichtlich ihres Inhalts, also hinsichtlich des Lebens und des Geistes der Menschen, die die Gesellschaft erfüllen. Als Inhalt sind sie dieselbe Materie jenes „einzelnheitlichen“ wie dieses „ganzheitlichen“ gesellschaftlichen Formalzusammenhanges. Als Formen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz sind sie dagegen etwas Grundverschiedenes, also Etwas, das unterschiedlichen Ordnungen des Seienden angehört und deswegen nur im Bezug auf dieses Seiende, nicht jedoch als etwas Gesellschaftliches miteinander vereinbar ist. Ist, kurz gesagt, das Ganze ein metaphysisches wie logisches „Prinzip“, d.h. Etwas, wovon Etwas seinen Ausgang nimmt, so ist das Einzelne die raum-zeitliche Beschaffenheit des endlich Seienden, d.h. eine „Weise des Bestandes von Etwas“. Geschichtlich gesehen, bestimmt das formale gesellschaftliche Entweder-Oder im Sinne der „Einzelnheitlichkeit“ bzw. der „Ganzheitlichkeit“ der Gesellschaft die Soziologie von ihren Anfängen an. Freilich ist zuzugeben, daß sie diese Alternative stets hin- und hergewendet hat. Geschah dies zunächst aus Gründen der gesellschaftlichen Zeitverhältnisse, so drängte alsbald das gesellschaftswissenschaftliche Streben danach, jene Alternative zu überwinden. Dabei bediente die Soziologie sich zu ihrer Bezeichnung sehr verschiedener Benennungen. Dieses „Sprachspiel“ dauert bis heute an. Den Anfang jener Bezeichnungen der Verschiedenheit der Gesellschaft als diese hat man vermutlich in den alternativen Namen der Gesellschaft einerseits und der Gemeinschaft andererseits zu erblicken. Indem diese Ausdrücke jedoch rasch ihren eigenen Bedeutungsweg beginnen, treten an ihre Stelle andere Wörter, die aber dieselbe Zweiteilung benennen. In diesem Sinn ist alsbald die Rede von der Gespaltenheit der Gesellschaft zwischen Individualismus und Sozialismus.103 Später wird sie bestimmt als mechanische und als organische Solidarität und sodann als natürliche Beziehung und als geistiger Universalismus. In der Folge ist die Rede vom Verhalten und von der Struktur, vom Handeln und vom Prozeß, von der Lebenswelt und dem System. Seit kurzem werden der Liberalismus und der Kommunitarismus einander gegenübergestellt. Man darf vermuten, 103 Vgl. z. B. Georg Simmel, „Soziologische Ästhetik“, in: Die Zukunft, 31.10.1896, wo S. 204 zu lesen ist: „Die Gegenwart endlich hat für jenen Dualismus, der zwischen die Menschen, ja, durch die einzelne Seele seine Furche zieht, die Formel der sozialistischen und der individualistischen Tendenz gefunden.“ – Vgl. ergänzend zum Individualismus Carl Damur, Das Fest der Seele. Der Individualismus als Gestalt des Abendlandes, Bern 1947 und zum Kollektivismus Henry Deku, Rot und Braun. Genesis der Autoritätskrise. Freiheitsformalismus und Diktatur. Selbsterlösung durch Denken, Tun und Leiden, in: Alois Dempf u. a. (Hrsg.), Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag, München 1962, Wiederabdruck in: ders., Wahrheit und Unwahrheit der Tradition, St. Ottilien 1986.
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daß die soziologische Zukunft um weitere Benennungen der gesellschaftlichen Alternative nicht verlegen sein wird. In der Sprache der theoretisch ehrgeizigen Soziologie, wie sie gegenwärtig vorherrscht, werden die gesellschaftlichen wie die gesellschaftswissenschaftlichen Wahlmöglichkeiten zumeist als soziologische Mikrologie und als soziologische Makrologie bezeichnet. Die Rede ist also von der Gesellschaft und von der Gesellschaftserkenntnis im Kleinen und im Großen. Ihnen als den kleinen und den großen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrer Betrachtung gilt die erste Aufmerksamkeit. Alsbald aber bemüht sich die soziologische Erkenntnis, die mikrosoziologischen „Ansätze“ und die makrosoziologischen „Ansätze“ irgendwie miteinander in Einklang zu bringen. Diese Versuche besagen als gegenwärtig bestehende Tatsachen, daß die Ausgangsbedingungen der Soziologie nach wie vor wirksam sind. Noch immer ist ihr Erkennen in ihr Herkommen eingebunden. Diese Einbindung gilt auch von der Art und Weise, auf die verfahren wird, die formal disparat bestimmte Alternative der gesellschaftlichen Existenz des „Menschseins“ zu überwinden. Das Erkennen ist wie eh und je naiv einerseits und reflektiert andererseits. Die arglose Soziologie ist der Meinung, daß die Form der Gesellschaft bald eine geteilte, bald eine ungeteilte ist. Die gesellschaftliche „Einzelnheit“ wie die gesellschaftliche „Ganzheitlichkeit“ sind also sowohl dasselbe wie etwas Verschiedenes. Anders spricht sich die nachdenkliche Meinung aus, mag es sich auch nur um eine Nuance handeln. Ihr zufolge ist die Gesellschaft wirklich zweigeteilt. Aber diese Zweiteilung stellt etwas gesellschaftlich Vernünftiges dar oder zumindest etwas Nützliches. In einer Untersuchung, die aus den unbekümmerten soziologischen Bemühungen ausgewählt sei, ist zu lesen, daß sie „versucht, ein möglichst breites Spektrum der Theorien, die . . . ,heute diskutiert werden‘, abzubilden“104. Diese Abbildung geschieht in einem ersten Schritt dadurch, daß elf soziologische Meinungen aufgewiesen werden. In Stichworten benannt, handelt es sich um die Lehre von den sozialen Systemen, von den Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus und um den Aufweis des Verhältnisses zwischen Spätkapitalismus und Patriarchat; diesen Berichten folgen die Darstellungen der Verhaltens- und Nutzenlehren, des Symbolischen Interaktionismus und der soziologischen Phä104 Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Opladen 1993, S. 13. – Im übrigen sei angemerkt, daß das erwähnte Werk in seiner 1. Auflage zitiert wird. Es liegt inzwischen „überarbeitet und aktualisiert“ Wiesbaden 20046 vor. Dankenswerterweise benennt die Neuauflage sogleich und ausdrücklich die Gliederung der Darstellung. Vgl. hierzu das Inhaltsverzeichnis S. 9, wo die disparaten soziologischen Lehrmeinungen ausgewiesen werden unter den folgenden Titeln, die das Werk einteilen: 1. „Makrotheorien“, 2. „Mikrotheorien“ und 3. „Ansätze zur Überwindung des Mikro-Makro-Dualismus“. – Bei dieser Gelegenheit darf zur gesellschaftswissenschaftlich durchgängigen Vorstellung des humanen Zusammenseins im makrologischen Sinn als „Organismus“ und im mikrosoziologischen Sinn als „Vertrag“ hingewiesen sein z. B. auf Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004.
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nomenologie sowie der Ethnomethodologie; an sie schließen sich die Aufweise der Lehre vom kommunikativen Handeln und der Lehre von der Gesellschaft als einer Gesellschaft der „Individuen“ an sowie Darlegungen des Zusammenhanges zwischen Kultur, Ökonomie und Habitus, des Dualismus von Handeln und Struktur und der Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Daß gerade diese Lehrstücke Beachtung finden, die im übrigen bevorzugt als soziologische Theorien bezeichnet werden, ergibt sich nach der Ansicht der Verfasserin der Arbeit, über die zu sprechen ist, zum ersten aus ihrem Blick auf die soziologische Zeitverhältnisse. Es sind diejenigen zwischen den 60er und den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Soziologie, die dieser Zeit voraufliegt, gehört, wie es heißt, zur Geschichte des Faches und diejenige, die ihr folgt, ist unübersichtlich. Wir haben es also mit dem geläufigen Verständnis der soziologischen Erkenntnis bzw. der soziologischen Theorie zu tun. Ihm liegt es fern, nach den bleibenden Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz zu fragen und nach ihren Abwandlungen, wo immer und wann immer sie auftreten. Nach ihm zählen allein diejenigen Meinungen, die aktuell sind, wer hierüber auch immer befindet. Sodann erörtert die Verfasserin keineswegs alle auffindbaren soziologischen Meinungen, sondern nur diejenigen Lehrstücke, die ihr einleuchten. Derart gehandhabt, erscheint das soziologische Erkennen als in hohen Graden willkürlich. Auf die dergestalt bestehende Problematik ist an dieser Stelle jedoch nicht direkt einzugehen. Denn zu bedenken ist das Urteil über die aufgelisteten soziologischen Lehren. Ihm zufolge bilden sie kein bloßes Nebeneinander, vielmehr bestehen sie in Zusammenhängen, die von letzter theoretischer Bestimmtheit sind. Sie bestehen als die genannten und vorgängig erklärten zwei bzw. drei verwandten Meinungen. Es sind dies die sogenannten soziologischen Makro-Ansätze, die sogenannten soziologischen Mikro-Ansätze sowie die Dualismen von Mikro- und Makrotheorien. In seiner Absicht besagt dieses Urteil, daß in den genannten Zusammenhängen das Ganze der soziologischen Erkenntnis vorliegt oder jedenfalls jenes Ganze, das zeitgemäß entwickelt ist. Diese Auffassung der Lehre der Soziologie gibt die Überzeugung wieder, die das Fach beherrscht. Ob sie begründet ist, steht dahin. Denn offenkundig stellt sich die Frage, warum die Soziologie nicht in einfacher Weise vorliegt, sondern in zwei- bzw. in dreifacher Weise sich auseinanderlegt. Dem Grund dieser theoretischen Alternative bzw. diesen theoretischen Alternativen ist nachzugehen. Im Bemühen, die genannten Zusammenhänge soziologischer Meinungen klar zu bestimmen, heißt es zum ersten: „Für Makro-Ansätze . . . stehen größere soziale Gebilde oder kollektive Prozesse im Mittelpunkt. Ihr Gegenstand sind etwa die Struktur und/oder der Wandel staatlicher Organisationen und Institutionen, sozialer Gruppen, aber auch von Klassen, Schichten oder Minderheiten. Vorrangig sind jedoch Versuche, die Gesamtgesellschaft . . . zu analysieren. Gesellschaft gilt hier als eigene Realität, die aus individuellen Bezügen oder Ele-
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menten nicht ,ableitbar‘ ist.“105 An dieser Bestimmung ist jenseits ihrer verschiedenen Verweise wesentlich, daß ihr zufolge die Gesellschaft „als eigene Realität“ besteht. Solchermaßen eine „Gesamtgesellschaft“ bildend, ist sie insbesondere nicht begründet in den menschlichen „Individuen“ mit ihren Beziehungen. Worin die „eigene Realität“ der makrosoziologisch verstandenen Gesellschaft ihren Ursprung besitzt, darüber sagt die Verfasserin nichts. Insofern folgt sie einer der zahlreichen soziologischen Grundannahmen, die unbefragt bestehen. Daß sie zurecht bestehen, erfolgt durch eine Vergewisserung, die sich im wesentlichen aus einem Vergleich der makrosoziologischen Verhältnisse mit jenen Verhältnissen ergibt, die als mikrosoziologisch bezeichnet werden. Da aber auch der umgekehrte Vergleich erfolgt, stellt sich die Bestätigung der Annahme wechselweise ein. Es ist also zu prüfen, was über die mikrosoziologisch verstandene Gesellschaft und Gesellschaftserkenntnis gesagt wird: „Mikro-Ansätze“, so heißt es, „orientieren sich an Individuen und ihren Interaktionen untereinander. Die Abhängigkeit von den sozialen Strukturen, die diese Individuen umgeben, werden durchaus gesehen, stehen aber nicht im Mittelpunkt. Hier wird untersucht, wie Menschen unter bestimmten Bedingungen typischerweise – und vorhersehbar – handeln, welches ihre Motive und Erwartungen sind, oder wie ihre Handlungen aufeinander bezogen sind.“106 Was diese Bestimmung besagt, kommt zunächst in ihrem ersten Satz zum Ausdruck. Er behauptet, daß, verneinend formuliert, die Gesellschaft im Sinn der Makrosoziologie keine „eigene Realität“ ist; bejahend ausgedrückt, ist die Gesellschaft aber durchaus eine „eigene Realität“, nämlich diejenige von „Individuen und ihren Interaktionen“. Wenn von ihnen gesagt wird, daß sie sich „in Abhängigkeit von sozialen Strukturen“ bewegen, so steht deren Betrachtung doch „nicht im Mittelpunkt“, was heißt, daß sie bedeutungslos ist. Jenen Mittelpunkt bilden vielmehr die „bestimmten Bedingungen“, unter denen „Menschen“ handeln. Sie sind, wie man weiß, diejenigen der physischen und der psychischen Natur der humanen Existenz. Im Gegensatz zu jenem unbenannt belassenen Ursprungsgrund der „Gesamtgesellschaft“, wird jetzt der gesellschaftliche Ursprung also wenigstens angedeutet. Naturalismen sind es, die das „Handeln“ der „Individuen“ bestimmen. Dennoch sind die „Individuen in ihren Interaktionen“ nichts Naturhaftes. Sie sind etwas Gesellschaftliches. Deshalb interessiert sich die Soziologie als Mikrosoziologie so für sie, wie die Makrosoziologie sich für ihre Gesellschaft interessiert. Es stehen sich also geschieden gegenüber die makrosoziologische „Gesellschafts“-Soziologie und die mikrosoziologische „Individual“-Soziologie. In diesem Zerfall ist nichts anderes benannt als das, was oben als disparate Alterna105
Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O.,
S. 13. 106 Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O., S. 13 f.
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tive der Gesellschaft und der Gesellschaftserkenntnis aufgewiesen wurde. „Die Gegnerschaft zwischen Mikro- und Makroansätzen“, schreibt die Verfasserin ehrlicherweise, „gehört zu den klassischen Debatten der Soziologie-Geschichte, und viele Gegenwartssoziologinnen und -soziologen fühlen sich nach wie vor ausschließlich dem einen oder dem anderen Lager zugehörig und halten die Abgrenzungen weiter aufrecht.“107 Da sie jedoch der soziologischen Vernunft widersprechen, gilt es, eine „Synthese“ zu suchen und vielleicht auch zu finden. Auf diesem Weg ist „parallel zu dieser alten Dichotomie“, d.h. der Zweigeteiltheit der einheitlichen Gesellschaft, erfreulicherweise „eine neue Entwicklung festzustellen: Immer mehr Soziologinnen und Soziologen sehen einzig und allein in einer Verbindung von Makro- und Mikrotheorie die Garantie für eine fruchtbare und anregende Weiterentwicklung der soziologischen Theorie“108. Abgesehen davon, daß jene „neue Entwicklung“ schon sehr alt ist, kann der realistische Blick auf die gegebenen Verhältnisse keinen Grund erkennen, der den Optimismus der Verfasserin rechtfertigen könnte. Denn wie sollte sich der gesellschaftliche Totalismus dort und der gesellschaftliche Individualismus hier „verbinden“ lassen? Bestehen sie nach ihrer Bestimmung nicht als etwas Grundverschiedenes? Da das in der Tat der Fall ist, drängt der Gedanke zu einer „personalistischen“ Lösung des Problems. Das will besagen, daß es darauf ankommt, wenigstens diesen oder jenen Soziologen zu benennen, in dessen Werk sich sowohl makrosoziologische wie mikrosoziologische Lehrstücke finden. Lassen sich solche, durch die „Einheit“ der gelehrten Persönlichkeit verbundene Dualitäten aufweisen, ist die Freude groß. Sie wird jedoch alsbald enttäuscht, denn sie ist sachlich ein Schein. Im Sinn dieser Verhältnisse heißt es beispielsweise, der Soziologe dieses oder jenes Namens „vertritt explizit das Ziel, den Dualismus von Mikro- und Makrotheorie zu überwinden: er ist der Auffassung, daß gesellschaftliche Strukturen als solche den Handlungen individueller Akteure nicht gegenüberstehen, sondern unmittelbar in diese Handlungen miteinfließen, und umgekehrt die Handlungen von Akteuren Strukturen ,schaffen‘. Handlung und Struktur sollen nicht jeweils für sich betrachtet, sondern in ihrer gegenseitigen Beziehung analysiert werden.“109 In der Tat – die herbeigewünschte Soziologie ist vernünftig. Sie ist, wie man sagen könnte, eine soziologische Soziologie. Trefflich wäre es, wenn es sie gäbe. Aber schon die Sprache der Verfasserin und die des zitierten Soziologen sind verräterisch: Wie ist es möglich, soziologisch von Handlungen von Menschen einerseits und von Strukturen ohne Menschen andererseits zu sprechen? 107
Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O.,
S. 14. 108
Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O.,
S. 14. 109 Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O., S. 228.
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Immer und überall ist die Gesellschaft „strukturiertes Menschsein“ bzw. „Menschsein in Struktur“, wenn so soziologisch zu reden sinnvoll ist. Die Verkennung dieses Urbefundes der Gesellschaft hat zur Folge, daß das arglose Bemühen im Vergeblichen endet. Die Disparatheit der bestehenden Alternative gestattet keine „Verbindungen“ im Sinn des einheitlichen Seins und Erkennens der Gesellschaft. Aus diesem Grund endet keiner der duo-monistischen Versuche, den die Verfasserin anführt, mit einem befriedigenden Ergebnis. Von allen wird schließlich eingestanden, daß bald die Makrosoziologie die Mikrosoziologie sich botmäßig hält, bald ist das Umgekehrte der Fall. Die den Dualismus zu überwinden suchenden „Theorieentwürfe sind“ zuletzt „entweder primär mikrotheoretisch . . . oder makrotheoretisch orientiert“110, lautet der Schluß. Die disparate Alternative betrifft also auch und gerade jene soziologischen Persönlichkeiten und ihre Werke, welche um eine Bewältigung des Zerfalls der Gesellschaft und der Gesellschaftserkenntnis bemüht sind, indem sie als Soziologen und in ihren Soziologien die Unverbundenheit der grundverschiedenen Zusammenhänge vorführen. Die „Verbindung“ der disparaten alternativen Lehrstücke übersichtlich darzustellen, erfolgt am überzeugendsten noch immer dadurch, daß man sich jenes Schemas bedient, das zum Eingang dieses Kapitels aufgewiesen worden ist. Wie erinnerlich, ordnet es den gesellschaftswissenschaftlichen Gegenstand nach zwei formalen und nach zwei materialen uranfänglichen Beständen. Ihre Verknüpfung führt zu den Unterscheidungen zwischen dem physischen und dem psychischen Individualismus und dem physischen und dem psychischen Totalismus. Diesem Schema entsprechend seien jene elf, von der Verfasserin genannten und bereits angedeuteten soziologischen Lehrmeinungen im folgenden kurz zusammengefaßt. Den derart geordneten Lehren sei auch der Name des jeweiligen bzw. der jeweiligen Autoren hinzugefügt. Denn die herrschende Soziologie erklärt sich zum wenigsten aus dem Begreifen der Beschaffenheit des Erkenntnisobjekts. Sie erklärt sich vor allem aus dem Ziel, das das jeweilige soziologische Erkenntnissubjekt im Auge hat. Zum Erkenntniszusammenhang im Sinn (1) des naturalistischen Individualismus zählt als Meinung (I) „das individualistische Programm“. Mit der Verfasserin übereinstimmend, kann man sagen, daß die verschiedenen, soziologisch gemeinten „Verhaltens- und Nutzentheorien“ (George C. Homans, Karl-Dieter Opp, James S. Coleman) die natürlichen Bedingungen des Wirkens des „Menschen“ in gesellschaftlicher Hinsicht erklären wollen. Ein vergleichbares Ziel verfolgt das Lehrstück (II) über „Kultur, Ökonomie und Habitus des Menschen“ (Pierre Bourdieu). Denn zuletzt will es die natürlich-determinierenden Gründe aufzeigen, die die Erscheinungsbilder von menschlichen „Individuen“ bestim110 Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, a. a. O., S. 175.
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men. Der Erkenntniszusammenhang im Sinn (2) des psychologistischen Individualismus ordnet sich wie folgt: Gern wird – in der Aufzählung der behaupteten elf Theorien fortfahrend – zuerst (III) „das interpretative Programm“ genannt. Als symbolischer Interaktionismus (George H. Mead, Herbert Blumer) und als soziologische Phänomenologie insbesondere des Alltags (Edmund Husserl, Alfred Schütz, Peter L. Berger, Thomas Luckmann) wollen diese Lehrstücke die Ausbildung psychischer Formen des Wissens und des Wirkens zwischen menschlichen „Individuen“ erfassen. Ihnen verbunden ist das Lehrstück (IV), das den Titel trägt „Geschlecht als soziale Konstruktion: Ethnomethodologie und Feminismus“ (Irving Goffman, Harold Garfinkel, Susanne J. Kessler, Wendy McKenna). Es diskutiert unter der genannten besonderen Rücksicht jene Thematik, die ausgreifend zumeist (V) als „Dualität von Handlung und Struktur“ (Anthony Giddens, Ulrich Beck) bezeichnet wird. Gegenstand dieser Untersuchungen ist die Ordnung der Entsprechungen wirkender menschlicher „Individuen“. Ihm zugehörig ist das Lehrstück, das unter der Überschrift (VI) „Konstituierung des Geschlechterverhältnisses“ (Helga Bidden, feministische Soziologie) besonders ausgewiesen wird. Zum Erkenntniszusammenhang im Sinn (3) des biologistischen bzw. formalistischen sowie des materialistischen Totalismus gehört (VII) die „Theorie sozialer Systeme“ (Niklas Luhmann). Sie lehrt, daß in der Welt der Ereignisfülle das funktional-strukturelle System dasjenige durch das biologische Kollektivsubjekt aktualisierte System ist, das die Bedingungen der Erlebnisverarbeitung und damit der Wirklichkeitsbeherrschung darstellt. In den durch seinen Umweltbezug gesetzten Grenzen besteht es als Mitteilung und als Einfluß, d.h. als Selbstbezug und -hervorbringung in seinen Bestandteilen und im Ganzen. Dieser Philosophie gegenüber, die das Leben und den Geist des „Menschen“ geradezu im Ganzen umzudeuten sucht, erscheint die strukturell-funktionale Theorie bescheiden als eine formalistische Abwandlung der Organismuslehre (Talcott Parsons, Richard Münch). Das (VIII) als „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ benannte Lehrstück (Jürgen Habermas, Klaus Offe) begreift man richtig als Bestandteil (IX) der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Jürgen Habermas). Ihr Inhalt besteht in einer kompilatorischen neomarxistischen Gesellschaftslehre als Grundlage einer Ethik des politischen Lebens. Auf eine Beschreibung der kapitalistischen Weltwirtschaft beschränken sich die Untersuchungen über (X) „Kapitalismus und Patriarchat“ (Immanuel Wallerstein, feministische Soziologie). Zum Erkenntniszusammenhang im Sinn (4) des idealistischen Totalismus bzw. zu einer seiner Ausformungen ist zu nennen (XI) das Lehrstück über die „Gesellschaft der Individuen“ (Norbert Elias). Es zielt auf die Erkenntnis der Kulturgeschichte als eine Aufgabe der „menschlichen“ Existenz. Von den naiven Bemühungen, denen zufolge der Ausdruck der Gesellschaft ebenso grundverschiedene Sachverhalte zusammenfaßt wie er den einen Sachverhalt meint, der im Sinn seiner Bezeichnung einheitlich als dieser besteht,
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sind die reflektierten soziologischen Bestimmungsversuche der Gesellschaft zu unterscheiden. Diese nachdenklichen Untersuchungen lassen sich – wenigstens zunächst – von der Annahme leiten, daß die Gesellschaft als Gegenstand eine Einheit darstellt. Dem gegenüber ist die Weise der Erkenntnis dieses Gegenstandes anders beschaffen. Sein Erkennen ist nicht einheitlich, sondern vielheitlich. Die (jeweils) eine Gesellschaft ist nur in mehreren „Denkmodellen“ faßbar, „die von sehr verschiedenen Grundvorstellungen methodischer und konzeptueller Art ausgehen, die jeweils eine eigene Sprache verwenden und den gleichen Gegenstand auf jeweils gänzlich verschiedene Weise sehen und interpretieren“111. Mag die Gesellschaftserkenntnis also solcher Art vielfältig sein, so drängt es die Soziologie doch, eine Übersicht von dem zu erreichen, was sie zu erfassen sucht. Man ist nicht überrascht zu lesen, daß der heute geläufigste Versuch darin besteht, die Vielzahl der Meinungen als mikrosoziologische und als makrosoziologische „Ansätze“ zusammenzufassen. Über die Eigenart dieser „Ansätze“, also über die im soziologischen Denkhaushalt „objektiv“ möglichen Erkenntnisintentionen, sowie über die Folge, die sich aus dieser „zweigeteilten Einheit“ ergibt, ist soeben berichtet worden. Es ist vor allem die Folge, die die kritischen soziologischen Theoretiker veranlaßt, die verbleibende Unterscheidung zwischen der gesellschaftlichen Mikrologie und der gesellschaftlichen Makrologie zu verwerfen. Nach ihrer Meinung besteht aller Anlaß zu der Feststellung, daß „die Zuordnung“ der soziologischen Lehrstücke „zu (eher) mikro- und (eher) makrosoziologischen Paradigmen . . . von den meisten Vertretern der Theorie abgelehnt“112 wird. Zur Begründung erfolgt der Hinweis auf die „thematische Ausrichtung“ jeder soziologischen Lehre, also darauf, daß alle jene Lehrstücke Lehren der soziologischen Erkenntnis sind. Deswegen läßt sich von den verschiedenen Meinungen sagen: „Alle Theorien beschäftigen sich“ – jedenfalls auch und irgendwie – „mit dem gesamten Spektrum gesellschaftstheoretischer Themen.“113 Die zahlreichen soziologischen Lehren, wie verschieden sie auch immer sind, werden somit durch ihren „inhaltlichen Bezugspunkt“114 geeint. Unter dieser Voraussetzung listet die Untersuchung, die aus den zahlreich vorliegenden reflektierten Darstellungen ausgewählt wurde, sieben soziologische Lehrstücke auf. Im Grundsatz gleichermaßen gehaltvoll, benennen sie die fachwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft im Sinne eines Zusammenhanges ihrer Erkenntnisse, wie dieser sich heute aufweisen läßt. Ihre Ver-
111 Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien. Eine Einführung für Amateure, Wien/New York 1994, S. 32. 112 Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien, a. a. O., S. 36. 113 Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien, a. a. O., S. 36 114 Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien, a. a. O., S. 33.
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schiedenheit besteht im Bezug auf den je besonderen gesellschaftlichen Sachverhalt und in der Weise seiner Darstellung. Daß es sich mit der soziologischen Erkenntnis in Wirklichkeit so verhält, wie es behauptet wird, ist zu bezweifeln. Denn begründet besteht jene Behauptung nur dann, wenn sie auch eine Bestimmung der erwähnten inhaltlichen Bezogenheit der verschiedenen soziologischen Lehrmeinungen enthält, da sie es ist, die ihr Verhältnis ordnet. Aber welche Erkenntniskritik benennt diesen einheitstiftenden Ursprungsgrund? Offenkundig wird er nirgends aufgespürt. Freilich ist seine Benennung nicht leicht, und seine Begründung ist heikel, sofern sie überhaupt gelingen kann. Denn nicht weniger ist verlangt als die Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit der fachwissenschaftlichen Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Diese Bestimmung besteht des näheren darin, daß das soziologische Subjekt sich selbst mit dem Ziel untersucht, den Grund zu benennen, der das „objektive“ soziologische Erkennen eint, trägt und hervorbringt. Das Problem, das zu lösen ist, besteht also in einer transzendentalen Analytik der soziologischen Vernunft. Daß die Soziologie diese Aufgabe höchstens in Ansätzen erkannt hat, belegt das Schrifttum, das sich der Darstellung der soziologischen Theorien in ihrer Einheit widmet. Die Behauptung der inneren Geordnetheit der soziologischen Lehren aufgrund ihres „inhaltlichen Bezugspunktes“ entbehrt also jeder Begründung. Aus diesem Mangel folgt, daß die erörterten Lehrmeinungen nicht mit einander verbunden sind, sondern als grundverschiedene Ansichten nebeneinander bestehen. Um sie als das zu begreifen, was sie sind, bietet sich abermals jenes aufgewiesene Schema an, das die disparaten Alternativen der Gesellschaftserkenntnis in ihren Gehalten benennt und ordnet. Im erwähnten Schema gliedern sich die soziologischen Lehrmeinungen, die die ausgewählte Untersuchung aufführt, wie folgt: Im Sinn (1) des naturalistischen Individualismus versammelt sie unter dem Titel (I) „Utilitaristische Soziologie: Nutzen, Rationalität, Handeln“ die einschlägigen Meinungen und ihre Ausformungen. Diese Ansichten entsprechen den Lehren des oben skizzierten „individualistischen Programms“ der Soziologie. Im Sinn (2) des psychologistischen Individualismus werden (II) der „Symbolische Interaktionismus“ sowie (III) die „Ethnomethodologie“ genannt. Auch von diesen Meinungen war bereits die Rede. Im Sinn (3) des materialistischen bzw. biologistischen sowie formalistischen Totalismus wird (IV) über „Marx und den Historischen Materialismus“ gesprochen und (V) die „Kritische Theorie“ dargelegt. Diesen Darstellungen folgen der Aufweis (VI) des „Funktionalismus“, also der Gesellschaftsauffassung, die sich an der Beschaffenheit des biologischen Organismus orientiert, sowie zuletzt der Darstellung (VII) der „Systemtheorie“ als einer Lehre von der Gesellschaft. Da auch diese Totalismen bereits gekennzeichnet worden sind, ist über sie nichts zu wiederholen. Im Sinn (4) des idealistischen Totalismus führt die ausgewählte Untersuchung keine soziologische Lehrmeinung an.
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Die „menschenwissenschaftliche“ bzw. kulturgeschichtliche Lehre von Norbert Elias, die oben benannt wurde, bleibt unerwähnt. Dasselbe gilt von der HabitusLehre von Pierre Bourdieu, der Meinung über die Dualität von Handlung und Struktur bei Anthony Giddens und Ulrich Beck sowie den feministischen soziologischen Beiträgen. Der Verzicht der Darstellung dieser Meinungen hat zur Folge, daß sich die Elf-Zahl der soziologischen Theorien auf eine Sieben-Zahl verringert. Die Frage, ob eine Beschränkung wie diese, die soziologische Theorienlehre wesentlich betrifft, bleibt unbeantwortet. Mit der wiedergegebenen Übersicht könnte die Erörterung der reflektierten Weise der Darstellung der soziologischen Meinungen ihr Ende finden. Daß ein solcher Abschluß diesem Aufweis jedoch nicht gerecht wird, liegt daran, daß der Bericht mit dem Ergebnis der unverbunden nebeneinander bestehenden Soziologien nicht schließt. Zu sehr widerstreitet das Ergebnis der erklärten Voraussetzung, der zufolge sie alle, sofern sie soziologischer Natur sind, einen sinnvollen Zusammenhang bilden. Da die Darstellung sich nicht auf den Weg seiner transzendentalen Bestimmung begeben hat, ist sie bemüht, eine andere Lösung zu finden. Sie besteht in der Vorstellung, daß im Rücken der soziologischen Erkenntnis schon immer eine Kraft wirksam ist, die ihrer Vielheit ihre Einheit entgegensetzt. Dieses Wirksamsein ist vergleichbar mit dem Lehrstück von der „unsichtbaren Hand“, die Adam Smith in seiner Gesellschaftslehre erwähnt. Sie ist es, die die „individuellen Interessen“ mit den „Interessen des Ganzen“ in Einklang bringt. In ähnlicher Weise spricht Georg Wilhelm Friedrich Hegel von der „List der Vernunft“. Sie ist es, die durch das menschliche Einzelwollen hindurch das Weltgeschehen seinem Endzweck entgegenführt. Jener gesellschaftsphilosophischen und dieser geschichtsphilosophischen These ähnlich, heißt es jetzt in erkenntnistheoretischer Wendung, daß die zahlreichen soziologischen Lehren keine disparaten Alternativen sind, vielmehr bestehen sie als ein „nützlicher Streit der Theorien“. Indem die eine soziologische Lehre in viele soziologische Lehren zerfällt, entwickelt sie in sich jene Gegensätzlichkeit, die die soziologische Erkenntnis vorantreibt. Selbstbewußt wird diese Wahrheit des soziologischen Erkennens ausgebreitet: „Die theoretische Vielfalt“ der soziologischen Meinungen, so ist zu lesen, „bedeutet ein System von sich meist streitenden, insgesamt aber dadurch (!) kooperierenden Theorien: es entsteht ein heterogenes Ganzes, in dem verschiedene Perspektiven die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und (miteinander und gegeneinander) ihren partikularen Beitrag zu leisten.“115 Bezieht man diesen Lehrsatz auf die Arbeit des einzelnen Soziologen, dann besagt er, daß dieser keineswegs den je eigenen Beitrag zur Erkenntnis der Gesellschaft leistet, sondern denjenigen, den ihm der unumschränkt waltende soziologische Erkenntnisprozeß eingibt. Dabei ist aus115
S. 25.
Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien, a. a. O.,
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gemacht, daß dieser Prozeß kein „vernünftiges Subjekt“ ist. Er ist irgendwie da als ein Entwicklungsgang, der sich noch nicht einmal im Ganzen seiner Eigenschaften fassen läßt, sondern nur in einzelnen von ihnen. Sie sind greifbar hier und dort und dann und wann. Ihnen zufolge ist diese hintergründige Vorsehung wirksam „nicht ,rational‘, sondern ,chaotisch‘, mit Irrungen und Wirrungen, Umwegen, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten“. Also gehört „das Balancieren mit verschiedenen, sich (scheinbar) widersprechenden Theorien . . . zu den unvermeidlichen Zumutungen sozialwissenschaftlicher Reflexion, ebenso wie der Zwang zur ständigen Neuaneignung“, die zu leisten die soziologischen Subjekte freudig bereit sind: Denn dies ist „auch eine Chance: auf diese Weise sind individuelle, kreative Umgangsweisen nicht nur möglich, sie werden geradezu unumgänglich. ,Von allein‘ arbeitet keine Theorie, verlangt ist persönliche Aktivität und das heißt immer auch: ein individueller Lernprozeß (mit allen Zumutungen und Möglichkeiten, die damit verbunden sind).“116 Gegenüber dieser erstaunlichen erkenntnismetaphysischen Behauptung, über deren Begründung man gern etwas nachlesen würde, ist festzuhalten, daß die Soziologie es von Anfang an als ihre Aufgabe angesehen hat und es bis heute als ihre Aufgabe ansieht, sich jenseits besonderer Erkenntniszusammenhänge, also jenseits jener Theorien, auch und gerade als Soziologie im Allgemeinen zu entfalten. Als fachwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft begreift die Soziologie sich keineswegs nur als eine Gesamtzahl von Ansichten derselben oder verschiedener gesellschaftlicher Gegenstände. Die erste Bestimmung der Soziologie besteht vielmehr darin, als Allgemeine Soziologie diszipliniert zu sein. Sie mag sich sodann besondern. Dieser Allgemeinen Soziologie muß die weitere Aufmerksamkeit gehören. IV. Die rätselhafte Bestimmung der Soziologie im Allgemeinen
Es dürfte angebracht sein, sich über den Ausdruck des Allgemeinen zu verständigen. Denn der theoretischen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis liegt es im Blut, sich jenseits des Gesellschaftlich-Allgemeinen sogleich für das Gesellschaftlich-Besondere zu interessieren. Der alltägliche Sprachsinn des Allgemeinen findet sich in den einschlägigen Wörterbüchern formuliert. In einem von ihnen heißt es: „Allgemein“ besagt (1) „(fast) alle oder alles betreffend, für alle geltend“; (2) „überall (verbreitet, bekannt), allen gemeinsam“; (3) „nicht speziell, nicht auf Einzelheiten eingehend, generell“117. Diese Bedeutung des Allgemeinen, wie die Sprache des Alltags sie kennt, findet sich in der Regel 116 Johann August Schülein/Karl-Michael Brunner, Soziologische Theorien, a. a. O., S. 25 f. 117 Gerhard Wahrig (Hrsg.), Brockhaus Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Erster Band, Art. allgemein, Wiesbaden/Stuttgart 1980, S. 169.
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auch in den Denk- und Redeweisen der Wissenschaften, zumal in denen der Wissenschaften der humanen Existenz. Soweit sie danach trachten, das menschliche Sollen zu erkennen, besteht das Allgemeine naturgemäß in dem, was „für alle geltend“ ist. Mit diesem Verständnis verbindet sich die dritte zitierte Bedeutung, der zufolge das Allgemein-Geltende „nicht auf Einzelheiten eingehend“ beschaffen ist. Aufweise, Begründungen, Billigkeiten, situative Bezüge und Durchsetzungen der sittlichen Regeln, die „alle betreffen“, sind danach das Allgemeine der praktischen Wissenschaften. Im Gegensatz zu ihnen haben die theoretischen Wissenschaften der humanen Existenz das zweite genannte Allgemeine im Auge, also das, was „allen gemeinsam“ ist. Dieses Allgemeine ist nichts anderes als derjenige Bestand, der „Verschiedenes“ wesentlich „eint“. Deswegen ist auch der theoretische erkennende Blick „nicht auf Einzelheiten eingehend“. Dieser Begriff des Allgemeinen ist hier von besonderem Belang. Er ist derjenige Begriff, den die Soziologie verwendet, wenn sie als Allgemeine Soziologie das humane Zusammensein, also die bzw. eine Gesellschaft, zu erkennen versucht. Wie in anderen Wissenschaften von der humanen Existenz wird auch in der Soziologie das Allgemeine im Sinne des Gemeinsamen weiterbestimmt, und zwar auf zweifache Weise. Danach wird das Allgemeine erstens als dasjenige verstanden, was generell besteht, d.h. als Etwas, was in der Form der Gattung bzw. in der Form der Art da ist. Das Generelle bzw. das Spezielle hat zu seinem Unterschied das Individuelle, d.h. das Dieses-da und das Jenes-da. Von diesem Bedeutungszusammenhang des Allgemeinen ist seine zweite Bestimmung unterschieden. Ihr zufolge ist das Allgemeine das Universale, d.h. das Weltweite. Es besitzt seinen Unterschied im Separaten, d.h. im Privaten. Die soziologische Forschung tut gut daran, den genannten Unterschied wohl zu beachten. Diese Ermahnung kann nicht nachdrücklich genug wiederholt werden. Sie besitzt ihren Anlaß in der herrschenden lässigen soziologischen Denk- und Redeweise, die dazu führt, daß die genannten Bezugs- bzw. Unterschiedsverhältnisse des Allgemeinen zunächst übersehen und alsbald aufgehoben werden. In der Folge tritt an ihre Stelle die Meinung, nach der das Allgemeine darin besteht, ein Ganzes oder sogar das Ganze zu sein. Sodann wird das, das diesem Ganzen entgegengesetzt ist, als das Einzelne bestimmt. Auf diese sinnwidrige Bestimmung aufmerksam zu machen, bestand schon Gelegenheit. Es mag aber ratsam sein, abermals zu erklären, daß das Allgemeine keineswegs als ein Ganzes besteht, und daß das Ganze seinen Gegenpol nicht im Einzelnen, sondern in seinen Teilen besitzt. Mit dieser Erinnerung verbindet sich die Hoffnung, daß in der Soziologie künftig konsequent nur noch die Rede sein möge (1) von der Gattung bzw. der Art und dem Besonderen, (2) vom Allgemeinen und vom Einzelnen sowie (3) vom Ganzen und vom Teil. Achtet man auf diese Verhältnisse, dann bewahren auch alle weiteren Bestimmungen ihren Sinn. Zu ihnen zählen vor allem die Unterschiedsbezeichnungen zwischen (4) dem Allge-
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meinen als dem Formalen und dem Einzelnen als dem Konkreten sowie zwischen (5) dem Komplexen als dem Vieleinheitlichen und dem Singulären als dem Einmaligen. Die Soziologie, die als „Allgemeine Soziologie“ ausgebildet ist, also als fachwissenschaftliche Erkenntnis der formalen Beschaffenheit der Gesellschaft, sollte man nicht mit derjenigen Betrachtungsweise des humanen Zusammenseins verwechseln, die in der herrschenden Soziologie zumeist als „soziologische Theorie“ bezeichnet wird. Im weitesten Sinn bezeichnet dieser Name jene Bemühungen, die die bzw. die eine Gesellschaft aus bestimmten Blickwinkeln heraus zu erkennen trachtet, wobei das Erkenntnisinteresse sich bald mehr diesem und bald mehr jenem Zusammenhang der ins Auge gefaßten Gesellschaft zuwendet. Diese Einstellung hat zur Folge, daß es die soziologische Theorie nur in der Mehrzahl gibt. Da dieses Ergebnis den formalen Erkenntnissinn nicht befriedigt, finden sich immer wieder Versuche, jene Theorien zusammenzufassen. Solchermaßen gebündelt, stellen sie sich als soziologische Theorie in der Einzahl dar. Proben dieser Bündelung sind soeben vorgelegt worden. Derartige Bemühungen haben mit dem, was man begründet Allgemeine Soziologie nennt, nichts zu tun. Denn die Allgemeine Soziologie zielt auf die Erkenntnis einer Gesellschaft schlechthin, nicht auf die Summe verschiedener Erkenntniseinheiten. Auf die Gesellschaft schlechthin kann freilich auch ein Denken gerichtet sein, das man treffend als konkretes soziologisches Denken bezeichnet. Dieses konkrete Denken hat die Gesellschaft als je einzelne im Auge, also als diese Gesellschaft und als jene Gesellschaft und so fort. Gesellschaften in diesem Sinn sind beispielsweise die Gestaltungen der polis-Gesellschaft, der societas-Gesellschaft, der mittelalterlichen Ständeordnung, usw. Für das konkrete Denken ist wesentlich, daß es die einzelne Gesellschaft so darstellt, wie sie ihm in der sinnlichen Anschauung gegeben ist. Dabei verzichtet es nicht darauf, auch das Wesen dieser und jener Gesellschaft erkennen zu wollen. Ist es realistisch, dann erkennt es seine Grenzen. Sie gründen im Einzelsein dieser und jener Gesellschaft. Eben dadurch ist diese Gesellschaft von jener Gesellschaft und von allen anderen Gesellschaften unterschieden. Das ist der Grund, aus dem die konkrete Erkenntnis zwar vollen lebendigen Inhalts ist, daß sie von der von ihr studierten Gesellschaft zuletzt aber nur in Beispielen, wenn nicht sogar nur in Hinweisen auf sie sprechen kann. Sie verbleibt im anschaulichen Ausdruck der Bestände dieser Gesellschaft. Anders verhält es sich mit dem formalen Erkennen der Gesellschaft. Natürlich richtet es sich auch auf diese und auf jene Gesellschaft usw., aber nicht, insofern diese als Einzelne bestehen. Dem formalen Erkennen geht es um das Gesellschaftliche der real existierenden Gesellschaften. Das ist das, was ihnen gemeinsam ist. Das ist ihr allgemeines Wesen. Die Erkenntnis dieser Art der Gesellschaften besteht deswegen als die Erkenntnis der bzw. einer Gesellschaft im Allgemeinen.
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Zweifellos bleibt die Soziologie als formale Erkenntnis der Gesellschaft hinter dem Erfassen der Fülle des gesellschaftlichen Lebens zurück, wie das dem konkreten Erkennen möglich ist. Aber der Gewinn des formalen Denkens entschädigt durch die Einsicht in die Gemeinsamkeit, die diese und jene und alle übrigen Gesellschaften als Gesellschaft kennzeichnen. Deswegen befleißigt sich die Soziologie der allgemeinen als formaler Denkweise. Indessen bleibt die Allgemeine Soziologie schlecht beraten, wenn sie meint, daß das konkrete Denken der bzw. einer Gesellschaft unverbindlich oder sogar belanglos wäre. Wahr ist, daß man es nicht hoch genug veranschlagen kann. Denn in den Vergesellungen erreicht die Vielfalt des humanen Zusammenseins ihren höchsten Ausdruck. In diesem Sinn darf beispielsweise an Honoré de Balzac (1799–1850) und an Auguste Comte (1798–1857) erinnert werden. Besteht das Romanwerk Balzacs in einer konkreten Soziologie der nachrevolutionären französischen Gesellschaft, so formuliert sein zur selben Zeit lebender Landsmann Comte seine positive Philosophie zur systematisch-abstrakten Wissenschaft namens Soziologie. Worin das Allgemeine im Sinn des Formalen seinen Grund besitzt, darüber findet sich heute kein einheitliches Urteil Die anfängliche und insofern klassische Auffassung spricht der Realismus aus.118 Ihm zufolge ist das endlich Seiende von sachlichem Gehalt, was besagt, daß es inhaltlich erfüllt und wesentlich geformt ist. Solchermaßen an sich seiend, besteht es unabhängig von unserem Bewußtsein und damit vom erkennenden Subjekt. Das endlich Seiende gliedert sich somit in die Bewußtseinswelt des Innen einerseits und in die Sinnenwelt des Außen andererseits dergestalt, daß diese, jedenfalls dem Grundsatz nach, einander zugeordnet sind. Diese Zuordnung gestattet dem Denken, die Form der Dinge und der humanen Existenz, also deren Allgemeinheit, aus ihnen gedanklich herauszulösen, sie also abstrahierend zu erfassen. Das abstrahierte Allgemeine bringt das Denken im Allgemeinbegriff im Sinn der Wesenserfassung zum Ausdruck. Daß das Allgemeine in den Denkgegenständen zur Einheit der Bestimmungen dieser Gegenstände gehört, während es als Denkinhalt von diesen Bestimmungen geschieden ist, besitzt seinen Grund in der Eigenart des humanen Verstandes. Mit dem kritischen Außenweltrealismus, der sich dadurch auszeichnet, daß er über die Berechtigung seiner natürlichen Überzeugung von der Realität sich Rechenschaft gibt, verbindet sich somit der kritische Begriffsrealismus. Er weiß, daß die Seinsweise des Formal-Allgemeinen als Seinsinhalt der Dinge und des „Menschseins“ unterschieden ist von der Seinsweise des Allgemeinen als Inhalt des formalen Denkens. In der Folge un118 Vgl. zur realistischen Begründung und Ausarbeitung der Metaphysik und der Erkenntnislehre des Einzelnen und des Allgemeinen vor allem die aristotelische Logik. So heißt es z. B. bei Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Meiner), 417b, „daß die wirkliche Wahrnehmung auf das Einzelne geht, die Wissenschaft dagegen auf das Allgemeine“. Der ausdrückliche Rückbezug auf Sokrates bzw. auf Platon findet sich in Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 987b und 1078b.
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terscheidet der Realismus deswegen auch zwischen dem genannten wesentlichen und einem erfahrungsbestimmten Allgemeinbegriff. Im Gegensatz zum wesentlichen Allgemeinbegriff erschöpft sich der erfahrungsbestimmte allgemeine Begriff darin, daß in ihm nur gemeinsame Erscheinungsformen von Dingen und des „Menschseins“ gedacht werden. Sie sind in ihrem Was-Sein nicht durchschaut. Gegenüber der genannten Bestimmung sind die nicht-realistischen Ansichten über das Allgemeine von gänzlich anderer Art. Der Unterschied findet seine Erklärung darin, daß das Allgemeine allein im erkennenden Subjekt seinen Grund besitzt. In der Folge sind die Objekte keine Objekte an sich, sondern Setzungen nach Maßgabe der Bestimmungen des erkennenden Subjekts. Weder die menschliche noch die gesellschaftliche Existenz-Gestalt bestehen danach in einer formalen Weise. Deswegen irre der Realismus, wenn er meint, die Gesellschaft „als ,Substanz‘ im Sinne der Philosophie“ begreifen zu können: „Eine solche Auffassung ist völlig unsoziologisch“, heißt es in der herrschenden Soziologie abschließend und keinen Widerspruch duldend.119 Vier Auslegungen der subjektbestimmten Überzeugung der Erkenntnis sind in der gegenwärtigen Soziologie bedeutungsvoll. Sie sind Lehrstücke von Philosophien, die in der Fachsprache als psychologischer Idealismus, als transzendentaler Idealismus bzw. als Konzeptualismus, als Neukantianismus bzw. als Logizismus und als Nominalismus bezeichnet werden. Ausgangspunkt der zuerst genannten Lehre ist die Meinung, nach der die seelische Eigenart von Menschen oder sogar der humanen Existenz über deren Bewußtsein befindet. Indem es als Erlebnisvermögen fähig ist zum „bewußten Leben“, wird der Gegenstand zu einem von ihm hervorgebrachten Erlebnis. Da es den Gegenstand in seinem So-Sein jedoch offenkundig nicht setzen kann, wird der ideale Bewußtseinsinhalt zum Gegenstand im Sinn seiner Form. Mit diesem psychologischen Idealismus, der die formalen Sachverhalte in die Form seelischer Befindlichkeiten auflöst, ist der Konzeptualismus verwandt. Im Unterschied zu jener Auffassung besitzt das erkennende Subjekt jedoch nicht jene erlebende Kraft. Statt dessen ist es durch diejenigen Formen ausgezeichnet, die sein Denken von vornherein bestimmen. Ihnen gemäß vermag das Denken das Einzelne, das es in der Erfahrung erfaßt, sich im Allgemeinen vorzustellen. Konzeptualistisch verstanden, ist das Allgemeine also ein Denkinhalt, den das erkennende Subjekt auf diese und auf jene Erfahrung bezieht. Da die Begründung dieses Aktes in einem Bewußtsein überhaupt, das verschieden ist vom natürlichen Bewußtsein des unwillkürlich wahrnehmenden und denkenden Menschen, nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet, verzichtet die Erkenntnislehre des Neukantianismus auf die Bestimmung jenes Subjektes bzw. jener Subjekte. Von ihnen absehend, stellt der Logizismus 119 René König, Art. Gemeinschaft, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 93.
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fest, daß das Denken stets auch ein Denken des Allgemeinen ist. Im Denken also gründet die Form, die die Gegenstände im Allgemeinen zu erfassen erlaubt. Der Verzicht, den bzw. die Träger des Denkens zu benennen, hat zurecht dazu geführt, diese Auffassung als einen Subjektivismus ohne Subjekt zu bezeichnen. Die vierte der genannten Lehren über die Natur des Allgemeinen vertritt der Nominalismus. Sich von jenen Begründungsversuchen abwendend, die meinen, den Grund des Allgemeinen in dem bald so, bald so bestimmten denkenden Ich zu finden, behauptet er, daß das Allgemeine sich in der Sprache der menschlichen Iche findet. Allgemeinbegriffe sind diejenigen Wörter, die eine Gemeinsamkeit benennen, die mehreren Einzelnen nach den Einteilungsgesichtspunkten des sprachlichen Subjekts zukommt. In der Folge bemüht es sich um eine „intersubjektive“ Sprache. Daß es allgemeine Denkinhalte gibt, wie es der Bewußtseinsbefund belegt, ist dem Nominalismus also fremd. Daß sich darüber hinaus das Allgemeine auch als Seinsinhalt realer Dinge findet, übersteigt jede seiner Vorstellungen. Versucht man, die Beschaffenheit der aufgezeigten Lehren über das Allgemeine zu charakterisieren, so zeigt sich zum ersten, daß sie ihren Ausgang allein im erkennenden Subjekt besitzen. Der Gedanke, daß das Allgemeine auch, wenn nicht sogar wesentlich einen Seinsinhalt der Objekte bildet, liegt ihnen fern. Aus diesem Grund sind die allgemeinen Urteile, die über die Gegenstände gefällt werden, als etwas Objektives ein Subjektives. Im radikalen Fall besteht es als die im Erlebnis vollzogene Setzung bzw. als die sprachliche Bezeichnung des Gegenstandes. Dazwischen liegen die Auffassungen vom Allgemeinen als eines Denkinhaltes, der angesichts von Erscheinungen durch Denkakte hervorgebracht wird. Der Zweck, den das erkennende Subjekt mit diesen Setzungen verfolgt, liegt darin, das als formlos aufgefaßte Seiende zu formen. Dies geschieht durch seine Hervorbringung, durch seinen Entwurf und seine Einordnung in seine Verhältnisse sowie durch seine Benennung. In dieser Weise konstituiert das erkennende Subjekt die Dinge und die menschliche und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt jenseits ihres Seins als Erscheinung. Geradezu durchgängig sich derart erkenntnistheoretisch verhaltend, verharren die modernen Gesellschaftswissenschaften in diesem bald so und bald anders ausgeformten Subjektivismus des Erkennens. In Sonderheit verfolgt die herrschende Allgemeine Soziologie nicht das Ziel, die Gesellschaft zu konstatieren, also festzustellen. Die Erkenntnisaufgabe der Allgemeinen Soziologie besteht vielmehr darin, die Gesellschaft zu konstituieren, also herzustellen oder, wie es heute in der Regel heißt, zu konstruieren, also aufzubauen. Die soziologische Erkenntnis der Gesellschaft im Allgemeinen zeichnet sich demnach nicht dadurch aus, daß sie „beobachtbare Phänomene oder Sachverhalte ,abbildet‘“, ihnen sich also angleicht, sie tatsächlich und wesentlich erfaßt und zum Ausdruck bringt, sondern dadurch, daß sie „lediglich dazu dient, verschiedene Beobachtungen und Erkenntnisse sinnvoll aufeinander zu beziehen“120.
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Die herrschende Allgemeine Soziologie ist somit weit davon entfernt, die Gesellschaft fachwissenschaftlich im objektiv-allgemeinen Sinn zu erfassen. Beachtete sie die Gesellschaft in ihrem Sein an sich mit ihrer inhaltlichen menschlichen Erfülltheit und in ihrer formalen sozialen Verfaßtheit, um sie, durch diese bestimmt, erkennend abzubilden, verzichtete sie also darauf, die Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit zu entwerfen bzw. ihr das Maß, dem sie zu gehorchen hat, vorzuschreiben, dann begriffe die Allgemeine Soziologie die Gesellschaft als eine erfahrbare Gegebenheit und in der Folge in ihrer besonderen Gesetzmäßigkeit. Sie ordnete sich nach den wesentlichen Gründen einer Gesellschaft. Als Erscheinungen treten sie auf als äußeres Bewirktwerden der Gesellschaft, als Verbindlichkeit unter menschlichen Existenzen, als Vermittlung zwischen menschlichen Existenzen, als ichhaftes Wissen eines jeden Angehörigen der Ge120 Karl-Heinz Hillmann, Art. Konstrukt, theoretisches, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 439. – Dem nahezu durchgängigen erkenntnistheoretischen Subjektivismus der herrschenden Gesellschaftswissenschaften und damit der Soziologie ist entschieden zu widersprechen. Am besten geschieht dies durch den Aufweis der unlösbaren Schwierigkeiten seiner Begründung. An dieser Stelle muß es genügen, zur Entgegnung aus einem Werk zu zitieren, das sich die Auseinandersetzung mit dem psychologischen Idealismus, dem Transzendentalismus, dem Logizismus und dem Linguismus sowie mit den erkenntnistheoretischen Standpunkten, die mit diesen verwandt sind, zur Aufgabe gemacht hat. Vgl. Helmut Kuhn, Der Weg vom Bewußtsein zum Sein, Stuttgart 1981, S. 149, wo beispielhaft über die transzendentale Konstruktion wie folgt geurteilt wird: „Die Schwierigkeit des Unternehmens besteht in erster Linie darin, daß das Bewußtsein, das sich in der Transzendentalphilosophie ausspricht, durchaus verschieden ist von dem gewöhnlichen Bewußtsein menschlichen Lebens und menschlicher Lebenserfahrung. Es ist nichts weniger als eine Gegebenheit, auf die wir uns nachdenkend und mitteilend beziehen könnten: es ist viel eher ein Kunstprodukt. Im Nachvollzug des transzendentalen Gedankens müssen wir durch Verwandlung des alltäglichen Bewußtseins das transzendentale Bewußtsein herzustellen suchen. Abgesehen von der Schwierigkeit, diesen Bewußtseinsweg gangbar zu machen und wirklich denkend zu begehen, bleibt jedenfalls die unumstößliche und allerseits zugestandene negative Wahrheit: das Subjekt der Transzendentalphilosophie ist nicht identisch mit dem Ich gewöhnlicher Erfahrung. Der verborgene Grund aller Gründe, der Ursprungsquell der Welt und Wirklichkeit konstituierenden Akte ist keinesfalls als ,menschliche Person‘ anzusehen. Aber was ist er dann und wie ist er überhaupt zu denken und zu finden? Der immer wiederkehrende Terminus, das schon fast zu einem Zauberwort gewordene ,konstituieren‘, heißt ursprünglich ,Zusammensetzen‘. Gebieterisch verweist es auf ein allbekanntes Analogon, das von uns zusammengesetzte und daher so genau gekannte Gerät. Wenn wir nun, entlang einem durch das Unbewußte oder Vorbewußte laufenden Pfad, einem nicht von uns gemachten, sondern vorgefundenen Ding rückschreitend in Richtung auf seinen Ursprung nachgehen, dann begegnet uns am Ende des Pfades ein Urgrund, von dem sich nicht sagen läßt, ob er Schöpfergott ist oder Über-Ich oder eine unbenennbare Zwischeninstanz. Anscheinend ist das die crux der Transzendentalphilosophie: der Grund, auf den alles sich gründen soll, droht ins Unbestimmte zu verschwimmen und das ,konstituieren‘, die kryptoarchitektonische Kunst der Objektivierung, bleibt sozusagen in der Luft hängen. Der Weg der Transzendentalphilosophie durch die Jahrhunderte, der von Descartes über Kant zu Husserl führt, läßt eine Verschärfung des Problems erkennen, das sich in einer Abfolge von problematischen Benennungen ausdrückt: dem cartesianischen ego folgt das transzendentale Subjekt Kants, diesem das Ur-Ich Husserls.“
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sellschaft um seine gesellschaftliche Befindlichkeit, als sachhafte Aufbaugliederung einer Gesellschaft und endlich als ihr Wirksamsein. Diese Grundfragen der realistischen Allgemeinen Soziologie sind der herrschenden fachwissenschaftlichen Gesellschaftserkenntnis, aber auch der herrschenden Philosophie der Gesellschaft, unbekannt. Sie bedenken nicht, was der Fall ist. Jene wie diese wollen die Gesellschaft vielmehr konstituieren bzw. konstruieren. Was es mit der herrschenden Allgemeinen Soziologie des näheren auf sich hat, ist im folgenden zu erörtern. Daß die Soziologie von sich sagt, daß sie auch als Allgemeine Soziologie besteht, belegt die soziologische Literatur. Verschiedenartige Arbeiten lassen sich benennen. So finden sich zum ersten Monographien, die sich bereits in ihrem Titel als Allgemeine Soziologie bezeichnen.121 Zum zweiten sind diejenigen Monographien zu nennen, die nach der Absicht, die sie verfolgen, als Allgemeine Soziologie zu verstehen sind. In der Regel bezeichnen sie sich als Grundlegungen der Soziologie bzw. als Erörterungen ihrer Grundfragen.122 Diesen Arbeiten vergleichbar sind die nicht minder zahlreich vorliegenden Einführungen in die Soziologie.123 Über die genannten Beiträge hinaus sind jene Zusammenfassungen unter dem Stichwort Allgemeine Soziologie bedeutsam, auf
121 Vgl. z. B. Anton Burghardt, Einführung in die Allgemeine Soziologie, München 1972; Detlef Grieswelle, Allgemeine Soziologie. Gegenstand, Grundbegriffe und Methode der Soziologie, Stuttgart 1974; Günter Runkel, Allgemeine Soziologie. Sozialstruktur und Semantik, München 2004. 122 Vgl. als Auswahl aus den Meinungen und ihren Darstellungsformen: Raymond Aron, Deutsche Soziologie der Gegenwart. Eine systematische Einführung (zuerst Paris 1935/19502), Stuttgart 1953; Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf 1955; Emerich Francis, Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, Bern/München 1957; Richard F. Behrendt, Der Mensch im Licht der Soziologie. Versuch einer Besinnung auf Dauerndes und Wandelbares im gesellschaftlichen Verhalten, Stuttgart 1962; Pieter Jan Bouman, Grundlagen der Soziologie (zuerst Antwerpen 1966), Stuttgart 1968; Peter K. Schneider, Grundlegung der Soziologie, Stuttgart 1968; Friedrich Fürstenberg, Soziologie. Hauptfragen und Grundbegriffe, Berlin/New York 19783; Jürgen Friedrich, Grundlagen der Soziologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Frankfurt a. M. 1981; vgl. auch die Angaben in Fußnote 102. 123 Vgl. als Auswahl aus den Meinungen und ihren Darstellungsformen: Peter L. Berger, Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive (zuerst New York 1963), Olten/Freiburg/Brsg. 1969; Walter Rüegg, Soziologie, Frankfurt a. M. 1969; Jakobus Wössner, Soziologie. Einführung und Grundlegung, Wien/Köln/Graz 1970; Imogen Seger, Knaurs Buch der modernen Soziologie, München/Zürich 1970, als TB 1974; Hans Braun/Alois Hahn, Wissenschaft von der Gesellschaft, Freiburg/München 1973; Hans Joachim Knebel, Metatheoretische Einführung in die Soziologie, München 1973; Heinz Kluth, Soziologie, Darmstadt 1974; Reinhard Kreckel, Soziologisches Denken. Eine kritische Einführung, Opladen 1975; Peter Stromberger/Will Teichert, Einführung in soziologisches Denken, Weinheim/Basel 1978; Julius Morel, Ordnung und Freiheit. Die soziologische Perspektive, Innsbruck/Wien 1986; vgl. auch die Fußnote 101.
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die kein soziologisches Nachschlagewerk von Rang verzichtet.124 Es ist ihre bündige Form, die es erlaubt, sich rasch darüber ins Bild zu setzen, was die gegenwärtig herrschende fachwissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis meint, wenn sie von der Allgemeinen Soziologie spricht. Aus diesem Grund sei einer dieser Artikel vollständig zitiert. Im Anschluß soll er auf seinen Gehalt hin überprüft werden. Es heißt: „Allgemeine Soziologie, (d.i. die) Bezeichnung für die Gesamtheit der soziologischen Begriffe, Hypothesen und Theorien, mit denen grundlegende Erscheinungen des sozialen Handelns . . . und allgemein verbreitete gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse . . . analysiert und erklärt werden. Durch unterschiedliche wissenschaftstheoretische Begründungsversuche und weltanschauliche Orientierungen beinhaltet die Allgemeine Soziologie entsprechend unterschiedliche theoretische Richtungen und ,Schulen‘, die ihr einen pluralistischen Charakter verleihen. Die Anwendung jeweils geeigneter Elemente der Allgemeinen Soziologie auf einzelne soziokulturelle Lebensbereiche hat spezielle Soziologien hervorgebracht.“ Diese Erklärung ergänzend, heißt es an anderer Stelle: Zur Allgemeinen Soziologie zählt auch die „Geschichte der Soziologie“, denn sie ist „als Objekt wissenschaftlicher Untersuchung und systematischer Darstellung eines der Hauptgebiete der Allgemeinen Soziologie“125. Ob die zitierte Bestimmung der Allgemeinen Soziologie den Anforderungen genügt, die an sie zu stellen sind, muß sich erweisen. Zu prüfen ist erstens, ob der verwendete Ausdruck überhaupt eindeutig ist, wie man dies zunächst anzunehmen bereit ist, sowie zweitens, ob der durch diese Prüfung ermittelte Sinn jenen Sachverhalt benennt, der begründetermaßen Allgemeine Soziologie heißt. Schon bei der Aussage, mit der die Bestimmung beginnt, muß die Nachforschung einsetzen. In ihr heißt es, daß die Allgemeine Soziologie sich nicht dadurch auszeichnet, daß sie eine bestimmte Weise des soziologischen Erkennens ist, sondern dadurch, daß sie eine bestimmte Gesamtheit darstellt, nämlich „die Gesamtheit der soziologischen Begriffe, Hypothesen und Theorien“. Was diese Aussage zum ersten kennzeichnet, ist der Hinweis auf die soziologischen Begriffe. Nicht nämlich ist die Rede, wie man es erwarten darf, von den „Grundbegriffen“ der Soziologie, also von jenen Begriffen, die als Erstbegriffe den urtümlichen Bestand der Gesellschaft benennen und erfassen, sondern nur von soziologischen Begriffen, also von solchen, die als Zweitbegriffe, als Drittbe124 Vgl. z. B. René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967; Bruno W. Reimann, Art. Soziologie, allgemeine, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943; Karl-Heinz Hillmann, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944; Gerd Reinhold, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), SoziologieLexikon, München/Wien 19973. 125 Karl-Heinz Hillmann, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19943, S. 17 sowie Art. Geschichte der Soziologie, a. a. O., S. 275.
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griffe, usw. die „Grundbegriffe“ voraussetzen und von ihnen abgeleitet sind. Jene Begriffe sind sodann zusammen mit den erwähnten Hypothesen und Theorien die Instrumente desjenigen Vorganges, den man Tatsachenerkenntnis nennt. Indem sie von der immer auch wesentlich verfaßten Realität absieht, ist sie die Erkenntnis konkreter wahrnehmbarer Sachverhalte in ihren konkreten wirksamen Verhältnissen. Im gesellschaftlichen Sinn bestehen sie in den sinnlichen und erlebten Gegebenheiten des humanen Zusammenseins. Sie will die Soziologie als Allgemeine Soziologie, wie behauptet wird, durch ihre Beobachtungen feststellen, sodann einheitlich beschreiben und schließlich aus ihren besonderen Gesetzen und gegebenenfalls auch aus ihren besonderen Ursachen erklären. Soweit dies in sich und gegenüber den Tatsachen widerspruchslos möglich ist, eine andere Erklärung aber nicht ausgeschlossen werden kann, besteht sie in der Form nur einer Hypothese, also als eine angenommene, aber noch nicht erwiesene Erklärung. Im strengen Sinn verstanden, wird diese hypothetische nur dann zu einer theoretischen Erklärung, wenn es gelingt, den Nachweis zu erbringen, daß die gegebene die einzig mögliche Erklärung der in Frage stehenden Tatsache ist. In diesem tatsachenwissenschaftlichen Erkenntnisverfahren verhalten die Gesellschaftswissenschaften sich jedoch zumeist großzügiger als es in den Naturwissenschaften üblich ist, von denen sie diese Weise des Erkennens übernommen haben. Zumal in der Soziologie ist in der Regel der Fall der Theorie bereits dann gegeben, wenn kraft einer Mehrzahl von Hypothesen, die irgendwie zusammenhängen, eine gesellschaftliche Tatsache bzw. eine Gesamtheit von gesellschaftlichen Tatsachen bis auf weiteres als erklärt angenommen werden kann. Das Verständnis der Allgemeinen Soziologie als die „Gesamtheit der soziologischen Begriffe, Hypothesen und Theorien“ im genannten Sinn, also als Tatsachenerkenntnis, ist jedoch nur eine erste Auslegung ihrer genannten Bestimmung. Wie dargestellt, meint sie die Gesamtheit der ausgebildeten und im Gebrauch befindlichen Erkenntnistechniken, die geeignet sind, die Gesellschaft zu erforschen, soweit sie in ihren Tatsachen real ist. In diesem Fall besteht die Allgemeine Soziologie in den Ergebnissen der soziologischen Tatsachenforschung, soweit sie nicht durch die Erkenntnisabsicht besonderer gesellschaftlicher Sinn-, Wert- oder Zweckzusammenhänge bestimmt ist. Kurzerhand werden diese Erkenntnisse als soziologische Theorie bzw. in Folge der herrschenden Meinungsverschiedenheiten als soziologische Theorien bezeichnet. Will man den Ausdruck der Theorie vermeiden, der einmal einen Bestandteil und zum anderen das Ergebnis der Tatsachenerkenntnis meint, ist es zweckmäßig, die Erträge der begrifflich-hypothetisch-theoretischen Erkenntnis als soziologische Lehrmeinung im Tatsachensinn zu bezeichnen. Die heute gängigen Lehrmeinungen dieser Art wurden unter dem Titel der „Gesamtheit der soziologischen Theorien“ oben vorgestellt. Sie erweisen sich als das Insgesamt der jeweils berücksichtigten verschiedenen, sich gegenseitig fremd bleibenden, wiewohl bis-
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weilen denselben menschlichen bzw. gesellschaftlichen Sachverhalt meinenden Lehren von der bzw. einer Gesellschaft im Sinn des individualistischen bzw. totalistischen Naturalismus bzw. Psychologismus. Also nennt der Name der Allgemeinen Soziologie die Summe der vierfach sich teilenden soziologischen Lehren.126 Von dieser Bestimmung der Allgemeinen Soziologie ist jene „Gesamtheit der soziologischen Begriffe, Hypothesen und Theorien“ zu unterscheiden, die noch auszubilden ist, die es für ihren Gebrauch also erst noch zu entwickeln gilt. Die in diesem Sinn verstandene Allgemeine Soziologie besteht in dem Bemühen, jene Erkenntnismittel aufzudecken, zu bestimmen und bereitzustellen, auf daß die erwähnten soziologischen Lehrmeinungen erarbeitet und zum Ausdruck gebracht werden können. Die Allgemeine Soziologie ist also nichts anderes als diejenige allgemeine Erkenntnislehre, deren Aufgabe es ist, die Soziologie als Tatsachenwissenschaft zu begründen und damit zu ermöglichen. Durch ihre Bestimmung dessen, was überhaupt als Begriff, als Hypothese und als Theorie der Soziologie gelten kann sowie deren Beschaffenheit im einzelnen ist sie als Wissenschaftstheorie, d.h. als formale Wissenschafts- bzw. Forschungslogik der Soziologie entfaltet.127 Der im obigen Zitat verwendete Ausdruck der Allgemeinen Soziologie erweist sich somit als mehrdeutig. Meint er einerseits die Gesamtheit der tatsachenorientierten Lehrmeinungen, so meint er andererseits die – wie immer definierte – Lehre von der fachwissenschaftlichen Tatsachenerkenntnis der Gesellschaft. In seinem Fortgang stützt der zitierte Text jene wie diese Auslegung. Denn ohne Frage beziehen sich die „grundlegenden Erscheinungen des sozialen Handelns“, also die gesellschaftlichen Individualismen, und die „allgemein verbreiteten gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Prozesse“, also die gesellschaftlichen Totalismen, auf die zuerst genannten soziologischen Theorien bzw. Lehrmeinungen. Hierzu im Gegensatz meinen die „unterschiedlichen wissenschaftlichen Begründungsversuche und weltanschaulichen Orientierungen“ jene Allgemeine Soziologie, die zum zweiten als die Wissenschaftslehre der Soziologie erkannt wurde. Ihr Ziel kann in nichts anderem bestehen, als die „unterschiedlichen Richtungen und ,Schulen‘“ der Soziologie zu überwinden bzw. als Ergänzungen im Verhältnis zu einander zu erklären, um sie dadurch von ihrem „pluralistischen Charakter“, d.h. sie von ihren Unvereinbarkeiten untereinander zu befreien. Die Auseinandersetzung darüber, ob die Allgemeine Soziologie als Teil bzw. als Summe der gegensätzlichen soziologischen Lehrmeinungen besteht oder ob 126 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziologische Theorien, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 824–826. 127 Vgl. Karl Acham, Art. Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, in: KarlHeinz Hillmann (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 943–944.
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es ihre Aufgabe ist, als Wissenschaftslehre der soziologischen Erkenntnis zu arbeiten, läßt die Soziologie als Allgemeine Soziologie am Ende ins Unbestimmte abgleiten. Denn das, was der Name der Allgemeinen Soziologie nach den Regeln des Sprachsinns besagt, nämlich die fachwissenschaftliche Erkenntnis des humanen Zusammenseins, soweit es den Wirklichkeiten der gesellschaftlichen Existenz-Gestalten gemeinsam ist, bezeichnet er in keinem der beiden Fälle. Darüber hinaus ist ohne Verwunderung festzustellen, daß die Soziologie in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntniswelt von einem Sachverhalt nichts weiß, der durch den Namen der Allgemeinen Soziologie treffend bezeichnet würde. Der Ausdruck der Allgemeinen Soziologie wird deswegen zum ersten in einer sinnwidrigen Alternative und zum zweiten in einem Sinn verwendet, der wohl eine gesellschaftswissenschaftliche Ahnung verrät, die sicher gut begründet ist, von dem die herrschende Soziologie aber nicht weiß, worum es sich handelt. In dieser Bedeutung ist der Ausdruck der Allgemeinen Soziologie somit ein leeres Wort. Die herrschende fachwissenschaftliche Erkenntnis des humanen Zusammenseins kennt dieses Zusammensein nicht im Allgemeinen, also als Gesellschaft. Hiermit hängt schließlich zusammen, daß es abwegig ist, die Geschichte der Soziologie zur Allgemeinen Soziologie zu zählen. Sie ist als Geschichtsschreibung der soziologischen Lehrmeinungen bzw. ihrer wissenschaftlichen Begründungsbemühungen etwas anderes als die auf ein System zielende Erkenntnis der Gesellschaft als die Erkenntnis der Gemeinsamkeit der Ausgestaltungen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz im Raum und in der Zeit. Das Ergebnis der angestellten Prüfung dessen, was als Allgemeine Soziologie gelten will, nämlich, daß sie zum ersten eine Bestimmung in einem doppelten Sinn ist, die zum zweiten im einen wie im anderen Fall den Sachverhalt verfehlt, den der Ausdruck der Allgemeinen Soziologie bezeichnet, ist in jeder Hinsicht unbefriedigend. Da die Soziologie jedoch daran festhält, begründet und deswegen klar und deutlich zu sagen, inwiefern sie als Allgemeine Soziologie besteht, drängt sich der Gedanke auf, einen zweiten Versuch der Ermittlung zu unternehmen. Indem die berücksichtigten Texte, die gemeinhin die herrschende Meinung wiedergeben, auf sich beruhen sollen, wendet die Aufmerksamkeit sich dem Werk einer soziologisch gelehrten Persönlichkeit und ihrer Schule zu, die, wie zu lesen ist, „die Soziologie in Deutschland in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ganz entscheidend beeinflußt“128 hat. Die Allgemeine Soziologie erfuhr diesen Einfluß vor allem durch ein Nachschlagewerk, das erstmals 1958 erschienen ist. Der Herausgeber und maßgebliche Verfasser dieses Unternehmens hat 30 Jahre später seine Leistung selbst kommentiert. „Es wurde“, so sagt er, „der unbestrittene Bestseller der deutschen Nachkriegs128 Horst Reimann, Art. René König, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart 19842, S. 433.
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soziologie; bis 1978 erschienen 19 Auflagen mit insgesamt 410 000 Exemplaren.“ Von diesem Erfolg begeistert, ergänzt der Autor seine Ausführungen jovial: „Dieses Lexikon ist . . . aufgebaut auf der gesamteuropäischen Soziologie zusätzlich der modernen amerikanischen Theorie. Kurz: Dieses Lexikon ist weltweit ausgerichtet“. Deswegen heißt es abschließend selbstbewußt: „Ich nehme für mich in Anspruch, ausschließlich nach diesem Buch klassifiziert zu werden.“129 Es mag zu bemerken erlaubt sein, daß dies im folgenden geschehen soll. Hierbei ist, einem Hinweis des Autors entsprechend, zu berücksichtigen, daß die „entwickelten Linien“ in einem später herausgegebenen Handbuch der empirischen Sozialforschung „weiterverfolgt worden“ sind. „In diesem Sinn stellt das . . . ,Handbuch‘ einen Abschluß unserer Unternehmungen dar, die mit einer ersten planmäßigen Diskussion methodologischer Probleme begannen, sich in zahlreichen Forschungsprojekten immer mehr mit konkretem Inhalt erfüllten und schließlich zu einer ersten Zusammenfassung der allgemeinen theoretischen Soziologie und ihrer Grundkategorien führten“130. Die Untersuchung des Ergebnisses dieser langjährigen Bemühungen um die Allgemeine Soziologie soll in zwei Schritten erfolgen. In einer ersten Durchsicht der Behauptungen kommt es darauf an, den Ort kennen zu lernen, der der Allgemeinen Soziologie im Ganzen der gesellschaftswissenschaftlichen bzw. der soziologischen Erkenntnis zugewiesen wird, d.h. zu verstehen, wodurch sie sich insbesondere von jenen Kennzeichnungen unterscheidet, die die Allgemeine Soziologie zunächst zweideutig bestimmen und die diesen Ausdruck sodann als leere Formel wissenschaftstaktisch geschickt handhaben. In einem zweiten Schritt kommt es darauf an, die angegebene Eigenart der Allgemeinen Soziologie zu erfassen, die, wie behauptet wird, als gegenstandskonstitutive Disziplin die Erfahrungserkenntnis der Gesellschaft begründet. Um die Allgemeine Soziologie in ihrem, wie man sagen darf, besonderen Charakter zu verstehen, mag es ratsam sein, sich ihr zunächst wissenschaftssystematisch zu nähern, also von außen. Danach gilt es zu prüfen, wie sie sich gemäß der Meinung des namhaften Autors von der Philosophie der Gesellschaft unterscheidet. Diese ist maßgeblich ein praktisches Erkennen, lautet die Behauptung. Sie ist also gesellschaftsethischer oder gesellschaftsreformerischer oder gesellschaftspolitischer Natur. So beschaffen, wird die Gesellschaftsphilosophie nicht ohne Grund betrieben. Sie befriedigt ein Bedürfnis der „Lebenspraxis“. Neben ihr findet sich aber noch eine andere Art von Philosophie der Gesellschaft. Indem sie nicht-praktische, sondern unbestimmt theoretische Ziele verfolgt, sollte man von ihr als einer „Lebensdeutung“ sprechen. Ihren Grund 129 René König, Soziologie in Deutschland. Begründer, Verfechter, Verächter, München/Wien 1987, S. 16. 130 René König, Vorwort des Herausgebers zur dritten Auflage, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. VII f.
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bilden durchaus „empirische Bestandteile“. Aber im Gegensatz zur Wissenschaft von der Gesellschaft bestehen sie als „ungeprüfte und unkontrollierte“ Urteile. Der Ausbau der Philosophie zu einer das Leben deutenden „Soziallehre“ führt folglich dazu, daß diese „in kritikloser Weise benutzt und verallgemeinert“ wird. Deswegen entarten die Urteile dieser Gesellschaftsphilosophie „häufig zu eigentlichen ,Vorurteilen‘“, sofern sie deswegen nicht „einen durchweg ,ideologischen‘ Charakter . . . aufweisen“: „Das heißt, sie bieten mit den Mitteln des Denkens und der Anschauung Transfigurationen bestimmter ,Wirklichkeitskonstellationen‘, ja geradezu gewisser ,Interessenlagen‘, die sich als Erkenntnissysteme ausgeben.“131 Solches lesend, stutzt der vorurteilslose Gesellschaftswissenschaftler. Ist die Philosophie der Gesellschaft durchgängig wirklich so beschaffen, wie es behauptet wird? Bedenkt man die geäußerte Meinung im Sinn der gesellschaftswissenschaftlichen Systematik, wie sie zur Diskussion steht, sieht man also ab von deren positivistischem, wenn nicht materialistischem Gehalt, dann erkennt man alsbald ihre weitreichenden Folgen für die Bestimmung der gesellschaftswissenschaftlichen und damit der soziologischen Erkenntnis. Sie besteht darin, daß die Soziologie vermeintlich allen Grund besitzt, der Philosophie der Gesellschaft zunächst die Zuständigkeit und sodann auch das Vermögen abzusprechen, vernünftig theoretisch über die Gesellschaft zu urteilen. Was, so fragt sich die herrschende Soziologie, kann man schon universalwissenschaftlich, also über das Sein, das Wesen und die Erkenntnis der humanen Existenz als Gesellschaftswesen im Allgemeinen sagen? Ist man über diese Verweigerung gegenüber der Gesellschaftsphilosophie aufgrund der Geschichte der Soziologie als Tatsache zwar nicht überrascht, so ist die Absage wissenschaftstheoretisch begründungsbedürftig. Deswegen sucht die Kritik den Grund, der jene Verneinung zur Folge hat. Wie man weiß, ist diesem theoretischen Bemühen, also einem, das fernab aller wissenschaftspsychologischen Untersuchungen liegt, jedoch kein Erfolg beschieden. Vielmehr muß man feststellen, daß der unüberbrückbare Unterschied zwischen der Soziologie als einer „positiven“ Wissenschaft und der Gesellschaftsphilosophie als einer sogenannten „Totalitätsbetrachtung der sozialen Wirklichkeit“ hartnäckig betont wird. Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Soziologie besteht ihre Betrachtung darin, daß sie wissenschaftsfremde „Deutungssysteme und Doktrinen aus sich entläßt“132. Die Gesellschaftsphilosophie ist deswegen bestenfalls eine „Residualkategorie“ der Soziologie. Von ihr Gebrauch zu machen heißt, „andere Mittel als die der Wissenschaft ins Spiel“133 zu bringen. Aus dieser 131
René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967,
S. 9. 132 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 1. 133 René König, Art. Geschichts- und Sozialphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 104.
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Meinung folgt, daß die Allgemeine Soziologie nur als wissenschaftliche, was besagt, nur als eine der Philosophie widerstreitende Disziplin denkbar ist. So beschaffen, wendet sie sich ihren Problemen zu. Sie bestehen, um dies vorweg anzudeuten, in der transzendentalen Bestimmung der Kategorien, die der empirischen Erkenntnis der Gesellschaft zugrunde liegen und damit die wesentlichen Formen der Gesellschaft begründen, d.h. als Wirklichkeit in irgendeiner Weise an sich. Wenn der Allgemeinen Soziologie diese Aufgabe aber zukommt, dann stellt sich die Frage, wie die nur einzel-, wenn nicht sogar nur tatsachenwissenschaftliche Allgemeine Soziologie ihren Gegenstand auffinden, erkennen und zum Ausdruck bringen kann. Wie nämlich, so fragt es sich, kann die Allgemeine Soziologie als eine begründende und als eine begründete Erkenntnis zugleich bestehen? Zum zweiten unterscheidet die Allgemeine Soziologie sich von der soziologischen Theorie. Der Unterschied zwischen diesen Disziplinen ist jedoch ganz anderer Art als derjenige zwischen der Allgemeinen Soziologie und der Philosophie der Gesellschaft. Meint jene, sich dieser gegenüber verweigern zu müssen, so besteht zwischen der Allgemeinen Soziologie und der soziologischen Theorie ein wohlbestimmtes Verhältnis. Man könnte von einem Ergänzungsverhältnis zwischen diesen Disziplinen sprechen. Zeichnet die Allgemeine Soziologie sich durch den Aufweis der „Stoffe“ der gesellschaftlichen Erkenntnisse aus, so zielt die soziologische Theorie auf die Angabe der „Formen“, die zu dieser und zu jener auf diese sich gründende Erkenntnis führen. Besteht die Allgemeine Soziologie als System bzw. als systematische Absicht des soziologischen Erkennens, so ist die soziologische Theorie die Lehre von seiner Methode. Als diese ist sie die Wissenschaftslehre bzw. die Wissenschaftslogik der Soziologie bzw. der vielen Soziologien, die die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz zu erforschen suchen. Der Begriff der soziologischen Theorie ist jedoch nicht nur im genannten umfassenden methodologischen Sinn gebräuchlich. Die in Frage stehende Soziologie verwendet ihn auch, wenn nicht sogar bevorzugt, in einer engeren Bedeutung. Danach benennt er nur einen Teil der soziologischen Methodenlehre, nämlich denjenigen abschließenden Teil der Tatsachenforschung, der die „Formen“ der Ergebnisse umfaßt. Von ihm zu unterscheiden ist wiederum diejenige soziologische Theorie, die in der Bestimmung der Mittel der Forschung besteht. Sie werden auch als die Methoden der Soziologie bezeichnet. Besser wäre es freilich, stets den nicht unbekannten Begriff der Techniken der gesellschaftlichen Tatsachenforschung zu gebrauchen. In diesem Sinn verstanden, meint die Bezeichnung soziologische Theorie zumeist drei erhebungstechnische Problemzusammenhänge. Der erste besteht in der Ausbildung einer geeigneten Fachsprache bzw. zumindest in der Klärung der in der Soziologie zahlreich verwendeten Alltagsausdrücke. Der Beschreibung sodann der benannten und damit festgestellten Tatsachen dienen die zahlreichen Forschungstechniken. Zu ihnen zählen die Befragung, die Beobach-
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tung, das Experiment, die Gruppendiskussion, die Soziometrie, die Inhaltsanalyse, das Skalierungsverfahren, der interkulturelle Vergleich, die biographische Methode und andere, diesen ähnliche Techniken mit ihren bisweilen weit vorangetriebenen Verfeinerungen. Um die festgestellten und beschriebenen Tatsachen schließlich zu erklären, verlangt die Forschungslogik, Annahmen zu formulieren, die sich durch die Bestimmung ihrer Basissätze, durch ihren Tatsachenbezug und durch ihren Gesetzmäßigkeitsgehalt auszeichnen. Sie werden als Hypothesen bezeichnet. Bestehen sie zunächst nur im Sinn einer möglichen Erklärung, so sind sie doch darauf angelegt, in eine erwiesene Erklärung überführt zu werden. Das durch den benannten Erklärungsvorgang erreichte Erklärungsergebnis besteht als die oben bezeichnete soziologische Theorie im engeren Sinn, also als Tatsachenerkenntnis, nicht als entfaltete Lehrmeinung. Soll sie aussagekräftig sein, kommt es darauf an, diese Theorie des näheren zu bestimmen. Solange nämlich ihre „Reichweite“ nicht angegeben ist, also ihre „Form“, ist die soziologische Theorie nicht ausgebildet. Sehr verschiedene Ausformungen sind denkbar. Blickt man auf den erreichten Stand der Entwicklung der Soziologie, muß man eingestehen, daß ihre Erklärungen sich kaum auf umfassende und damit in sich vielschichtige gesellschaftliche Zusammenhänge beziehen. Zumeist sind die Erklärungsergebnisse nicht mehr als sogenannte ad-hoc-Theorien, d.h. von Erklärungen begrenzter Erscheinungen, „die notwendigerweise nach der Ausbildung übergreifender theoretischer Begriffe rufen, die wiederum zu generellen Theorien miteinander verbunden werden“. Tatsächlich ausgebildet hat die zeitgenössische Soziologie diese „Form“ der soziologischen Theorie jedoch keineswegs. Man muß zugestehen, so heißt es, „daß sich ein großer Teil der soziologischen Forschung noch immer in Beschreibungen erschöpft, ohne auch nur den ersten Schritt zur Entwicklung erklärender Hypothesen vollzogen zu haben“134. Die Ausbildung soziologischer Theorien verschiedener Reichweite besteht also als Wunsch und Hoffnung. Nach dem Grad der Allgemeinheit ihrer Begriffe bestünden sie als Beobachtung von Regelmäßigkeiten, als Entwicklung von ad-hoc-Theorien, als sogenannte Theorien mittlerer Reichweite und schließlich in Theorien gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Die Benennung dieser Verallgemeinerungsgrade soziologischer Tatsachenurteile kennzeichnet die Aufgabe, die der soziologischen Theorie im forschungstechnischen Sinn im Rahmen der Gesamtheit der soziologischen Lehrmeinungen aufgetragen ist. Bestimmt durch die Zielsetzung der Allgemeinen Soziologie ist sie gehalten, zunächst auf der jeweils erreichbaren Stufe zu Urteilen über die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz zu kommen, um über sie hinauszugehen bis zur Endstufe der „höchstmöglichen“ Verallgemeinerung. Sie besteht im Urteil über eine, wenn nicht über die Gesellschaft schlecht134 René König, Art. Soziologische Theorie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 305 f.
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hin. Mit diesem Anspruch stellt die Soziologie als soziologische Theorie im engeren Sinn die Philosophie der Gesellschaft somit auch methodologisch in Frage. Sie ist gemeint, wenn in streitbarer Weise von der soziologischen Theorie wortspielerisch gesagt wird, daß sie „sich unabhängig von der allgemeinen Theorie der Gesellschaft“ entwickelt, „die im Sinne der Geschichts- und Sozialphilosophie universale Aussagen über die Gesellschaft im ganzen macht“135. Demgegenüber heißt es, sich bescheiden gebend, daß die soziologische Theorie sich „grundsätzlich in einer Vielzahl von Sätzen“ bewegt, „die ständig an der Erfahrung kontrolliert, d.h. verifiziert oder falsifiziert werden“. Doch kann darin nicht das Ziel der soziologischen Theorie bestehen. Es besteht eben in jenen „universalen Aussagen im ganzen“. „Mit der Zeit“ nämlich, so erfährt man, wird es möglich werden, daß „die Theorien mittlerer Reichweite zu größeren Theoriezusammenhängen entwickelt“136 werden. Damit ist die Lehre von den soziologischen Erkenntniswegen im Begriff, ihr Ziel zu erreichen. Im Verbund mit der Allgemeinen Soziologie erfüllt sie sich als Theorie der gesellschaftlichen Existenz des „Menschen“. Denn als Gesellschaftswesen ist der „Mensch“ die Zukunft des „Menschen“, lautet das emphatische Motto einer der frühen Schriften unseres Autors, in der er den von ihm eingeschlagenen Erkenntnisweg benannt hat.137 Ihm zufolge soll das Unmögliche möglich werden, nämlich in einer „Vielheit von Sätzen“ die „Totalitätsbetrachtung der sozialen Wirklichkeit“ ins Werk zu setzen. Im übrigen haben die bisherigen Kennzeichnungen der Allgemeinen Soziologie belegt, wie mühselig es ist, diese Erkenntnishaltung von anderen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnishaltungen zu unterscheiden – sofern das angesichts des kaum durchdringbaren soziologischen Sprachdickichts möglich ist. Es sei deswegen zusammengefaßt: Der Name der Allgemeinen Soziologie bezeichnet bzw. kann bezeichnen (1) den Vorgang der soziologischen Tatsachenerkenntnis (= Erklärung wahrgenommener gesellschaftlicher Sachverhalte und ihrer Beziehungen; auch: Soziologische Theorie im engeren Sinn); sodann (2) den Zusammenhang soziologischer Grund- und Lehrsätze (= soziologische Lehrmeinung; auch soziologische Theorie im weiteren Sinn); sodann (3) Wissenschaftslogik der soziologischen Erkenntnis (= Teil der Wissenschaftslehre der Gesellschaftswissenschaften); sodann (4) soziologische Methodologie (= Lehre von den Methoden und Techniken der soziologischen Erkenntnis bzw. des Erkennens der empirischen Sozialforschung. Gegenüber diesen verwirrenden Ineinssetzungen der Allgemeinen Soziologie mit anderen, ihr irgendwie na135 René König, Art. Soziologische Theorie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 305. 136 René König, Art. Soziologische Theorie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, a. a. O., S. 309. 137 Vgl. René König, Soziologie heute, Zürich 1949, S. 7, einen bekennenden Ausspruch von Jean-Paul Sartre zitierend.
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hestehenden Erkenntnishaltungen erscheint (5) die Auffassung, daß die Allgemeine Soziologie die Grundlagendisziplin der gesamten Gesellschaftswissenschaften ist, geradezu einleuchtend zu sein. Die Allgemeine Soziologie ist das Kernfach der wissenschaftlichen Gesellschaftslehre (= Philosophie der Gesellschaft). Sie nimmt diese Aufgabe für sich in Anspruch weil sie allein sich „wirklich“ auf die „Gesellschaft“ bezieht, während die verschiedenen Gesellschaftsphilosophien zuletzt nichts anderes sind als schweifende Doktrinen. Die Allgemeine Soziologie besteht als gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenforschung. Diese Zielsetzung erklärt (6) auch das Verhältnis zwischen ihr und den Besonderen Soziologien. Die „soziologischen Teildisziplinen, speziellen und angewandten Soziologien“ sind von ihr verschieden.138 Zumeist werden sie salopp als Bindestrich-Soziologien bezeichnet, was man von der Allgemeinen Soziologie nicht sagen kann. Das Verhältnis zwischen ihr und den zahlreichen anders gearteten Soziologien ist dadurch gekennzeichnet, daß sie Lehrbestände wechselseitig abgeben und aufnehmen. Von Seiten der Allgemeinen Soziologie geschieht dies besonders wirksam durch ihren Bestand im Sinne der genannten Theorien (1), (2) und (5). Es sind diese Wechselseitigkeiten, die schließlich dazu führen, daß die Allgemeine Soziologie und die Besonderen Soziologien sich auf einander beziehen, sofern sie sich nicht gegenseitig durchdringen.139 Am Ende dieser begrifflichen Klärung kann man sagen, daß der Name der Allgemeinen Soziologie alles benennt, was für sich in Anspruch nimmt, wissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft zu sein bzw. zu ihr beizutragen. Die herrschende Soziologie ist in sich uneins darüber, worin der Gehalt der Allgemeinen Soziologie besteht. Andererseits trifft diese Feststellung wiederum nicht zu. Die Hoffnung meldet sich zurück. Denn wesentlich ist zuletzt, so ist zu lesen, daß es mit der Allgemeinen Soziologie wie folgt bestellt ist: „Im Gegensatz“ zu allen anderen gesellschaftswissenschaftlichen Denkhaltungen „befaßt sich die allgemeine Soziologie mit den kategorialen oder axiomatischen Voraussetzungen der Erkenntnis des Sozialen, mit den konstitutiven Merkmalen des sozialen Faktors sowie mit seiner Einordnung in verschiedene Lebensbereiche der Natur und der Kultur.“140 Zu dieser Bestimmung sollte vorweg zu bemerken erlaubt sein, daß sie mit ihrer Angabe überrascht, der zufolge die Allgemeine Soziologie sich „mit 138 Vgl. René König, Art. Systematische Übersicht und Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 16 und S. 8. 139 Vgl. z. B. Gerd Reinhold, Art. Bindestrich-Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, München/Wien 19973, S. 68: „Bindestrich Soziologien . . . sind solche Teilgebiete der Soziologie, die sich mit spezifischen sozialen Phänomenen und/oder gesellschaftlichen Bereichen befassen. Damit rekurriert man auf allgemeinere soziologische Konzepte und Theorien, die für den speziellen Gegenstandsbereich angepaßt werden.“ 140 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, a. a. O., S. 17.
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den kategorialen“ oder auch mit den „axiomatischen Voraussetzungen der Erkenntnis des Sozialen“ befaßt. Wie hat man zu verstehen, was hier als kategorial einerseits und als axiomatisch andererseits bezeichnet wird? Nach den Regeln der wissenschaftlichen Sprache ist das, was der Begriff der Kategorie besagt und das, was der Begriff des Axioms bezeichnet, unmißverständlich unterschieden. So benennt der Begriff der Kategorie einen ersten oder ursprünglichen Bestand, der zwar zunächst nur gedacht, der aber sogleich auf ihn als Gegenstand bezogen wird. Der Begriff der Kategorie drückt logisch die höchste Gattung von Etwas aus und damit ontologisch seine Urbestimmtheit. Demgegenüber bezeichnet der Begriff des Axioms einen ersten oder ursprünglichen, von den Beteiligten als geltend angenommenen Gedanken, der als Denkvoraussetzung gestattet, Folgerungen abzuleiten. Die Kategorie und das Axiom sind also etwas Verschiedenes kraft ihres Geltungsgrundes und ihres Realitätsbezuges. Auf die Bestimmung der Allgemeinen Soziologie bezogen, besagt dieser Unterschied, daß sie in jenem Fall eine andere ist als in diesem Fall. Wie es scheint, hat der Autor später seine Unklarheit bemerkt. Sich vereindeutigend, spricht er nur noch von den Kategorien des Sozialen. Überdies erklärt er, daß die Allgemeine Soziologie deswegen „im strengen (Kantischen) Sinn ,transzendental‘“141 ist. Der Hinweis auf den auch axiomatischen Charakter der Allgemeinen Soziologie kann also auf sich beruhen. Damit vermag die Nachforschung voranzuschreiten erstens zur Prüfung, wie die Kategorien des Sozialen sich begründen, zweitens zur Prüfung der sozialen Kategorien als den Aufbaugründen der Gesellschaft sowie drittens zur Prüfung des Verhältnisses zwischen den natürlich-kulturellen, also den menschlichen Gehalten der Gesellschaft in ihrer sozialkategorialen Formung. Der Hinweis auf die Transzendentalität der sozialen Kategorien legt das Verfahren ihrer Bestimmung auf doppelte Weise fest. Die erste Festlegung besteht in der Wahl der Lehre vom Erkennen und vom Sein, die Immanuel Kant (1724– 1804) vorgelegt hat. Sie wird als maßgeblich angesehen. Mag es Gründe für diese Beschränkung geben, so besteht der Wunsch, sie zu erfahren. Denn neben dem genannten Kritizismus finden sich weitere Bemühungen, die sozialen Kategorien aufzuweisen. Deswegen wird man im Auge zu behalten haben, daß das Verständnis der Realität und damit auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit dem gewählten erkenntnistheoretischen Horizont verpflichtet ist. Diese – im anstehenden Fall unbegründet – eingegangene Begrenzung der Frage nach den sozialen Kategorien hat sodann zur Folge, daß ihre Bestimmung auch die Problematik teilt, die die Erkenntnislehre Kants seit ihrer Begründung begleitet, eine Erkenntnislehre übrigens, die maßgeblich als ein Begreifen der Natur, nicht als ein Begreifen der Gesellschaft entwickelt worden ist. 141 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 2.
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In der gebotenen Kürze skizziert, weist die genannte Lehre die folgenden Merkmale auf: Hebt, wie Kant sagt, das Erkennen wohl damit an, daß die vorhandenen Dinge die Sinne der humanen Existenz berühren, weshalb sie sie als Erscheinungen entgegennimmt, sie also erfährt, so entspringt das Erkennen doch ihrem Denken dadurch, daß es erfahrungsunabhängig ist und deswegen reine Verstandesbegriffe spontan hervorbringt. Die durch dieses zweifach bestimmte Erkennen herausgeforderte Erkenntnislehre hat folglich hinsichtlich des sinnlichen Vermögens die von vornherein bestehenden Anschauungsformen – in der Sprache Kants: In der transzendentalen Ästhetik – und hinsichtlich des Verstandesvermögens die von vornherein bestehenden Denkformen – in der Sprache Kants: In der transzendentalen Analytik – aufzufinden. Hinsichtlich der Denkformen kommt es darauf an, diese als diejenigen urteilenden Ursprungsgründe zu bestimmen – in der Sprache Kants: In der transzendentalen Deduktion –, die jene aufgenommene sinnliche Mannigfaltigkeit zu Gegenständen der Erkenntnis einigen. Schließlich ist zu erweisen, daß der Grund dieser Einigung im Bezug aller Bewußtseinsinhalte auf das Selbstbewußtsein – in der Sprache Kants: In der transzendentalen Apperzeption – besteht. Insofern das Selbstbewußtsein als frei von jedem realen – in der Sprache Kants: Empirischen – Bewußtsein gedacht wird, ist es ausgebildet als Bewußtsein überhaupt. Von ihm getragen, wendet das erkennende Subjekt sich seiner Erkenntnisaufgabe zu, nämlich dem Zusammenwirken der erfüllenden Anschauungen und der herstellenden Begriffe, insbesondere natürlich der herstellenden Grundbegriffe, also der Kategorien. Mit Hilfe des gestaltenden Erkenntnissinnes – in der Sprache Kants: Im transzendentalen Schematismus – gelingt der Bezug der den Kategorien zugeordneten Begriffen auf das sinnliche Material, wodurch die objektive Erkenntnis ins Werk gesetzt wird, also der sichere Gang der Wissenschaft, wie Kant das Ziel seiner Bemühungen zusammenfassend benennt. Nach der Erwartung, die geweckt worden ist, besteht das Bestreben der darzustellenden Meinung somit darin, im angedeuteten Kantischen Sinn zu benennen, durch welche Aufgaben die Allgemeine Soziologie sich auszeichnet. Begibt man sich in die Prüfung der Darstellung, dann fällt zum ersten an ihr auf, daß sie über das „Anheben“ der Erkenntnis der Gesellschaft, also über die Gesellschaft im Sinn der transzendentalen Ästhetik nicht spricht. Was die Gesellschaft ihrer sinnlichen Anschauung nach ist, scheint jedermann klar und deswegen auch formal unproblematisch zu sein. Also mag man in ihr eine „räumliche Menge“ von „Menschen“ erblicken, die das „geschichtliche Geschehen“ ausfüllt, oder man mag sie als eine „Häufigkeit menschlichen Verhaltens“ ansehen, die sich als ein „zeitlicher Prozeß“ ereignet, oder dergleichen. Die Prüfung der Darstellung wird an ihrem Beginn somit herb enttäuscht. Nichts erfährt der wißbegierige Leser über die Gesellschaft als Erscheinung, auf die die sozialen Kategorien sich beziehen. Das Problem überspringend, gilt die Aufmerksamkeit sogleich diesen Erstbegriffen selbst. Entspricht man der Forderung Kants, ist
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ihre Beschaffenheit in zwei Schritten zu ermitteln. Zum ersten gilt es, die Urteile des Verstandes zu zergliedern. Im anstehenden Fall sind es die Urteile des sozialen Verstandes. In welchen Arten urteilt also dieser Verstand? Nach eben ihnen fragt die Kantisch verstandene transzendentale Analytik. Hinsichtlich der Gesellschaft besteht hierin die zweite Aufgabe der Allgemeinen Soziologie. Indem sie den sozialen Verstand zergliedert, „entspricht die allgemeine Soziologie der Aufgabenstellung von Kants kritischen Bemühungen zur Analytik der apriorischen Struktur des Denkens“142. Fragt man nach, wo die Darstellung diese Zergliederung des sozialen Verstandes leistet, stößt man freilich ins Leere. Nirgendwo ist ein derartiges Bemühen auszumachen. Die soziale transzendentale Analytik erweist sich somit als ein zwar benanntes, aber als ein nicht bewältigtes Problem. Dasselbe ist auch vom nächsten geforderten Schritt zu sagen. Er besteht in der Erklärung der sozialen Kategorien, wie sie sich aus den Urteilsarten des sozialen Verstandes ergeben. Wie begründet, so ist zu fragen, die Darstellung der Forderung der transzendentalen Deduktion die sozialen Kategorien? Im Gegensatz zu der von Kant übernommenen Forderung wird man sagen müssen, daß sie ihre Deduktion überaus eigenwillig durchführt, wobei sie nicht zuletzt den Voraussetzungen widerstreitet, von denen sie ausgeht. Also ist sowohl zu jener Eigenwilligkeit als auch zu diesem Gegensatz etwas zu bemerken. Zum ersten: Zuzustimmen ist der Darstellung des Autors, wenn er im Sinn des Kritizismus sagt, daß „das Soziale“ (aus der soziologischen Erfahrung) „genau so wenig ableitbar ist wie das ,Organische‘ in der Biologie“143. Das ist der Grund, aus dem das Soziale sich nur kategorial erfassen läßt, also durch „Ordnungsgesichtspunkte und Kategorien, die schon darum nicht Gegenstand der Erfahrung sein können, weil sie aller Erfahrung vorausgesetzt werden müssen“144. Nicht zu begreifen ist es jedoch, wenn man andererseits lesen muß, daß die Rechtfertigung der sozialen Kategorien durch eben die soziologische Tatsachenforschung erfolgt. In diesem Sinn heißt es, der Forderung Kants und damit seinen Erkenntnisbedingungen widersprechend, daß die Allgemeine Soziologie als Ermittlung der sozialen Kategorien „erst entstehen“ konnte, „nachdem die soziologische Forschung bereits ein gutes Stück Wegs zurückgelegt hatte, indem man nachträglich die der Forschung zugrunde liegenden begrifflichen Bezugssysteme herausarbeitete“145. Diese Meinung wendet sich vom Transzendentalismus ab
142 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 19. 143 René König, Art. Einleitung in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 2. 144 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 1. 145 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 19.
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und dem Empirismus zu. Diese Zuwendung wird vollständig, wenn der transzendentalen Deduktion der sozial konstitutiven Prinzipien der Gesellschaft als Objekt ihrer Erkenntnis die folgende These entgegengehalten wird: „Natürlich gehört – forschungspsychologisch und wissenschaftsgeschichtlich gesehen – dazu auch eine vielfältige Auseinandersetzung zwischen reiner Spekulation, begrifflicher Deduktion und empirischem Herumprobieren: denn es kann ja nicht vorausgesetzt werden, daß die gesuchten Ordnungsbegriffe oder Kategorien von Anfang an in systematischer Ordnung da sind.“146 Mit diesem Urteil sind die sozialen Kategorien aus den lichten Höhen der Transzendentalität heruntergeholt und den Zufälligkeiten der Erscheinungswelt anheimgegeben. Folgerichtig verwandeln sich die sozialen Kategorien in bald mehr, bald weniger umfangreiche Allgemeinbegriffe der Erfahrung der Gesellschaft. Daß an ihrer Erarbeitung eine Reihe von gesellschaftswissenschaftlichen Autoren beteiligt war und noch ist, „die von Karl Marx und Durkheim über Vilfredo Pareto, Max Weber, Georg Simmel bis hin zu Talcott Parsons, Georges Gurvitch und Robert K. Merton reicht, um nur einige wenige Namen zu nennen“147, ist keine Frage. Transzendental betrachtet, lag und liegt den Arbeiten dieser Gesellschaftswissenschaftler jedoch immer die Kategorialität des Sozialen zugrunde. Sofern die Allgemeine Soziologie sich mit ihr befaßt – und das ist hinsichtlich der genannten Autoren der Fall –, ist deren Soziologie „zweifellos keine empirische Wissenschaft“, „sondern begrifflich-analytisch“, „deren Grundbegriffe, wenn sie tragbar sein sollen“, sich „auch an der Erfahrung müssen ,illustrieren‘ lassen, ohne jedoch aus ihr ,abgeleitet‘ werden zu können“148. Die gegebenen Antworten auf die Frage nach der Voraussetzung der soziologischen Erkenntnis, also nach den sie tragenden kategorialen Gründen, spalten die Allgemeine Soziologie somit von Grund auf. Denn es kann nicht zugleich behauptet werden, daß die Allgemeine Soziologie die Voraussetzung der soziologischen Erfahrungsforschung begründet und daß diese Erfahrungsforschung der Grund ist, der die Allgemeine Soziologie zur Folge hat. Da diese Bestimmungen sich ausschließen, ist die eine Bestimmung oder sind beide Bestimmungen falsch. Indem in der genannten Weise widersprüchlich über die Allgemeine Soziologie geurteilt wird, erstaunt es nicht, daß die grundlegende Forderung Kants, das Bewußtsein überhaupt zu bestimmen, aus den Augen gerät. Noch nicht einmal in Ansätzen dringt die Darstellung zu einer Erörterung der sozialen synthetischen Einheit der Apperzeption vor. Der in Anspruch genommene, bald jedoch wieder preisgegebene
146 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 1. 147 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 2. 148 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 2.
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Kritizismus begleitet also auch die Frage nach der Beschaffenheit des erkenntnistheoretisch letztinstanzlichen sozialen Selbstbewußtseins. Wie sollte das Kantische Ich-denke, „das alle meine Vorstellungen begleiten können muß“, sozial aber auch gedacht werden? Etwa als „allgemein“-soziologisches Ich-denke? Als Denken der soziologischen Wissenschaftler-Gemeinde? Oder doch als ein Kollektivsubjekt, das die oberste Bedingung aller objektiven Erkenntnis der Gesellschaft ist? Die Behauptung, daß die Allgemeine Soziologie „im strengen (Kantischen) Sinn ,transzendental‘ ist“, gerät zur Peinlichkeit. In diesem kritischen Sinn ist abschließend ein Wort über das transzendentale Schema zu verlieren, von dem Kant spricht. Es ist die Eigenart dieses Schemas, daß es die Anwendung der Kategorien auf die Sinnesgegebenheiten überhaupt erst möglich macht. Der Verzicht, den Empiriebezug der apriorischen Funktionen des erkennenden Subjekts auch nur zu erwähnen, belegt ein letztes Mal, daß die zitierte Untersuchung den Unterschied zwischen der kategorialen und der empirischen Begrifflichkeit bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Den Punkt im Ganzen zusammenfassend, läßt sich somit sagen, daß die Bemühung, die Allgemeine Soziologie als Disziplin zu erweisen, die die Kategorien des Sozialen ermittelt, also den tragenden Grund der soziologischen Forschung benennt, in keiner Hinsicht den Anforderungen entspricht, denen sie sich unterstellt hat. Als Folge der Prüfung, die Allgemeine Soziologie als Lehre von den Voraussetzungen der soziologischen Erkenntnis bzw. der gesellschaftlichen ExistenzGestalt der humanen Existenz zu erweisen, ergibt sich, daß die Durchsicht ihrer weiteren Bestimmungen sich kurz fassen kann. Es sind dies die Fragen nach dem Begründetwerden der Gesellschaft durch die sozialen Kategorien, also nach ihnen als den die Gesellschaft aufbauenden Ursprungsgründen, sowie die Frage nach der sozialen Formung, die die menschliche Existenz-Gestalt durch sie erfährt. Der zuerst genannte Problemzusammenhang besitzt sein Maß in der von Kant vorgelegten Tafel der Kategorien, die, wie erinnerlich, je drei Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit), der Qualität (Realität, Negation, Limitation), der Relation (Inhärenz, Kausalität, [Wechselwirkungs-]Gemeinschaft) und der Modalität (Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit) umfaßt. Es gilt, hinsichtlich der Gesellschaft etwas dieser Tafel Vergleichbares aufzuzeigen. Die Prüfung der Darstellung ernüchtert. Was sich findet, sind nicht mehr als lockere Aufzählungen von gesellschaftswissenschaftlichen Gemeinnamen, wie man wohl sagen muß. Es liegt an der nicht erarbeiteten Bestimmung der Eigenart der Kategorien des Sozialen, daß die gemeinten „Grundbegriffe“ in keinem Bezug zueinander und schon gar nicht als ein sinnvoller Zusammenhang aufgewiesen werden. Ohne ein erkenntnisleitendes Ziel und dementsprechend unverbindlich lautet zum Beispiel eine erste Auflistung: „Wichtige Grundbegriffe der allgemeinen Soziologie sind außer dem Begriff des sozialen Handelns (als Interaktion) die Begriffe der Rolle, der Position, der Situation, der Orientierung, der Erwartung, der Gratifikation, usf.“149 Ähnlich heißt es an anderer Stelle:
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Als Kategorien der Soziologie „treten . . . die Begriffe des sozialen Handelns, der kollektiven Vorstellungen oder Erwartungsnormen, der sozial-kulturellen Person, der Rolle, der Gruppe, usf. auf“.150 Noch lapidarer ist formuliert: Zu den sozialen Kategorien „gehören heute etwa Begriffe wie der des sozialen Handelns, der Regelung durch Erwartungsnormen, der sozialen Rolle, der Gruppe und viele andere mehr“151. Ob die genannten Bezeichnungen, die im übrigen eher als „Grundbegriffe“ einer beschreibenden Moralwissenschaft des gesellschaftlichen Lebens erscheinen, denn als Kategorien der Soziologie, irgendwie geordnet und schließlich zu einer Tafel der sozialen Kategorien vereinigt werden können, ist fraglich. Offensichtlich muß die Allgemeine Soziologie sich bescheiden. Die Feststellung mag zutreffen, daß es für die herrschende Soziologie „heute zweifellos verfrüht wäre“, zu versuchen, sie „zu einem endgültigen System zusammenzuschließen“152. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob ihr ein solcher Zusammenschluß überhaupt gelingen kann. Der gemeinten Allgemeinen Soziologie könnte es tatsächlich „unmöglich“ sein, „das weitverzweigte Begriffsnetz auch nur annähernd in Kürze darzustellen“153. Das allgemein-soziologische Lehrstück von den „konstitutiven Merkmalen des sozialen Faktors“, also die Lehre vom Aufbau der Erkenntnis und schließlich von der Gesellschaft als Gegenstand zerfranst sich somit ins Beliebige. Eine Disziplinierung der Allgemeinen Soziologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin läßt sich nicht mehr denken.154 149 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 20. 150 René König, Art. Einleitung, in: ders., Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 3. 151 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 2. 152 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 19. 153 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. a. a. O., S. 21. 154 Unter diesen Umständen erklärt es sich, daß die Soziologie sich damit begnügt, sich als „soziologische Theorie“ zu „begründen“, in welchem Sinn auch immer. Ihm entsprechend entwickeln diese soziologischen Theorien ihre „soziologischen Grundbegriffe“. Vgl. dazu z. B. Karl-Heinz Hillmann, Art. Grundbegriffe der Soziologie, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944. Den Leser um Nachsicht bittend, seien die genannten „Grundbegriffe“ nachstehend aufgelistet. Damit sei ein letztes Mal erwiesen: Die herrschende Soziologie kennt keine sozialen Kategorien und ist folglich unfähig, anzugeben, worin die soziologische Erkenntnis im Allgemeinen besteht. – Man liest S. 307: „Grundbegriffe der Soziologie, Grundkategorien, Schlüsselbegriffe (sind) in der erfahrungswissenschaftlich ausgerichteten Soziologie Begriffe, die zentrale, umfangreiche, komplexe Dimensionen, Bereiche, Gegebenheiten und Prozesse des soziokulturellen Lebenszusammenhanges bezeichnen.“ – S. 307 f.: „Grundbegriffe der Soziologie sind folgende: System, Struktur, Funktion, Integration, Interpenetration; Gesellschaft, Sozialstruktur, soziale Differenzierung, sozialer Prozeß; Kultur, Symbol, Persönlichkeit, Identität; Sozialisation, Enkulturation, Internalisierung;
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Die dritte und letzte Aufgabe der Allgemeinen Soziologie besteht, wie es heißt, „in der Einordnung des sozialen Faktors in verschiedene Lebensbereiche der Natur und der Kultur“. Diese Redeweise ist überraschend. Denn die sozialen Kategorien beziehen sich auf die menschliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz, nicht auf die genannten „Lebensbereiche“. Gewiß ist sie als leibliche Existenz natürlich beschaffen und als seelische Existenz kulturell ausgeformt. Aber diese menschlichen Existenzzustände sind nicht dasselbe wie die Natur und die Kultur „schlechthin“. Indem jene sich zur „Ordnung der Natur“ weitet und diese auch die „Werke des Geistes“ umgreift, übersteigen sie weit die menschliche Existenz-Gestalt, zumal in ihrer Singularität. Weil es sich so verhält, stellt sich die Frage nach dem Grund der gewählten Ausdrucksweise. Wie es scheint, ergibt sie sich aus einer bestimmten Auffassung der Natur des „Menschen“. Ihr zufolge ist der „Mensch“ nicht so sehr, wenn überhaupt, ein eigenständiges Wesen, ein Wesen also, das sich auszeichnet durch sein immer auch freies Erkennen, Streben und Fühlen, vielmehr ist er nichts anderes als ein Fall seines natürlich-kulturellen Schicksals. Damit lebt er schließlich als eine Funktion der Struktur seiner Gesellschaft. Folglich ist er so etwas wie ein Schnittpunktganzes der Kräfte dieser Gesellschaft. Der „Mensch“ existiert nicht als ein Wesen, das ein ich-bestimmtes Wissen um seine menschliche und um seine gesellschaftliche Existenz besitzt, er existiert vielmehr als ein Etwas einer dinglichen Ordnung. In diesem Sinn zu den Sachen gehörend, existiert er solchermaßen insbesondere dank seiner Sozialisation. Den „Menschen“ sachlich betrachtend, zeigt sich „die Bedeutung des persönlichen Lebenslaufs für den Aufbau der sozial-kulturellen Person, so daß jedes . . . System in jeder einzelnen Person eine einzigartige Brechung erhält“155. Genau diese Meinung aber steht Wert, Sinn, Tradition, Norm, Konformität, Devianz bzw. abweichendes Verhalten, Anomie, soziale Kontrolle, Sanktion; Soziale Position, Rolle, Erwartung; Kommunikation, Verhalten, Handeln, Situation, Akteur (Aktor, Handelnder), Interaktion, Reziprozität, Tausch, Kooperation, Distanz; Institution, soziales Gebilde, soziale Gruppe, Organisation, Bürokratie; vertikale Sozialstruktur, soziale Ungleichheit, sozialer Status, Sozialprestige, Kaste, Stand, Klasse, Schicht, Segregation; Autorität, Macht, Herrschaft, Legitimität, Elite, Ideologie, Vorurteil, Interesse, Konflikt; sozialer Wandel, Akkulturation, Diffusion, Modernisierung, Migration, Assimilation.“ – „Im Zusammenhang mit verschiedenen soziologischen ,Schulen‘ werden in Abhängigkeit von der theoretischen Orientierung jeweils bestimmte Begriffe als grundlegend hervorgehoben, in spezifischer Weise aufgefaßt, definiert und gewichtet.“ – Folgerichtig wird der Begriff der Kategorie – wenn auch keineswegs durchgängig – im beschreibenden und bevorzugt im statistischen Sinn verwendet. Vgl. Art. Kategorie, a. a. O., S. 408: „Kategorie . . . Bezeichnung für eine Vielheit von Personen, die durch ein oder mehrere gemeinsame, zugleich gesellschaftlich bedeutsame Merkmale (z. B. Geschlecht, Lebensalter, Bildungsgrad, Beschäftigungsart) gekennzeichnet sind. Im Gegensatz zur Gruppe und zum Aggregat sind keine sozialen Beziehungen, Struktur und räumliche Nähe erforderlich. Soziale Kategorien sind z. B. alle männlichen Studenten oder alle Hausfrauen eines Landes.“ 155 René König, Art. Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 22.
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in einer Erörterung der Beschaffenheit der sozialen Kategorien in Frage. Wurde die Person oben nicht als Voraussetzung der Gesellschaft benannt, als Person, die deswegen, weil sie die Gesellschaft aufbaut, auch ungegenständlich sein muß, d.h. eine an-sich seiende Natur? Die These von den vermeintlich nur gegenständlichen Inhalten der sozialen Kategorien erweist sich damit als ein weiteres Problem, durch das die Allgemeine Soziologie sich selbst in Frage stellt. V. Der Aufstieg der Soziologie zur akademischen Disziplin und ihr Verfall durch ihre Überschätzung als zeitgeschichtliche Schlüsselwissenschaft
Wollte man meinen, daß die Mängel der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis als Gesellschaftsphilosophie und insbesondere als Allgemeine Soziologie den Aufstieg dieser Erkenntniszusammenhänge behindern würden, so wäre das ein Irrtum. Das Gegenteil ist der Fall. Das Nebeneinander gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis-„Entwürfe“ erfreut sich vielmehr großer Beliebtheit. An ihrem Beginn sind es naturgemäß die Leistungen einzelner gelehrter Persönlichkeiten, denen es zu danken ist, daß die Gesellschaftswissenschaften das öffentliche Leben beschäftigen. Also läßt auch ihre Einrichtung an den wissenschaftlichen Hochschulen nicht lange auf sich warten. Damit ist der Weg zu eigenen Studienabschlüssen und in der Folge zu beruflichen Befähigungen geebnet. Diese Anerkennung der genannten gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen fällt in die Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert. Aus dem Kreis der namhaften Hochschullehrer seien hier nur drei Vertreter genannt. Es sind Gesellschaftswissenschaftler bzw. Soziologen, deren Erkenntnisarbeit in besonderem Maße der Entwicklung der Allgemeinen Soziologie gilt. Sich hierbei auf Vorarbeiten stützend, bemühen sie sich, den Grund der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis zu bestimmen. Sodann kommt es ihnen darauf an, aufzuzeigen, daß zumindest eine der sozialkategorialen Formen ihre Erkenntnis in systematischer Absicht trägt. Vielleicht sollte man als erste Persönlichkeit Georg Simmel (1858–1918) nennen. Das allgemein-soziologische Denken, das er entfaltet, zeichnet sich dadurch aus, daß er es auf eine der Kategorien des Bestandes der Gesellschaft gründet. Es ist die Kategorie der Beziehung, die der Bestimmung der gesellschaftlichen Existenz des „Menschseins“ seit alters her naheliegt. Anders arbeitet Max Weber (1864–1920). Ihm zufolge gründet die Allgemeine Soziologie in einer Kategorie des gesellschaftlichen Geschehens, nämlich in der des Handelns. Also bemüht er sich um den Aufbau einer Allgemeinen Soziologie der tätigen gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Von ihr wiederum verschieden ist diejenige Allgemeine Soziologie, die Ferdinand Tönnies (1855–1936) zu erarbeiten versucht. Er gründet seine Soziologie auf zwei Kategorien der Beschaffenheit der Gesellschaft. Er bezeichnet sie als Gesellschaft und Gemeinschaft. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, Grundgestalten des humanen Zusammenseins aufzuweisen. Neben diesen Arbei-
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ten aus der akademisch-soziologischen „Gründerzeit“ und solchen, die als allgemein-soziologische Bemühungen ihnen vergleichbar sind, worüber die Geschichte der Soziologie Auskunft gibt, entfaltet die soziologische Erkenntnis sich als ein Erkennen der zahlreichen besonderen gesellschaftlichen Existenzzusammenhänge. Sie werden vielfach von Bemühungen begleitet, die Techniken der Erhebung von gesellschaftlichen Daten auszuarbeiten und zu verfeinern. Überblickt man das Ganze dieser Forschungsarbeit, dann überrascht es nicht, daß insbesondere die Soziologie danach drängt, den Stand, den sie erreicht hat, im Überblick darzustellen. Um 1930 ist es so weit, die Aufgabe in Angriff zu nehmen. Unter der Federführung von Alfred Vierkandt (1867–1953) erarbeitet ein Kreis von nahezu 40 Gelehrten ein Werk, das man als die erste deutschsprachige soziologische Summe bezeichnen könnte. Ihre Absicht ist es, „den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen soziologischen Bewegung in Deutschland in großen Zügen gleichsam durch einen Akt der Kodifikation“ festzulegen, um dadurch nicht zuletzt „die Kenntnis der soziologischen Einsichten . . . in weiteren Kreisen zu verbreiten“156. Den Wunsch des Herausgebers und seiner Mitarbeiter kann man verstehen. Schien die Zeit nicht reif geworden zu sein, vor allem das soziologische Erkennen als einen einheitlichen Zusammenhang darzustellen? Läßt sich nicht zeigen, daß die Soziologie ihren überkommenen Auseinanderfall in verschiedene „Möglichkeiten“ des Erkennens überwunden hat? In großer Zuversicht spricht Vierkandt deswegen davon, daß das stattliche Handwörterbuch bestrebt ist, im Gegensatz zu den „verschiedenen Richtungen der Soziologie“ den je „eigenen Standpunkt zurücktreten zu lassen und allen Richtungen gerecht zu werden“. Ausdrücklich, so heißt es, kommt diese Haltung zur Sprache in dem „Artikel ,Soziologie‘ . . . unseres Mitarbeiters (Theodor) Geiger mit seinem orientierenden Überblick“, der „die verschiedenen Richtungen unbefangen zu würdigen sucht“: „Mit Recht betont der Verfasser darin, daß die Verschiedenheit der Anschauungen begrenzter ist, als es Beteiligte und Unbeteiligte in der Regel annehmen. Die vielfache Lebhaftigkeit täuscht leicht über das vorhandene Maß an Übereinstimmung.“157 Natürlich stimmt man gern dem Herausgeber des Handwörterbuchs der Soziologie in der Hoffnung zu, daß die gewonnenen Einsichten in der Sache begründet, also mehr sind als eine bloße Verabredung, „den kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu achten. Will man in Erfahrung bringen, was der Fall ist, sollte man nicht darauf verzichten, die soziologische „Kodifikation“ zunächst im Ganzen durchzusehen, um sodann im Besonderen den genannten Artikel zu studie156 Alfred Vierkandt, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. V. 157 Alfred Vierkandt, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. V.
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ren. Da dieser Beitrag mit dem Titel Soziologie durch eine Abhandlung desselben Verfassers mit dem Titel Gesellschaft ergänzt wird, tut man gut daran, beide Darstellungen zu prüfen. Zu beantworten ist die Frage nach der Einheit, zu der die soziologische Erkenntnis inzwischen gelangt ist. Indem die Durchsicht sich auf den Weg macht, stellt sie eingangs fest, daß die dargestellte Soziologie sich der herkömmlichen Belastung wohl bewußt ist. Sie weiß, daß „die Frage nach der gesellschaftlichen ,Wirklichkeit‘ . . . in der Alternative Universalismus – Individualismus, besser: Totalismus – Atomismus erörtert“ worden ist. Daß derart über die Gesellschaft zu denken „bis in die jüngste Zeit“ hinein üblich war, braucht aber nicht zu beunruhigen. Denn die Soziologie hat die „Epoche des Kampfes um ihre Anerkennung als selbständige Wissenschaft“ dadurch „hinter sich“ gebracht, daß sie sich als „einzelwissenschaftliche empirische Soziologie oder Soziologie i. e. S.“158 ausgebildet hat. Deswegen hat die Auseinandersetzung mit jener Alternative jede Bedeutung verloren. Denn die „Streitfrage“ ist „erfahrungswissenschaftlich belanglos“, so daß „sie sogar philosophisch-ontologisch überholt ist“159. Daß die Soziologie den Auseinanderfall ihrer Erkenntnis hat überwinden können, besitzt seinen Grund also darin, daß die bisher einander widerstrebenden Erfahrungen der Gesellschaft sich zu einer einheitlichen Erfahrung vereindeutigt haben. Zuletzt ist dieser Fortschritt dadurch garantiert, daß die Soziologie sich fortentwickelt hat zu einer Soziologie, die „Empirie und nichts als Empirie“ ist, d.h. „keinesfalls Spekulation“160. Indem die Soziologie als empirische Soziologie „die Tatsache der Gesellschaftlichkeit des Menschen als ihrer Erfahrung gegeben“161 hinnimmt, verwandelt sich der alternative Auseinanderfall ihrer Erkenntnis in einen bloßen Schein. Diese Behauptung überrascht. Liegt nicht gerade in der Erfahrung der Gesellschaft der Grund dafür, daß sie bald im Sinn der verschiedenen Individualismen und bald im Sinn der verschiedenen Totalismen begriffen wird? Was meint unter diesen Umständen die vorgetragene Begründung? Offensichtlich zielt sie mit ihrer Betonung des „Empirischen“ darauf, das „Spekulative“ zu überwinden. Denn in ihm, so besteht die Meinung, liegt der Grund für das unverbundene Nebeneinander der soziologischen Erkenntnisweisen. Nichts jedoch ist irriger als diese Inanspruchnahme bestimmter Formen des Erkennens zur Erklärung jener Alternative. Denn nicht die Ersetzung des geistig-betrachtenden Denkens, also eines Denkens, das die Erfahrung übersteigt, durch ein Denken der Gesellschaft, das in ihrer Erfahrung verbleibt, überwindet jenen Erkenntniszerfall. 158 Theodor Geiger, Art. Soziologie, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 207, S. 568 und S. 571. 159 Theodor Geiger, Art. Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 207. 160 Theodor Geiger, Art. Soziologie, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 571. 161 Theodor Geiger, Art. Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 207.
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Was ihn zu überwinden vermag, ist dasjenige Denken, das die Gesellschaft in ihrer wahrhaften Beschaffenheit erfaßt. Indem die herkömmliche Gesellschaftserkenntnis dieses Ziel verfehlt, ist sie gehindert, die Einheit der gesellschaftlichen Erkenntnis zu entwickeln. Eben diesem Fehler unterliegt auch die genannte empirische Soziologie. Statt den Kern der Gesellschaft in den Blick zu nehmen, also das Soziale bzw. genau genommen, die Erscheinungen des Sozialen, wendet sie sich der Gesellschaft in ihrer tatsächlich bald individualistischen und tatsächlich bald totalistischen Beschaffenheit zu. Damit verbleibt die Auffassung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz in der überkommenen Alternative. Die Folge ist, daß eine in eben jener Zeit erschienene Arbeit, die auf die Erkenntnis der wesentlich sozial beschaffenen Gesellschaft zielt, allen Anlaß hat, zunächst die „,Elemente‘ (des) gesellschaftlichen Seins“ und sodann „das (gesellschaftliche) Ganze vor den Teilen“ als mangelhafte Denkweisen der Gesellschaft aufzuzeigen.162 Denn auch für das Erfahrungsdenken besitzt der Begriff des Sozialen einen bestimmten Sinn – sofern es sich nicht selbst Gewalt antun will. Er ist also nicht unbestimmt, wie behauptet worden ist.163 Diese Meinung bringt nicht weniger zum Ausdruck als jenen Grundirrtum, der die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis durchzieht. Deswegen findet das Denken der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz einen Halt allein in den Bestimmungen des „Menschen“. Sie sind gegenständlich solche seiner leiblichen oder seiner seelischen Individualität bzw. Totalität. Methodisch sind sie vorzugsweise Setzungen des erkennenden Subjekts. Die skizzierten Verhältnisse der akademisch eingerichteten theoretischen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis bestehen unverändert bis in unsere Tage fort. Mit dem Nebeneinander ihrer vierfach gespaltenen und erkenntnistheoretisch sich als kritisch verstehenden „Theorien“ bleiben die herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Lehrmeinungen und insbesondere diejenigen der Soziologie in eine Dauerkrise verstrickt. Begleitet dieses Unvermögen, die Gesellschaft als Gesellschaft zu begreifen, die Soziologie zwar stetig, so ist das Bewußtsein dieser Krise doch bald mehr bald weniger ausgeprägt. Man könnte von einem Kommen und Gehen der Bedrängnis sprechen. Neben Zeiten, in denen der Auseinanderfall der Soziologie nur diesen oder jenen gelehrten Zirkel beschäftigt, finden sich Ereigniszusammenhänge, die die Gesellschaftswissenschaften im Ganzen umfassen, ja über sie hinausgehen und damit das öffentliche Leben ergreifen. In dieser allgemein gewordenen Auseinandersetzung verläßt der Streit in der Regel die Grenzen der Wissenschaft und wechselt hinüber 162 Vgl. Werner Ziegenfuß, Versuch über das Wesen der Gesellschaft, Leipzig 1935, S. 2–16 und S. 16–33 sowie die erklärenden Anmerkungen hierzu S. 112–115. 163 Vgl. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 166.
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in die politische Publizistik. Daß die Jahre zwischen 1933 und 1945, in denen die deutsche Gesellschaft politisch und staatlich sich dem Nationalsozialismus überantwortete, eine Ausnahme darstellt, versteht jedermann. Der „fanatische“ Wille, die Gesellschaft in „einen germanischen Staat deutscher Nation“164 zu verwandeln, verengte den Raum der Streitigkeiten um die theoretischen Grundlagen der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis drastisch.165 Nach 1945 ist die deutsche Soziologie darum bemüht, möglichst rasch zumindest jenen „Standard“ wieder zu erreichen, den sie zum Ende der 20er Jahre erzielt hatte, wobei es insbesondere galt, die inzwischen in den Vereinigten Staaten von Amerika formulierten gesellschaftswissenschaftlichen Thesen kennenzulernen und zu verarbeiten. Aus diesem Grund ist es nicht beiläufig, daß das erwähnte Handwörterbuch der Soziologie 1959 als unveränderter Neudruck wiederveröffentlicht wurde und dieses Werk seit 25 Jahren auch in einer gekürzten Studienausgabe zur Verfügung steht.166 Mit der damit sich freilich fortsetzenden Erkenntnisproblematik geht einher, daß zumeist auch jene Schriften wieder vorgelegt werden, deren Ziel es war, den Auseinanderfall der Soziologie in verschiedene Erkenntnisalternativen beim Namen zu nennen und sie nach den Kräften, die zur Verfügung stehen, zu überwinden. Es könnte nützlich sein, aus der Vielzahl dieser Veröffentlichungen wenigstens an die Arbeiten von Dietrich von Hildebrand (1889–1977)167, von Josef Pieper (1904–1997)168 und
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Adolf Hitler, Mein Kampf (1925/27), München 1937, S. 362. Welche Erkenntnisgestalt die Soziologie in der Zeit des Nationalsozialismus besaß, bewegte und bewegt nach wie vor nicht nur die Gesellschaftswissenschaften, sondern auch das öffentliche Leben. Die Diskussion bemüht sich jedoch nicht so sehr um die Klärung der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Maße die Soziologie im Bemühen um ihre vernünftige Begründung Fortschritte zu erzielen vermochte. Sie gilt bevorzugt vielmehr der Frage, inwieweit diese und jene gelehrte Persönlichkeit sich vom Nationalsozialismus abgewandt oder sich ihm zugewandt hat. Untersucht werden vor allem also tatsächliche politische Verhaltensweisen und politisch-ethische Gesinnungen der in jener Zeit tätigen Gesellschaftswissenschaftler. An dieser Diskussion sich zu beteiligen, besteht hier kein Anlaß. – Vgl. zu den damaligen Personalverhältnissen z. B. Gabriele Fornefeld/Alexander Lückert/Klemens Wittebur, Die Soziologie an den reichsdeutschen Hochschulen zu Ende der Weimarer Republik, in: Sven Papcke (Hrsg.), Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, Darmstadt 1986, S. 423–441; Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986; Frank Thieme, Soziologie im Wandel. Ein Beitrag zum Entstehungsprozeß der Soziologie in Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin/New York 1990. 166 Vgl. Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie. Unveränderter Neudruck. Stuttgart 1959 sowie ders., Handwörterbuch der Soziologie. Gekürzte Studienausgabe, Stuttgart 1982. 167 Vgl. Dietrich von Hildebrand, Die Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, Regensburg 1930/Neudruck Regensburg 1955. 168 Vgl. Josef Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln, Freiburg/Brsg. 1933/Frankfurt a. M. 19482 /München 19877. 165
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von Werner Ziegenfuß (1904–1975)169 zu erinnern. Die in sich beharrende herrschende Soziologie hält sich jedoch an die überkommenen Wege der gesellschaftlichen Erkenntnis170, also an die Spielarten des Individualismus einerseits und an die des Totalismus andererseits.171 Der 1961 zunächst in einer persönlich gehaltenen Gelehrtenrunde ausgetragene Zwist über die Logik einer individualistischen und einer totalistischen Gesellschaftswissenschaft verhärtet sich bald zum sogenannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie172, um sich sieben Jahre später auf dem 16. Deutschen Soziologentag gewaltsam zu entladen. Konnten die soziologischen Individualisten die zeitgenössische Gesellschaft nur als „Industriegesellschaft“ auffassen, so vermochten die soziologischen Totalisten diese Gesellschaft nur als „Spätkapitalismus“ zu begreifen.173 Als sogenannte dritte Soziologie richtete sich neben jener „Sozialtechnologie“ und dieser „kritischen Theorie“ der Gesellschaft eine Soziologie ein, die sich als „Gegenwartswissenschaft des Sozialen auf Dauer“174 verstand. Daß die Auseinandersetzungen zwischen diesen Meinungen nicht nur die soziologische Erkenntnis zerfledderten, sondern auch zu Zerwürfnissen unter den beteiligten Gelehrten führten, ist bekannt. Kein Wunder also, daß die Soziologie in der Folgezeit in ein wüstes Trümmerfeld zerfiel. Es dauerte Jahre, bis irgend jemandem die erlösende Eingebung kam. Er formulierte sie als jene Zauberformel, die es den Soziologen ermöglichen sollte, von einander wieder Kenntnis zu nehmen. Der Name der Zauberei hieß „Theorienvergleich in der Soziologie“. Unverges169 Vgl. Werner Ziegenfuß, Versuch über das Wesen der Gesellschaft, Leipzig 1935; überarbeitet als Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1954. 170 Die beharrende Haltung dürfte die Ablehnung verständlich machen, die die erste Zusammenfassung der deutschen Soziologie nach dem II. Weltkrieg erfuhr. Vgl. Werner Ziegenfuß (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956. Die Zunft folgte nicht dem Weg der Ausarbeitung einer soziologischen Soziologie, den dieses opus magnum einschlägt. Sie übersieht dieses Handbuch. Es ist bis heute „vergessen“. 171 Vgl. auswahlsweise August M. Knoll, Von den drei Wesenstheorien der Gesellschaft. Individualismus-Totalismus-Personalismus, Wien 1949; Georg Weippert, Jenseits von Individualismus und Kollektivismus. Studien zum gegenwärtigen Zeitalter, Düsseldorf 1964; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975; Karl-Dieter Opp, Individualistische Sozialwissenschaft. Arbeitsweise und Probleme individualistisch und kollektivistisch orientierter Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979; Udo di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in argumentations- und systemtheoretischer Perspektive, Berlin 1991. 172 Vgl. Theodor W. Adorno/Hans Albert/Ralf Dahrendorf/Jürgen Habermas/Harald Pilot/Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969. 173 Vgl. Theodor W. Adorno (Hrsg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969. 174 Vgl. Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/ Köln 1959, S. 85.
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sen ist die Diskussion auf dem 17. Deutschen Soziologentag im Jahr 1974, auf dem die überkommenen Alternativen vorgestellt wurden. Um die Verlegenheiten nicht gar zu offenkundig werden zu lassen, befleißigte man sich einer zeitgemäßen Redeweise. In die sogenannten soziologischen Ansätze einführend, wurden die erkenntnistheoretisch und erkenntnissystematisch nicht bewältigten Auffassungen wie folgt vorgestellt: Im Sinn des naturalistischen Individualismus sprach Karl-Dieter Opp über die Soziologie als Verhaltenstheorie; im Sinn des psychologistischen Individualismus redete Joachim Matthes über die Soziologie als phänomenologische Handlungstheorie; im Sinn des materialistischen bzw. des materialistisch bestimmten Totalismus äußerten sich drei Sprecher: Benannte Karl Hermann Tjaden die Soziologie als eine Denkweise des Historischen Materialismus und stellte Jürgen Habermas die Soziologie als neomarxistische Kommunikationstheorie vor, so kennzeichnete Niklas Luhmann die Soziologie als funktionale Systemtheorie. Ein Vertreter, der die Soziologie im Sinn eines idealistischen Totalismus darstellen würde, ließ sich nicht finden. Überraschenderweise traf dies sowohl für dessen logisch-formale wie für dessen kulturhistorisch-beschreibende Abwandlung zu. Der organologische Funktionalismus zum Beispiel eines Talcott Parsons (1902–1979) lag gerade nicht mehr im Trend, und eine Lehre, wie beispielsweise diejenige von Norbert Elias (1897– 1990), der die Gesellschaft als einen zivilisatorischen Figurationsprozeß begreift, war noch nicht wiederentdeckt.175 175 Vgl. M. Rainer Lepsius (Hrsg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1976, S. 14–82. Zur Fortsetzung der Diskussion vgl. z. B. Karl O. Hondrich/Joachim Matthes (Hrsg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften, Neuwied/Darmstadt 1978; Michael Schmid, Soziologischer Theorienvergleich (zuerst gekürzt 2001), in: ders., Rationales Handeln und soziale Prozesse. Beiträge zur soziologischen Theoriebildung, Wiesbaden 2004. – Daß die Gründe, die zum sogenannten Theorienvergleich führten, auch als Gründe einer Krise der Soziologie verstanden wurden, belegen zahlreiche soziologiekritische Schriften. Dem Datum ihres Erscheinens folgend, seien z. B. genannt: Dieter Oberndörfer, Abschnitt: Soziologie in der Krise, in: ders., Von der Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft, Freiburg/Brsg. 1958/19612; C. Wright Mills, Kritik der soziologischen Denkweise, (zuerst New York 1959), Neuwied/Berlin 1963; Bernhard Schäfers (Hrsg.), Thesen zur Kritik der Soziologie, Frankfurt a. M. 1969; Stanislav Andreski, Die Hexenmeister der Sozialwissenschaften. Mißbrauch, Mode und Manipulation einer Wissenschaft (zuerst London 1972), München 1974; Julien Freund, Die Krise der Soziologie, in: Deutschlandfunk, 22. März 1974; Shmuel N. Eisenstadt, Einige Überlegungen zur „Krise“ der Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 26. Jg., 1974; Alvin W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise. 2 Bände (zuerst London 1970), Reinbek bei Hamburg 1974; Thomas Luckmann, Das kosmologische Fiasko der Soziologie, in: Vorstand der deutschen Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Soziologie. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2/1974; Gerd Abel, Wissenschaftssprache und Gesellschaft. Zur Kritik der Gesellschaftswissenschaften, Opladen 1975; Ludwig Landgrebe, Der Streit um die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie, Opladen 1975; Hans-Jürgen Krysmanski/Peter Marwedel (Hrsg.), Die Krise der Soziologie. Ein kritischer Reader zum 17. Deutschen Soziologentag, Köln 1975; Erhard R. Wiehn, Soziale Wirklichkeit
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Weil der Theorienvergleich das war und bis heute geblieben ist, was sein Name besagt, nämlich ein Vergleich von verschiedenen, miteinander nicht vereinbarungsfähigen Lehren und keine Ergründung der einheitlichen soziologischen Erkenntnis, verwundert es nicht, daß er in der soziologischen Sache zu keinem Ergebnis führte. Wenn man von einem Ertrag sprechen will, den der Vergleich erbracht hat, dann dürfte er darin bestehen, daß er das Bewußtsein der Krise der Soziologie geschärft hat. In der Regel kommt diese Achtsamkeit darin zum Ausdruck, daß die Soziologen jetzt freimütig über die Mehrzahl der grundverschiedenen soziologischen Lehrmeinungen sprechen, sie darstellen und zugleich behaupten, daß eine von ihnen, nämlich die jeweils eigene, diejenige Lehre ist, die begreift, als was bzw. worin die Gesellschaft in Wahrheit besteht.176 Diesen Standpunkt, der bedenkenlos den Subjektivismus, den Nominalismus und den Voluntarismus in sich vereinigt, hat ein Soziologe kürzlich in der folgenden Formel zusammengefaßt: „Soziologie ist das, was Leute, die sich Soziologen nennen, tun, wenn sie von sich sagen, daß sie Soziologie trei-
als Herausforderung der Soziologie, München 1975; Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Krise der Soziologie, Stuttgart 1976; Johan Goudsblom, Soziologie auf der Waagschale (zuerst Utrecht 1974), Frankfurt a. M. 1979; Joachim Matthes, Das schlechte Gewissen der Soziologie. Die Schlüsselwissenschaft unserer Zeit und ihre künstliche Wirklichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. November 1980; Norbert Elias, Soziologie in Gefahr. Plädoyer für die Neuorientierung einer Wissenschaft, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10.1982; Hans-Peter Dreitzel/Dietmar Kamper, Wozu noch Soziologie? Zur Situation eines überstrapazierten Fachs, in: Süddeutsche Zeitung, 24./ 25. September 1983; Gerald Mozetic´, „Die Soziologie, diese unglückliche Wissenschaft . . .“ Überlegungen zu Helmut Schelskys Kritik der Soziologie, in: Ota Weinberger/Werner Krawietz (Hrsg.), Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker, Stuttgart/Wiesbaden 1985; David Seeber, Entmythologisierung der Soziologie. Zu einer Streitschrift von Friedrich H. Tenbruck, in: Herder-Korrespondenz, 39. Jg., 1/ 1985; Janpeter Kob, Soziologie zwischen wissenschaftlichem Autismus und sozialreligiöser Heilslehre. Zu Helmut Schelskys Kritik seines Faches, in: Rainer Waßner (Hrsg.), Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Opladen 1988; Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 40. Jg., Über Soziologie. Jubiläumsheft zum 40. Jahrgang, 1989; Stefan Müller-Doohm, Soziologie ohne Gesellschaft? Notizen zum Gegenstandsverlust einer Disziplin, in: ders. (Hrsg.), Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1991; Johannes Weiß, Vernunft und Vernichtung. Zur Philosophie und Soziologie der Moderne. Abschnitt: Die Soziologie und die Krise der westlichen Kultur, Opladen 1993; Christoph Görg, „Vom Nutzen und Nachteil der Soziologie für das Leben“ oder: Wozu heute Soziologie? In: ders. (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang. Perspektiven kritischer Soziologie, Darmstadt 1994. 176 Beispiele dieses Verfahrens bieten Günter Wiswede, Soziologie. Grundlagen und Perspektiven für den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich, Landsberg 1985/19983; Max Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen 1999/20032; Andreas Balog, Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis der Grundprobleme, Stuttgart 2001; Wolfgang Ludwig Schneider, Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 3: Sinnverstehen und Intersubjektivität – Hermeneutik, funktionale Analyse, Konversationsanalyse und Systemtheorie, Wiesbaden 2004.
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ben.“177 Gegen diese Bestimmung sprechen alle Gründe, die erkenntnistheoretisch gegen eine subjektivistische, eine nominalistische und eine voluntaristische Erkenntnislehre vorzubringen sind: Verlagert der Subjektivismus das Maß des Urteilens in die Grenzen des erkennenden Subjekts, so entwertet der Nominalismus zusätzlich dessen Urteil, indem er die gesellschaftlich denkbare bzw. gegenständliche Allgemeinheit leugnet; schließlich verwechselt der Voluntarismus den Willen, der das Erkennen bewegt, mit einem nicht-theoretischen, d.h. mit einem willentlichen Tätigsein. Diese Gründe wohl ahnend, erklärt der Autor jener Definition mit einer kaum mehr zu überbietenden Dreistigkeit, „daß ich mich schon seit längerer Zeit Sozialwissenschaftler nenne, social scientist,“ und nicht mehr Soziologe, und zwar mit der Begründung, „weil mein Traum irgendwo zwischen David Hume und Max Weber angesiedelt ist“178. Unter den genannten Umständen erstaunt es nicht, daß die Schriften zur Kritik der Soziologie inzwischen einen Lesesaal füllen. Besteht diese Kritik herkömmlich darin, daß die eine gesellschaftswissenschaftliche bzw. die eine soziologische Alternative die andere Auffassung bzw. die anderen Auffassungen kritisiert, so geht diese Kritik jetzt über in eine Kritik der Gesellschaftswissenschaften bzw. der Soziologie im Ganzen. Der Streit um die mögliche Vereinbarkeit der verschiedenen soziologischen Erkenntnisse verallgemeinert sich zum Streit um die Möglichkeit der gesellschaftswissenschaftlichen bzw. der soziologischen Erkenntnis überhaupt. Ihren Kern besitzt diese Kritik in der Überzeugung, daß mit der gesellschaftswissenschaftlichen Art des Erkennens eine Leugnung der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz einhergeht, indem sie behauptet, daß der „Mensch“ nur als gesellschaftliches Wesen existiert. Mit der Formulierung dieses Grundsatzes, der nicht mehr sozialer, sondern sozialistischer bzw. kollektivistischer Natur ist, vermochte sich insbesondere die Soziologie den Rang einer Schlüsselwissenschaft der modernen humanen Existenz zu erkämpfen und damit zu einer Heilslehre zu werden, wie es heißt. Ihr
177 Ralf Dahrendorf, Einführung in die Soziologie, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 40. Jg., Heft 1/2: Über Soziologie. Jubiläumsheft zum 40. Jahrgang, Göttingen 1989, S. 2. 178 Ralf Dahrendorf, Einführung in die Soziologie, in: Soziale Welt, a. a. O., S. 5. – Der Autor mag seinen Traum weiterträumen. Wieder in der gesellschaftswissenschaftlichen Diskussion, sollte es erlaubt sein, ihn an den „Sophisten und Menschenlehrer“ Protagoras (485–415) zu erinnern. Vgl. z. B. Georgi Schischkoff, Art. Protagoras, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 199122, S. 585 f.: Wie bekannt, lautet der „Hauptsatz seiner Philosophie: ,Der Mensch (der Einzelne) ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind‘ (sog. ,Homomensura‘-Satz). Allgemeingültige Wahrheit ist danach nicht möglich: Nicht einmal für denselben Menschen ist dasselbe zu verschiedenen Zeiten wahr, denn ,derselbe‘ Mensch ist eben zu verschiedener Zeit jedesmal ein anderer Mensch. In diesem Sinn ist alles ,relativ‘.“ – Auf die humane Existenz als gesellschaftliche Existenz-Gestalt bezogen, besagt jener Satz: Der Soziologie treibende „Mensch“ ist das Maß aller gesellschaftlichen Dinge.
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zufolge lebt der „Mensch“ nicht mehr als Person, wie das die europäische Tradition lehrt, sondern nur noch als Träger von Funktionen seiner Gesellschaft. Derart umfassend kritisch eingestellt, wenden sich vor allem zahlreiche Soziologen gegen die von ihnen gelehrte Wissenschaft. Wenn dieser Kritik in zunehmender Zahl Vertreter aus nahezu allen anthropologischen Disziplinen beipflichten, so kann das nicht überraschen. Als Wortführer der Kritik gelten gemeinhin die Soziologen Helmut Schelsky (1912–1984) und Friedrich H. Tenbruck (1919–1994). Im Ton nicht wählerisch und in der Sache unerbittlich, verwerfen sie die theoretischen Gesellschaftswissenschaften und unter diesen vor allem die Soziologie. Es mag ratsam sein, aus ihren Texten wenigstens einige Passagen zu zitieren, um den Stil und das Ziel der Kritik zu vergegenwärtigen. Über die soziologische Auflösung der Person nachdenkend, heißt es bei Helmut Schelsky: „Nicht die Verfälschung der wissenschaftlichen Soziologie zur sozialen Heilslehre, sondern die Thematisierung des Zeitbewußtseins auch durch die durchaus wissenschaftlich bleibende Soziologie macht die entscheidende meta-wissenschaftliche Wirkung auf das Zeitbewußtsein aus. Diese besteht weniger in den sozialutopischen Zukunftsverheißungen als in dem Abbau der Bewußtseinssicherheiten und Sinnhorizonte, mit denen bisher der in unserer Kultur handelnde Mensch rechnen konnte. Die Bewußtseinsherrschaft der Soziologie jedweder Herkunft macht es heute fast unmöglich, die sinn- und werthaften Voraussetzungen der Vergangenheit weiterhin als Orientierungsrichtmarken für die Zukunft zu verwenden: Der von der Renaissance her in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und dem philosophischen Idealismus des 19. Jahrhunderts aufgebaute absolute Bezug allen Handelns, vor allem auch allen sozialen Handelns, auf das Individuum oder die einzelne Person und ihre Kräfte der Verinnerlichung, der letzten Endes sogar auf der Durchsetzung des Christentums und seinem individuellen Seelen- und Gewissensbegriff beruht, wird heute durch die Soziologie und die soziologiegestützte Sozialphilosophie verschiedenster Herkunft grundsätzlich abgebaut. Die Auflösung der Person und ihrer auf sich selbst gerichteten Verbindlichkeiten im Handeln ist die zeitbestimmende Wirkung aller Soziologie.“ „Von diesem Standpunkt aus wird die Soziologie nicht nur in bestimmten Lehren oder Richtungen kritisiert, sondern die Soziologie wird als wissenschaftliches Fach schlechthin ihrer unwissenschaftlichen Wirkungen wegen bezweifelt und abgelehnt. Sicherlich wird man die hier kritisierten Auswirkungen der Soziologie niemals innerhalb der Soziologie durch interne Fachauseinandersetzungen beheben können, sondern ihre heils- und klassenherrschaftlichen Auswirkungen werden erst aufhören, wenn die Soziologie ihre große Zeitwirkung verliert und in die Stellung eines ,esoterischen‘ Fachs zurückgedrängt, also auf einen Personenkreis wieder beschränkt worden ist, der seinen Welterfahrungen nach den Verführungen der Soziologie gewachsen ist. In diesem Sinne einer auf die Wurzeln des Faches selbst zielenden Kritik stelle ich diesen (d.h. den folgenden Untersuchungs-)Teil unter den Titel ,Anti-Soziologie‘.“179
179 Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, S. 267 f. und S. 255.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Dieser Kritik verpflichtet und sie ideen- und zeitgeschichtlich vertiefend, heißt es bei Friedrich H. Tenbruck: „Hierin“ – in der Abschaffung des Menschen als Person – „offenbart die Soziologie – was immer ihre Vertreter persönlich wollen – objektiv ihren Geist. Schelsky hat das vor allem in seiner ,Anti-Soziologie‘ . . . ebenso ausführlich wie lebendig dargetan.“ „Mit aller Deutlichkeit muß man feststellen, daß die Ausschaltung des Menschen als Person nicht als überraschende Entwicklung, momentaner Trend, bedenklicher Auswuchs oder besondere Richtung der Soziologie anzusehen ist. Ungeachtet der Tatsache, daß sich die Soziologen nicht über einen Kamm scheren lassen, vertreten sie mit allen ihren Äußerungen, soweit diese an einer Theorie der ,Gesellschaft‘ orientiert bleiben, objektiv diesen Geist.“ Sie haben alle „in dem Maße, wie sie sich zu einer Wissenschaft von der ,Gesellschaft‘ bekannten, objektiv daran mitgewirkt, daß der Mensch als Person außer Kurs gesetzt wurde. Schneller und folgerichtiger als manche Lehrmeister merkten ihre Schüler, daß in der Wirklichkeit, wie die Sozialwissenschaften sie zeichneten, für die Person kein Raum blieb. Wie und wo konnten denn Gewissen, Verantwortung, Verfehlung, Verbindlichkeit, Schuld, Pflicht oder Gebot, wie und wo denn Freiheit, Wille, Lebenssinnentscheidungen und Wertgeltungsmaßstäbe als personale Begriffe in der ,Gesellschaft‘ festgemacht werden? Offensichtlich konnten davon allenfalls soziale Mechanismen übrig bleiben, die als Ergebnisse gesellschaftlicher Determinationen gerade das desavouieren, was Personalität meint.“ „Der Mensch als Person ist keine Erfindung religiöser oder anthropologischer Präzepte, die vielmehr selbst auf einen anthropologischen Tatbestand zurückgehen.“ „Von alldem ist in den Sozialwissenschaften keine Rede; sie schließen es sogar offensichtlich als unmöglich aus. Alle jene Vorstellungen, in denen durch die Zeiten hindurch der Mensch seine Eigenart auf zwar verschiedene, aber doch verwandte Weise festzumachen versucht hat, sind in den Sozialwissenschaften nicht vorgesehen und können deshalb, wo diese Wissenschaften herrschen, auch gar nicht mehr gedacht werden. Wer sich anstatt als Person als Merkmalsvertreter, anstatt als Handelnder als Rollenträger, anstatt als Glied einer Gemeinschaft oder als Bürger eines Staates als Positionsinhaber in einer ,Gesellschaft‘, anstatt als Teil einer geschichtlich geprägten Nation als Teilnehmer an einem Differenzierungsprozeß, anstatt als persönliches Glied in dieser bestimmten Familie oder Schulklasse als Funktionsstelle in einem sozialen System versteht, der kann offenbar kaum noch die Selbstvorstellungen bilden, die trotz aller Variationen menschlicher Gemeinbesitz gewesen sind.“180
Angesichts dieser grundsätzlichen Kritik insbesondere an der Soziologie stellt sich naturgemäß die Frage, wie eine theoretische Gesellschaftserkenntnis möglich sein soll. Im Sinn der vorgetragenen Kritik muß sie als unmöglich gelten. Da die gesellschaftliche Wirklichkeit ihr widerstreitet, ist sie nicht mehr als eine bloße Vorstellung, freilich eine Vorstellung mit den Wirkungen einer gewaltsamen Doktrin. Diese Aburteilung der herrschenden Gesellschaftswissen-
180 Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz/Wien/Köln 1984, S. 231 ff.
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schaften ist indessen genau derjenige Punkt, der die kritisierte Gesellschaftserkenntnis wieder hoffen läßt. Denn wie sehr diese Denkweise auch in Frage gestellt wird, so wird sie doch nirgends von einem Entwurf einer soziologischen Soziologie begleitet, der sie zu überwinden vermöchte. So bleibt Helmut Schelsky in dem stecken, was er richtig als „Anti-Soziologie“181 bezeichnet. Nirgendwo übersteigt die von ihm geübte Kritik seine bloße Verneinung der herrschenden Gesellschaftswissenschaften. Nicht einmal in Ansätzen entwickelt er eine Denkweise, die man als „Pro-Soziologie“ bezeichnen könnte.182 Handelt es sich also um einen Sturm im Wasserglas? Zur Freude der herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Lehren geht die Kritik an der Sache also zuletzt vorbei. Die zahlreichen Bemühungen von Friedrich H. Tenbruck bestätigen dieses Verbleiben in der Verneinung. Denn wie bei Helmut Schelsky umgeht seine Kritik das Kernproblem. Es besteht in der Bestimmung des Verhältnisses des „Menschen“ als nicht-gesellschaftliche und als gesellschaftliche Person. Weicht man ihr aus, was in jener wie in dieser Kritik der Fall ist, verwickelt sie sich in einen Widerspruch. Er besteht darin, um in Tenbrucks nicht gerade klaren Worten zu sprechen, daß die „,Theorie der Gesellschaft‘“ eine „zugleich unausführbare wie wirksame“183 ist. Als Einwand darf gelten, daß das, was nicht „ausführbar“ ist, ist auch nicht „wirksam“. Aus diesem Widerspruch folgt in der Erörterung seiner Frage, „welche Wissenschaft von der Gesellschaft?“ schließlich zu erarbeiten ist, eine Antwort, die unbestimmter nicht sein kann: „Für die Bewältigung der Sozialwissenschaften bleibt die Einsicht entscheidend, daß die Soziologie kein Monopol auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit besitzt.“184 Wenn die Soziologie somit als „Monopol“ nicht möglich ist, wie sieht dann ihre Denkweise aus, die die gesellschaftliche Wirklichkeit erfaßt? Besteht sie in einem gesellschaftswissenschaftlichen „Polypol“? Welch ein Monstrum. Aber wie es scheint, soll sie irgendwie auf diese Weise aufgebaut sein, damit sie „frei zu ihren eigentlichen Aufgaben“185 kommt. Mag die wiedergegebene Kritik also in allen Punkten wohl berechtigt sein, so ist der Grund 181
Vgl. Helmut Schelsky, Rückblicke eines ,Anti-Soziologen‘, Opladen 1981. Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Soziologie-Kritik durch Helmut Schelsky und Friedrich H. Tenbruck: Heinrich Stieglitz, Anti-Soziologie als Holzweg. Gesellschaftstheoretische Anmerkungen gelegentlich Helmut Schelskys Buch „Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 28. Jg., Heft 1/1976 sowie ders., Soziologie als Herausforderung sozial zu handeln, in: Justin Stagl (Hrsg.), Aspekte der Kultursoziologie. Aufsätze zur Soziologie, Philosophie, Anthropologie und Geschichte der Kultur. Zum 60. Geburtstag von Mohammed Rassem, Berlin 1982. 183 Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz/Wien/Köln 1984, S. 310. 184 Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, a. a. O., S. 312. 185 Friedrich H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, a. a. O., S. 310. 182
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
der Einwände alles andere als ein fester Boden. Er ist kein gesellschaftswissenschaftliches fundamentum inconcussum. Ein solches besteht allein in jenen positiv erkannten, formulierten und zur Geltung gebrachten Ursprungsgründen, die die theoretische wissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft verläßlich zu tragen fähig sind. Unbeschadet dieses Ergebnisses ist freilich zu bemerken, daß die herrschende Soziologie der skizzierten Herausforderung sich nur mit Mühe hat erwehren können. Sie ist sich ihrer selbst nicht mehr sicher. Wie kaum jemals zuvor fühlt sie sich heimgesucht durch die Zweifel, die sie plagen. Die Frage „Wozu heute noch Soziologie?“186 wird so nachdrücklich gestellt, daß sie sich nicht mehr abweisen läßt. Andererseits werden aber trotz dieser Bedrängnis 186 Vgl. Joachim Fritz-Vonnahme (Hrsg.), Wozu heute noch Soziologie? Opladen 1996. – Aus Gründen der curiositas, also aus Gründen, auch dem neugierigen Leser etwas zu erzählen, mag es dem Verf. gestattet sein, eine Erinnerung wiederzugeben. An der Universität, die ihm die Möglichkeit seines Wirkens gewährt, wurde in den zuständigen Gremien vielfach über die Lehr- und Prüfungsinhalte der soziologischen Studiengänge gesprochen. Hierbei waren insbesondere die Inhalte der Allgemeinen Soziologie umstritten. Über sie wurde mit Stimmenmehrheit entschieden. Die zuletzt in Kraft gesetzte „Studienordnung für den Diplom-Studiengang Soziologie an der Universität Regensburg vom 08.10.1993“ bestimmte die Inhalte der Allgemeinen Soziologie wie folgt: Die Allgemeine Soziologie „gliedert sich in die Teilbereiche a) Soziologische Theorie. Sie umfaßt die systematische Darstellung der Aufgaben, Probleme und Denkmodelle der soziologischen Theoriebildung (im Gebiet der Makro- und Mikrosoziologie) einschließlich der wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen und der Geschichte der Soziologie (,Klassiker‘ der Soziologie)“; dieser Bestimmung zufolge besteht die Allgemeine Soziologie als philosophische Wissenschaftslehre der Soziologie sowie als Geschichte der Soziologie; „b) Sozialstrukturanalyse. Sie umfaßt die soziologisch relevanten Ordnungsprinzipien, Wirkungszusammenhänge und gesellschaftlichen Subsysteme der Bundesrepublik Deutschland im internationalen und historischen Vergleich“; dieser Bestimmung zufolge besteht die Allgemeine Soziologie als Gemeinschaftskunde der als Bundesrepublik Deutschland staatlich verfaßten deutschen Gesellschaft; „c) Kulturanalyse von Gesellschaften. Sie beschäftigt sich mit kulturellen Sachverhalten, d.h. mit der Welt der Werte, Normen und Normalitäten, die in den Routinen des alltäglichen Lebens eingelagert und deswegen in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und in ihren sozialen Wirkungen zu bestimmen sind“; dieser Bestimmung zufolge besteht die Allgemeine Soziologie als deskriptive Moralwissenschaft der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. – Die wiedergegebenen Bestimmungen der genannten Studienordnung sind erkenntnistheoretisch wie wissenschaftssystematisch soziologischer Unsinn. Mit Wirkung vom 24.08.1998 hat das zuständige Ministerium den eigenständigen Diplom-Studiengang im Fach Soziologie an der Universität Regensburg aufgehoben. In den Nebenfächern, in denen die Allgemeine Soziologie im angegebenen Sinn weiter gelehrt und geprüft wird, bleiben die Verhältnisse, wie sie sind. – Daß die Lehr- und Forschungsbedingungen so bleiben, wie sie da und dort noch bestehen, widerspricht den Zeichen der Zeit. Wie es scheint, stehen zunehmend alle selbständigen, also mit einer Prüfung abschließenden Studiengänge im Fach Soziologie zur Disposition. Über den Grund äußert sich z. B. das Vorprogramm des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München vom 4. bis 8. Oktober 2004, das der Vorsitzende und der Vorstand der genannten Gesellschaft herausgegeben haben. In ihm kann man S. 57 lesen: „Fünf vor zwölf oder fünf nach zwölf? Die akademische Soziologie steht vor der größten Krise ihrer Geschichte.“ Und S. 62 heißt es: „Selbst wenn an der Mehrzahl deutscher Hochschulen noch Soziologinnen und Soziologen lehren sollten, besteht die realistische Gefahr, daß
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„weiterhin Lexika fabriziert, Lehrbücher geschrieben und kritische Editionen gebastelt“, wie man das „berechtigt annehmen“187 kann. Daß die Soziologie überdies im großen Stil über die „gute Gesellschaft“188 nachdenkt, gehört zu den unverzichtbaren Ritualien des Faches. Sie zu zelebrieren braucht die trostbedürftige Zunft. VI. Die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft als metagesellschaftliche und als gesellschaftsdefiziente Erkenntnis
Die Untersuchung der Beschaffenheit der vorherrschenden gesellschaftswissenschaftlichen und damit der soziologischen Erkenntnis geht zu Ende. Sie hat sie in ihrer Eigenart und deswegen in ihren kritikbedürftigen Mängeln aufzuzeigen versucht. Was noch der Klärung bedarf, ist die Bestimmung des Grundes, aus dem die genannte Erkenntnis so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist. Im Vorübergehen bestand schon Gelegenheit, auf diesen Grund zu sprechen zu kommen. Es hieß, daß die theoretische gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis nicht dem Prinzip gehorcht, das ihr zugrunde liegt. Jedenfalls gilt diese Feststellung von der herrschenden Ausformung der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis. Daß vielfach innerhalb ihrer, also wider ihren erklärten Willen, und naturgemäß mehr noch außerhalb ihrer, versucht wird, die Gesellschaft vernünftig zu begreifen, darf jedenfalls nicht übersehen werden. Mag dieses Denken auch in verschiedenen Gestalten und mit unterschiedlicher Kraft auftreten, so zeichnet es sich eben dadurch aus, daß es die gesellschaftliche Existenzdas Fach Soziologie aus dem Kanon der akademischen Fächer an deutschen Hochschulen verschwunden sein wird.“ 187 Dieter Simon, Es ist, wie es bleibt. Vom Ende aller Gewißheiten, oder: Warum Orakel wieder Konjunktur haben, obwohl sich die Wissenschaft doch als globale Macht durchgesetzt hat – aber als Wahrheit und Glück verheißender Traum bleibt sie leider nur eine Episode, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 298 vom 24./25./26. Dezember 1999, S. III. 188 Vgl. Jutta Allmendinger, DGS-Nachrichten, in: Johannes Weiß (Hrsg.), Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Heft 1/2000, Opladen 2000, S. 40 f.: Der 30. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 2000 stellt sich unbefangen die Frage: „Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnungen.“ Dieser Titel ist mehrdeutig. Herkömmlich verstanden, formuliert er die praktische Frage nach der sittlich guten, also nach der gerechten Gesellschaft. Theoretisch begriffen, besteht die Gutheit der Gesellschaft in ihrem Sozialsein. Wo und wie das heute der Fall ist, wäre soziologisch zu ergründen und aufzuweisen. Das Programm verzichtete auf die Benennung dieses Erkenntniszieles. Der abgehaltene Kongreß hat der Programmgestaltung entsprochen. Vgl. Jutta Allmendinger, Hrsg., Gute Gesellschaft? Zur Konstruktion sozialer Ordnungen. Verhandlungen des 30. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Köln 2000. 2 Bände, Leverkusen 2001. Die Soziologie bleibt also das, was sie ist. Vgl. dazu z. B. Ulrich Beck/André Kieserling (Hrsg.), Ortsbestimmungen der Soziologie: Wie die kommende Generation Gesellschaftswissenschaften betreiben will, Baden-Baden 2000, oder auch: Karl-Heinz Hillmann/Georg W. Oesterdiekhoff (Hrsg.), Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. Eine Herausforderung für die Soziologie, Wiesbaden 2003.
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Gestalt der humanen Existenz von jenem Ursprungsgrund her versteht, der sie in ihrem Sein, in ihrem Wesen und in ihrer Erkenntnis trägt und innerlich aufbaut. Dieser innere Ursprungsgrund ist ganz und gar er selbst. Das will besagen, daß er sich nicht aus einem Anderen erklärt. Weder kann er auf dieses Andere zurückgeführt, noch kann er aus ihm abgeleitet werden. Formelhaft ausgedrückt, besteht der Grund in dem, was man das Verbundensein nennt. Dieses Verbundensein macht die Gesellschaft zur Gesellschaft. An dieses Sein-im-Verbund, das bisweilen auch als das Soziale bezeichnet wird, denkt die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis in der Regel jedoch nicht. Hieraus erklärt es sich, warum die herrschenden Gesellschaftswissenschaften die Gesellschaft zuletzt nicht im Sinn der Verbindlichkeit auffassen bzw. warum das nur dann und wann und zwar hinsichtlich besonderer gesellschaftlicher Gestaltungen der Fall ist. Die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis kommt indessen nicht umhin, auch von dem zu reden, was die Gesellschaft innerlich aufbaut. Sie kennt die Frage nach dem Aufbauprinzip der Gesellschaft wohl, also die Frage nach der Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft. Was die genannte Erkenntnis als den tragenden Grund und als die Bauelemente der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz ansieht, ist im folgenden aufzuzeigen. Wie erinnerlich, hat die vorliegende Untersuchung sich um den Nachweis bemüht, daß in unserer Kultur das Gesellschaftsdenken sich seit den Zeiten findet, seit denen die humane Existenz über sich nachdenkt. Dieses Erkennenwollen ist freilich als ein Erkennen ausgebildet, wie das humane Zusammensein verwirklicht sein soll. Das Gesellschaftsdenken ist maßgeblich praktischer Natur. Weil es da und dort ohne eine Besinnung auf das Sein der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz jedoch nicht auskommt, entfaltet es sich auch als theoretische Gesellschaftserkenntnis. Dieses Seinsdenken der Gesellschaft bleibt aber in ihr Sollensdenken eingebunden. Die theoretische Gesellschaftserkenntnis verharrt sozusagen im Verborgenen. Vom Altertum übernimmt das Mittelalter diese Einstellung in der Frage nach der Gesellschaftlichkeit der humanen Existenz. Der forschende Blick verändert sich erst mit der Heraufkunft der Neuzeit. Sie entdeckt den Unterschied zwischen dem humanen Zusammenseinsollen und dem humanen Zusammensein. Ursache dieser Unterscheidung ist die Frage nach dem Sein der humanen Existenz. Indem das Fragen nach dem „Menschen“ ihn als ein Sein-in-sich erkennt, stellt sich sogleich die Frage nach seinem Sein-mit-Anderen, und sie wird alsbald auch ausdrücklich formuliert. Diese neuartigen Überlegungen sind die Geburtsstunde der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft. Indem diese Denkweise sich dem Sein des gesellschaftlichen „Menschen“ zuwendet, erkennt es, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz sich in einer Zeit des Übergangs befindet. Die mittelalterlich-ständische Existenz hinter sich lassend, bestimmt sich die gesellschaftliche Existenz
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jetzt als nachmittelalterlich, da das humane Zusammensein nicht mehr durch den Adel und durch die Geistlichkeit, sondern durch den Dritten Stand geprägt wird. Die „Menschenwelt“ wird maßgeblich bürgerlich, und mit dieser Veränderung wandelt sich auch die ständische Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft. Es sind diese Vorgänge, die die Aufmerksamkeit des theoretischen Gesellschaftsdenkens in Anspruch nehmen und in der Folgezeit die Ausrichtung der Gesellschaftserkenntnis bestimmen. Über der lebhaften Erforschung der neuartigen Verwirklichung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt verbleibt die Frage nach dem inneren Ursprungsgrund der Gesellschaft in jenem Erkenntnisbestand, der im Rahmen der Erkenntnis des humanen Zusammenseinsollens erarbeitet worden ist. Mit anderen Worten: Das Studium der neuen gesellschaftlichen Zustände beschäftigt die theoretische gesellschaftliche Erkenntnis derart, daß ihm wenig Muße verbleibt, die bisher nur nebenbei benannten inneren Ursprungsgründe der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz aufzudecken. Das ist der Grund, aus dem das offenkundig gewordene Gesellschaftsdenken jene Bestimmung des inneren Ursprungsgrundes der Gesellschaft übernimmt, die das Altertum formuliert und das Mittelalter von ihm übernommen hat. Der oben erbrachte Nachweis mag noch in Erinnerung sein, daß das Altertum die Frage nach dem inneren Ursprungsgrund der Gesellschaft zwar stellt, sie aber nicht eindeutig beantwortet. Die Philosophie der Alten kennt zwei Gründe, die den Bestand der Gesellschaft erklären. Heißt es zum ersten, daß dieser Grund sich im „Menschen“ findet, oder genauer gesagt, in seiner gesellschaftlichen Natur, also in einer besonderen Anlage des „Menschen“, so wird als zweiter Grund etwas gänzlich Verschiedenes benannt. Ihm zufolge wird die Gesellschaft angemessen nur dadurch erfaßt, daß man sie als ein die „Menschen“ Umgreifendes versteht. Erst die Gesellschaft ermöglicht die Existenz des „Menschen“. Mit den Griechen gesprochen, ist die Gesellschaft innerlich begründet einerseits kath’hekaston, d.i. als Etwas nach dem Maße des Einzelnen und andererseits katholou, d.i. als Etwas nach dem Maße des Ganzen. Das Mittelalter übernimmt diese Auffassung. Es begründet die Gesellschaft in der Person bzw. im menschlichen Individuum zum einen und als organische Ganzheit von Personen bzw. menschlichen Individuen zum anderen. Nach dieser Auffassung besitzt die Gesellschaft also zwei innere Ursprungsgründe. Sie gründet in der „menschlichen“ Einzelnheitlichkeit zum einen und in der „menschlichen“ Ganzheitlichkeit zum anderen. Es soll nicht lange dauern, bis die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft diese doppelte Bestimmung des inneren Ursprungsgrundes des humanen Zusammenseins als merkwürdig empfindet und ihr deswegen nachgeht. Besteht die Gesellschaft, so fragt man sich, nicht als ein einheitlicher Bestand? Wenn es aber so ist, besitzt sie dann nicht notwendig allein den ihr zukommenden inneren Ursprungsgrund? Angenommen, es ist so, wie läßt dieser Grund sich dann
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begreifen? Wie man weiß, findet die Forschung zunächst und auch weiterhin zu keiner befriedigenden Antwort. Festzustellen ist vielmehr, daß das Erkenntnisbemühen sich zunehmend zerstreitet und sich geradezu zerfranst. Einer der maßgeblichen Gründe für diese Auseinandersetzung liegt im Kartesianismus. Denn er lehrt, daß das endlich Seiende substantiell auf zweifache Weise beschaffen ist. Es ist entweder eine denkende oder eine ausgedehnte Sache. Statt jenem einen inneren Ursprungsgrund der Gesellschaft näher zu kommen, wird das Bemühen, ihn zu erkennen, zu einer Spaltung der gespalten bestehenden Bestimmung gedrängt. Der kartesianischen Substanzauffassung zufolge ist zuerst die Einzelnheitlichkeit des Gesellschaftsgrundes daraufhin zu untersuchen, ob sie als etwas Psychisches oder als etwas Physisches besteht. Sodann ist die Ganzheitlichkeit des Gesellschaftsgrundes auf dieselbe Weise zu überprüfen. Als Folge dieses Erkenntnishorizontes ergibt sich, daß die Wurzel der Gesellschaft vierfach beschaffen sein kann. Diese Annahme der möglichen doppelt geteilten Natur des inneren Ursprungsgrundes der Gesellschaft besteht bis heute. Sie ist der Grund, aus dem die vierfach sich teilenden Meinungen der wissenschaftlichen Erkenntnis der Gesellschaft oben darzustellen waren. Genau genommen ließen die herrschenden Gesellschaftswissenschaften die genannte Bestimmung des inneren Ursprungsgrundes der Gesellschaft jedoch nicht auf sich beruhen. Vielmehr wurde jeder der genannten Gründe im Laufe der Zeit hin und her gewendet und daraufhin überprüft, ob ihm nicht ein noch tiefer angesiedelter Grund voraufliegt. Tabellarisch könnte man diese Versuche der Begründung der Gesellschaft wie folgt zusammenfassen. Als Gründer der (1) einzelnheitlich-physisch aufgefaßten Gesellschaft werden benannt (1.1) ein naturkausaler Prozeß; er wird verschieden gedeutet, z. B. als physikalischer, als geographischer, als demographischer oder als wirtschaftlicher (Überlebens-)Ablauf; (1.2) als ein Funktionszusammenhang, der die natürlich-menschlichen Bedürfnisse befriedigt; (1.3) als ein Bestehen von Handlungsalternativen in Entscheidungssituationen; (1.4) als ein (erlerntes) Austausch-Verhalten; (1.5) als ein durch materielle Verhältnisse zum Ausdruck kommender Habitus. Als Gründe der (2) einzelnheitlich-psychisch aufgefaßten Gesellschaft werden benannt (2.1) ein Zusammenhang, der durch einen bewirkenden Trieb, einen Instinkt oder ein Motiv bzw. durch einen bewirkenden Reiz, ein Gefühl oder ein Interesse hergestellt wird; (2.2) ein Streben nach Übereinkunft oder, wie man sagt, nach einem Vertrag; (2.3) eine (willentliche) Gruppenseele; (2.4) ein überindividueller Zwang; (2.5) eine Ausbildung seelischer Formen des Wirkens zwischen „Individuen“. Als Gründe der (3) ganzheitlich-physisch aufgefaßten Gesellschaft werden benannt (3.1) der biologische Organismus; (3.2) die Evolution des („menschlichen“) Lebens; (3.3) die dialektische Verwirklichung der Materie in Natur und Geschichte; (3.4) die materialistisch-emanzipatorische Intersubjektivität; (3.5) das in seiner Umwelt sich behauptende System. Als Gründe der (4) ganzheitlich-psychisch aufgefaßten Gesellschaft werden benannt (4.1) der biolo-
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gische Organismus im analogen Sinn, d.h. im ethischen bzw. im geistigen Sinn; (4.2) ein die Vereinzelung durchwaltender Antagonismus, d.h. eine Einheit im Konflikt; (4.3) die dialektische Verwirklichung des Geistes als Geschichte seiner Ideen; (4.5) das formal-logische Ganze in seiner Ausgliederung als funktionales System. Die gedrängte, um eine Systematisierung bemühte Zusammenfassung dürfte die herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Meinungen über den inneren Ursprungsgrund der Gesellschaft benannt haben. Diese Übersicht läßt erkennen, daß die einzelnheitlich-physischen wie -psychischen wie die ganzheitlich-physischen wie -psychischen Auffassungen des Grundes der Gesellschaft behaupten, daß dieser im natürlichen Sein einerseits und im geistigen Sein andererseits liegt, sei es im weitesten Sinn, sei es im Sinn der im einzelnen benannten Meinungen. Der innere Ursprungsgrund der Gesellschaft wird also dadurch aufzuweisen versucht, daß die Gesellschaftserkenntnis das gesellschaftliche Sein verläßt, sodann auch das „Menschsein“ durchschreitet, um jenen Grund schließlich im Natürlichen bzw. im Geistigen zu finden. Die Erkenntnis des inneren Ursprungsgrundes der Gesellschaft beschreitet also einen Weg der Zurückführung des Gesellschaftlichen auf die ursprünglich waltende Natur im Ganzen bzw. auf einen sich in ihr findenden Grund bzw. beschreitet einen Weg der Ableitung des Gesellschaftlichen aus dem ursprünglich waltenden Geist bzw. aus einem in ihm sich findenden Grund. Im zuerst genannten Fall verfährt das Erkennen reduktiv, im zweiten verfährt es deduktiv. Gemeinsam ist beiden Erkenntniswegen, daß sie annehmen oder sogar behaupten, daß der innere Ursprungsgrund der Gesellschaft nicht in der Gesellschaft liegt, sondern außerhalb ihrer. Jener als natürlich benannte Grund hat seinen Ort „unterhalb“ der Gesellschaft, jener als geistig benannte Grund hat seinen Ort „oberhalb“ der Gesellschaft, wenn so im Bild zu reden erlaubt ist. Der durch eine Zurückführung bzw. durch eine Ableitung bestimmte innere Ursprungsgrund der Gesellschaft ist infolge dieser Schlußverfahren nicht gesellschaftlich beschaffen. Er ist metagesellschaftlicher Art. Behauptet wird also, daß das Gesellschaftliche nicht aus sich heraus besteht, sondern in einem Unter- bzw. Übergesellschaftlichen gründet. Folgerichtig bemühen sich die herrschenden Gesellschaftswissenschaften darum, die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens zuletzt als gegebene Gesetze des natürlichen Lebens oder als vor- bzw. als aufgegebene Gesetze des geistigen Lebens zu erkennen. Da jene wie diese Erkenntnis ihren Gegenstand jedoch verfehlt, sind ihre Urteile logisch falsche Urteile. Berücksichtigt man auch die Träger dieser Erkenntnis, also die einzelnen gesellschaftswissenschaftlich arbeitenden Personen, ist von der herrschenden Arbeit der Gesellschaftswissenschaften zu sagen, daß sie in umfassender Weise irrt. Ihr Irrtum läßt sich nur dadurch überwinden, daß sie den Gegenstand erfassen, den sie in ihrer Erkenntnisabsicht meinen. Dieser Gegenstand ist das Verbundensein. Die Verbindlichkeit unter menschlichen Existenz-Gestalten ist der innere Ursprungsgrund der Gesellschaft. Er
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findet sich weder im Haushalt der Natur, noch im Reich des Geistes. Er wird in Wahrheit begriffen nur als Urbestand des humanen Zusammenseins. Hält man sich an das Sprichwort, so bestätigt die Ausnahme die Regel. Seine Wahrheit gilt auch von der gegenwärtigen Erkenntnis des inneren Ursprungsgrundes der Gesellschaft. Immer wieder stößt man nämlich auf Arbeiten, in denen ein Bezug auf das genannte Verbundensein sich unschwer erkennen läßt. Er findet sich, wie man sagt, zwischen den Zeilen bald dieser und bald jener gesellschaftswissenschaftlichen Abhandlung. Daß das Verbundensein jeweils klar und deutlich erfaßt ist, muß man freilich bezweifeln. Wie es scheint, ist es in diesen Untersuchungen gleichsam nebenbei miterkannt und zwar so, daß es hintergründig-unwillkürlich diese Untersuchungen beeinflußt. Nahezu durchgängig kennzeichnet diese Studien ein begrenzter Problemhorizont, also eine Ausrichtung auf je besondere gesellschaftliche Gestaltverwirklichungen. Ein Blick, der sich weitet, um den jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu erfassen, läßt sich kaum feststellen. Weil dieser Bezug auf die bzw. eine Gesellschaft schlechthin fehlt, muß man von diesen gesellschaftswissenschaftlichen Arbeiten sagen, daß sie nur begrenzt gelten. Man sollte sie deshalb als gesellschaftsdefiziente Bemühungen bezeichnen. Ihr gesellschaftswissenschaftlich nicht zu unterschätzender Ertrag liegt darin, daß sich ihre Aufmerksamkeit auf Störungen des humanen Verbundenseins richtet. Der Maßstab dieser Forschungen gründet im Bewußtsein der wesentlich sozialseienden Gesellschaft. Es mag genügen, aus der mehrfach aufgezeigten Vierzahl der geläufigen gesellschaftswissenschaftlichen Meinungen je ein Beispiel zu erwähnen. Irgendwie am Verbundensein orientiert ist beispielsweise zum ersten die gesellschaftswissenschaftliche Verhaltenslehre, die darauf zielt, das Sich-Gewöhnen des „Menschen“ an „Menschlich“-Gemeinsames zu erforschen. Zum zweiten: Aus dem Lehrgebäude des Marxismus läßt sich beispielsweise die Zergliederung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit ihren Folgen erwähnen. Zum dritten: Aus den Untersuchungen von überindividuellen Erlebnissen kann man beispielsweise jene Erkenntnisse nennen, die man gemeinhin im Sinn eines gemeinsamen Bewußtseins versteht. Endlich viertens: Aus dem Studium der als sittliche Aufgabe begriffenen Kulturgestaltung kann man beispielsweise jene Gemeinsamkeiten anführen, die zu gesellschaftlichen Lebensstilen ausgeformt werden. Es kann also nicht nachdrücklich genug betont werden, in welchem Maße der gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisfortschritt diesem begrenzten Begreifen zumal von Verhältnissen der Gegenwartsgesellschaft dadurch zu Dank verpflichtet ist, daß es sich der gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenproblematik nicht verweigert, sondern vorurteilslos auf sie ausgerichtet ist.
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B. Die Auffassung der bzw. einer Gesellschaft im herkömmlichen Realismus Den herrschenden Gesellschaftswissenschaften, also bevorzugt der Philosophie der Gesellschaft und der Soziologie, ist die realistische Auffassung des Seienden und damit des humanen Zusammenseins kaum bekannt, geschweige denn geläufig. Mit dem Offenkundigwerden der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz in ihrer theoretischen Erkenntnis verbindet sich eine nahezu durchgängige Ablehnung der bisher vorrangig geltenden Auffassung des endlich Seienden, also seiner realistischen Annahme. Nur aus den Umständen der Zeit und aus der seelischen Verfassung der Zeitgenossen läßt sich dieser Zusammenhang erklären, der mit der Entwicklung der theoretischen Gesellschaftserkenntnis zu der Meinung geführt hat, daß die Gesellschaft nur im Sinn der – wie immer verstandenen – neuzeitlichen Ansicht des Seienden angemessen aufgefaßt werden kann. Daß diese Meinung irgendwann und irgendwo begründet worden ist, wird man vergeblich suchen. Festzustellen ist freilich, daß sie als Tatsache wie selbstverständlich besteht – von einer Ausnahme abgesehen, läßt man die gesellschaftsethischen Fragen auf sich beruhen, weil sie hier nicht zu erörtern sind. Der Fall liegt vor in der Philosophie der Politik, also in einer besonderen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisweise bzw. in einem besonderen gesellschaftswissenschaftlichen Bestand, nämlich in dem schon im griechischen Altertum entwickelten und vom christlichen Mittelalter fortgesetzten Befragen der wirklichen wie der möglichen Herrschaftsverhältnisse. Deren realistisches Studium scheint ungebrochen bis in die eigene Gegenwart hineinzureichen. An kundiger Stelle werden als Beispiele dieser realistischen Philosophie der Politik in unseren Tagen die systematischen Arbeiten von Eric Voegelin (1901–1985) und die zeitkritischen Schriften von Hannah Arendt (1906– 1975) genannt.189 Im Sinn des Seinsverständnisses dieser Autoren und damit maßgeblich des humanen Zusammenseins in einem ihrer Gestaltungsbereiche bewahrt die „politische Wissenschaft“ eine realistische Auffassung des endlich Seienden und bringt sie gesellschaftswissenschaftlich zur Geltung. Abgesehen von diesem Sein des Gesellschaftlich-Politischen, wird das Sein des Gesellschaftlichen sonst, also „im Ganzen“, von den herrschenden Gesellschaftswissenschaften, wie angedeutet, im nicht-realistischen Sinn beurteilt. In der Spannweite der feststellbaren Urteilsweisen findet sich eine Vielzahl von Annahmen über die Beschaffenheit des endlich Seienden. Sie bewegen sich zwischen den Polen des Materialismus und des Idealismus. Jenem zufolge ist das Seiende nichts als Stoff, und es wird aus seinen naturkausalen Gesetzen erklärt; diesem zufolge besteht es als Idee oder gebräuchlicher, als Geist, als Bewußtsein, als 189 Vgl. z. B. Tania Eden/Julian Nida-Rümelin, Art. Einführung, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright, Stuttgart 19992, S. XXVI f.
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Vorstellung, als Mentalität oder ähnlich, und es wird als idealer Bewußtseinsinhalt zum eigentlichen Erkenntnisgegenstand. In einem engeren, nämlich durch die moderne Wissenschaftslehre bestimmten Sinn, besteht das Seiende ausgespannt zwischen dem, was sinnlich gegeben und gedanklich verarbeitbar ist, also als das Positive im Sinn des (Neo-)Positivismus bzw. als das Empirische im Sinn des logischen Empirismus, sowie als das Erscheinende, also als das (im Bewußtsein) Sichzeigende im Sinn des Phänomenalismus bzw. als das Benennbare im Sinn der Sprachanalyse. Die Annahme der Beschaffenheit des endlich Seienden und damit des humanen Zusammenseins erweist sich somit als kaum entwirrbare Gemengelage. In dem Maße, in dem sie aus sich die in ihr sich noch findenden Restbestände des Realismus entläßt, vermag vor allem der Materialismus sich Geltung zu verschaffen und als herrschende Seinsauffassung sich durchzusetzen. Folglich wird auch das gesellschaftliche Sein als materielles Sein bestimmt. Bemüht dieser Materialismus sich darum, vom Stofflichen das Lebendige zu unterscheiden, also das, was aus sich heraus zu wirken fähig ist, schwächt er sich ab zum Naturalismus. Ihm zufolge besteht das endlich Seiende aus dynamisch aufeinander bezogenen Körpern. Nach der Auffassung des Realismus sind die genannten Meinungen vom endlich Seienden nur bedingt gültig, nämlich soweit ihre jeweiligen Voraussetzungen begründet sind und sich auf das beziehen, was der Sprachsinn meint. Um so dringlicher ist es daher, gegen das umfassend bestehende Vorverständnis anzugehen und aufzuzeigen, wie der Realismus die Beschaffenheit des endlich Seienden auffaßt und welche Folgen sich aus dieser Annahme für die Erkenntnis der Welt und den Gebrauch der Allgemeinbegriffe ergeben. Zu dieser Welt gehört schließlich auch die Gesellschaft, und unter jenen Allgemeinbegriffen finden sich auch jene, durch welche die Gesellschaft sachhaltig gedacht wird. Die Lehre von der realistischen Beschaffenheit des endlich Seienden nimmt ihren Ausgang von der gemeinhin unbestrittenen Ansicht, nach der die Welt als das Ganze der Dinge besteht oder vielleicht deutlicher gesagt, als das Ganze der Einzelwesen. Diese Einzelwesen sind zum einen Subjekte, zum anderen Objekte. Ein Subjekt ist das, was eine Form trägt und sich deswegen gegebenenfalls auf ein Objekt richten kann. Demgegenüber ist ein Objekt das, was einem Subjekt entgegensteht und deswegen gegebenenfalls als Gegenstand aufgefaßt und erkannt werden kann. Dieser relative Gegensatz von Subjekt und Objekt wandelt sich ab nach dem Sein des Subjekts und des Objekts. Es gibt stoffliche Subjekte und Objekte, und es gibt geistige Subjekte und Objekte. Die humane Existenz in ihrer Sonderstellung im Ganzen des Seienden ist stofflich und geistig zugleich beschaffen. Die Erkenntnis, die begriffen hat, daß der Geist gegenüber dem Stoff das mächtigere Sein ist, führt zu der Einsicht, daß das realste Wesen der reine Geist ist und daß die verschiedenen Wesen selbst auf der stofflichen Seinsstufe niemals nur stofflicher Art sind, sondern zumindest von ihrem Ursprung her geistig durchformt sind und insoweit auch geistig erfaßt werden können.
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Die Verbindung des ersten Gedankens, also des relativen Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt, und des zweiten Gedankens, also der verschiedenen Beziehungen zwischen ihnen auf den Seinsstufen zwischen Stoff und Geist, bildet den Grund für die realistische Auffassung dessen, was ist. Sie ist erstmals in der klassischen griechischen Philosophie formuliert worden. Ist es wohl richtig, daß Platon (427–347) von den „Dingen nach ihren Ideen“ spricht und Aristoteles (384–322) von den „Ideen in den Dingen“, so daß die sinnliche Beschaffenheit und Wahrnehmung der Dinge im ersten Fall von geringerem, im zweiten Fall von größerem Gewicht ist, so verstehen sich beide Auffassungen doch als „ideal-realistische“ Auslegungen des Seienden. Es ist diese Annahme der Art des Seienden, die sich durch die Jahrhunderte durchzusetzen vermochte, und sie beansprucht bis heute, zu gelten. Nach der genannten Annahme lautet der Grundsatz des Ideal-Realismus oder kurz des Realismus, daß ein Subjekt nach seiner Seinsmächtigkeit sich auf ein Objekt in dessen jeweiliger Seinsmächtigkeit bezieht und nach diesen Umständen ein Subjekt ein Objekt zu erfassen und zu erkennen vermag. Der Realismus lehrt also, daß das Subjekt einerseits keinen Anlaß hat, sich seinem Objekt zu beugen, andererseits bringt es sein Objekt aber auch nicht hervor. Sodann nimmt das Subjekt sein Objekt auch nicht als bloße Gegebenheit zur Kenntnis, wie es sich schließlich auch nicht damit begnügt, es als Erscheinung von etwas Unerkennbarem aufzufassen. „Der Realismus nimmt an, daß wirklich Seiendes unabhängig von unserem Bewußtsein ,an sich‘ existiert und daß das Ziel unseres Erkennens diesem Seienden gegenüber ist, sich ihm anzugleichen, es zu erfassen, wie es an sich ist, und daß dieses Ziel, wenigstens in bestimmten Grenzen, auch erreichbar ist.“190 Der Realismus bemüht sich also, das, was ist, als das zu erkennen, was es ist. Bezieht man diesen Grundsatz des Realismus auf den Bestand der Gesellschaft und deren Erkenntnis, so ist von ihnen das folgende festzustellen: Was man als Gesellschaft bezeichnet, ist ein Bestand, der an sich da ist. Er besteht des näheren als etwas Reales, das ein Etwas ist, das geistig geformt und deswegen wesentlich verfaßt ist, und das stofflich erfüllt und deswegen inhaltlich bestimmt ist. Form und Stoff der Gesellschaft lassen sich als diese und in ihrem Verhältnis jedenfalls annäherungsweise erkennen. Das Sein und das Erkennen der Gesellschaft gründen in der sie auszeichnenden Realität. Deswegen lautet die gegen die materialistische Behauptung der Gesellschaft sich wendende realistische Annahme: Die Gesellschaft besteht nicht als naturkausal geordneter Stoff. Gegen die idealistische bzw. gegen die konstruktivistische Behauptung lautet die realistische Annahme: Die Gesellschaft besteht nicht als gedanklichideales Gesetztsein bzw. als willentlich-ideales Hervorgebrachtwerden. Gegen die (neo-)positivistische bzw. logisch-empirische Behauptung lautet die realisti190 Josef de Vries, Art. Realismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 317.
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sche Annahme: Die Gesellschaft besteht nicht in sinnlichen Wahrnehmungen „der“ Gesellschaft und deren gedankliche Ordnung. Gegen die phänomenalistische bzw. nominalistische Behauptung lautet die realistische Annahme: Die Gesellschaft besteht nicht bloß in ihren Erscheinungen, und diese werden auch nicht durch ihre sprachliche Benennung versachlicht. Die Auswirkungen des realistischen Grundsatzes des An-sich-Seins des endlich Seienden und der Möglichkeit, es in dieser Beschaffenheit auch zu erkennen, beziehen sich auf die humane Existenz in zweifacher Hinsicht. Beiläufig sind diese Folgen schon angedeutet worden. So behauptet der Realismus zum ersten den Bestand einer sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt und zum zweiten den Bestand von etwas Allgemeinem. Nach der ersten dieser Auswirkungen ist die „Menschenwelt“ nicht nur als Innenwelt da, sondern auch als Außenwelt. Das, was der Begriff der Innenwelt meint, ist das Ganze des Erlebens des human-existentiellen Subjekts. Es ist das Insgesamt des Sinnens und Trachtens dieses Subjekts. Andererseits besteht das human-existentielle Subjekt, wenn so zu reden erlaubt ist, auch als Objekt, also als etwas sinnlich Wahrnehmbares in Raum und Zeit. Unter dieser Rücksicht ist die humane Existenz nicht als „Gesamtheit der ganzen Seele“ gemeint, sondern als „Auffassung einer komplexen Sinnesgegebenheit“. Der Realismus nimmt also nicht nur jenes Sein „Bei-sichselbst“ ernst, sondern auch das Sein „An-sich-selbst“ der humanen Existenz. Die Außen- oder Sinnenwelt der humanen Existenz ist der Gegenpol dieser Existenz als Innen- oder Bewußtseinswelt. Sofern der Realismus jene wie diese Welt der humanen Existenz als wirklich seiend annimmt, ohne im Bestehen ihrer Außenwelt ein Problem zu erkennen, wird er als naiver Realismus bezeichnet. Er meint, daß die „Menschenwelt“ – und darüber hinaus die Welt überhaupt – so ist, wie der „Mensch“ sie wahrnimmt. Auch in den Gesellschaftswissenschaften ist diese Meinung verbreitet. Gegenüber dieser naiven Auffassung ist der kritische Realismus darum bemüht, die Berechtigung der unwillkürlich-problemlosen Gewißheit zu ermitteln. Er versucht zu bestimmen, aus welchen Gründen behauptet werden darf, daß das Wahrgenommene auch an sich besteht. Da der Beweis dieses Lehrsatzes voraussetzungsvoll ist, wird erkenntnistheoretisch darum gestritten, wie es um die transsubjektive Welt bestellt ist. Lotet man den Streit aus, so dürften es zuletzt „nicht formale Schlüsse sein, die den Ausschlag geben“, neben der Innenwelt auch den Bestand der Außenwelt anzunehmen, „sondern die Tatsache, daß ohne die Annahme einer realen Welt der Gesamtzusammenhang unserer Welt, insbesondere die Erfahrung intersubjektiver Verständigung, völlig unbegreiflich wird“191. Bezieht man diese Überzeugung auf das Sein und das Erkennen der Gesellschaft, dann besagt sie, daß auch das humane Zusammensein in der
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Josef de Vries, Art. Realismus, a. a. O., S. 317 f.
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Weise der Innenwelt und in der Weise der Außenwelt besteht. Jene wie diese Welt ist ausgewiesen durch ihre aus ihrem Wesen folgenden notwendigen Eigenschaften. Alle Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz besteht deswegen in einer Erkenntnis einerseits des Erlebens wie andererseits der Tatsächlichkeit dieser Gestalt. Man kann diesen Bestand auch anders benennen: Was als Gesellschaft besteht, ist von der Art des Bewußtseins und zugleich von der Art des An-sich-Seins. Die Gesellschaft besteht als Sinn auf ungegenständliche und als Sache auf gegenständliche Weise. Die zweite Auswirkung der realistischen Auffassung des endlich Seienden betrifft das Allgemeine. Über das Allgemeine spricht alle Erkenntnis, sofern sie danach trachtet, über die Beschreibung von aufgefaßten Einzelwesen hinaus zu gelangen, sie also irgendwie zusammenzufassen und einzuteilen, um sie schließlich zu beurteilen und über die Beurteilung hinaus zu einer Schlußfolgerung zu kommen, die den Grund erkennen läßt, aus dem sich dieses und jenes Einzelwesen in seiner Beschaffenheit erklärt. Nicht-realistische gemäßigte Auffassungen bestimmen das umschriebene Allgemeine zumeist als Denkinhalt, der sich in einem sprachlichen Ausdruck mitteilt. Radikale Meinungen beschränken sich auf diese Benennung und behaupten, daß es das Allgemeine nur als Namen einer Sprache gibt. So findet sich beispielsweise „hinter“ dem Wort „Haus“ kein identischer Denkinhalt. Vielmehr ist dieser Ausdruck die sprachliche Allgemeinbezeichnung für alles das, was als Behausung erfahren wird. Also ist es abwegig von einem realen Bestand eines allgemeinen „Hausseins“ hinsichtlich einer Mehrzahl von Häusern, diese im Einzelnen genommen, als einem „Bestand überhaupt“ zu sprechen. Eben dieser nominalistischen Auffassung widerspricht der Realismus. Bekanntlich unterscheidet er erstens zwischen dem gesprochenen Wort und dem gedachten Begriff. Was den Begriff angeht, so besteht er zum ersten als Denkakt. Er bringt einen Denkinhalt hervor. Dieser Denkinhalt weist dadurch über sich hinaus, daß er Etwas „meint“. Das Gemeinte ist der Denkgegenstand. Ihn zeichnet aus, daß er unabhängig vom Gedachtsein besteht. Insofern „nimmt der Realismus nicht nur an, daß es allgemeine Begriffe gibt, sondern auch daß ihr Inhalt, die gedachte ,Washeit‘, im Seienden verwirklicht ist“192. Freilich gilt es, darauf zu achten, daß das Begrifflich-Allgemeine im Denken sich anders anordnet als das in den Dingen der Fall ist. Bildet es mit den anderen Bestimmungen eines Dinges eine Einheit, so findet es sich im Denken als ein von dessen anderen Bestimmungen geschiedener Bestand. Nimmt das Erkennen ein solches Getrenntsein des Allgemeinen vom einzelnen Seienden mit den aus ihm folgenden Eigenschaften an, spricht man vom radikalen Begriffsrealismus. Nach ihm besteht das Allgemeine als ein Seiendes, das zuletzt losgelöst vom Einzelwesen existiert. In dieser Auffassung entspricht die Seinsweise des Was-Seins der Denkweise des Was-Seins. Platon 192
Josef de Vries, Art. Realismus, a. a. O., S. 318.
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beispielsweise dachte so, indem er lehrte, daß das Allgemeine in den Ideen dergestalt besteht, daß es sich in die Einzeldinge „einläßt“. Wie bekannt, ist Aristoteles nicht dieser Auffassung. Ihm zufolge ist das Allgemeine „auf andere Weise“ in den Dingen da, als es gedacht wird, nämlich in Einheit mit allem Anderen im Seienden und in der Geschiedenheit von allem Anderen im Denken. Jenseits dieses Unterschiedes hält der Realismus jedoch an der Überzeugung fest, daß im Allgemeinbegriff Etwas erfaßt wird, was im einzelnen Ding wirklich da ist. Das ist dessen Idee, die seit Aristoteles bis heute üblicherweise als das Wesen des Einzeldinges bezeichnet wird. Indem die Erkenntnis über gegenständliche Allgemeinbegriffe verfügt, vermag sie dem Grundsatz nach die wesentlich bestimmten Dinge so zu erfassen, wie sie wirklich existieren. Die Allgemeinbegriffe der Gesellschaftserkenntnis sind danach geeignet, das WasSein der Gesellschaft zu erkennen, also ihr Wesen bzw. ihre Wesenszüge. Auf dem Weg zu diesem Ziel kann insbesondere der empirische Allgemeinbegriff hilfreich sein, indem er die Erfahrung derselben Bestimmtheit verschiedener Dinge vereinigt, die als „gegebene“ Dinge bestehen.
§ 8 Die entdeckten Seinskategorien des Selbstandes und des Zustandes und die zu entdeckende Seinskategorie des Zusammenseins sowie die aus deren Verhältnissen folgenden seinskategorialen Ordnungsstufen A. Das Unbehagen im herkömmlichen realistischen Gesellschaftsdenken: Die Gesellschaft als Bestand personaler Beziehungen einerseits und als Bestand einer Sinneinheit aus Personen andererseits Natürlich hat das realistische Erkennen die Veränderungen wahrgenommen, die als die Heraufkunft der Neuzeit bezeichnet zu werden pflegen. Zu diesen Veränderungen zählt das Offenkundigwerden der Gesellschaft als eines besonderen Seins. Wie erinnerlich, ist die Erkenntnis des gesellschaftlichen Sollens seit alters her ein Gegenstand des Erkennens. Gleichfalls ist richtig, daß im Rahmen dieses praktischen Erkennens auch theoretisch nach der Gesellschaft gefragt worden ist. Aber das Erkenntnisstreben dieser Art blieb von seinem Beginn im Altertum bis zum Ausgang des Mittelalters in jene ethische Problematik eingebunden. Erst in der Zeit, die ihm folgt, zeigt die Gesellschaft sich als das, was sie ihrem Sein nach ist und sich insofern von der Gesellschaft unterscheidet, die nach den Normen verwirklicht werden soll, die sie bestimmen. Indem die Gesellschaft als ein Seiendes offenkundig wird, besteht sie nicht mehr länger als ein Gegenstand der praktischen Erkenntnis mit wenigen eingebundenen theoretischen Anteilen über ihr „Wesen“, das sie von anderen Seienden unterscheidet. Sie drängt sich jetzt auch der theoretischen Erkenntnis als Gegenstand auf. Was zunächst vom alltäglichen, also vom unwillkürlichen Er-
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kennen gilt, findet sich alsbald im absichtsvollen Erkennen wieder, also in der aufkommenden Wissenschaft von der Gesellschaft. Sie stellt sie ausdrücklich als ein Seiendes unter den seienden Dingen fest, und sie sieht sich herausgefordert, sie zunächst in ihren Erscheinungen zu erfassen und sodann darüber hinaus in ihrem Wesen, das ihnen zugrunde liegt und sie hervorbringt. Studiert man die Bemühungen, die sich jetzt ausdrücklich der Gesellschaft als einem Bestand zuwenden, die also über das hinaus gehen, was bisher im Rahmen der ethisch-gesellschaftlichen Erkenntnis theoretisch als notwendig erachtet wurde, bemerkt man, daß die gelehrten Persönlichkeiten in ihrem Leben wie in ihrem wissenschaftlichen Erkennen in zunehmender Zahl die Tradition hinter sich lassen und sich entscheiden, in einer Weise zu existieren und zu denken, die man heute als neuzeitlich zu bezeichnen pflegt. Kann man vielleicht sagen, daß das rechts- und staatsphilosophische Werk von Francisco Suárez (1548–1617) die überkommene Denkweise an die zur Neuzeit sich verändernde Existenz- und Erkenntnisauffassung heranzuführen versucht, so findet dieses Bemühen doch keine Fortsetzung. Die realistische Denkweise im Sinn der aristotelisch bestimmten Scholastik erstarrt. Sie ist unfähig, die Erfahrungen der neu sich ausgestaltenden „Menschenwelt“ aufzugreifen und gedanklich zu durchdringen. Beispielhaft für die neue Art des Erkennens, die jetzt einsetzt, sind die Arbeiten von René Descartes (1596–1650) und von Thomas Hobbes (1588–1679). Weil Jesuiten ihn erzogen und ausgebildet haben, ist Descartes mit dem aristotelisch-scholastischen Realismus zwar noch vertraut, doch erklärt er alsbald, daß er mit der überkommenen, also mit der realistischen Denkweise, nichts mehr anfangen kann. Vergleichbares gilt von Hobbes. Beispielsweise meint er, die von Aristoteles in Anspruch genommene Natur, die den „Menschen“ zu einem gesellschaftlichen Wesen macht, im Sinn eines naturalistischen Phänomenalismus einengen zu müssen. In der Folgezeit benutzen immer zahlreicher gelehrte Persönlichkeiten den traditionellen Realismus als Steinbruch, um aus den gewonnenen Materialien recht verschiedene neue wissenschaftliche, um nicht zu sagen weltanschauliche Gehäuse zu bauen. Wie aufgewiesen, entwickelt sich unter diesen Bedingungen das theoretische Denken der Gesellschaft. Daß dieses neue Denken an der formalen Bestimmung der Gesellschaft im Sinne ihrer einzelnheitlichen Beschaffenheit einerseits und an ihrer ganzheitlichen Beschaffenheit andererseits festhält, gehört zu den Ironien der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisgeschichte. Wer mag, kann in diesen gesellschaftswissenschaftlichen Lehrmeinungen ein zwar untergründiges, aber am Ende siegreiches Weiterwirken des griechisch begründeten Realismus erblicken. Das realistische Erkennen des Seins der Gesellschaft läßt nahezu drei Jahrhunderte verstreichen, bis es sich besinnt. Die Zeit erstreckt sich vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erst in der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bemerkt der Realismus die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der huma-
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nen Existenz als ein „menschliches“ Existieren sui generis.193 Erkenntnisgeschichtliche Untersuchungen sind bemüht, die Umstände für diese Verspätung aufzuzeigen.194 Indem das realistische theoretische Denken der Gesellschaft sich dem herrschenden Vorrang der Gesellschaftsauffassungen entwindet, ist es zum ersten bemüht, die seit alters her bestehenden Grundsätze über das „Wesen“ der Gesellschaft in ihrem ursprünglichen Sinn ins Gedächtnis zu rufen und sodann dieses Verständnis den nicht nur abgewandelten, sondern in der Regel nach den neuzeitlichen Erkenntnisansichten ausgebildeten Gesellschaftslehren entgegenzusetzen. In diesem Meinungsstreit läßt der Realismus sich von der Überzeugung leiten, daß seine Begriffe, soweit sie philosophische Begriffe sind – also die „Washeit“ von Etwas auffassen und nicht nur in einem Begreifen von Elementen erfahrbarer Gegenstände bestehen –, „die Grundforderungen des Denkens“, d.h. dessen Ausgangsbestände, „so zu modifizieren“ haben, „daß die Erfahrung insgesamt oder in besonderen Teilbereichen mit ihnen in Einklang gebracht und so verstanden werden kann“195. Sind jene Grundforderungen erfüllt, vermag das Denken das, was ihm in der Erfahrung gegeben ist, wesentlich zu erkennen, also die „ersten“ Gründe der Erscheinungen. In diesem Sinn glaubt das erstarkende realistische Denken der Gesellschaft nicht schlecht gerüstet zu sein. Es meint, daß es am Ende „gar nichts anderes sei als das unveräußerliche Gemeingut der sozialphilosophischen Erkenntnis“. Es wendet sich deswegen „an alle Menschen mit gesundem Menschenverstand, die gewillt sind, unvoreingenommen die Dinge zu prüfen und sich der erkannten Wahrheit nicht zu verschließen“196. Ob diese Meinung, die ihr Namensgeber Heinrich Pesch 193 Vgl. z. B. Anton Rauscher, Katholische Sozialphilosophie im 19. Jahrhundert, in: Emerich Coreth/Walter M. Neidl/Georg Pfligersdorfer (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 1: Neue Ansätze im 19. Jahrhundert, Graz/Wien/Köln 1987; ders., Katholische Sozialphilosophie im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhundert. Band 3: Moderne Strömungen im 20. Jahrhundert, Graz/Wien/Köln 1990. 194 Vgl. z. B. Wilhelm Halbfass, Abschnitt II. Realismus vs. Idealismus, in: Art. Realismus in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8, Basel 1992, wo es Sp. 157 heißt: „In wachsendem Maße wird der Begriff des Realismus – oft mit erläuternden und modifizierenden Epitheta versehen – seit dem Ende des 19. Jh., vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh., in der Reaktion auf Hegelianismus und Neukantianismus, auch auf den positivistischen Phänomenalismus, in Anspruch genommen (,Neo-R.‘, ,kritischer R.‘ u. a.). Durchweg realistisch präsentiert sich auch, in Anknüpfung an die aristotelisch-thomistische Tradition, die neuscholastische Philosophie. Zu neuerlichen Bemühungen um den Begriff des Realismus gibt die Reaktion auf E. Husserls ,transzendentale Phänomenologie‘ und ihre idealistischen Implikationen Anlaß.“ 195 Walter Brugger, Art. Substanz, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/ Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe Band 5, München 1974, S. 1450. 196 Oswald von Nell-Breuning, Art. Solidarismus, in: Oswald von Nell-Breuning/Hermann Sacher (Hrsg.), Wörterbuch der Politik, Freiburg/Brsg. 1952, S. 358 ff. – Diese
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(1854–1926) als Solidarismus bezeichnet hat, ohne sich unter diesem Namen durchsetzen zu können197, wohlbegründet ist, steht zur Diskussion. Aristoteles folgend, nimmt der Realismus bekanntlich an, daß das endlich Seiende schließlich auch in seinen höchsten Gattungen, also in seinen Ur- oder Erstbegriffen gedacht werden kann und daß es, diesen entsprechend, existiert, also in ursprünglichen Weisen. Seit Aristoteles werden diese urgeschiedenen Denk- bzw. Seinsbestimmungen Kategorien genannt bzw. genauer, Seinskategorien im Gegensatz zu den Existenzkategorien erfahrbarer Wirklichkeiten. Sie gliedern sich in die Kategorie der ousia, d.i. die substantia oder der Selbstand und in die Kategorienmehrzahl des symbebêkon, d.i. des accidens oder des Zustandes. Als Zustände eines endlich Seienden an ihm selbst gelten, wie erwähnt, die Quantität und die Qualität, während der Zustand im Hinblick auf ein Anderes in der Relation besteht. Derart den Ursprung des endlich Seienden denkend, stellt sich der Erkenntnis unter anderem die Frage nach der seinskategorialen Beschaffenheit desjenigen Seienden, das als sogenannte Vieleinheit besteht. Eine Vieleinheit ist dasjenige geschlossene und von Anderem abgesetzte Seiende, in dem das Viele der Einheit neben dieser Einheit irgendwie seinen Selbstand bewahrt. Das Verhältnis zwischen den selbständigen Vielen und ihrer selbständigen Einheit stellt nach der voraufliegenden Unterscheidung zwischen dem in sich gründenden Selbstand und dem in diesem gründenden Zustand ein besonderes Erkenntnisproblem bzw. einen besonderen Bestand von Etwas dar. Auffassung verdeutlichend, liest man bei Oswald von Nell-Breuning, Art. Solidarismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 364: „Wie der Einzelne durch seine gesellschaftliche Wesensanlage hingeordnet ist auf die Gemeinschaft, so ist die Gemeinschaft hinwiederum, die ja nichts anderes ist als die Einzelmenschen selbst in ihrer Gemeinschaftsverbundenheit, hingeordnet (,rückbezogen‘) auf die Einzelmenschen, aus denen und in denen allein und für die allein sie besteht . . . Das ist ein schlechthin seins-haftes Verhältnis; darum ist der Solidarismus von Haus aus und seinem Wesen nach eine sozialphilosophische Lehre vom gesellschaftlichen Sein“. – Die in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften durchgängig bestehende Auffassung, daß der Solidarismus eine der christlichen Soziallehren darstellt und als katholische Gesellschaftsethik verstanden werden muß, ist danach ein Irrtum. Vgl. zu diesem Urteil, das die zeitgenössische Gesellschaftserkenntnis tief belastet, sofern es nicht darauf zielt, die realistische Gesellschaftserkenntnis aus der theoretischen wissenschaftlichen Erkenntnis der Gesellschaft auszuschließen, z. B. Karl-Heinz Hillmann, Art. Christliche Soziallehren, in: ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 126: „Von den verschiedenen Sozialwissenschaften unterscheidet sich (die) katholische Soziallehre durch ihre Betrachtungsweise: sie analysiert und beurteilt das menschliche Sozialleben und seine geschichtlich spezifischen Erscheinungsformen im Lichte der christlichen Offenbarung, d.h. danach, wie sie zum Heil des Menschen beitragen.“ – Zu den unterschiedlich entwickelten evangelischen Soziallehren, die sich in der Tat als Gesellschaftsethik verstehen, vgl. z. B. den Art. Sozialethik in seinen Abschnitten A bis D., in: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart/Berlin 19655, Sp. 1109–1132. 197 Vgl. Franz Klüber, Art. Solidarismus, in: Alfred Klose/Wolfgang Mantl/Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon, Innsbruck/Wien/München u. Graz/ Wien/Köln 19802, Sp. 2574 ff.
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Vom Realismus werden das gemeinte Seiende bzw. die gemeinten Seienden im umfassenden Sinn ins Auge gefaßt, also auf den verschiedenen Graden des Seienden. Sie werden als „größere Einheiten“ benannt, also als Einheiten, „die mehrere Substanzen umfassen, wie die Natureinheiten etwa von Gebirgen, Seen, von Familien (sc. natürlicher Dinge), Gattungen u. a. wie die Erzeugnisse menschlichen Schaffens oder die gesellschaftlichen Gebilde“. Die herkömmliche kategoriale Erklärung dieser Vieleinheiten, die genötigt ist, auf Erkenntnisse der Lehre von den Ursachen zurückzugreifen, die das endlich Seiende aufbauen, wird wie folgt zusammengefaßt: „Alle diese Ganzheiten oder Gebilde werden . . . schließlich auf die Substanz und die verschiedenen Akzidentien als die einzigen ursprünglichen Weisen endlichen Seins zurückgeführt. Ihre größere oder geringere Einheit . . . faßt man als eine in der Linie der Akzidentien erfolgende und unter dem Einfluß von Wirk- und Zweckursachen konstituierte Ordnungseinheit auf.“198 Nach dieser Auffassung ist der Bestand der Gesellschaft nichts anderes als eine Beziehungseinheit. Freilich gilt es, die besondere Art dieser Einheit im Auge zu behalten, nämlich ihre bevorzugt zweckursächliche Beschaffenheit. Sie wiederum gründet in der Auffassung des Trägers bzw. der Träger der Beziehungen, d.h. in der Auffassung von „Menschen“ als Personen. Wie der Realismus weiß, wird „der Begriff der Person“, der „der heidnischen Antike noch unbekannt war“, „in der christlichen Spätantike geprägt und von daher in die ganze Tradition der abendländischen Philosophie übernommen. Er bedeutet in dieser soviel wie ,begabtes Einzelwesen‘, ,geistige Einzelexistenz‘“. Als Person verstanden, ist die humane Existenz somit „der unteilbare Selbst-Stand“ des „Menschen“ als „eines geistigen Wesens“199. Aus dieser Bestimmung der humanen Existenz folgt die Auffassung der Gesellschaft als eines Verhältnisses von Personen kraft desjenigen Zustandes, durch den eine Person eine Beziehung zu einer anderen Person bzw. zu mehreren anderen Personen herstellen kann. Der Zustand besteht also als ein besonderes seinskategoriales Vermögen. Betrachtet man es des näheren, erweist es sich als ein notwendiges Vermögen. Es folgt aus dem Bestand, den man seit alters her die Natur des „Menschen“ nennt. Insofern das Vermögen nicht in einem Verwirklichtsein, sondern in einem Verwirklichenkönnen besteht, ist der Zustand von der Beschaffenheit einer Anlage. Da sie auf die Verwirklichung der Gesellschaft zielt, wird sie als „gesellschaftliche Anlage“200 bezeichnet, wodurch sie zugleich von anderen Anlagen des „Men198 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956, S. 370. 199 Max Müller/Alois Halder, Art. Person, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 229. 200 Die „gesellschaftliche Anlage“ des „Menschen“ und insbesondere des „Menschen“ als Person wird verschieden bezeichnet. Vgl. z. B. Oswald von Nell-Breuning,
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schen“ unterschieden wird, zum Beispiel von seiner Anlage, denken zu können. Die Anlage, die auf die Herstellung der Gesellschaft ausgerichtet ist, zielt auf die Verwirklichung eines Wertes. Denn in seinen gesellschaftlichen Beziehungen vermag sich der „Mensch“ zu vervollkommnen. Das ist deswegen der Fall, weil die Gesellschaft ihm Verhaltensmöglichkeiten eröffnet, die er als „Einzelner“ nicht besitzt. In der lateinischen Gelehrtensprache wird das Ganze der wertvollen Beziehungen als unum ordinis, d.i. als Ordnungseinheit oder auch als Sinneinheit bezeichnet. Diese reale Definition ist die Bestimmung der Gesellschaft durch das realistische Gesellschaftsdenken. Freilich wird eine alsbald folgende Untersuchung erweisen, daß sich neben ihr noch eine andere Bestimmung findet. Deswegen ist sie keineswegs so wohlbegründet, wie das die realistische Gesellschaftstheorie gemeinhin annimmt. Vom genannten wertvollen Beziehungsbestand als Ordnungseinheit verschieden ist derjenige wertvolle Beziehungsbestand, der lateinisch unum additionis, d.i. Zusammenzählungseinheit oder auch summarische Einheit, heißt. Die Gesellschaft wird also als Beziehungssumme bzw. als Beziehungsgesamtheit aufgefaßt. Prüft man den Unterschied, der zwischen der Auffassung der Gesellschaft als Ordnungseinheit und ihrer Auffassung als Beziehungssumme besteht, stößt man alsbald auf ihren wesentlichen Unterschied. So ist die Gesellschaft als Beziehungssumme dadurch ausgezeichnet, daß sie von „Menschen“ nicht als Personen, sondern von „Menschen“ als Individuen getragen wird bzw. in ihnen besteht. Darüber, ob es so Etwas wie eine Natur des „menschlichen“ Individuums gibt, streiten die Meinungen miteinander. Wenn das Wesen des „menschlichen“ Individuums aber unbestimmt ist, kann nicht mehr gesagt werden, daß die Gesellschaft in der natürlicherweise bestehenden gesellschaftlichen Anlage gründet. Als Folge dieses Meinungsstreites stellt sich die Behauptung ein, daß sie ihren Bestand bald in dieser und bald in jener „menschlichen“ Eigenschaft besitzt. Ihre Trägerschaft ist also immer nur tatsächlicher Art. Ein solcher Träger könnte zum Beispiel der gemeinsame Raum sein, in dem „menschliche“ Individuen leben, oder deren gemeinsame Zeit oder deren gemeinsame Gewohnheiten, usw. Wie hinreichend dargelegt wurde, vertritt die neuzeitliche individualistische Gesellschaftserkenntnis eben diese Meinung oder
Art. Gesellschaft, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/ Basel/Wien 199622, wo diese Anlage S. 140 als „naturgegebene Veranlagung“ benannt wird und S. 141 als „gesellschaftliche Naturanlage“; S. 364, a. a. O. heißt sie „gesellschaftliche Wesensanlage“. – Was der Ausdruck der „gesellschaftlichen Anlage“ in dieser oder jener Ausdrucksweise meint, wird z. B. von Oswald von Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, Heidelberg 1950, S. 21 wie folgt zusammengefaßt: „Was heißt: der Mensch ist Gesellschaftswesen? Der Mensch ist Gesellschaftswesen heißt: der Mensch ist seinem Wesen, seiner Natur nach auf das Zusammenleben mit andern in der menschlichen Gesellschaft hingeordnet; die Anlagen und Fähigkeiten seines Leibes, seines Geistes und Herzens sind von solcher Art, daß sie nur in der Gemeinschaft mit andern zur Entfaltung kommen.“
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genauer, sie zerfällt in eine Mehrzahl von Meinungen dieser Art. Einig sind die Individualismen darin, daß es abwegig ist, den „Menschen“ als „Substanz im Sinne der Philosophie“ aufzufassen. Wohl ist er ein Individuum, aber er ist dies nur dank der Gesellschaft, der er immer schon angehört. Sie ist es, die das „menschliche“ Individuum „im Laufe eines längeren Sozialisierungsprozesses im Zeichen besonderer Wertvorstellungen herausbildet“201. Nicht nur hinsichtlich ihres wesentlichen Grundes, sondern auch hinsichtlich ihrer jeweiligen tatsächlichen Trägerschaft und deswegen auch hinsichtlich der wirklichen Existenz-Gestalt stehen die Auffassungen von der Gesellschaft als Ordnungseinheit und als Beziehungsgesamtheit unvereinbar gegeneinander. Zwischen den Lehrern der sich als realistisch verstehenden Gesellschaftslehre und den Lehrern der individualistischen Gesellschaftsauffassung bestehen keine gesellschaftlichen Beziehungen. Schon mehrfach bestand die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß der Realismus nicht nur die aufgezeigte seinskategoriale Beziehungs-Auffassung der Gesellschaft kennt. Sie gründet in dem bevorzugt bildlich sich ausdrückenden Erkennenwollen der Gesellschaft, das den Beginn des Gesellschaftsdenkens auszeichnet und das seitdem durch lange Jahrhunderte hindurch bis heute sich behauptet. Ihm zufolge ist die Gesellschaft so wie ein Mensch beschaffen, nur im Großen, oder wie man sagt, sie gliedert sich und ist wirksam wie ein lebendiger Körper. Deswegen begreift man die Gesellschaft am besten, wenn man sie im Sinn eines Organismus begreift. Wenig später wird man dasselbe in einer Sprache sagen, die die antike bzw. die biblische Ausdrucksweise hinter sich zu lassen versucht. Es heißt, daß die Gesellschaft ein Ganzes ist, das als Aufbau seiner Teile besteht. In unseren Tagen findet diese, dem Realismus verbundene Gesellschaftsauffassung sich unter der allgemein formulierten Überschrift Die Lehre von der kollektiven Substantialität wie folgt wiedergegeben: In verschiedenen Ausformungen bestehend, fassen diese „ohne Rücksicht auf das aristotelisch-scholastische Kategorienschema . . . die Individuen sowohl im untermenschlichen wie im menschlichen Bereich zu Einheiten zusammen, denen sie eine Art kollektiver Substantialität nach der Weise der Organismen zuschreiben, wobei die Individuen zu bloßen Teilen des übergeordneten Ganzen werden oder gar überhaupt erst aus dem ursprünglichen Ganzen wie aus ihrem Wurzelgrund entstehen. Obwohl man . . . die zwischen den Organismen und jenen Einheiten herrschenden Ähnlichkeiten nicht verkennt und sich dieser Analogie auch zur Beschreibung der sozialen Gebilde bedient, so betont man doch mit Recht den wesentlichen Unterschied beider, ohne den die personale Eigenständigkeit und Würde des Menschen verloren geht. Während im Organismus das Ganze dem Seinsrang und dem Ziel nach vor den Teilen ist . . ., ist bei den menschlichen 201 René König, Art. Gemeinschaft in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 93 f.
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Sozialgebilden das Ganze im Hinblick auf Seinsrang und Ziel den Teilen . . . nachgeordnet.“202 Im Bemühen, den genannten Unterschied auch durch verschiedene Ausdrücke zu bezeichnen, heißt es an geistesverwandter Stelle deswegen, daß die gesellschaftlichen Gebilde „keine Seinsganzheit wie der Organismus“ sind, „sondern reine Sinnganzheiten“.203 In der alten Gelehrtensprache müßte man ein Seinsganzes wohl unum in se und ein Sinnganzes unum per se nennen, wobei beide von der Ordnungseinheit und von der summarischen Gesamtheit verschieden sind. Angesichts des Selbstandes des „Menschen“ bzw. genauer, der Person, läßt sich die Gesellschaft begründet freilich nur als Sinnganzheit auffassen, von der es heißt: „Die ,Ganzheitlichkeit‘ der Gesellschaft und die ,Teilhaftigkeit‘ der Glieder verwirklichen also die vollkommenste Sinnganzheit . . ., die sich denken läßt, jedoch keine Seinsganzheit (substantielle Einheit).“204 Daß der gesellschaftstheoretische Realismus überhaupt in der genannten Weise über das humane Zusammensein spricht, besitzt, wie es scheint, zwei Gründe. Der erste Grund liegt im Begriff der Gesellschaft, wie ihn der gesellschaftstheoretische Realismus zunächst entwickelt hat. Der zweite erklärt sich aus der Auseinandersetzung mit anderen, nämlich den kollektivistischen gesellschaftswissenschaftlichen Lehrmeinungen. Versucht man, sich den ersten Grund verständlich zu machen, ist es nötig, sich die geltende Seinskategorialität zu vergegenwärtigen. Sie filtert gleichsam die Erfahrungen der Gesellschaft, was schließlich dazu führt, daß sie als Ordnungseinheit wahrgenommen und studiert wird. Sie besteht real in selbständigen Personen und aus deren zuständlichen Beziehungen. Diesem Befund entgegen, erscheint die Gesellschaft aber noch auf eine andere Weise. Der realistische Theoretiker der Gesellschaft muß feststellen, daß sein Begriff der Gesellschaft als Ordnungseinheit die gesellschaftliche Realität nicht voll erfaßt. Seine Erfahrung lehrt ihn, daß die Gesellschaft sich nicht darin erschöpft, eine Ordnung von personalen Beziehungen zu sein. Sie gibt sich vielmehr dadurch zu erkennen, daß sie die Personen und ihre Beziehungen umgreift, wie man sagen könnte. Die Gesellschaft ist zu diesem Umgriff fähig, weil sie so etwas wie eine geschlossene Ordnung ist. Als geschlossene Ordnung ist die Gesellschaft keine Ordnung von Beziehungen, sondern eine Ganzheit, die als diese fähig ist, über deren Beschaffenheit zu verfügen. Als ein sinnhaftes und werthaftes Zusammensein ist die Gesellschaft „mehr“ als nur eine Ordnungseinheit. Weil sie so – oder jedenfalls auch so – beschaffen ist, heißt es, daß die „menschliche Gesellschaft . . . kein bloßes Mittel für die Einzelmenschen zur 202 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., Heft III, (1956), S. 370 f. 203 Oswald von Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, Heidelberg 1950, S. 61. 204 Oswald von Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, a. a. O., S. 57.
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Erreichung ihres Zieles“ ist. Sie besitzt darüber hinaus einen „echten Eigenwert. Dieser nicht nur an Wertfülle, sondern auch der Wertstufe nach den Einzelmenschen überragende Eigenwert sichert ihr eindeutig den wertmäßigen Vorrang vor dem Einzelmenschen.“205. Wie sehr dieser Grundsatz zunächst einleuchtet, so erstaunt er doch nicht wenig. Denn nach den metaphysischen Prinzipien des Realismus gibt es weder einen nur waltenden Sinn noch einen nur geltenden Wert. Jener Sinn wie dieser Wert gründen vielmehr stets in einem Sein.206 Gilt aber die Seinslehre vom ursprünglichen Selbstand und vom ursprünglichen Zustand, dann widerstreitet die Lehre von der Gesellschaft als einer Sinnganzheit der Lehre von der Gesellschaft als einer Ordnungseinheit. Deswegen ist es nicht gut um sie bestellt. Wenn es die Gesellschaft als Sinnganzheit dennoch gibt bzw. geben soll, so „bleibt unerschütterlich bestehen: die menschliche Gesellschaft mit all ihren Werten besteht nur in den Einzelmenschen als ihren Gliedern . . ., auch die letzte Vollendung, deren die Gesellschaft fähig ist, erlangt sie nur in ihren Gliedern und für ihre Glieder“207. Mit dieser Folgerung hat die realistische Gesellschaftslehre sich wieder auf ihre erste Auffassung besonnen, nach der die Gesellschaft eine Ordnungseinheit ist. Überraschenderweise läßt die realistische Erkenntnis der Gesellschaft ihre Ansicht von der Gesellschaft als einer Ganzheit dennoch nicht fallen. Sie erscheint ihr weiterhin als unverzichtbar, wie ungereimt das Verhältnis zwischen der Auffassung der Gesellschaft als Ganzheit und der Gesellschaft als Ordnungseinheit auch immer ist. Trotz des Selbstandes der gesellschaftlichen Personen mit ihren Beziehungen ist die Gesellschaft irgendwie ein Sinnganzes, das deswegen über ihre „Personen-Glieder“ verfügt. Daß die Ganzheitslehre nicht preisgegeben wird, wie das folgerichtig wäre, dürfte sich aus dem erwähnten zweiten Grund erklären, dem sie ihren lebendigen Bestand verdankt. Zum ersten ist zu wiederholen, daß bestimmte gesellschaftliche Realitäten sich kaum im einzelnheitlichen, sondern maßgeblich nur im ganzheitlichen Sinn begreifen lassen. Eben diese Tatsache ist zweitens der Beweggrund, aus dem diejenigen Gesellschaftsauffassungen entwickelt worden sind und bis heute entwickelt werden, die man zusammenfassend als Kollektivismus zu bezeichnen pflegt. Dieser Inbegriff benennt eine Vielzahl verschiedener Meinungen und Doktrinen der Gesellschaft, die darin übereinstimmen, daß ihnen zufolge das humane Zusammensein als Seinsganzes besteht. Es sind diese Meinungen, gegen die sich die personbestimmte gesellschaftstheoretische Denkweise des Realismus wendet. Jener behaupteten Seinsganzheit der Gesellschaft setzt die her-
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Oswald von Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, a. a. O., S. 70. Vgl. z. B. Johannes B. Lotz, Art. Sinn sowie ders., Art. Wert, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 353 bzw. 459. 207 Oswald von Nell-Breuning, Einzelmensch und Gesellschaft, Heidelberg 1950, S. 70. 206
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kömmliche realistische Gesellschaftstheorie den Unterschied von der Gesellschaft als Sinnganzheit entgegen. Die Skizze der Grundzüge des gesellschaftstheoretischen Realismus ist an ihr Ende gekommen. Ihr Ergebnis besteht im Aufweis der Unzulänglichkeit dieser Gesellschaftslehre. Die Mängel lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Im Grundsatz gilt, daß die bestehende realistische Erkenntnis der Gesellschaft nicht der vom Realismus erhobenen Forderung entspricht. Das, was ihr in der Erfahrung „gegeben“ ist, denkt sie nicht in den diesem Gegenstand entsprechenden Begriffen. Sie faßt die Gesellschaft statt dessen in einem Begriff auf, der – jedenfalls zuletzt – etwas Nicht-Gesellschaftliches meint. Weil die Gesellschaft schließlich nicht-gesellschaftlich beschaffen ist, ist ihr Grund metagesellschaftlicher Art. Betrachtet man diesen Grund des genaueren, stellt man fest, daß er in zwei Gründe zerfällt. Sie bestehen, wie dargelegt, unverbunden nebeneinander. Denn sie gehören verschiedenen Seins- bzw. Denkordnungen an. (2) Nach dem ersten dieser Gründe erklärt die Gesellschaft sich angeblich aus Personen, die zwischen sich Beziehungen dergestalt hervorbringen, daß insbesondere die Ziele der Beziehungen ihre Gemeinsamkeit bewirken und erhalten. An dieser seinskategorialen Deutung der Gesellschaft wird schon seit langem Kritik geübt und zwar vor allem von geistesverwandter Seite, einer Seite also, die dem seinskategorialen Begründungsversuch zu folgen willens ist. Als erster hat wohl Dietrich von Hildebrand (1889–1977) den notwendigen Einwand formuliert.208 Später wurde er beispielsweise von Hans-Eduard Hengstenberg (1904–1998) aufgegriffen und wie folgt formelhaft zusammengefaßt: „D. v. Hildebrand hat diese Relationstheorie schlagend widerlegt. Wenn A, B und C in Beziehung zu einander stehen, dann ist jede Beziehung individuell. Die von A zu B ist nicht identisch mit der von B zu C, C zu A nicht einmal mit der von B zu A. Hier ergibt sich nichts Identisches, mithin kein Gemeinbesitz, also auch keine Gemeinschaft.“209 Die Ordnungs- bzw. Sinneinheit, von der das theoretische Gesellschaftsdenken des Realismus spricht, ist diesem Einwand zufolge eine wohl mögliche „menschliche“ Realität, die im übrigen von ungewöhnlichen Bedingungen abhängt, aber sie ist keinesfalls eine Realität der humanen Existenz in ihrer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Die Vertreter der realistischen beziehungstheoretischen Auffassung der Gesellschaft scheinen diese Verfehlung ihres Gegenstandes irgendwie zu spüren. Alsbald nämlich entscheiden sie sich, in jenes zweite Lehrstück des gesellschaftstheoretischen Realismus hinüberzu208 Vgl. Dietrich von Hildebrand, (Die) Metaphysik der Gemeinschaft, Augsburg 1930/Regensburg 1955, S. 127. 209 Hans-Eduard Hengstenberg, Hat die Gemeinschaft ein Sein, das von dem der Glieder unterschieden ist?, in: Akten des XI. Internationalen Kongresses für Philosophie, Band IX, Amsterdam 1953; Wiederabdruck in: ders., Freiheit und Seinsordnung. Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur allgemeinen und speziellen Ontologie, Stuttgart 1961, S. 212.
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wechseln, also in die Lehre von der Gesellschaft als einer Sinnganzheit. Gegen diese Meinung ist freilich zum ersten in Erinnerung zu rufen, daß sie die wohlbegründeten Axiome mißachtet, die Etwas als Ganzheit auszeichnen, wodurch diese sich von Ordnungen nach der Zahl wie die Addition, die Assoziation und das Aggregat unterscheidet. Ihnen zufolge besteht jedes Ganze bekanntlich als ein Mehr gegenüber seinen Teilen, als ein Vorher gegenüber seinen Teilen und als eine Einteilung seiner Teile, welche Bestimmungen von einem einheitstiftenden Ganzheitsfaktor getragen werden. Jede Ganzheit baut sich also als ein Bestand auf, der durch die Einordnung, die Unterordnung und die Anordnung seiner Teile charakterisiert ist. An dieser Beschaffenheit des Aufbaus einer Ganzheit verneint der gesellschaftstheoretische Realismus vor allem die Unterordnung der Teile. Er begründet diese Verneinung damit, daß durch sie die Selbständigkeit des „Menschen“, in Sonderheit die Selbständigkeit des „Menschen“ als Person, in Frage gestellt wird. Zum zweiten ist kritisierend zu bemerken, daß die Bestimmung der Gesellschaft als einer Ganzheit eher durch die Möglichkeiten, sie sprachlich besser beschreiben zu können, nahegelegt wird, also nicht durch den aufgefaßten Gegenstand. Im Gegensatz zur Bezeichnung der Gesellschaft als einer „Einheit der Beziehungen zwischen Personen“ ist die Benennung der Gesellschaft als einer „Ganzheit bzw. Sinnganzheit von Personen“ irgendwie einleuchtender. Diese sprachliche Eigentümlichkeit dürfte sich daraus erklären, daß der Begriff der Ganzheit im gesellschaftlichen Erkenntniszusammenhang eine formalisierte Ableitung aus dem Begriff des Organismus darstellt, der die Einheit eines lebendigen Körpers in seinen Gliedern bzw. in seinen Organen benennt. Die vor Augen stehenden Wesen in der Einheit ihres Bestandes und Lebens dürften der Anlaß sein, aus dem der Begriff des Organischen bis heute in verschiedenen übertragenen Bedeutungen gebraucht wird. Daß bei dieser Verwendung des Wortes Vorsicht geboten ist, weiß die realistische Erkenntnis aus langer Erfahrung. Also spricht sie warnend aus, daß „aus dieser Übertragung . . . oft unberechtigte Folgerungen gezogen“210 werden. Dieser Meinung folgend, sollte die realistische Gesellschaftslehre selbst auf Beschreibungen der Gesellschaft mit den sprachlichen Mitteln der Organismuslehre und in der Folge auch mit den Mitteln der Ganzheitslehre verzichten. Daß im übrigen der Begriff des Kollektivismus nur wiederum eine Abwandlung des Ganzheitsbegriffes ist, dessen Bedeutung sich aus dem Gegensatz zum Individualismus erklärt, ist bekannt.211 210 Walter Brugger, Art. Organismus, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 281. 211 Vgl. z. B. die Rückkehr aus der „ganzheitlichen“ in die „einzelnheitliche“ Gesellschaftsauffassung bei Norbert Brieskorn, Der Mensch als zoon politikon, in: Rainer Koltermann, Universum – Mensch – Gott. Der Mensch vor den Fragen der Zeit, Graz/ Wien/Köln 1997, wo S. 260 ff. „eine vermittelnde Antwort“ auf den Individualismus und den Kollektivismus wie folgt abgeschlossen wird: „Der Mensch ist in die Zeit gestellt und in ein Geflecht von Beziehungen, vor allem Traditionen. Er muß sich
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Daß die Rede von der Gesellschaft als eines Organismus bzw. als einer Ganzheit nicht angemessen, wenn nicht eben verkehrt ist, scheint die altehrwürdige realistische Moralphilosophie gewußt zu haben. Naturgemäß gilt das im besonderen von jenen ihrer Kapitel, die sich mit der Gesellschaft befassen. Diese Bestimmungen sollen und dürfen hier nicht übergangen werden. So findet sich beispielsweise in einem der alten Kompendien die folgende Definition der Gesellschaft. Der gelehrten Tradition entsprechend, ist sie lateinisch formuliert. Sie lautet: Als allgemeine Bezeichnung der Gesellschaft wird gemeinhin verstanden die „junctio plurium in communem aliquem finem suis actibus conspirantium“212. Die ins Deutsche übertragene Bestimmung heißt: Gesellschaft ist „die dauernde, wirksame Verbundenheit von Menschen in der Verwirklichung eines gemeinsamen Zieles oder Wertes“213. Lehrreich ist diese Definition deswegen, weil sie das gesellschaftliche Sein als junctio auffaßt, d.i. als Verbundenheit. Dieser Bestimmung zufolge besteht die Gesellschaft also weder in einer Ordnung personaler Beziehungen, noch in einer personal bestimmten Ganzheit. Diesen Bestimmungen entgegen, zeichnet die Gesellschaft sich dadurch aus, daß sie als ein Sein-im-Verbund besteht. Zu dieser Einsicht kann man den Autor nur beglückwünschen. Wie es scheint, hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Was ist denn die Gesellschaft sonst als ein Verbundensein von Menschen? Die Freude über die wiedergegebene Bestimmung wird jedoch alsbald getrübt. Der genauere Hinblick enttäuscht die theoretische Erwartung. Das, was jene Definition meint, erklärt sie in aller Klarheit. Sie benennt, welche Eigenschaften die junctio hat. Als junctio gilt, daß sie moralis et constans besteht. Also ist die junctio erstens etwas Moralisches bzw. etwas Sittliches. Das ist das, was sittlich befolgt wird bzw. das, was sittlich befolgt werden soll. Sodann zeichnet sich die junctio dadurch aus, daß sie constans beschaffen ist. Das meint, daß sie etwas Stetiges ist, um nicht zu sagen, daß sie als etwas Unwandelbares besteht. Damit wird die junctio verstanden als eine bleibend ihnen gegenüber erst einmal aufrichten können und sich für oder gegen sie entscheiden, und dies immer, indem er seine verwandelnde Kraft bejaht. Schon immer gilt, daß der Mensch in seiner Zeit nichts so lassen kann, wie es an ihn herangetragen ist. Er verwandelt die Dinge. Anders gesagt: Er muß in diesem Leben und während seiner Zeit und in ihr seine Gestalt, seinen Entwurf und die vielfältigen Vorgaben erst ,einholen‘ . . . So liegt es in seinem Wesen, aktiv seine Welt auf sich zuzuordnen. Er ist Mittelpunkt und muß sich zum Mittelpunkt machen und in ihm behaupten. Eine Fehlform ist es, ,sich leben zu lassen‘ und nicht genug für diese Anverwandlung zu tun; ein anderer Holzweg ist es aber, die anderen über das notwendige Verwandeln ihrer Beziehungen hinaus zu vernutzen, ihnen keinen Selbstand zuzuerkennen, sondern nur insoweit einen Sinn zuzubilligen, als sie ihm, dem ordnenden und verwandelnden Individuum, nützen. Der Mensch schmälert hier sein eigenes Leben.“ 212 Theodorus Meyer, Institutiones Juris Naturalis seu Philosophiae Moralis Universae secundum Principia S. Thomae Aquinatis ad Usum Scholarum, etc., Freiburg/ Brsg. 1885, S. 296. 213 Oswald von Nell-Breuning, Art. Gesellschaft, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 140.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
sein-sollende Verbundenheit. Sie ist des näheren eine naturrechtlich bestehende Vorschrift, die verlangt, daß „ein ,Mensch‘ mit einem anderen ,Menschen‘ gut zusammenleben“ soll. Es ist diese Sollensbestimmung, die zur Folge hat, daß der Gedanke des Seins-im-Verbund als eines Realitätsbestandes der humanen Existenz ungedacht bleibt. An der ethisch entfalteten Ansicht ändert auch die sprachlich elegante Anpassung an das gegenwärtig verbreitete Verständnis der Gesellschaft nichts, die den Ausdruck constans durch den Ausdruck „dauernd“ und den Ausdruck moralis durch den Ausdruck wirksam übersetzt. Vermutlich sind diese sprachlichen Verfeinerungen nur eine „Annäherung“ des Denkens an die Erfahrung der Gesellschaft in unseren Tagen, die es im übrigen nahezulegen scheint, den Ausdruck conspirantes mit dem Ausdruck „Menschen“ wiederzugeben. Diese Namen erheben sich nicht zur erschließenden Begrifflichkeit der junctio- bzw. der Verbundenheitslehre der Gesellschaft.214 Diesem Schluß 214 Daß der Realismus der ihm nicht unbekannten Forderung, sich auch die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft angelegen sein zu lassen, gegenwärtig in der Regel ausweicht, läßt sich als Tatsache vielfach feststellen. Dieses Ausweichen kommt in jener Weise der Gesellschaftserkenntnis zum Ausdruck, die erklärt, daß sie sich keineswegs als praktische Gesellschaftserkenntnis versteht, also als Gesellschaftsethik. Indem in ihr die Gesellschaft aber auch nicht theoretisch gedacht wird, wird sie auf eine dritte Weise aufgefaßt. Diese Erkenntnisweise der Gesellschaft begreift und bezeichnet man wohl richtig als die Erkenntnis der Techniken der Verwirklichung einer Gesellschaft. Mit dem verwendeten Ausdruck der Technik wird hier „jede Gestaltung sinnlich wahrnehmbarer Dinge im Dienst eines Bedürfnisses oder einer Idee“ bezeichnet. Vgl. hierzu: Walter Brugger, Art. Technik, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 393. Die entfaltete Erkenntnisweise besteht danach in der Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Mitteln und gesellschaftlichen Zwecken, wobei diese Mittel und Zwecke als etwas Gesellschaftliches anderweitig erkannt werden, in der Regel im Sinn der Gesellschaftsethik. Vgl. hierzu z. B. Walter Kerber, Sozialethik, Stuttgart 1998. Jenes Erkennen der Gesellschaft wird folgerichtig im weiteren Sinn als theoretische Gesellschaftspolitik und im engeren Sinn als theoretische Sozial- bzw. Wirtschaftspolitik benannt und wissenschaftlich betrieben. Es sollte erlaubt sein, zwei Beispiele dafür anzuführen, wie die Pflege des theoretischen Erkennens der Gestaltung der Gesellschaft zu Lasten der Pflege des theoretischen Erkennens des Seins der Gesellschaft sich in der tatsächlich arbeitenden akademischen Wirklichkeit wiederfindet. Ein erstes Beispiel bietet die angesehene Hochschule für Philosophie in München. Wie deren Personen- und Vorlesungsverzeichnis für das Winter-Semester 2007/08 auf S. 37 ausweist, pflegt diese Hochschule auch die „Sozialphilosophische Grundlegung“. Im Dienst dieser Grundlegung scheinen maßgeblich zwei Professuren zu arbeiten. Allerdings fällt an der ersten von ihnen auf, daß sie der „Sozial- und Rechtsphilosophie“ und an der zweiten, daß sie den „Sozialwissenschaften und (der) Entwicklungspolitik“ gewidmet ist. Diese Bestimmungen der Lehrstühle zeigen an, daß an ihnen die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft von untergeordneter Bedeutung ist. Als in Frage kommende Forschungseinrichtung der genannten Hochschule wird a. a. O., S. 12 deren „Institut für Gesellschaftspolitik“ angegeben. Mit dieser Kennzeichnung dürfte auch der organisatorische Vorrang benannt sein, den die Behandlung gesellschaftspolitischer Fragen vor der Behandlung gesellschaftstheoretischer Probleme an dieser Hochschule besitzt, was im übrigen im Aufweis der Studieninhalte S. 37 f. erläutert wird. – Ein zweites Beispiel für die Bevorzugung der theoretischen Erkenntnis der Gestaltung der Gesellschaft bietet die Arbeit der Sektion
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entgegen ist freilich festzustellen, daß der Gedanke der Verbundenheit in der realistischen Erkenntnis der Gesellschaft irgendwie erhalten bleibt. Er fordert die Erkenntnis heraus, die Gesellschaft so zu begreifen, wie sie als Realität besteht. B. Die humane Existenz in ihren Seinskategorien und auf ihren seinskategorialen Ordnungsstufen: Der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein sowie das Beisichsein und das Verbundensein I. Die seinskategorial erweiterte realistische Erkenntnis der ursprünglichen Bestandsweise der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz
Als realistisch versteht sich dasjenige Erkennen, das dadurch wahr ist, daß es sagt, was ist, und verneint, was nicht ist. Positiv ist dieses Erkennen also dadurch ausgezeichnet, daß es sich seinem Erkenntnisgegenstand gleichmacht. Die Erkenntniswahrheit besteht in der Entsprechung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkennbaren Objekt. Die überkommene Formel, in der der Realismus seine Erkenntnisauffassung auszudrücken pflegt, lautet: Veritas est adaequatio rei et intellectus, d.i. die Erkenntniswahrheit besteht in der Übereinstimmung von Sein und Geist oder, mit anderen Worten gesagt, in der Übereinstimmung von Ding und Verstand.215 Dieser Grundsatz geht auf die Auffassung des Aristoteles zurück, nach der man dann etwas wahr denkt, wenn man die durch jenes Etwas hervorgerufenen Vorstellungen als dessen homoio¯mata, d.i. zu dessen Abbildern ausgebildet hat.216 Nach der Auffassung des Realismus zeichnet die Erkenntniswahrheit sich also als homoio¯sis bzw. als adaequatio aus, d.h. als ein um sich wissendes Verhältnis des Innen-Seins eines AußenSeienden, eines Verhältnisses, das auch als correspondentia, d.i. als Entsprefür Soziologie der geachteten Gelehrtenvereinigung namens Görresgesellschaft. Wie bekannt ist, weiß sie sich in ihren weit ausgreifenden wissenschaftlichen Bemühungen der realistischen Erkenntnis verpflichtet. Über deren Ergebnisse wird in der Regel auf ihren sogenannten Generalversammlungen gesprochen. In der Sektion für Soziologie wurden in den letzten Jahren die folgenden, vermeintlich soziologischen, in Wahrheit jedoch gesellschaftspolitischen Themen behandelt: Der herausgeforderte Sozialstaat und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland. – Krankheit und Tod in neueren sozialpsychologischen und soziologischen Untersuchungen. – Christliche Sozialethik zwischen Faktizität und Normativität. – Das Ende der Todesverdrängung? – Hospiz und Hospizbewegung – empirische Forschungen und theoretische Aspekte. – Prozessionen einst und jetzt. Organisationsformen und Selbstverständnis (in Zusammenarbeit mit der Sektion für Volkskunde); Wunder, Propheten und Konversionen. Religiöse Erfahrungen in der Gegenwart. – Das Konzertpublikum. – Religion und Hirnwissenschaften (in Zusammenarbeit mit der Sektion für Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie). – Quelle: Einladungen zu den Generalversammlungen der Görresgesellschaft, Köln 1998–2006. 215 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, (Summe der Theologie), (Edition Joseph Bernhart), I.q 16, art. 1,3. 216 Vgl. Aristoteles, Peri hermêneias, (Lehre vom Satz), (Edition Meiner), 16a.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
chung, oder als convenientia, d.i. als Zusammenkunft benannt wird. Diese um Klarheit bemühten Bezeichnungen hat man auch als Ausdruck des realistischen Bewußtseins zu verstehen, welches wohl weiß, daß die Wahrheit nicht nur als Erkenntniswahrheit besteht. Von ihr unterschieden ist insbesondere zum ersten die ontologische bzw. die ontische Wahrheit, d.i. die Wahrheit von Etwas, das ans Licht kommt, die Wahrheit eines sich entbergenden Dinges. Zu dieser Wahrheit zählt zum Beispiel das Offenkundigwerden der Gesellschaft, insofern sie etwas Seiendes ist, worüber oben verhandelt wurde. Zum zweiten ist die sittliche Wahrheit zu nennen. Als Wahrhaftigkeit besteht sie in der Übereinstimmung zwischen dem Reden bzw. zwischen dem Wirken von jemandem und der Gewißheit, die er besitzt. Das Gegenteil der Wahrhaftigkeit ist die Lüge. Des weiteren weiß die realistische Lehre von der Wahrheit, daß die erwähnte Übereinstimmung von Ding und Verstand in die Lebensbedingungen der humanen Existenz eingebunden ist. Das Bemühen um die Übereinstimmung hat deswegen auf den jeweils bestehenden Zusammenhang Rücksicht zu nehmen, in dem sich die Erkenntnisgegenstände befinden. Insofern ist die Adäquationslehre auch eine Lehre von der Wahrheit des Kontextes. Des weiteren wird jede Erkenntniswahrheit in einem Zusammenhang der Stimmigkeit ausgesprochen, also in einem Zusammenhang der erkennenden Subjekte. Unter dieser Rücksicht besteht die Adäquationslehre als Konsenslehre der Wahrheit. Es ist bekannt, daß in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften diese Konsensauffassung der Wahrheit bevorzugt berücksichtigt wird. Vielfach rückt dieser Grundsatz sogar zum Merkmal der Wahrheit überhaupt auf. In Wirklichkeit ist er jedoch nicht mehr als einer jener Sätze, die die Lehre von der Erkenntniswahrheit formuliert. Nimmt man diese Lehre im Ganzen, so widerstreitet sie freilich den zahlreich ausgebildeten erkenntnistheoretischen Idealismen, in Sonderheit jenen, die über die Gesellschaft wahr zu urteilen behaupten. Tatsächlich ist die Gesellschaft für sie zunächst nichts anderes als ein irgendwie unterscheidbarer „menschlicher“ Rohstoff, der als Realität bald so und bald anders durch sein Erkennen entworfen wird. Wird so gedacht, besteht die Gesellschaft kraft ihrer subjektiven Logisierung. Sie ist kein Seiendes an sich, sondern ein Konstrukt, also etwas je Gedachtes. Mißt man die bestehende realistische theoretische Erkenntnis der Gesellschaft mit dem Maßstab der realistischen Lehre von der Erkenntniswahrheit, läßt sich unschwer feststellen, daß diese Erkenntnis sich des offenkundig gewordenen Bestandes der Gesellschaft wohl bewußt ist. Es ist die Erfahrung der Gesellschaft, die über diesen Bestand belehrt. Nach den gesellschaftswissenschaftlich erbrachten Ergebnissen kann man jedoch nicht sagen, daß das realistische theoretische Gesellschaftsdenken die erfahrene Gesellschaft auf den Begriff gebracht hat. Diese, aus anderen Erkenntniszusammenhängen stammende Redeweise besagt hinsichtlich der anstehenden Problematik, daß das realistische theoretische Gesellschaftsdenken den in Frage stehenden Sachverhalt wohl im Ansatz erfaßt,
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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daß es ihn jedoch nicht in seinem wesentlichen Gehalt begreift. „Ding und Verstand der Gesellschaft sind nicht in Übereinstimmung“, lautet die Erkenntniskritik. Denn das realistische Denken der Gesellschaft bleibt hinter der Erfahrung der Gesellschaft zurück. Will man sich der Sprache Immanuel Kants bedienen, muß man sagen, daß die Anschauung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz zwar keineswegs „blind“ ist, daß die realistischen Gedanken über diese Existenz-Gestalt jedoch „leer“ sind. Es gilt also, die „leeren“ Gedanken zu „füllen“. Um dieses Ziel zu erreichen, mag man sich an den von Kant formulierten Grundsatz erinnern, daß mit der Erfahrung die Erkenntnis, und damit auch die Erkenntnis der Gesellschaft, wohl „anhebt“, daß diese Erkenntnis aber keineswegs dieser Erfahrung „entspringt“. Wenn es aber um das Erkennen auf diese Weise bestellt ist, worin die gelehrte Welt wohl übereinstimmt, dann kommt es darauf an, gesellschaftswissenschaftlich danach zu trachten, das zu begreifen, was man den Ursprung der Erkenntnis – und im realistischen Sinn über Kant hinaus – auch das, was man den Ursprung des Seins der Gesellschaft bezeichnet. Die anstehende Problematik ist also nicht von der Art, einen Irrtum zu beheben bzw. eine Falschheit zu berichtigen. Die anstehende Absicht hat vielmehr eine bisher nicht bedachte ursprüngliche Weise des Erkennens und des Seins von Etwas ins Auge zu fassen. Dieses Erkennen und Sein besteht darin, das Verbindlich-Intelligible im Gesellschaftlich-Sensiblen zu denken, um sich einer alten erkenntnistheoretischen Formel zu bedienen. In der gelehrten Welt unserer Tage, soweit sie sich dem Realismus verpflichtet weiß, hat ein Kreis von Persönlichkeiten hohe Achtung gewonnen, der seit geraumer Zeit als Pullacher Schule bezeichnet wird.217 Aus dieser Schule ist für den anstehenden Problemzusammenhang der Name des Philosophen Walter Brugger (1904–1990) von herausragender Bedeutung.218 Seit 1937 im Professorenamt, ist Walter Brugger in der akademischen Philosophie vor allem durch das von ihm herausgegebene Philosophische Wörterbuch bekannt geworden. In den 30er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts von Kollegen und von ihm selbst entworfen und erarbeitet, erlangte es 1945 seine Druckreife und erschien unter schwierigen Verhältnissen alsbald nach dem Ende des II. Weltkrieges. In der Folgezeit wurde dieses Buch mehrfach überarbeitet und ergänzt. Vor allem durch seine klärenden Auseinandersetzungen mit zahlreichen alten, jetzt wieder aufgeworfenen und mit den neu sich stellenden Fragen ist es zum Standardwerk jenes realistischen Erkenntnisstandpunktes geworden, der auch die Herausforderung des neuzeitlichen Transzendentalismus angenommen und in ihr glänzend
217 Vgl. Julius Oswald (Hrsg.), Schule des Denkens. 75 Jahre Philosophische Fakultät der Jesuiten in Pullach und München, Stuttgart 2000. 218 Vgl. zur Vita von Walter Brugger z. B. Art. Walter Brugger, in: Oberdeutsche Provinz der Gesellschaft Jesu (Hrsg.), An unsere Freunde. Informationen 3, München 1990, S. 30.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
bestanden hat.219 Die im Philosophischen Wörterbuch zum Ausdruck kommende Weite des Blickes von Walter Brugger, die Schärfe seines Denkens und der Mut, den ihm seine Wahrhaftigkeit verlieh, mögen die Gründe sein, die ihn veranlaßt haben, die bislang ausgebildete realistische Erkenntnisweise auf kühne Weise zu übersteigen. Unter dem Titel Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre legte er eine Untersuchung vor, die in grundsätzlicher Absicht die realistische Weltanschauung berichtigt. Sie eröffnet den Horizont für die realistische Erkenntnis desjenigen Seienden, das in der Weise des Zusammenseins besteht. Deswegen ist die genannte Erweiterung alles andere als eine Studie, die vermeintlich hinreichend Erklärtes nur mit größerer Klarheit und Deutlichkeit benennt. Sie betrifft vielmehr den Grund der von Aristoteles und der im aristotelischen Sinn ausgearbeiteten Lehre vom realistisch aufgefaßten Seienden. Soweit die realistische Erkenntnisauffassung diesem vorwärtsweisenden Einschnitt noch hinterherhinkt, muß man darauf vertrauen, daß sie ihren Rückstand zu gegebener Zeit bemerken wird. Die Rede des Terentianus Maurus ist hinreichend bekannt: Pro captu lectoris habent sua fata libelli, d.i. je nach der Fassungskraft des Lesers haben Schriften ihr Schicksal. Daß Walter Brugger die genannte Untersuchung gegenüber sachkundigen Einwänden verteidigt und verdeutlichend begründet hat, ist ausdrücklich zu erwähnen.220 Über eine Kritik an dieser Verteidigung und erklärenden Rechtfertigung ist nichts bekannt. Also stellt seine Erweiterung der Lehre von den Seinskategorien, wie Aristoteles sie formuliert hat, einen Grundsatz dar, der den aristotelischen Erkenntnisrealismus zukunftsträchtig fortentwickelt. Seine Ausarbeitung durch Walter Brugger ist im folgenden wiederzugeben. Darüber hinaus ist sie dergestalt zu vervollständigen, daß sie als Bedingung einer jeden Einsicht insbesondere in das humane Zusammensein zu gelten beanspruchen kann, also in die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Inzwischen ist es in der vorliegenden Untersuchung geläufig, daß der aristotelische Realismus zwei Bestände als ursprüngliche Seinsweisen des endlich Seienden kennt. Der erste dieser Bestände ist die Substanz. Substantiell ist das, was als Sein-in-sich besteht. Man kann dieses Sein auch als Selbstand bezeichnen. Der zweite der Bestände ist das Akzidens. Akzidentell ist das, was als 219 Vgl. Walter Brugger, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 1947, S. V f.; das Werk ist zuletzt Freiburg/Basel/Wien 1998 in 23. Auflage bzw. als Studienausgabe 2000 in 8. Auflage erschienen. Eine überarbeitete Neuausgabe ist angekündet. 220 Vgl. Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956; ergänzter Wiederabdruck in: ders., Kleine Schriften zur Philosophie und Theologie, München 1984; vgl. im Zusammenhang mit dieser Untersuchung Walter Brugger, Art. Substanz, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe Band 5, München 1974; Wiederabdruck in: ders., Kleine Schriften zur Philosophie und Theologie, München 1984.
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Sein-in-einem-Anderen besteht. Dieses Sein kann man auch als Zustand benennen. Wandelt der Selbstand im Ganzen des endlich Seienden sich nach Stufen, Formen und Graden ab, so werden als Zustände in der Regel die Quantität, die Qualität und die Relation aufgezählt. Weitere Bestimmungen von Seiendem sind Eigenschaften, also Bestimmungen eines im angegebenen Sinn vorgängig Bestimmten. Nach der Auffassung des Aristotelismus erschöpfen der Selbstand und der Zustand die Urweisen des endlich Seienden. Über sie hinaus gibt es keine weiteren ursprünglichen Weisen des Bestehens von Etwas. Um diese Auffassung der Seinskategorien zu verdeutlichen, verweist der aristotelische Realismus auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Ihm zufolge bestimmen der Selbstand und der Zustand das endlich Seiende in ihren ursprünglichen Seinsweisen. Was auf endliche Weise ist, besteht entweder in sich oder es verdankt sein Sein einem solchen Bestand. Walter Brugger rekapituliert diese über die Zeiten hin herrschende Auffassung wie folgt, wobei er um der Eindeutigkeit willen die Schlüsselbegriffe in der lateinischen Gelehrtensprache wiedergibt: „Nichts scheint einleuchtender“ zu sein, so schreibt er, „als daß einem ens ab alio“, d.i. einem verursacht Seienden, „das also mit seinem esse nicht schlechthin identisch ist, das esse entweder in sich (in se) oder in einem anderen (in alio) zukommt.“221 Mit dieser Wiedergabe der Bestimmung der Seinskategorien, wie sie seit den Zeiten des Aristoteles zu gelten beanspruchen, ist die anstehende Problematik eröffnet. In ihr ist festzuhalten, daß der Selbstand und der Zustand Seinskategorien des endlich Seienden sind. Durch die Zeiten hat die aristotelische Lehre von den Kategorien den philosophischen Stürmen getrotzt, und sie behauptet sich bis heute. Anders verhält es sich jedoch mit der Auffassung, daß der Selbstand und der Zustand die Kategorialität des endlich Seienden erschöpfen. Ihr entgegen muß man fragen, ob es zutrifft, daß die ursprünglichen Weisen des endlich Seienden nur als Selbstand und als Zustand bestehen, beide im überkommenen Sinn begründet und verstanden. Scharfsinnig deren Verhältnis ins Auge fassend, bemerkt Walter Brugger, daß der Gegensatz zwischen dem Selbstand und dem Zustand, der sie vermeintlich als allein bestehende Urweisen des endlich Seienden ausweist, keineswegs ein uneingeschränkter Gegensatz ist. Denn die genannte Kategorialität ist nur dann erschöpfend, wenn der Zustand, der erklärtermaßen dem aktiven Verhalten des Selbstandes entspringt, als dieser den Selbstand in jeder Hinsicht verneint. Lateinisch ausgedrückt: Das Verhältnis zwischen dem Selbstand und dem Zustand ist nur dann erschöpfend, wenn das ens in alio ein esse non in se ist, d.i. wenn der Zustand als Verneinung des Selbstandes besteht. Bei positiven Seinsverhältnissen, die hier zur Diskussion stehen, ist das ens in alio d.i. das Sein-in-einem-Anderen, jedoch keineswegs ein esse non in 221 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956, S. 371.
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se, d.i. kein Sein, das bestimmt ist durch sein Nicht-in-sich-Sein. Das Sein-ineinem-Anderen zeichnet sich jedoch ganz und gar nicht dadurch aus, daß es das Sein-in-sich verneint. Vielmehr ist es dadurch bestimmt, daß es vom Sein-insich abhängt, ihm anhaftet und es auszeichnet. Diese Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen dem herkömmlich verstandenen Selbstand und dem herkömmlich verstandenen Zustand als eines sich nicht ausschließenden Gegensatzes ist die Bedingung für den Schluß, daß eine dritte realistische Seinskategorie widerspruchsfrei denkmöglich ist. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg zur Erweiterung der Seinskategorialität des realistisch aufgefaßten Seienden. Der zweite Beweisschritt stellt sich als die Frage nach der Beschaffenheit des ens in alio. Das ist deswegen der Fall, weil das ens in se angesichts eines esse, das als Vollkommenheit schlechthin gedacht wird, in umfassender Weise sich darin genügt, worin bzw. als was es da ist. Demgegenüber genügt das ens in alio nicht sich selbst. Jeder Zustand verdankt sich vielmehr einem Selbstand. Was dieses Sichverdanken besagt, gilt es zu prüfen. Die geläufige Auffassung meint, daß ein Zustand der Zustand eines Selbstandes ist. Im weitesten Sinn ist diese Rede auch richtig. Des genaueren betrachtet, besteht dieses Urteil jedoch in einem doppelten Sinn. Dieser doppelte Gehalt gründet im nicht eindeutigen Sinn des Wortes „ein(s)“. Der Ausdruck „ein(s)“ ist zum einen ein Eigenschaftswort, des näheren ein Eigenschaftswort der Zahl. Er bezeichnet eine Menge, nämlich diejenige, die nicht als Vielzahl besteht. In diesem Sinn ist die Rede zum Beispiel von einem Buch im Gegensatz zu vielen Büchern, von einer dieser Frauen im Gegensatz zu mehreren dieser Frauen, von Einem, das sich von einem anderen Einen unterscheidet, usw. Das Wort „ein(s)“ hat aber noch eine andere Bedeutung. In diesem Sinn ist es ein unbestimmtes Fürwort. „Ein(s)“ besagt dann soviel wie Manches oder Etwas. So verstanden, redet zum Beispiel ein „Mensch“ auf einen anderen „Menschen“ ein und läßt ihn wissen: Ich muß dir noch eins sagen, d.h. dies oder das. Oder man kennt den Ausruf: Das ist aber einer! Oder: So einer tut es! Will man sich im Deutschen genau ausdrükken, besitzt man im Fall der Zahleigenschaft nur die Möglichkeit, den Ausdruck „ein(s)“ zu verwenden; im Fall des unbestimmten Fürworts bietet sich die verstärkende Vorsilbe „irgend-“ an, also das Wort „irgendein(s)“ zu bilden und zu verwenden. Klarer als diese Ausdrucksweisen sind die Möglichkeiten, die die lateinische Sprache bietet. In ihr läßt sich nämlich der zahleneigenschaftliche Sinn von „ein(s)“ durch das Wort unus ausdrücken und der unbestimmt-fürwortliche Sinn durch das Wort quis bzw. noch deutlicher durch das Wort aliquis. Für das Verständnis des Ausdrucks Sein-in-einem-Anderen sind die genannten Bedeutungen des Wortes „ein(s)“ von besonderem Gewicht. Denn es ist nicht einerlei, ob man den Zustand als Zahlenbestand in einem Anderen oder als unbestimmten Bestand in irgendeinem Anderen auffaßt. Freilich ist es richtig, daß vom Ursprung her und durch die Zeiten hindurch bis in die Gegenwart hinein die genannte Unterscheidung ungeläufig ist. Diese mangelhafte Aufmerk-
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samkeit hat zur Folge, daß das Gezählt-Eine mit dem Unbestimmt-Einen gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung führt dazu, daß der Zustand durchgängig als Bestand in einem Anderen im zahlenmäßigen Sinn aufgefaßt wird. Lateinisch gesprochen, wird das ens in alio als ens in alio uno verstanden. Im Gegensatz zu dieser Auffassung folgt der Bestimmung des Zustandes als eines Bestandes in irgend einem Anderen die Notwendigkeit der Unterscheidung des zahleneigenschaftlich aufgefaßten „ein(s)“. Dieses „ein(s)“ kann nämlich ein Zustand in einem Anderen in der Einzahl sein oder ein Zustand in einem Anderen in der Mehrzahl. Lateinisch ausgedrückt, kann das ens in alio ein ens in alio uno sein oder ein ens in aliis pluribus. Die unbestimmt-fürwortliche Auffassung des „ein(s)“ im Ausdruck Sein-in-einem-Anderen trägt somit der überkommenen Meinung Rechnung, daß der Zustand ein Zustand zunächst eines zahlenmäßig einen Selbstandes ist. Zugleich eröffnet sie aber eine über diese hinausgehende Deutung des Ausdrucks „ein(s)“. In der Folge muß man von zwei Beschaffenheiten „eines“ Zustandes sprechen: Was Zustand ist, kann (1) der Zustand eines Selbstandes sein sowie (2) der Zustand irgendeines Selbstandes, also der Zustand mehrerer Selbstände. Walter Brugger benennt diesen Unterschied wie folgt: Soweit man das „in alio ganz unbestimmt auffaßt, ist dies auch richtig. Dann aber kann es ausgelegt werden als in uno oder in pluribus. Stillschweigend hält man aber das esse in pluribus, als eigene Wirklichkeitsweise genommen, wenn man überhaupt daran denkt, für unmöglich und setzt dann in alio einfach gleich mit in alio uno.“ Den von ihm aufgedeckten Unterschied bekräftigend, schließt er seine Zusammenfassung wie folgt ab: „Mag es nun mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des esse in pluribus stehen wie man will, so ist doch eines gewiß, daß man sich für den ausschließenden logischen Gegensatz von esse in se und esse in alio (uno) keineswegs auf das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten berufen kann. Dieses Prinzip läßt vielmehr den Platz für ein esse in pluribus offen.“222 Sofern der Zustand des Seins-in-mehreren-Anderen als ein Bestand gedacht werden kann, der sich vom Zustand des Seins-in-einem-Anderen unterscheidet, muß die Aufmerksamkeit des Erkennens sich jenem Sein-in-mehreren-Anderen zuwenden. Die Bestimmung der Beschaffenheit des Seins-in-mehreren-Anderen ist der zweite Beweisschritt auf dem Weg zur Erweiterung der realistischen Seinskategorialität. Seinen Ausgang kann dieser Schritt von der Feststellung nehmen, daß nach der getroffenen Unterscheidung logisch drei verschiedene ursprüngliche Seinsweisen des endlich Seienden bestehen. Diese drei Seinsweisen oder Seinskategorien sind (1) die Substanz oder der Selbstand sowie (2) das Akzidens oder der Zustand dergestalt, daß das Akzidens oder der Zustand (2.1) nach dem herkömmlichen Verständnis als Weiterbestimmung eines Selbstandes und (2.2) nach der aufgezeigten Unterscheidung als Weiterbestimmung mehre222
Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 372.
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rer Selbstände besteht. Zum Zweiten: Angesichts dieses Befundes wie angesichts der verpflichtenden Tradition ist es unumgänglich, klärend darüber zu entscheiden, wie der Name des Akzidens bzw. der Name des Zustandes verwendet werden soll. Von einem ersten und einem zweiten Akzidens bzw. von einem ersten und einem zweiten Zustand zu sprechen, kann kaum befriedigen. Eine solche Redeweise hat nichts Griffiges an sich. Sie dürfte deswegen die Erkenntnis des bis jetzt ungeläufigen Seins-in-mehreren-Anderen wenig befördern. Aus diesem Grund sei vorgeschlagen, den Namen des Akzidens bzw. den Namen des Zustandes zur Benennung der Weiterbestimmung des Selbstandes in der Einzahl zu verwenden, um nicht zu sagen, beizubehalten. Zur Bezeichnung von Beständen im Sinn des Seins-in-mehreren-Anderen müßte somit ein neuer Name gefunden werden. Er hat ebenso treffend-klar wie unterscheidend-deutlich zu sein. Um über ihn befinden zu können, ist man gehalten, wenigstens im Umriß die Merkmale anzugeben, die die widerspruchsfrei denkmögliche dritte ursprüngliche Seinsweise des endlich Seienden besitzt. Was also kennzeichnet das ens in (aliis) pluribus, d.i. das Sein-in-mehreren(-Anderen) und unterscheidet dieses Sein deswegen vom ens in (alio) uno, d.i. das Sein-in-Einem(-Anderen)? Walter Brugger benennt die Merkmale der dritten ursprünglichen Seinsweise wie folgt: Der Zustand – wenn so zu reden noch einmal erlaubt sein soll –, der „Zustand“ also von irgendwelchen Selbständen „läßt sich als jene besondere Art des Seins bestimmen, die mehreren Substanzen in realer Gemeinschaft zukommt“. Er „setzt das substantielle Sein und die reale Vielheit der Glieder voraus und hebt sie nicht auf“. Der „Zustand“ von irgendwelchen Selbständen „setzt auch vielfältige akzidentelle Bestimmungen, Beziehungen und Tätigkeiten der Glieder voraus und ist von ihnen abhängig, ohne doch in ihnen aufzugehen und zu bestehen“. Für den genannten „Zustand“ ist wesentlich, daß er „eine neue, ontische, übergreifende Einheit der Glieder konstituiert, eine neue unableitbare Ganzheit, die weder die einer Substanz ist, in der die Substantialität der Glieder untergehen müßte, noch ein sogenanntes unum per accidens, das additiv aus den Gliedern entspringen würde“.223 Ein hellhöriges Studium dieses Textes wird keine Mühe haben, ihn richtig zu verstehen. Es wird ohne weiteres die Bedeutung erkennen und sich zu eigen machen, die in ihm vor allem die zentralen, dennoch althergebrachten Ausdrücke besitzen. Zu erkennen ist, daß sie keine ursprüngliche Seinsweise in diesem oder jenem Sinn benennen oder auch nur andeuten, sondern aus der geläufigen Sprache Worte verwenden, um mit ihrer Hilfe die neue Erkenntnis auszusprechen. Zur überkommenen Redeweise zählen im besonderen die Ausdrücke der „realen Gemeinschaft“, der „Vielheit der Glieder“, der „unableitbaren Ganzheit“ und der „Substantialität der Glieder“. Diese Benennungen sind nichts anderes als sprachlich bekannte Mittel, des näheren das zu bezeichnen, was die 223
Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 374.
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Bestimmung in grundsätzlicher Absicht als „neue, ontische, übergreifende Einheit“ bezeichnet. Es ist diese bisher ungedachte Einheit, die das ens in aliis, d.i. das Sein-in-Mehreren, kennzeichnet. Als Urmodus des endlich Seienden ist sie in Sonderheit von allen einzelnheitlichen und von allen ganzheitlichen Existenzweisen der humanen Existenz verschieden und damit auch von deren Auffassung als gesellschaftliche Ordnungseinheit bzw. als gesellschaftliche Sinnganzheit. Exkurs über die Benennung der dritten ursprünglichen Seinsweise des endlich Seienden: Mitsein oder Zusammensein? Bemüht, der neu gedachten ursprünglichen Seinsweise des endlich Seienden einen treffenden Namen zu geben, schlägt Walter Brugger vor, die genannte Seinskategorie als Mitsein zu benennen. Ihm erscheint diese Bezeichnung deswegen als vernünftig, weil sie das Sein-in-Mehreren ebenso klar benennt, wie sie es vom Sein-in-Einem, also vom Zustand, und sodann auch vom Sein-insich, also vom Selbstand, unterscheidet. Freilich ist der Ausdruck des Mitseins in der philosophischen bzw. in der wissenschaftlichen Sprache keine neue Wortbildung. Sprachschöpferisch hat den Begriff des Mitseins Martin Heidegger (1889–1976) im Rahmen seiner Fundamentalontologie geprägt. Das ist der Grund, aus dem Walter Brugger sich veranlaßt sieht, darauf hinzuweisen, daß er diesen Namen entsprechend seiner seinskategorialen Fragestellung „in einem anderen, wenngleich verwandten Sinn gebraucht“224. Bekanntlich zielt Heideggers Philosophie auf die Erkenntnis des Seins, genauer auf die Erkenntnis des Sinns von Sein. Dieser gibt sich wesentlich im Dasein kund, d.h. im Existieren der humanen Existenz. Deswegen besteht die vordringliche Aufgabe der Philosophie in einer „Analytik“ des Daseins, also in der Erkenntnis der wesentlichen Wirklichkeitsweisen des humanen Existierens. Zusammenfassend bezeichnet Heidegger diese Wirklichkeitsweisen als Existenzialien. Über sie spricht er in meisterhaften Veranschaulichungen. Als grundlegendes Existenzial benennt er die Befindlichkeit des Daseins, also die Gestimmtheit, in der der „Mensch“ sich schon immer vorfindet. Diesen Aufweis vertiefend, schreitet er voran zur Bestimmung der weiteren humanen Existenzweisen, wie sie sich ihm darstellen. Sie bestehen im In-der-Welt-Sein, in der Geworfenheit, in der Sorge und in zahlreichen weiteren „Seinscharakteren des Daseins“. Unter ihnen findet sich nicht zuletzt das Existenzial des Mitseins. Heidegger zufolge ist die Welt des Daseins „schon immer die“, „die ich mit Anderen teile“. Das ist der Grund, aus dem die humane Existenz als ein Existieren mit anderen humanen Existenzen besteht. „Das Dasein ist wesenhaft Mitsein“225, urteilt Heidegger zusammenfas224
Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 375. Heidegger, Sein und Zeit (zuerst Halle 1927), hier zitiert: Tübingen 1953 , S. 118 und S. 120. 225 Martin 7
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send. Im Fall dieser Bestimmung ist wie in allen anderen vergleichbaren Fällen Heideggers erkennender Blick, wie erwähnt, auf das Sein gerichtet. Das Dasein in seinen Existenzialien interessiert nicht als dieses, sondern nur insoweit, als es das Fundament der Ontologie darstellt. Zurecht hält Walter Brugger deswegen fest, daß der Aufweis des Mitseins wie Heidegger „es sichtbar macht und versteht“, nicht zum Erkenntnisziel hat, „bestimmte, geschlossene und geprägte Ganzheiten wie die Sozialkörper der Gemeinschaften“ zu erfassen. Heideggers Philosophie, die auf die Erkenntnis des Seins gerichtet ist, begreift das Mitsein nur insoweit, als es „als Grundlage aller Vergesellschaftung“ besteht, „aber . . . nicht diese selbst“226. Das Mitsein als solches, d.h. dieses, insofern es bestimmte Seinszusammenhänge begründet und formt, läßt er auf sich beruhen. Die Erkenntnis zielt nicht auf das endlich Seiende, das durch das Mitsein seinskategorial bestimmt ist. Wird in der Fundamentalontologie das Sein vom „Menschen“ her gedacht, so wird im metaphysischen Realismus der „Mensch“ – und über ihn hinaus alles entsprechend verfaßte Seiende – vom Sein her gedacht, was des näheren besagt, von den Urmodi des Seienden her und damit auch vom Urmodus des Mitseins. Diese Erkenntnisrichtung einhaltend, erklärt Walter Brugger mit dem Blick auf die humane Existenz das Mitsein abschließend wie folgt: „In unserer Arbeit . . . geht es“ nicht um die Erkenntnis eines Existenzials, das Sein erhellt, sondern „um die kategoriale Eigenart des gesellschaftlichen Seins an sich selbst“227. Erkenntnisgeschichtlich betrachtet, gehört der von Heidegger geprägte Begriff des Mitseins als seinserhellendes Existenzial inzwischen zum Bestand der zeitgenössischen und wohl auch der künftigen philosophischen Literatur. Die seinskategoriale Bedeutung, die Walter Brugger ihm gibt, ist neu. Ob sie verstanden wird und sich durchsetzt, hängt von der Bereitschaft der gelehrten Welt und schließlich des Alltags ab, neben dem Sinn, den der Ausdruck des Mitseins in der Fundamentalontologie Heideggers besitzt, ihn auch im Sinn einer realistischen Seinskategorie zu verstehen. Wie es scheint, ist der Wille hierzu gegenwärtig nicht ausgeprägt. Hinzu kommt, daß die eine und die andere Bedeutung des Ausdrucks des Mitseins bis auf weiteres ausdrücklich zu unterscheiden ist. Bedenken dieser Art legen es nahe, den Namen des Mitseins jedenfalls zunächst nur im existenzialen Sinn zu verwenden. Für die seinskategoriale Bedeutung des „Mitseins“, also für die Benennung des logisch gefundenen Seins-in-Mehreren, sollte ein anderer Ausdruck gefunden werden. Diesen Erwägungen folgend, lautet der eigene Vorschlag für die Benennung der dritten widerspruchsfrei denkmöglichen Seinskategorie wie folgt: Es dürfte 226 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956, S. 375. 227 Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 375 f.
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sinnvoll sein, das, was als Sein-in-Mehreren aufgewiesen wurde, mit dem Namen des Zusammenseins zu bezeichnen. In einer Kurzform könnte dieses Zusammensein auch als das Zusammen benannt werden. Es ist unterschieden von jeder Art von Zusammenhang. Unter den sprachlichen Möglichkeiten, die sich anbieten, scheint der Ausdruck des Zusammenseins gut geeignet zu sein. Denn wie kein anderes Wort ist es frei sowohl von alltäglichen als auch von wissenschaftlichen Bedeutungsgehalten, die den Sinn, den es ausdrückt, unklar lassen, indem sie ihn überlagern oder mit Nebenbedeutungen belasten. Wie es scheint, benennt er alle Bestände, von denen man sagt, daß sie von der Art des Verbindlichen, des Versammelten, des Gemeinsamen, des Übereinstimmenden und aller weiteren Beschaffenheiten vergleichbarer Natur sind. Die vorliegende Untersuchung wird deshalb jene dritte Denkmöglichkeit des endlich Seienden künftig als Zusammensein bezeichnen. *** Nach der Benennung der dritten möglichen Seinskategorie kann die vorliegende Untersuchung in ihrer systematischen Absicht fortfahren. Wie erinnerlich, hat sie mit der Feststellung begonnen, daß die Kategorien des Selbstandes und des Zustandes die realistische Seinskategorialität nicht erschöpfen. Indem sie es nicht tun, räumen sie ein, daß neben ihnen eine dritte Seinskategorie widerspruchsfrei denkmöglich ist. Diese Seinskategorie wurde in einem zweiten Beweisschritt als jener Bestand bestimmt, der nicht der Bestand eines Selbstandes ist, sondern der Bestand mehrerer Selbstände. Um diesen Unterschied zwischen den „Beständen“ so kenntlich als möglich zu machen, wurde vorgeschlagen, jenen Bestand mit dem herkömmlichen Namen zu bezeichnen, d.h. als Zustand und diesen Bestand als Zusammensein zu benennen. Um den genannten Gedankenschritt zu dieser Unterscheidung gehen zu können, war es nötig, das Zusammensein vorläufig zu kennzeichnen. Wie erinnerlich, sprach Walter Brugger von ihm als einer „neuen, ontischen, übergreifenden Einheit“ von Einheiten. Diese Beschaffenheit der möglichen dritten Seinskategorie ist im folgenden des näheren zu bestimmen. Die Merkmale des denkmöglichen Zusammenseins sind Merkmale eines Vermögens. Als dieses legt es endlich Seiendes ursprünglich fest und stiftet damit eine eigene Ordnung dieses Seienden. Die Seinsmacht, die es hierbei entfaltet, läßt sich am besten wohl durch einen Vergleich der Formkräfte bestimmen, die den drei Seinskategorien eigentümlich sind. Mit diesem Maß der Wirkfähigkeit gemessen, ist der Selbstand zweifellos die mächtigste der Seinskategorien. Daß der Selbstand im endlich Seienden als Selbstand eines ens ab alio besteht, d.i. eines Seienden, das von einem Anderen abhängt, nämlich vom ens a se, d.i. vom Sein-aus-sich, ändert an seiner vorrangigen Seinsmacht nichts. Einschränkend ist nur zu sagen, daß der Selbstand in verschiedenem Maße selbständig ist,
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nämlich nach dem Maß seiner Teilhabe am Sein-aus-sich. In jedem Fall ist er ausgezeichnet durch seine Absolutheit, also durch sein Unabhängigsein oder Losgelöstsein von einem Anderen. Der Selbstand besteht an sich, d.h. als Etwas, das sich nicht aus seinem Bezug auf ein Anderes erklärt, und er besteht für sich, d.h. er besteht darin, daß er sich zu sich selbst verhält. Kraft dieser Merkmale im allgemeinen, zeichnet der Selbstand sich im besonderen durch die folgenden drei Merkmale aus: Zum ersten ist er der Bezugspunkt der Verwirklichungen eines selbständig Seienden und damit der Grund ihrer Einheit. Er ist zum zweiten der Träger der Verwirklichungen jenes Seienden und damit ihrer Beharrlichkeit. Zum dritten ist er endlich der Ursprungsgrund der Verwirklichungen des genannten Seienden und insofern deren Bewirken. Das Ganze dieser Merkmale ist keine „graue Theorie“. Es ist erlebbar im Wirken des erlebenden Ich der humanen Existenz. Verglichen mit dem Selbstand, erweist der Zustand sich als seinsschwächere Kategorie. Stellt man den Zustand dem Zusammensein gegenüber, so zeigt sich, daß der Zustand sogar die schwächste der drei ursprünglichen Weisen des endlich Seienden ist. Nach der herkömmlichen Bestimmung und der vorgenommenen Vereindeutigung ist der Zustand ein durch und durch abhängiger Bestand. Man darf ihn deswegen als einen unselbständigen, wenn nicht sogar als einen auswechselbaren Bestand bezeichnen. Als nicht notwendiger Bestand ist er dadurch ausgezeichnet, daß er den Selbstand weiterbestimmt. Diese unselbständige Weiterbestimmung des Selbstandes besteht nach der herkömmlichen Auffassung zum ersten als Weiterbestimmung des Selbstandes an ihm selbst, d.h. als Quantität und als Qualität sowie als Weiterbestimmung hinsichtlich eines Anderen, d.h. als Relation. Diese Weiterbestimmungen können unmittelbar oder mittelbar sein, d.h. als Bestand von Etwas oder als Fähigkeit zu Etwas. Hervorgebracht wird ein Zustand durch dessen Selbstand in eigentümlichen, in freiwilligen oder in rückwirkenden Verwirklichungen. Wie schon bemerkt, sind die Zustände als Erstbestimmungen die Träger jener Bestände, die üblicherweise Eigenschaften genannt werden. In ihnen gibt das endlich Seiende sich als Erscheinung zu erkennen und ist insofern der Wahrnehmung zugänglich. Die Eigenschaften sind die Gegenstände der Erfahrungserkenntnis. Schließlich hat der erkennende Blick sich den Merkmalen des Zusammenseins zuzuwenden. Er wird zum ersten feststellen, daß das Zusammensein dem Selbstand nicht unähnlich ist, wenn es erlaubt ist, so zu sprechen. Ohne freilich so beschaffen zu sein, wie der Selbstand beschaffen ist, formt es Bestände, indem es dessen Verwirklichungen eint, beharren läßt und hervorbringt. Hierzu ist das Zusammensein dadurch befähigt, daß es „so wie“ ein Selbstand besteht. Das will besagen, daß es ein In-sich-Sein ist, freilich bloß formender Natur. So beschaffen, vermag es Eins und noch Eins usw. nicht nur zu binden, sondern zu verbinden. Dieses Verbinden kann so weit gehen, daß es die betreffenden Selbstände nicht nur zwingend eint, sondern überdies sogar in Frage stellt, also
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aus dem Verbund aussondert und dadurch auf Gedeih und Verderb sich selbst überläßt. Andererseits ist jedoch festzustellen, daß das Zusammensein eine „ohnmächtige Form“ ist, also nicht mehr als eine Ermöglichung. Wirklich ist es nur, wenn es sich auf Selbstände mit deren zuständlichen Weiterbestimmungen bezieht. Alles wirklich bestehende Zusammensein ist immer ein Zusammensein von Etwas. Dieses Merkmal der Abhängigkeit rückt das Zusammensein in die Nähe des Zustandes. Das Zusammensein überrascht also in seinem Sein, dessen Merkmale alles andere als vertraut sind. Behelfsweise darf man sagen, daß das Zusammensein weniger wirkfähig ist als der Selbstand, daß es aber wirkmächtiger ist als der Zustand. Sein Vermögen liegt, bildlich gesprochen, irgendwo zwischen dem des Selbstandes und dem des Zustandes. Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, für den Merkmalszusammenhang des Zusammenseins einen geeigneten Namen zu finden. Folgt man dem Vorschlag Walter Bruggers, besteht das Zusammensein als ein dem Selbstand entsprechendes Sein. Er schreibt: Da den durch das Zusammensein „konstituierten Gegenständen . . . ein wirkliches In-sich und Für-sich-sein zukommt (das die jeweiligen substantiellen Komponenten“, die „unter sich auswechselbar“ sind, „als Vorstufe voraussetzt), könnte man von einer ,analogen Substantialität‘ sprechen oder von Substanzen höherer Stufe“. Wie es scheint, dürfte mit der Kennzeichnung des Zusammenseins als „Substantialität im analogen Sinn“228 ein treffender Name für das Merkmalsganze des Zusammenseins gewonnen worden sein. Das Zusammensein ist ein dem Selbstand entsprechender Bestand. Nach der überkommenen Lehre von den Seinskategorien ist jedes endlich Seiende, das als Realität besteht, eine Ganzheit, die aus Elementen gebildet ist. Diese Elemente werden als bleibender Selbstand und sich wandelnder Zustand gedacht. Was besteht, besteht also als das Ganze eines zuständlichen Selbstandes. Da nach der herkömmlichen Auffassung jeder endliche Bestand sich in dieser Kategorialität erschöpft, schreitet die Erkenntnis des endlich Seienden dadurch voran, daß sie die inneren Ursprungsgründe des Aufbaus des Seienden zu erfassen sucht. Hinsichtlich des Selbstandes wendet die Erkenntnis sich zunächst der Wesenheit und dem Dasein von Etwas zu und, sofern es sich um ein endlich Seiendes als einem körperlich Seienden handelt, sodann seiner Materie und seiner Form. Diesem Bemühen folgt das Erkennenwollen der Zustände, in Sonderheit der notwendigen Zustände des in Frage stehenden Selbstandes, die diesen gleichsam umschließen. Die Erkenntnis der genannten Aufbaugründe und der zwischen ihnen waltenden Verhältnisse erschöpft die kategoriale Erkenntnis eines endlich Seienden. Denn nach der Erkenntnis der ursprünglichen Seinsweisen als den höchsten Gattungen von Etwas, ist jede weitere Erkenntnis von geringerer Allgemeinheit. Bekanntlich bewegt sie sich zunehmend „ab228 Walter Brugger, Art. Substanz, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/ Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe, Band 5, München 1974, S. 1456 f.
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wärts“ über die je besondere Gattung zur Art und über diese zum real existierenden Einzelnen. Also wird herkömmlich die Begrifflichkeit als ein Aufbau verstanden, der sich abstuft von den höchsten, also den seinskategorialen Begriffen zu den untersten Begriffen, also denen des Einzelnen. Daß dieser Aufbau auch „aufwärts“ gedacht werden kann, ist selbstverständlich. Über diesen Blick auf die Begrifflichkeit ist hier jedoch nicht zu sprechen. Daß der genannte Bau der Begriffe nach der Erweiterung der Lehre von den Seinskategorien um die Kategorie des Zusammenseins zu überdenken ist, dürfte einleuchten. Denn nach ihr gibt es eine Ordnung der Ordnungen der Begriffe des endlich Seienden. Nach ihr ist zu berücksichtigen, daß zwischen den Kategorien und den „unter“ ihnen liegenden letzten Gattungen, also „abwärts“ gedacht, seinskategoriale Ordnungen walten. Sie ergeben sich notwendig aus den Verhältnissen, die zwischen den Kategorien bestehen. Die erste von ihnen könnte man als grundstufige Ordnung oder als erste Ordnungsstufe bezeichnen, die zweite als höherstufige oder als zweite Ordnungsstufe. Mit anderen Worten und zusammenfassend gesagt: (1) Kategorien des endlich Seienden sind der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein. (2) Diese Kategorien verhalten sich zueinander im Sinn der Ganzheit des zuständlichen Selbstandes und des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen. (3) Diese kategorialen Ganzheiten bestehen als kategoriale Ordnungsstufen. (4) Ihnen zufolge ordnet das endlich Seiende sich (4.1) nach den Kategorien einerseits und (4.2) nach den kategorialen Ordnungsstufen andererseits. Also gilt von der Erkenntnis des endlich Seienden, daß sie im allgemeinen schlechthin eine Erkenntnis seiner Kategorien und sodann eine Erkenntnis seiner seinskategorialen Ordnungsstufen ist. Gegliedert in die Kategorien und in die aus ihrem Verhältnis folgenden seinskategorialen Ordnungsstufen, besteht die Erkenntnis der Ordnung der Welt im realistischen Sinn somit als ein seinskategoriales Gefüge. Dieses ist der herkömmlichen Kategorienlehre unbekannt. Das aufmerksam gewordene Erkennen wird sich deswegen zunächst der erweiterten Kategorialität zuwenden und sodann die bisher unbekannten kategorialen Ordnungsstufen des zuständlichen Selbstandes und des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen ins Auge fassen. Zu bedauern ist, daß die Untersuchung von Walter Brugger auf die seinskategorialen Ordnungsstufen nicht eingeht. Sie verbleibt in der Ebene der Seinskategorialität, indem sie sich auf den Hinweis beschränkt, daß es neben den „grundstufigen“ Bestände, also neben denen, die durch den Selbstand bestimmt sind, auch „höherstufige“ Bestände gibt, also diejenigen, die das Zusammensein ausbildet. Die Folge, daß aus der Kategorie des Zusammenseins die kategoriale Ordnungsstufe des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen folgt, wird nicht ins Auge gefaßt. Die realistische Erkenntnis entfaltet sich jedoch erst dadurch zur geforderten weltanschaulichen Einsicht, daß sie auch über den inneren Aufbau und den Bestand des Seienden urteilt, soweit es als Zusammensein von zuständlichen Selbständen besteht.
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Die erwähnten Seinskategorien des Selbstandes, des Zustandes und des Zusammenseins sowie die seinskategorialen Ordnungsstufen des zuständlichen Selbstandes und des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen finden sich im Ganzen des endlich Seienden. So, wie die Welt besteht, ist sie durch diese oder durch jene ursprüngliche Seinsweise sowie durch diese oder jene ursprüngliche Ordnungsstufe bestimmt. Allerdings besitzt das endlich Seiende keineswegs durchgängig dieselbe Seinsbeschaffenheit. Es ist vielmehr unterschiedlich vollkommen verwirklicht. Deswegen spricht man davon, daß die Welt ein Schichtengefüge darstellt. Zumeist werden diese Schichten als Seinsgrade oder als Vollkommenheitsgrade bezeichnet. Ihr Bestand erschließt sich einer Besinnung des „Menschen“ über sich selbst. Wie sehr er sich auch als ein einheitliches Wesen erfährt und denkt, so beurteilt er sich doch auch als körperlich einerseits und als geistig andererseits beschaffen, und er weiß um den Unterschied, der zwischen der Seinsmächtigkeit des Körpers und der des Geistes besteht. In der Erforschung der Welt findet der „Mensch“ diese Seinsgrade wieder in Beständen, die in sich begründet sind. Als Ergebnis einer langen Geschichte der Erkenntnis wird heute in der Regel der Seinsgrad des „Menschlichen“ herausgehoben und vom Seinsgrad des „Untermenschlichen“ einerseits und vom Seinsgrad des „Übermenschlichen“ andererseits unterschieden. In einer aufsteigenden Linie gedacht, also emporsteigend vom Stoff zum Geist, baut das endlich Seiende sich des näheren wie folgt auf: Der am wenigsten vollkommene Seinsgrad ist der bloße Stoff, also das Unbelebte oder das Anorganische, wie man zu sagen pflegt. Ihm übergeordnet ist der Seinsgrad des Pflanzlichen, also das Vegetative oder das Vitale. Dieser Seinsgrad wird überstiegen vom Leben der Tiere, also vom Animalischen oder Sensitiven. Diesem Grad wiederum überlegen ist die Vollkommenheit des „Menschlichen“. Es wird herkömmlich im statischen Sinn als animal rationale, d.i. als vernünftiges Sinnenwesen bezeichnet.229 Im dynamischen Sinn wird es am besten wohl als humane Existenz benannt, d.i. der „Mensch“ in seiner Natur, womit zum Ausdruck gebracht sein soll, daß er in seiner Wirklichkeit verstanden wird, d.h. von seinem Wirken her, das Werke schafft. Als den „menschlichen“ Seinsgrad überragend, findet sich die Vollkommenheit des geistigen Seins, sei es im Sinn des subjektiven, sei es im Sinn des objektiven Geistes. Nach der überkommenen Auffassung ist damit „der Aufbau der realen Welt“, wie Nicolai Hartmann (1882–1950) sich ausdrückte, erschöpfend gekennzeichnet. Inwieweit der benannte Zusammenhang des endlich Seienden vom unendlich Seienden abhängt und deswegen von ihm bestimmt wird, braucht hier nicht erörtert zu werden. 229 Vgl. zur Problematik und Berechtigung dieser Bestimmung z. B. Walter Brugger, Grundzüge einer philosophischen Anthropologie. Abschnitt: Die vielfache Bedeutung des Wortes „Mensch“, München 1986, S. 30 ff. – Vgl. auch die zum Schmunzeln Anlaß gebende Untersuchung von Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin 1938, mit ihrer Auflistung der Bezeichnung für den „Menschen“ S. 3 ff.
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Von den aufgeführten Seinsgraden des endlich Seienden gilt, daß in ihnen die erwähnten Seinskategorien und seinskategorialen Ordnungsstufen walten. Sie prägen das verschieden vollkommen Seienden bald auf diese, bald auf jene Weise aus und ordnen es zu dieser und zu jener Ordnungsstufe. Freilich ist zugleich festzustellen, daß die Erkenntnis der verschiedenen Grade der Natur, die Erkenntnis des „Menschen“ und auch die Erkenntnis des Geistes, so, wie diese gegenwärtig ausgebildet sind, nahezu durchgängig nur die Kategorie des Selbstandes und die Kategorie des Zustandes kennen. Daß die gegenwärtige fachwissenschaftliche Erkenntnis überdies die Substanz von Etwas zumeist als Aktualität auffaßt, mag im vorliegenden Zusammenhang ebenso auf sich beruhen wie die allenthalben zu beobachtende Tatsache, daß bevorzugt die Zustände von Etwas, wenn nicht diese allein als Relationen und Quantitäten ins Auge gefaßt werden. Je mehr das Erkennen als solchermaßen „empirisches“ einseitig wird, desto mehr läßt sich feststellen, in welchem Maße die angedeuteten Erkenntniseinstellungen dazu gedrängt werden, Erscheinungen berücksichtigen zu müssen, die zum ersten in gewisser Weise beharrend und zum zweiten „mehr“ sind als Häufigkeiten von Beziehungen. Mit anderen Worten: „Hinter“ jenen Erscheinungen meldet sich das Zusammensein zu Wort. Da es als seinskategoriales Zusammensein jedoch etwas Unbekanntes ist, behilft sich die Erkenntnis in unseren Tagen sowohl als alltägliche Erkenntnis wie als natur-, als human- wie als gesellschaftswissenschaftliche und auch als geisteswissenschaftliche mit allerlei Vorstellungen, um jenen Gegenständen der Erfahrung sich anzupassen. In diesem Sinn, also in der Absicht, eine ursprüngliche Seinsweise zu benennen, ist beispielsweise die Rede von Mengen oder von Massen, von Summen und von Gesamtheiten, von Ganzheiten oder von Organismen. Nach den Erfordernissen der Forschung in unseren Tagen werden diese Kennzeichnungen durch zahlreiche weitere Benennungen ergänzt. Die Rede ist von Aggregaten und von Assoziationen, von Kollektiven und Systemen, von Netzwerken und von Kommunikationen. Der so vielfältig benannte Sachverhalt, der ehedem und bisweilen bis heute kurz und bündig als Vieleinheit bezeichnet wurde bzw. bezeichnet wird, stellt offenkundig eine Erkenntnisproblematik ersten Ranges dar. Wie es scheint, bildet sich unter diesen Umständen das Bestreben aus, jene Erscheinungen mit Hilfe des Namens des Ökologischen zu verstehen und zusammenzufassen. Natürliches, „Menschliches“ und Geistiges scheinen gleichermaßen nicht als „Zusammenhang“, sondern „haushaltsmäßig“ beschaffen zu sein. Vieles spricht dafür, daß die Absicht dieses Erkennens vernünftig ist. Aber es kann keinen Zweifel darüber geben, daß sie sich in der Beschreibung ihrer Erscheinungen erschöpft. Der Begriff des Ökologischen erreicht nicht die Allgemeinheit, die vor Augen stehenden Erscheinungen des endlich Seienden in ihrer ursprünglichen Seinsweise zu erfassen. Der Begriff der Ökologie ist kein kategorialer Begriff. Hinzu kommt, daß er bestenfalls nur in Ansätzen eine Ahnung von der kategorialen Ordnungsstufe des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen
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zum Inhalt hat. Vom Ganzen dieser angedeuteten Bemühungen ist die Untersuchung von Walter Brugger verschieden. Sie zielt auf nicht weniger als auf die Bestimmung jener Seinskategorie, die als Urmodus den einen Grund der vielen genannten Erscheinungen darstellt. Damit ist die Frage nach der Realmöglichkeit des Zusammenseins des endlich Seienden aufgeworfen, nachdem aufgewiesen worden ist, daß der Selbstand und der Zustand die Seinskategorialität nicht erschöpfen, weshalb sie um die Seinskategorie des Zusammenseins erweiterungsfähig ist. Walter Brugger eröffnet seinen dritten Beweisschritt, also denjenigen der realen Möglichkeit des Zusammenseins, mit dem Hinweis, daß dieser Schritt auf einem der Seinsgrade erfolgen soll. Seine Wahl fällt auf den Seinsgrad des „Menschlichen“. Abweichend von der bisher verwendeten, weil überkommenen Redeweise, spricht er von ihm als einem Sonderbereich des endlich Seienden. Kraft der analogen Beschaffenheit der Seinsgrade im Ganzen ist die Behauptung begründet, daß der auf einem Grad erbrachte Nachweis auch auf allen weiteren Vollkommenheitsschichten gilt. Bildlich gesprochen kann man sagen, daß es nicht notwendig ist, einen Berg abzutragen, wenn auch eine Gesteinsprobe genügt. Was die Begriffsbildung betrifft, so fällt freilich die Meinung Walter Bruggers auf, daß er das real aufgebaute humane Zusammensein von zuständlichen Selbständen, also den realen Bestand, der üblicherweise Gesellschaft genannt wird, d.i. lateinisch ausgedrückt das esse societatis, als esse sociale, d.i. als soziales Sein bezeichnet. Über diese Benennung muß zu gegebener Zeit noch gesprochen werden. Es dürfte nämlich zweckmäßig sein, den Ausdruck des esse sociale nur in einem engeren Sinn zu verwenden. Er eignet sich, als Inbegriff der gesellschaftlichen Existenzkategorialität verwendet zu werden, also für die Formen des Bestandes einer Gesellschaft. Indem diese Anmerkung zur Begrifflichkeit des humanen Zusammenseins vorgetragen ist, soll die vorliegende Untersuchung sich der Beweisführung von Walter Brugger zuwenden, der eingangs schreibt: „Die Ausführungen über den Begriff“ des Zusammenseins „wurden absichtlich abstrakt gehalten und ohne Beispiel gegeben. Obwohl sich konkrete Beispiele geben lassen . . ., so handelt es sich hier doch um eine Kategorie, d.h. eine der Grundweisen des endlichen Seins, von der zu erwarten ist, daß sie nicht nur in einem Bereich, etwa dem der menschlichen Gemeinschaften, verwirklicht ist. Konkrete Beispiele dürfen nicht dazu verführen,“ das Zusammensein „begrifflich einzuengen und ihm Merkmale zuzuschreiben, die vielleicht nur für einen Bereich der Verwirklichung zutreffen, für einen anderen aber nicht“. Für das Zusammensein „als Kategorie endlichen Seins kommen nur die oben angeführten Bestimmungen in Betracht, durch die es hinreichend von der Substanz und den Akzidentien abgegrenzt ist. Alle weiteren in den Phänomenen etwa sichtbar werdenden Bestimmungen gehören schon den Sonderbestimmungen zu. Man darf daher nicht aus solchen Sonderbestimmungen schließen, daß sie auch in den anderen Bereichen vorkommen müßten. Bei diesen
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Sonderbereichen“ des Zusammenseins „könnte man neben den menschlichen Gemeinschaften auch an Tier- und Pflanzengemeinschaften denken. Als weiterer Anwendungsbereich kämen die Kulturschöpfungen des Menschen, also all das in Frage, was man objektiven und objektivierten Geist nennt. Ob sich das so verhält, muß jedoch im einzelnen nachgewiesen werden und bedarf eigener Untersuchungen . . . Wir wollen uns im folgenden auf den Bereich der menschlichen Gemeinschaften beschränken, auf das esse sociale, für das unsere Frage besonders dringlich ist.“230 Wie verhält es sich also jenseits der Denkmöglichkeit mit der Realmöglichkeit des Zusammenseins? Die Frage zielt auf den Gegenstand des Zusammenseins, genauer, auf den Gegenstand des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen, insofern er an sich besteht, also unabhängig vom erkennenden, vom Willen gelenkten Bewußtsein. Für das Erkennen ist das Begreifen dieses Bestandes „die entscheidende Frage“231. Nach der Überzeugung des Realismus besteht die Realität bekanntlich nicht als ein idealer Bewußtseinsinhalt und schon gar nicht als ein willentliches Gesetztsein. Im Gegensatz zu den Erkenntnisauffassungen dieser Art begreift das realistische Erkennen seine Gegenstände als ihm wahrhaft entgegenstehende Dinge, die – wenigstens im Grundsatz – wesentlich verfaßt und inhaltlich bestimmt sind. Entschieden widerstreitet es also den herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Meinungen, für die die Gesellschaft etwas Gedachtes ist, nämlich insofern sie in ihrer Erkenntnis gedacht wird, bzw. für die sie etwas Hervorgebrachtes ist, nämlich insofern sie als etwas willentlich Hergestelltes oder, wie der Fachausdruck heißt, als etwas Konstruiertes, also etwas Vorgestelltes, gemeint wird. Mit der Erkenntnis der Realität hat es jedoch seine besondere Bewandtnis. Sie besteht naturgemäß auch hinsichtlich der Erkenntnis des humanen Zusammenseins. Dem vorherrschenden bald rationalistischen bzw. konstruktivistischen, bald positivistischen bzw. empiristischen Erkennen ist sie in der Regel fremd, weshalb sie den zeitgenössischen Auffassungsweisen vielfach erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Vom realistischen Erkennen des humanen Zusammenseins gilt, daß über die Realmöglichkeit der Gesellschaft „nur an Hand der vorgefundenen Wirklichkeit“ entschieden werden kann. Die Wirklichkeit des Zusammenseins bedarf also „des Aufweises an den Phänomenen“232. Was zu erkennen ist – ist jedenfalls zunächst – das, was erscheint. Dieses Erscheinende ist jedoch nicht nur als Erscheinung zu erfassen, sondern als eine Erscheinung von Etwas. Dieses Etwas wird zuletzt bestimmt durch den Grund oder, mit 230 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956, S. 374 f. 231 Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 373. 232 Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 373.
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Kant gesprochen, durch das Ding-an-sich, das „hinter“ der Erscheinung waltet. Das humane Zusammensein, das sich zeigt, will also ernst genommen sein als die Erscheinung einer sich nicht zeigenden ursprünglichen Seinsweise eigener Art. Walter Brugger warnt deswegen vor dem Leichtsinn, der meint, daß das humane Zusammensein mühelos wahrgenommen bzw. gedacht werden kann, zumal es sich mit keinem anderen endlich Seienden vergleichen läßt. Ein solches Erkennen verbleibt in der rationalistischen Setzung bzw. in der äußeren Erfahrung mit der Folge, daß das erkennende Subjekt darüber befindet, welcher Gegenstand im allgemeinen als Gegenstand der humanen Existenz und im besonderen als Gegenstand des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen aufzufassen ist. Diese subjektivistische Erkenntnismeinung übersieht, daß „ein Hinweis auf dieses einzigartige, unverwechselbare Sein“ nicht genügt, „um es jedermann sichtbar zu machen“233. Das rationalistisch bzw. empiristisch verschwimmende und deswegen ausufernde Soziologisieren in der herrschenden universal- wie spezialwissenschaftlichen Erkenntnis ist der Ausdruck dieser Weise der Sichtbarmachung der Gesellschaft. In der erkenntnistheoretisch wohlbegründeten Absicht ist ihm gegenüber geltend zu machen, daß es sich bei der Ergründung des Seins der gesellschaftlichen Erscheinungen „nicht um ein sinnliches“ Sein bzw. nicht um ein dem erkennenden Subjekt innewohnenden Gedanken, „sondern um ein intelligibles Sein handelt“. Das ist der Grund, aus dem Walter Brugger der herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis das folgende ins Stammbuch schreibt: „Unsere Frage ist ontologisch; sie betrifft das ens qua ens, das als solches nicht sinnlich“ und auch nicht angeboren ist. Sie läßt sich „nur durch den reflektierenden Verstand erkennbar“ machen. „Es genügt also nicht, sich passiv einem Eindruck zu überlassen, den die Phänomene auf einen machen, sondern diese sind im Licht“ der auf dem Weg der Abstraktion gewonnenen „metaphysischen Prinzipien zu denken, wobei es durch dieses Denken erst an den Tag kommen muß, ob diese Phänomene nur mit Hilfe der Annahme“ des humanen Zusammenseins „oder auch ohne seine Annahme ohne Widerspruch gedacht werden können. Da es sich bei dieser ,Denkmöglichkeit‘ nicht mehr um den bloßen Nominalbegriff handelt, sondern um einen Begriff im Hinblick auf die Wirklichkeit, die ohne diesen Begriff (genauer: bei Verneinung dieses Begriffs) nicht ohne Widerspruch gedacht werden kann, ist unter dieser Voraussetzung nicht die bloß logische Denkmöglichkeit, sondern auch die reale Seinsmöglichkeit und Wesensnotwendigkeit“ des Zusammenseins bzw. des humanen Zusammenseins „gewährleistet.“234 (Hervorhebung d. d. Verf.) Die von Walter Brugger geleistete Begründung des Zusammenseins im allgemeinen und des humanen Zusammenseins im besondern folgt der Erkenntnis233 234
Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 373. Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 373 f.
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lehre, die Aristoteles begründet und entwickelt hat. Ihr zufolge ist das Erkennen zuerst ein Erkennen der Erscheinungen, also ein Erkennen durch die Sinne. Bezogen auf den anstehenden Fall besagt dieser Erkenntnisgrundsatz, daß dem Erkennen nach die humanen Erscheinungen und deswegen auch die Erscheinungen des humanen Zusammenseins das erste sind. Ihrem Sein nach, also hinsichtlich der humanen Existenz und deswegen auch hinsichtlich dieser Existenz, soweit sie nicht nur als menschliche, sondern auch als gesellschaftliche Existenz-Gestalt existiert, verhält es sich jedoch umgekehrt. Die Erkennbarkeit ihrer Erscheinungen ist das Zweite, demgegenüber die Kategorialität ihres Seins das Erste ist. Den Zusammenhang zwischen dem Erstsein des Erkennens und dem Erstseins des Seins von Etwas hat Aristoteles ausführlich erörtert und begründet.235 Angesichts der Neuartigkeit des Begriffes des Zusammenseins bemüht Walter Brugger sich darum, die aristotelische Erkenntnislehre dadurch zu erhärten, daß er auf die Folgen hinweist, die sich aus einer mangelhaften Beachtung der Seinskategorie des Zusammenseins und nachfolgend aus der mangelhaften Beachtung der seinskategorialen Ordnungsstufe des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen ergeben. Logisch scharfsinnig faßt er seine Auseinandersetzung zunächst mit der ihm nahestehenden gesellschaftlichen Auffassung des überkommenen Realismus und sodann mit den gesellschaft(swissenschaft)lichen Doktrinen, die ihm samt und sonders als unbegründet erscheinen, wie folgt zusammen: „Daß ich mir . . . etwas ohne Widerspruch denken kann, ist zwar ein negatives und unerläßliches, aber noch kein positives und letztentscheidendes Kriterium der Möglichkeit. Die Wahrheit“ des humanen Zusammenseins „läßt sich letzten Endes nur dadurch erweisen, daß seine Verneinung entweder sich selbst oder die Phänomene aufhebt. Eine begriffliche Selbstaufhebung findet in der Verneinung“ des Zusammenseins „nicht statt.“ Denn das Zusammensein bzw. das humane Zusammensein „ist nicht die Bedingung der Möglichkeit jenes Aktes, durch den es verneint wird. Anders steht es mit den sozialen Gegebenheiten selbst. Ein Versuch,“ das humane Zusammensein „ernstlich zu leugnen, führt mit logischer Folgerichtigkeit“ zur „Aufhebung und Verneinung“ jener Gegebenheiten. „Die – hypothetisch vorgenommene – Verneinung“ des humanen Zusammenseins „hat zur Folge, daß die Gegebenheiten auf andere Kategorien des Seins zurückgeführt werden müssen. Eine solche Zurückführung ist unumgänglich, solange man an einem realistischen Wahrheitsbegriff festhält. Eine Aussage ist wahr, wenn sie sagt, was ist, und wenn sie verneint, was nicht ist. Sie hat ihr Maß am Sein. Das gilt auch für die Aussagen über die gesellschaftlichen Gebilde.“236 Soweit die herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisweisen noch irgendwie dem Realismus ver235 Vgl. die zusammenfassende Darstellung in: Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Band I. Altertum und Mittelalter, Freiburg/Basel/Wien 199114, S. 173.
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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pflichtet sind, verfahren sie im angegebenen Sinn. Bald substantialisieren sie den „Menschen“ und fassen ihn nach seinen körperlichen oder nach seinen geistigen zuständlichen Beziehungen mit der Behauptung auf, daß in ihnen die Gesellschaft besteht, bald substantialisieren sie die Gesellschaft und behaupten, daß die ihr angehörigen „Menschen“ bald so und bald so ihre Zustände sind. Über diese zurückführenden bzw. ableitenden Denkfolgen über den Bestand der Gesellschaft ist im Voraufgehenden ausgiebig gesprochen worden. Walter Brugger läßt seine Erweiterung der aristotelischen Kategorienlehre ausklingen, indem er Beispiele der humanen Existenz anführt, die nach seiner Erfahrung Beispiele für den realen Bestand des humanen Zusammenseins sind. Für den Gesellschaftswissenschaftler von Profession sind sie nichts Neues. Deshalb sollen sie hier auch nur der Vollständigkeit halber erwähnt sein. So meint Walter Brugger beispielsweise, daß das humane Zusammensein sich „im Recht der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen“ bekundet, d.h. im vorrangigen Zusammensein vor den „einzelnen“ Mitgliedern der Gesellschaft. Nicht minder kommt es zum Ausdruck in der „moralischen Verbindung der Glieder“, der das humane Zusammensein voraufliegt bzw. welche sich aus ihm ergibt. Vergleichbares gilt von der „Verpflichtung zum Wirken“ der Glieder; sie besitzt ihren Ausdruck in der „Hinordnung der Glieder auf gesellschaftliche Ziele“ bzw. im „Ordnungssein der Gesellschaft“. Endlich erscheint ihm als bemerkenswert der Charakter der „Gesellschaft als moralische und juridische Person“ mit der von ihr ausgeübten „gesellschaftlichen Autorität“. Des weiteren aufgeführte Beispiele sind vergleichbarer Art.237 Die herrschenden Gesellschaftswissenschaften nehmen diese Erscheinungen als Selbstverständlichkeiten jeder gesellschaftlichen Werte-, Rechts- und Herrschaftsordnung zur Kenntnis. Anders bestellt ist es mit dem Grund ihrer Gesellschaftlichkeit. Wie es scheint, ist es an der Zeit, die realistische Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft ins Auge zu fassen. Es besteht aller Anlaß, der Beweisführung über die Seinskategorialität des humanen Zusammenseins, wie Walter Brugger sie vorgelegt hat, zuzustimmen, um dadurch dem Aufbau der realistischen Erkenntnis der Gesellschaft den Weg zu ebnen. Walter Brugger selbst lag es fern, über die von ihm geleistete Erweiterung der aristotelischen bzw. der scholastischen Lehre von den Seinskategorien hinauszugehen, um zum Beispiel hinsichtlich der von ihm ins Auge gefaßten Lehre vom „Menschen“ die realistische Weltanschauung zu berichtigen. Aber es kann keine Frage sein, daß er sich der Folgen bewußt war, die seine Untersuchung besitzt. Sie andeutend, bemerkt er in einer Fußnote, also gleichsam versteckt, 236 Walter Brugger, Das Mitsein. Eine Erweiterung der scholastischen Kategorienlehre, in: Scholastik. Vierteljahresschrift für Theologie und Philosophie, XXXI. Jg., 1956, S. 377 f. 237 Vgl. Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 378–382.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
daß sein „Überblick wie überhaupt die ganze Arbeit“ die Begrifflichkeit des Idealrealismus voraussetzt, „ohne deren genaue Kenntnis Sinn und Tragweite des Gesagten unzugänglich bleiben“238. Dieser sich ebenso bescheiden wie souverän gebende Hinweis läßt aufhorchen. Denn nicht weniger als die gesamte Tradition des realistischen oder genauer, des idealrealistischen Denkens ist herausgefordert. Gewiß kennt sie ihre Höhen und Tiefen, aber sie hat in der europäischen geistigen Kultur nichts Vergleichbares neben sich. Die von Walter Brugger geleistete Erweiterung der Lehre von den Seinskategorien ist beispiellos und deswegen von umwälzender Bedeutung. Deswegen dürfte es angebracht sein, die seit mehr als zwei Jahrtausenden geltende Lehre sich abermals zu vergegenwärtigen. Sie stutzt den erkenntnistheoretisch-metaphysischen Subjektivismus der Moderne auf sein berechtigtes Maß zurück. Gedrängt faßt Walter Brugger den Kern des weltanschaulichen Realismus, wie Platon ihn begründet, Aristoteles ihn entfaltet und die Tradition in deren Sinn hilfreich ergänzt hat, um subjektiv, empirisch und historisch Unstimmiges stimmig zu machen, wie folgt zusammen: „Das Weltbild, das sich auf Grund der traditionellen . . . Kategorienlehre ergibt, sieht ungefähr folgendermaßen aus: Die grundlegende Seinsweise ist die Substanz der Dinge, die ihr Sein in sich selbst haben. Daß diese Substanzen teils bloß Dinge im Sinn des ,Vorhandenen‘ sind, teils Subjekte, die eine eigene Umwelt begründen, kann hier außer Betracht bleiben. Auf den Substanzen bauen sich in zweiter Linie die Akzidentien auf, zunächst die Bestimmungen der Substanzen an sich selbst und dann weiter in Beziehung auf andere Substanzen, sei es durch transzendentale, sei es durch prädikamentale Beziehungen. Größere Einheiten, die mehrere Substanzen umfassen, wie die Natureinheiten etwa von Gebirgen, Seen, von Familien, Gattungen u. a. wie die Erzeugnisse des menschlichen Schaffens oder die gesellschaftlichen Gebilde, werden entweder durch wirkursächliche Abhängigkeit, linear oder wechselseitig, oder durch finale Zuordnung erklärt. Alle diese Ganzheiten oder Gebilde werden also schließlich auf die Substanz und die verschiedenen Akzidentien als die einzigen ursprünglichen Weisen des endlichen Seins zurückgeführt. Ihre größere oder geringere Einheit aber faßt man als eine in der Linie der Akzidentien erfolgende und unter dem Einfluß von Wirk- und Zweckursachen konstituierte Ordnungseinheit auf.“ Dieser als geltend erachteten „traditionellen Kategorienlehre stehen“ ergänzende „Auffassungen gegenüber . . . Ohne Rücksicht auf die genannte Kategoriendualität „fassen sie die Individuen sowohl im untermenschlichen wie im menschlichen Bereich zu Einheiten zusammen, denen sie eine Art kollektiver Substantialität nach der Weise der Organismen zuschreiben, wobei die Individuen zu bloßen Teilen des übergeordneten Ganzen werden oder überhaupt erst aus dem ursprünglichen Ganzen wie aus ihrem Wurzelgrund entstehen.“239
Wie unter verschiedenen Rücksichten ausreichend dargelegt worden ist, folgt aus der noch einmal gedrängt umrissenen philosophischen Weltanschauung jene bekannte doppelte Auffassung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der huma238 239
Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 370. Walter Brugger, Das Mitsein, a. a. O., S. 370.
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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nen Existenz, die jeweils bald in einem engeren und bald in einem weiteren Sinn bestimmt wird. Mit Nachdruck sei deswegen abermals gesagt: Als Gesellschaft gilt nach der geradezu ein für alle Mal festgeschriebenen Bestimmung demnach derjenige Bestand der humanen Existenz, der (1) als Vielheit von Beziehungen zwischen „Menschen“ besteht. Wird diese Einheit als Einheit der Zahl aufgefaßt, wird sie (1.1) als Beziehungssumme bzw. als Beziehungsgesamtheit bezeichnet; wird sie als Einheit eines Zweckes verstanden, wird sie (1.2) als Ordnungseinheit oder als Sinneinheit benannt. Diese Ordnungs- bzw. Sinneinheit wird bisweilen auch als intentionale Einheit bzw. als intentionales Sein bezeichnet. Die geänderte Namensgebung ändert an der Auffassung der Sache nichts. Denn mit der Verwendung des Ausdrucks der Intentionalität verlagert der Schwerpunkt der Betrachtung sich nur auf das (im „Handeln“ dynamische) Ausgerichtetsein des Beziehungsträgers auf den von ihm verfolgten Zweck. Das Wort hebt neben dem, was intendiert ist, nur die „vermögende ,menschliche‘ Absicht“ hervor. Sie besteht schließlich in nichts anderem als in der Verwirklichung von Beziehungen. Man sollte sich also nicht durch aktualistische Redeweisen verwirren lassen. Im Gegensatz zu diesen Meinungen wird die Gesellschaft sodann (2) als Ganzheit, des näheren als ein Seinsganzes aufgefaßt. Im engeren Sinn wird noch immer am klarsten behauptet, daß die Gesellschaft (2.1) im Sinn eines biologischen Organismus besteht. Ihn meint zuletzt auch die Systemtheorie, wie sehr sie sich auch durch die von ihr benutzte Sprache insbesondere von der der Kybernetik von organischen Vorstellungen äußerlich entfernt. Im weiteren Sinn ist die Gesellschaft (2.2) ein Sinnganzes, also Etwas, das in einer je bestimmten Bedeutung seine „menschlichen Teile“ in sich ein-, unter- und anordnet. Mit der Erweiterung der aristotelischen Kategorienlehre um die Kategorie des Zusammenseins liegt diese Lehre von den ursprünglichen Seinsweisen des endlich Seienden vollendet vor. Über die bisher ausgebildete Seinskategorialität geht die Seinskategorie des Zusammenseins hinaus und weitet dadurch den Erkenntnishorizont in einer bisher unbekannten Weise. Es ist deswegen abwegig, die Erweiterung des realistischen Weltbildes bzw. der realistischen Weltanschauung als Paradigmenwechsel verstehen zu wollen, wie man heute zu sagen pflegt. Zwischen der idealrealistischen philosophia perennis und der Änderung der theoretischen Voraussetzungen, von denen aus forschende Subjekte ihre Probleme behandeln, besteht ein Unterschied grundsätzlicher Art, weil er die Auffassungen des Seins, des Wesens und der Erkenntnis betrifft. Vom immerwährenden Erkennen gilt auch weiterhin das, was bisher galt. Das, was solchermaßen weitergilt, hat allerdings eine Erweiterung erfahren. Die realistische Philosophie ist fortschrittsfähig. Demgegenüber bezeichnet der Name des Paradigmenwechsels nur die Tatsache, daß gewisse, bisher geltende Voraussetzungen der Erfahrungserkenntnis fraglich geworden sind, so daß andere an ihre Stelle gesetzt werden müssen. In den Erkenntniszusammenhängen, die durch
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
das Subjekt bestimmt sind, sind die Verhältnisse so, wie sie jeweils sind, d.h., daß in der Erkenntnis der potentiell unendlichen Erfahrungswelt verschiedene Maßstäbe gesetzt werden können, die nach diesem oder nach jenem Maß „das eine Theorie (sc. im Sinn der zeitgenössischen Wissenschaftslehre) zentral organisierende Interpretationsprinzip“240 darstellen. Im Gegensatz zu diesem Empirismus mit seinen relativistischen Folgen behalten der Selbstand und der Zustand ihre Beschaffenheit als ursprüngliche Weisen des endlich Seienden. Wie das aus sich frei sich eröffnende Sein jedoch lehrt, gilt es, jene Seinskategorien um die des Zusammenseins zu ergänzen und die aus den Verhältnissen der Seinskategorien folgenden kategorialen Ordnungsstufen zu bestimmen. Daß ihre Auflistung auf wissenschaftspsychologischen Widerstand stößt, ist zu vermuten. Um so mehr ist sie unentbehrlich. Es gilt, über die grundlegend veränderten Begriffsverhältnisse sich einen Überblick zu verschaffen und die Begriffe, die in die Wissenschaften von der Gesellschaft neu einzuführen sind, klar zu bestimmen. Die nebenstehende Tafel bemüht sich, die aufgedeckten Verhältnisse übersichtlich darzustellen. Wenn sie nur die Bestände auf dem Seinsgrad der humanen Existenz benennt, so erklärt sich diese Beschränkung aus der Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung. Damit ist zugleich ausgesprochen, daß die Seinskategorie des Zusammenseins und die kategorialen Ordnungsstufen hinsichtlich des natürlichen und des geistigen Seins in ihr nicht mehr bedacht werden, sondern ausgeblendet bleiben. Die ausstehenden Bestimmungen seien hiermit also den naturwissenschaftlichen und den geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschungen überantwortet. Die aufgezeigte Tafel ist ein dreifach sich abstufendes Gefüge zwischen den intelligiblen Seinskategorien und den Erscheinungen der Erfahrung der humanen Existenz als (diese einzelne) menschliche und als (diese einzelne) gesellschaftliche Existenz-Gestalt, deren unterschiedlicher Bestand in den intelligiblen seinskategorialen Ordnungsstufen gründet. Die in der Tafel genannten Begriffe seien im folgenden durch gemeinverständliche Ausdrücke wiedergegeben und dadurch so klar und deutlich als möglich zu bestimmen versucht. Möglich wäre es, die überkommene lateinische Gelehrtensprache zur Hilfe zu nehmen. Auf eine ehrgeizige Rückübersetzung der neu eingeführten Begriffe sei jedoch verzichtet. Über die einsichtigen ursprünglichen Seinsweisen des endlich Seienden ist ausführlich gesprochen worden. Deswegen können die folgenden Erklärungen kurz sein. Nach der Lehre des Aristoteles ist zwischen einer ersten und einer zweiten oder besser, einer abgeleiteten ursprünglichen Seinsweise des endlich Seienden zu unterscheiden. (1) Derjenige Bestand, der seine Verwirklichung 240 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Paradigma, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 481.
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Tafel der Erweiterung der realistischen Seinskategorialität, der aus ihr folgenden seinskategorialen Ordnungsstufen des endlich Seienden auf dem Seinsgrad des dynamisch aufgefaßten menschlichen Seins, d.h. der humanen Existenz, die Ordnungsstufen als Ursprungsgründe des inneren Aufbaus ihrer beiden Existenz-Gestalten sowie die aufgebauten Existenz-Gestalten als erscheinende Realität A. Die einsichtigen Seinskategorien im allgemeinen sind – nach Aristoteles:
Der Selbstand/Der Zustand
– erweitert durch:
Das Zusammensein (von etwas Zuständlich-Selbständigem)
B. Die einsichtigen seinskategorialen Ordnungsstufen der humanen Existenz sind – Ordnungsstufen als Kategorienverhältnisse:
Der humane zuständliche Selbstand = das Beisichsein
Das humane Zusammensein von (humanen) zuständlichen Selbständen = das Verbundensein
– Ordnungsstufen als Ursprungsgründe der humanen ExistenzGestalten:
Der innere Aufbau der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt
Der innere Aufbau der humanen Existenz als gesellschaftliche Existenz-Gestalt
– unwillkürlichen Erkenntnis:
Das Alleinsein
Das Miteinandersein
– absichtlichen Erkenntnis:
konkret: Diese menschliche Existenz-Gestalt = dieser Mensch
konkret: Diese gesellschaftliche Existenz-Gestalt = diese Gesellschaft
formal: Die menschliche Existenz-Gestalt = der Mensch
formal: Die gesellschaftliche Existenz-Gestalt = die Gesellschaft
C. Die aufgebauten und deswegen (in ihren notwendigen Eigenschaften) erscheinenden realen Existenz-Gestalten sind als Gegenstände der
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
eint, trägt und hervorbringt, ist der Selbstand. Aristoteles nennt ihn ousia. Im Lateinischen heißt er substantia. Ausgezeichnet ist der Selbstand durch sein Insich-Sein, d.h. also durch seine Absolutheit oder Unbezogenheit auf Anderes und durch sein Für-sich-Sein, d.h. durch das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten. Dieser selbständige Bestand wird lateinisch esse in se (eines ens ab alio) genannt. (2) Der vom Selbstand ausflußhaft hervorgebrachte und ihn weiterbestimmende Bestand ist der Zustand. Griechisch heißt er symbebêkon, lateinisch accidens. Er besteht als Sein-im-Anderen als Sein-in-Einem-Anderen. Klar und deutlich benannt, besteht der Zustand deswegen als esse in (alio) uno oder, wie man auch sagen kann, als esse in aliquo. Von diesen Seinskategorien, die Aristoteles aufgefunden und benannt hat und an der die Tradition, die ihm folgt, bis heute festhält, ist verschieden (3) die ursprüngliche Seinsweise des endlich Seienden als Zusammensein. Das Zusammensein besteht als Sein-im-Anderen im Sinn eines Seins-in-Mehreren-Anderen, also nicht im Sinn eines Seins in einem vielzahligen einzelnen Anderen. Die Aufdeckung dieser Seinskategorie in unseren Tagen ist der Grund, aus dem es weder in der griechisch- noch in der lateinisch-sprachigen Erkenntnis einen Name für diesen seinskategorialen Bestand gibt. Sich in den überkommenen Erkenntniszusammenhang einfühlend, ist er neu zu finden. Folgt man dem Vorschlag von Walter Brugger, ist das Zusammensein als esse in (aliis) pluribus zu benennen. Ob im Griechischen der Name des syneimi den Sachverhalt trifft, mag offen bleiben. Die aus dem Ausdruck koinoein sich ableitenden bekannten Ausdrücke besitzen nicht die geforderte Bedeutung. Diese drei benannten seinskategorialen Bestände begründen zwei kategoriale Ordnungsstufen des endlich Seienden. Auf dem Seinsgrad des „Menschlichen“ verstanden, also auf dem des Bestandes des vernünftigen Sinnenwesens bzw. dem der humanen Existenz, besteht sie als grundstufige oder erste und als höherstufige oder als zweite kategoriale Ordnungsstufe. Den traditionell-„objektiv“ wie modern-„subjektiv“ ausgebildeten Erkenntnisweisen sind sie gleichermaßen unbekannt. Es wird also nicht unterschieden, was als Folge der Aufdeckung der Seinskategorie des Zusammenseins zu unterscheiden ist. Entspricht man der bestehenden Forderung, dann hat man (4.1) als erste seinskategoriale Ordnungsstufe diejenige zu benennen, die als der humane zuständliche Selbstand der humanen Existenz besteht. Daß es bis jetzt noch keinen treffenden Namen für diesen humanen zuständlichen Selbstand gibt, ist aus dem erwähnten erkenntnisgeschichtlichen Grund verständlich. Deswegen sei hier vorgeschlagen, diesen Bestand als Beisichsein zu bezeichnen. Lateinisch könnte man dieses Beisichsein esse sui nennen. Von ihm unterschieden ist die zweite seinskategoriale Ordnungsstufe der humanen Existenz. Sie besteht (5.1) als das Zusammensein von humanen – auf welche Kennzeichnung man wohl verzichten mag – zuständlichen Selbständen. Naturgemäß ist auch für die Benennung dieses Bestandes noch kein bündiger Name ausgebildet. Es sei vorgeschlagen, diesem Be-
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stand den Namen Verbundensein zu geben. Lateinisch könnte man dieses Verbundensein als esse coniunctum benennen. Es dürfte nützlich sein, diese seinskategorialen Ordnungsstufen des näheren zu kennzeichnen. Das kann zum ersten hinsichtlich ihrer selbst und zum zweiten hinsichtlich ihres Verhältnisses zum entsprechenden Anderen geschehen. An sich selbst betrachtet, ist das, was als Beisichsein benannt worden ist, ausgezeichnet durch sein Durchsichsein. Dieses Durchsichsein ist verschieden von dem, was als An-sich-Sein und Für-sich-Sein benannt worden ist. Lateinisch ausgedrückt, mag der unterschiedliche Bestand alsbald einleuchten. Das Durchsichsein ist nicht als esse in se zu verstehen, sondern als esse per se. Das ist eine inbegriffliche, keine einfache Einheit. Dem Beisichsein steht das Verbundensein gegenüber. An sich selbst bestimmt, ist es ein Vereinigtsein. Dieses Vereinigtsein ist in Sonderheit verschieden von dem, was behelfsweise als Vielheit bezeichnet wird, da das Viele und das Eine in diesem Fall gerade nicht vereinigt sind. Lateinisch wäre das Vereinigtsein als esse cum aliis zu bezeichnen. Um den Unterschied und damit das Verhältnis zwischen dem Beisichsein und dem Verbundensein zu benennen, hat man alle Veranlassung, das Beisichsein als Getrenntsein aufzufassen. Demgegenüber besteht das Verbundensein als ein Geschlossensein. Als lateinischen Namen bieten sich für jenen Fall der Ausdruck des esse separatum und in diesem Fall der Ausdruck des esse collectum an. Die seinskategorialen Ordnungsstufen bestehen bekanntlich als Bestände kraft der Verhältnisse, die zwischen den Seinskategorien walten. Unter dieser Rücksicht benennen sie zunächst den realmöglichen Bestand des humanen zuständlichen Selbstandes bzw. den realmöglichen Bestand des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen. Jenes wie dieses Seiende besteht insoweit als ein noch unerschlossenes Sein. Existenzialphilosophisch gesprochen, handelt es sich um ontische Bestände. Diese sind ihrem Sein wie ihrer Erkenntnis nach Seiende im Sinn des intelligibile in potentia, d.i. etwas Einsichtiges der Möglichkeit nach. Darüber hinaus bestehen die seinskategorialen Ordnungsstufen aber auch im ontologischen Sinn. So begriffen, sind sie Seiende im Sinn des intellectum in actu, d.i. etwas wirklich Eingesehenes und deswegen etwas von der Erkenntnis Durchleuchtetes. In dieser Weise aufgefaßt, bestehen die kategorialen Ordnungsstufen als die Ursprungsgründe des inneren Aufbaus verschiedener Realitäten. Im anstehenden Fall handelt es sich um den inneren Aufbau der beiden Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz. Diese Ursprungsgründe sind der Schlüssel, der das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft aufzuschließen vermag. Wie die vorliegende Literatur belegt, ist sie zumeist unfähig, sich aus der Gefangenschaft des traditionellen Denkens zu befreien, da sie sich auf den realen Unterschied zwischen Mensch und Gesellschaft nicht einläßt. Die Erkenntnis des „Menschen“, verstanden also als humane Existenz, findet den Weg ins Freie jedoch nur dadurch, daß sie die Bestimmung des Menschseins
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einerseits und des Gesellschaftseins andererseits als unterschiedene Gegenstände und Erkenntniszusammenhänge begreift. Zusammenfassend festgestellt, darf (4.2) gelten, daß das Beisichsein im Insgesamt derjenigen Ursprungsgründe besteht, die fähig sind, den inneren Aufbau der humanen Existenz zu begründen, soweit sie als Sein des Menschen oder kurz als Mensch existiert. Aufmerksam diese Namensgebung achtend, gilt es, den Menschen von der humanen Existenz zu unterscheiden. Bezeichnet der Name der humanen Existenz Seiendes auf einem der Seinsgrade, so bezeichnet der Name des Menschen im hier gemeinten Sinn die innerlich aufgebaute menschliche Existenz-Gestalt. Das ist die humane Existenz als menschliche, als psychische, als solitäre, als einsame oder ähnlich verstandene Realität. Lateinisch wäre diese Existenz-Gestalt als esse hominis zu benennen. Der innere Aufbau und damit die Realität der zweiten Existenz-Gestalt der humanen Existenz liegt im zweiten genannten seinskategorialen Ursprungsgrund, also in dem des Verbundenseins. Existenzbegründend verstanden, ist er (5.2) das Ganze derjenigen uranfänglichen Vermögen, die fähig sind, die gesellschaftliche ExistenzGestalt der humanen Existenz zu begründen. Diese gesellschaftliche ExistenzGestalt als gesellschaftliche zu verstehen, scheint heute nicht schwierig zu sein, obwohl deren Verhältnis zur humanen Existenz zumeist im Dunklen verbleibt. Hierin dürfte der Grund liegen, aus dem die gesellschaftliche Existenz-Gestalt gegenwärtig zumeist mit anderen Namen benannt wird. Sie von der menschlichen unterscheidend, wird sie in der Regel als soziale, als solidarische, als gemeinsame Existenz-Gestalt bezeichnet. Am Ende ist ohne Umstände von der Gesellschaft die Rede. Lateinisch wird der in Frage stehende Bestand als esse societatis zu benennen sein. Besteht die vorgenommene Unterscheidung, der zufolge die Seinsvollkommenheit der humanen Existenz im realen Existieren der menschlichen Existenz-Gestalt einerseits und in der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt andererseits zur Verwirklichung gelangt, zu Recht, so kann man an dieser Unterscheidung künftig nicht mehr vorbeigehen. Die innerlich aufgebauten Realitäten der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt und als gesellschaftliche Existenz-Gestalt sind intelligibel Seiende. Zum Ausdruck gelangt das, was sie als Einsichtiges sind, in den Erscheinungen der Existenz-Gestalten. Sie sind die Gegenstände der verschiedenen Absichten der Erfahrungserkenntnis der humanen Existenz. Im realistischen Erkennen ist es geläufig, zwischen dem unwillkürlichen und dem absichtlichen Erkennen zu unterscheiden. Der Subjektivismus der neuzeitlichen Erkenntnisweise vereinseitigt diesen Unterschied in drastischer Weise. Ihm zufolge ist das unwillkürliche Erkennen ein bloß subjektives Erkennen und damit ein Erkennen naiver Art. Demgegenüber ist das absichtliche Erkennen, sofern es transzendental abgesichert ist, ein kritisches und als dieses ein objektives Erkennen. Ob es sich mit dem Begreifen der Dinge in Wahrheit so verhält, muß an dieser Stelle auf sich beruhen. Nach der Auffassung des Realismus gibt es jedenfalls gute
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Gründe, aus denen man behaupten kann, daß das unwillkürliche Denken sehr wohl darum weiß, auf welche Weise in Sonderheit die humane Existenz real existiert. Wird sie (6) als menschliche Existenz-Gestalt aufgefaßt, existiert sie erkanntermaßen nicht als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Für jedermann ist sie deswegen ausgewiesen als Existenz-Gestalt des Alleinseins. Dieses Alleinsein ist der Ausdruck der Realität des Beisichseins. Lateinisch benannt, besteht dieses Alleinsein als esse solum. Von dieser Erscheinung der humanen Existenz ist (7) ihre zweite Weise des Erscheinens verschieden. Sie bezeichnet der Alltag als Miteinandersein. Lateinisch wäre dieses Miteinander als esse commune zu benennen. Im genannten unwillkürlichen Erkennen der zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz gründet deren absichtliches Erkennen. Mit dem unwillkürlichen Erkennen am meisten verbunden, besteht es als konkretes Erkennen. Es wendet sich (8.1) dieser und jener menschlichen Existenz-Gestalt anschauend zu. Es versucht, sie zu erfassen, wie sie vor Augen steht, d.h. als dieser Mensch. Seine Erkenntnis erarbeitet die „exakte Phantasie“ vor allem in den literarischen Dokumenten des Lebenslaufs. Sie verdichten sich bisweilen zu Lebensgeschichten von einzigartigem Gehalt. Vom konkreten ist (8.2) das formale Erkennen der menschlichen Existenz-Gestalt unterschieden. Es zielt nicht darauf, die menschliche Existenz-Gestalt als diese zu erfassen, sondern im Allgemeinen. Nicht dieser Mensch, sondern der Mensch ist der Gegenstand dieser Erkenntnisweise. Nach der Ordnung der Logik ist dieser Blick auf das Existieren im Allgemeinen zunächst von der Art des Erfahrbar-Allgemeinen und sodann von der Art des Wesentlich-Allgemeinen. Was solchermaßen von den Erkenntnisweisen der menschlichen Existenz-Gestalt gilt, gilt auch von denen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Jede ihrer erscheinenden Realitäten kann (9.1) einerseits konkret begriffen werden, d.h. als diese Gesellschaft, und (9.2) andererseits im formalen Sinn. Dergestalt aufgefaßt, wird sie als die Gesellschaft zu erkennen versucht. Gelangt jene Erkenntnisweise zum Ausdruck beispielsweise im Gesellschaftsroman, so diese in der Gesellschaftstheorie, also in der Wissenschaft von der Gesellschaft. Es mag unnütz sein, abschließend zu bemerken, daß der so nachdrücklich betonte Unterschied zwischen der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt im Hinblick auf die eine humane Existenz schließlich wiederum zusammenzudenken ist. Der Alltag tut dies, indem er in einem umfassenden Sinn vom „Menschen“ spricht. Sein Existieren „an sich“ hier und sein Existieren „mit Anderen“ dort wird sozusagen „in Einem“ aufgefaßt und zu durchdringen versucht. Entsprechend verfährt auch das absichtliche Erkennen. Im konkreten Sinn ist es am besten noch immer ausgeformt in der Schönen Literatur, die „über die Menschen in ihren Schicksalen“ spricht. Ein solches Bemühen in formaler Hinsicht versteht sich als „Lehre vom Menschen“. Sie heißt üblicherweise „Anthropologie“. Sie arbeitet sowohl im universalwissenschaftlichen,
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also im philosophischen Sinn, als auch in den spezialwissenschaftlichen, also in den sogenannten fachwissenschaftlichen Erkenntnisweisen. II. Nicht-realistische Bemühungen der Bestimmung des ersten Ursprungsgrundes des inneren Aufbaus der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz
Die Wahrnehmung und Ergründung der offenkundig gewordenen theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft, wie sie aufgezeigt worden sind, folgten den Grundsätzen der realistischen Erkenntnis- und Seinsauffassung. Daß der Realismus zu den wirkmächtigsten Bestimmungen des geistigen Lebens der europäischen Kultur zählt, steht außer Frage. Ebenso bekannt ist, daß sich neben ihm andere Ansichten des Erkennens und des Seins finden. Unter ihnen erheben die neuzeitlichen Lehrmeinungen besondere Ansprüche. Zielen sie zunächst auf die Bestimmung der natürlichen Natur, so überschreiten sie alsbald diesen Seinsbereich, um sich dem „Menschen“ als demjenigen Wesen zuzuwenden, das die Natur übersteigt. Dieser Überstieg besteht in einem engeren Sinn darin, daß der „Mensch“ als sittliche Existenz aufgefaßt wird. In einem weiteren Sinn wird der „Mensch“ als dasjenige Wesen verstanden, das fähig ist, über seine Natur hinausgehend, seine Existenz als Kultur auszugestalten. In jenem wie in diesem Zusammenhang stellt sich zumeist auch die Frage nach dem ersten Ursprungsgrund des inneren Aufbaus der Gesellschaft. Wenigstens im Vorübergehen sollen im folgenden die bemerkenswertesten Bemühungen um eine Antwort auf diese Frage erwähnt sein. Schlüsselhafte Bedeutung für die Auffassung des „Menschen“ als Gesellschaftswesen besitzt noch immer die Philosophie Immanuel Kants (1724–1803). Es ist bekannt, daß nach seiner Überzeugung das begreifbare Seiende als Erscheinung besteht. Geordnet ist es nach der „Kausalität der Natur“. Neben ihr findet sich aber noch eine andere Regelung des Seienden. In Sonderheit waltet sie in der Natur des „Menschen“. Sie ist zu begreifen im Sinn des herrschenden Gesetzes der Sittlichkeit. Deswegen ordnet sich die Natur des „Menschen“ auch, wenn nicht wesentlich, kraft der „Kausalität der Freiheit“. In der Folge dieses Unterschiedes ist der „Mensch“ zum ersten ein bloßes Naturwesen. Zum anderen, nämlich sittlich begriffen, ist der „Mensch“ ein Weltbürger. Weltbürgerlich existierend, bemüht sich der „Mensch“, durch seinen guten Willen pflichtgemäß das Sittengesetz zu erfüllen. Die Erfüllung des sittlichen Gesetzes geschieht nicht ohne Hilfe. Indem Kant diese Hilfe zu benennen versucht, stößt er auf ein eigentümliches Vermögen der Natur. Es ist das Vermögen, die Menschengattung in ihrer Geschichte sittlich voranschreiten zu lassen. Es erweist sich des näheren „als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur“241. Es ist ihr „Wille“, daß „alle Naturanlagen eines Geschöpfes . . . sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“242
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vermöchten. Gleichsam hinterrücks bringt diese „Kausalität der Natur“ ein Mittel zur Verwirklichung der „Kausalität der Freiheit“ hervor. Mit den Worten Kants gesagt: „Die Natur hat gewollt, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft.“243 Aus sich heraus ist das Menschengeschlecht also zu faul, seine Versittlichung zu erstreben. Sie herbeizuführen, bedarf es eines Antriebes. Er besteht in dem, was Kant allgemein als Zwietracht unter den „Menschen“ bezeichnet. Bestünde sie nicht, würde jeder „Mensch“ in einem „arkadischen Schäferleben“ sich selbst genug sein. Dieser Zustand „vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe“ hätte nicht weniger zur Folge, als daß „alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“ würden. Also weiß Kant zu lehren: „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht.“244 Die Zwietracht, die die Natur „ersonnen“ hat, erweist sich des näheren als ein Bestand von ganz und gar eigener Beschaffenheit. Sie ist weder etwas Natürliches, noch ist sie von der Art des Sittlichen. Sie liegt gleichsam zwischen jenen Erscheinungen und diesen Forderungen. Ihre eigentümliche Beschaffenheit verdankt sie ihrem „Wesen“, nämlich als eine herausfordernde Anleitung zu bestehen. Diese Fähigkeit, die „Menschen“ zu lenken und dadurch wirksam sein zu lassen, benennt Kant zuletzt mit dem Namen „Antagonismus“. In sich wohlgeordnet, bewirkt dieser Widerstreit, daß die Personen das ihnen auferlegte Sittengesetz erfüllen. Füglich darf man in dieser, aus der Natur entlassenen Einrichtung des Wettstreits den Ursprungsgrund des inneren Aufbaus des Menschenlebens als Gesellschaft erblicken. Die Gegensätzlichkeit ist ein Drittes zwischen der natürlichen Natur, die die Dinge ihrer Art als ganzheitliche Bestände an sich bzw. als Erscheinung ins Dasein bringt und in ihm erhält und der Selbstgesetzlichkeit des „Menschen“ als eines zum sittlichen Tun verpflichteten Wesens. Damit hat Kant das ins Auge gefaßt, was in der voraufliegenden Untersuchung als seinskategoriales Zusammensein aufgewiesen worden ist. Wie jenes Zusammensein besteht der Antagonismus nur insofern, als er eben dieser ist. So beschaffen, ist er weder etwas Natürliches noch etwas Sittliches.
241 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, (Edition Meiner), Hamburg 1959, S. 16. 242 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 6. 243 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 7. 244 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 9 f.
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Der Problematik, was es mit dem Antagonismus letztlich auf sich hat, ist Kant nicht nachgegangen. Die Fragen, die sich nach seiner intuitiven Erkenntnis stellen, ließ er unbeantwortet. Zum ersten ist das die Frage, wie die Natur jenen Antagonismus zu wollen vermochte bzw. vermag. Es ist zum zweiten die Frage ihrer inneren Aufbaugliederung. Drittens ist es die Frage ihrer Reichweite und damit ihrer möglichen Abwandlung im Ganzen des endlich Seienden bzw. seiner Erscheinungszusammenhänge. Billigerweise hat man jedoch zu berücksichtigen, daß Kants Interesse in der Ausarbeitung seiner Kritik lag, so daß ihn der gesellschaftstheoretische Antagonismus nur in einer Gelegenheitsschrift beschäftigte, nämlich in einer Untersuchung, die seine Sittenlehre in geschichtsphilosophischer Hinsicht verdeutlichen sollte. Auch die Nachfahren Kants haben sie kaum gewürdigt. Um so mehr scheint es geboten zu sein, die Bestimmung des ersten Ursprungsgrunds des inneren Aufbaus der Gesellschaft, wie Kant sie beschrieben hat, sich ins Gedächtnis zu rufen. „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwickelung seiner Naturanlagen fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstand gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann.“245
Für die gelehrte Generation, die nach Kant das geistige Leben prägt, rückt die Frage nach der Gesellschaft zunehmend in den Mittelpunkt ihres Philosophierens, freilich unter dem besonderen Gesichtspunkt der „Geschichtlichkeit“. Indem die Philosophie sich derart als Philosophie der Gesellschaft versteht und entwickelt, stößt ihre Erkenntnis zwar durchgängig auf die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz, aber sie betrachtet die Gesellschaft keineswegs als diese, also in jenem unterschiedenen Sinn, der zuletzt durch die Frage nach dem ersten Ursprungsgrund des inneren Aufbaus der Gesellschaft bestimmt ist. Für das geschichtsphilosophische Erkennen ist die Gesellschaft nurmehr der Träger, wenn nicht sogar neben dem „Einzelnen“ und dem „Staat“ 245 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O., S. 8 f.
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nur einer der Träger des vorrangig bedeutsamen „menschlichen“ Geschehens. Die Verhältnisse des neu ins Werk gesetzten Erkennens sind in ihrer Gegenläufigkeit überraschend. Der Ausweitung des Studiums der Gesellschaft, insofern sie immer auch das Substrat der geschehenden humanen Existenz darstellt, also des Subjekts der Geschichte, arbeitet der Verzicht entgegen, die Gesellschaft als Gesellschaft begreifen zu wollen. Sofern die Philosophie der Geschichte sich als jene Erkenntnisweise versteht, die das „Menschliche“ im Ganzen ins Auge zu fassen und zu ergründen versucht, meint sie, folgerichtig zu verfahren, wenn sie auch das Geschehnis und damit auch den Träger des Geschehens als geschichtlich beschaffen bestimmt. Der Hintergrund dieser Meinung ist beherrscht von der Auffassung, daß das Werden das Sein „stiftet“. Weniger grundsätzlich gemeint, heißt es, daß die humane Existenz auf irgendeine Weise auch in sich besteht und damit nicht weniger die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Als Realität verstanden, ist die Gesellschaft jedoch nur da als diese und als jene geschichtliche Wirklichkeit. Die Philosophie, die die humane Existenz und deswegen mit ihr auch die Gesellschaft von ihrem Geschehen her zu begreifen versucht, verdankt ihren kaum zu überschätzenden Einfluß, den sie auf die neuzeitliche Deutung der Existenz des „Menschen“ auszuüben vermag, zuletzt wohl ihrer Ausrichtung an der Glaubenslehre des Christentums. Wie zutreffend bemerkt worden ist, setzt sie nämlich an die Stelle der Glaubenswahrheit des christlichen Heilsgeschehens die Vernunftwahrheit eines zielbestimmten Weltgeschehens.246 Diese Umdeutung der Geschichte des „Menschen“ hat gesellschaftstheoretisch zur Folge, daß die Frage nach dem ersten Ursprungsgrund des inneren Aufbaus der Gesellschaft nur noch im Rahmen der Frage nach der geschichtlichen Vollendung der humanen Existenz gestellt werden kann, die, wie schon bemerkt, zumeist einseitig im Sinn der Vollendung der Gesellschaft ausgearbeitet wird, also nicht im Sinn der Vollendung des „Einzelnen“ oder der Vollendung des „Staates“. Über diese Vollendung der Gesellschaft wird in der Regel in zwei Gedankenschritten gesprochen. Der erste dieser Schritte besteht in dem Bemühen, die Geschichte im Ganzen als irgendwie in Abschnitte gegliedert aufzuweisen. Im zweiten Schritt wird sodann der Versuch unternommen, die eigene Geschichtsepoche als diejenige auszuweisen, die die Erkenntnis des Zieles der Geschichte und damit auch des Wesens der Gesellschaft erlaubt. Der vorläufig-endgültige Geschehens-„Bestand“ der gegenwärtigen Geschichtsepoche erlaubt deswegen auch die Erörterung der Frage nach dem anfänglichen Ursprungsgrund und damit nach dem inneren Aufbau der Gesellschaft. Wie die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts in dieser Weise des Erkennens von Geschichte und Gesellschaft verfahren, ist im folgenden wenigstens anzudeuten. 246 Vgl. zu diesem „weltanschaulichen“ Wandel z. B. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (zuerst Chicago 1949), Stuttgart 1953/19908.
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Zum ersten ist an die Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831) zu denken. Sie lehrt, daß das Seiende als Phänomenologie des Geistes aufzufassen ist, d.h. als geschichtlich sich ausbildende Absolutheit. Als Weltgeschehen sich folgerichtig entwickelnd, schreitet das Absolute voran vom „Bestand“ als Bewußtsein über das Selbstbewußtsein zur Vernunft. Sie drängt als subjektiver Geist über sich hinaus, um zum absoluten Geist zu werden, d.h. sich zur Religion zu entfalten und darüber hinaus zum absoluten Wissen. Die Gesellschaft wird als diese erkennbar auf derjenigen Zwischenstufe der Weltgeschichte, auf der der Geist zum objektiven Geist geworden und als solcher zur Sittlichkeit gelangt ist. Sie verwirklicht sich abfolgend als Familie, als bürgerliche Gesellschaft und als Staat. Was Hegel als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet, also als diejenige Vergesellschaftung, die zu sich selbst gekommen ist, hat er ausführlich bestimmt. Die nachstehend wiedergegebene Kennzeichnung verdeutlicht, daß der Autor von einer Endstufe spricht, auf der es möglich ist, auch den ersten Ursprungsgrund und damit den inneren Aufbau der Gesellschaft ins Auge zu fassen. In gesellschaftstheoretischer Absicht schreibt der Geschichtsphilosoph Hegel in der seiner Denkweise eigenen Sprache: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, ist das eine Prinzip und bürgerlichen Gesellschaft, – aber die besondere Person als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befriedigt.“ – „Die bürgerliche Gesellschaft enthält drei Momente: A. Die Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen, – das System der Bedürfnisse. B. Die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit, der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege. C. Die Vorsorge des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen, durch die Polizei und Korporation“, d.i. durch den rechtlich geregelten Erwerbszusammenschluß.247
Von ihrem ersten Grunde her ist die Gesellschaft somit innerlich als Beziehungszusammenhang von Individuen zum Zweck ihrer Bedürfnisbefriedigung aufgebaut. Hegel geistesverwandt ist sein Antipode Karl Marx (1818–1883). Im Unterschied zu dessen Auffassung lehrt er, daß das Sein als Geschichte nicht geistig, sondern materiell beschaffen ist. Über das Naturgeschehen hinaus wird es zum Ereignis in den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen der humanen Existenz, die als gesellschaftliche Existenz-Gestalt wirklich ist. Jene Produktionsverhältnisse bestehen in einer notwendigen geschichtlichen Abfolge. Der Über247 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft (1821), (Edition Meiner), Hamburg 19554, S. 165 und S. 169.
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gang von der voraufliegenden zur folgenden Stufe der Herstellung wirtschaftlicher Güter ist immer das Ergebnis eines Kampfes zwischen „Menschen“, d.h. zwischen ihnen als Angehörigen von Klassen. In seiner Geschichtsphilosophie in politischer Absicht erklärt Marx:. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zu einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen . . . Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Damit hat der Klassenkampf eine Stufe erreicht, auf der „die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien“.248
Soweit die Arbeit von Marx theoretischer Natur ist, ist sie bemüht, die Gründe zu benennen, die zur genannten Entfremdung des „Menschen“ als eines gesellschaftlichen Wesens geführt haben. Das Ziel des Erkennens besteht deswegen in der Aufhebung der Entfremdung durch die praktisch gewordenen Philosophie, d.h. darin, „die Welt zu verändern“. Dem historischen Materialismus, wie man dieses Erkennen später nennt, liegt es fern, nach dem Ursprung der humanen Existenz als einer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt zu fragen. Die Behauptung, daß der „Mensch“ nichts anderes ist als das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, gilt dieser Geschichtsphilosophie als fraglos bestehende Voraussetzung. Auf eine dritte Weise ist die neuzeitliche Geschichtsphilosophie durch Auguste Comte (1798–1857) ausgearbeitet worden. Im Grundsatz wie Hegel und Marx denkend, ereignet sich die humane Existenz als ein Abfolgegeschehen von sogenannten Stadien. Was sie kennzeichnet, ist jedoch anders beschaffen als es Hegel von seinen Stufen und Marx von seinen Epochen behauptet. Nach Comte erfüllen weder Stufen des Geistes noch Epochen von Produktionsverhältnissen die Geschichte. Sie ereignet sich in verschiedenen Gestalten des Wissens des „Menschen“ bzw. der Menschheit. Dem theologischen Wissen, das das erste 248 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848), Berlin 1945/195814, S. 6 und S. XVII.
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Stadium der Menschheitsgeschichte beherrscht, folgt das Stadium des metaphysischen Wissens. Es wird überwunden durch das Stadium des positiven Wissens, wie es die Neuzeit entwickelt. Der „Geist des Positivismus“, der nur noch das Gegebene in seinen Beziehungen bedenkt, ist derjenige Geist, der unmittelbar sozial ist. Der Aufweis dieses Geschichts-„Bestandes“ geschieht nicht etwa dadurch, daß nach dem Grund der Gesellschaft und in der Folge nach ihrem Aufbau gefragt wird, also nach der Sozialität der Gesellschaft, sondern in der Bemühung, nachzuweisen, daß die Geschichte in ihrem positiven Stadium ihre vollkommene Entwicklung erreicht hat. In der Menschheitsgeschichte haben sich Ordnung und Fortschritt miteinander versöhnt und damit die wahrhaft humanitäre Existenz des „Menschen“ verwirklicht. Die Behauptung von Comte lautet wie folgt: „Der Geist des Positivismus“ ist im Gegensatz zu dem der Theologie und dem der Metaphysik „unmittelbar so sozial wie möglich (und zwar) ohne jene Anstrengung auf Grund seiner charakteristischen Wirklichkeit selbst. Für ihn gibt es nicht den eigentlichen (individuellen) Menschen, sondern nur die Menschheit, denn unsere gesamte Entwicklung danken wir . . . der Gesellschaft. Wenn die Idee der Gesellschaft noch (immer) eine Abstraktion unseres Geistes zu sein scheint, so liegt das vor allem an der alten philosophischen Denkweise. . . . Die gesamte neue Philosophie wird stets danach streben, im tätigen wie im theoretischen Leben unter eine Fülle von Gesichtspunkten die Verbindung jedes einzelnen mit allen hervorzuheben, um so unwillkürlich das innere Bewußtsein der gebührend auf alle Zeiten und Räume ausgedehnten sozialen Solidarität zu einer alltäglichen Erscheinung zu machen.“249
Bemüht man sich, die in Erinnerung gerufenen und die des weiteren entwikkelten geschichtsphilosophischen Entwürfe zu überblicken, muß man freilich feststellen, daß sie, wie erwähnt, zum ersten etwas über Abfolgen der sich ereignenden humanen Existenz mitteilen wollen, sowie zweitens, daß sie sich durch die jeweils geschichtlich letzte Abfolgestufe zur Beantwortung der Frage herausgefordert fühlen, wodurch die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz das ist, was sie ist. Kaum verspürt, wird diese Frage jedoch von der Notwendigkeit überlagert, vorrangig nicht über den Träger, sondern über das Ziel der Geschichte zu urteilen.250 Aus diesem Grund gehen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lehre von der Geschichte des „Menschen“ als eines gesellschaftlichen Wesens, also die Geschichtsphilosophie, und die Lehre vom „Menschen“ als eines Gesellschaftswesens wiederum getrennte Wege.251 Insbesondere unter dem weit sich ausdehnenden Namen der Soziolo249 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), (Edition Meiner), Hamburg 1956, S. 155. 250 Vgl. zur Kritik an den Lehren vom Ziel der Geschichte z. B. Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959. 251 Vgl. zur Geschichtsphilosophie im Sinn dieses Namens die von Ulrich Dierse/ Gunter Scholtz ihrem Art. Geschichtsphilosophie, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Histori-
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gie wird das Geschichtliche vom Gesellschaftlichen unterschieden und als etwas von ihm Getragenes studiert. Beispielhaft für diese, von der Geschichtsphilosophie verschiedene „theoretische Erkenntnis der Gesellschaft“ ist das wissenschaftliche Werk von Georg Simmel (1858–1918). Die Gesellschaft von der Geschichte getrennt bedenkend252, fragt Simmel in seinen Untersuchungen der Vergesellschaftung des „Menschen“ auch nach deren Grund und nach dem inneren Aufbau, den dieser Grund trägt. Hierbei orientiert Simmel sich an der Philosophie Immanuel Kants. Es überrascht jedoch, daß er die Lehre vom Antagonismus als dem Grund der Gesellschaft unberücksichtigt läßt. Indem Simmel gleichsam kantischer als Kant denkt, greift er auf dessen Lehre vom a priori der Erkenntnis zurück und wendet dieses Von-Vornherein auf das Sein der Vergesellschaftung der humanen Existenz an. Wie erinnerlich lehrt Kant, daß das, was Im-Voraus besteht, als das von der Erfahrung unabhängig gültige Denken besteht und insofern die Erfahrungserkenntnis als allgemeingültige und objektive im kritizistischen Sinn begründet. Diesen erkenntnistheoretischen Satz erhebt Simmel zu jener seinstheoretischen Lehre, derzufolge die eine seelisch bestimmte humane Existenz von vornherein auf eine andere seelisch bestimmte humane Existenz bezogen ist. Simmel lehrt also, daß jede einzelne humane Existenz als die eine von Haus aus ein Wissen um die andere humane Existenz besitzt. Dieses Bewußtsein von einander begründet die Gesellschaft. Die Einheit der Gesellschaft ist „auf die Elemente eben dieser selbst übergegangen“. Als „soziologische Aprioritäten“ bestehend, sind sie einerseits „die ideellen logischen Voraussetzungen der perfekten Gesellschaft“ sowie andererseits die „Funktionen oder Energien des seelischen Verlaufes“, die die jeweils „wirklichen Vergesellschaftungsvorgänge bestimmen“. Die Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ ist deswegen im Allgemeinen wie im Besonderen dergestalt zu beantworten, daß die Gesellschaft in nichts anderem besteht als im „Bewußtsein, mit den andern“ von vornherein real „eine Einheit zu bilden“253. Gegen diese Auffassung wurde und wird bis heute eingewandt, daß die Gesellschaft keineswegs nur im individuellen Bewußtsein des „Menschen“ begründet ist und damit die Summe jener Beziehungsformen ausbildet, die als die „wirklichen Vergesellschaftungsvorgänge“ bestehen. Denn die Gesellschaft sches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Basel 1973, Sp. 438 f. angefügten Literaturhinweise. – Ergänzend seien genannt: Richard Schaeffler, Einführung in die Geschichtsphilosophie, Darmstadt 1973/19914; Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1991; Karl-Heinz Lembeck (Hrsg.), Geschichtsphilosophie, Freiburg/Brsg. 2000; Rainer Hohmann, Was heißt in der Geschichte stehen? Eine Studie zum Verhältnis von Geschichte und Menschen, Stuttgart 2005. 252 Vgl. Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 1892. 253 Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908/Berlin 19836, S. 22 f. und S. 8.
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gründet zum ersten nicht nur in einem Beziehungsbewußtsein, sondern im „Menschen“ als einem ganzheitlichen Wesen, und sie besteht zum zweiten nicht nur in der Form der Beziehung, sondern in mehreren gesellschaftlichen Formen des „menschlichen“ Lebens, geschweige denn in der bloß formalen Beziehung, zum Beispiel im Zu- und Auseinandergehen, als Zweier- im Unterschied zur Dreier-Beziehung, als Ein- bzw. als Ausgeschlossensein in bzw. von einer Beziehung, u. ä. Seit den Zeiten von Immanuel Kant bzw. von Georg Simmel dauern bis in unsere Tage die Bemühungen an, den anfänglichen Grund der Gesellschaft und in seiner Folge auch ihren inneren Aufbau zu begreifen und zum Ausdruck zu bringen. Es ist zu befürchten, daß den herrschenden Gesellschaftswissenschaften bis auf weiteres der Erfolg versagt bleibt. Deswegen dürfte es erlaubt sein, zu behaupten, daß der vorläufig letzte Beantwortungsversuch dieser Art im beachtenswerten gesellschaftstheoretischen Werk des heute publizierenden amerikanischen Philosophen John R.Searle (geb. 1932) vorliegt. In jedem Fall dürfen seine Arbeiten als aktuelles Beispiel erwähnt werden. Vom „Menschen“ als einem sprechenden Wesen ausgehend, erörtert Searle den Aufbau der Sprache sowie die Eigenart des „menschlichen“ Geistes, um nach diesen Untersuchungen zum Leben des „Menschen“ als Gesellschaftswesen vorzustoßen. Denn indem der „Mensch“, wie es heißt, sich sprechend verhält und geistige Absichten verfolgt, baut er die Gesellschaft auf. Seine Existenz „will“ Etwas. Das ist auch und wesentlich die „menschliche“ Vergesellschaftung. Searle bezeichnet diese Absicht als kollektive oder als Wir-Intentionalität. Als Grund der Gesellschaft trägt sie diese in ihren sogenannten Status-Funktionen sowie in ihren Regeln, denen zufolge in „menschlichen“ Zusammenhängen dieser und jener von Haus aus unbestimmte Bestand als dieser und als jener bestimmte Bestand gilt.254 Fragt man danach, wie beschaffen der genannte Grund ist, stellt sich Verlegenheit ein. Zu Recht heißt es deswegen in einer Besprechung des letzten Werkes von Searle, das seine bisherigen Arbeiten zusammenfaßt, daß jene kollektive Intentionalität „eine doch ziemlich aufgesetzte“ Behauptung ist. Sie besteht in 254 John R. Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft. Philosophie in der wirklichen Welt (zuerst 1998), Frankfurt a. M. 2001, S. 134 ff. – Es mag zweckmäßig sein, im vorliegenden Zusammenhang das Hauptwerk des englischen Soziologen Giddens nicht unerwähnt zu lassen. Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Strukturierung (zuerst London 1984), Frankfurt a. M./New York 1988/ 19973. Es verwirrt schon durch seine Benennung. Was sein Haupttitel besagt, nimmt der Untertitel wieder zurück. Das Werk erörtert nicht die „Konstitution“ der Gesellschaft, sondern deren „Strukturierung“, also die Gliederung der modernen Gesellschaft im Sinn einer Verknüpftheit von Beziehungen und Handlungen von „Individuen“. Deswegen hat die Kritik dieses Werkes zu Recht bemerkt, daß neben „spezifischen Einwänden gegen einzelne Aspekte“ sich in ihm „eine originäre und einheitliche Theorieperspektive noch nicht erkennen“ läßt. So Steffen Sigmund, Art. Anthony Giddens, The Constitution of Society, in: Dirk Kaesler/Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart 2000, S. 158.
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nicht mehr als in der Meinung, daß es neben „der individuellen Intentionalität (ich denke, ich wünsche)“ eine „Wir-Intentionalität (wir denken, wir wünschen)“255 gibt. Begründet wird diese Meinung nicht. Der Grundsatz von der Wir-Intentionalität ist eine Annahme, d.h. ein vorläufiges Fürwahrhalten. Überprüft man dieses Fürwahrhalten, stößt man darauf, daß dem Autor das, was man als humanes Zusammensein zu bezeichnen hat, zwar irgendwie vorschwebt, daß er vermöge seines gesellschaftstheoretischen Rüstzeugs jedoch der Lehre von der Gesellschaft als einer Beziehungseinheit verhaftet bleibt. Denn welchen Unterschied macht der Autor zwischen dem, was man üblicherweise Intention und dem, was man in der Regel als Relation bezeichnet? Nach dem geläufigen Verständnis ist eine Intention ein Ausgerichtetsein von Etwas auf Etwas. Hiervon verschieden ist die Beziehung zu Etwas. Das Sichverhalten, das ein „Mensch“ zu einem andern „Menschen“ besitzt, ist im Unterschied zur bloß logischen, also zur bloß gedachten Beziehung eine reale Beziehung, sei es im seinskategorialen oder im transzendentalen Sinn. Die Ausgerichtetheit eines „Menschen“ auf einen anderen „Menschen“ begründet demgegenüber keinen über diese Ausrichtung hinausgehenden realen Bestand, sondern bleibt als ein Beabsichtigen in dem einen und in dem anderen „Menschen“. Die Intention „meint“ nur etwas Reales, sie begründet es nicht und baut es deswegen innerlich auch nicht auf. In diesem Sinn ist die Wir-Intentionalität die Bezeichnung für eine nur intendierte, nicht aber für eine real existierende Gesellschaft. Bemüht man sich, die theoretische Erkenntnis des tragenden Grundes der Gesellschaft, wie sie das vergangene Jahrhundert wissenschaftlich zu ergründen versucht hat, im Ganzen zu erfassen, kommt man am Ende zu einem ernüchternden Ergebnis. Offenkundig ist die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Theorie nicht im Stande, die Aufgabe zu bewältigen, die ihr gestellt ist. Also finden sich viele Stimmen, die zum Ausdruck bringen, daß die Frage nach dem Ursprungsgrund der Gesellschaft im gegenständlich-seinsmäßigen Sinn als unbeantwortbar anzusehen ist bzw. nur in einem metasozialen Sinn beantwortet werden kann.256 In diesem Sinn hat beispielsweise schon Max Weber (1856– 1920) sich geäußert. Nach seiner Meinung wissen wir nichts von jenem Ursprungsgrund, und wir werden von ihm auch nichts wissen. Die gesellschaftstheoretische Grundlagenproblematik erkenntnissubjektiv „entzaubernd“, faßt er 255 Willy Hochkeppel, Die Welt als Einkaufszettel. John R. Searle und seine Einführung zu Sprache und Gesellschaft, in: Süddeutsche Zeitung vom 25. Juli 2001, S. 16. 256 Vgl. z. B. Jürgen Ritsert, Soziologie des Individuums. Eine Einführung, Darmstadt 2001. Der Titel dieser Untersuchung ist irreführend. Sie bietet keine Bestimmung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Singularität. Wie es in ihr sogleich S. 1 heißt, hat der Band zum Thema die „Grundannahmen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die in den verschiedensten Ansätzen der neuzeitlichen Sozialphilosophie und der theoretischen Soziologie immer wieder auftauchen“. Die Arbeit stellt also metasoziale Grundlegungen der Gesellschaft dar. Es sind diejenigen, die dem Autor als erwähnenswert erscheinen.
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seine Überzeugung, die die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisweise bis heute maßgeblich beeinflußt, wie folgt zusammen: „Nicht die ,sachlichen‘ Zusammenhänge der ,Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde“, und deswegen auch den Wissenschaften von der Gesellschaft. – „Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des ,Sozialen‘, der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte Bedeutung an sich trägt; das ,allgemeine‘ beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner ,allgemeinen‘ Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichtspunkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte.“257 III. Die intuitiv bestimmte phänomenologische Erkenntnis des ursprünglichen Bestandes der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz
Zu den geistigen Strömungen, die unsere Zeit bestimmen, zählt nicht zuletzt jene Denkweise, die man als Phänomenologie bezeichnet. Wissenschaftsgeschichtlich schon länger vorbereitet, entfaltet sich diese Lehre, die dem Wortsinn nach eine Lehre vom logos der phainomena ist, zu einer machtvollen geistigen Bewegung. Freilich kann man von ihr nicht sagen, daß sie als stimmige Einheit besteht. Der Ausdruck Phänomenologie benennt vielmehr verschiedene Auffassungen des Seienden und seiner Erkenntnis. Es dürfte zweckmäßig sein, zumindest fünf Bedeutungen des Ausdrucks Phänomenologie zu unterscheiden. Sie sind im folgenden nicht zuletzt deswegen aufzuzeigen, weil die herrschenden Gesellschaftswissenschaften sie nicht immer bedenken, sofern sie nicht sogar ein Interesse daran haben, die genannten Bedeutungen ineinanderfließen zu lassen. Wie die wissenschaftsgeschichtliche Literatur ausweist, wird der Ausdruck Phänomenologie erstmals von dem Mathematiker, Naturforscher und Philosophen Johann Heinrich Lambert (1728–1777) verwendet. In seinem ausgreifenden erkenntniskritischen und wissenschaftstheoretischen Hauptwerk258 verzichtet er nicht zuletzt auf eine Erörterung der überlieferten ästhetischen und metaphysischen Auslegungen des Scheins als dem, was glänzend aufscheint, zum Beispiel das Sonnenlicht wie eben auch die Wahrheit. Seine Aufmerksamkeit 257 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922/19856, S. 166. 258 Vgl. Johann Heinrich Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung der Wahrheit und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein. 2 Bände, Leipzig 1764. – Obwohl nicht ohne Einfluß auf die Erkenntniskritik Immanuel Kants, blieben dem Werk weiterreichende Wirkungen versagt.
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richtet sich vielmehr auf die Beschaffenheit der Wahrnehmung in ihrem Verhältnis zum wahren Urteil. Lamberts Überlegungen gelten denjenigen sinnlichen und gedanklichen Inhalten, die dem erkennenden Subjekt nahelegen, falsch zu urteilen. Seine Phänomenologie versteht man deswegen nur dann richtig, wenn man sie als die Untersuchung des Sinnenscheins versteht, d.h. als eine Lehre derjenigen Wahrnehmungen, die den Erkenntnisgegenstand anders zeigen, als er ist. Beispielsweise mag eine Erdkrume zu der Wahrnehmung veranlassen, daß ein Hase sich im Acker versteckt. Da Lambert in seinen Studien nicht umhinkommt, auch über den gedanklichen Schein zu sprechen, d.h. über jenen Schein, der zur Verwechslung der Begriffe führt, beziehen sich seine Untersuchungen auch auf den logischen Schein. Der von ihm geprägte Begriff der Phänomenologie benennt somit einen Teil seiner Erkenntniskritik, nämlich die Lehre vom Schein. Immanuel Kant wird später den Sinnenschein und den logischen Schein als empirischen Schein bezeichnen und diesem den transzendentalen Schein gegenüberstellen. Er legt nahe, etwas Erfahrungstranszendentales als etwas Erkennbares aufzufassen. In einer zweiten Bedeutung besagt der Ausdruck der Phänomenologie so viel wie Lehre von der Erscheinung. Eine Erscheinung ist das, was sich zeigt. Das ist in der Regel ein Einzelnes, das sinnlich wahrgenommen wird. Insofern das erkennende humane Subjekt in seiner Wahrnehmung das Wahrgenommene sich zueigen macht, besteht die Erscheinung auch als das im Bewußtsein Sich-Zeigende, also als Bewußtseinsinhalt. Bedeutsamer als dieser Befund, inwiefern die Erscheinung einerseits der Außenwelt und andererseits der Innenwelt zugehört, ist die Frage, ob das Erscheinende sich in seinem Erscheinen erschöpft oder ob es als Kundgabe eines An-sich-Seins zu gelten hat, das jenseits seiner besteht. Wird dieses An-sich-Sein angenommen, ist die Erscheinung die Erscheinung des Wesens von Etwas bzw. die Erscheinung eines Dinges an sich, wie Immanuel Kant sich ausdrückt. Die Antwort auf die Frage, ob das Noumenon, also das dem Verstande Entsprechende, wie das Phainomenon, also das den Sinnen Entsprechende, der Erkenntnis zugänglich ist, unterscheidet von Grund auf zwei erkenntnistheoretische Standpunkte. Lehrt Kant, daß das Ding an sich zwar eine notwendige Voraussetzung der Erscheinung ist, so ist das Seiende doch nicht „an sich“ erkennbar. Nur insofern Etwas in seiner Erscheinung „für uns“ besteht, läßt es sich begreifen. Dieser Auffassung widerstreiten andere erkenntnistheoretische Überzeugungen. Zu ihnen zählt auch der Realismus. Er spricht von der Erkennbarkeit des intelligibile in sensibili, d.i. des EinsichtigWesentlichen im Wahrnehmbar-Tatsächlichen. Die angedeutete kritizistische Auffassung findet sich radikalisiert in jenen Erkenntnislehren, die behaupten, daß das Seiende sich in seinen Erscheinungen erschöpft. Es ist müßig, so behaupten sie, einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob es „hinter“ den Erscheinungen noch ein An-sich-Sein gibt. Dieser Meinung ist vor allem die positivistische Erkenntnisauffassung. Daß jene erste Lehre von der Unerkennbarkeit
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des An-sich-Seins dieser zweiten Ansicht den Weg geebnet hat, ist wissenschaftsgeschichtlich bekannt. Denn es bedarf nur weniger Schritte, um von der Unerkennbarkeit des An-sich-Seins zu seiner Leugnung zu kommen. Daß man jene wie diese Seins- und Erkenntnisauffassung in der Regel nicht mehr als Phänomenologie, sondern als Phänomenalismus zu bezeichnen pflegt, ist bekannt. Zum dritten benennt der Ausdruck der Phänomenologie eine besondere erkenntnismethodische Auffassung. Zumal in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismus, demzufolge das „menschliche“ Seelenleben dergestalt durch Gesetze bestimmt ist, daß diese auch und gerade das Zustandekommen der Erkenntnis bestimmen, so daß sie schließlich als die Normen der Wahrheit der Urteile bestehen, entwickelt Edmund Husserl (1859–1938) jene besondere Lehre von der Methode des Erkennens, der er den Namen Phänomenologie gibt. In ihr ist er bemüht, den Gegenständen des Erkennens wieder das Recht einzuräumen, das ihnen zukommt. Ihnen in ihrer Beschaffenheit zugewandt, strebt Husserl danach, eine unanfechtbare Grundlage des Erkennens zu erarbeiten und vorzulegen. Das Erkennen erscheint ihm als wahres Erkennen nur dann begründet zu sein, wenn es das jeweilige Erkenntnisobjekt als Objekt ernst nimmt und wenn das Erkenntnissubjekt bestimmte Bedingungen des Erkenntnisvorganges erfüllt. Des näheren sind es zwei Bedingungen. Die erste von ihnen bezeichnet Husserl als eidetische Reduktion. Eidetisch heißt soviel wie das eidos betreffend, d.i. das Wesen von Etwas. Der Ausdruck der Reduktion meint, daß etwas einzuklammern ist, also ein Unberücksichtigtlassen bestimmter Bestände im Ganzen des Erkenntnisvorganges. Er ist der Meinung, daß das Erkennen in der eidetischen Reduktion abzusehen hat erstens von der Existenz des Ich, zum zweiten von dessen erkennenden Akten sowie zum dritten vom Bestand jener als bestehend vorausgesetzten Erkenntnisgegenstände. Das Ergebnis dieser Enthaltungen im Vorgang des Erkennens besteht darin, daß das Erkennen nichts anderes ist als ein Betrachten des Wesens von Etwas, welche Umstände hierzu auch immer geführt haben und welche Bestimmungen dieses Etwas sonst noch auszeichnen mögen. Nach dieser ersten hat das Erkennen, das begründet sein will, eine zweite Reduktion zu vollziehen. Husserl bezeichnet sie als die phänomenologische Reduktion der phänomenologischen Erkenntnismethode. Sie besteht darin, daß der Erkennende sich seines Urteils darüber enthält, ob und wie das in der Betrachtung erfaßte Wesen von Etwas dem Innensein und/oder dem Außensein zugehört, also der subjektiven und/oder der transsubjektiven Welt. Diese zweite Enthaltung hat zum Ergebnis, daß das Erkennen jenseits seiner unwillkürlichen und damit nicht hinreichenden Beschaffenheit bestimmbar geworden ist. Es besteht als ein Bewußtes des Bewußthabens. Husserl spricht vom Noema der Noesis. Das Noema ist das wesentlich Geschaute von Etwas. Die Noesis ist das, was die Ideation, also die Wesensschau, innerlich aufbaut. Schließlich läßt sich das wesentlich Geschaute in seinen Beziehungen des nähe-
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ren beschreiben. Diese Beschreibung kann nach Husserls Meinung dergestalt erfolgen, daß erstens die Phänomene wesentlich bestimmbar geworden sind, ohne daß zweitens die Herrschaft des erkennenden Subjekts eine Beeinträchtigung erfahren hat. Allerdings weiß er um das Problem, das mit der Einführung des reinen Bewußtseins als Bewußtes einerseits und als Bewußthaben andererseits sich einstellt. Denn nicht beantwortet ist die Frage nach der Trägerschaft des Bewußtseins. Daß dieser Träger kein natürliches „menschliches“ Subjekt bzw. kein natürliches Ich sein kann, leuchtet ein. Denn jenes Subjekt bzw. dieses Ich besitzt nur seine, nicht die Schau des Wesens der Dinge schlechthin. Aus diesem Grund lehrt Husserl, daß dem unwillkürlichen Subjekt bzw. dem unwillkürlichen Ich mit seinen Bewußtseinsbeständen ein Subjekt bzw. ein Ich eigener Art voraufliegen muß. Mit Kant gesprochen, muß es im Sinn eines „Bewußtseins überhaupt“ beschaffen sein. Als dieses ist es nicht empirischer, sondern transzendentaler Natur, weil jene Subjekte bzw. Iche Bestände der Erfahrung sind. Husserl bezeichnet das fragliche Bewußtsein als Ur-Ich. Es ist die Bedingung der Möglichkeit, daß die Noesis ein Noema wahrhaft zu erfassen vermag. Diese Voraussetzung veranlaßt ihn, davon zu sprechen, daß im Ur-Ich „ein Gott sich offenbart“259. Zu dieser dramatischen logischen Folgerung genötigt, übersieht Husserl freilich nicht, daß sich von den gegenständlichen Erstannahmen seiner Erkenntnismethodologie her zusätzliche Probleme in der Bestimmung des Ur-Ichs ergeben, wie er es annimmt. Sie erklären sich aus der Welt der Gegenstände, wie sie in der sinnlichen Anschauung gegeben sind, später durch die eidetische Reduktion jedoch ausgeblendet werden. Husserl erkennt, daß es neben dem Ich, also dem Einen, schon immer das neben diesem bestehende Ich gibt, also den Anderen. Das ist der „Mensch“, der mit einem anderen „Menschen“ eine Beziehung unterhält bzw. unterhalten kann. Doch damit nicht genug. Denn der Andere kann zum ersten im Sinn mehrerer irgendwie vereinter Anderer verstanden werden, also im Sinn einer konkreten gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Zum zweiten kann der Andere aber auch im Sinn aller Anderen aufgefaßt werden, also in der Weite der „menschlichen“ Existenz. Sich dieser verschiedenen Bestände der humanen Existenz bewußt, ringt Husserl sein wissenschaftliches Leben lang um die kennzeichnenden Bestimmungen des Ur-Ichs. Zusammenfassend bezeichnet er die angedeutete Problematik als Phänomenologie der Intersubjektivität. Daß diese Bezeichnung – streng genommen – nichts Gesellschaftliches benennt, sondern nur eine Beziehung zwischen dem einen und dem anderen „Menschen“, sollte der Klarheit halber nicht unerwähnt bleiben. Die Phänomenologie Husserls ist nicht im Stande, die gesellschaftliche Erkenntnis zu befördern. Das Gegenteil ist der Fall. Um die damit zum Ausdruck gebrachte Zurückweisung seiner Er259 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (verfaßt 1935/36), hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1954/19622, S. 192.
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kenntnismethode in gesellschaftswissenschaftlicher Absicht zu erhärten, mag es erlaubt sein, aus einer der Kritiken der Husserlschen Phänomenologie ausführlicher zu zitieren: „Unter den Problemen, die der primordinalen Sphäre entstammen und zu immer erneuten Bemühungen analytischen Forschens angetrieben haben, steht an erster Stelle die Frage der Intersubjektivität – des ,Zwischenreichs des Dialogischen‘. Die analytische Rückfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit kommt zum Stehen bei der absoluten transzendentalen Subjektivität. Dann aber bleibt zu fragen, wie in das von hier aus konstituierte Phänomen ,Welt‘ der Andern, die mir gegenübertretende und gesellschaftlich mit mir verbundene mitmenschliche Subjektivität, ohne sprengende Wirkung hineingedacht werden kann. Man weiß, wie anhaltend und wie tief diese Frage das Nachdenken Husserls beschäftigt und beunruhigt hat. Die ,Cartesianischen Meditationen‘ sind nicht zuletzt ein Versuch, das Gespenst des ,transzendentalen Solipsismus‘ zu bannen. Die von Iso Kern aus dem Nachlaß zusammengestellten und edierten Forschungsaufzeichnungen (Husserliana XIII–XV) machen deutlich, daß das Rätsel der Intersubjektivität den Philosophen in keiner Phase seiner Entwicklung losgelassen hat und auch in der ,Krisis‘ taucht die alte und sich ständig erneuernde Frage wieder auf. Hier hören wir von der durch Epoché geschaffenen ,einzigartigen philosophischen Einsamkeit‘ als dem ,Grunderfordernis für eine wirklich radikale Philosophie‘. Sie ergibt sich daraus, daß der Epoché-Übende ,über allem natürlichen Dasein‘ mit seiner Vielheit von Menschen steht. Dann aber drängt sich die Frage auf, ob es nicht etwas wie eine ,transzendentale Intersubjektivität‘ geben muß. All diese Zweifel und Bemühungen enden, so scheint mir, bei einer unumgänglichen Dichotomie. Was meinen wir, wenn wir als Transzendentalphilosophen ,Ich‘ sagen? Entweder wir meinen die absolute Subjektivität, die Quelle aller welt-konstituierenden Akte, das ,Ur-Ich‘, wie Husserl sagte; oder aber die Subjektivität des natürlichen Menschen, der innerhalb der konstituierten und polar strukturierten Welt existiert und immer nur als Einer mit und unter Anderen zu denken ist. Das Ur-Ich fordert Einzigkeit, das natürliche Ich schließt sie aus. Wie angesichts dieser Unvereinbarkeit etwas wie eine ,transzendentale Intersubjektivität‘ gedacht werden kann, bleibt ein unaufgelöstes Rätsel, mit Husserl zu sprechen ,das Rätsel der Subjektivität‘.“260
Die Phänomenologie Husserls bleibt also in die neuzeitliche Auffassung eingebunden, nach der die Gewißheit des Erkennens durch die Reflexion auf das erkennende Subjekt gewährleistet wird. Diese Meinung nimmt ihren Ausgang vom cartesianischen Ego, wandelt sich ab zum kritizistischen transzendentalen Subjekt und ersteht aufs neue im phänomenologischen Ur-Ich. Ob der heute von sich Reden machende radikale Konstruktivismus etwas anderes ist als ein Nachklang auf die transzendentale Bestimmung der Erkenntnis, wird die Zeit erweisen.261 260 Helmut Kuhn, Der Weg vom Bewußtsein zum Sein, Stuttgart 1981, S. 146 f.; vgl. auch Paul Janssen, Edmund Husserl, Einführung in die Phänomenologie, Freiburg/München 1976, S. 22 f. 261 Der genannte erkenntnisgeschichtliche Zusammenhang wird als Untersuchung der „Aporie des modernen Denkens“ aufgezeigt und in seinen Folgen beschrieben
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Die vierte Bedeutung, die der Ausdruck der Phänomenologie besitzt, besteht in einer vereinfachten Auslegung der beschriebenen transzendentalen Phänomenologie. Die vorgenommene Vereinfachung kann man nicht anders als gründlich bezeichnen. Denn mit der Transzendentalität jener Phänomenologie weiß diese nichts anzufangen. Deren Unterscheidungen, Folgerungen und Behauptungen erscheinen ihr als gewaltsame und deswegen keineswegs als scharfsinnige Bestimmungen einer besonderen Methode des Erkennens. Vergleicht man sie mit dem zunächst doch anerkannten Bestand der vor Augen stehenden Erkenntnisgegenstände, sind sie trotz ihres gedanklichen Gewichts nichts Gewichtiges. Bedeutsam, so heißt es jetzt, sind allein die konkreten Dinge und Menschen der transsubjektiven Welt. Um sie zu erfassen, erblickt die vereinfachte Phänomenologie ihre erste Aufgabe darin, ihre Aufmerksamkeit auf die Gegenstände des Erkennens zu richten, um sie in ihrer Verfaßtheit zu begreifen. Ihr Blick ist insofern herkömmlich, also realistisch. Prüft man diese Erkenntniseinstellung des genaueren, muß man feststellen, daß sie keineswegs durchgängig der Forderung entspricht, die sie selbst an sich stellt. Denn das schlicht phänomenologische Erkennen ist zumeist schon dann zufrieden, wenn es zu der Meinung gelangt ist, des Wesens des gemeinten Gegenstandes irgendwie ansichtig geworden zu sein. Die Wesensschau, von der in der Regel gesprochen wird, meint also nicht mehr als ein Erkannthaben der Form, die den konkret erfaßten Gegenstand(sbereich) bestimmt. Wie diese Form sich erkennen läßt und vor allem, von welcher Allgemeinheit sie ist, darüber gehen die Ansichten auseinander. In der Regel wird sie als die Gattung von Etwas aufgefaßt. In diesem Sinn spricht die bescheiden gewordene Phänomenologie zum Beispiel vom Zusammensein von Etwas. Will die Erkenntnis das Zusammensein als humanes Zusammensein erfassen, also als Gesellschaft, ist sie gehalten, so viele Bestimmungen dieses Gegenstandes aufzufinden und sinnvoll geordnet darzustellen, daß es möglich ist, das humane Zusammensein von jedem anderen Zusammensein zu unterscheiden. Die gemeinte Phänomenologie besteht somit zum ersten in einer z. B. bei Gerhard Krüger, Grundfragen der Philosophie. Geschichte–Wahrheit–Wissenschaft, Frankfurt a. M. 19582. Über die transzendentale Erkenntnis des Verhältnisses von „Individuum und Gesellschaft“ heißt es S. 138: „Jeder von uns ist ein Einzelner und ein Glied der Gemeinschaft, etwas Einziges und etwas Allgemeines (Typisches); jeder ist einer für sich, mit sich allein, und zugleich doch einer, der für andere ist und der auch sich selbst nur als einen solchen verstehen kann, der einer Allgemeinheit angehört (als Vater, Sohn, Deutscher, Student, als Mann oder Frau). Auch diese Einheit, die für jedes selbständige, besonders für jedes ichbewußte Denken ein Problem ist, wird im modernen Denken zu einem konstitutiv unlösbaren Problem, einer Aporie. Der moderne Denker hat sich auf sein Fürsichsein im Denken zurückgezogen. Denken als freies Nachdenken ist in der Tat wesentlich ein Tun des Einzelnen, etwas, was jeder unvertretbar selbst vollziehen muß; denn es ist ja ein Sich-Entscheiden. Wenn nun der moderne Denker nur als Denkender denkt, dann bedeutet das: er zieht sich auf seine Einzigkeit zurück. Er versteift sich als Denker a priori darauf, nur einziger zu sein, er hat damit zwar die Unabhängigkeit von den Mitmenschen gewonnen, aber auch die Beziehung zu ihnen verloren.“
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manchmal mehr und zumeist weniger befähigten Schau des Wesens des gemeinten Gegenstandes sowie zum zweiten in einer Erfassung und Wiedergabe seiner ihn äußerlich kennzeichnenden Merkmale. In dem Maße, in dem dieses Erkennen sich der Erarbeitung jener Merkmale widmet, besteht sie als Lehre von der Beschreibung der Erscheinungen von Etwas. Im Abstand zur Transzendentalität des phänomenologischen Erkennens einerseits und in der Nähe zum Phänomenalismus andererseits dürften die Gründe dafür liegen, daß diese Art, phänomenologisch zu arbeiten, weite Verbreitung gefunden hat. Das Bedürfnis, den jeweils gemeinten und im allgemeinen aufgefaßten Gegenstand in seinen ersten und zumal in den ihnen folgenden weiteren Eigenschaften zu beschreiben, durchzieht alle Wissenschaften. Das gilt auch und gerade von jenen Wissenschaften, deren Ehrgeiz es ist, Festgestelltes ursächlich oder zumindest durch die Annahme einer Ursache zu erklären. Da die Beschreibung darauf verzichtet, Sachverhalte zu ergründen, hatte und hat diese Weise des Erkennens nicht wenig Spott ertragen. Oft genug wurde und wird sie als Feld-, Wald- und WiesenPhänomenologie belächelt. Von den aufgezeigten phänomenologischen Erkenntnisstandpunkten unterscheidet sich das fünftens zu nennende Verständnis von Phänomenologie wesentlich. Ihre Ausbildung erklärt sich aus der Tatsache, daß in der Folge vor allem der kritizistischen Bestimmung des Erkennens sehr verschiedene Lehren vom Erkennen ausgebildet worden sind. Am Ende haben sie die Sicherheit der Erkenntnis mehr beeinträchtigt als gefördert. Ihren Tiefpunkt erreichte diese Entwicklung in denjenigen Meinungen, die behaupteten, daß das Erkennen sich durch seine (wirtschaftliche) Nützlichkeit auszuweisen hat. Einflußreich ist diese Auffassung bis heute. Sie besteht in den verschiedenen Ausprägungen des erkenntnistheoretischen Voluntarismus. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, daß die Lehre vom Erkennen sich auf sich selbst zu besinnen beginnt und in dieser grundsätzlichen Absicht auch die eigene Geschichte bedenkt. Diese Rückbesinnung erfolgt nicht zuletzt unter dem Namen Phänomenologie. Er ist weit genug, die Frage nach der Beschaffenheit des Erkennens zu stellen, also nach der Logik und dem Logos der Phänomene. Zug um Zug nähert sich diese Nachforschung der Erkenntnisweise, wie sie sich vor der Wende zum Subjektivismus fand, also dem Realismus. Zur Erinnerung sei wiederholt, daß der realistische Erkenntnisstandpunkt sich dadurch auszeichnet, daß er überzeugt ist vom Selbstand des erkennenden menschlichen Subjekts, vom Bestand der Außenwelt mit ihren formal und material an sich bestimmten Gegenständen, von der objektiven Geltung der Allgemeinbegriffe sowie von der Beschaffenheit der Erfahrung als Zugang zum transzendenten Sein. Sich zwar nicht als Realismus, sondern zeitgemäß als Phänomenologie bezeichnend, nimmt diese erkenntnistheoretische Selbstbesinnung zunehmend die Erkenntnisgestalt des Realismus an. Wie sehr die „neue“ Phänomenologie sich allerdings dem „alten“ Realismus auch nähert bzw. sich sogar als seine Fortsetzung versteht, so sehr unterschei-
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den sich die beiden Erkenntnisauffassungen doch in einem Punkt von einander. Er betrifft das erkennende Subjekt in seinem Verhältnis gegenüber dem Allgemeinen. Wie erinnerlich lehrt der überkommene Realismus, daß zwischen der Realität als Seinsinhalt und als Denkinhalt zu unterscheiden ist. Besteht das Allgemeine als Seinsinhalt ungeschieden in der Einheit des realen Erkenntnisgegenstandes, so ist es als Denkinhalt „auf andere Weise“ verwirklicht, nämlich geschieden von anderen Denkinhalten des erkennenden Subjekts. Diese Geschiedenheit erklärt sich aus der Beschaffenheit des geistigen Erkennens des Menschen. Es besteht letztlich in einem Abstrahieren, also in einem gedanklichen Herauslösen des Allgemeinen. Diese Auffassung, nach der das Allgemeine aus dem gegenständlich Seienden, das in Einheit mit ihm besteht, aus ihr herausgelöst werden muß, um es als das in Frage stehende Allgemeine erkennen zu können, stimmt das phänomenologische Denken nicht zu. Es behauptet, daß das in der Einheit mit seinem Gegenstand bestehende Allgemeine demjenigen erkennenden Vermögen direkt zugänglich ist, das man Intuition nennt. Intuition besagt geistige Anschauung. Gewiß, so heißt es zustimmend, ist das erkennende humane Subjekt auch abstraktiv tätig. Es vermag zu trennen und zu verbinden, also aus einer gewonnenen Erkenntnis folgernd zur nächsten Erkenntnis voranzuschreiten. Es ist reproduktiv, diskursiv und rational beschaffen, weshalb es als abstrahierendes Erkennen bezeichnet wird. Über diese Beschaffenheit hinaus verfügt der geistig erkennende Mensch aber noch über ein weiteres Vermögen. Es ist das Vermögen der Einsicht, also die Fähigkeit, in Etwas geistig hineinsehen zu können. Dieses Schauen zeichnet sich dadurch aus, daß es insbesondere die ersten Ursprungsgründe zu erfassen vermag. Insofern ist dieses Erkennen kreativ, intuitiv und, wie es heißt, vorrational, also „ganzmenschlich“. In der Regel wird jenes Vermögen als Verstand und dieses als Vernunft bezeichnet. Im Griechischen wird die zuerst genannte Erkenntnisfähigkeit durch das Wort dianoia und die zweitens genannte durch das Wort nous benannt, im Lateinischen wird zwischen ratio und intellectus unterschieden. Im Urteil darüber, ob das geistige Erkennen von seinem Grunde her, nach seiner Erkenntniskraft und in seiner Reichweite zuerst als Vernunft und sodann als Verstand besteht oder ob das Umgekehrte der Fall ist, unterscheiden sich der „alte“ Realismus und die „neue“ Phänomenologie. Meint der Realismus, der der Tradition folgt, daß der Unterschied unwesentlich ist, weil Verstand und Vernunft nur zwei Fähigkeiten der einen geistigen Seele sind, und sodann, daß der Verstand die Vernunft sich botmäßig hält, so fragt die Phänomenologie zurück, ob das realistische Erkennen nicht von Anfang an vorrangig als geistig-anschauliches Erkennen entwikkelt ist. Unter diesen Umständen ist es nicht müßig, einen Blick in die Geschichte des Denkens zu werfen, wie die Geschichte der Philosophie sie aufzeichnet. Daß sich in ihr zum Beispiel das folgende Urteil findet, bestätigt die Auffassung der modernen Phänomenologie: Richtig ist, daß Aristoteles „für die Entstehung der species intelligibilis aus den species sensibiles den Ausdruck
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Abstraktion (aphilein) gebraucht“ hat, also ein Tätigkeitswort, das dem Ausdruck aphistasthai, d.h. beiseitestellen, trennen, entfernen, entspricht. Offenbar ist das der Grund, aus dem man in der Folge „bei der Tätigkeit des Nous“ auch „wieder von einer ,Abstraktionsfähigkeit‘ . . . gesprochen und so das Entstehen der unsinnlichen Begriffe interpretiert“ hat. Gegenüber dieser Auffassung, die der Kraft der geistigen Anschauung mißtraut, gilt es, das Folgende zu bedenken: „In der aristotelischen Abstraktion wird . . . der Begriff nicht erst im Verlauf eines psychologischen Prozesses gebildet, durch Verschmelzung oder Abschleifung von Vorstellungen, sondern schon fertiges Ontisches wird herausgehoben, möglicherweise schon aus einer einzigen Sinneswahrnehmung; denn das Allgemeine wird nicht durch Vergleich, sondern infolge einer ,Durchleuchtung‘ erfaßt. Das allgemeine Wesen leuchtet unter der Tätigkeit des Nous auf wie die Farbe, wenn das Licht sie bestrahlt. Darum sollte man aufhören bei Aristoteles ohne Einschränkung von einer Abstraktion zu sprechen. Seine Abstraktion ist Wesensschau“ oder, wie man dieses Ergebnis des Erkennens auch nennen könnte, eine „intuitiv gewonnene Abstraktion“262. In diesem Sinn verstanden, besteht die gegenwärtig als Phänomenologie bezeichnete Erkenntnisauffassung wesentlich als Lehre von der geistig-anschaulichen Erkenntnis des Wesens des erscheinenden endlichen Seienden. Die Skizze der als phänomenologisch angesehenen Erkenntnisweise hat, wie erinnerlich, den Zweck, darauf aufmerksam zu machen, daß sich Bemühungen, den Ursprungsgrund und den von ihm getragenen inneren Aufbau der Gesellschaft zu erfassen, nicht nur im realistischen, sondern auch im phänomenologischen Erkennen, finden. Freilich kann man im Fall des phänomenologischen Erkennens nicht darauf verzichten, zu benennen, um welche Art von Phänomenologie es sich handelt. Denn wie bemerkt wird, ist der Ausdruck der phänomenologischen Gesellschaftserkenntnis im allgemeinen Sinn, also als phänomenologische Gesellschaftsphilosophie, wie im besonderen Sinn, also als phänomenologische Soziologie, „eine umstrittene Bezeichnung für mehrere Varianten einer theoretisch-soziologischen Analyse“.263 Wenn der zitierte Text fortfährt, daß diese Analyse „durch das methodologische Werk von A. Schütz begründet worden ist“, so ist dieses Urteil nur eingeschränkt gültig. Denn trotz seiner le-
262 Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter, Freiburg/Basel/Wien 199114, S. 180 f. 263 Karl-Heinz Hillmann, Art. Phänomenologische Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 665. – Vgl. auch Hilmar Brauner, Die Phänomenologie Edmund Husserls und ihre Bedeutung für die soziologische Theorie, Meisenheim/Glan 1978 sowie Walter L. Bühl, Phänomenologische Soziologie. Ein kritischer Überblick, Konstanz 2002. Dieses bemerkenswert gelehrte Werk ist in der Darstellung der verschiedenen einzelnen phänomenologischen Erkenntnisweisen, die auf die Gesellschaft gerichtet sind, klar, im ganzen sind sie jedoch nicht greifbar. Deswegen ist die Bezeichnung dieses Überblicks als kritisch unzutreffend.
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benslangen angestrengten Bemühungen blieb Alfred Schütz (1899–1959)264 der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls verhaftet, und wie es diesem nicht gelang, so gelang es auch ihm nicht, eine vernünftige und deswegen als gewiß anzuerkennende Bestimmung des Grundes und des inneren Aufbaus der Gesellschaft vorzulegen265. Aus diesem Grund wird von den Schülern und von den Nachfahren von Schütz dessen Bemühen bis heute fortgesetzt.266 Anders verhält es sich mit jenen Untersuchungen, die der geistig-anschaulichen Erkenntnis des Wesens der erscheinenden Gesellschaft verpflichtet sind. Als herausragende Forscherpersönlichkeiten dieser Phänomenologie sind die folgenden Philosophen bzw. Soziologen zu nennen: Dietrich von Hildebrand (1889– 1977)267 sowie der ihm verbundene Hans-Eduard Hengstenberg (1904–1998)268; sodann Werner Ziegenfuß (1904–1975)269 und der Niederländer Harry Hoefnagels (1922–1990)270. Unter den genannten Persönlichkeiten, die sich um eine geistig-anschauliche Erkenntnis des Ursprungsgrundes und des inneren Aufbaus der Gesellschaft bemühen, ist Werner Ziegenfuß derjenige Gelehrte, der sich der Erkenntnis der Gesellschaft wohl aufs Bestimmteste gewidmet hat. Ohne daß die Leistungen der anderen Autoren geschmälert sein sollen, ist von seiner wissenschaftlichen Arbeit zu sagen, daß sie sich im Ganzen der Erkenntnis der Gesellschaft verpflichtet weiß. Im Unterschied zu jenen anderen Gelehrten, die sich auch nichtgesellschaftswissenschaftlichen Themen zuwandten, verstand Ziegenfuß sich wesentlich als Gesellschaftsphilosoph und als Soziologe. Folgerichtig ist sein 264 Vgl. zu Leben und Werk von Alfred Schütz z. B. Richard Grathoff, Alfred Schütz, in: Dirk Käsler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Zweiter Band von Weber bis Mannheim, München 1978. 265 Vgl. zur Kritik der phänomenologischen Erkenntnis insbesondere im transzendentalen und im deskriptiven Sinn z. B. Rolf Eickelpasch/Burkhard Lehmann, Soziologie ohne Gesellschaft? Probleme einer phänomenologischen Grundlegung der Soziologie, München 1983; Heinrich Rombach, Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer Phänomenologischen Soziologie, Freiburg/München 1994. 266 Vgl. z. B. Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn/München/Wien/Zürich 1980; Richard Grathoff, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1989; Ronald Kurt, Menschenbild und Methode der Sozialphänomenologie, Konstanz 2002; Karl Lenz, Art. Soziologie, Phänomenologische, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 20022; Ilja Srubar/Steven Vaitkus (Hrsg.), Phänomenologie und soziale Wirklichkeit. Entwicklungen und Arbeitsweisen, Leverkusen 2003; Ilja Srubar, Phänomenologie und soziologische Theorie, Wiesbaden 2007. 267 Vgl. Dietrich von Hildebrand, (Die) Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, Augsburg 1930/Regensburg 1955. 268 Vgl. Hans-Eduard Hengstenberg, Grundlegungen zu einer Metaphysik der Gesellschaft, Nürnberg 1949. 269 Vgl. die Angaben in den nachstehenden Fußnoten 274, 280 und 281. 270 Vgl. Harry Hoefnagels, Soziologie des Sozialen. Einführung in das soziologische Denken (1964), Essen 1966.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
wissenschaftliches Lebenswerk der Ergründung der gesellschaftlichen ExistenzGestalt der humanen Existenz gewidmet. Im einzelnen ist das wissenschaftliche Ziel, dem Ziegenfuß sich verpflichtet wußte, durch seine Schriften ausgewiesen. Aus verschiedenen Erfahrungen der Gesellschaft heraus denkend, ist sein Erkennenwollen durchgängig auf die Mitte des gesellschaftlichen Lebens gerichtet, sofern es nicht ausdrücklich die gesellschaftstheoretische Grundlagenproblematik zum Gegenstand hat. Warum die herrschenden Gesellschaftswissenschaften diese Arbeiten, die sich durch ihren hohen wissenschaftlichen Anspruch auszeichnen, nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen haben, wollen die folgenden wissenschaftsgeschichtlichen Feststellungen verdeutlichen. Es bestand eingangs schon Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß der Erkenntniszusammenhang, der als Soziologie bezeichnet zu werden pflegt, als Theorie sich erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu disziplinieren vermochte. Die sogenannte Gründergeneration der deutschen Soziologie lebt und arbeitet also im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Geschichtsschreibung des Faches pflegt darauf zu verweisen, daß der Name Soziologie im deutschen Sprachraum in einem Buchtitel erstmals 1885 verwendet wird.271 Die erste gesellschaftswissenschaftliche Arbeit, die um die Klärung der Grundbegriffe der soziologischen Erkenntnis bemüht ist, erscheint im Jahre 1887.272 In standespolitischer Hinsicht ist zu erwähnen, daß sich aus dem Verein für Socialpolitik, der 1872 mit einer maßgeblich praktischen Zielsetzung gegründet worden ist, im Jahre 1909 eine Gelehrtenrunde herauslöst, um die Deutsche Gesellschaft für Soziologie ins Leben zu rufen. Diese Trennung unter den gesellschaftswissenschaftlich gelehrten Persönlichkeiten ist deswegen bemerkenswert, weil sie ihren Grund letztlich in einer gesellschaftstheoretischen Frage besitzt. Zumeist heißt es, daß damals darum gestritten wurde, ob die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis gesellschaftliche Sachverhalte auch zu bewerten hat oder ob sie sich jeden Werturteils enthalten soll oder sogar enthalten muß. Ist damit jener Trennungsgrund vordergründig wohl richtig bezeichnet, so erklärt er sich letztlich aus der unbeantworteten Frage, in welchem Sinn das, was man Gesellschaft nennt, theoretisch zu begreifen ist. Einzelnheitliche und ganzheitliche Auffassungen der Gesellschaft stehen jener Auffassung gegenüber, die meint, daß die Gesellschaft von ihrem Grund- oder Erstbegriff her zu erkennen ist, wobei freilich keine Einigkeit darüber erreicht ist, welcher Begriff der Gesellschaft sie in ihrem Wesen begreift. Sind deswegen jene Meinungen metasozial beschaffen, so sind diese sozialdefizienter Natur. Die Forschergemeinde spaltet zuletzt also weniger die Werturteilsfrage, als vielmehr der Streit um die 271
Vgl. Ludwig Gumplowicz, Grundriß der Soziologie, Wien 1885. Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig 1887; seit der 2. Auflage Berlin 1912 mit dem geänderten Untertitel: Grundbegriffe der reinen Soziologie. 272
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Bestimmung des ersten Ursprungsgrundes der Gesellschaft. Meinen die Einen, daß die Gesellschaft sich dadurch erklärt, daß man sie „formal“ auf etwas (Menschlich-)Einzelnes zurückzuführen bzw. aus etwas (Menschlich-)Ganzem abzuleiten hat, so meinen die Anderen, daß die Gesellschaft „material“ zum Beispiel in Beziehungen, in Handlungen, als Gesellschaft und Gemeinschaft, usw. begründet ist. Die mehr schlecht als recht erzielte Verständigung über das, was als gesellschaftswissenschaftliche bzw. als soziologische Erkenntnis gelten kann, versucht die gesellschaftswissenschaftliche Geschichtsschreibung als „Konstitutionsprozeß der Soziologie“ bzw. als „Begründung und Ausarbeitung der Soziologie“ im nachhinein verständlich zu machen.273 Die auf die Gründerpersönlichkeiten der Gesellschaftswissenschaften folgende Gelehrtengeneration sah sich somit insbesondere einer Soziologie gegenüber, die in sich in mehrfacher Hinsicht zerstritten war und der nicht zuletzt deswegen die öffentliche Anerkennung weitgehend versagt blieb. Neben anderen jungen Gesellschaftswissenschaftlern, die ihre Arbeit nach dem I. Weltkrieg aufnahmen, sah sich auch der damals 30jährige Ziegenfuß herausgefordert, jene Begründung vorzulegen, die fähig sein könnte, das bestehende gesellschaftswissenschaftliche Elend überwinden zu helfen. Im Vorwort seines Versuchs, das Wesen der Gesellschaft zu bestimmen, benennt er den Anlaß und das Ziel seiner Untersuchung wie folgt: „Umstritten von außen, zerstritten in sich kann die Soziologie in Deutschland sich als Wissenschaft nur schwer durchsetzen. Vor Jahren tauchte daher dem Verfasser der Plan auf, Einheit und Mannigfaltigkeit der Soziologie zu untersuchen und darzustellen. Zu der ursprünglich nur methodologischen Fragestellung ist die ontologische getreten, und erst mit der philosophischen Besinnung über das Wesen der Gesellschaft im Ganzen ihres Seins und in der Fülle ihrer Formen glaubt der Verfasser einen tragfähigen Grund für alle soziologische Forschung aufweisen zu können.“274 Ob Werner Ziegenfuß die Leistung erbracht hat, zu der er sich durch die mißlichen Verhältnisse in der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft herausgefordert fühlte, ist eine Frage, die in der damaligen Zeit nicht aufgegriffen und schon gar nicht abschließend erörtert worden ist. Denn zunehmend sah die gesellschaftswissenschaftliche Arbeit sich jenen Ansinnen ausgesetzt, die der politische Nationalsozialismus alsbald forsch beim Namen nannte. Alle Theorie der Gesellschaft, auf welche Weise sie auch immer entwickelt worden war, mußte es sich gefallen lassen, daraufhin überprüft zu werden, ob sie mit der zur Herrschaft gelangten Doktrin vom Blut und vom Boden der Deutschen und von ihrem Brauchtum und von ihrer Sitte sich vereinbaren ließ. Es dauerte nicht 273 Friedrich Heckmann/Friedhelm Kröll, Einführung in die Geschichte der Soziologie, Stuttgart 1984, S. 25 ff. bzw. S. 53 – Vgl. z. B. auch Dirk Käsler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984. 274 Werner Ziegenfuß, Versuch über das Wesen der Gesellschaft, Leipzig 1935, S. V.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
lange, bis die Überwachung von außen durch eine Kontrolle von innen ergänzt wurde, also durch Angehörige der Gesellschaftswissenschaften selbst. In diesem Sinn ist in einer Untersuchung über Die deutsche Schule der Soziologie zu lesen, daß die Disziplin namens Soziologie jetzt „andere Ziele, andere Mittel, andere Voraussetzungen als die bisherige ,Soziologie‘“ besitzt. Denn „sie findet ihre Aufgaben, ihren Antrieb, ihre sittliche Haltung und ihre geistige Begründung“ in jener „Erneuerung des deutschen Volkes“, die die „nationalsozialistische Bewegung“ in Angriff genommen hat. „Sie kann nicht die Aufgabe haben, an den Grunderkenntnissen der nationalsozialistischen Bewegung herumzudeuten.“ „Sie kann diese Grunderkenntnisse nur in sich aufnehmen“. „Dann findet sie von ihnen aus sofort den Weg zur strengen Arbeit“275. Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, daß der genannte Versuch von Ziegenfuß, kaum, daß er erschienen war, zunächst für nicht erwähnenswert und sodann als dem Zeitgeist widersprechend erachtet wurde. Erst in unseren Tagen unternommene wissenschaftsgeschichtliche Erforschungen der „theoretischen Arbeiten“ der Gesellschaftserkenntnis jener Jahre muten sich zu, ein Urteil über die erwähnten Zusammenhänge auszusprechen. In der Sache zutreffend, doch in der Ausdrucksweise merkwürdig, heißt es in einer dieser Arbeiten, daß neben beachtlichen Untersuchungen anderer Autoren „hier aber auch die wohl wissenschaftlichste Arbeit der Deutschen Soziologie nach 1933“ zu nennen ist, „die jedoch in ihrer Distanz zur NS-Ideologie auf keine Resonanz stieß, nämlich Werner Ziegenfuß (1935)“276. Daß die Lebensverhältnisse auch nach dem II. Weltkrieg nicht ohne Einfluß auf die Gesellschaftserkenntnis in Deutschland waren, ist wiederholt bemerkt worden. Vereinfacht gesagt, nötigten sie zu einer Beantwortung der Frage, ob es möglich ist, sofern das nicht sogar als geboten erschien, die deutsche Soziologie fortzusetzen oder sie als beendet hinter sich zu lassen und sich einer vertretbaren Soziologie zuzuwenden. Als diese galt gemeinhin die angelsächsische, in Sonderheit die amerikanische Soziologie.277 Nach den Verhältnissen, wie sie sich in Westdeutschland ausbildeten, verwandelte sich jene Frage unter der Hand zur Auseinandersetzung darüber, ob die Gesellschaftswissenschaften empirisch, also einzelnheitlich, oder ob sie kritisch, also ganzheitlich, zu betreiben sind. Damit ist die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis, die die Höhe der Zeit erreicht hat, an ihren Anfang zurückgekehrt. Die geänderten Blicke auf die physischen wie auf die psychischen Gehalte der Gesellschaft wie die ausgewechselten Bezeichnungen für die beiden Formen der Gesellschaft verschleier275
Karl Heinz Pfeffer, Die deutsche Schule der Soziologie, Leipzig 1939, S. 3. Otthein Rammstedt, Deutsche Soziologie 1933–1945. Die Normalität einer Anpassung, Frankfurt a. M. 1986, S. 130. 277 Vgl. Arnold Bergstraesser, Amerikanische und Deutsche Soziologie, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Heft Juli 1953, Wiederabdruck in: ders., Politik in Wissenschaft und Bildung. Schriften und Reden, Freiburg/Brsg. 1961. 276
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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ten nur mühsam den Rückschritt. Am eindrucksvollsten beschäftigte sich die neue alte gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis wohl unter den zu SchlagWorten ausgebildeten Namen Industriegesellschaft und Spätkapitalismus.278 Was weder unter jenem noch unter diesem Ausdruck zusammenfaßbar war, wie etwa die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisauffassung, nach der die Soziologie als Sozialgeschichtsschreibung der Gegenwart auf Dauer zu verstehen ist279, wurde zwischen der einzelnheitlichen und der ganzheitlichen Gesellschaftsauffassung jener Jahre gleichsam zerrieben. In diesem gesellschaftswissenschaftlichen Handgemenge legte Werner Ziegenfuß seinen von Grund auf überarbeiteten Versuch von 1935 abermals vor. Es verwundert nicht, daß die 1953 als „Gesellschaftsphilosophie“ veröffentlichte Arbeit das Schicksal ihres Vorgängers teilte. Abermals waren die Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft280 unzeitgemäß. Hieran vermochte auch das von Ziegenfuß wenig später herausgegebene Handbuch der Soziologie, das die deutsche Soziologie nach 1945 erstmals repräsentativ zusammenfaßt281, nichts zu ändern. Die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis in Deutschland hat über diese Arbeiten hinweggesehen. Daß das in der Mitwelt bisweilen Irritationen hervorrufende, weil von verschiedenen Schicksalsschlägen heimgesuchte Leben von Ziegenfuß zu diesem Vergessen beigetragen haben mag, soll nicht unerwähnt sein.282 Nach diesen vermutlich nicht unnützen Mitteilungen, die an einige wenige Daten der Entwicklung der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis erinnern wollten, kann die Untersuchung zur systematischen Darstellung der Erarbeitung der Theorie der Gesellschaft zurückkommen. Das Bemühen von Ziegenfuß, den Ursprungsgrund und den inneren Aufbau der Gesellschaft zu bestimmen, nimmt seinen Ausgang im Wahrnehmen und Durchforschen der Phänomene. Sie liegen vor als Behauptungen über die Beschaffenheit des Grundes, der die Gesellschaft trägt und sie deshalb von innen her formt. Also sieht Ziegenfuß sich veranlaßt, eine Vielzahl von Bestimmungen aufzuzeigen, die als Ursprungsgrund der Gesellschaft gelten wollen. Sodann benennt er die verschiedenen Ordnungsgefüge der Gesellschaft, die dem jeweiligen Grund entsprechen. In diesem Bemühen bemerkt er, daß sich die ausgebildeten Meinungen zu zwei, durch ihre Form bestimmte Auffassungen zusammenfassen lassen. Es sind dies die einzelnheit278 Vgl. Theodor W. Adorno (Hrsg. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969. 279 Vgl. Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/ Köln 1959. 280 Vgl. Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1953. 281 Vgl. Werner Ziegenfuß (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956. 282 Vgl. Heinrich Stieglitz, Art. Werner Ziegenfuß, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon. Band 2, Stuttgart 1984, S. 952.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
lichen und die ganzheitlichen Ansichten der Gesellschaft. In seinen Untersuchungen der Seinsform der Gesellschaft vereint Ziegenfuß die vertretenen einzelnheitlichen Auffassungen unter dem Titel „Elemente“ des sozialen Seins. Ihnen stellt er die behaupteten ganzheitlichen Meinungen gegenüber, die er als Das Ausgehen vom „Ganzen“ des sozialen Seins bezeichnet. Die zur Zeit seiner Untersuchung bevorzugt aufweisbaren Ansichten im Einzelnen wiederzugeben, erübrigt sich. Für sie mag die Geschichtsschreibung der Gesellschaftswissenschaften sich interessieren, die im übrigen deswegen auch darüber in Kenntnis zu setzen vermag, in welchem Maß die gesellschaftswissenschaftliche Forschung bis jetzt von Vorstellungen von der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz abhängt, die geradezu als Moden den wissenschaftlichen Meinungsmarkt beherrschen. So spielten um die vergangene Jahrhundertwende und bis in ihre ersten Jahrzehnte hinein, um wenigstens ein Beispiel anzuführen, jene Lehren eine nicht geringe Rolle, die man als Trieb-, Instinkt-, Reiz-, Gefühls-Lehre oder ähnlich bezeichnete. Danach hat man als Ursprungsgrund der Gesellschaft zum Beispiel den Vergesellungstrieb anzusehen. Da er im „individuellen Menschen“ angelegt ist, folgt aus dieser Auffassung die Behauptung, daß die Gesellschaft auf einzelnheitliche Weise besteht. Dergleichen behauptet heute niemand mehr, jedenfalls der Redeweise nach. Dafür wird gegenwärtig beispielsweise vom „menschlichen Verhalten“ (des Einen gegenüber dem Anderen) gesprochen, durch das die Gesellschaft begründet wird. Dieser Grund wird in der Regel durch jenes Schema erklärt, das Reiz-Reaktions-Schema heißt. Um verschiedene Feinheiten absonderlicher ist aus Altem Neues geworden. Daß der Grund der Gesellschaft in jenem Vergesellungstrieb liegt bzw. in diesem Austausch-Betragen, ist im übrigen nichts anderes als eine Zurückführung des Bestandes der Gesellschaft auf ein natürliches An-sich-Sein, das zuletzt womöglich nicht einmal mehr im Sinn des „Menschseins“ der humanen Existenz aufgefaßt wird. Vergleichbares ist ohne Mühe von den Ableitungen aus einer Ganzheit aufzuzeigen, zum Beispiel im Sinne des ehedem universalistischen Gesellschaftsdenkens, demgegenüber das zeitgenössische Systemdenken der Gesellschaft meint, sich als gänzlich anderer Art verstehen zu müssen. Das Ergebnis seiner Untersuchung der formal zweigeteilten Bestimmung der Gesellschaft faßt Ziegenfuß wie folgt zusammen: „Das Sein der Gesellschaft im weitesten Sinn des Wortes“ kann man nur als in sich begründet, als sogenanntes autogenes Sein, verstehen, d.h. als ein Sein, das sich nicht aus seiner Zurückführung bzw. aus seiner Ableitung erklärt. „Gerade indem sie alle gegen diesen Grundsatz verstießen, haben die bisher dargelegten Theorien“ diese „Gewißheit aufgehellt“. Man kann die Gesellschaft „nicht aus irgendwelchen vorgestellten Faktoren, sei es aus Elementen, sei es ,organisch‘ entstehen oder bestehen lassen. Ebensowenig kann man sie aus Geist, Bewußtsein oder Ganzheit ableiten. Wie immer die Formen ihres Wesens sein mögen, ihr Sein beruht mit seiner gesamten Erstreckung rein in sich.“283
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Auf die Gesellschaft, soweit sie nicht einzelnheitlich und nicht ganzheitlich beschaffen ist, sondern eine „Erstreckung rein in sich“ darstellt, richtet sich die weitere Erkenntnis von Ziegenfuß. Sie besteht in einer Bestimmung dessen, was der wohl verständliche, aber ungewöhnliche Ausdruck der „Erstreckung rein in sich“ besagt. Denn weder aus den genannten Elementen bzw. aus den genannten Ganzen noch aus den Verhältnissen zwischen ihnen läßt sich etwas über den Ursprungsgrund der Gesellschaft erschließen. Einzelnheitlichkeit oder/und Ganzheitlichkeit stehen in keinem Bezug zur geistig-anschaulich erkannten „Erstreckung“. Also wendet sich ihr die Erkenntnis des näheren zu. Daß Ziegenfuß dieser „Erstreckung“ nur hinsichtlich der humanen Existenz ansichtig zu werden versucht, unterscheidet nicht zuletzt seine Untersuchung von derjenigen von Walter Brugger. Wie erinnerlich, stellt dieser seine Frage nach dem Mitsein bzw. nach dem Zusammensein im Hinblick auf das endlich Seiende auf allen seinen Vollkommenheitsgraden. Indem er die von Aristoteles erkannten Seinskategorien des Selbstandes und des Zustandes um die Seinskategorie des Mitseins = des Zusammenseins erweitert, bezieht er die erweiterte Seinskategorialität auf das endlich Seiende überhaupt. Bruggers Erläuterungen der Beschaffenheit des Mitseins = Zusammenseins auf dem Seinsgrad des humanen Seins sind deswegen nur beispielshafter Natur. Daß er gerade diesen Seinsgrad wählt, erklärt sich aus dem Seinsgeschick, das die Klärung des humanen Mitseins bzw. des humanen Zusammenseins gegenwärtig als dringlich erscheinen läßt. Ziegenfuß hat entgegen der solchermaßen umfassend geltenden Frage nach dem Mitsein bzw. nach dem Zusammensein von vornherein nur das humane Zusammensein im Auge. Freilich richtet sich sein Blick auf eben das Mitsein bzw. das Zusammensein, insofern es eben dieses ist. Geistig schauend versucht er, die Gesellschaft im Sinn des sozialen Seins bei Brugger, also im Sinn des humanen Zusammenseins von humanen zuständlichen Selbständen, zu erfassen und zu kennzeichnen. Von den herrschenden Strömungen der metagesellschaftlichen und der sozialdefizienten Erkenntnis abgewandt, erkennt und bezeichnet er das, was seine geistige Anschauung als ursprüngliche Beschaffenheit der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz erblickt, als Autogenese eben dieser Existenz-Gestalt. Darüber, ob der Begriff der Autogenese glücklich gewählt ist, kann man verschiedener Meinung sein. Denn zum ersten ist dieser Ausdruck nicht gerade geläufig. Zum zweiten bezeichnet der Ausdruck Autogenese dem Wortsinn nach ein Sein-aus-sich-heraus. Was aber aus sich heraus ist, besteht als Urzeugung, d.h. als Selbsterzeugung. In diesem Sinn gebraucht Ziegenfuß den Ausdruck Autogenese freilich nicht. Was er bezeichnet wissen will, ist eine der Urweisen des Bestandes der humanen Existenz. Der Name Autogenese benennt den seinskategorialen Charakter der humanen Existenz in ihrer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Autogenese der Gesellschaft benennt das, was der 283 Werner Ziegenfuß, Versuch über das Wesen der Gesellschaft, Leipzig 1935, S. 33 f.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Ausdruck humanes Zusammensein wohl klarer sagt. In diesem Sinn und nur in diesem Sinn ist das zu verstehen, was sich dem Phänomenologen Ziegenfuß ideeierend, also in einer geistigen Schau, als ursprüngliches Sein der Gesellschaft erschließt. Es könnte ratsam sein, sich die phänomenologische Einsicht im Zusammenhang zu vergegenwärtigen: Das erste „Wesensmerkmal des gesellschaftlichen Seins“, d.h. seine Seinskategorialität, die „auch alles bedingt, was aus dem individuellen Leben oder dem Geist stammend in eine gesellschaftliche Seinsweise hineinreicht, besteht darin, daß die gesellschaftlichen Erscheinungen als solche eine wesenseigene Ursprünglichkeit haben. Das soziale Sein ist ein Sein eigener Art. Es kann von keiner anderen Seinsweise abgeleitet werden. Nur darum kann es eine eigentümliche, gesellschaftliche Welt und eine spezifische soziale Existenz geben. Mag man das letztere leugnen, wenn man aber überhaupt von einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sprechen will, dann muß man den autogenen Charakter der sozialen Existenz anerkennen. Zu diesem Ergebnis kam bereits die Prüfung der Theorien, die den Versuch machen, die Gesellschaft aus einem andersartigen Sein von ,Elementen‘ oder ,Ganzheiten‘ abzuleiten. Das gesellschaftliche Sein beruht als eine eigentümliche Welt in seinen Seinsformen und muß aus ihm selbst heraus verstanden werden.“284
Der abstrakt erkannte Gegenstand, den Walter Brugger Mitsein nennt, und der intuitiv erkannte Gegenstand, den Werner Ziegenfuß Autogenese nennt, sind also ein und dasselbe im Sinn jener dritten Seinskategorie, die bei Ziegenfuß freilich von Haus aus eingeschränkt ist auf das Mitsein als soziales Sein. In der Verdeutlichung der aufgefundenen neuen Seinskategorie verlassen beide Autoren die Weite der Seinskategorialität und wechseln in die der Gesellschaft entsprechende kategorialen Ordnungsstufe „hinunter“. Auf ihr wird, wie erwähnt, das Mitsein als soziales Sein bezeichnet. Die Autogenese sodann wird als der autogene Charakter der sozialen Existenz benannt. Die eigene Untersuchung hat es vorgezogen und zieht es vor, die dritte Seinskategorie auf der kategorialen Ordnungsstufe, die der Gesellschaft entspricht, als humanes Zusammensein von humanen zuständlichen Selbständen zu bezeichnen. Insofern dieses humane Zusammensein das Ganze der Teilprinzipien ist, die den inneren Aufbau der Gesellschaft begründen, wird das humane Zusammensein als Verbundensein bezeichnet. Wie erinnerlich, war von den seinskategorialen Ordnungsstufen bisher nur kurz die Rede. Lediglich im Sinn einer ersten Verdeutlichung wurde vom humanen zuständlichen Selbstand als einem Durchsichsein bzw. einem Getrenntsein und vom humanen Zusammensein von humanen zuständlichen Selbständen als einem Vereinigtsein bzw. als einem Geschlossensein gesprochen. Im Sinn dieser Bestimmungen treibt Ziegenfuß seine phänomenologische Einsicht in das Verbundensein rasch voran. In einer durch die geistige Anschauung der seinskategorialen Ordnungsstufe der Gesellschaft bestimmten Sprache, die ebenso alltäglich ist, wie sie sich des bildlichen Ausdrucks bedient, wird das 284 Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1953, S. 39 f.
2. Kap.: Selbstand, Zustand und Zusammensein des Seienden
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Gefüge des inneren Aufbaus der Gesellschaft zu kennzeichnen versucht. Wenn Ziegenfuß dieses Gefüge als das Soziale bzw. als das Sozialsein der Gesellschaft benennt, so sollten diese Namen keine Schwierigkeiten im Verständnis des Gemeinten bereiten. Es dürfte nützlich sein, die von ihm zum Ausdruck gebrachte Bestimmung der Gesellschaft auf ihrer seinskategorialen Ordnungsstufe, also als Verbundensein, im Ganzen wiederzugeben, um die phänomenologische Betrachtungsweise des inneren Aufbaus der autogen begründeten Gesellschaft kennenzulernen: „Die bisherige Analyse der Seinsform der Gesellschaft hat diese in einigen ihrer Grundzüge als menschliche Lebenswelt verständlich gemacht. Wir sehen uns nun der Aufgabe gegenüber, an die Stelle der meist ihren Gegenstand verfehlenden, ihn einseitig in ein dogmatisches Bild pressenden oder besondere Merkmale der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit fälschlich zu Wesenszügen der Gesellschaft umdeutenden soziologischen Theorien einen Aufriß des gesellschaftlichen Seins zu setzen, der dieses über seinen ,menschlichen‘ Charakter hinaus gegenständlich vorstellbar macht. Die Prüfung seiner menschlichen Daseinsform zeigt das soziale Leben als ein personhaftes an eine über ihm beharrende Transzendenz gebunden. Sie lehrt die Konvergenz von sinnhafter Gestalt und Massengeschehen im Sinn einer geistigen Ganzheit. Indessen ist damit das Wesen der Gesellschaft nur in einer vorläufigen Weise angesprochen. Gesellschaft ist auch nicht nur Ausdruck einer Vielheit von persönlichen und sinngebundenen, sich ständig erneuernden Akten der Gestaltung, die gleichsam in ein gegenständliches Nichts hineinwirken. Sie sind darüber hinaus ein bestandhaftes Gefüge von Seinsformen, das es erst ermöglicht, sie als eine Gesamtheit von eigenem Wirklichkeitscharakter anzusehen und zu erkennen. Als Vermittlung des personhaften und sinngebundenen, transzendent orientierten und Gestalt bildenden Willenslebens in das gesellschaftliche Sein hinein und durch diese in die ,Geschichte‘ besteht ein Strukturzusammenhang von charakteristischen Momenten, der als das Schema des sozialen Seins dem gesellschaftlichen Leben zu seiner Auswirkung und Darstellung in einem bestandhaften Seinsgefüge eigener Art verhilft. Er bedeutet gleichsam ein Netz von Widerständen, das der Strom der persönlichen Willensenergien durchlaufen muß, um im ,Leben‘ kreisen und gesellschaftlich sichtbar in Erscheinung treten zu können. Ohne das Schema der gesellschaftlichen Erscheinungswelt würde die Personenwelt wie ein Universum von Monaden sein, deren Zusammenhang miteinander nicht anders als durch eine von Gott prästabilierte Harmonie gedeutet werden könnte. Indessen stehen die Willensträger der sozialen Existenz nicht in einem Nichts, sondern sie wirken als lebendige Energiezentren in einer welthaften Seinsstruktur, von der losgelöst sie als gesellschaftliche Wesen nicht gedacht werden können.“285
Mit der zitierten umrißhaften Bestimmung der Elemente des inneren Aufbaus der Gesellschaft ist die Untersuchung von Ziegenfuß derjenigen von Brugger vorausgeeilt. Dieser begnügt sich mit dem Beweis des Bestandes des sozialen Seins, also des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen. Die Frage, inwieweit dieser Bestand den inneren Aufbau der Gesellschaft bestimmt, 285
Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, a. a. O., S. 39.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
blieb ungestellt. Um sie im einzelnen abstraktiv oder intuitiv beantworten zu können, sind im folgenden die voraufliegenden Bedingungen der Erkenntnis des inneren Gesellschaftsaufbaus aufzuzeigen.
Drittes Kapitel
Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz § 9 Folgeprobleme der Erweiterung der realistischen Lehre von den Seinskategorien um die Seinskategorie des Zusammenseins auf dem Vollkommenheitsgrad des „menschlichen“ Seins A. Die bisher unerkannten Elemente der Existenz-Gestalten der humanen Existenz: Deren Seinsverhältnis als reale Differenz und als intentionale Identität sowie deren Verwirklichungsverhältnis als wechselseitige existentielle Kausalität Daß man in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften immer wieder auf ungereimte, wenn nicht sogar auf unverständliche Aussagen stößt, ist schon mehrfach erwähnt worden. Zu diesen vielsinnigen Aussagen gehört auch die Redeweise von der Existenz von „Mensch und Gesellschaft“ bzw. vom „Einzelnen und der Gesellschaft“. Gewiß gibt es zahlreiche Ausdrücke, die ihr zum Verwechseln ähnlich erscheinen. So wird zum Beispiel über den Zusammenhang von „Wirtschaft und Gesellschaft“ gesprochen, wie ein berühmter Buchtitel lautet286, oder in diesem Sinn enger über „Arbeit und Gesellschaft“287 oder es wird nachgerade jeder Gegenstand gesellschaftswissenschaftlich ins Auge gefaßt und erörtert, wie zum Beispiel „Religion, Kirche und Gesellschaft in Deutschland“288. Wie großzügig, weil vielerlei versammelnd, diese „Und-Titel“ auch immer sind, so werden sie in der Regel doch ohne weiteres richtig verstanden. Denn der Leser darf annehmen, daß im Rahmen eines oder des gesellschaftlichen Ganzen oder jedenfalls im Bezug auf dieses Ganze versucht wird, einen seiner Teile bzw. seiner Teilbereiche zu bestimmen, zu erkennen und darzustellen. Gegenüber den beispielsweise genannten Titeln unterscheidet sich derjenige von „Mensch und Gesellschaft“ grundsätzlich. Denn der „Mensch“ ist unter keiner Rücksicht ein Teil der Gesellschaft. 286
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei Halbbände, Tübingen 1922. Vgl. Brigitte Jany/Lisa Wallmuth, Arbeit und Gesellschaft. Ein Grundkurs in Soziologie, Weinheim und Basel 1978. 288 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Religion, Kirche und Gesellschaft in Deutschland, Leverkusen 1988. 287
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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Wie unschwer zu erkennen ist, besitzt der Ausdruck des „Menschen“ im angedeuteten Zusammenhang im wesentlichen zwei Bedeutungen. In seiner ersten Bedeutung bezeichnet er das, was man den „Stoff“ nennen könnte, aus dem die Gesellschaft besteht. Da dieser Gehalt sich durchgängig in der Gesellschaft findet, ist sie ohne Ausnahme Etwas, das menschlich beschaffen ist. Wenn die Gesellschaft aber dergestalt als etwas Menschliches besteht, ist es sinnwidrig, den Menschen und die Gesellschaft einander gegenüberzustellen. Eben das geschieht in der zweiten Bedeutung, den der Ausdruck „Mensch“ im herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkennen besitzt. Ihm zufolge ist der „Mensch“ ein Bestand, der von dem der Gesellschaft derart unterschieden ist, daß er ihr gegenüber als ein selbständiges Anderes besteht. So verstanden, bezeichnet der formelhafte Ausdruck „Mensch und Gesellschaft“ zwei verschiedene Realitäten, mögen sie auch aufeinander „bezogen“ sein. Wie sehr die herrschenden Gesellschaftswissenschaften davon nicht ablassen können, den „Menschen“ als Etwas aufzufassen, das in sich begründet ist, und deswegen der Gesellschaft gegenübersteht, so sehr sind sie unfähig, den Gedanken des Selbstandes des Menschen zu Ende zu denken. Deswegen bleibt das „Verhältnis“ von „Mensch und Gesellschaft“ in der herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis unbestimmt. Freilich ist bekannt, daß diese Unbestimmtheit nach ihrer Vereindeutigung drängt. Also heißt es in ihrer Folge alsbald, daß der „Mensch“ in keiner Hinsicht einen Selbstand darstellt. Er existiert vielmehr als Zustand der Gesellschaft. Im Sinn dieser gesellschaftswissenschaftlichen Doktrin lautet der Schluß, daß der „Mensch“ nur als gesellschaftliches Wesen seine wahre Existenz besitzt.289 289 Daß die genannte Unbestimmtheit mit ihrer Folge auch und gerade die grundlegenden Werke der Soziologie beherrscht, läßt sich allenthalben belegen. Vgl. z. B. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei Halbbände, Tübingen 1922. – Der Grundbegriff dieser Soziologie, nämlich das Handeln der humanen Existenz, wird ihrer Natur gemäß auf zweifache Weise verstanden. Es besteht als Handeln der menschlichen Existenz-Gestalt einerseits und als Handeln der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt andererseits. Auf S. 1 des genannten Werkes heißt es deswegen: „,Handeln‘ soll . . . ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußerliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ,Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird oder daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Hervorhebungen d. d. Verf.) Nach diesen Definitionen ist das Handeln also menschlich und zugleich gesellschaftlich beschaffen. Was es mit dem menschlichen Handeln auf sich hat und wie es sich zum gesellschaftlichen Handeln verhält, bleibt jedoch ungeklärt. Daß Max Weber in seiner Soziologie sich allein dem gesellschaftlichen Handeln zuwendet – was statthaft ist –, diesem aber das menschliche Handeln eingliedert – was unstatthaft ist –, erweist seine gesellschaftswissenschaftliche Arbeit als unsachgemäß verfahrend. Er verhält sich wie die meisten sogenannten Klassiker der Gesellschaftswissenschaften und deren Schüler. Die klärende Bestimmung der Begrifflichkeit im Verhältnis von „Mensch und Gesellschaft“ in der herrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis ist dringend geboten. Vgl. hierzu den Bedeutungsunterschied z. B. von Beziehung/soziale Beziehung; Gruppe/soziale Gruppe; System/soziales Sy-
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Wie erinnerlich, hat die Erweiterung der realistischen Kategorienlehre zur Unterscheidung zwischen drei Seinskategorien geführt. Es sind dies der Selbstand, der Zustand und das Zusammensein. Die Bestimmung der Verhältnisse zwischen diesen Seinskategorien erforderte eine Ergänzung der überkommenen Auffassung des Aufbaus der sogenannten metaphysischen Grade, also der Verhältnisse zwischen der jeweils übergeordneten Gattung und der ihr untergeordneten Wesensart der Dinge. Als unumgänglich erwies es sich, zwischen den Urmodi und den ihnen abgestuft nachfolgenden Gattungen im seiend-allgemeinen wie im begrifflich-allgemeinen Sinn eine seinskategoriale Ordnungsstufe einzufügen. Sie besteht aufgrund der Kategorienverhältnisse in zwei Ausprägungen. Deren erste ist die Stufe des zuständlichen Selbstandes, deren zweite ist die Stufe des Zusammenseins von zuständlichen Selbständen. Diese Kategorienverhältnisse des endlich Seienden wurden des näheren auf dem Vollkommenheitsgrad des „menschlichen“ Seins benannt, also für das sogenannte animal rationale, d.i. für das vernünftige Sinnenwesen oder, wie man sagen sollte: Für die humane Existenz. Diese humane Existenz wurde einerseits als Beisichsein und andererseits als Verbundensein erkannt und bezeichnet. Als Beisichsein wurde das Ganze der inneren ersten Aufbaugründe der humanen Existenz als psychische Existenz-Gestalt aufgefaßt, d.h. des Menschen im engeren und damit im eigentlichen Sinn. Als Verbundensein wurde dem entgegen das Ganze der inneren Aufbaugründe der humanen Existenz als soziale Existenz-Gestalt verstanden, d.h. des Aufbaus des „Menschen“ als vergesellschaftetes Wesen oder kurz der Gesellschaft. Diese Unterscheidung folgt der überkommenen Erkenntnis der inneren Verwirklichung des endlich Seienden als Selbstand und als Zusammensein, die sich zwischen diesen höchsten Gattungen und schließlich dem konkreten Einzelwesen erstreckt. Es ist zum ersten wirklich da als dieser konkrete Mensch, zum Beispiel dieser Mensch namens Peter, sowie als diese Gesellschaft namens mittelalterliche europäische Ständegesellschaft. Stehen der Mensch und die Gesellschaft sich solchermaßen gegenüber, dann ist das Erkennen herausgefordert, zu erklären, wie es um deren „Verhältnis“ bestellt ist. Das Ergebnis der folgenden Untersuchung stichwortartig vorwegnehmend, sei zur Erleichterung des Verständnisses angemerkt, daß das „Verhältnis“ zwischen dem Menschen und der Gesellschaft einerseits als reale Differenz und andererseits als intentionale Identität begreifbar ist. Es dürfte zweckmäßig sein, die Bestimmung der Elementar-Bestände, wie sie sich aus den seinskategorialen Ordnungsstufen als „Verhältnis“ zwischen dem humanen zuständlichen Selbstand und dem humanen Zusammensein von zuständlichen Selbständen ergeben, mit einer allgemeinen Kennzeichnung zu beginnen, nämlich mit der Kennzeichnung der Bedeutung des Begriffs der Unter-
stem; Rolle/soziale Rolle; Wandel/sozialer Wandel; Funktion/soziale Funktion; Persönlichkeit/soziale bzw. sozial-kulturelle Persönlichkeit, usw.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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schiedenheit bzw. der Unterscheidung. Sachlich dasselbe meinend, benennt der Ausdruck Unterschied etwas Gegenständliches, während der Ausdruck Unterscheidung ein Tun eines erkennenden Subjekts bezeichnet. Ein Wort, das den objektiven wie den subjektiven Gehalt umfassend bezeichnet, findet sich im Deutschen nicht. Innerhalb des Gegenständlichen gedacht, benennt der Begriff des Unterschiedes den Gegensatz zur Gleichheit bzw. zur Selbigkeit. Freilich schwankt der Sinn dieser Unterschiedsbezeichnungen. Das ist der Grund, aus dem in der wissenschaftlichen Diskussion die Verwendung der Fremdwörter Differenz und Identität vorherrscht. Nichtsdestoweniger sollte man zumal in der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis insbesondere prüfen, was jeweils mit dem unterscheidenden Ausdruck der Identität gemeint ist. Daß das Differente auch als das Nicht-Identische bestimmt wird, bleibt hier unberücksichtigt, wofür die Begründung alsbald gegeben wird. Bemüht man sich um eine Klärung dessen, was der Ausdruck der Differenz von Haus aus besagt, so darf man festhalten, daß er ein Verschiedensein von Etwas gegenüber Etwas meint. Jener Bestand und dieser Bestand sind also nicht ein und dasselbe. Als Folge dieser Bestimmung läßt sich ableiten, daß der Begriff des Unterschiedes über das Verschiedensein hinaus auch die Beziehung des Einen zum Anderen meint, insofern das Andere ein Anderes ist. Ob das sachlich verschieden Seiende und begrifflich verschieden Gedachte in der Erfahrung gegeben ist oder durch eine gefolgerte Einsicht sich erschließt, ist jeweils zu prüfen. Kennzeichnende Merkmale der Differenz sind ihre Stufen und ihre Formen. Stufen der Differenz sind die Disparatheit oder die Grundverschiedenheit und die Differenz im engeren Sinn, d.h. die Verschiedenheit. Grundverschieden ist Etwas, das verschiedenen, in sich abgeschlossenen Seinszusammenhängen angehört. Verschieden ist dasjenige, was sowohl als das Eine gegenüber dem Anderen besteht, dem aber in irgend einer Hinsicht Etwas gemeinsam ist. Will man schon jetzt an die Bestimmungen denken, die den humanen zuständlichen Selbstand vom humanen Zusammensein von zuständlichen Selbständen unterscheiden, so ist festzuhalten, daß das durch seine seinskategorialen Ordnungsstufen geschiedene humane Sein nicht grundverschieden, sondern nur verschieden ist. Denn jenem wie diesem Bestand ist das Bestehen als humane Existenz gemeinsam. Sodann werden als Formen der Differenz üblicherweise die logische und die reale Differenz unterschieden. Im Hinblick auf den Unterschied zwischen der menschlichen Existenz-Gestalt und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt verdient diese Unterscheidung besondere Beachtung. Logisch verschieden ist ein und dasselbe, das durch verschiedene Begriffe gedacht wird. Den verschiedenen Begriffen entspricht also keine Vielheit in dem, was gedacht wird. Daß das erkennende Subjekt sich ein und demselben Gegenstand bisweilen in verschiedenen Begriffen zuwenden muß, hat seinen Grund in der Beschaffenheit des Erkennens der humanen Existenz. Beispielsweise durch einen prüfenden Blick auf
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
eben dieses Erkennen läßt es sich verdeutlichen. Die Einsicht erfaßt, daß das Erkennen entsprechend dem Wesen der humanen Existenz, das sie als eine einheitliche Existenz existieren läßt, ein einheitliches Erkennen ist. Nichtsdestoweniger versteht man diese Einheitlichkeit nur dadurch, daß man sie als eine Einheit auffaßt, die nicht einfach, sondern zusammengesetzt ist, nämlich zusammengesetzt aus dem sinnlichen und aus dem vernünftigen Erkennen. Nirgendwo freilich besteht die humane Existenz bloß als Sinnenwesen oder bloß als Vernunftwesen. Obwohl die humane Existenz bzw. ihr Erkennen derart einheitlich ist, ist die begriffliche Erkenntnis genötigt, das Erkennen bald im sinnlichen und bald im geistigen Sinn zu verstehen. Es ist der begrifflichen Erkenntnis unmöglich, die Weise des Erkennens der einheitlich beschaffenen humanen Existenz auch in nur einem, ihr entsprechenden Begriff zu denken. Monistische Erkenntnisbemühungen versuchen dergleichen immer wieder. Nach diesen erklärenden Bemerkungen stellt sich hinsichtlich des Unterschiedes zwischen der menschlichen Existenz-Gestalt und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt die Frage, ob diese Existenz-Gestalten logisch oder real verschieden sind. Nach der herrschenden Erkenntnisweise scheint es ausgemacht zu sein, daß der Unterschied ein logischer Unterschied ist. Es heißt, daß es nur ein „Menschsein“ gibt, daß es aber notwendig ist, dieses „Menschsein“ in zwei verschiedenen Begriffen zu denken. Das eine „Menschsein“ ist begreifbar durch den Begriff des „Menschen“, während das andere „Menschsein“ im Begriff der „Gesellschaft“ erfaßt werden kann. Ob diese Ansicht zutrifft, gilt es zu prüfen. Gegen diese Meinung einer bloß logischen Differenz von „Mensch“ und „Gesellschaft“ spricht im Sinn der vernünftigen Einsicht jedenfalls die Erkenntnis, daß der Unterschied zwischen der Ordnungsstufe des humanen zuständlichen Selbstandes und der Ordnungsstufe des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen ein realer Unterschied ist. Was sodann die Erfahrung betrifft, so weiß jedermann, daß die humane Existenz real immer auch im solitären Sinn und nicht nur im solidarischen Sinn existiert. Das Einsamsein der humanen Existenz ist gegenüber ihrem Gemeinsamsein etwas real Verschiedenes. Der „Mensch“ und die „Gesellschaft“ bilden keinen einfachen Bestand, der sich bald im Begriff des Menschen und bald im Begriff der Gesellschaft denken läßt. Mensch und Gesellschaft sind vielmehr real verschiedene Sachverhalte, die folgerichtig durch verschiedene Begriffe zu erfassen sind. Die humane Existenz ist real nicht das Eine und zugleich das Andere, sondern stets das Eine oder das Andere. Sie existiert als Beisichsein oder als Verbundensein, wie dies in den voraufgegangenen Begründungen dargelegt worden ist. Auf welche Weise die Existenz-Gestalten einander entgegengesetzt sind, kann man ohne Mühe bestimmen. Dazu dient erstens der Grundsatz, nach dem ein Gegensatz zwischen Etwas und Etwas dann besteht, wenn durch die reale Setzung des Einen die reale Setzung des Anderen ausgeschlossen wird. Sodann unterscheidet die herkömmliche Lehre von der Opposition zwischen verschiede-
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nen Ausschlüssen, die durch einen Gegensatz bewirkt werden. Diese Ausschlüsse aufgrund verschiedener Gegensätze seien wenigstens summarisch genannt, um die Andersartigkeit der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt verstehen zu können. Im statischen Sinn wird unterschieden zwischen dem kontradiktorischen Gegensatz (Beispiel: Sein/Nichtsein), dem konträren Gegensatz (Beispiel: Schwarz/Weiß), dem privativen Gegensatz (Beispiel: Sehenkönnen/Blindheit), dem relativen Gegensatz (Beispiel: Vater/Sohn) und dem polaren Gegensatz (Beispiel: Mann/Frau). Als dynamische Gegensätze werden erwähnt der Gegensatz zwischen verschiedenen Wirksamkeiten in unterschiedenen oder in ein und demselben Seienden (Beispiel: Sparsamkeit/Geiz) sowie der Gegensatz innerhalb eines Seienden, der in der Regel als dialektischer Gegensatz bezeichnet wird (Beispiel: Bewahren/Verändern). Im Unterschied zu den zahlreichen entgegengesetzten Meinungen behauptet die vorliegende Untersuchung, daß die reale Differenz von menschlicher und gesellschaftlicher Existenz-Gestalt nur als konträrer Gegensatz verstanden werden kann. Über ihn heißt es an sachkundiger Stelle: „Schließen sich zwei Inhalte, die beide etwas Seiendes, Positives sind, innerhalb eines begrenzten Bezirkes aus, z. B. innerhalb derselben Gattung, innerhalb desselben Individuums oder derselben Raum- und Zeitstelle, . . . so spricht man von konträrem Gegensatz. Zum konträren Gegensatz im strengen Sinn gehört überdies die möglichst große Entfernung von einander innerhalb der gemeinsamen Sphäre.“290 Vielleicht darf die vorliegende Untersuchung darauf hoffen, daß mit dieser dichten Definition des konträren Gegensatzes der reale Unterschied zwischen dem „Menschen“, also der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, und der „Gesellschaft“, also der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, hinreichend bestimmt ist. Mit der Bestimmung der realen Differenz, die das Existieren der humanen Existenz kennzeichnet, ist die Untersuchung ihres ersten Elementar-Bestandes an ihr Ende gekommen. Danach ist die humane Existenz wirklich da immer nur als menschliche oder als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Läßt man die Behauptung gelten, daß die humane Existenz zwischen ihren Existenz-Gestalten wählen kann, dann vermag sie darüber zu befinden, wann und wo sie in dieser oder in jener Gestalt existieren will. Entscheidet sie sich für die menschliche Existenz-Gestalt, dann genügt sie sich in dieser Gestaltwirklichkeit, entscheidet sie sich für die gesellschaftliche Existenz-Gestalt, dann ist sie sich als „Mensch unter Menschen“ genug. Ob in der Folge die jeweils gewählte Existenzwirklichkeit als positiv oder als negativ erfahren und beurteilt wird, also als lebensförderlich oder als lebensschädlich, ist – jedenfalls zunächst – unwesentlich. Denn die humane Existenz kann ebenso als abgesonderte Existenz, als Privatmensch 290 Walter Brugger, Art. Gegensatz, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 121.
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oder in „Einsamkeit und Freiheit“ glücklich oder unglücklich sein, wie sie als Gesellschaftsmensch, als Mitglied ihrer Lebensgemeinschaft oder als mit ihrem Publikum verbunden, ihre Erfüllung finden oder ihr Scheitern erleben kann. In der grundsätzlichen Betrachtung ist von Gewicht allein die Frage, ob es sich bei der Wahl nur einer der beiden Existenz-Gestalten – unter welcher besonderen Zielsetzung und unter welchen mit ihr einhergehenden Bedingungen auch immer – um eine angemessen erkannte Existenzverwirklichung handelt. Mit anderen Worten: Wie sehr man die Existenz-Gestalt des Eremiten ebenso schätzen mag wie die Existenz-Gestalt des Kollektivs, so fragt es sich doch, ob sich in jener bzw. in dieser Gestalt nicht stets auch Bestimmungen der jeweils anderen Existenz-Gestalt finden. Sofern es dafür Gründe gibt, hat man zu bedenken, daß der Eremit keineswegs nur als Eremit existiert, und daß das Kollektiv ganz und gar nicht durchgängig nur als Kollektiv besteht. Läßt man die Erfahrung und, ihr nachfolgend, die einsichtige Erkenntnis der Realität der Existenz-Gestalten sprechen, dann scheint die Einbindung von Beständen der einen in die andere und der anderen in die eine Existenz-Gestalt in der Tat der Regelfall zu sein. Niemals besteht die humane Existenz danach in einem absoluten Sinn entweder nur als menschliche oder nur als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Jenseits der Behauptung der realen Differenz der Existenz-Gestalten, die als erwiesen gelten darf und deswegen unantastbar bleibt, finden sich in ihnen also schon immer „Spuren“ der jeweils anderen Gestalt. Trifft dieses vorläufige Fürwahrhalten zu, zu dem die Erkenntnis der humanen Existenz herausgefordert ist, dann ist zu klären, auf welche Weise diese Existenz über die reale Differenz ihrer ExistenzGestalten hinaus in einer Weise existiert, durch die jene Differenz zwar nicht aufgehoben wird, die die Existenz-Gestalten aber zugleich irgendwie ein und dasselbe sein läßt. Der Gedanke, der hiermit formuliert wird, muß überraschen. Denn nichts scheint ungewöhnlicher zu sein als nach Etwas zu suchen, das einerseits dasselbe ist, während es andererseits in sich als etwas Verschiedenes besteht. Wenn es aber so ist, dann ist im folgenden mit aller Sorgfalt zu verfahren, um die genannte Problematik zu bewältigen. Was der Ausdruck der Differenz besagt und was er insbesondere als reale Differenz benennt, ist dargelegt worden. Ihm gegenüber ist jetzt der Ausdruck der Identität ins Auge zu fassen und schließlich der Begriff der intentionalen Identität zu bestimmen. Indem dies geschieht, bemüht die vorliegende Untersuchung sich darum, den zweiten Elementar-Bestand der humanen Existenz aufzufinden, zu benennen und zu begreifen. Eingangs ist darauf aufmerksam zu machen, daß der Begriff der Identität keineswegs soviel besagt wie die Gleichheit und die Selbigkeit von Etwas mit Etwas schlechthin. Versteht man ihn auf diese Weise, dann besteht die Identität als Tautologie im abwertenden Sinn. Sie liegt im Gegensatz zum analytischen Urteil (Beispiel: Das Quadrat hat vier rechte Winkel) beispielsweise in der Aussage vor, daß etwas „voll und ganz besteht“. Hier wird ein und dasselbe sowohl durch das Wort voll als auch durch das Wort
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ganz benannt. Noch weniger begründet als diese Wiederholung von schon Gesagtem ist jene vermeintliche Identität, in der durch angeblich gleichsinnige Bezeichnungen in Wahrheit Verschiedenes benannt wird. Das ist beispielsweise der Fall, wenn „voll“ soviel besagt wie „vollendet verwirklicht“ und „ganz“ soviel wie „nicht einfach verwirklicht“. In dieser Rede besteht das als identisch Gemeinte in einer grundverschiedenen Entgegensetzung, wenn nicht sogar – nämlich auf Grund der Verneinung – in einem Widerspruch. Es sind diese falschen Verwendungen des Ausdrucks der Identität, die dazu herausfordern, das, was dieser Ausdruck besagt, klar zu bestimmen. Um diesem Anspruch fürs erste zu genügen, sei der Begriff der Identität im Allgemeinen wie folgt definiert: Als identisch gilt derjenige einheitliche Bestand, der Bestandteile dergestalt besitzt, daß diese unter einer ersten Rücksicht dasselbe und unter einer zweiten Rücksicht nicht dasselbe, also verschieden sind. Mit anderen Worten: Im Begriff der Identität wird eine Beziehung von Etwas zu Etwas gedacht, die als dasselbe und nicht als dasselbe einem bestimmten Bestand angehören. Von dieser weiten Bedeutung des Begriffs ausgehend, unterscheidet die herkömmliche Seins- und Erkenntnislehre zwischen drei Grundformen der Identität. Sie liegen letztlich auch jenen Begriffen von Identität zugrunde, die die zeitgenössische Logik als Logistik und die im Dienst der Aufklärung arbeitende Anthropologie ausgebildet haben. Sie brauchen hier jedoch nicht zu interessieren. Jene drei Grundformen sind die reale, die logische und die intentionale Identität. Die zuerst genannte Grundform der Identität läßt sich im Allgemeinen wie folgt bestimmen. Real ist diejenige Identität, die wirklich besteht und deren Bestandteile unter einer ersten Rücksicht ein und dasselbe, unter einer zweiten Rücksicht jedoch nicht ein und dasselbe sind. Vielleicht ist es nützlich, diese reale Identität durch ein Beispiel zu verdeutlichen. Man könnte etwa an jenen berühmten Mann denken, dessen Heimat die Insel Korsika ist. Es geht also um Napoleon Bonaparte. Die erste Frage gilt seiner realen Existenz. Hat Napoleon Bonaparte wirklich existiert? In der Tat, das ist der Fall. Ist diese Feststellung erfolgt, wird man nach seinen Existenzweisen fragen. War er in seinen „Bestandteilen“ unter jeder Rücksicht ein und derselbe Korse? Das ist offensichtlich nicht der Fall. Richtig ist, daß er in seinem Menschsein bzw. – herkömmlich verstanden – als Person jederzeit und überall derselbe war. Als Napoleon und als Bonaparte war er jedoch etwas Verschiedenes. War er als Napoleon der Kaiser der Franzosen, so war er als Bonaparte der Angehörige seiner Familie. Die Geschichtsschreibung weiß davon zu erzählen, wie er als Kaiser zum Beispiel seine Mutter verleugnete und wie er als Angehöriger der Familie Bonaparte zum Beispiel seine Geschwister mit territorialen Besitztümern beschenkte. Real identisch ist also, was wirklich besteht und einerseits dasselbe, andererseits verschieden ist. Als zweite Grundform der Identität wurde die logische Identität erwähnt. Als logisch wird diejenige Identität bezeichnet, die durch das Verhältnis charakteri-
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siert ist, das zwischen dem Bestand und dem Begriff von Etwas bestimmt wird. Begreifen ist ein Vorgang im erkennenden Subjekt. Es ist beispielsweise fähig, verschiedene Realitäten, etwa verschiedene „menschliche“ Existenzen, im Allgemeinen zu denken, also in ihrem „Menschsein“. Identitätstheoretisch besteht dieses „Menschsein“ danach als ein und dasselbe. Es vermag es im Wesensbegriff des „menschlichen Seins“ zum Beispiel als vernünftiges Sinnenwesen zu erfassen. Unter einer zweiten Rücksicht kann es das „Menschsein“ aber als das denken, was es real ist, nämlich als diesen Menschen Peter und als diesen Menschen Paul. Logisch identisch ist demnach ein Denkinhalt, der Bestände einerseits als dasselbe, andererseits jedoch als verschieden begreift. Daß die logische Identität als Übereinstimmung im Wesen, also als Wesensgleichheit, oder als Übereinstimmung in der Quantität, also als Gleichheit im eigentlichen Sinn, oder als Übereinstimmung in der Qualität, also als Ähnlichkeit, bestehen kann, sollte erwähnt sein, verdient hier aber keine weitere Aufmerksamkeit. Für die anstehende Untersuchung ist die dritte Grundform der Identität maßgeblich. Es ist die intentionale Identität. Allgemein bestimmt, ist intentional beschaffen diejenige Identität, für die verschiedene Bestände dergestalt bestimmend sind, daß sie unter einer ersten Rücksicht ein und dasselbe sind, unter einer zweiten jedoch nicht, nämlich unter der Rücksicht, daß ein erster realer Bestand auf einen zweiten realen Bestand wesentlich ausgerichtet ist. Der Name der Ausrichtung ist eine Übertragung des Fremdwortes Intention ins Deutsche. Gewöhnlich übersetzen die Wörterbücher das lateinische Wort intentio durch die Ausdrücke Anspannung, Anstrengung, Aufmerksamkeit, Absicht und, wie gesagt, durch den Ausdruck Ausrichtung im Sinn des Existierens wie des Erkennens. Dem Wortsinn nach ist die intentionale Identität also dadurch ausgezeichnet, daß Etwas mit Etwas dadurch ein und dasselbe ist, daß das Eine auf das Andere ausgerichtet, usw. ist. Im Altertum vorgebildet, entfaltet und begründet das Mittelalter diese Denkweise. Denn nach der herrschenden Auffassung durchwaltet der Schöpferwille Gottes die Welt und richtet die Dinge und die „Menschen“ aufeinander und zuletzt auf ihren Urgrund aus. Die auf dieses Denken in Intentionen geschichtlich folgende geistig Erkenntnis ist von anderer, nämlich von beziehungshafter Art. Nicht mehr das „menschliche“ Sein-in-derWelt hält es für vorrangig, sondern die vom „menschlichen“ Subjekt erbrachte Erkenntnis. Sie ist es, die die ausgerichtete Weltsicht verdrängt und an deren Stelle ein Denken in Beziehungen setzt. Dieses Denken achtet maßgeblich auf den Träger der Beziehungen sowie auf den Grund, aus dem er sich gegenüber seinem Beziehungsziel verhält. Deswegen besitzt der Beziehungsträger keinen Anlaß, sich in das, worauf er sich bezieht, „hineinzudenken“, sich auf sein Beziehungsziel hinzuordnen. Hierum geht es aber im Fall der Intention und zwar dergestalt, daß derjenige, der Etwas intendiert, um das Intendierte „weiß“, um dieses also „sich bemüht“. Für das zeitgenössische Denken hat vor allem der Philosoph Franz Brentano (1838–1917) die Intentionalität wiederentdeckt. Diese
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Renaissance hat seinen Schüler Edmund Husserl (1859–1938) veranlaßt, die Ausrichtung von Etwas auf Etwas zu einem wesentlichen Lehrstück der Phänomenologie auszuarbeiten. Es dient dem Zweck, klarzustellen, daß das Bewußtsein nicht nur als Bewußtsein eines Subjektes besteht, sondern von Grund auf ein Bewußtsein von Etwas ist, das also einen gegenständlichen Inhalt „hat“. Indem diese Lehre geläufig wurde, gehen auch die herrschenden Gesellschaftswissenschaften an ihr nicht mehr vorbei. Deswegen dürfte es keine Mühen bereiten, sich der Voraussetzung der Lehre von der Ausrichtung von Etwas auf Etwas – nicht vom Beweggrund bzw. vom Motiv! – zu vergewissern. Sie besteht in der Auffassung des endlich Seienden als einer idealen Realität. Formuliert wurde sie in Platons Lehre von der „Welt in der Idee“ und in der Lehre des Aristoteles als der Lehre von der „Idee in der Welt“. Was in diesem Spannungsverhältnis von Welt und Idee zum Ausdruck kommt, prägt die Deutung des endlich Seienden durch die Jahrhunderte bis in unsere Zeit. Zusammenfassend ist an repräsentativer Stelle zu lesen: „Der Standpunkt der klassischen Metaphysik ist der ,Ideal-Realismus‘, nach dem das ,allerrealste‘ Urwesen zugleich das allergeistigste ist und alle anderen, selbst die materiellen Seienden nach diesen Ideen geschaffen und so von ihrem Ursprung her geistig durchformt und geistig faßbar (intelligibel) sind.“291 Aus dieser „ideal-realen“ Auffassung des endlich Seienden folgert Aristoteles, daß das, was ist, zum einen unter der Rücksicht der Vollkommenheit und zum anderen unter der Rücksicht des Geistes betrachtet werden kann. Dem Studium dieser Verhältnisse liegt es am nähesten, an das endlich Seiende im Ganzen zu denken, innerhalb dessen die „menschliche“ Seele eine Sonderstellung einnimmt. Denn sie existiert auch und wesentlich als geistige Seele, weshalb sie sich gegenüber jedem Seienden einzigartig verhält. Sind das endlich Seiende und der „menschliche“ Geist einerseits ein und dasselbe, so sind sie andererseits nicht dasselbe, wobei sie dieses in der Weise des Aufeinander-Hingeordnet-Seins sind. In seinen Untersuchungen über die Seele geht Aristoteles diesen Zusammenhängen nach. Bedenkt er einerseits den Unterschied zwischen dem Seienden und dem Geist, so spricht er andererseits von einer besonderen Selbigkeit zwischen ihnen. Über diese schreibt er: Mit der Seele besitzt die humane Existenz „einen Geist von solcher Art . . ., daß er zu allem wird“; ihm ist es zu danken, „daß er alles wirkt als eine Art der Kraft der Helligkeit“. Dieser Geist ist (sc. vom menschlichen Körper) „abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt, da er dem Wesen nach Betätigung ist“. Also „wollen wir die Ausführungen über die Seele zusammenfassen und wiederholen, daß die Seele gewissermaßen die Gesamtheit der Dinge ist“292. Mit dem behelfsweise verwendeten Ausdruck „gewissermaßen“ nähert Aristote291 Josef de Vries, Art. Realismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 316 f. 292 Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 430a und 431b.
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les sich dem, was spätere Auslegungen seiner Bestimmung ausdrücklich als intentionale Identität erfassen und in ihren Merkmalen bestimmen werden. Deswegen sollte es nicht überflüssig sein, anzuführen, daß die genannten Bestimmungen schließlich so weit ausgearbeitet werden, daß man heute vom Prinzip der durchgängigen Begreifbarkeit alles Seienden durch den einsichtigen Verstand spricht.293 Gegenüber dieser Überzeugung erscheinen die gegenwärtig vorherrschenden Lehren vom Geist als weit hinter ihrer Aufgabe zurückbleibende Lehren. Man sollte sie zutreffend als „Theorien der Mentalität“ bezeichnen. Auf die Weise, in der die Körper der natürlichen Welt studiert werden, versuchen sie, Nicht-Körperliches zu erfassen, indem sie sich dem menschlichen Gehirn zuwenden und dieses unter den verschiedensten Gesichtspunkten, zum Beispiel neurobiologisch, also als Ort der nervlichen Verhaltenssteuerung des „Menschen“, als Sitz und Bedingung seiner Sprache, als Verarbeitung der von ihm eingeholten und weitergegebenen Nachrichten, als Umgang mit den von ihm verarbeiteten sogenannten Kognitionen, usw.294 Nach der vorgetragenen Begründung der intentionalen Identität und ihres Aufweises im Zusammenhang des endlich Seienden mit dem endlichen Geist, sollte es ohne Mühe möglich sein, den Bestand dieser Identität auch im Fall der humanen Existenz zu erkennen. Wie ermittelt und unter den verschiedenen Gesichtspunkten auf die Probe gestellt, besteht das „menschliche“ Sein in einer ersten und in einer zweiten seinskategorialen Ordnung. Diese Bestände erwiesen sich als die menschliche Existenz-Gestalt einerseits und als die gesellschaftliche Existenz-Gestalt andererseits. Daß der „Mensch“ sein „Menschsein“ nur in der einen oder in der anderen Existenz-Gestalt zu verwirklichen vermag, ist in der realen Differenz der Existenz-Gestalten der humanen Existenz begründet. Unter der Rücksicht dieser realen Differenz ist das Existieren als Mensch das Eine und das Existieren als Gesellschaft das Andere. Diese sind also nicht ein und dasselbe. Es mag ratsam sein, zu wiederholen, daß diese reale Differenz nicht nur als Gegebenheit wahrgenommen, sondern auch einsichtig erkannt wird, nämlich in der Erkenntnis ihrer seinskategorialen Ordnungsstufen. Dieser Erkenntnis der humanen Existenz steht eine andere entgegen. Sie ist ebenso in der Erfahrung begründet wie im Wesensdenken. Ihnen zufolge sind die menschliche und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt im Sinn ihrer intentionalen Identität ein und dasselbe. Intentional ein und dasselbe zu sein heißt, daß die menschliche Existenz-Gestalt ursprünglich auf die gesellschaftliche Exi293 Vgl. Walter Brugger, Art. Begreifbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 38. 294 Vgl. auswahlsweise Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein 1981/19973; Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes (zuerst London 1949), Stuttgart 1969; John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes (zuerst Cambridge Mass.1992), Frankfurt a. M. 1996; Jürgen Schröder, Einführung in die Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M. 2004.
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stenz-Gestalt ausgerichtet ist und diese auf jene. Diese Ausrichtung ist des näheren durch zwei Eigentümlichkeiten ausgezeichnet. Die erste ist aktueller Natur, die zweite besteht im erkenntnishaften Sinn. Betrachtet man die Ausrichtung in ihrem aktuellen Bestand, so ist festzustellen, daß jede menschliche Existenz-Gestalt auf die gesellschaftliche Existenz-Gestalt und diese wiederum auf jene eingestellt ist. Mit anderen Worten: Wie jeder Mensch „seine“ gesellschaftliche Existenz-Gestalt in sich trägt, so trägt auch jede Gesellschaft „ihre“ menschliche Existenz-Gestalt in sich. Wie jede Gesellschaft die Mitgift jedes Menschen ist, so ist jeder Mensch die Mitgift jeder Gesellschaft. Neben diesem ersten Kennzeichen des wechselseitigen Eingestelltseins der Existenz-Gestalten aufeinander im Sinn, daß sie einander mit allen ihren Vermögen „meinen“, findet sich ein zweites Kennzeichen ihrer Ausrichtung. Im Unterschied zum wechselseitigen „Meinen“ des Einen durch den Anderen, besteht es in einer besonderen Weise der gegenseitigen geistigen Erkenntnis. Die Fähigkeit hierzu besitzen die Existenz-Gestalten der humanen Existenz kraft ihrer Natur. Achtet man darauf, wie der Mensch zum einen und wie die Gesellschaft zum anderen sich in ihrer geistigen Erkenntnis verhalten, so bemerkt man, daß diese sich zur jeweils anderen Existenz-Gestalt so zu weiten vermag, daß der Mensch uneingeschränkt „seine“ Gesellschaft „sich vorzustellen“ vermag, wie umgekehrt jede Gesellschaft uneingeschränkt „ihre“ Menschen „sich denken“ kann. Vielleicht ist diese erkennende Vergegenwärtigung der jeweils anderen Existenz-Gestalt unter den gegenwärtigen Umständen noch aussagekräftiger als die verwirklichte Ausrichtung der genannten Existenz-Gestalten. Die menschliche Existenz-Gestalt und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz sind in ihrer Ausrichtung als wirkliche existentielle Einstellung und als hinreichend weite Erkenntnis also ein und dasselbe. Freilich bleibt zu bemerken, daß es eine offene Frage ist, ob diese intentionale Identität der Existenz-Gestalten der humanen Existenz sich je vollständig ausloten läßt. Vermutlich muß sich das wissenschaftliche Bemühen mit der Feststellung dieser Beschaffenheit der humanen Existenz bescheiden. Wie es scheint, hat die anstehende Problematik von Differenz und Identität der humanen Existenz-Gestalten eine gewisse Ähnlichkeit mit jener bekannten Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele des „Menschseins“. Wie dieses im sogenannten Duo-Monismus zwar vernünftig denkbar ist, wenngleich diese Lehre ihre „Dunkelheiten (nicht Widersprüche!) behält“295, so ist auch die durch ihre Existenz-Gestalten charakterisierte humane Existenz durchaus widerspruchsfrei als reale Differenz und als intentionale Identität denkbar. Aus welchem letzten Grund die dynamische humane Existenz jedoch eine Einheit ist, die als Differenz und als Identität besteht, dürfte zu den Ratschlüssen gehören, über die das „Menschsein“ erkennend nicht mehr zu befinden vermag. Denn es bleibt „ausdenkbar“, daß die humane Existenz nur als 295 Alexander Willwoll, Art. Leib-Seele-Verhältnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 221.
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menschliche und nur als gesellschaftliche Existenz-Gestalt bestehen könnte: Einer Unterredung im Jahrhunderte währenden „Reich der Geister“ beispielsweise zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Karl Marx (1818–1883) zuzuhören wäre lehrreich. Bekanntlich behauptete der aufgeklärte Individualist Leibniz, daß die „Menschen“-Welt aus fensterlosen Monaden, also aus einzelnen geistigen Einheiten besteht, deren Verhältnisse eine prästabilierte Harmonie ordnet. Anders dachte der revolutionäre Kollektivist Marx. Er behauptete, daß der „Mensch“ in Wahrheit nur als sozialistischer Mensch existiert, also als ein Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu den Elementar-Beständen der Existenz-Gestalten der humanen Existenz zählen nicht nur die aufgezeigten Befunde der realen Differenz und der intentionalen Identität dieser Gestalten. Neben ihnen findet sich ein dritter elementarer Bestand. Man bezeichnet ihn wohl am besten als existentielle Kausalität. Sie vervollständigt die beiden genannten Bestandteile und bildet mit ihnen den inhaltlichen Grundbestand der dynamisch verstandenen humanen Existenz. Diese Vervollständigung ergibt sich zum ersten aus der Verwirklichungsmöglichkeit der humanen Existenz, derzufolge sie real entweder als menschliche ExistenzGestalt oder als gesellschaftliche Existenz-Gestalt existiert. Zum zweiten ist deren intentionale Identität dergestalt einflußreich, daß sie die Möglichkeiten der Existenz-Gestalten in bestimmter Weise ausformt. Diesen Merkmalen gemäß stellt sich die Frage, wie der Übergang der einen Existenz-Gestalt in die andere und der Übergang der anderen in die eine beschaffen ist. Daß in den herrschenden Gesellschaftswissenschaften diese Problematik kaum erwähnt wird, überrascht nicht. Denn nach deren Meinung existiert die humane Existenz „wesentlich“ allein in der Gestalt der Gesellschaft. Den außer- oder vorgesellschaftlichen „Menschen“ kennen diese Wissenschaften bekanntlich nur als etwas Natürliches bzw. genauer, nur als etwas Natürlich-Lebendiges. Aufgabe der Gesellschaft ist es, diesen „natürlichen Menschen“ durch Prozesse der Vergesellschaftung in ein Kulturwesen zu „verwandeln“. Von einer existentiellen Kausalität des „menschlichen Seins“ kann demnach keine Rede sein. Denn gestaltbildend sind nur die Akte der Gesellschaft, wie immer sie im Sinn eines UrsacheWirkung-Zusammenhanges bestimmt werden. Daß sich in den genannten Wissenschaften als gesellschaftstheoretisches Lehrstück auch die gegenteilige Meinung findet, ist bekannt. Wie sie sich zu jener zuerst genannten Auffassung verhält, bleibt ungeklärt. Behauptet wird jedenfalls, daß die Gesellschaft nicht aus sich heraus besteht, sondern durch Strebeakte menschlicher Individuen ins Dasein gebracht wird, insbesondere durch Taten, die in Willensentschlüssen begründet sind. Sie führen, wie es heißt, zu Übereinkünften zwischen „Menschen“, also zu ihrer „Gesellschaft“. Was deren Bestand gewährleistet, bleibt eine offene Frage, es sei denn, man stimmt zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau (1712– 1779) zu, der behauptet, daß sich neben dem „Willen aller“ ein „Gemeinwille“ findet. Wie sich dieser „Gemeinwille“ erklärt, ist freilich abgründig unklar.
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Es dürfte als Eingang in die anstehende Untersuchung ratsam sein, sich ins Gedächtnis zu rufen, was der Realismus über die Kausalität lehrt. Im weitesten Sinn benennt der Begriff der Kausalität den Einfluß einer Ursache auf ihre Wirkung und die auf sie sich gründende Beziehung. Als Kausalität gilt also das Bewirken von Etwas durch ein Wirkvermögen nach Maßgabe der Natur der Dinge und der „Menschen“ im Sinn der wirklichen Abhängigkeit des Verursachten von seiner Ursache. Daß diese Bestimmung auch besondere Gesetzmäßigkeiten umfaßt, ist bekannt. Zu ihnen zählt die Kausalität im Sinn des metaphysischen Kausalprinzips, demzufolge alles kontingente Seiende verursacht ist, sowie die Kausalität im Sinn des physischen Kausalsatzes, der besagt, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben. Diese besonderen Kausalitätszusammenhänge brauchen hier jedoch nicht zu interessieren. Wesentlich ist allein derjenige Begriff der Kausalität, der zum Inhalt hat, daß Dinge und „Menschen“ gemäß ihrer Natur ursächlich wirksam sind und demzufolge als Wirkungen von einander abhängen. Daß man diese Kausalität heute nahezu durchgängig nur im eingeschränkten Sinn von wirkursächlichen Zusammenhängen versteht, widerstreitet der Tradition. Wie erinnerlich, unterscheidet sie in der Nachfolge von Aristoteles zwischen vier grundlegenden Ursachen, die in der Regel zu zwei Paaren zusammengefaßt werden. Als innere werden diejenigen Ursachen bezeichnet, die in das Verursachte eingehen. Ist das nicht der Fall, spricht man von äußeren Ursachen. Zu jenen zählen der Stoff und die Form, zu diesen die Wirkursache und die Ziel- oder Zweckursache. Will man die Art der Kausalität verstehen, die die Existenz-Gestalt der humanen Existenz beherrscht, ist es nötig, die Wirkursache und die Zielursache des näheren ins Auge zu fassen. Als Wirkursache wird derjenige Ursprungsgrund bezeichnet, der Kraft seiner Bereitschaft, Etwas zu verursachen, durch sein Wirken dasjenige hervorbringt, was man Wirkung nennt. Die Veranlassung, wirksam zu sein, verdankt die Wirkursache der Zielursache. Als das Worum-Willen ist sie deren Beweggrund. Letztlich ist das der jeweils in Frage stehende Wert, der verwirklicht werden soll. Deswegen zeichnet die Zielursache sich dadurch aus, daß sie dem Wirken der Wirkursache die Richtung vorgibt, den Einfluß des Wirkens anleitet und das Wirken im Ganzen bewahrt. Für das Verständnis der genannten äußeren Ursachen unter den Existenz-Gestalten der humanen Existenz ist des weiteren die Unterscheidung zwischen der natürlichen und der existentiellen Kausalität wesentlich. Als natürlich bezeichnet man diejenige Kausalität, die die sichtbare Natur, also das Ganze der Körper, unmittelbar beherrscht. Um sich zu ereignen, bedarf diese Kausalität keiner Einsicht durch das Denken und keiner Entscheidung durch den Willen. Eben diese Bestimmungen aber sind die Eigentümlichkeiten der existentiellen Kausalität. Den Existenz-Gestalten der humanen Existenz entsprechend, besteht sie als psychische und als soziale Kausalität. Die in ihnen waltende Kausalität bedarf wesentlich der Mitwirkung jenes geistigen Erkennens und des willentlichen Be-
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schlusses. Sowohl als Inhalt der menschlichen Existenz-Gestalt wie als Inhalt der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt besteht diese Mitwirkung als „ein ursächlicher Zusammenhang ganz verschiedener Art mit je eigenen Problemen“: Im Sinn der den Menschen bzw. der die Gesellschaft durchformenden Kausalität findet sie sich zum Beispiel „zwischen Erkennen und Streben, sinnlichen und geistigen Vorgängen, Tätigkeit und erworbener Gewohnheit, zwischen den Vorstellungen durch Assoziation oder logischer Verknüpfung, zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen den unbewußten Vorgängen untereinander, zwischen und Seele und Leib“296 und anderen Zusammenhängen, von denen insbesondere diejenigen zwischen biographischem und historischem, zwischen natürlichem und kulturellem sowie zwischen weltimmanentem und welttranszendentem Existieren zu nennen sind. Nach dieser Klärung der Merkmale der Kausalität im allgemeinen und der existentiellen Kausalität in ihren beiden Ausgestaltungen im besonderen läßt sich der ursächliche Übergang der jeweils bewirkenden in die jeweils bewirkte Existenz-Gestalt der humanen Existenz wohl ohne Mühe angeben. Bestimmt wird die existentielle Kausalität zum ersten durch die Zielursache.297 Ihre Erkenntnis hat zum Ergebnis, daß sie in der intentionalen Identität besteht, die wechselseitig die menschliche und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt auszeichnet. Indem die menschliche Existenz-Gestalt auf die gesellschaftliche Existenz-Gestalt und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt auf die menschliche Existenz-Gestalt ausgerichtet ist, ist jene für diese und diese für jene die von ihr schon immer „gemeinte“ und geistig erkannte Existenz-Gestalt. Im angegebenen Sinn leitet die jeweilige Zielursache die durch sie ins Spiel gebrachte Wirkursache. Sie ist es, die die eine bzw. die andere Existenz-Gestalt im zielursächlich bestimmten Sinn bewirkt.298 Wie beschaffen diese Wirkursache ist, ergibt sich aus der Bestandsweise der jeweils ursächlichen Existenz-Gestalt. Sie kann maßgeblich ebenso geistig wie natürlich bestimmt sein, ebenso ein Wir296 Viktor Naumann, Art. Kausalität, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 195. 297 Daß die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis mit dem zielursächlichen Denken vertraut ist, wird man nicht behaupten wollen. Deswegen könnte der Hinweis nützlich sein z. B. auf Robert Spaemann, Art. Teleologie, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, S. 366–368. 298 Das wirkursächliche Denken ist den herrschenden Gesellschaftswissenschaften nicht völlig fremd. Freilich ziehen sie es vor, das, was die Tradition als Kausalität bezeichnet, im Sinn einer aktualistischen funktionalen Relation zu begreifen, also als immerwährende Tätigkeitsbeziehung. Gegenüber einer Auffassung, die den Bestand der Wirkursache nur bedingt gelten läßt bzw. umdeutet, urteilt die realistische Erkenntnis über sie wie folgt: „Die Realgeltung des Begriffs der Wirkursache steht aus dem Bewußtsein fest, in dem wir uns selbst – namentlich in den Willenserlebnissen – als Bewirker unserer Akte erfahren.“ Vgl. Viktor Naumann, Art. Ursache, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 425.
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ken aus einer Fülle wie ein Wirken aus einem Mangel, ebenso in der Innenwelt wie in der Außenwelt ihren realen Grund besitzen, usw. Diese Hinweise wollen besagen, daß keine der Wirkursachen über die die Existenz-Gestalten der humanen Existenz verfügen, als realer Grund des Bewirkens einer Existenz-Gestalt ausgeschlossen ist. In diesem Befund ist begründet, daß die verursachten Existenz-Gestalten bald stärker kulturell, bald stärker natürlich, usw. bestimmt sind. Extreme Gestaltverwirklichungen bestehen deshalb als spiritualistische Existenz-Gestalten einerseits und als materialistische Existenz-Gestalten andererseits. Die Erkenntnis der existentiellen Kausalität ist also gehalten, die Beschaffenheit der Wirkursache zu studieren, da sie virtuell, also der Möglichkeit nach bzw. in ihrer Verursachungsbereitschaft die Wirkung in sich enthält. Selbstverständlich ist die zielursächlich bestimmte Wirkursache einer der Existenz-Gestalten der humanen Existenz nicht unausgesetzt wirksam. Wäre sie es, bestünde die existentielle Kausalität als ein ununterbrochenes Verwirklichtwerden des Menschen bzw. der Gesellschaft. In der Folge gäbe es keinen Bestand der menschlichen bzw. der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt, sondern nur ein andauerndes oszillierendes Hervorgebrachtwerden jeder dieser Gestalten durch die jeweils andere Existenz-Gestalt. Man müßte den Befund als menschlich-gesellschaftlichen Aktualismus bezeichnen. Der Blick auf die humane Realität belehrt jedoch darüber, daß ihre Existenz-Gestalten in der Zeit bestehen. Wie der Mensch eine Zeit seiner Existenz besitzt, so besitzt auch die Gesellschaft eine Zeit ihrer Existenz. Wie lang sie jeweils dauert, ist eine Frage nach der Realität der Existenz-Gestalten. Sie kann von augenblicklicher Dauer sein, sich rhythmisch abwechseln oder das Vermögen des Beharrens einer Existenz-Gestalt ausschöpfen. Daß dieser Problemzusammenhang für die Wesenserkenntnis wie für die Erfahrungsforschung zu besonderen Erkenntnisbemühungen herausfordert, ist keine Frage. Wesentlich im anstehenden Fragenzusammenhang ist jedoch die Feststellung, daß die humane Existenz in ihren Existenz-Gestalten als Mensch und als Gesellschaft von der Art eines verweilenden Bestandes ist, also andauert. Kausalitätstheoretisch gesprochen besagt dieser Befund, daß das UrsacheWirkung-Verhältnis unter den Existenz-Gestalten nicht unausgesetzt wirksam ist, sondern nach den jeweils herrschenden Umständen ruht. Die Ziel- und die Wirkursache der Hervorbringung der jeweils anderen Existenz-Gestalt bestehen wohl, wie man sagen kann, der Bereitschaft nach, nicht jedoch als je gegenwärtige Verursachung. Dann und nur dann, wenn jene Bereitschaft zum Verwirklichen sozusagen aufgerufen wird, üben die Ursachen jenen Einfluß aus, der zur Wirkung führt. In der Fachsprache wird dieser Aufruf, zum Wirken bereit zu sein, als Auslösung bezeichnet. Sie gilt als eine besondere Form der Kausalität, da sie die Grundbeschaffenheit des Ursache-Wirkung-Verhältnisses auf bestimmte Weise zum Zuge kommen läßt. Über diese Form der Kausalität, die kaum geläufig ist, ist an sachkundiger Stelle das folgende zu lesen: „Eine besondere Form der Kausalität ist die Auslösung, bei der durch einen Anstoß
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oder die Beseitigung einer Sperre eine andere, schon in Bereitschaft befindliche Ursache einen Vorgang bewirkt.“299 Mit der Zielursache der intentionalen Identität, der Fülle der Wirkursachen der humanen Existenz und der den Ursache-Wirkung-Zusammenhang bestimmenden Auslösung ist die existentielle Kausalität benannt. Sie läßt sich wie folgt verdeutlichen: Indem Angehörige einer menschlichen Existenz-Gestalt dasjenige aufheben, was sie bindet, in dieser Existenz-Gestalt zu bleiben, verursachen sie die gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Die Verursachung besteht zielursächlich in der Identität der menschlichen mit der gesellschaftlichen ExistenzGestalt der Intention nach. Sie besteht wirkursächlich in einem oder in einer Anzahl von Wirkvermögen, über das bzw. über die die genannten Angehörigen der menschlichen Existenz-Gestalt verfügen. In dem Maße, in dem die Angehörigen der menschlichen Existenz-Gestalt die von ihnen zu verwirklichen versuchte gesellschaftliche Existenz-Gestalt bewirken, in dem Maße heben sie naturgemäß ihre bisherige Existenz-Gestalt auf. Ist die gesellschaftliche ExistenzGestalt schließlich existenzfähig verwirklicht, besteht die menschliche ExistenzGestalt nur noch als jener Bestandteil der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt, durch den diese mit jener der Ausrichtung nach ein und dasselbe ist. Im umgekehrten Fall bestehen dieselben Wirkzusammenhänge bzw. Verhältnisse. Zum ersten haben die Angehörigen einer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt dasjenige aufzuheben, was sie innerlich aufbaut. Diese Aufhebung besteht als diejenige Auslösung, die die in Bereitschaft befindliche Ziel- und Wirkursache der intentionalen Identität der gesellschaftlichen mit der menschlichen Existenz-Gestalt wirksam werden läßt. Ist die ins Auge gefaßte menschliche Existenz-Gestalt existenzfähig verwirklicht, hat die gesellschaftliche Existenz-Gestalt aufgehört zu existieren. Sie besteht nur noch als jener Bestandteil der menschlichen Existenz-Gestalt, durch den diese mit jener intentional identisch ist. Mit den genannten Bestimmungen ist die existentielle Kausalität in ihren Typen der psychischen und der sozialen Kausalität im allgemeinen aufgewiesen. Die Neuartigkeit des Lehrstückes legt es nahe, seine Beschaffenheit durch Beispiele zu verdeutlichen. Auch könnte diese Veranschaulichung seine Geltung erhärten. Soll die vorliegende Untersuchung jedoch nicht ausufern, ist Zurückhaltung geboten. Um die Problemfelder aber wenigstens anzudeuten, in denen jene Beispiele sich finden, mag es ratsam sein, die Grundfrage der existentiellen Kausalität ins Auge zu fassen. Sie lautet: Wie sind die ursprünglichen Ursächlichkeiten beschaffen, durch die die menschliche Existenz-Gestalt einerseits und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt andererseits real ins Dasein gebracht wird? Auf diese Frage sei andeutungsweise wie folgt geantwortet: Hinsichtlich der Verwirklichung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt kann man im Hin299 Viktor Naumann, Art. Kausalität, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 196.
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blick auf ihre Grundgestaltungen beispielsweise sagen, daß Ehen geschlossen, Gemeinden gegründet und Staaten ausgerufen werden. Diesen Hervorbringungen entsprechen Aufhebungen der genannten Gestaltungen. Ehen werden getrennt, Gemeinden werden beendet und Staaten werden aufgelöst. In diesen Fällen der Aufhebung gehen die Gestaltungen einer gesellschaftlichen ExistenzGestalt über in Gestaltungen der menschlichen Existenz-Gestalt. Sie werden verwirklicht in singulären Befindlichkeiten und/oder in der Verfolgung personaler Ziele und/oder in einer komplexen Lebensgestaltung, d.h. als menschlicher Ich-Bestand, als menschlich-geistiger Bestand bzw. als menschlicher Welt-Bestand. Verflachen oder verfallen diese Gestaltungen der menschlichen ExistenzGestalt, leben die Menschen in ihrer menschlichen Existenz-Gestalt als Egoisten, als Narzißten wenn nicht als Solipsisten. Unter dem zerstörerischen Druck solcher Arten der Auflösung, sei sie von innen oder von außen bewirkt, mag das der humanen Existenz innewohnende Pendel zu der ihr gegenüber liegenden Existenz-Gestalt zurückschwingen. Was als „Selbsthilfebeziehungen“ unter den Menschen beginnt, mag alsbald zu einer gesellschaftlichen Gestaltung zu werden und über die Verwirklichung von gesellschaftlichen Vereinigungen zu einer existenzfähigen gesellschaftlichen Existenz-Gestalt neuer Art führen. Nach dem Stand der Behandlung dieser Fragen sind die Wissenschaften von der humanen Existenz gut beraten, sich des Bewirktwerdens, des Bestehens und des Vergehens ihrer Existenz-Gestalten in ihren Gestaltungen nach ihren besten Kräften anzunehmen. Für die herrschenden Gesellschaftswissenschaften ist die Frage: Wie wird eine Gesellschaft real ins Dasein gebracht? und deren Umkehrung: Wie löst eine real existierende Gesellschaft sich auf? freilich erkenntnissystematisches Neuland. Die anstehende Untersuchung sollte mit zwei verdeutlichenden Hinweisen zum Abschluß kommen. Der erste Hinweis zielt auf die sachliche Ordnung, die zwischen der psychischen und der sozialen Kausalität besteht. Darf man davon ausgehen, daß die menschliche und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz der Zeit nach „von Anfang an“ bestehen, wie immer die Lehre von der Entstehung und Entwicklung des „menschlichen Seins“ diesen Anfang auffaßt und zu bestimmen versucht, so beherrscht der Sache nach das Verhältnis der Existenz-Gestalten der humanen Existenz eine innere Ordnung. Ihr zufolge ist die menschliche Existenz-Gestalt die erste Existenz-Gestalt. Als ihr nachgeordnet ist die gesellschaftliche Existenz-Gestalt die zweite der Existenz-Gestalten. Ihre Begründung besitzt diese Ordnung im Verhältnis, das zwischen dem humanen zuständlichen Selbstand und dem humanen Zusammensein von zuständlichen Selbständen besteht. Der zweite Hinweis bezieht sich auf die Beschaffenheit der Wahl zwischen der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Im Schrifttum findet sich zurecht die Erklärung, daß diese Wahl grundlegende existentielle Bedeutung besitzt. Deswegen wird sie bisweilen auch als Entscheidung im engeren Sinn bezeichnet.
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Als diese stellt sie die Ur-Wahl der humanen Existenz dar, „in welcher sich der Handelnde seine eigene grundsätzliche Wesens- und Sinnmöglichkeit für sein Leben als die für ihn notwendige erwählt, die damit die Bahn und den Umkreis für weitere Wahlmöglichkeiten vorzeichnet“300. B. Grundzüge der Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz I. Die Frage nach dem seelischen Sein der menschlichen Existenz-Gestalt vor dem Hintergrund des Problembewußtseins der zeitgenössischen Anthropologie
Die vorliegende Untersuchung ist bemüht, die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz aufzufinden, zu ergründen und in ihrer Bestimmung zu erkennen. Diese Thematik ist der Grund, aus dem über die menschliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz nur in dem Maße zu sprechen ist, in dem Erörterungen über sie zum besseren Verständnis der gesellschaftlichen ExistenzGestalt beitragen. Weil sie diejenige Realität ist, die ihr als ihre Alternative entgegengesetzt ist, vermag sie in besonderer Weise hilfreich zu sein, den gemeinten Gegenstand der Erkenntnis zu erfassen. Um dieses Gegensatzes willen beschäftigen sich die folgenden Überlegungen mit der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Sie sind weit davon entfernt, auch nur einen Abriß der Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt zu bieten. Das Ziel der folgenden Überlegung besteht in nicht mehr als in einer Zusammenfassung dessen, was die erwähnenswerten philosophischen Lehren der Tradition wie der Gegenwart über die humane Existenz darlegen, insofern sie als menschliche ExistenzGestalt besteht. Daß diese Bemühung bevorzugt im Sinn des kritischen Realismus erfolgt, erklärt sich aus dem eingenommenen erkenntnistheoretischen Standpunkt. Wie erinnerlich, führte eine Besinnung über die realistisch verstandenen Seinskategorien zu deren Erweiterung um die Seinskategorie des Zusammenseins. Sie machte nicht zuletzt deutlich, daß mancher Unterschied unter dem Seienden bisher nicht beachtet worden ist oder sogar unerkannt blieb. Als Folge dieses Seins- und Erkenntnisbefundes ergab sich die Notwendigkeit, den Bestand weiterer Unterschiede wahrzunehmen und die ihnen entsprechenden Unterscheidungen zu treffen und zu bezeichnen. Im Hinblick auf die vor allem zu erörternden ersten Ursprungsgründe, die den inneren Aufbau der menschlichen 300 Max Müller/Alois Halder, Art. Entscheidung, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 78. – Vgl. zur Grundsatzproblematik Aristoteles, Ethika Nikomacheia, (Nikomachische Ethik), (Edition Meiner), Hamburg 1972, 1111a–1112b, wo zwischen der Entscheidung und dem Wunsch unterschieden wird.
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Existenz-Gestalt bestimmen, dürfte es ratsam sein, die in mancher Hinsicht ungeläufige Systematik der Begriffe in einer Übersicht wie folgt zusammenzufassen. Die in der einsichtigen Erkenntnis begründete Erweiterung der aristotelischen Seinskategorialität um die Seinskategorie des Zusammenseins führte auf dem zur Diskussion stehenden Seins- oder Vollkommenheitsgrad des „Menschseins“ = des „menschlichen Seins“ zur Unterscheidung zwischen dem seinskategorialen Bestand des humanen zuständlichen Selbstandes und des humanen Zusammenseins von zuständlichen Selbständen. Diesen, in der dreifach geschiedenen Seinskategorialität begründeten doppelten Bestand hat die vorliegende Untersuchung zusammenfassend als humane Existenz bezeichnet. Im statischen Sinn wurde diese Existenz als vernünftiges Sinnenwesen und im dynamischen Sinn als humane Existenz benannt. Als Kennzeichnung der humanen Existenz auf der ersten seinskategorialen Ordnungsstufe wurde der Ausdruck des Beisichseins vorgeschlagen. Als Benennung der zweiten seinskategorialen Ordnungsstufe lautete der Vorschlag, vom Verbundensein zu sprechen. Wie in seiner Folge das Beisichsein das Ganze der inneren ersten Ursprungsgründe der einen ExistenzGestalt der humanen Existenz umfaßt, so umgreift das Verbundensein das Ganze der inneren ersten Ursprungsgründe der anderen Existenz-Gestalt. In diesem Sinn verstanden, empfahl es sich, jene erste Existenz-Gestalt als menschliche Existenz-Gestalt zu benennen. Da sich bisweilen für diesen Ausdruck eine Verdeutlichung aufdrängt, kann man diese menschliche Existenz-Gestalt auch als psychische oder als solitäre oder als einsame Existenz-Gestalt oder ähnlich bezeichnen. Die zweite Existenz-Gestalt sodann wurde als gesellschaftliche Existenz-Gestalt benannt. In der verdeutlichenden Absicht heißt sie auch soziale oder solidarische oder gemeinsame Existenz-Gestalt oder ähnlich. Insbesondere unter der Rücksicht der wirklichen Ausgliederungen jener und dieser ExistenzGestalt, von welchen künftig zu sprechen ist, soll bevorzugt von den psychischen bzw. von den sozialen Existenzkategorien die Rede sein. Die durch ihre inneren ersten Ursprungsgründe aufgebauten Existenz-Gestalten bestehen in der Erkenntnis als Erscheinungen ihres Wesensgrundes. Von dieser Erkenntnis gilt, daß sie sowohl die menschliche als auch die gesellschaftliche Existenz-Gestalt nur in sofern erfaßt, als sie sich der Erkenntnis aufdrängen bzw. die Aufmerksamkeit des Erkennens sich ihnen zuwendet. Es ist ausgeschlossen, daß die genannten Existenz-Gestalten je schlechthin erfaßt und begriffen werden könnten. Erkennbar sind zum ersten immer nur die zwar wesentlich bestimmten, aber unter den Bedingungen des Raumes und der Zeit sich abwandelnden biographischen bzw. historischen Gestaltverwirklichungen der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Der hauptsächliche innere erste Ursprungsgrund der menschlichen wie der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz besteht in der Wesensform dieser Gestalten. In der Auffassung des aristotelischen Realismus ist die
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Form von Etwas zunächst dessen äußere Gestalt, also der sichtbare Aufbau eines Körpers. Deswegen gilt sie auch von den Körpern der genannten ExistenzGestalten. „Morphologisch“ betrachtet, ist jene wie diese Existenz-Gestalt etwas Verschiedenes. Von dieser Erfahrungserkenntnis ausgehend, wird in der Lehre vom Form-Materie-Verhältnis des körperlich Seienden, dem Hylemorphismus, die Form auf den inneren Wesensgrund des arteigenen Soseins der Naturwesen, insbesondere der Lebewesen, übertragen. Die menschliche Existenz-Gestalt ins Auge fassend, lehrt Aristoteles, daß der einheitlich beschaffene Mensch aus der in sich Bestand besitzenden und deswegen bestimmenden Form und aus dem durch sie bestimmten Stoff besteht. Er schreibt: „Wir fassen als eine Aussagegattung der Dinge die Wesenheit“ auf. Diese ist zum ersten da „als Materie“, die an sich „kein bestimmtes Etwas ist“. Sodann findet sie sich „als Gestalt und Form, vermöge der von einem bestimmten Etwas gesprochen wird“. Das dritte ist „beider Zusammensetzung“.301 In seinem Wesen, also als ousia verstanden, ist der „Mensch“ somit eine Einheit aus seiner bestimmten hyle, d.i. aus seinem Stoff, und aus seiner, diesen Stoff bestimmenden morphê bzw. aus seinem eidos, also aus seiner Gestalt bzw. aus seiner Wesensart. Im Fall des „Menschen“ benennt Aristoteles dieses eidos mit dem Namen psychê. Er entstammt den frühesten Zeiten des theoretischen Erkennens und wird später in der Übersetzung anima bzw. Seele genannt. Um eine Zusammenfassung und Klärung der verschiedenen Deutungen der Seele bemüht, die Aristoteles zu seiner Zeit vorfindet, unterscheidet er drei Stufen der Seele, die nach seiner Auffassung die verschiedenen Lebensvorgänge im „Menschen“ bewirken. Zum ersten ist die Seele des „Menschen“ der Ursprungsgrund der Bewegung seines Leibes. Diese Stufe der Seele wird später als anima vegetabilis, d.i. als lebenskräftige Seele oder als Vitalseele bezeichnet. Zum zweiten besteht die Seele des „Menschen“ als anima sensibilis, d.i. als Sinnenseele. Sie ist der Ursprungsgrund des sinnlichtriebhaften Lebens des „Menschen“, das bevorzugt in seinem Wahrnehmenkönnen zum Ausdruck kommt. Drittens ist die „menschliche“ Seele ausgezeichnet durch ihre Unkörperlichkeit. Sie ist da als anima rationabilis, d.i. als vernünftige bzw. als einsichtige sowie als willentliche Seele, also als Geist des „Menschen“. Daß Aristoteles der Erforschung dieser geistigen Seele seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet, ist bekannt. Erwähnenswert erscheinen ihm zwei Eigentümlichkeiten. Das ist zum ersten die Herkunft der Geistseele. Über sie sagt Aristoteles, daß sie thyrathen, d.i. von außen in den „Menschen“ gelangt. Sie wird also nicht im menschlichen Zeugungsakt weitergegeben.302 Sodann lehrt er, daß die Seele als Denken und Wollen von keinem Leiden betroffen ist. Die Geistseele zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß sie durch und durch wirksam und insofern unsterblich ist. Sie besteht deswegen als etwas vom 301
Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 412a. Vgl. Aristoteles, Peri zo¯on geneseo¯s, (Von der Entstehung der Lebewesen), (Edition Grumach/Flashar), 736b. 302
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„menschlichen“ Körper Abtrennbares, das im Tode des „Menschen“ dessen Leib verläßt, um sich mit dem Geist schlechthin zu verbinden. Es sind diese beiden Bestimmungen des geistigen Existierens und Wirkens, die in der Geschichte des Aristotelismus zu immer wieder neuen Deutungen Anlaß gegeben haben. Doch braucht im vorliegenden Zusammenhang auf diese Auseinandersetzungen nicht eingegangen zu werden. Denn wesentlich ist das Grundverständnis der Seele, das Aristoteles erarbeitet und vorgelegt hat. Es läßt sich mit seinen Worten wie folgt zusammenfassen: „Wenn man also eine allgemeine Bestimmung für jede Art der Seele geben soll, so ist sie die vorläufige Erfüllung des natürlichen mit Organen ausgestatteten Körpers.“303 Im Rückbezug auf die erwähnte eidetische Bestimmung der Seele, die die Erfüllung (entelecheia) des Menschen ist, wird später die gängige Formel geprägt, der zufolge die Menschen-Seele als anima forma corporis gilt, d.i. daß die Seele des Menschen dessen Körper formt und dadurch mit ihr eint. Wie sehr Aristoteles durch die in Erinnerung gerufenen Grundsätze und durch die sie begleitenden, hier unerwähnt gelassenen Lehrsätze jene Erkenntnis begründet hat, die man vernünftig als Lehre von der menschlichen ExistenzGestalt der humanen Existenz bezeichnet, so gibt er diesem Erkenntniszusammenhang doch noch keinen unterscheidenden Namen. Es sollten viele Jahrhunderte vergehen, bis die Zeit für eine solche Bestimmung gekommen war. Erstmals werden die Erkenntnisbemühungen, die in Frage stehen, wohl von dem Aristotelesinterpreten Rudolf Goclenius (1547–1628) benannt. Er kennzeichnet die besondere Lehre vom menschlichen Menschen mit dem Ausdruck Psychologie.304 Der Zeitpunkt dieser Wortschöpfung ist nicht zufällig. Denn zunehmend wendet die wissenschaftliche Forschung sich dem Menschen als diesem zu, also der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. In dieser Erkenntnisabsicht verändert sich nicht zuletzt das Verständnis der psychê bzw. der anima als Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Untersuchung. An die Stelle der Auffassung der Seele als Form des menschlichen Menschen tritt mehr und mehr die Berücksichtigung ihrer Erscheinungen als das, wodurch der Mensch etwas anderes ist als nur ein Körperwesen. In der heute geläufigen Sprache ausgedrückt, wird die menschliche Existenz-Gestalt zunehmend dadurch zu erkennen versucht, daß die wissenschaftliche Aufmerksamkeit dem menschlichen Bewußtsein, dem menschlichen Streben und dem Menschen in seinem Gemüt sich zuwendet, soweit diese sich wahrnehmen lassen. Das Problembewußtsein verlagert die Frage nach der Seele als seiender wie als wirksam seiender Form in die Frage nach dem Seelischen als dem, was den „Menschen“ auch, wenn nicht eben maßgeblich bestimmt. Die Seele im Sinn des Seelischen gilt damit als dasjenige, das neben dem körperlichen Existieren die menschliche Existenz-Ge303 304
Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 412b. Vgl. Rudolf Goclenius, Psychologia, h.e. de homine perfectione, Marburg 1590.
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stalt auszeichnet. In dieser Betrachtung wird das Seelische des Menschen zum mehr oder weniger formal geltenden Inbegriff der Erkenntnis des Menschen. In wissenschaftssystematischer Absicht unterscheidet der Philosoph Christian Wolff (1679–1754) folgerichtig zwischen zwei Psychologien. Benennt er die auf die Erfassung des inneren ersten Ursprungsgrundes des menschlichen Menschen zielende Erkenntnis als rationale Psychologie, so bezeichnet er die auf die Erscheinungen dieses Ursprungsgrundes sich richtende Erkenntnis als empirische Psychologie.305 Diese wissenschaftssystematische Unterscheidung des Erkennens des Menschen gilt bis heute, mag sie in der Regel auch anders benannt werden, nämlich als philosophische Psychologie einerseits und als fachwissenschaftliche Psychologie andererseits. Versteht jene Psychologie die Seele im strengen Sinn als forma substantialis, d.i. als in sich bestehende bestimmendkonstitutive Form des Menschen, so versteht diese die Seele als das Ganze der wahrnehmbaren nicht-körperlichen Wirklichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt. Durch dieses gewandelte Verständnis der Seele hat die nur erfahrungswissenschaftlich arbeitende Psychologie sich vom Formbegriff der Seele losgesagt. Als schließlich behavioristisch ausgebildete Psychologie schweigt sie über den Ursprungsgrund der menschlichen Existenz-Gestalt, sofern sie ihn nicht ausdrücklich leugnet. Derartige Auffassungen von der Psychologie sind nicht zuletzt der Anlaß, aus dem die Wissenschaft vom Menschen sich auf dessen Erkenntnis im vollen Sinn zurückbesinnt. Der gegenwärtige Rückgriff heißt gemeinhin Anthropologie. In der Bestimmung der „Stellung des Menschen im Kosmos“ wird der Mensch nicht nur in seiner leib-seelischen Tatsächlichkeit, sondern auch in seinem Wesen zu erkennen versucht, also hinsichtlich seiner Form. Im deutschen Sprachraum sind bahnbrechend zum ersten die einschlägigen Arbeiten von Max Scheler (1874–1928). Er ist bemüht, als Form der menschlichen Existenz-Gestalt deren Geistsein aufzuzeigen.306 Anders denkt Helmuth Plessner (1892–1985). Nach seiner Auffassung ist die „Positionalität“ des „Menschen“ nicht durch ein Zentrum gekennzeichnet, sondern durch ihre „Exzentrizität“, also durch ihre „natürliche Künstlichkeit“307. Wiederum anders denkt Arnold Gehlen (1904–1976). Er ist der Meinung, daß der Mensch als ein „Sonderentwurf der Natur“ ein „Mängelwesen“ ist, das der „gesellschaftlichen Institutionen“ bedarf, um zur Höhe seiner „kulturellen Leistungen“ zu gelangen.308 Wie sehr diese Ansichten im Sinn einer einheitlichen Lehre vom Men-
305 Vgl. Christian Freiherr von Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720. 306 Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928 bzw. veröffentlicht Darmstadt 1930. 307 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928. 308 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
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schen auch gemeint und zu einer Existentialanalytik des Seienden gesteigert sind309, so sehr bestehen sie gegenständlich, methodisch, systematisch und in ihrer Sprache doch nebeneinander. Deswegen versteht man die Anthropologie, so, wie sie sich seit ihrer Begründung darbietet, wohl richtig, wenn man sie als ebenso ausladend wie schwankend beurteilt, also als sich erstreckend zwischen einer Lehre vom Menschen als einer maßgeblich biologisch arbeitenden spezialwissenschaftlichen Disziplin und einer Lehre, die sich universalwissenschaftlich zu einem Anthropologismus ausweitet. Ob aus dem Ganzen dieses Bemühens sich herauslesen läßt, was als Wesensform des Menschen gelten kann, dürfte fraglich sein. Dies ist um so mehr der Fall, als das Problembewußtsein der Anthropologie nicht nur die menschliche, sondern auch die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz umfaßt.310 Die vorliegende Untersuchung wird deswegen die Arbeiten, die sich als Beiträge zur Anthropologie verstehen, nicht besonders im Auge behalten. Es mag ratsam sein, in einer abschließenden erkenntnistheoretischen Bemerkung zu wiederholen, daß der Mensch als dieser selbstverständlich in Beziehungen existiert. In der realistischen Erkenntnis wird als Beziehung das ursprüngliche Sich-Verhalten eines Seienden zu einem anderen aufgefaßt. Auf den Menschen bezogen besagt dieser Satz, daß jeder Mensch sich schon immer zu etwas Anderem und damit auch zu dem bzw. zu einem anderen Menschen verhält. Die menschliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz ist eine ihrem Sein nach in Beziehungen existierende Existenz. Also sind diese Beziehungen von jenen Beziehungen verschieden, die als gesellschaftliche Beziehungen erfaßt, benannt und im einzelnen aufgezeigt werden. Die Beziehungen, in denen der
309 Vgl. z. B. die Deutung des Werkes von Martin Heidegger durch Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien 1994, S. 204 und S. 428. 310 Vgl. zu diesem Befund z. B. das weit ausgreifende Sammelwerk von Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie. Band 1: Biologische Anthropologie. Erster Teil, Stuttgart 1971; Band 2: Biologische Anthropologie. Zweiter Teil, Stuttgart 1972; Band 3: Sozalanthropologie, Stuttgart 1972; Band 4: Kulturanthropologie, Stuttgart 1973; Band 5: Psychologische Anthropologie, Stuttgart 1973; Band 6: Philosophische Anthropologie. Erster Teil, Stuttgart 1975; Band 7: Philosophische Anthropologie. Zweiter Teil, Stuttgart 1975. – Vgl. als Übersicht im Sinn der realistischen philosophischen Anthropologie z. B. Gerd Haeffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1982/überarbeitet 20003. – Der wissenschaftliche Aufweis des Verhältnisses zwischen der psychologischen Erkenntnis des „Menschen als diesem“ und der anthropologischen Erkenntnis des „Menschen in der Welt“ ist trotz so quellenreicher Werke wie Michael Landmann, De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg/München 1962 und Walter Brugger, Grundzüge einer philosophischen Anthropologie, München 1986, noch nicht erarbeitet. Vermutlich reichen die Zusammenhänge zwischen der Psychologie und der Anthropologie zurück bis zu Otto Casmann (1562–1607). Vgl. dessen Schriften: Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina methodice informata, Hanau 1584 sowie Secunda pars anthropologiae: Hoc est fabrica humani corporis, Hanau 1596.
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Mensch als dieser steht, erklären sich aus der Ordnung der Welt und nicht aus der existentiellen Kategorialität der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. In der realistischen Beziehungslehre wird dieser Zustand von Etwas als Bezug des Einen auf ein Anderes seit alters her im einzelnen dargestellt: „Am wichtigsten“, so heißt es, „ist der Unterschied zwischen der transzendentalen oder Wesens-Beziehung und der prädikamentalen (kategorialen) oder akzidentellen Beziehung. Die eine übersteigt die Grenzen nur einer Kategorie und durchzieht sie alle, auch tritt sie in die Wesenskonstitution ihres Trägers ein (vgl. die Beziehung zwischen den Seinsprinzipien, des Geschöpfes zu Gott, des Fisches zum Wasser). Die andere tritt zu dem in seiner Wesenskonstitution schon vollendeten Träger als weitere Bestimmung hinzu und ist eine eigene Kategorie des Akzidenz (vgl. die Beziehung der nicht-wesentlichen Abhängigkeit oder Hinordnung).“ Sodann wird die Voraussetzung jeder möglichen und wirklichen Beziehung unterschieden: „Eine Beziehung setzt voraus den Beziehungsträger, das Beziehungsziel und (im Träger) den Beziehungsgrund; in der Beziehung der Vaterschaft ist der Vater der Träger, der Sohn das Ziel und die Zeugung der Grund.“ Schließlich werden als Arten der Beziehung genannt die „einseitige und die wechselseitige Beziehung; solche, die von beiden Seiten der gleichen, und solche, die verschiedener Art sind (vgl. Vaterschaft und Sohnschaft); solche, an denen nur zwei oder an denen mehrere teilnehmen (vgl. das Beziehungsganze einer Uhr). Außerdem weichen die Beziehungen nach Tiefgang und Dauer von einander ab (vgl. Tätigung eines Kaufes im Gegensatz zur ehelichen Verbundenheit); auch erwachsen sie teils aus Bedürftigkeit (etwa beim Kleinkind), teils aus überquellendem Reichtum (etwa bei Platon als Haupt der Akademie).“311 Zwei vorherrschende Auffassungen können somit nicht nachdrücklich genug als irrige Auffassungen wiederholt benannt werden, um sie ihres Irrtums wegen zu verwerfen. Jene Auffassungen bestehen zum ersten in dem Satz, demzufolge Beziehungen zwischen menschlichen Existenz-Gestalten der humanen Existenz deren gesellschaftliche Existenz-Gestalt begründen und erfüllen. Als Wahrheit ist festzuhalten, daß Beziehungen zwischen „Menschen“ immer Beziehungen zwischen Menschen sind. Der zweite Satz lautet, daß die vermeintlich allein bestehende Gesellschaftlichkeit der humanen Existenz in Beziehungen besteht. Also beherrschen sie ihre Verhältnisse, seien es die innergesellschaftlichen Verhältnisse oder die erwähnten Verhältnisse zwischen menschlichen Existenz-Gestalten der humanen Existenz. Diese Ansicht verkennt den ursprünglichen Bestand des humanen zuständlichen Selbstandes.
311 Johannes B. Lotz, Art. Beziehung, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 48 f.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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II. Abriß einer sachlichen Erklärung der Seele bzw. des Seelischen als der „bestimmenden Form“ der menschlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz
Die vorliegende Untersuchung zielt auf die realistische Bestimmung des Seins, des Wesens, der Erscheinung und der Erkenntnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Dieses Vorhaben bringt es mit sich, daß zahlreiche grundlegende Lehrstücke der herrschenden Gesellschaftswissenschaften als irrig erfaßt werden und deswegen zu berichtigen sind. Zu ihnen zählt deren Verständnis des „Menschen“. Bekanntlich behaupten die genannten Wissenschaften, daß der „Mensch“ jenseits seiner natürlichen Beschaffenheit in jeder Hinsicht ein gesellschaftliches Wesen ist. Sie sind also der Meinung, daß die nicht-natürliche humane Existenz mit der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt identisch ist. Aus diesem Grund haben sie keinen Anlaß, darüber nachzudenken, ob die humane Existenz im genannten Sinn nicht auch als menschliche Existenz-Gestalt existiert, also zu prüfen, ob dieses Existieren der humanen Existenz nicht denselben Seinsrang besitzt wie das Existieren des „Menschen“ als Gesellschaftswesen. Für das realistische Erkennen ist eben das der Fall. Es ist überzeugt, daß die humane Existenz bald in der einen und bald in der anderen Existenz-Gestalt wirklich da ist. Betrachtet man diese humanen Wirklichkeiten erkenntnisgeschichtlich, läßt sich alsbald in Erfahrung bringen, daß das Bemühen, den Menschen als diesen theoretisch zu erfassen, dem theoretischen Erkennen des Menschen als Gesellschaftswesen sogar voraufliegt. Es zeichnet sich dadurch aus, daß es zur Klarheit darüber kommen will, inwiefern der „Mensch“ ein Wesen ist, daß seinen Bestand in sich besitzt. Gelingt es, dieses In-sich-Sein zu erfassen, dann kann man wohlbegründet behaupten, daß der Mensch als dieser existiert und erklärend darlegen, daß diese Existenz durch ihre seelische Bestimmtheit begründet wird. Als seelisch beschaffene Existenz hat die menschliche Existenz-Gestalt mit der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz ursprünglich nichts zu tun. Deswegen erstaunt es, mit welcher Lässigkeit, um nicht zu sagen, mit welcher Überheblichkeit die herrschenden Gesellschaftswissenschaften das nicht-gesellschaftliche Existieren der humanen Existenz übersehen bzw. meinen, das nicht-gesellschaftliche Existieren in ein gesellschaftliches Existieren umdeuten zu dürfen. Aus diesem Grund ist es ratsam, einen erkenntnisgeschichtlichen Abriß vorzulegen, der wenigstens in Ansätzen verdeutlicht, wie seit den Anfängen der europäischen Wissenschaftskultur bis in unsere Tage über die humane Existenz als menschliche Existenz-Gestalt gedacht worden ist. Daß zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten die Seele, also das, was die humane Existenz zum Menschen macht, unterschiedlich erfaßt, erklärt und existenzbedeutsam beurteilt worden ist, kann nicht überraschen. Überblickt man die Entwicklung der Lehre von der menschlichen Seele durch die Jahrhunderte, muß man feststellen, daß die eigene Gegenwart von ihr im mehrfachen Sinne spricht. Mindestens drei Auffassungen hat man zu unterscheiden. Ihnen
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
zufolge besteht die menschliche Seele zum ersten als Substanz, zum zweiten als Aktualität und zum dritten als eine Gesamtheit von bestimmten Erscheinungen. Über die Herkunft, den Gehalt und die Begründung dieser Auffassungen ist im folgenden ein Wort zu sagen. Von seinem Anfang an wendet das Erkennen in seinem bis auf den heutigen Tag geläufigen Sinn sich auch dem Menschen zu. Daß er ein lebendiges Wesen ist, gehört zu den ersten Erfahrungen und in der Folge zu den ursprünglichen Erkenntnissen seiner Existenz-Gestalt. Als Leben des Menschen wird derjenige Befund aufgefaßt, daß er sich aus sich heraus zu bewegen vermag. Ist er dazu nicht mehr imstande, lebt der Mensch nicht mehr. Vom toten Menschen heißt es, daß er sein Leben ausgehaucht hat. Der Verlust des lebenspendenden Hauchs hat ihn in das Reich der Schatten verwiesen. Als Namen für das, was den Menschen leben läßt, überliefern die Zeiten seit Homer den Ausdruck psychê. In die eigene Sprache übersetzt, ist er uns bis heute als Seele geläufig. Was mit dem Namen psychê bzw. Seele benannt wird, ist maßgeblich also das SichBewegen-Können eines Körpers. Hinsichtlich des Menschen fällt sogleich auf, daß die Bewegung ein Tätigsein ist, also eine Bewegung, die Ziele verfolgt. Im Fall des Menschen bestehen sie vor allem als sittliche Ziele. Da dieses Erstreben sittlicher Ziele sich nur begreifen läßt, wenn diese zuvor erkannt worden sind, gilt die Seele folglich auch als derjenige menschliche Bestand, der des Erkennens fähig ist. Daß die Seele alsbald verschieden verstanden wurde, ist bekannt. Bald wurde sie als dieser oder jener materielle Stoff begriffen, bald als das nur in einer Umschreibung erfaßbare Bewegliche, das als Hauch, als Luft, als Wärme, als Fließen und endlich auch als nous, d.i. als Geist wirksam ist. Diese Deutungen findet die klassische Philosophie der Griechen vor. Sie zu bündeln, zu vereindeutigen und zu begründen sieht sich maßgeblich Platon herausgefordert. Ihm folgt Aristoteles, der als erster der Gelehrten des Altertums eine besondere Untersuchung über die Seele vorlegt. Durchforscht man das philosophische Werk Platons (427–347), lassen sich in ihm „summarisch gesagt vier Schwerpunkte“ aufweisen, die seine Lehre von der Seele des Menschen besitzt.312 Der erste ihrer Grundsätze lautet: „Die Seele ist Prinzip des Lebens.“ Ihm zufolge ist sie der Grund, aus dem die menschliche Existenz-Gestalt sich bewegt. Sie ist deswegen der Anfang dieses SichBewegens, weil sie teilhat an der Idee der Bewegung, also an etwas Ewigem. Als ein sich bewegendes Wesen existiert der Mensch als lebendige, d.h. aus sich heraus tätige Existenz. Zum zweiten: Platon versteht die Bewegung als ein Hingehen auf ein Anderes. Aufgrund der Idealität der Seele läßt sich dieser Bezug nur in der Weise bestimmen, daß man die Seele als den „Sitz der Erkenntnis der Ideen“ auffaßt. Die Bedingung dieser Fähigkeit erörtert Platon in seiner 312 Vgl. zu diesen Bestimmungen Olof Gigon/Laila Zimmermann, Platon. Lexikon der Namen und Begriffe, Zürich und München 1975, S. 246 ff.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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Lehre von der Wiedererinnerung. Zusammen mit jenem ersten Grundsatz, also dem des Ursprungs des Lebens als einem In-sich-Sein, gelangt er zu „einem neuen Beweis der Unsterblichkeit der Seele“. Denn ihrer ursprünglichen Präexistenz entspricht eine ebensolche Postexistenz. Zum dritten lehrt Platon, daß der Mensch „seine Seele nicht als homogenes Ganzes“ besitzt. Vielmehr gliedert sie sich in Teile. Sie bestehen als phronêsis, d.i. als Überlegung, als thymoeides, d.i. als das Mutvolle und als epithymêtikon, d.i. als das Begehrende. Da das Verhältnis dieser Seelenteile verschieden ist, gliedern die Menschen sich untereinander. Viertens ist „von der Seele als Träger ethischer Verantwortung zu sprechen. Sie ist es, die gut und böse handelt, die zum tugendgemäßen Handeln erzogen werden kann und soll und die gestraft wird, wenn sie böse handelt.“ Durch diese Merkmale ist die Seelenlehre Platons umrissen. Ob und inwieweit sie die überkommenen Auffassungen bündig zusammenfaßt, zureichend erklärt und vernünftig begründet, darüber braucht hier nicht befunden zu werden. Maßgeblich ist, daß diese Lehre schicksalsträchtig das menschliche Sein im Sinn der menschlichen Existenz-Gestalt begreift und für die Zukunft bestimmt. Indem sie diese Existenz-Gestalt als in sich begründet auffaßt, unterscheidet sie diese von jener anderen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, nämlich der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Als menschliche begriffen, gilt sie von nun an als in diesem Sinn existierend. Abwandlungen, die die Erkenntnisgeschichte in den folgenden Jahrhunderten vornimmt, betreffen nicht ihren Kern. Also besteht sie bis in die eigene Gegenwart nicht nur in der Erinnerung. Durch Platon festgelegt, bekräftigt als erster Gelehrter nach ihm Aristoteles (384–322) die erarbeitete Lehre von der Seele, mag er im Sinn seiner Auffassung des Seienden auch auf andere Weise über sie reden. Aristoteles zufolge besteht die Seele zum ersten als jener Ursprungsgrund der menschlichen Existenz-Gestalt, kraft dessen diese ihre Form besitzt und nach ihrer Erfüllung strebt, also zielstrebig wirksam ist. Sodann besteht die Seele als jener Grund, der das sinnliche wie das geistige Erkennen trägt. In den Lebewesen gestuft, findet sie sich zunächst als die Fähigkeit der Ernährung und sodann als die Fähigkeit des Begehrens. Dieses umfaßt nicht nur die Fähigkeit der Bewegung, sondern auch die Fähigkeit der Empfindung und der Wahrnehmung. Im Menschen besitzt die Seele darüber hinaus die Fähigkeit des Denkens. Als denkende Seele ist sie etwas Göttliches und sie ist deswegen auch etwas Unsterbliches. In diesem Sinn verstanden, stellt der beseelte Mensch einen Mikrokosmos dar, in dem der Makrokosmos sich spiegelt, also das Seiende im Ganzen. Indem der Mensch also „gewissermaßen die Gesamtheit der Dinge“313 ist, erweist die menschliche Existenz-Gestalt sich als der erhabenste Bestand, der sich im Kosmos des endlich Seienden findet.
313
Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 431b.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Die Generationen von Gelehrten, die Platon und Aristoteles folgen, bewahren deren Lehre von der Seele und in Sonderheit die Lehre von der Seele des Menschen, um sie nicht zuletzt an die Theologen des christlichen Glaubens weiterzureichen. Also heißt es an sachkundiger Stelle, daß der Kirchenvater Augustinus in der Seele „eine geistige, unkörperliche“ und deswegen vom menschlichen Leib unabhängige, „einfache, unzerstörbare, vernunftbegabte und den Körper regierende Substanz“ erblickt und daß „in der Bestimmung des Wesens der Seele“ die herausragenden Gelehrten des Mittelalters wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus und andere „zum Teil die Definition des Aristoteles wörtlich übernahmen“314. Mit der Heraufkunft der Neuzeit verflüchtigt sich die aufgezeigte Lehre von der Seele als der wesentlichen Bestimmung der menschlichen Existenz-Gestalt. Über die Gründe hierfür ist an dieser Stelle nichts zu sagen. Sie sind in der Erörterung der Anlässe der Heraufkunft der Neuzeit aufgewiesen worden. Deswegen ist hier nur die Tatsache der Preisgabe der traditionellen Auffassung der Seele des Menschen zu erwähnen. Für die erstarkenden Denkweisen des „Wesens des Menschen“, die meinen, zunächst mit der Dogmatik des Christentums und in seiner Folge mit der Erkenntnistradition brechen zu müssen, stellt sich die Bestimmung des Menschen anders dar. In jedem kundigen Nachschlagewerk lautet das Urteil über das Ende der bisher geltenden Überzeugung ähnlich demjenigen, das hier wiedergegeben sei: „Die neuzeitliche Begriffsgeschichte von ,Seele‘ präsentiert sich im ganzen als eine Geschichte der Schwächung und des Erlöschens einer Überzeugung, deren Inhalt – bei aller Variabilität im Detail – die Existenz einer unvergänglichen Entität (Kraft, Macht) ist, die den Menschen zu einem individuellen Selbst macht, den Körper eines Lebewesens zu einem lebendigen, die Welt zu einer organischen Totalität, in der alles mit allem in Beziehung steht. Im alltäglichen Leben finden sich diesbezügliche interkulturell geteilte Vorstellungen bis heute . . . Vergegenwärtigt man sich allerdings die große metaphysische Tradition, insbesondere den Zusammenhang, in den hier seit Plotin und Augustinus die Frage nach der Seele (als Weg zur Selbsterkenntnis) mit der Gotteserkenntnis gebracht worden ist, muß die moderne sprachliche Präsenz von ,Seele‘ wie eine bloße Façon de parler erscheinen, als ein ,Weiterleben in der Gemeinsprache‘, die ,allezeit sehr viele Reste der Religion und sonst veralteten ,Wissens‘ mit sich führt’, obwohl ,Seele‘ in Wahrheit ,nur noch das Wort für eine Funktion ist‘.“315
Es bedurfte einer langen Zeit, wieder gegenwärtig zu besitzen, daß die Seele etwas anderes ist als nur eine „Funktion“ der Existenz des Menschen, also Etwas, das sich in nicht-körperlichen Verrichtungen erschöpft, die bald so und bald anders bedingt sind. Insbesondere die grob materialistischen Ansichten des 314 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Seele in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 592. 315 Helmut Holzhey, Art. Seele, IV. Neuzeit, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 26 f.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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Menschen als eines in jeder Hinsicht mechanischen Wesens einerseits und die wachsende Problematik der sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich betriebenen Psychologie andererseits erschütterten die Auffassung, daß die überkommene Lehre von der menschlichen Seele überwunden ist. Es mußte über sie wieder nachgedacht werden. In der Folge stellt sich so etwas wie eine Renaissance der Seelenmetaphysik ein. Sie besteht seit gut einhundert Jahren. Die Herkünfte und damit die Beschaffenheit dieser Bestrebungen sind verschiedener Art. Vitalistische, also einem Lebensprinzip nachspürende Auffassungen finden sich neben noologischen Meinungen, also solchen, die den Menschen maßgeblich als Geistwesen verstehen. Emergenzlehren des Menschen, die die Entwicklung höherer aus niedrigeren Stufen der menschlichen Existenz-Gestalt behaupten, wetteifern mit Schichtenlehren des Menschen, denen zufolge dieser als Einheit verschiedener Realitätsgrade existiert. Als Ganzheitsbetrachtung bedenkt die Psychologie den Menschen in der Aufbaugliederung seines Seelenlebens. Die Phänomenologie betont den Menschen in seiner Intentionalität, also in seiner ebenso sinnlichen wie geistigen Ausrichtung auf die Gegenstände der menschlichen Existenz-Gestalt. Der Existenzphilosophie zufolge übersteigt der Mensch den Menschen, weshalb er ein Wesen ist, das seelisch über sich hinaus verweist. Diese ausgeprägten Neuauffassungen der menschlichen Seele haben zahlreiche weniger scharf umrissene Lehren von der Seele des Menschen neben sich. Insgesamt widerstreiten sie den herrschenden neopositivistisch begründeten physikalischen, die Seele(ntätigkeit) also naturkausal und den behavioristischen, die Seele(ntätigkeit) aufgrund von äußeren Erfahrungen zu beschreiben suchenden Urteilen, zu denen schließlich auch die mit der Seele befaßten Äußerungen der sprachanalytischen Denkweise zu zählen sind. Im angedeuteten vielschichtigen Zusammenhang der Meinungen vermag auch die realistische Lehre von der Seele sich wieder Gehör zu verschaffen. Sie besteht im wesentlichen in einer Vergegenwärtigung der philosophischen Psychologie, wie Aristoteles sie begründet und formuliert hat. Also wird gelehrt, daß die (menschliche) Seele einen unstofflichen Selbstand darstellt, der durch die mittelbar äußere und zumal durch die unmittelbar innere Erfahrung der Erkenntnis zugänglich ist. Dieser Selbstand besteht im Fall der menschlichen Existenz-Gestalt als ein seelischer Zusammenhang entsprechend den Stufen des Lebens. Sodann zeichnet die Seele als Wesensform des menschlichen Leibes sich durch besondere Vermögen aus, denen gemäß die menschliche Existenz-Gestalt verwirklicht ist bzw. verwirklicht werden kann. Angesichts der herrschenden psychologischen Auffassungen mag es ratsam sein, sich die wesentlichen Merkmale der realistischen Überzeugung von der Beschaffenheit der Seele zu vergegenwärtigen. Sie wird an bekannter Stelle wie folgt vorgetragen: „Seele . . . nennen wir (im Menschen) die im Wechsel der Lebensvorgänge bleibende, unstoffliche Substanz, die die psychischen Lebenstätigkeiten in sich erzeugt
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und trägt und den Organismus belebt.“ – „Nach den drei Stufen des Lebens unterscheidet man die Vitalseele (Entelechie, Lebensprinzip des Organismus), die Sinnenseele (Prinzip des sinnlich-animalischen Lebens) und die Vernunft- oder Geistseele (Prinzip der höheren geistigen Lebenstätigkeiten des Denkens und Strebens).“ – „Das Dasein der Seele ergibt sich aus der unmittelbaren Selbsterfahrung des Menschen und aus äußerer Beobachtung des Lebens.“ – „Trotz der Einheit der Seele als erstes formal-dynamisches Prinzip aller Lebenstätigkeiten fordert die spezifische Vielfalt dieser Betätigungen eine (nicht unmittelbar erfahrene) Vermittlung durch spezifische Seelenvermögen, d. s. aus dem Wesen der Seele erfließende, dynamisch auf diese Tätigkeiten hingeordnete Potenzen und Kräfte.“316
Die mit der heraufkommenden Neuzeit geradezu vollständige Preisgabe der realistischen Auffassung der menschlichen Seele besagt freilich nicht, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschen als Seelenwesen an ihr Ende gekommen ist. Man könnte vielmehr behaupten, daß das Gegenteil der Fall ist. Natürlich muß man diese Bemerkung richtig verstehen. Festzustellen ist, daß von der Seele nicht mehr im überkommenen realistischen Sinn gesprochen wird. Indem nämlich aus der bisherigen umfassenden Bestimmung der Seele einzelne Bestimmungen herausgelöst werden, ändert sich die Lehre über ihre Beschaffenheit. Sie wird dadurch mehrsinnig und hat darüber hinaus eine Verzweigung der Meinungen in die verschiedenen Ansichten zur Folge. Prüft man den Befund, dann liegt es nahe, zwischen zwei maßgeblichen Strömungen der Psychologie zu unterscheiden. Sie sind es, die das neuzeitliche Erkennen der menschlichen Seele und damit der menschlichen Existenz-Gestalt bestimmen. Sie können verschiedener nicht sein. Innerlich bleiben sie durch die Umstände ihrer Herkunft freilich aufeinander verwiesen. Diese Meinungen werden zumeist als aktualistische Auffassung der Seele einerseits und als empiristische Auffassung andererseits bezeichnet. Man kann einen Zugang zu diesen Psychologien dadurch gewinnen, daß man sich ihre Ursprungsgründe ins Gedächtnis ruft. Sie finden sich zumal in jenen Unterscheidungen der Seelenlehre des klassischen Altertums, die das christliche Mittelalter weiterentwickelt hat. Ist die Lehre von der Seele, wie der Philosoph Plotin (203–269) sie vorträgt, nicht schon bemerkenswert, weil er in der Geistseele des Menschen und damit im Seienden als Ich, von dem erkenntnisgeschichtlich erstmals die Rede ist, jenen Bestand erblickt, der im Seienden als dem Vielen den Bezug zum absolut-transzendenten Einen besitzt, so wird das Urteil des Aurelius Augustinus (354–430) gemeinhin doch als zukunftsträchtiger erachtet, weil es weniger in den Platonismus eingebunden ist. Es ist bekannt, welcher Lebensweg Augustinus zugedacht war. Nach einer bewegten Jugend ringt er darum, zu erfassen, was als Wahrheit wohlbegründet ist, und wie diese Begründung erkannt werden kann. Die Weise, in der Augustinus sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, ist 316 Alexander Willwoll, Art. Seele, in: Walter Brugger (Hrsg.), Wörterbuch der Philosophie, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 341 ff.
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das Selbstgespräch, also die Rede zwischen Augustinus als diesem selbst und der von ihm vernommenen ewigen Vernunft, also mit dem Gott des christlichen Glaubens. In seinen Confessiones berichtet er über jenen letzten Grund, den er schließlich als verläßlich erkennt. Indem die ewige Vernunft ihn fragt, ob er weiß, daß er denkt, antwortet Augustinus, daß er eben dies weiß. Im Rückgang auf die Selbstgewißheit gelangt Augustinus somit zur Wahrheit, weil diese durch die mögliche Gottesgewißheit verbürgt ist. Für die Lehre von der Seele besagt diese Einsicht, daß die Erkenntnis der Seele, sofern sie Geist ist, sich verläßlich auf das reflexe Bewußtsein stützen kann. In ihm besitzt sie jene Bedingungen, kraft derer sie nicht nur einen Bestand darstellt, sondern durch dessen Wirken sie auch der Selbstvergewisserung fähig ist. In der Selbsterkenntnis bewegt die geistige Seele sich selbst, also als eine Seele, die durch ihre Tätigkeit ihre Erfüllung erreicht. Ohne einen direkten Bezug zu dieser Auffassung des Augustinus findet sich eine ähnliche Lehre bei Thomas von Aquin (1224– 1274). Gewiß trifft es zu, daß Thomas in der Nachfolge des Aristoteles davon spricht, daß die menschliche Seele maßgeblich als Form des menschlichen Körpers besteht und sich auf diese Weise mit ihm verbindend, die Einheit der menschlichen Existenz-Gestalt darstellt. Zugleich sagt Thomas aber auch, daß die geistige Seele fähig ist, vollständig in sich selbst zurückzugehen. Unter dieser Rücksicht betrachtet, verhält sie sich wirksam nicht gegenüber dem menschlichen Körper, sondern gegenüber sich selbst. In der Weise des Vollzugs ist sie sich selbst durchsichtig und insofern sich selbst genug. Die Neuzeit wird diese Auffassung der Geistseele als eines Sich-Vollziehens in die Mitte ihrer Lehre von der menschlichen Seele rücken. Inwiefern ein ausdrücklicher Rückbezug auf die erwähnten Lehrstücke besteht, mag die Erkenntnisgeschichte der Lehre von der menschlichen Seele erforschen. Als Begründer der neuzeitlichen Auffassung gilt gemeinhin René Descartes (1596–1650). Von ihm weiß man, daß er sich aufmachte, den gewissen Grund des Erfassens von Etwas zu finden, da ihm alle überkommenen Weisen des Erkennens als ungewiß erschienen. Den Grund, den Descartes suchte, fand er in der als Denken sich vollziehenden Seele, oder, wie vielleicht treffender gesagt sein sollte, im wirksamen menschlichen Bewußtsein. Indem sodann dieses Bewußtsein das Bewußtsein eines Ich ist, ist dieses Denken gewiß im Sinn des geistig tätigen psychischen Subjekts, also jedes einzelnen Menschen, sofern er aktuell denkt. Jenseits dieser Betätigung des Ich ist ursprünglich nichts an sich gewiß. Diese Ungewißheit reicht vom Körper des jeweils denkenden Menschen bis zu den Körpern, die im Ganzen als das bestehen, was man die Welt nennt. Die jenseits der eigenen Innenwelt sich findende Außenwelt ist also ganz und gar unbestimmt. Descartes lehrt: „Sodann untersuchte ich aufmerksam, was ich denn bin, und beobachtete, daß ich mir einbilden könnte, ich hätte keinen Körper und es gäbe keine Welt noch einen Ort, an dem ich mich befinde, daß ich mir aber darum nicht einbilden könnte, daß
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ich selbst nicht wäre; ganz im Gegenteil sah ich, daß gerade aus meinem Bewußtsein, an der Wahrheit der anderen Dinge zu zweifeln, ganz augenscheinlich und gewiß folgte, daß ich bin, sobald ich dagegen nur aufgehört hätte zu denken, selbst wenn alles übrige, das ich mir jemals vorgestellt habe, wahr gewesen wäre, ich doch keinen Grund mehr zu der Überzeugung hätte, ich sei gewesen. Daraus erkannte ich, daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt, so daß dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden ist vom Körper, ja daß sie sogar leichter zu erkennen ist als er, und daß sie, selbst wenn er nicht wäre, doch nicht aufhörte, alles das zu sein, was sie ist.“317
Die kartesianische Auffassung der menschlichen Existenz-Gestalt als eines durch seine Bewußtseins- bzw. durch seine Denktätigkeit ausgewiesenen Ich weist der neuzeitlichen Lehre des Erkennens und sodann auch der neuzeitlichen Lehre vom Sein den Weg. Immanuel Kants (1724–1804) Kritik der reinen Vernunft ist der erste umfassende Entwurf, die beiden Grundfragen der „ersten Philosophie“ zu beantworten, die Descartes aufgeworfen hat, sieht man von der Gottesfrage ab. Die erste dieser Fragen betrifft die Objektivität der durch das subjektive Seelenwesen zu leistenden Erkenntnis. Kant bemüht sich um ihre Bestimmung dadurch, daß er deren Bedingungen aufzuweisen sucht. Dieses Bemühen des Erkennens bezeichnet er als transzendental. Als transzendentales Erkennen ist es verschieden vom empirischen Erkennen, da es „sich nicht . . . mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen . . . überhaupt beschäftigt“318. Seine Untersuchung schließt Kant mit der Behauptung ab, daß das tätige Seelenwesen in seinem Erkennen dann nicht in die Irre geht, wenn ein transzendentales Subjekt dessen Objektivität sichert. Kant überprüft und verfeinert also die in der wirksamen Ich-Gewißheit gründende Erkenntnislehre Descartes’. Diesem Transzendentalismus verpflichtet, arbeitet jenseits des Neukantianismus auch Edmund Husserl (1859–1938). Er ist bemüht, den sicheren Erkenntnisgrund durch das phänomenologischen Ur-Ich verständlich zu machen.319 Martin Heidegger (1889–1976) schließlich wird das ego cogito auf das Sein hin ausweitend als „Dasein“ auffassen und insofern einen transzendentalen Existentialismus lehren.320 Die zweite Frage, die Descartes aufgeworfen hat, betrifft das Seiende oder, genauer gesagt, den Bestand der Außenwelt. Wenn nämlich allein das Denken bzw. das Bewußtsein gewiß ist, also die sich vollziehende sogenannte Innenwelt, dann ist das, was im Unterschied zu ihr als Au317 René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637), (Edition Meiner), Hamburg 1960, S. 53 f. 318 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/17872), (Edition Meiner), Hamburg 1956, B 25. 319 Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (1935/36), Den Haag 1954, S. 187 ff. 320 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 19537, S. 53.
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ßenwelt bezeichnet zu werden pflegt, in jedem ursprünglichen Sinn ungewiß. Die Außenwelt ist an sich unbestimmt. Kant spricht aus, welche Meinung über den Menschen und über die Dinge als Folge der kartesianischen Auffassung der Seele als Wirksamsein sich zunehmend durchsetzt: „Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.“321 Weil die Menschen und die Dinge von sich aus nichts (mehr) sagen, muß man sie auf der Grundlage des Ich-denke souverän befragen. „Bisher nahm man an, daß alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten. Aber alle unsere Versuche über sie . . . etwas . . . auszumachen, . . . gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht . . . damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.“322 Denn es „ist der Verstand nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleich der Erscheinungen sich Regeln zu machen; er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur“323. Hinsichtlich der bisher als an sich seiend geltenden und deswegen auch in diesem Sinn erkennbaren Gegenstände behauptet das wirksame Seelenwesen seinstheoretisch also, daß an die Stelle der Denkgegenstände die Denkinhalte zu treten haben. Das Sein hat seinen Bestand im Gedachtsein. Willenstheoretisch betrachtet sind die Gegenstände nicht mehr gegeben, sondern vorgegeben. Das Sein hat seinen Bestand im Hergestelltsein oder, wie es heißt, im Konstrukt. Vergegenwärtigt man sich die Auffassung, nach der die menschliche Seele als ein Sich-Vollziehen besteht, kommt man zu dem Urteil, daß sie als etwas Absolutes verstanden wird. Dabei übersteigt diese Bestimmung jene der Beschaffenheit der Seele als Selbstand. Denn die als Selbstand begriffene Seele wird zwar als Bestand gemeint, der an-und-für-sich da ist, doch handelt es sich um keinen Bestand, der sein Dasein sich selbst verdankt. Die selbständige Seele ist vielmehr Etwas, das durch ein Anderes geschaffen ist. Eben das gilt von der wirksamen Seele nicht. Denn sie schafft sich durch ihr Denken selbst. Sofern sie also aus sich heraus ist, nämlich als Wirken, und sofern sie ihre Gegenstände als Denkinhalte hervorbringt und erkennt, ist die wirksame Seele etwas Schöpferisch-Allmächtiges. Die Philosophie des Idealismus wird diese Lehre geistesgeschichtlich universalisieren, so daß ihr Antipode Max Stirner (1806–1856) Veranlassung hat, zu behaupten, daß das Sein im Ganzen zuletzt darin besteht, die menschliche Existenz-Gestalt als etwas Göttliches hervorzubringen.324 Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat als ebenso feinfühliger wie scharfsinniger Psychologe den Grund und das Ziel wahrgenommen und beim Namen genannt, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/17872), (Edition Meiner), Hamburg 1956, B 59. 322 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/17872), a. a. O., B XVI. 323 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/17872), a. a. O., A 126. 324 Vgl. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum (1845), Berlin 1924, S. 357. 321
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welche das neuzeitliche, aktualistisch bestimmte Seelenleben kennzeichnen. Über den Wandel von der ehedem geltenden Transzendenz des Menschen, also des Überstiegs der je erfahrenen menschlichen Existenz-Gestalt auf ihre humane Existenz schlechthin, zur jetzt denkerisch begründeten Transzendentalität, also auf die Begründetheit des menschlichen Erkennens in sich selbst mit der damit verbundenen Folge der Bestimmung der Dinge kraft dieses Erkennens, schreibt er: „Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes . . . macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs – das heisst: ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnistheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an ,die Seele‘, wie man an die Grammatik und das ganze grammatische Subjekt glaubte: man sagte ,Ich‘ ist Bedingung, ,denke‘ ist Prädikat und bedingt – Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer bewundernswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netz heraus könne, – ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: ,denke‘ Bedingung, ,Ich‘ bedingt; ,Ich‘ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird.“325
Die vorläufig letzte Lehre der aktualistisch begriffenen menschlichen Seele ist der sogenannte Konstruktivismus. Er behauptet, daß es im Fall der Erkenntnis wie des Seins maßgeblich auf „die konstituierenden Leistungen des Beobachters“ ankommt. Die „sehr unterschiedlichen konstruktivistischen Strömungen sind sich einig in der Kritik realistischer und ontologischer sowie korrespondenztheoretischer Auffassungen von Wahrheit und Wissen. Die traditionelle epistemologische Frage nach dem Was der Erkenntnis ersetzt der Konstruktivismus durch die Frage nach dem Wie des Erkenntnisvorganges; jede Form der Kognition, Wahrnehmung und Erkenntnis wird somit als eigenständige aktive Konstruktion eines Beobachters und nicht als passive Abbildung aufgefaßt.“326 Daß dieser Konstruktivismus, der die gegen ihn vorgetragenen Einwände von sich weist und sich heute deswegen als sogenannter Radikaler Konstruktivismus versteht und als dieser die heutige Psychologie maßgeblich beherrscht, sei durch die folgende, zur Lexikonreife gediehene Auskunft belegt: Als „radikaler Konstruktivismus“ ist ein „spezieller Ansatz der konstruktivistischen Erkenntnistheorie“ zu verstehen, „der unter anderem von H. Maturana, F. J. Marela, H. v. Foerster, E. v. Glasersfeld in den sechziger und siebziger Jahren dieses Jahr-
325 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5, München/Berlin/ New York 1967–1977, S. 73. 326 Georg Kneer, Art. Konstruktivismus, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar 1996, S. 271.
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hunderts entwickelt wurde; Vertreter des Radikalen Konstruktivismus in Deutschland sind etwa P. Watzlawick und S. J. Schmidt. Ausgehend von systemtheoretischen, neurophysiologischen und kybernetischen Forschungen fordert der Radikale Konstruktivismus eine empirische Kognitionstheorie, die in Fortsetzung skeptischer und konstitutionstheoretischer Überlegungen jegliche Form der Erkenntnis – einschließlich des Erkannten selbst – als Konstruktion eines Beobachters begreift. Erkennen meint nicht passive Abbildung einer äußeren objektiven Realität, sondern bezeichnet einen Prozeß der eigenständigen Herstellung bzw. Konstruktion einer kognitiven Welt. Damit wird die Existenz bzw. die Realität der äußeren Welt nicht geleugnet, bestritten wird aber die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Welt. Die reale Welt als solche ist keine erfahrbare Wirklichkeit; Wirklichkeit ist vielmehr immer wahrgenommene, beobachtete, erfundene, also konstruierte Wirklichkeit. Als Ausgangspunkt dient dem Radikalen Konstruktivismus die neurophysiologische Einsicht, daß das menschliche Gehirn als Teil des Nervensystems über keinen direkten, unmittelbaren Zugang zu seiner Umwelt verfügt. Das Gehirn operiert als ein selbstreferentiell-geschlossenes System, das sich in seinen Aktivitäten ausschließlich rekursiv auf sich selbst bezieht.“ – „Insofern operiert das Gehirn selbstexplikativ – das Gehirn muß alle Bedeutungs- und Bewertungsmuster mittels eigener Operationen aus sich selbst schöpfen.“327
In der wissenschaftlichen Arbeit ist es nicht unbekannt, daß eine einseitig ausgebildete Lehre vielfach zur Folge hat, daß alsbald ihr Gegenteil Aufmerksamkeit erregt. Bisweilen werden rasch die unterscheidenden Einzelheiten bestimmt und entwickelt, um als neue, d.h. als wahre Lehre der alten, d.h. der irrenden entgegengesetzt zu werden. Als Beispiel für diese Tatsache kann die erwähnte konstruktivistische Auffassung der menschlichen Seele dienen. Besteht für sie der „Geist“ des Menschen in der Beobachtung der Dinge im Sinn ihrer bewirkten Bestimmung, so wird gegen diese Meinung ins Feld geführt, daß das konstruktivistische Denken von Etwas eine Fähigkeit ist, über die nur lebende Wesen verfügen. Also befindet nicht der Beobachter über die Beschaffenheit des Denkens, in dem er sich selbst beobachtet, sondern das Leben. Weil es von ihm abhängt, ist das Denken und damit die Konstruktion der Wirklichkeit nur medial beschaffen. Allein das Leben ist der Grund der Kognition und damit der Herstellung des Menschen und der Dinge der Welt. Es gilt, den Konstruktivismus auf den Biologismus zurückzuführen. Was im einzelnen der Fall ist, belegt die Wissenschaftsgeschichte des bewußten Daseins im ganzen. Es dauerte nur eine kurze Weile, bis nach der Bestimmung der menschlichen Seele als erkennendes, aber auch strebendes und fühlendes Wirksamsein, das deswegen über sich selbst und über die Dinge befindet, alsbald das Gegenteil behauptet wird. In diesem Meinungswandel schlägt die rational-aufklärerische Lehre von der menschlichen Seele in eine empirischaufklärerische Ansicht um. Ihr zufolge bezeichnet der Name der menschlichen 327 Georg Kneer, Art. Radikaler Konstruktivismus, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, a. a. O., S. 432 f.
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Seele nicht mehr als eine leere Stelle im Menschen, die zu nichts anderem dient, als von außen kommende Dingbestimmungen in sich aufzunehmen. Indem derartiges behauptet wird, erscheint es als zweckmäßig, die Psychologie als eine empirische Wissenschaft aufzufassen und zu entwickeln, sie also zunächst der Lehre von der Seele als Selbstand und sodann auch der Lehre von der Seele als Wirksamsein entgegenzusetzen. Als empirische Psychologie ist sie diejenige Lehre, die mit dem Namen der menschlichen Seele die Gesamtheit der nicht-körperlichen Erscheinungen der menschlichen Existenz-Gestalt bezeichnet. Diese Erscheinungen lassen sich in der äußeren Erfahrung erkennen, also als Gegebenheiten der Sinneserkenntnis. Das erste richtungweisende wissenschaftliche Werk, das sich mit der menschlichen Seele als einer Gesamtheit von Erscheinungen beschäftigt, dürfte der empiristische Aufklärungsphilosoph John Locke (1632–1704) mit seinem Versuch über den menschlichen Verstand vorgelegt haben.328 Wohl unterscheidet Locke noch zwischen dem Wahrnehmen durch die Sinne und dem Denken als einer Fähigkeit der geistigen Seele. Aber diese Fähigkeit erschöpft sich darin, Wahrnehmungen der Sinneserkenntnis zu verarbeiten. Denn sie sind die einzige Quelle, aus der die Erkenntnis sich speist. Daß die menschliche Seele geistig Etwas erkennen kann, hält Locke für unmöglich. Daß die res cogitans als selbständiges Wirken besteht und als dieses positive Bestimmungen aufweist, wie Descartes das noch lehrt, läßt sich nicht feststellen. Sie ist nicht mehr als eine uns näher nicht bekannte Ordnungsinstanz für die von uns aufgenommenen sinnlichen Bestimmungen der Dinge, wenn nicht sogar nur ihrer Eigenschaften. Mit diesem Empirismus bereitet Locke der Seelenlehre von David Hume (1711–1776) den Weg. Er ist es, der den Empirismus zum Sensualismus radikalisiert. Der Name Sensualismus bezeichnet die Lehre, nach der es unbegründet ist, zwischen verschiedenen Beschaffenheiten des „Denkens“ zu unterscheiden. Das Denken besteht allein in „Sinnlichkeiten“, in Empfindungen also, die zu Wahrnehmungen verdichtet und nach der Gewohnheit des Menschen zu Vorstellungen zusammengefaßt werden. Von der menschlichen Seele zu reden, erübrigt sich. Wenn man es trotzdem tut, kann man mit dem Namen der Seele nichts anderes meinen als „a heap or collection of different perceptions, united together by certain relations“329. Die menschliche Seele ist nicht mehr als ein Haufen von aufgenommenen Bewußtseinsinhalten, die assoziativ, also in einer stoffgesetzlichen Weise, miteinander verbunden sind bzw. als Verbindung sich 328 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London 1689; dt. erstmals als: Versuch vom menschlichen Verstande, Attenburg 1757. 329 David Hume, A Treatise of Human Understanding: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, London 1739/40, I, sec. 4., S. 495; dt. erstmals als: Ein Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch die erfahrungsorientierte Methode der Begründung auf die Gegenstände der Geisteswissenschaften anzuwenden, Halle 1790/92.
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einstellen. Mit dieser Lehre ist die Auffassung der menschlichen Seele sowohl im Sinn ihres Selbstandes, als auch im Sinn ihres Wirksamseins „endgültig diskreditiert“330. Was als Lehre von der Seele übrig bleibt, ist das, was als das sogenannte Psychische bzw. als das sogenannte Seelische „an“ der menschlichen Existenz-Gestalt erscheint. Der neukantianische Philosoph Friedrich Albert Lange (1825–1875) hat die umschriebene Lehre von der menschlichen Seele, die sich im 18. Jahrhundert machtvoll entwickelt und schon seit langem zumal als akademische Fachwissenschaft diejenige Denkweise darstellt, die man gemeinhin als Psychologie benennt, treffend gekennzeichnet. Über die zu seiner Zeit im Materialismus angekommene Auffassung des menschlichen Seelenlebens urteilt er in einer Weise über die empirische Psychologie, die bis heute brauchbar ist. „,Aber heißt denn Psychologie nicht Lehre von der Seele? Wie ist denn eine Wissenschaft denkbar, welche es zweifelhaft läßt, ob sie überhaupt ein Objekt hat?‘ Nun da haben wir wieder ein schönes Pröbchen der Verwechslung von Name und Sache! Wir haben einen Namen für eine große, aber keineswegs genau abgegrenzte Gruppe von Erscheinungen. Dieser Name ist überliefert aus einer Zeit, in welcher man die gegenwärtigen Anforderungen strenger Wissenschaft noch nicht kannte. Soll man ihn verwerfen, weil das Objekt der Wissenschaft sich geändert hat? Das wäre unpraktische Pedanterei. Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, solange es hier irgend etwas zu tun gibt, was nicht von einer anderen Wissenschaft vollständig mit besorgt wird. Freilich sind die Grenzen gegen die Physiologie nicht leicht zu ziehen. Wenn dieselben Entdeckungen auf zwei verschiedenen Wegen gemacht werden, so ist ihr Wert um so größer. Doch genauer läßt sich dies Verhältnis erst einsehen, wenn wir die Frage nach dem Verfahren der Psychologie stellen“.331
Die „Psychologie ohne Seele“, also die Lehre vom Psychischen bzw. vom Seelischen des Menschen behauptet von sich, daß sie ein Erkennen eines Gegenstandes ist, das methodisch verfährt und zur Erkenntnis einer Gesamtheit zu gelangen trachtet. Diese Behauptung ist des näheren zu kennzeichnen. Hinsichtlich des Gegenstandes kann man sagen, daß dieser letztlich auf jene Seelenvermögen rückbezogen ist, wie die traditionelle Lehre sie klarlegt. Die zumeist als vorrangig erachteten Vermögen sind die des Erkennens, des Strebens und des Fühlens. Die erfahrungswissenschaftliche Psychologie hat diese Vermögen freilich nicht als diese im Auge, sondern nur insoweit, als sie in Erscheinungen des Menschen sich äußern, sich an der menschlichen Existenz-Gestalt also alsbald als so und alsbald als anders auftretend sich feststellen lassen. Denn menschliche Einzelwe330 Eckart Scheerer, Art. Seele, Abschnitt: V. Philosophie der Psychologie seit 1850, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 65. 331 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2 Bände, Iserlohn 1866; hier zitiert nach der von Wilhelm Bölsche herausgegebenen und ausgewählten Ausgabe, Berlin 1920, S. 257.
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sen erkennen, streben und fühlen der Erfahrung nach auf verschiedene Weise. Weil das so ist, besteht der Gegenstand der „Psychologie ohne Seele“ in einer unbegrenzten Vielzahl psychischer bzw. seelischer Erscheinungen der menschlichen Existenz-Gestalt. In der Absicht, diese Erscheinungen inbegrifflich zu benennen, stößt man zumeist auf den Namen des Erlebens. Freilich ist diese Bezeichnung noch immer auf einen Träger bezogen, der diese Erlebnisse „hat“. Im Bemühen, diesen Bezug auszuschalten, ist die empirische Psychologie darum bemüht, an die Stelle der Wahrnehmung des „subjektiven“ Erlebens des Menschen die Wahrnehmung seines „objektiven“ Verhaltens zu setzen. Die Lehre von der menschlichen Seele als Lehre von der Gesamtheit der nicht-körperlichen Erscheinungen des Menschen erweist sich somit als bestimmt durch die Wege ihres Erkennens. Worin das Psychische bzw. das Seelische jeweils besteht, ist maßgeblich eine Frage, wie es erkannt werden kann. Im allgemeinen bedacht, sind es wohl zwei Erkenntnisweisen, die die erfahrungswissenschaftliche Psychologie ausgebildet hat. Sie kennt zum ersten die Methode der Selbstwahrnehmung sowie zum zweiten die der Fremdwahrnehmung des Menschen. Als Wahrnehmung durch den jeweils anderen Menschen hat die erfahrungswissenschaftliche Psychologie im Grundsatz zwei Verfahren ausgebildet. Das erste von ihnen ist die kontrollierte Wahrnehmung, die man in der Regel als Beobachtung bezeichnet. Das zweite ist die Beobachtung unter kontrollierten Bedingungen, also das Experiment. Das Ziel, das die verschiedenen Erkenntniswege erreichen sollen, entspricht den verschiedenen Erkenntnisabsichten. Bestehen sie zum ersten in einem Aufzeigen der Bedingungen, aus denen sich die seelischen Erscheinungen erklären lassen, so zum zweiten in einem Verstehen der zielursächlichen Bestimmungen des menschlichen Seelenlebens. Jenseits dieser Ermittlungen begnügt sich das empirische psychologische Erkennen damit, Regelmäßigkeiten festzustellen, die sich in psychischen bzw. in seelischen Beständen und Vorgängen finden. Sie werden zumeist mit Mitteln der Statistik zum Ausdruck gebracht. Die Vielzahl der Gegenstände, zu denen die Erkenntniswege der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie hinführen sollen, ist durch die benannten Kennzeichnungen nicht hinreichend bestimmt. Denn weit gliedert diese Psychologie sich aus. So interessiert sie sich zum Beispiel für das Psychische bzw. das Seelische des menschlichen Einzelfalls ebenso wie für dessen typisches Auftreten im Laufe des Lebens einer menschlichen Existenz-Gestalt mit ihren jeweiligen Beziehungen. Unter diesen finden die zahlreichen Betätigungsfelder des Menschen besondere Beachtung, handele es sich um die notwendige Erwerbsarbeit, um die als unverzichtbar geltende Wertorientierung, um Konflikt und Entscheidung in Umwelt und Politik, usf. Ein weiterer Zusammenhang eröffnet sich der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie im Studium des Menschlich-Bewußten und des Menschlich-Unbewußten. Dieses Verhältnis wird in der Regel als mehr oder weniger wirksamer Einfluß eines „Es“ auf ein „Ich“ aufgefaßt. All-
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gemein wird angenommen, daß Natürlich-Lebensmäßiges bzw. Nervliches, also alles Physiologische, auf das Bewußte einwirkt, ohne daß ein umgekehrter Einfluß ausgeschlossen wird. Ein dritter Wirklichkeitszusammenhang der menschlichen Existenz-Gestalt besteht in den erwartungsgemäß befolgten Existenzweisen hier und in den von den Erwartungen abweichenden Existenzweisen dort. Jene werden zumeist unter leitbildhaften Gesichtspunkten studiert, während diese in der Regel als Krankheitsbefunde beurteilt werden. Endlich verzweigen die Erkenntniswege der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie sich nach begrenzten Anwendungszwecken. Das Psychische bzw. das Seelische der menschlichen Existenz-Gestalt wird bald in Zusammenhängen der Pädagogik, bald in denen der Medizin, bald in jenen der Jurisprudenz, usw. zu erkennen versucht. Angesichts dieser Verzweigungen der Erforschung des Erfahrungsmäßig-Psychischen bzw. -Seelischen kann man von einem System der Erkenntnis der menschlichen Seele nicht sprechen. Sollte es so etwas wie eine Allgemeine erfahrungswissenschaftliche Psychologie geben, besteht ihre Aufgabe in der Bestimmung, was die menschliche Seele auszeichnet, sofern sie auch als Erscheinung real ist. Im anderen Fall ist die Seele, von der die erfahrungswissenschaftliche Psychologie spricht, nicht mehr als ein zusammenfassender Name für alles das, was nicht körperlich am Menschen beschaffen ist, soweit die Erfahrungserkenntnis sich ihm zuwendet. An auskunftsfreudiger Stelle kann man als Zusammenfassung über die „erfahrbare Seele“ das folgende nachlesen: „Seele“, d.i. der Name für „die Gesamtheit der seelischen Vorgänge und Zustände eines Menschen, vor allem die für ihn charakteristische Erlebnisweise, wird mitunter in abgekürzter Form als seine Seele (Psyche) bezeichnet. Dieser zusammenfassenden Bezeichnung für die Vielfalt seelischen Geschehens bedient man sich deshalb, weil die einzelnen seelischen Erscheinungen nicht nur in engstem Zusammenhang miteinander stehen, sondern auch in ihrer Gesamtheit als einheitlich auf einen identisch bleibenden Erlebenden bezogen erscheinen. Entsprechend dem Körper, an dem die verschiedensten Veränderungen sichtbar werden, wird auch den wechselnden seelischen Abläufen eine ,Seele‘ als deren Träger unterschoben. Ob es aber eine ,Seele‘ als ein dem Seelenleben zugrundeliegendes ,Bewußtseinsprinzip‘, als reale Kraft oder Substanz (mit den seelischen Vorgängen als ihren erfahrbaren Äußerungen), tatsächlich gibt oder nicht, ist eine unbeantwortbare Frage, da im Bereich der Erfahrung eine solche ,Seele‘ nicht nachweisbar ist. Notwendig ist diese metaphysische Annahme jedenfalls nicht; überdies ist der metaphysische Seelenbegriff zur Erklärung seelischer Erscheinungen ungeeignet, da er selbst einer Erklärung bedarf (er ist ein ,Mythologem‘).“332
Die erfahrungswissenschaftliche Psychologie, die die menschliche Seele im genannten Sinn auffaßt, weist es von sich, lebensfremd zu sein. Nach ihrer Meinung ist das Gegenteil der Fall. Ihr menschenfreundliches Ethos läßt sie sich nicht streitig machen. In diesem Sinn ist zum Beispiel im Eingang eines Lehr332
Franz Austeda, Art. Seele, in: ders., Lexikon der Philosophie, Wien 1989, S. 335.
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buches der herrschenden empirischen Psychologie die folgende Erklärung zu lesen: „Die Psychologie hat in unserem Jahrhundert zwei Hürden genommen. Der eine Sprung führte in den Jahren unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu ihrer Emanzipation von der Philosophie, im zweiten, dessen Zeitgenossen wir sind, versucht sie sich als eine wissenschaftliche Praxis – vergleichbar der Medizin – zu etablieren. Die große Verschiebung des Interesses bei Studierenden und in der Allgemeinheit zugunsten der sogenannten ,klinischen Psychologie‘, die man bei uns ebenso wie in den übrigen Industrienationen beobachtet, entspricht in etwa der 11. ,These über Feuerbach‘ von Karl Marx (1845): ,Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.‘ Konkret heißt das einerseits, den Menschen zu helfen, sich mit sich selbst, ihresgleichen und mit den Umständen ihres Lebens zurechtzufinden, und andererseits, diese Umstände, d.h. die Lebensbedingungen . . . so zu gestalten, daß sie mit den Bedürfnissen und den Möglichkeiten von Menschen im Einklang stehen.“333 III. Die Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt: Der Mensch als Person, als Ich und als Persönlichkeit
Die voraufgehende Untersuchung hat drei Auslegungen der menschlichen Existenz-Gestalt aufgezeigt, die die Erkenntnisgeschichte der menschlichen Seele als Bestimmungen der menschlichen Existenz-Gestalt erarbeitet hat. Daß diese Erkenntniszusammenhänge sich nicht darin erschöpfen, nur verschiedene deutende Betrachtungen des Menschen zu sein, ist bekannt. Sie sind maßgeblich auch Ziele der Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt. Folgt aus der Auffassung der Seele als selbständiger Form die Bestimmung der menschlichen Existenz-Gestalt als Person, so aus der wirksam begriffenen Seele deren Bestimmung als Ich sowie aus der Ansicht der Seele als Gesamtheit der nicht-körperlichen Erscheinungen des Menschen dessen Bestimmung als Persönlichkeit. Diese drei verschiedenen Verwirklichungen der menschlichen ExistenzGestalt sind im folgenden zu skizzieren. Die Auffassung der menschlichen Existenz-Gestalt als Person besitzt ihren Ursprung in der religiösen Glaubensüberzeugung im frühen Judentum sowie in dem ihm folgenden Christentum. Denn diesen Religionen zufolge existiert der Mensch maßgeblich als geistiges Einzelwesen. Er ist sowohl in seinem Erkennen als auch in seinem Streben ausgezeichnet als „dieser einzelne geistige Bestand da“. Das Alte Testament benennt dieses Verständnis des Menschen dadurch, daß es von ihm als einem Ebenbild Gottes spricht. Denn Gott ist einer, und er ist erkennend und strebend Geist. In der jüdischen Schöpfungsgeschichte der Welt wird über diesen Bestand wie folgt berichtet: 333 Peter R. Hofstätter, Art. Einleitung, in: Theo Herrmann/Peter R. Hofstätter/Helmuth P. Huber/Franz E. Weinert (Hrsg.), Handbuch psychologischer Grundbegriffe, München 1977, S. 7.
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„Dann sprach Gott: ,Laßt uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich; sie sollen herrschen über des Meeres Fische, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über alle Kriechtiere am Boden!‘ So schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild; nach Gottes Bild schuf er ihn, als Mann und Frau erschuf er sie.“334
In der geschichtlichen Erfahrung des Judentums wird diese Bestimmung der humanen Existenz konkret. Wohl in Israel beheimatet, aber in der Gefangenschaft Babylons lebend, erinnert der im sechsten Jahrhundert vor Christus tätige Priester Ezechiel daran, daß die Existenz der Menschen sich nicht blind-schicksalhaft ereignet und noch weniger das jüdische Volk als dieses betrifft. Denn der Mensch ist als Geschöpf Gottes eine „Person“335, jemand und nicht etwas. Nicht irgendwie, sondern an seinen Gott glaubend und ihm gehorsam, wirkt der Mensch als einzelner geistiger Selbstand: „Sein Vater aber, weil er Gewalttat verübte, Raub beging und Unrecht tat inmitten seiner Umgebung, wohlgemerkt, dieser muß um seiner Schuld willen sterben. Da fragt ihr: ,Warum trägt denn der Sohn nicht mit an der Schuld seines Vaters?‘ Der Sohn hat jedoch Recht und Gerechtigkeit geübt, alle meine Satzungen beobachtet und gehalten; darum soll er gewiß am Leben bleiben. Nur die Person, die sündigt, soll sterben; der Sohn soll nicht an der Schuld seines Vaters tragen, und der Vater soll nicht an der Schuld seines Sohnes tragen. Die Gerechtigkeit des Gerechten ruht auf diesem, und die Schlechtigkeit des Schlechten lastet auf jenem.“336
Wie man weiß, übernimmt und „erfüllt“ das Neue das Alte Testament. Im besonderen ist es der Apostel Paulus, der nicht müde wird, klarzulegen, daß der Mensch nach der christlichen Botschaft er selbst ist. Weder seine völkische Herkunft noch seine Mitgliedschaft in seinem Stamm, weder seine sittliche Bindung noch seine Religion zeichnen ihn aus, vielmehr bestimmt sich sein Existieren durch den von ihm geglaubten Glauben des Evangeliums: „Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben in Jesus Christus; ihr alle nämlich, die ihr auf Jesus Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da gilt nicht mehr Jude und Hellene, nicht Sklave und Freier, nicht Mann und Frau; denn alle seid ihr eins in Christus Jesus. Seid ihr aber Christi, so seid ihr Abrahams Nachkommenschaft und der Verheißung gemäß Erben.“337
334 Die Heilige Schrift. Erstes Buch Mose, (Edition Pattloch-Aschaffenburg/Bibelwerk Stuttgart) 1,26 f. 335 Vgl. z. B. die Kommentierung des Buches Ezechiel durch Eleonore Beck/Gabriele Miller, in: Die Heilige Schrift, Aschaffenburg/Stuttgart 1966, S. 1303: „Die Sünde bildet den Mittelpunkt seines Geschichtsbildes, und zwar die Sünde als persönliche Schuld. Seine Lehre ist der Beginn des Personalismus.“ Vgl. auch die verdeutlichenden Anmerkungen zu Kapitel 18, Vers 21–29 mit ihrem ausdrücklichen Bezug auf das „menschliche Einzelleben“. 336 Die Heilige Schrift. Das Buch Ezechiel, (Edition Pattloch-Aschaffenburg/Bibelwerk Stuttgart), 18, 18–20. 337 Die Heilige Schrift. Der Brief an die Galater, (Edition Pattloch-Aschaffenburg/ Bibelwerk Stuttgart), 3,26; vgl. auch: 1 Kor. 12,13 sowie Kol. 3,11.
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Der Sachverhalt, den der Apostel Paulus mit dem Namen Nachkommenschaft und damit mit dem der Erbschaft des Abraham bezeichnet, verbindet sich alsbald mit dem Gedankengut des griechisch-römischen Altertums über die Natur des Menschen. Dessen verschiedene Lehren über ihn als Seelenwesen verschmelzen zumal in den Unterweisungen der sogenannten Kirchenväter zu einer gläubig-vernünftigen Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt. Bei Aurelius Augustinus (354–430) findet sich deswegen nicht zufällig die Meinung: „Näher als die Platoniker sind uns keine gekommen.“338 Folgerichtig wird alsbald jene klassische Definition des Menschen als Person formuliert, an die erinnert werden darf: Die menschliche Existenz-Gestalt besteht darin, daß sie „ein einzelnes Dasein einer vernünftigen Natur ist“339. Es ist diese Bestimmung, die das christliche Mittelalter übernimmt und in dogmatischer, sittlicher, menschlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vertieft.340 Sie ist bedeutungsvoll bis in die eigene Gegenwart. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist aufgefordert, diese Zusammenhänge aufzuzeigen. An dieser Stelle muß es genügen, einige wenige Dokumente zu erwähnen, die insbesondere die römisch-katholische Kirche über die Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt als Person erarbeitet und lehramtlich vorgelegt hat. Denn ihr liegt es nahe, den Menschen, wie er verwirklicht sein soll, in seiner Eigentümlichkeit zu beurteilen und zu benennen. Über den Grundsatz des Verständnisses des Menschen in seiner Wirklichkeit, also als Person, erklärt sich das kirchliche Amt wie folgt: „Die kirchlichen Entscheidungen über den Menschen bilden natürlich keine geschlossene Lehre vom Menschen. Und doch sind in ihnen alle wesentlichen Stücke einer Gesamtauffassung des Menschen und des menschlichen Seelenlebens enthalten. Es sind vor allem die Wahrheiten von der Geistigkeit, Freiheit, Einzigkeit (Individualität) und Unsterblichkeit der Menschlichenseele, von der unmittelbaren Geschaffenheit der Seele durch Gott und von dem Verhältnis der Menschenseele zum Leib.“341
Daß die Seele vermutlich nicht nur als einzelne, sondern maßgeblich im Allgemeinen existiert, wie das Platon und Aristoteles und nach ihnen zahlreiche von ihnen abhängige oder beeinflusste philosophische Lehrer behauptet haben, sondern einen einzelnen Bestand darstellt, bemüht sich erstmals wohl die Allge338 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, (Der Gottesstaat), (Edition Carl Johann Perl), Paderborn/Wien/München/Zürich 1979, VIII, 5. 339 Vgl. zur Urheberschaft dieser Bestimmung durch Manlius Severinus Boethius (480–542) die Fußnote 41, S. 56. 340 Vgl. z. B. Thomas von Aquin, Summa theologiae, (Summe der Theologie), (Edition Joseph Bernhart), I, 29,3,2: „Unter Person im allgemeinen Sinne versteht man eine unteilige Substanz der vernünftigen Natur. Der Name Person bedeutet das Vollkommenste in der ganzen Natur.“ 341 Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, hrsg. von Karl Rahner, Regensburg 19544, S. 108.
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meine Kirchenversammlung von Konstantinopel klarzulegen, die in den Jahren 869–870 zusammentrat. Ihre Behauptung der geistigen Einzigartigkeit des Menschen lautet wie folgt: „Sowohl das Alte wie das Neue Testament lehren, der Mensch habe nur eine vernunft- und verstandbegabte Seele. Das bekräftigen alle gotterleuchteten Väter und Kirchenlehrer. Dennoch . . . stellten gewisse Leute den Lehrsatz auf, der Mensch habe zwei Seelen. Mit einer Weisheit, die zur Torheit geworden ist, bemühen sie sich, diese Irrlehre zu begründen. Die heilige und allgemeine Kirchenversammlung schließt daher die Urheber einer solchen Gottlosigkeit . . . aus der Kirche aus.“342
Mit der Zeit aufkommende Ungenauigkeiten in der Rede über den Menschen als eines einzelnen Leib-Seele-Wesens veranlaßten die Allgemeine Kirchenversammlung zu Vienne in den Jahren 1311–1312 zu der folgenden Feststellung: „Weiterhin weisen wir mit Zustimmung der heiligen Kirchenversammlung jede Lehre und Behauptung als irrig und der Wahrheit des katholischen Glaubens widersprechend zurück, die unbedacht leugnet oder in Zweifel zieht, daß die Substanz der vernünftigen oder verstandbegabten Seele in Wahrheit und durch sich selbst die Form des menschlichen Leibes sei. Auf daß allen die Wahrheit des reinen Glaubens bekannt und allen Irrtümern, die sich einschleichen könnten, der Zugang verschlossen sei, bestimmen wir, daß jeder, der von nun an hartnäckig dabei bleibt, zu behaupten, zu verteidigen und für wahr zu halten, die vernünftige oder verstandbegabte Seele sei nicht durch sich und wesentlich die Form des Leibes, als Irrlehrer zu betrachten ist“.343
Daß die Wirklichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt nicht nur im geistig„formalen“ Sinn, sondern auch im geistig-„körperlichen“ Sinn als eine Einheit besteht, definiert die Allgemeine Kirchenversammlung des Jahres 1513 im Lateran, indem sie das folgende über die Individualität und die Unsterblichkeit der Seele der menschlichen Existenz-Gestalt erklärt: „Der Sämann des Unkrauts, der alte Feind des Menschengeschlechtes, wagte es . . ., in unseren Tagen einige ganz verderbliche, von den Gläubigen immer verabscheute Irrtümer in das Ackerfeld Gottes auszustreuen und wachsen zu lassen, besonders über die Natur der vernünftigen Menschenseele: sie sei sterblich oder sie sei ein und dieselbe in allen Menschen. Einige, die in ihrer Philosophie keine Vorsicht kennen, halten dies, wenigstens philosophisch gesehen, für wahr. Gegen ein solches Unheil wollen wir geeignete Heilmittel anwenden. Mit Zustimmung der heiligen Kirchenversammlung verurteilen wir also alle und weisen wir alle zurück, die behaupten, die vernünftige Menschenseele sei sterblich oder sie sei nur eine einzige in allen Menschen. Ebenso alle, die diese Wahrheit in Zweifel ziehen; denn die Seele ist nicht nur wirklich, durch sich selbst und wesentlich die Form des 342 Die Allgemeine IV. Kirchenversammlung von Konstantinopel. Lehrsätze gegen Photius, in: Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, a. a. O., S. 123. 343 Die Allgemeine Kirchenversammlung zu Vienne. Gegen die Irrtümer des Peter Johannes Olivi, in: Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, a. a. O., S. 124.
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menschlichen Körpers, wie es in dem von der Kirchenversammlung in Vienne veröffentlichten Lehrsatz Unseres Vorgängers, des Papstes Klemens V. seligen Angedenkens, enthalten ist, sondern auch unsterblich und, entsprechend der Vielheit der Körper, in die sie eingegossen wird, kann sie vervielfältigt werden, wurde sie vervielfältigt und muß sie vervielfältigt werden.“344
Versteht man die genannten Erklärungen in ihrem Zusammenhang und berücksichtigt man die zahlreichen weiteren Bestimmungen der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt als Person, so ist festzustellen, daß dieses Verständnis der Verwirklichung des humanen zuständlichen Selbstandes neben sich seinesgleichen nicht besitzt. In die Pflicht genommen gegenüber sich selbst, tätig im Haushalt der natürlichen Natur, bezogen auf die andere menschliche Existenz-Gestalt als Person besitzt sie ihre letzte Herausforderung darin, daß sie ihre eigene Geistigkeit zur Geistigkeit schlechthin vervollkommnen soll. Blaise Pascal (1623–1662) ist der wunderbare Satz zu verdanken, daß der Mensch den Menschen unendlich übersteigt.345 Dieser Ausdruck sagt auf seine Weise, was die Augustinische Rede des transcende te ipsum meint: Als Person ist der Mensch nicht nur ein Wesen dieser Welt, vielmehr existiert er zugleich als ein Bestand, der sie geistig wie sittlich überbietet. Die menschliche Existenz-Gestalt existiert schon immer in einem unvergleichlichen Seinssinn, nämlich erfahrungsgebunden und doch alle Erfahrung übersteigend. Sein Gehalt besteht darin, daß der Mensch sich nicht darin erschöpft, nur hier und jetzt zu existieren, sondern darin, auch auf das „ganz Andere“, d.h. auf das Vollkommene schlechthin sich auszustrecken. Ein beachtenswertes Fragment aus den Gedanken des Pascal spricht dieses Existieren als In-sich-Sein, das ausgerichtet ist auf ein Über-sich-hinaus-Sein, auf treffliche Weise aus: „Wenn ich mir mitunter vornahm, die vielfältigen Aufregungen der Menschen zu betrachten, die Gefahren und Mühsale, denen sie sich, sei es bei Hofe oder im Krieg, aussetzen, woraus so vielerlei Streit, Leidenschaften, kühne und oft böse Handlungen usw. entspringen, so fand ich, daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe in ihrem Zimmer zu bleiben.“346
Das erwähnte ruhige Existieren im erkennenden wie im wertgestaltenden Sinn ist das Ziel der personalen Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt. Daß man etwa eine katholische von einer evangelischen und diese von einer jüdischen und sodann von einer „nur“ humanistischen Auffassung unterscheiden könnte, läßt sich nicht feststellen.347 Lediglich der lehramtlich-formale Charakter der Verlautbarungen, den der Katholizismus bevorzugt, räumt diesem 344 Die Allgemeine V. Kirchenversammlung im Lateran, 8. Sitzung, in: Josef Neuner/Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, a. a. O., S. 126. 345 Vgl. Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), (1669), Heidelberg 19463, S. 205. 346 Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), a. a. O., S. 77.
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eine Sonderrolle ein. Eine unverkennbar katholische Auffassung aus unseren Tagen lautet wie folgt: Weil der Mensch „nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, hat der Mensch die Würde, Person zu sein“. „Er ist imstande, sich zu erkennen, über sich Herr zu sein, sich in Freiheit hinzugeben, . . . und er ist aus Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen, um diesem eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an seiner Stelle geben kann.“348
Zusammengefaßt erscheinen das Leben und das Lebensziel der menschlichen Existenz-Gestalt als je dieses geistige Existieren, das sich weitet zum geistigen Existieren schlechthin. Immer wieder hat man sich bemüht, die Wesenszüge dieser Existenz-Gestalt zusammenzufassen. Versuche zeitgenössischer Autoren kennzeichnen die personale Existenz, indem sie fragen: Was also ist der Mensch? Auf diese Frage lautet die Antwort zunächst im Allgemeinen wie folgt: Der Mensch ist „die Ausnahme aus der Gesamtheit des Seienden, insofern er ausdrücklich sich zu allem und darin zu sich selbst verhält“. Was mit diesem Urteil gesagt sein soll, will des näheren erklärt sein. Also heißt es, daß die Person, die als Mensch existiert, (1) gewiß „an die Raum-Zeit-Gesetze der materiellen Natur“ ebenso gebunden ist wie (2) an die „Form- und Entwicklungsgesetze der organischen Natur“; jenseits dieser Bindungen besteht die Person aber (3) als das „alles Endliche (sich und anderes) distanzierende und transzendierende“ Wesen, also als eine Existenz der Freiheit; zunächst lebt die Person (4) bezogen bald auf diese eine und bald auf jene andere Person, weshalb ihr Leben „mitmenschlich“ ist, was besagen will, daß sie bestimmt ist durch ihren Dialog und durch ihr biographisches Geschehen; sodann sind (5) „Geistigkeit, Freiheit und Personalität . . . nicht isolierte Faktoren, sondern bilden eine Einheit“, weshalb sie als „gesetzte und setzende Freiheit“ zu verstehen sind; aus dieser Bestimmung folgt (6), daß alle ontischen, also alle seinshaft möglichen Verwirklichungen der menschlichen Existenz-Gestalt als Person „in Einseitigkeiten geraten“ können, zum Beispiel im Sinn des Materialismus, des Naturalismus, des Biologismus, des Spiritualismus, usw.; endlich ist festzustellen, daß (7) die in der Person „angezielte Vollendung durch sie selbst nie endgültig zu leisten“ ist, „wohl aber“ kann sie „immer wieder verfehlt werden“: „Insofern der Mensch sich in und zu seinem Sein absolut gefordert erfährt, aber 347 Vgl. z. B. die Übereinstimmung zwischen dem katholischen Theologen Romano Guardini, Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen (verfaßt 1935), Würzburg 1952, dem evangelischen Theologen Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch, Zürich 1937 (gekürzte Fassung: Gott und sein Rebell. Eine theologische Anthropologie, Hamburg 1958), dem jüdischen Religionswissenschaftler Martin Buber, Das dialogische Prinzip (Aufsätze verfaßt zwischen 1920 und 1930), Heidelberg 1954 und dem Philosophen und Essayisten Emmanuel Mounier, Das personalistische Manifest (Paris 1936), Zürich 1937. 348 Katechismus der Katholischen Kirche, (zuerst Città del Vaticano 1993), München 1993, S. 122.
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dieser Forderung gegenüber immer zugleich zurückbleibt“, ist er ein Wesen des „Gewissens“349. Daß die Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt als Person die Lebensverhältnisse unserer Zeit bestimmt, kann man nicht behaupten. Gewiß ist es richtig, daß in zahlreichen privaten wie öffentlichen Existenzzusammenhängen diese menschliche Wirklichkeit real gelebt wird. Aber sie sind kein Kennzeichen der Neuzeit und schon gar nicht der Moderne. Sie sind gleichsam Inseln in einer um Aufklärung bemühten „nachmetaphysischen“ menschlichen Existenz-Gestaltung, wenn nicht ein Rest der christlichen Tradition oder eben ein Rückstand eines menschlichen Existierens, das die Seele im Sinn einer anima naturaliter christiana auffaßt. In dieser zum Ausnahmefall gewordenen personal verwirklichten menschlichen Existenz-Gestalt scheint zum Ausdruck zu kommen, daß die europäische Kultur ihre eigene Entzauberung durchgesetzt hat. Freilich trifft es zu, daß zumal die historisch orientierten Wissenschaften der humanen Existenz deren Personalität weiter beschäftigt. Aber diese Vergegenwärtigung ist kein Bewahrenwollen des Personseins in einer weltlich gewordenen Welt. Die systematische Ausrichtung der Erforschung des Menschen zielt auf die Realität der humanen Existenz bzw. auf die der menschlichen ExistenzGestalt in ihrem nachpersonalen Zeitalter. Jenes historische Erkenntnisbemühen ist dadurch ausgezeichnet, daß es die Ursprünge und Entwicklungsschritte zu ermitteln versucht, die sich als die Bedingungen der neuzeitlichen Ziele der Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt erkennen lassen. Man urteilt wohl richtig, wenn man diese Verwirklichung als existentiellen Vollzug des Menschen als Ich-Sein auffaßt. Im Unterschied zur Überzeugung, nach der der Mensch als Person existiert, ist die menschliche Existenz-Gestalt als Ich diejenige Auffassung des Menschen, die sich aus seinen Möglichkeiten ergibt, wie man in einer ersten Annäherung an die neue Zielsetzung sagen könnte. Des näheren benennt diese Bestimmung, daß der Mensch nicht von seinem Sein her verstanden wird, sondern als Wesen des Wirksamseins. Im Unterschied zur überkommenen Auffassung der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt als Person, die zunächst da ist und im Maße ihres Daseins tätig ist, wirkt der als Ich aufgefaßte Mensch ursprünglich und ist insofern da. Freilich darf man dieses Dasein nicht in einem 349 Max Müller/Alois Halder, Art. Mensch, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 1988, S. 190 f. – Aus dem reichen Schrifttum über die menschliche Existenz-Gestalt als Person seien z. B. genannt: Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 1993; Heinrich Schmidinger, Der Mensch ist Person. Ein christliches Prinzip in theologischer und philosophischer Sicht, Innsbruck/Wien 1994; Martin Brasser, Hrsg., Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1999; Regine Kather, Person. Die Begründung der menschlichen Identität, Darmstadt 2006.
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seinshaften Sinn verstehen. Denn die Lehre vom Ich-Sein des Menschen leugnet den herkömmlichen Grundsatz agere sequitur esse, d.i. das Wirken folgt dem Sein. Denn das Wirken bedarf keiner Grundlage. Es besteht in einem sich ereignenden Tätigsein. Das Ich, das als Tätigkeit besteht, ist also keineswegs in einer Weise beschaffen, wie der Realismus das Ich-Sein der menschlichen ExistenzGestalt auffaßt. Das Ich als menschliche Aktualität ist deswegen nicht mehr als Träger, als Bezugspunkt und als Quellgrund der geistigen Verwirklichung des Menschen zu verstehen, sondern als Vollzug, als reines Schaffen oder, wie es ebenso häufig wie ungenau heißt, als Handeln des Menschen. Aus dieser ersten Bestimmung des Wirksamseins des Menschen, das ihn befähigt, durch seine eigene Selbstvergewisserung sich selbst ins Dasein zu bringen, folgt die zweite Bestimmung der als Ich-Sein ausgelegten menschlichen Existenz-Gestalt. Sie bezieht sich auf das Seiende, soweit es als Nicht-Ich besteht. Sein Bestand ist in dem Maße gewiß, in dem das Ich es als seine Gegenstände herstellt. Folglich sind diese Gegenstände keine Gegenstände mehr im transsubjektiven Sinn. Sie bestehen nicht mehr an sich. Die Dinge der erscheinenden Außenwelt sind nicht mehr als ein unbestimmtes raum-zeitliches Rohmaterial, das dem Ich zur Verfügung steht. Erst eine Formung durch das psychische Subjekt, also durch ein Ich, gestaltet jenen Urstoff zu diesem und zu jenem bestimmten Gegenstand. In der Folge dieses Grundsatzes besteht die nicht-ichhafte Welt dank der wirklichkeitsbildenden Fähigkeiten des Menschen in Realitäten, die von ihm hergestellt worden sind bzw. von ihm hergestellt werden können. Des näheren bestehen sie im wesentlichen Sinn als vollendete oder als zielbildliche ideale Bewußtseins- oder Denkinhalte und in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit als durch dieses Ich und durch jenes Ich usw. bzw. allgemein durch die Bedingungen der Möglichkeit der psychischen Subjektivität geschaffene Materialien, Geräte, Werke, Lebensläufe, usw. Die realistische Erkenntnis, daß der Mensch nicht nur als eine durch ihren Bestand geformte Person, sondern kraft dieses Bestandes auch als eine wirksame Person existiert, besitzt ihren Ursprung wohl in der Gedankenwelt des Aurelius Augustinus (354–430). Vielleicht hat ihn seine Lebenserfahrung dazu veranlaßt, nicht nur von der Substantialität des Seelenlebens zu sprechen, sondern darüber hinaus von seiner Aktualität. Denn verschieden sind die Gestaltungen, in denen Augustinus seine humane Existenz verwirklicht hat. Schließlich verlangte seine Seele eine Lebensführung, die durch die Erwartung des christlich verstandenen Heils bestimmt ist. Aus den angedeuteten Gründen spricht Augustinus unterscheidend von seiner Existenz, von seinem gewissen Wissen und von seiner Liebe zu Gott und dessen Schöpfung. Damit klingt an, was später im Unterschied zur Person als Ich-Sein des Menschen benannt wird. Er schreibt: „. . . diese dreifache Erfahrung unterliegt keiner wie immer gearteten trügerischen Vorstellung von Einbildung und Phantasiegebilden: es steht für mich ganz fest, daß
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ich bin, daß ich das weiß und daß ich es liebe. In diesen Wahrheiten fürchte ich mich vor keinem Einwand der Akademiker . . .“350
In den langen Jahrhunderten zwischen der Zeit des Augustinus und der des hohen Mittelalters wurde seine Lehre von der nicht nur seienden, sondern auch wirksam seienden Seele und damit auch der menschlichen Existenz-Gestalt nicht mehr weiter bedacht. Insbesondere unter dem Einfluß des Aristotelismus wurde die Seele vor allem wieder als selbständige Form des Körpers und damit als Grund der Einheit des Menschen begriffen. Andererseits hat man das Augustinische Gedankengut aber nicht gänzlich vergessen. Soweit die christliche Glaubensdogmatik die Philosophie des Altertums erfüllte, wurde sie durch den Gedanken ergänzt, daß der Mensch nur auf wirksame Weise gläubig sein kann. In der Erforschung der Bedingungen dieses Glaubens stieß die Erkenntnis auf jenen seelischen Befund, der von Thomas von Aquin (1225–1274) als die „vollständige Rückkehr der Seele in sich selbst“ benannt wurde. Sich selbst durchsichtig zu sein, eröffnet dem Menschen die Einsicht in die Beschaffenheit seiner Natur. In dem Maße, in dem er sie durchschaut, vermag er schauend zum Seienden im Ganzen vorzudringen und dadurch zur Erkenntnis des Schöpfers der Welt. Indem der Mensch solchermaßen wirksam erkennt, existiert er nicht mehr nur im seienden Sinn. Vielmehr erkennt er den Seinszusammenhang als bewirkte Schöpfung, an der er in wirksamer Weise teilhat. Die genannte Bestimmung des Wirksamseins der Seele und damit der menschlichen ExistenzGestalt fassen die einschlägigen theologie- wie philosophiegeschichtlichen Untersuchungen zusammen. Wie das im folgenden zitierte Beispiel belegt, vermögen sie zu verdeutlichen, daß die entwickelte Seelenlehre durchaus eine Ahnung vom Ich-Sein des Menschen besitzt. „In der Bestimmung der anima kommt . . . bei Thomas die ausgezeichnete Seinsweise, der ontologische Vorrang des Menschen für seine Seinslehre überhaupt ausdrücklich zum Vorschein. Insofern der Mensch anima ist, Seiendes als ,Subjektivität‘, als reditio completa subjecti in seipsum . . ., kann er nicht eigentlich als ein Seiendes neben anderen verstanden werden; er erscheint vielmehr als eine bestimmte Weise der Anwesenheit, der Selbstgegebenheit von Sein im ganzen, als ursprünglich und nicht noch einmal gegenständlich auflösbares ,Seinsverständnis‘ und damit als bevorzugte Erschließungsbasis für Sein überhaupt: Anima (mit ihrer transzendentalen Begabung, convenire cum omni ente . . .) data est homini . . . ut sit homo quodamodo totum ens . . . Nimmt man die spezifisch thomanische Lehre vom Verhältnis der Seele zu ihren Potenzen hinzu . . ., der zufolge die Seele im Entspringenlassen ihrer geistig-sinnlichen Vermögen sich selbst in Welt und Geschichte hineinentfaltet und in diesem (,subjektiv‘) unausweichlichen Welt- und Geschichtsverhältnis sich zu sich selbst verhält, darin also sich in ihren eigenen ,Möglichkeiten‘ begegnet, dann bietet sich gerade unter dem Titel der anima – und nicht etwa unter dem der existentia oder der substantia – eine klassische Verstehensgrundlage für die neuzeitliche Problematik der ,transzendentalen Subjektivität‘ . . . an.“351 350 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, (Der Gottesstaat), (Edition Carl Johann Perl), Paderborn/München/Wien/Zürich 1979, XI, 26 f.
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Den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit kennzeichnet der Wandel in der Auffassung der Seele und damit der Wirklichkeit der menschlichen ExistenzGestalt im angedeuteten Sinn. Verstand sich der Mensch bis jetzt als bestimmt durch seinen zuständlichen Selbstand, der sein Wirken hervorbringt, eint und trägt, so läßt man die Überzeugung von der so beschaffenen Seele zunehmend auf sich beruhen, um in ihr nur noch ihr Wirksamsein zu erblicken. In der Geschichtsschreibung des Erkennens wird diese Veränderung in der Regel durch den Aufweis erläutert, daß es gilt, den Begriff des Subjektes nunmehr in einem engeren Sinn zu verstehen. Benannte der Name des subiectum bzw. der griechische Name des hypokeimenon bis jetzt den Grund, auf dem die gestaltgebende und damit wirksame Form von Etwas aufruht, einerlei, was dieses Etwas ist, so wird im Lauf der Zeit nur noch derjenige Grund als Subjekt bezeichnet, der durch sein Wirken sich seiner selbst zu vergewissern vermag. Ausgearbeitet hat diese Bestimmung René Descartes (1596–1650). Mit der Formel, die er für die neuzeitliche Subjektivität geprägt hat, ist inzwischen das alltägliche Bewußtsein vertraut. Sie lautet: Ich denke, also bin ich.352 Im Sinn dieses Satzes besteht die neuzeitliche menschliche Existenz-Gestalt als Verwirklichung ihrer selbst, indem ihre Seele denkerisch wirksam ist. Das sich selbst – und in der Folge naturgemäß auch die Dinge – herstellende Denken ist also verschieden vom Verständnis des Wirkens, wie Augustinus und Thomas von Aquin es begreifen. In der Lehre von der Selbstgewißheit des Bewußtseins dank der göttlichen Erleuchtung und in der Lehre vom seelischen Wirken, das sich selbst durchsichtig ist, ist alle Verwirklichung ein durch den Selbstand getragenes zielbestimmtes Tätigsein. Das lehrt der Grundsatz omne agens agendo perficitur, d.i. jedes Wesen, das des Wirkens fähig ist, verwirklicht bzw. vervollkommnet sich, indem es wirkt. In eben diesem Sinn verstanden sich auch die Menschen jener Zeit. Sie waren weit davon entfernt, sich als psychische Subjekte zu begreifen, die durch ihr Wirken sich als Ich-Sein begründen. Nunmehr aber ist das der Fall. In der Erkenntnisgeschichte der Ausbildung des Ich-Begriffs353 wird dieser Vorgang zum Beispiel wie folgt kommentiert: 351 Johannes B. Metz, Art. Seele. III. Systematisch, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Neunter Band, Freiburg/Brsg. 1964, Sonderausgabe 1984, Sp. 572 f. 352 Vgl. René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637), (Edition Meiner), Hamburg 1960, S. 55. Daß das Denken als Wirksamsein der Seele in einem umfassenden Sinn zu verstehen ist, legt Descartes ausführlich dar. Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1641), (Edition Meiner), Hamburg 19923, S. 61; Dritte Meditation, 1.: Zur cogitatio zählen der Zweifel, die Bejahung, die Verneinung, das mangelnde Wissen, das Nichtwissen, der Wille, die Ablehnung, die Einbildung, die Empfindung, u. a., also auch Seelisches, das nicht gedanklicher Art ist. 353 Vgl. als Übersichten über die Ausbildung des Begriffs des Menschen als Ich bzw. als psychisches Subjekt bzw. als Individuum im Sinn des Human-Besonderen bzw. des Human-Einzigartigen, also nicht im Sinn des Human-Einmaligen und seine
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Bekanntlich ist es Descartes, der die ehedem mitbedachten Fragestellungen radikalisiert und dadurch „maßgeblich für die ganze Neuzeit“ wird. Ihm folgt Kant. Er „führt alle Erkenntnis auf das transzendentale Ich zurück, d.h. auf das Ich als den ermöglichenden Grund des Wissens“. Hiervon „ausgehend haben die deutschen Idealisten zu Ende geführt, was der ganzen Neuzeit im Blute lag; sie setzen das menschliche Ich absolut und mit dem göttlichen gleich, wodurch es schlechthin schöpferisch wird“354.
Am „Ende des ungeheuren Prozesses“, also dort, „wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt“, „finden wir als reifste Frucht . . . das souveraine Individuum“, wie Friedrich Nietzsche (1844–1900) die geänderte Auffassung der Realität der menschlichen Existenz-Gestalt treffend erfaßt und beurteilt hat.355 Denn der Mensch, der sich umfassend als wirksame Existenz begreift, verwirklicht sich stets als sein je einzelner Fall. Daß bzw. ob ein anderer Mensch dasselbe tut, liegt außerhalb des Urteilsvermögens eines Ich. Begründen die Menschen sich jedoch nur noch in ihrer je einzelnen menschlichen Existenz-Gestalt, so zerfällt die Menschenwelt in eine Vielzahl menschlicher Wesen mit ihren nach den jeweiligen Bedingungen bestehenden einzelnen Beziehungen. Hat das sich selbst begründende Gewißheitsdenken jeden Menschen von jedem Menschen zwar unabhängig gemacht, so haben die Menschen umgekehrt ihre ursprünglichen Verhältnisse zueinander aber eben dadurch verloren. Dieser Verlust ist jedoch nur die erste Folge der Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt als IchSein. Verändert es zwar schon tiefgreifend das Verhältnis des einen Menschen zum anderen Menschen und vollends gegenüber dem menschlichen Wir-Sein, also hinsichtlich der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz, so wirkt eine zweite Folge sich in einer Weise aus, deren Dramatik auch nicht in den kühnsten Ahnungen vorausgesehen worden ist. Denn war nach dem bisherigen Verständnis das Wirken der menschlichen Existenz-Gestalt eingebunden in deren Wesensart, so weiß der durch sein Wirken ausgezeichnete Mensch sich durch und durch als freies Wesen. Solchermaßen existierend, vermag er sich so oder auch anders zu verwirklichen. Er kann heilig oder weltlich werden wollen, die Handwerklichkeit oder die Gelehrsamkeit zu erreichen trachten, das Bewahren oder das Fortschreiten ins Auge fassen, usw. Mit der Zeit dämmert es dem Verwirklichung als menschliche Existenz-Gestalt: Richard Friedenthal, Entdecker des Ich. Montaigne–Pascal–Diderot, München 1969; H. Herrwig/U. Schönpflug, Art. Ich, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4, Basel 1976; Christoph Riedel, Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffs, Darmstadt 1989; Richard van Dülmen (Hrsg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001. 354 Johannes B. Lotz, Art. Ich, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 172 f. 355 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), in: ders. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 5, Berlin/New York 1967– 1977 und München 1980, S. 293.
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Menschen, daß diese menschlichen Verwirklichungen sich selbst innerhalb eines und desselben Lebenslaufs erreichen lassen. Wenn die menschliche ExistenzGestalt aber solcherart möglich ist, liegt es nahe, das Existieren in seiner Vielfalt auch tatsächlich auszuschöpfen. Die Veränderungen der menschlichen Existenz-Gestalt, die die Ich-Auffassung des Menschen im Gang der Jahrhunderte erfahren hat, kann man ermessen, wenn man beispielhafte Zeugnisse studiert. In der Vielzahl der ausdrücklich niedergelegten Lebensgeschichten ragen die „Bekenntnisse“ des Aurelius Augustinus (354–430) und die Bekenntnisse des JeanJacques Rousseau (1712–1778) heraus. Sind jene zunächst ein Schuld- und sodann ein Glaubensbekenntnis, so sind diese eine Beschreibung des eigenen, bestaunten Lebenslaufs. Berichtet der durch seine Personalität sich auszeichnende Augustinus über sich in einem Lobpreis Gottes, weil die Freude an der im Selbstbewußtsein verbürgten Wahrheit ihn glücklich macht, so stellt Rousseau die Eigenart seines Ich in einer Weise dar, der zwischen einer stolzen Selbstbewußtheit und einem selbstquälerischen Alleinsein nichts fremd ist, weshalb er es an religiösen Lästerungen ebensowenig fehlen läßt wie an der Darstellung seiner pikanten sexuellen Bedürfnisse. Eine Selbstverwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt dieser Art ist nicht weniger als der Ausdruck der inneren Auflösung dieser Gestalt als Ich. Zwischen einem „Es“ von triebhafter Naturgewalt und einem „Über-Ich“, das als kulturelle Versagung dem Menschen jede Hoffnung nimmt, verliert das Ich seine Ausrichtung und damit seinen Bestand. Das akademische Stichwort, unter dem die philosophische wie die fachwissenschaftliche Psychologie das Seelenleben dieser neuzeitlichen und zumal der zeitgenössischen menschlichen Existenz-Gestalt untersucht, ist das ihrer Identität. Denn es fragt sich, in welchem Sinn kann noch davon die Rede sein, daß der sich selbst verwirklichende Mensch er selbst ist. Jenseits der wissenschaftlichen Psychologie haben in den letzten hundert Jahren maßgeblich literarische Meisterwerke dem Identitätsverlust des Menschen hellsichtig nachgespürt. Eine dieser Arbeiten ist Hermann Hesses (1877–1962) Erzählung Der Steppenwolf. Ihr Thema ist der Verlust des Ich, das sich durch sein Wirken nicht mehr als identische menschliche Existenz-Gestalt zu verwirklichen vermag. Die äußeren Ereignisse, von denen in dieser Dichtung erzählt wird, lassen sich rasch wiedergeben. Berichtet wird über das Schicksal eines inzwischen fünfzigjährigen Mannes mit dem Namen Harry Haller. Der Leser erfährt alsbald, daß es sich bei ihm um einen einzelgängerischen Intellektuellen handelt. Seiner kleinbürgerlichen Herkunft entfremdet, führt er mehr und mehr ein zwiespältiges Leben. Lassen ihn einerseits seine Abstammungsgründe nicht los, die ihm, wie Hesse schreibt, eine atavistisch-animalische Daseinsweise aufzwingen, so weiß er sich andererseits doch einer humanistischen Lebensart verpflichtet. Hesse charakterisiert jenes sinnliche Existieren des näheren als ein wölfisches Leben in einer zur Steppe verödeten Zivilisation, und er kennzeichnet dieses geistige Existieren als menschliches Leben dank seiner Chancen einer
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feinen Lebensführung. Zerrieben zwischen diesen Möglichkeiten der Existenzverwirklichung, wird Harry Haller immer mehr dazu gedrängt, aus freien Stükken aus dem Leben zu scheiden. Um sich Klarheit über einen solchen Entschluß zu verschaffen, besucht er das sogenannte Magische Theater. Es ist eine vorgestellte Räumlichkeit, deren Wände rundum mit Spiegeln ausgekleidet sind. In ihnen kann Harry Haller sich in seinen verschiedenen Existenzwirklichkeiten erkennen. Dieses Erkennen seiner selbst belehrt ihn über die Gespaltenheit seines Ich. In diese Selbsterkenntnis mischt sich das Lachen der Unsterblichen, wie Hesse sich ausdrückt. Es ist der Grund, der Harry Haller trägt und damit die Voraussetzung, unter der er die Nöte seiner Existenzverwirklichung bewältigen könnte. Doch vermag er sie nicht zu überwinden. Seine Drogenabhängigkeit und eine Mordtat besiegen Harry Haller. Durch Kunstgriffe der literarischen Textgestaltung läßt Hermann Hesse den Leser wissen, daß seine Erzählung der Lebensgeschichte Harry Hallers sich als Diagnose der modernen Lebensverhältnisse des Menschen versteht, der sich als Ich zu verwirklichen versucht und eben dadurch seine menschliche ExistenzGestalt verliert. Hesse schreibt: „Diese Aufzeichnungen – einerlei, wie viel oder wenig realen Erlebens ihnen zugrunde liegen mag – sind ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zum Ende zu erleiden.“356 Die Erkrankung der eigenen Zeit besteht nach Hesse also darin, daß der menschlichen Existenz-Gestalt die Verwirklichung als Ich-Sein, die sie anstrebt, nicht gelingt. Sie hat dem Zerfall in Teil-Iche nichts entgegenzusetzen. Wenn Hesse sich darauf beschränkt, nur „zwei Naturen“ des „einen“ Menschen aufzuzeigen und zu ergründen357, so ist er sich klar darüber, daß seine Beschreibung des Lebens von Harry Haller, der „sowohl nach dem Heiligen wie nach dem Wüstling hin starke Antriebe in sich hat“358, „eine sehr grobe Vereinfachung“ ist. Mehr noch: Jener Zerfall ist keiner nur in die „Zweiteilung von Wolf und Mensch, in Trieb und Geist“. Er besteht in Wahrheit in einer mehrfachen Auflösung des Ich. Der Dichter weiß also, daß seine Darstellung „eine Vergewaltigung des Wirklichen“ ist, auf die er sich nur beschränkt „zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet“359. Der Verlust der Identität der modernen menschlichen Existenz356 Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Erzählung, (verfaßt und Erstveröffentlichung 1925/27), Frankfurt a. M. 1974, S. 31. 357 Vgl. Hermann Hesse, Der Steppenwolf, a. a. O., S. 55. 358 Hermann Hesse, Der Steppenwolf, a. a. O., S. 71.
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Gestalt als Ich ereignet sich also in vielfacher Hinsicht. Um alle Zweifel an dieser heute zum Schicksal gewordenen Art der Ich-Verwirklichung zu zerstreuen, vereindeutigt Hesse die Absicht seiner Erzählung mit den folgenden Worten: Harry Haller gehört zu jenen Menschen, denen „die Ahnung ihrer Vielspältigkeit aufdämmert“. Sie sind es, die „den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden“. – „Wenn nun also ein Mensch schon dazu vorschreitet, die eingebildete Einheit des Ichs zur Zweiheit auszudehnen, so ist er schon beinahe ein Genie, jedenfalls aber eine seltene und interessante Ausnahme. In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. Daß jeder einzelne dies Chaos für eine Einheit anzusehen bestrebt ist und von seinem Ich redet, als sei dies eine einfache, fest geformte, klar umrissene Erscheinung: diese, jedem Menschen (auch dem höchsten) geläufige Täuschung scheint eine Notwendigkeit zu sein, eine Forderung des Lebens wie Atemholen und Essen.“360
Wenn der Leser des Steppenwolfs diese Erzählung als ein pessimistisches Urteil über die gegenwärtige Ich-Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt wahrnimmt, dann teilt er die Überzeugung des Dichters Hesse. Denn am Ende besteht dessen Absicht darin, vor Fehlentwicklungen im Verhältnis des Menschen zu sich selbst zu warnen. Wie berechtigt dieser Mahnruf auch immer ist, so hat er doch viele Stimmen gegen sich. Deren Behauptung ist denkbar gegensätzlich. Sie lautet, daß die als vielfältiges Ich verwirklichte menschliche Existenz-Gestalt auf befreiende Weise Zukunftshoffnungen weckt. Deswegen ist es geboten, die heraufgekommene Möglichkeit der Verwirklichung des Ich in einer Mehrzahl von Teil-Ichen optimistisch zu begrüßen. Unter den Optimisten des Ich verschaffen sich am meisten wohl diejenigen Literaten und Professoren Gehör, die sich dem zeitgenössischen psychologischen Konstruktivismus verpflichtet wissen. Wie in der voraufliegenden Untersuchung über die Seele als Ursprungsgrund des Menschen schon dargelegt, lehrt er, daß die Menschen und die Dinge nicht an sich bestehen, vielmehr stellen die Menschen sich und die Dinge durch ihr Denken her. Das, was menschlich und sachlich ist, wird nicht gefunden, sondern erfunden.361 Zumal in der Verwirklichung des Ich ist der Mensch maßgeblich als Erfinder tätig. Des näheren besteht die eigene Wirklichkeitskonstruktion darin, daß der beseelte menschliche 359
Hermann Hesse, Der Steppenwolf, a. a. O., S. 75. Hermann Hesse, Der Steppenwolf, a. a. O., S. 77. 361 Vgl. z. B. Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben. Beiträge zum Konstruktivismus, München 1981, Neuausgabe 1985/1991; Siegfried J. Schmidt, Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1987; Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt a. M. 1996. 360
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Organismus das Ich zunächst in Teil-Ichen aufbaut und diese sodann zur IchIdentität zusammenfügt. Das vielfältig beschaffene Ich ist deswegen nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall der Verwirklichung der modernen menschlichen Existenz-Gestalt. Verdeutlicht man diese Beschaffenheit des Ich-Seins mit Hilfe der Schlüsselfigur in der erwähnten Erzählung von Hermann Hesse, so ist Harry Haller schon immer ein wirtschaftlicher Hungerleider und ein hilfloser Intellektueller, ein ästhetischer Narzißt und ein verführter Liebhaber, ein von seiner Wirtin mütterlich umsorgter Untermieter und ein Bürger, der am öffentlichen Leben auf ungebundene Weise teilhat, usw. Deswegen ist Harry Haller von Haus aus alles andere als eine problematische Figur. So beurteilt ihn jedenfalls beispielsweise Paul Watzlawick, (1921–2007) einer der führenden Vertreter des psychologischen Konstruktivismus. Und er ergänzt die Auffassung vom vielfältig verwirklichten Ich durch den Hinweis darauf, daß die Vielfaltsnormalität zweifellos auch ihre Abwandlungen bis hin zu einer ganz neuen IchIdentität umfaßt. Jedes Ich-Sein ist also grundsätzlich in verschiedenen Verwirklichungen möglich. Daß es bei diesen Konstruktionen zu Krisen in der menschlichen Existenz-Gestalt kommt, ist Watzlawick zumal als praktizierendem Psychologen wohl bekannt. Aber diese Krisen darf man nicht als Zeitkrankheit verstehen, wie Hermann Hesse dies tut. Denn „solange unsere Wirklichkeitskonstruktionen passen, leben wir ein erträgliches Leben“362. Allein in einem Ich-Sein, in dem die Verwirklichungsteile sich nicht mehr auf einander abstimmen lassen, können jene lebensgeschichtlichen Zustände eintreten. Sie sind erkennbar als „Wahnsinn, Verzweiflung, Selbstmord und dergleichen mehr“363. Aber das erkrankte Ich braucht sich nicht zu sorgen. Schließlich ist die konstruktivistische Psychologie nicht zuletzt deswegen entwickelt worden, um als Lebenshilfe zur Verfügung zu stehen. Von ihr zu erwarten, daß sie ein für allemal zur gelungenen Ich-Identität bzw. zu gelingenden Ich-Identitäten eines menschlichen Lebens fähig sein könnte, ist freilich zu viel verlangt. Bescheiden erklärt Watzlawick, daß er jenen leidenden Ich-Wesen immer „nur eine andere Konstruktion vermitteln“ kann, „die eventuell besser paßt“364. Denn der in eigener oder in fremder Anleitung genutzte psychologische Konstruktivismus ist nicht mehr als diejenige „Aufbaukunst“ des Ich, die demjenigen zeigt, „der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres 362 Paul Watzlawick, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, Wien 1992, S. 60. 363 Paul Watzlawick, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, a. a. O., S. 69. 364 Paul Watzlawick, Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, a. a. O., S. 69.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen.“365 Ob die menschliche Existenz-Gestalt sich solchermaßen als Ich stets aufs neue glücklich zu konstruieren vermag – vorausgesetzt, daß dieses überhaupt möglich ist –, muß zu fragen erlaubt sein. Aber Watzlawick und die Psychologen seinesgleichen kümmert dieser Einwand nicht. Denn der psychologische Konstruktivismus ist optimistisch davon überzeugt, daß der Mensch tatsächlich nur in seinem Sinn eine vollkommene Lebensgeschichte verwirklichen kann. Also lautet das konstruktivistische Dafürhalten zusammenfassend wie folgt: „Für viele Menschen ist der Radikale Konstruktivismus unannehmbar, ja geradezu skandalös. Sie halten ihn für eine aufgewärmte Form des Nihilismus. Ich behaupte, wenn es Menschen gäbe, die wirklich zu der Einsicht durchbrächen, daß sie die Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit sind, würden sich diese Menschen durch drei besondere Eigenschaften auszeichnen. Sie wären erstens frei, denn wer weiß, daß er sich seine eigene Wirklichkeit schafft, kann sie jederzeit auch anders schaffen. Zweitens wäre dieser Mensch im tiefsten ethischen Sinn verantwortlich, denn wer tatsächlich begriffen hat, daß er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht das bequeme Ausweichen in Sachzwänge und in die Schuld der anderen nicht mehr offen. Und drittens wäre ein solcher Mensch im tiefsten Sinne konziliant.“366
Freilich sieht Paul Watzlawick sich veranlaßt, zu bemerken, daß „es solche Menschen sehr, sehr selten“ gibt. „Ich habe in meinem Leben zwei getroffen, die vermutlich an dem Punkt angekommen sind.“367 Wenn es aber so ist, dann wird man nachdenklich überlegen müssen, wie es mit den vielen anderen Menschen bestellt ist, die Watzlawick als Erfinder ihrer selbst kennengelernt hat. Die zurückliegenden Untersuchungen waren darum bemüht, aufzuzeigen, daß die Auffassung der Seele des Menschen als seine Wesensform die Wirklichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt als Person bestimmt und die Auffassung der Seele als Wirksamsein dazu führt, daß die menschliche Existenz-Gestalt sich als jenes Ich begreift, daß in seiner Selbstverwirklichung besteht. Jener und dieser Grund und in der Folge jene Wirklichkeit und diese Verwirklichung des Menschen erschöpfen aber nicht die Möglichkeiten seiner ursprünglichen Bestimmung. Wie schon angedeutet, findet sich noch eine dritte Auffassung der menschlichen Seele, mit der wiederum ein Verständnis der Wirklichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt einhergeht, das ihr entspricht. Dieser Meinung zufolge besteht die menschliche Existenz-Gestalt in den nicht-körperlichen Er365 Paul Watzlawick, Vom S. 71 f. Hermann Hesse, Der 366 Paul Watzlawick, Vom S. 74 f. 367 Paul Watzlawick, Vom S. 75.
Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, a. a. O., Steppenwolf, a. a. O., S. 246 zitierend. Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, a. a. O., Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns, a. a. O.,
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
scheinungen des Menschen. Wird sie als derart beschaffen erklärt, dann existiert die menschliche Existenz-Gestalt auf eine Weise, von der man in der Regel sagt, daß sie als Persönlichkeit verwirklicht ist. Freilich ist darauf zu achten, daß der Ausdruck Persönlichkeit noch andere Bedeutung besitzt. So bezeichnet dieser Name zum ersten dasselbe wie der der Person. Zwischen Persönlichkeit und Person wird nicht unterschieden. Nämliches gilt vom Gebrauch der Namen Persönlichkeit und Personalität. Auch sie bezeichnen vielfach ein und dasselbe. In einem zweiten Bedeutungszusammenhang meint der Name Persönlichkeit einen besonderen Bestand der Person. Als Persönlichkeiten gelten nur diejenigen Personen, die ihre Anlagen entwickelt und dadurch ihre Lebensziele bald weniger bzw. bald mehr erreicht haben. Persönlichkeiten führen geistig und sittlich also ein vollkommeneres Leben als Personen. Zum dritten bezeichnet der Name Persönlichkeit nur diejenigen menschlichen Existenz-Gestalten, die unter irgend einer Rücksicht sich von anderen menschlichen Existenz-Gestalten unterscheiden. So ist beispielsweise von beeindruckenden oder von zwielichtigen Persönlichkeiten usw. die Rede. Sie sind verschieden von Menschen, die nicht weiter beachtet werden bzw. von Menschen mit einem lauteren Charakter. Von diesen Bedeutungen, die das Wort Persönlichkeit auch besitzt, ist die im folgenden gemeinte Bedeutung des Ausdrucks Persönlichkeit verschieden. Das Verständnis der menschlichen Existenz-Gestalt als Persönlichkeit, das zur Diskussion steht, ist durch ein besonderes Erleben des Menschen bestimmt. Es besteht als Einstellung oder als Haltung gegenüber den Tatsachen seines nichtkörperlichen und deswegen seelischen Existierens. Diese Existenztatsachen bezieht der erlebende Mensch normalerweise auf seine Erlebnismitte, also auf sich als er selbst. Sie erlaubt es, von einer Gesamtheit, wenn nicht sogar von einer Ganzheit der zahlreichen Erlebnisse zu sprechen, um die der Mensch in seinem Bewußtsein etwas weiß. Was es mit jener Erlebnismitte auf sich hat, ist für den als Persönlichkeit existierenden Menschen zumeist jedoch belanglos. Der Grund, der zu den Erlebnissen befähigt und sie zur Einheit der Persönlichkeit bündelt, besteht also als ein nicht weiter erörterter Hintergrund. Für das Erkennen maßgeblich sind die seelischen Gegebenheiten, die sich an der menschlichen Existenz-Gestalt wahrnehmen lassen. Als Inhalt ihres Erlebens aufgefaßt, sind sie die menschliche Existenz-Gestalt als Persönlichkeit. In welchem Maße, auf welche Weise und in welcher Absicht ein Mensch als Persönlichkeit erkannt wird, ist eine Tatsachenfrage. Gibt sich die menschliche Existenz-Gestalt mit einer alltäglich-vorrationalen Erkenntnis ihrer selbst und anderer Menschen zufrieden, so studiert eine andere diese in einer reflektierten Weise und in der Absicht einer gesamtheitlichen Erkenntnis. So beschaffen, ist diese Erkenntnis darum bemüht, sich ein begründetes und umfassendes Persönlichkeitsbild einer menschlichen Existenz-Gestalt zu erarbeiten. Diese Einstellung nähert sich der des wissenschaftlichen Persönlichkeitspsychologen. Als Er-
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forscher aller seelischen Erscheinungen, die eine Persönlichkeit ausmachen, ist er bestrebt, über sie durch Beschreibung, Beobachtung und Experiment zu methodisch kontrollierten und systematisch vollständigen erfahrungswissenschaftlichen Urteilen zu kommen. Die Beschaffenheit dieses Erkennens des Erlebens seelischer Gegebenheiten durch den Erlebenden selbst wie durch den wissenschaftlichen Psychologen wird an sachkundiger Stelle wie folgt zusammengefaßt: „Persönlichkeit läßt sich . . . als der im Menschen der metaphysischen Person entsprechende Befund“ – und, so kann man ergänzen: Nach aktualistischer Meinung auch des Wirksamseins des Menschen – „auffassen, daß sich alle leib-seelischen, bewußten und unbewußten Tätigkeiten, Vorgänge, Zustände und Dispositionen normalerweise zu einer auf das individuelle Ich bezogenen“ – also den tragenden Grund der seelischen Erscheinungen meinenden – „relativ konstanten, dynamischen Ganzheit integrieren. Es ist die der Erfahrung und damit der empirischen Wissenschaft zugängliche ,Seite‘ der Person“ bzw. des menschlichen Wirkens, „von deren metaphysischer Bedeutung die Psychologie absieht. Empirisch-psychologisch kann die Persönlichkeit aufgrund sehr verschiedener Ordnungsschemata erforscht und dargestellt werden, die sich je nachdem ergänzen, aber auch ausschließen können.“ Daher gibt es in dieser „Psychologie auch keine allgemein angenommene Definition der Persönlichkeit“368.
Als verbreitetes alltägliches wie außeralltägliches Schema des Erkennens der Persönlichkeit gilt die Einteilung der Erlebnisse in solche des normalen, d.h. des gesunden seelischen Lebens, das einerseits als Bestand und andererseits als Veränderung erfahrbar ist, und in solche des nicht-normalen, d.h. des erkrankten seelischen Lebens. Im Rahmen dieses Schemas seien im folgenden die immer wieder bemerkten und erörterten seelischen Tatsachen aufgelistet. Erläuterte Stichworte müssen im vorliegenden Zusammenhang genügen. Daß ihre Nennung nicht vollständig ist, liegt an der Natur der Erfahrungserkenntnis der seelischen Gegebenheiten. Zu den Erscheinungen des Seelischen als eines normalen Bestandes zählen zum ersten alle Erlebnisse der Beziehung zwischen dem menschlich-seelischen Verhalten und der menschlichen Leiblichkeit (Leib-Seele-Verhältnis) und des Wissens um sie (Bewußtsein als Vorgang und Zustand, als Gegenstandsbezug und als Träger von Erlebnissen) sowie dieses in seinem Einfluß auf das Unbewußte und in seiner Abhängigkeit von ihm (Bewußtes-Unbewußtes-Verhältnis). Sodann sind jene seelischen Erscheinungen zu nennen, die im weitesten Sinn als Erkennen, als Streben und als Fühlen bestehen. Als Bestände des sinnlichen Erkennens werden benannt die Verbindung von erinnerten Vorstellungen (Assoziation), die Erinnerung und Vergegenwärtigung von Erlebnissen (Gedächtnis), die frei spielenden Verbindungen von Vorstellungsinhalten (Phantasie), das Er368 Walter Brugger/Hermann-Josef Fisseni, Art. Persönlichkeit, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg., 199622, S. 287.
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fassen von Gegenständen (Empfindung und Wahrnehmung) sowie die Fähigkeit, den Erkenntnisgegenstand in den Mittelpunkt des Bewußtseins zu stellen (Aufmerksamkeit). Als Bestände des geistigen Erkennens werden angesehen das unsinnliche Erkennen von Etwas in seinen Sinnbeziehungen durch eine Verhältniseinsicht, als Begriffsbildung und Schlußfolgerung (Denken und Problemlösen), das Sich-Zurechtfinden und schöpferische geistige Erkennen (Intelligenz und Kreativität), die Darstellung und Vergegenwärtigung eines Gegenstandes (Vorstellung), das Erkennen des sittlich Gesollten (Gewissen) und die symbolisch ausgetauschten Mitteilungen jeder Art (Aufnahme und Verarbeitung von Informationen). Als seelische Erscheinungen, die mit dem menschlichen Streben verbunden sind, können die folgenden Bestände genannt werden: Das Streben nach sinnlich erfaßten Zielen (Trieb), das zweckmäßige Streben entsprechend den sinnlichen Bedürfnissen (Instinkt), die Bereitschaft und Durchführung eines Angriffs (Aggression) sowie die verhinderte Trieberfüllung (Frustration). Mit dem geistigen Streben sind verbunden das Vermögen, sich zum nicht-sinnlichen Wirken zu entscheiden (Wille), der Einfluß auf die Entstehung und die Richtung des Willens (Motivation), das Verhalten gemäß einer Regel, die einsichtig richtig und willentlich verbindlich ist (Normverhalten), der Zusammenstoß gegensätzlicher Bestrebungen (Konflikt). Als Erscheinungen des Gefühls gelten zumeist die folgenden seelischen Bestände: Das innere Bewegtsein (Emotion), die Befindlichkeit des Geborgen- und des Gefährdetseins (Lust-/Unlust-Gefühl), das gleichartige dauernde Gefühl (Stimmung), die akute Gefühlsaufwallung (Affekt) und der Zusammenhang von Gefühlen im Ganzen (Gemüt). Die Persönlichkeit erscheint nicht nur in ihren seelischen Beständen, sondern auch in ihren seelischen Veränderungen. Einen ersten Zusammenhang bilden die Entwicklungserscheinungen der Persönlichkeit an ihr selbst. Zu ihnen ist bzw. sind zu rechnen die Erbausstattung eines menschlichen Individuums (genetische Voraussetzung), die körperliche Verfaßtheit eines menschlichen Individuums (Konstitution), die Gegebenheiten der natürlichen Welt (Umwelteinflüsse), die Fähigkeit, Etwas zu bewirken und zu erleiden (Anlage und Begabung), das Hervorrufen einer Empfindung (Reizbarkeit), der biorhythmische Erholungsvorgang ohne Bewußtsein und willkürliche Bewegung (Schlaf), die im Schlaf auftretenden bildlichen Eindrücke (Traum), die Abschnitte im individuellen Lebenslauf (Entwicklungsstufen der Persönlichkeit) und die Aneignung von Fertigkeiten und Kenntnissen (Selbstbildung). Sodann sind die seelischen Entwicklungserscheinungen der Persönlichkeit zu nennen, die sich aus Beziehungen zu anderen Persönlichkeiten ergeben. Zu ihnen zählen die Aneignung von Fertigkeiten und Kenntnissen durch die Erziehung (Lernen), die an das Geschlecht gebundene Gesamtheit der Gründe, Ziele und Verhältnisse zwischen Persönlichkeiten (Sexualität), der Austausch von Mitteilungen zwischen Persönlichkeiten (Kommunikation) und das Offenkundigwerden eines menschlich-individuellen Inneren durch nichtsprachliche Mitteilung, Mimik und Gestik (Ausdruck). Des weiteren
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lassen sich seelische Entwicklungserscheinungen der Persönlichkeit aufweisen, die aus der Herstellung, Bewahrung und Beendigung von Beziehungen erwachsen. Hierzu zählen der Unterhaltserwerb und die Berufsausübung, die Bereitschaft zur Tüchtigkeit sowie die Anpassung an Fertigungs-, Verteilungs- und Dienstleistungsvorgänge (Wirtschaft), wozu auch die Konsumeinstellungen und Werbestrategien zählen (Käufer- und Verkäuferverhalten); diese besonderen Veränderungen im Seelenleben lenken den Blick auf andere besondere Veränderungen zum Beispiel die Veränderungen im religiösen Leben, in der Politik, in künstlerischen Zusammenhängen, aber auch im Militär, im Sport, im Straßenverkehr, usw. (Kompetenzen in besonderen Beziehungszusammenhängen); zu nennen sind des weiteren die Befunde der Entpersönlichung (Identitätsverlust), die Befunde der öffentlichen Gerichtsbarkeit (Forensik) und die Befunde der psychosomatischen Gesundheit und Gesundung (Prävention und Rehabilitation). Zum dritten sind jene seelischen Bestände und Veränderungen der Persönlichkeit zu erwähnen, die in der Regel als anormal gelten. Als begrenzte Erkrankungen der Persönlichkeit werden zumeist benannt die seelische Störung (Psychose), die Niedergeschlagenheit und Verstimmtheit (Depression), die Verarbeitung von Erlebnissen allein durch sich selbst (Introversion), die Verliebtheit in sich selbst (Narzißmus) und die Abhängigkeit von Rauschmitteln (Sucht). Umfassende Erkrankungen der Persönlichkeit liegen vor im Fall der Gefährdung durch den Selbstmord (Suizidproblematik), die Bewußtseinsspaltung bzw. der Verlust des inneren Zusammenhanges der Persönlichkeit (Schizophrenie) und die bloße Selbstexistenz in sich (Autismus). Ferner ist das Geheimnisvoll-Übersinnliche zu erwähnen (okkulte Erscheinungen) sowie die therapeutische Behandlung der erkrankten Persönlichkeit (Selbstbeobachtung, Beratung, Lebenslaufforschung, Befragung, Vorsorge, medikamentöse Indikation, u. ä.). – Wissend, daß der Versuch einer Auflistung der erfahrbaren seelischen Gegebenheiten, durch die die menschliche Existenz-Gestalt als Persönlichkeit bald so und bald anders bestimmt wird, nicht vollständig ist, sei er dennoch hiermit beendet.
§ 10 Die humane Existenz als menschliche Existenz-Gestalt A. Die menschliche Existenz-Gestalt in ihren Existenzkategorien und in den ihnen zugeordneten Grundgestalten Die voraufliegende Untersuchung hat die gegenwärtig maßgeblichen Auffassungen der Form der menschlichen Existenz-Gestalt zu verdeutlichen versucht. Unterschieden wurde zwischen der menschlichen Existenz-Gestalt als Person, als Ich und als Persönlichkeit. Prüft man diese Bestimmungen, dann fällt an ihnen auf, daß sie sich vor allem durch ihren Umfang unterscheiden. Den weitesten Umfang besitzt das Verständnis der menschlichen Existenz-Gestalt, das
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diese als Person begreift. Denn der Name Person benennt den Menschen sowohl als Selbstand wie als Wirken und als Erscheinung. Ihm gegenüber ist die Auffassung der menschlichen Existenz-Gestalt als Ich enger. Sie benennt den Menschen nicht in seinem Selbstand, sondern nur in seinem Wirksamsein, das bedingungsweise auch erfahrbar ist. Vergleichbares gilt von der Persönlichkeit. Unter diesem Namen wird die menschliche Existenz-Gestalt als Zusammenhang einer Vielzahl von Erscheinungen verstanden, unter denen sich auch Ausdrücke des menschlichen Wirkens finden. Um einer umfassenden Darstellung der existentiellen Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt gerecht zu werden, bleiben auch die folgenden Untersuchungen dem realistischen Verständnis der menschlichen Existenz-Gestalt als Person verpflichtet. Realistisch aufgefaßt, ist die Seele das, was die menschliche Existenz-Gestalt zur menschlichen Existenz-Gestalt macht. Als Geistigkeit erfüllt sie die menschliche Existenz-Gestalt und bestimmt durch sie die Körperlichkeit des Menschen. Daß die menschliche Existenz-Gestalt auf verschiedene Weise verwirklichungsfähig ist, erklärt sich aus den Fähigkeiten jener Geistigkeit. Die Tradition nennt diese Fähigkeit die Vermögen der Seele. Sie bestehen sowohl in aktiven Möglichkeiten als auch in passiven Ermöglichungen der Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt. Die realistische Lehre von der Seele kennzeichnet diesen Befund wie folgt: „Trotz der Einheit der Seele als erstes formal-dynamisches Prinzip aller Lebenstätigkeiten fordert die spezifische Vielfalt dieser Betätigungen eine (nicht unmittelbar erfahrene) Vermittlung durch verschiedene Seelenvermögen, das sind aus dem Wesen der Seele erfließende, dynamisch auf diese Tätigkeiten hingeordnete Potenzen und Kräfte.“369 Unangefochten besteht diese Lehre von den Seelenvermögen bis zur Lehre vom Menschen, wie Immanuel Kant (1724–1804) sie entwickelt hat. Nach ihr zeichnet die humane Existenz als Seelenwesen, also als menschliche Existenz-Gestalt, sich dadurch aus, daß ihr das Vermögen der Erkenntnis, das Vermögen des Begehrens und das Vermögen der Lust bzw. der Unlust zukommt.370 Die meisten Auffassungen der menschlichen Existenz-Gestalt, die nach Kant entwickelt worden sind, meinen, auf diese Lehre von den Seelenvermögen verzichten zu sollen. Denn jede Seele, so sagen sie zum einen, vermag die menschliche Existenz-Gestalt auf je eigene Weise zu verwirklichen, und zum anderen, daß die Seele in dieser Persönlichkeit so und in jener Persönlichkeit anders vorhanden ist, und so fort. Die Überzeugung vom Bestand der Seelenvermögen erscheint also als überholt, wobei jedoch zugestanden wird, daß bald diese und bald jene Psychologie sich an sie wiedererinnert. Charakteristisch für diese viele Deutungen zulassende Erkenntnishaltung ist beispielsweise das folgende Urteil: Bei der 369 Alexander Willwoll, Art. Seele, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 199622, S. 343. 370 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1799), (Edition Meiner), Hamburg 1974, S. 36 mit der „Tafel der Seelenvermögen“.
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Vermögenspsychologie handelt es sich um eine „ältere, (unhaltbare) psychologische Auffassung und Betrachtungsweise, der zufolge für das Auftreten der psychischen Vorgänge und Zustände neben der substantiell-immateriellen Seele bestimmte Seelenvermögen (Vernunft, Verstand, Wille usw.) verantwortlich sind. Die Vermögenspsychologie wurde schon im vorigen Jahrhundert (z. B. von Herbart) als ,Mythologie‘ gebrandmarkt.“ Obwohl die Lehre von den Seelenvermögen demnach einem frommen Wunsch entspringt, „ist sie jedoch bis heute nicht ausgestorben (und z. B. bei den Metaphysikern aller Richtungen nach wie vor beliebt)“, wobei die Vermögenspsychologen „sich gern als ,Ganzheitspsychologen‘ tarnen“371. Was der psychologische Aktualismus und der psychologische Empirismus aus der Lehre von der Seele zu vertreiben versuchen, ist also noch immer nicht vergessen. Ist dem Aktualismus und dem Empirismus der erstrebte Erfolg bis jetzt somit versagt geblieben, so ist es doch richtig, daß infolge ihrer Kritik die Seelenvermögen nicht mehr mit dem Namen Seelenvermögen bezeichnet werden, sondern jetzt verschämt zumeist seelische Formkräfte der menschlichen Existenz-Gestalt heißen. Dieser Wandel des Sprachgebrauchs in der Lehre von den Seelenvermögen erklärt sich aber auch aus Erkenntnisbemühungen ganz anderer Art. Sie stellten sich ein als geistige Gegenbewegungen gegen den neuzeitlichen Idealismus und dessen Umkehr, also gegen den Materialismus und gegen die ihm nahestehenden Auffassungen wie den Positivismus und den Naturalismus. Denn diese Denkweisen, die geradezu Weltbilder ausmalen, sehen über das konkrete Existieren der humanen Existenz hinweg. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831) zum Beispiel urteilt über dieses Existieren wie folgt: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist, – dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit“372. Hegel lehrt also, kurz gesagt: „Die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen“.373 Noch gedrängter behauptet Karl Marx (1818–1883), daß „für den sozialistischen Menschen“ die konkrete humane Existenz „praktisch unmöglich geworden“374 ist. Gegen dieses Denken der humanen Existenz im allgemeinen – sie wird, wie schon erklärt, üblicherweise als der Mensch im allgemeinen bezeichnet – wen371 Franz Austeda, Art. Vermögenspsychologie, in: ders., Lexikon der Philosophie, Wien 19896, S. 380. 372 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), (Edition Herdflamme), Jena 1927, S. 743 f. 373 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), a. a. O., S. 792. 374 Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie (verfaßt 1844; Berlin 1932), Stuttgart 1953, S. 247 f.
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den sich die Erkenntnishaltungen der Lebensphilosophie, der Phänomenologie und der Existenzphilosophie und die ihnen verwandten Erkenntnisweisen. Deren Beginn bildet die Existenztheologie von Sören Kierkegaard (1813–1855). Sie setzt der Betrachtung der humanen Existenz im Allgemeinen deren Betrachtung im Einzelnen entgegen. Ihr kommt es darauf an, diese Existenz nicht (nur) formal, sondern (auch) konkret zu verstehen. Sie wendet sich davon ab, die humane Existenz seinsspekulativ zu erfassen, vielmehr liegt ihr daran, sie in ihren Lebensentscheidungen zu verstehen. Mutig beansprucht Kierkegaard, daß der Begriff der Existenz nicht das Dasein im Unterschied zum Sosein von Etwas besagt, sondern daß in ihm das anschaulich vor Augen stehende Leben dieser und jener humanen Existenz, wenn nicht eben sogar dieser und jener menschlichen Existenz-Gestalt gedacht wird. Also ist es wesentlich, zum ersten das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst zu erkennen, zum zweiten sein Verhältnis zur Welt zu erfassen, in der er lebt, und endlich drittens sein Verhältnis zur religiös verstandenen Transzendenz zu erhellen, die ihn und seine Welt umgreift. Diese Denkweise dürfte im Werk von Martin Heidegger (1889–1976) ihren Höhepunkt erfahren haben. Ob sie sich mit ihm erschöpft, ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht zu erörtern ist. Mit einer Kraft jedoch, die ihresgleichen sucht, fragt die Philosophie Heideggers nach jenem Sein, das als Dasein, d.h. als humane Existenz bzw. als menschliche Existenz-Gestalt besteht. Sie ist das Existierende im Unterschied zum Vorhandenen. Im Sinn dieser Unterscheidung erklärt Heidegger: „Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen, sind gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Existenzialien. Sie sind scharf zu trennen von den Seinsbestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen.“375 Diese Unterscheidung voraussetzend, ist Heidegger bemüht, die ihm maßgeblich erscheinenden Formen des Daseins, also die Formen der humanen Existenz, wenn nicht eben der menschlichen Existenz-Gestalt, aufzuweisen. Erstbestimmend erscheint ihm das Existenzial des In-der-Welt-Seins des „Menschen“. Denn sein Existieren geht in der Welt auf. Dieses In-der-Welt-Sein wird begleitet von der Befindlichkeit der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt. Befindlichkeit besagt, daß der „Mensch“ sich in einer Gestimmtheit vorfindet. Sie ist etwas „Gegebenes“, das darüber verfügt, wie ein „Mensch“ denkt, will und fühlt. Des weiteren erachtet Heidegger bestimmte Existenzialien für besonders erörternswert. Zu ihnen zählen die Sorge, die Angst, die Geworfenheit, das Selbstsein, das Mitsein und das Man. Einen vollständigen Katalog der Existenzialien, der überdies wohlgeordnet ist, legt Heidegger nicht vor. Geht man der Frage nach, warum das der Fall ist, stößt man alsbald auf die besondere Erkenntnisabsicht, 375
Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 19537, S. 44.
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die er mit seiner Lehre von den Existenzialien verfolgt. Was man auf den ersten Blick meinen möchte, nämlich, daß er den humanen zuständlichen Selbstand in seinen existentiellen Wesensformen zu erkennen trachtet, wäre also ein Irrtum. Heidegger hat bekanntlich ein anderes Erkenntnisziel. Seine „Analytik des Daseins“ strebt danach, aus den Erfahrungen, die die humane Existenz bzw. die menschliche Existenz-Gestalt (heute) durchlebt, zur Bestimmung des Sinnes des Seins vorzudringen. Heidegger fragt nicht nach der Beschaffenheit des „menschlichen“ Existierens, sofern es dieses ist. Er fragt nach dem „Menschen“, sofern sich von ihm her das Sein erschließt. Seine Analyse der existentiellen Wesensformen der humanen Existenz bzw. der menschlichen ExistenzGestalt entwickelt er als Bedingung seiner Lehre vom Sein überhaupt. Mag Heideggers Bestimmung des „Menschen“ in fundamentalontologischer Absicht sich von der Erkenntnisausrichtung auf die Wesensformen der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt somit auch unterscheiden, so hat seine „Analytik des Daseins“ doch bewirkt, daß das Fragen nach der Beschaffenheit der konkret existierenden humanen Existenz bzw. nach ihr in ihrer menschlichen Existenz-Gestalt wiederum als lohnenswert erachtet wird, wenn es nicht sogar als unerläßlich gilt. Was die realistische Erkenntnis des „Menschen“ unter dem Titel der Seelenvermögen erörtert hat und nach wie vor erörtert, und was die nicht-realistische Psychologie widerwillig als „menschliche“ Seelenkräfte bezeichnet, könnte man, wenn man es will und sofern es richtig verstanden wird, somit auch unter der von Heidegger verwendeten Bezeichnung „Existenzialien“ zusammenfassen. Man könnte sie auch als Existenzkategorien bezeichnen, in die die humane Existenz als humaner zuständlicher Selbstand urmodal geschieden ist vom Zusammensein von humanen zuständlichen Selbständen. Sofern man die Existenzialien des humanen zuständlichen Selbstandes als psychische Existenzkategorien bzw. als psychische Existenzialien versteht, unterscheiden sie sich von den Wesensformen der humanen Existenz, die als humanes Zusammensein von humanen zuständlichen Selbständen besteht, weshalb dieses in seinen sozialen Existenzialien bzw. in seinen sozialen Existenzkategorien seine Entfaltung besitzt. Die Unterscheidung zwischen den psychischen und den sozialen Existenzialien sollte es also ohne Mühe ermöglichen, den „Menschen“ als Menschen zu verstehen, d.h. die humane Existenz in ihrer Realität bzw. in ihrer Wirklichkeit als menschliche Existenz-Gestalt zu begreifen. In der Betrachtung des „Menschen“ darf gelten, daß die Ausdrücke Seelenvermögen, seelische Fähigkeiten, psychische Existenzkategorien und psychische Existenzialien ein und dasselbe besagen. Es sind Benennungen derjenigen existentiellen Wesensformen, die sich vom Vermögen des Sozialen, der sozialen Fähigkeiten, der sozialen Existenzkategorien und der sozialen Existenzialien unterscheiden, die die humane Existenz besitzt, sofern sie als gesellschaftliche Existenz-Gestalt verwirklicht ist. In der vorliegenden Untersuchung dürfte es zweckmäßig sein, am Eingang ihrer Erör-
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terung eine Übersicht über die Wesensformen der menschlichen Existenz-Gestalt anzubieten. Zur gegebenen Zeit wird eine solche Darstellung der Wesensformen jener humanen Existenz vorzulegen und zu erklären sein, die als gesellschaftliche Existenz-Gestalt verwirklicht ist und sich deswegen durch ihre sozialen Existenzialien auszeichnet. Der Titel der nachstehenden Tafel bemüht sich um eine Kennzeichnung ihres Inhalts. Tafel der psychischen Wesensformen (= Vermögen der Seele), d.h. der psychischen Existenzkategorien bzw. psychischen Existenzialien, in welche die Wesenheit (= Durchsichsein/herkömmlich: Die Seele) der menschlichen Existenz-Gestalt sich gliedert und dadurch die menschliche Existenz-Gestalt ursprünglich ordnet mit den ihnen entsprechenden Erscheinungen (gekennzeichnet durch das Zeichen >) sowie die den psychischen Wesensformen zugeordneten Grundgestalten der menschlichen Existenz-Gestalt Die Existenzkategorien besagen und sind die Verwirklichung der menschlichen Existenz-Gestalt als I.
Gegenstand in seiner Bestimmtheit:
Gefallen > Echtheit
Gut > Wert
Ding > Etwas
II. Geschehen in seiner Verursachung:
Fühlen > Bewegtheit
Streben > Drang
Erkennen > Innesein
III. Modus des Gegenstandes und des Geschehens:
Gemüt > Stimmung
Bewertung > Einstellung
Behauptung > Aussage
IV. Gliederung ihres Aufbaus:
Singularität > Einmaligkeit
Personalität Komplexität > Selbständigkeit > Vieleinheit
Existenzkategorial zugeordnete Grundgestalten sind:
Der Mensch in seiner Befindlichkeit
Der Mensch in seiner Würde
Der Mensch in seinem Denken
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn nicht sogar geboten, alle Bestandteile der Tafel der psychischen Existenzkategorien zu erläutern, um sie dadurch in ihrer existentiellen Eigenart und damit in ihrem Sinn zu erklären. Die Fragen, die zu stellen wären, reichen von der Problematik des Auffindens dieser Existenzkategorien und betreffen in einem zweiten Schritt die Entsprechung, die zwischen ihrer logischen und ihrer ontologischen Natur besteht; sodann käme es darauf an, ihre unterschiedlichen Inhalte bzw. ihre unterschiedlichen
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Gegenstände und damit ihre Verhältnisse zueinander zu klären; am Ende wäre ihr Zusammenwirken zu bestimmen, das die inneren Aufbaugründe der Grundgestalten der menschlichen Existenz-Gestalt bestimmt, auf die die konkret verwirklichten menschlichen Existenz-Gestalten zurückbezogen sind. Gegenüber dieser Erwartung ist jedoch in Erinnerung zu rufen, daß die vorliegende Untersuchung sich nicht mit der humanen Existenz als menschlicher Existenz-Gestalt befaßt. Ihr Gegenstand ist die humane Existenz, die als gesellschaftliche Existenz-Gestalt möglich bzw. verwirklicht ist. Deswegen beschäftigt sie sich mit dem Menschen nur in soweit, als er für die Erkenntnis bzw. die Wirklichkeit der Gesellschaft von Belang ist. Das ist in dem Maße der Fall, in dem menschliche Existenz-Gestalten die Materie, also den Inhalt einer Gesellschaft bilden. In den voraufliegenden seinskategorialen Untersuchungen wurden diese Verhältnisse zwischen der Gesellschaft, insofern sie als Form besteht, und ihren menschlichen Existenz-Gestalten, insofern sie deren Inhalt sind, des genaueren dargelegt und begründet. Wie erinnerlich hieß es, daß – auf dem Seinsgrad des „menschlichen“ Seins – das seinskategoriale Zusammensein von zuständlichen Selbständen die Wesensart der Gesellschaft ist, die sich in die bestimmenden sozialen Wesensformen und in die zuständlichen Selbstände gliedert, die als Inhalt der Gesellschaft von ihnen bestimmt werden. Aufgrund ihrer Zielsetzung durchwandert die nachfolgende Untersuchung mit schnellen Schritten die realistische Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt. Sie begnügt sich mit einem Aufweis der psychischen Existenzkategorien bzw. der psychischen Existenzialien, soweit sie erarbeitet greifbar sind. Die nachfolgende Darstellung ist also nicht mehr als eine Kompilation, d.h. ein Versuch des Zusammentragens und Ordnens der vorliegenden realistischen Wesensformen, die die menschliche Existenz-Gestalt bestimmen. Dieses Bemühen wird von der Hoffnung getragen, daß die aufgezeigten psychischen Existenzkategorien und ihre Verhältnisse zueinander zum ersten ursprünglich nicht unbekannt sind und zum zweiten aus sich heraus sprechen und sich dadurch hinreichend verdeutlichen. Sollte es an diesen Voraussetzungen fehlen, sind die Darstellungen zu Rate zu ziehen, die sich in den Lehr- und Handbüchern der realistischen Erkenntnis der psychischen Wesensformen des humanen zuständlichen Selbstandes finden. Im angedeuteten Sinn einer knappen Erläuterung sei die aufgezeigte Tafel wie folgt verdeutlicht: (1) Der Titel der Tafel benennt inbegrifflich den Überblick über die Elemente des humanen zuständlichen Selbstandes, also über die Wesensformen desjenigen Bestandes, der auf der ersten seinskategorialen Ordnungsstufe unter dem Begriff des Beisichseins zusammengefaßt wurde. – (2) Als existentielle höchste Gattungen des Beisichseins zeichnen die psychischen Existenzkategorien sich dadurch aus, daß sie die folgenden Merkmale besitzen: Jede von ihnen und sie im Ganzen sind eine Hervorbringung zuletzt des seinskategorialen Urmodus des zuständlichen Selbstandes auf dem Vollkommen-
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heitsgrad des „Menschseins“. Jede psychische Existenzkategorie betrifft die menschliche Existenz-Gestalt im Ganzen. Sodann liegt jede psychische Existenzkategorie der Möglichkeit bzw. der Wirklichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt vorauf. Des weiteren begründet jede psychische Existenzkategorie in ihrem Sinn den inneren Aufbau der menschlichen Existenz-Gestalt. Folglich hat jede psychische Existenzkategorie Gegenständliches wie Ungegenständliches zu ihrem Inhalt, da der humane zuständliche Selbstand ebenso gegenständlich wie ungegenständlich existiert. Endlich ist zu erwähnen, daß die psychischen Existenzkategorien intelligibler Natur sind, d.h., daß sie nur abstraktiv bzw. intuitiv erkannt werden können. Als Wesensgrund tragen sie die wirkliche menschliche Existenz-Gestalt und deswegen insbesondere auch deren notwendige Eigenschaften. Durch sie als Erscheinungen ist die menschliche ExistenzGestalt der äußeren Erfahrung zugänglich, d.h., daß sie wahrgenommen werden kann. – (3) Die aufgezeigte Tafel der psychischen Existenzkategorien gliedert sich in drei Zeilen und vier Spalten. Die Spalten benennen die psychischen Existenzkategorien, über die sogleich zu sprechen ist. Die Zeilen sind durch Titel ausgewiesen, die die Unterschiede benennen, nach denen die menschliche Existenz-Gestalt sich ordnet. Zum ersten ist sie auf Gegenstände ausgerichtet. Die Ausrichtung ist zum zweiten geschehenshafter Art. Jene Gegenstandsausrichtung und diese Geschehensbestimmtheit ist drittens bald auf diese und bald auf jene Weise verwirklicht. Viertens gliedert die menschliche Existenz-Gestalt ihren Aufbau in möglichen Schwerpunkten aus. – (4) Die psychischen Existenzkategorien bzw. die psychischen Existenzialien weisen also 12 Wesensformen auf, die in ihren drei Zeilen und ihren vier Spalten die Möglichkeiten bzw. die Wirklichkeiten der menschlichen Existenz-Gestalt bestimmen. Als psychische Existenzkategorien befinden sie in bald diesem und bald jenem Zusammenhang über das Sosein der menschlichen Existenz-Gestalt. – (5) Das Verhältnis der psychischen Existenzkategorien ist mehrfach antinomischer Natur. Das will besagen, daß logisch Unterschiedenes real dasselbe ist. Diese Antinomie erklärt sich aus der Weise der Erkenntnis der menschlichen Existenz-Gestalt im Unterschied zur Weise ihres Seins. Unvereinbarkeiten dieser Art bestehen zwischen den gegenständlichen psychischen Existenzkategorien untereinander sowie zwischen den psychischen Geschehenskategorien. Sie finden sich sodann zwischen jenen und diesen sowie zwischen den modalen psychischen Existenzkategorien, die sich ihrerseits antinomisch zu einander verhalten. Die scheinbar überraschenden Verhältnisse lassen sich leicht verdeutlichen. Was zum Beispiel als Gefallen verwirklicht ist, kann zwar nicht dem Begriff nach, wohl aber seinem Sein nach auch als Wert verwirklicht sein. Vergleichbares gilt hinsichtlich der Dinge. Sodann kann etwas dem Begriff nach als Gemüt wirklich sein oder nur als Bewertung aufgefaßt werden, obwohl beides zugleich wirklich der Fall ist. Hinzu kommt die Möglichkeit der Behauptung. – (6) Die existentiellen Wesensformen des Aufbaus der menschlichen Existenz-Gestalt sind von den genannten
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Antinomien sowohl in sich als auch hinsichtlich des genannten psychischen Kategoriengefüges ausgenommen. Durchgängig ist die menschliche Existenz-Gestalt singulär, personal und komplex beschaffen. Das Verhältnis im Existieren der menschlichen Existenz-Gestalt ist eine jeweils festzustellende und zu ergründende Tatsache. (7) Schließlich ist ein Wort über die psychischen Existenzkategorien zu sagen, sofern sie sich als Existenzkategorien und als deren Erscheinungen in ihrem Inhalt von einander unterscheiden. Die Verständlichkeit der Untersuchung legt es nahe, diesen Inhalt in seinem jeweiligen Bestand und in seinen verschiedenen Begründungen wenigstens anzudeuten. Zum anderen sei jedoch abermals um Verständnis gebeten, wenn die folgende Erörterung die Lehre von der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt nur insoweit darlegt, als sie für das Verständnis der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz unerläßlich ist. Also darf noch einmal auf die philosophischen und die fachwissenschaftlichen Lehren vom „Menschen“ hingewiesen sein, in denen die Beschaffenheit der Seelenvermögen bzw. die psychischen Existenzkategorien in ihren Einzelheiten dargelegt werden. Worauf im anstehenden Zusammenhang nicht verzichtet werden kann, ist der nachdrückliche Hinweis darauf, daß es unstatthaft wäre, eine der ernst zu nehmenden Lehren von der menschlichen Existenz-Gestalt zu unterschlagen und die Bemühungen um ihre Begründung zu mißachten. Wie diesen Forderungen hinsichtlich der psychischen Existenzkategorien zu entsprechen ist, sei an den Existenzkategorien angedeutet, die als gegenständliche Bestimmtheiten des Menschen benannt wurden. Den Grund der aufgezeigten Bestimmungen bilden die sogenannten Transzendentalien, von denen der Realismus spricht. Als Transzendentalien werden jene Bestände bezeichnet, „die unmittelbar und notwendig aus dem Wesen des Seins folgen und es deshalb untrennbar in alle seine Abwandlungen hinein begleiten“. Als „oberhalb“ der Urmodi des Seienden waltend, sind sie die Selbstauslegung dessen, was ist. Die realistische Erkenntnis- und Seinslehre unterscheidet zwischen vier Transzendentalien. Sie heißen Wahrheit, Einheit, Gutheit und Gefallen (= Schönheit). Auf sie zurückbezogen ist die Auffassung der menschlichen Existenz-Gestalt in ihrer gegenständlichen Bestimmtheit. Des näheren lassen sich die Rückbezüge wie folgt benennen: Das Transzendentale der Wahrheit ist der Grund, aus dem vom „Menschen“ in einem statischen und in einem dynamischen Sinn die Rede ist, wie das aufgewiesen wurde. Dynamisch verstanden findet die humane Existenz sich als menschliche bzw. als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. In diesen Beständen bekundet sich das transzendentale Wahrsein der humanen Existenz im ontologischen, logischen, sittlichen und gestaltbildenden Sinn. Die menschliche Existenz-Gestalt existiert zum ersten durch bzw. in ihrem Gefallen, zum zweiten in ihrem Gutsein und zum dritten als Ding, sofern man den letzteren Ausdruck nur recht versteht. Ihm gilt die erste Aufmerksamkeit.
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Der Name Ding benennt in der gegenwärtigen Alltagssprache zumeist etwas Materielles. Es heißt, daß Dinge insbesondere verschieden sind vom tätigen und erkennenden Menschen. Sie sind Sachen, also Etwas, das zur Verfügung steht. Dieses herrschende Verständnis des Verhältnisses zwischen Ding und Mensch ist jedoch nicht selbstverständlich. Blickt man zurück, stellt man fest, daß der Name des Dinges umfassender Natur ist. Im Lateinischen ist dieses weite Verhältnis ohne Mühe greifbar. Der Ausdruck res, d.i. Ding, hängt mit dem Ausdruck reor, d.i. ich denke, zusammen. Das Ding und das Denken sind also aufeinander bezogen. In der Erinnerung dieses Ursprungsverhältnisses sollte man heute den Namen Ding auf dreifache Weise verstehen. Der Ausdruck Ding kann erstens jedes raum-zeitliche Einzelwesen bezeichnen. Ein Ding ist ein concretum. Zweitens benennt der Name Ding ein Objekt, also einen Sachverhalt, der einem erkennenden Subjekt gegenübersteht. Wenn es auch ungewöhnlich ist, so kann man selbst die humane Existenz ein Ding nennen, ein aliquis, d.i. ein jemand. Drittens bezeichnet der Name Ding ein ens, d.i. ein Seiendes, das da ist im Unterschied zu einem Bestand, der nicht da ist. In der Sprache der Erfahrung werden die genannten Bedeutungen zumeist als Etwas bezeichnet. Vergleichbares läßt sich von der menschlichen Existenzkategorie des Guten sagen. Gut ist, was zu vervollkommnen vermag. Deswegen ist es erstrebenswert. Die realistische Tradition kennt das Gute in der Mehrzahl, die in einer gestuften Ordnung entfaltet ist. Zu oberst findet sich das Gute als bonum per se, d.i. das, was durch sich gut und deswegen ein sogenanntes Vollendungsgut ist. Zum zweiten ist die Rede vom bonum utile, d.i. das, was nützlich ist, also ein Gut, das um eines Anderen Willen besteht. Zum dritten findet sich das bonum delectabile, d.i.ein Gut, das Befriedigung verschafft. Es stellt sich in der Regel ein, wenn jene beiden zuerst genannten Güter erstrebt worden sind. Die heutige Philosophie und Psychologie haben sich von diesen Auffassungen des Guten abgewandt. Sie sprechen nur vom erscheinenden Guten. Es wird zumeist Wert genannt. In der Regel sind die Werte Ziele des humanen Tätigseins, wie sie kommen und gehen. Der Ausdruck des Gefallens ist heute kaum mehr gebräuchlich. In der Sache ist jedoch jedermann mit dem vertraut, was gefällt. Man spricht vom Geschmack. Geschmackvoll ist, was sehenswert, wenn nicht sogar herrlich anzuschauen ist. Die Alten nannten diesen Bestand quae visa placent, d.i. das, was als Angeschautes Freude bereitet. In der Erfahrung nennt man das, was gefällt, etwas Echtes im Unterschied zu einem Nachgemachten.376 376 Vgl. zum Rückbezug der gegenständlichen psychischen Existenzialien Josef de Vries, Art. Transzendentalien, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 411 f.; vgl. sodann zu den gegenständlichen psychischen Wesensformen im einzelnen a. a. O.: Johannes B. Lotz, Art. Ding, S. 69; Josef de Vries, Art. Gute, das, S. 162: Johannes B. Lotz, Art. Schönheit, S. 337; vgl. zu den weiteren psychischen Existenzkategorien, die Bestimmungen, wie sie sich in
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Wie schon bemerkt, verzichtet die vorliegende Untersuchung auf die Bestimmung der meisten psychischen Existenzialien, also auf die Kennzeichnung der psychischen Geschehenskategorien: D. s. das Fühlen, das Streben und das Erkennen; auf die Erläuterung der modalen psychischen Existenzkategorien: D. s. das Gemüt, die Bewertung (= Motivation) und die Behauptung (= Setzung). Anders verhält es sich mit den existenzkategorialen Begriffen der Gliederung des Aufbaus der menschlichen Existenz-Gestalt: D. s. die Existenzialien der Singularität, der Personalität und der Komplexität. Sie ansatzweise zu verdeutlichen dürfte zweckmäßig sein. (8) Auf die Existenzialien der Aufbaugliederung der menschlichen ExistenzGestalt einzugehen, besitzt seinen Grund im Kategorialbegriff der Singularität und damit in deren Verhältnis zu den beiden des weiteren genannten Existenzialien. Die existenzkategoriale Bedeutung, die die vorliegende Untersuchung dem Begriff und der Sache der Singularität zuerkennt, mag überraschen. Denn gemeinhin ist der begrifflich gemeinte Ausdruck weder in seinem Inhalt, also hinsichtlich der Gesamtheit der Merkmale von Etwas, die in ihm gedacht werden, noch hinsichtlich seines Umfangs, also hinsichtlich der Gegenstände, auf die er sich bezieht, besonders ausgezeichnet. Im Alltag wie in den Wissenschaften besitzt die Bezeichnung der Singularität keine entfaltete Aussagekraft. Wodurch ist Etwas bzw. der „Mensch“ ein singulum ? wird zum ersten gefragt. Und zum zweiten: Existiert alles bzw. existieren alle „Menschen“ als ein singulum oder existieren von ihnen derart nur mehrere oder sogar nur einige wenige? Andererseits sind Fragen, wie diese, nicht nur neugierige Fragen. Also möchte man sie beantworten oder jedenfalls versuchen, sie zu beantworten. Wie man weiß, behilft sich unser Umgang in dieser Sache dadurch, daß er den Ausdruck Singularität vermeidet und an seiner Stelle das Fremdwort des Individuums bzw. den deutschen Ausdruck des Einzelnen verwendet. Mit seiner Hilfe meint man, insbesondere die anstehenden humanwissenschaftlichen Probleme hinreichend denken, formulieren und lösen zu können. Nahezu durchgängig findet sich der Sprachgebrauch in einem weiteren und in einem engeren Sinn. In einer ersten Bedeutung ist die Rede vom Einzelnen, das bzw. der im Unterschied zum Ganzen existiert. Dieses Ganze ist bald von natürlicher, bald von „menschlicher“ und bald von geistiger Beschaffenheit. In der engeren Bedeutungsweise findet sich die Ausdrucksweise in „menschen“-wissenschaftlichen Zusammenhängen, in welchen der Name des Einzelnen das meint, was verschieden ist von der Gesellschaft, in welchem besonderen Sinn dieses Wort auch immer gebraucht wird. Die Verwendung des Ausdrucks des Einzelnen in jenem wie in diesem den maßgeblichen philosophischen und psychologischen Lehr- und Handbüchern finden. – Schließlich sei auf das reiche anthropologische Schrifttum verwiesen: vgl. z. B. Walter Brugger, Grundzüge einer philosophischen Anthropologie, München 1986, S. 387–489 und Christian Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, S. 140–161.
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Sinn erscheint nachgerade als selbstverständlich und gilt deswegen gegenüber jedem Zweifel als erhaben. Zumal in den mit-„menschlichen“ Verhältnissen glaubt man zu wissen, was diese zumeist ineinander fließenden Bedeutungen meinen. Das Credo lautet: Hier und jetzt bin ich (bzw. bist du bzw. ist er oder sie) im Unterschied zum hier und jetzt des Ganzen, das – was liegt näher ? – als ein Ganzes des wir (bzw. des ihr bzw. des sie) besteht. Wem die Bemühungen der vorliegenden Untersuchung gegenwärtig sind, der wird sich daran erinnern, daß die bisherigen Darlegungen bei allen Gelegenheiten, die sich boten, die genannte Rede- und Denkweise nicht nur kritisiert, sondern ausdrücklich verworfen haben. Zum Gebrauch des Ausdrucks des Einzelnen, das irgendwie ein Stück eines Ganzen ist, sei hier nur soviel wiederholt, daß das Einzelne in keinem Verhältnis zum Ganzen besteht. Abermals sei festgestellt, daß das Individuelle keinen Bezug zum Totalen besitzt. Kein Einzelnes verhält sich zum Ganzen und umgekehrt. Das sogenannte Einzelne ist aufs Totale bezogen ein Partielles. Diese Behauptung gilt von der menschlichen wie von der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Sind die hergestellten Bezüge zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen des Lebens schon verwirrend genug, so führt die Rede vom Einzelnen oder genauer, vom einzelnen „Menschen“ einerseits und von der „Gesellschaft“ andererseits in den terminologischen Abgrund. Natürlich kann man mit Worten trefflich streiten. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um eine mangelhafte Benennung einer zutreffend erkannten Sache, sondern um ihre Verkennung, die sprachlich als unerschütterlich erscheint. Die Überprüfung der sprachlichen Verhärtung bringt es an den Tag, daß weder der Mensch als dieser noch die Gesellschaft als diese und damit in der Folge auch nicht das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gesellschaft erkannt worden sind. Zu ihrem begründeten Verständnis kann unter anderem die Unterscheidung zwischen der Individualität und der Singularität der humanen Existenz hilfreich sein. Der Unterschied der Bedeutung dieser Begriffe ist jedoch noch kaum erkannt. An sachkundiger Stelle findet sich das folgende ernüchternde Urteil: „Bis in den gegenwärtigen philosophischen Sprachgebrauch wird ,singulär‘ bzw. ,Singularität‘ nicht nur als umfangs-, sondern auch als bedeutungsgleich mit ,individuell‘ bzw. ,Individualität‘ verstanden. Entsprechend wird die Frage nach der Singularität des Singulären normalerweise mit Theorien der Individuation beantwortet. Die Geschichte des Singularitätsbegriffs – als eines vom Individualitätsbegriffs verschiedenen Begriffs – ist deshalb bislang nicht erforscht (immerhin wird die Gleichsetzung vereinzelt als Problem gesehen).“377 Um zur erwähnten Problemlösung beizutragen, sei nachstehend wiederholt, was die realistische Erkenntnistradition über die Beschaffenheit des Einzelnen 377 Christian Strub, Art. Singulär, Singularität, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 798.
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und über die ihm entsprechende Entgegensetzung lehrt: Das ist nicht das Ganze und im „menschlichen“ Sinn nicht die Gesellschaft, sondern das Allgemeine. Mit dem folgenden Zitat sei gegenüber der realistischen Erkenntnis die Bitte verbunden, sich an die selbst erarbeiteten Bestimmungen zu halten, so daß der Erkenntnisweg beschritten werden kann, den die Unterscheidung zwischen der Individualität und der Singularität mit ihren Entgegensetzungen der Forschung weist. Was die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Sprache betrifft, so wird man wohl noch lange darauf warten müssen, bis sie klar und deutlich meint und ausdrückt, was sie zu erkennen trachtet. Über das Individuelle, das die realistische Tradition vernünftigerweise vom Universellen unterscheidet, heißt es: „Das Einzelne oder Einzelwesen meint den konkreten Träger einer Wesenheit in seiner nicht-mitteilbaren Besonderheit, etwa diese Tanne oder diesen Menschen Peter. Im Gegensatz dazu steht das Allgemeine oder die Wesenheit, die von jedem bestimmten Träger absieht (abstrahiert) und als solche verschiedenen Trägern mitteilbar ist. Nur das Einzelne existiert real, während das Allgemeine als solches einzig im begrifflichen Denken seine Ausprägung findet.“ – „Sein Inhalt ist normalerweise zugleich Seinsinhalt wirklicher Dinge, wenn er auch ,auf andere Weise‘ verwirklicht ist als im Denken, nämlich nicht abstrakt, losgelöst von den anderen Merkmalen des Dinges, sondern in konkreter Ganzheit mit anderen Merkmalen . . . zu realer Einheit ,zusammengewachsen‘.“ – „Die lateinische Sprache bezeichnet das Einzelne als Individuum, was wörtlich bedeutet: das Ungeteilte; denn es stellt eine wesenhaft ungeteilte, ja unteilbare Einheit dar, weil dieses Eine niemals als solches vervielfältigt und so mehrmals da sein kann; diese bestimmte Tanne oder diesen bestimmten Menschen gibt es notwendig nur ein einziges Mal.“378
Nach dieser Bestimmung des Begriffs des Einzelnen besteht aller Anlaß, in den Zusammenhängen der Erkenntnis der humanen Existenz zu unterscheiden zwischen der menschlichen Existenz-Gestalt als dem einzelnen Menschen, also zwischen diesem menschlichen Einzelwesen namens Peter und der menschlichen Existenz-Gestalt als dem Menschen, also der menschlichen ExistenzGestalt im Allgemeinen. Dieselben Verhältnisse finden sich im Fall der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Jede gesellschaftliche Existenz-Gestalt ist zum ersten, nämlich real, diese gesellschaftliche ExistenzGestalt, d.h. sie existiert als diese einzelne. Zum Beispiel existiert die gesellschaftliche Existenz-Gestalt als europäische bürgerliche Gesellschaft, von der es heute heißt, daß sie an ihr Ende gekommen ist. Keine Gesellschaft existiert real im Allgemeinen. Die leicht dahinfließende Rede von der Gesellschaft als einem realen umfassenden humanen Existenzbefund ist eine Chimäre, sie ist eine Einbildung. Die Rede von der Gesellschaft, die mit diesem Ausdruck die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz schlechthin meint, besagt 378 Johannes B. Lotz, Art. Einzelne, das, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 79 sowie Josef de Vries, Art. Allgemeinbegriff, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 9.
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nichts Konkretes. Allgemein begriffen und benannt, ist die Gesellschaft ein Abstraktum, das sich der Erkenntnis zunächst in der Erfahrung und sodann in der Wesenseinsicht einer real existierenden Gesellschaft erschließt. Unter dieser Rücksicht ist die Rede vom Einzelnen und der Gesellschaft unüberlegt. Sie ist eine Torheit. Denn jede menschliche Existenz-Gestalt ist konkret immer dieser einzelne Mensch, und er existiert nur der Form nach im Allgemeinen. Ebenso ist auch jede Gesellschaft konkret stets nur da als diese einzelne Gesellschaft im Unterschied zu ihr in ihrer Form, nach der die gesellschaftliche Existenz-Gestalt im Allgemeinen beschaffen ist. Vom Begriff und von der Sache des Einzelnen verschieden ist der existenziale Bestand der Singularität. Dabei ist dessen Verständnis im Sinne der Statistik von abgeleiteter Bedeutung. Denn in ihr wird das singulum zumeist als der abstrakte Träger verschiedener, mengenhaft vorkommender und deswegen zählbarer Daten eines tatsächlichen oder auch nur gemeinten Zusammenhanges begriffen.379 In einem klaren und deutlichen Sinn benennt der Begriff der Singularität konkret und formal die humane Existenz in der Einzahl. Dabei kennzeichnet der Ausdruck Einzahl nicht die Steigerung des Einzelnen. Sie wird durch den Namen der Einzigkeit benannt. Der Begriff der Einzahl vermag seinen Sinn in der Gegenüberstellung mit dem Begriff der Mehrzahl kundzutun. Ihr zufolge existiert die humane Existenz in der Einzahl einerseits und in der Mehrzahl andererseits. Die menschliche wie die gesellschaftliche Existenz-Gestalt sind also sowohl einmalig wie mehrmalig. Sie sind Existenz-Gestalten im Singular wie im Plural. Von der Singularität der menschlichen wie der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt läßt sich sagen, daß sie als das Gesonderte besteht, als das Eigentümliche oder als das Eigenartige, als das Ungewöhnliche oder das Seltene, als das für sich Bestehende oder als das Außerordentliche, als das Ausschließliche, als das Sonderbare oder als das Vorzügliche, usw. Der so oder ähnlich beschaffenen Singularität steht gegenüber die Pluralität. Sie benennt das, was Mehreren oder Vielen gemein ist, also nicht der Wesensart oder der Gattung nach. Die Gemeinsamkeit ist typischer Natur. Der Typus übersteigt die Singularität ohne sich zur Universalität zu entwickeln. Mit dieser Gegenüberstellung mag es mit dem Aufweis der Singularität gegenüber der Individualität bzw. der Pluralität sein Bewenden haben. Er bietet keine Begründung dem Sein, sondern bestenfalls dem Erkennen nach. In diesem Sinn ist er hoffentlich eine begriffsbestimmende Beschreibung der Gegenstände, die im Begriff der Singularität und dem der Individualität gedacht werden.380 379 Vgl. z. B. Rüdiger Funiok, Art. Statistik, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 379. 380 Mit dem Begriff der Pluralität ist zumindest sinnverwandt der Begriff des Typus. Vgl. hierzu z. B. Georgi Schischkoff, Art. Typisch, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 196122, S. 738: „typisch . . ., urbildlich, vorbildlich, eine Klasse von Dingen oder Vorstellungen oder Tätigkeiten repräsentierend. Gegensatz:
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Es ist jedermann geläufig, daß die humane Existenz ursprünglich auf verschiedene Weise besteht. Mit dieser Feststellung hat das Erkennen jedoch keine Typologie des „menschlichen“ Seins im Auge und schon gar keine Charakterologie des „Menschen“. Die gewählte Bezeichnung des ursprünglichen Bestandes benennt die humane Existenz vielmehr hinsichtlich der Existenzialien, in denen sie sich als menschliche und als gesellschaftliche Realität innerlich aufbaut. Deren erstes Existenzial ist die erwähnte Singularität bzw. Einmaligkeit der humanen Existenz. Indem diese Existenzkategorie das Existieren der humanen Existenz als Ich im Hier und Jetzt zum Ausdruck kommen läßt, kennzeichnet es dieses Existieren in seiner natürlichen Natur, d.h. in ihrem geburtlich-ursprünglich wirkenden Wesen. Das Existieren der humanen Existenz im Sinn ihrer natürlichen Natur ist unterschieden vom Existieren der humanen Existenz im Sinn ihrer Humanität sowie im Sinn ihrer Kultur. Hierzu ist zum ersten das folgende zu bemerken: Was man heute als Humanität zu bezeichnen pflegt, hat seinen Ursprung im griechischen Altertum. Sein Leben im menschenfreundlichen Sinn zu verwirklichen, hat man damals als philanthropia bezeichnet. Das lateinische Altertum und nach ihm das Mittelalter übernahmen die Wertschätzung dieser Lebensweise. Sie bezeichneten sie mit dem Namen humanitas. Über die Renaissance und die Aufklärung sowie über die Rückbesinnung auf die geschichtlichen Zusammenhänge ist seit dem 18. Jahrhundert vom humanen Leben des „Menschen“ die Rede. Vermutlich ist Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) nach wie vor der erste unter den Dichtern und Gelehrten, die daran erinnerten, daß auch die neuzeitliche menschliche Existenz-Gestalt menschlich zu verwirklichen ist. In seinem Gedicht mit dem Titel Das Göttliche benennt er die Menschlichkeit der menschlichen Existenz-Gestalt in der bekannten Verszeile: Edel sei der Mensch hilfreich und gut. Die humane Existenz, die sich durch ihre Menschlichkeit auszeichnet oder die, wie man heute bevorzugt sagt, humanitär denkt und handelt, ist der „Mensch“ der Menschenfreundlichkeit. Das ist der „Mensch“, der ebenso gebildet ist wie hilfsbereit, ebenso weltoffen wie intimfähig, der gleichermaßen den Musen wie der Natur verbunden ist, usw. Von ihm spricht Goethe im WestÖstlichen Divan, wenn er sagt: Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit. Das Existenzial, das Goethe Persönlichkeit nennt, wurde in der angegebenen Tafel der Existenzkategorien der humanen Existenz bzw. der psychischen Existenz-Gestalt als Personalität bezeichnet. Indem die Humanität die humane Existenz bzw. die menschliche Existenz-Gestalt bestimmt, ergänzt sie notwendig die genannte Naturbestimmtheit des „menschlichen“ Existierens. Die Mitte der atypisch, vom Typus abweichend, keinem Typus zuzurechnen.“ Verneinend gesprochen ist der Typus bzw. die Pluralität das, was nicht von der Beschaffenheit der Singularität bzw. auch nicht universal ist.
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Personalität der humanen bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt bildet zweifellos deren Sittlichkeit. Dieser Name bezeichnet die Erkenntnis und die Befolgung des Gesetzes, das fordert, daß der „Mensch“ das Gute tun und das Böse lassen soll. Ein anderer Ausdruck dieses Gesetzes ist die sogenannte Goldene Regel: Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Deswegen ist das Sittengesetz kein Gesetz, das in der humanen Existenz bzw. in der menschlichen Existenz-Gestalt unmittelbar wirksam ist. Das Sittengesetz ist dem „Menschen“ nicht gegeben, vielmehr ist es ihm vorgegeben. Aus diesem Grund kennzeichnet das Existenzial der Personalität die „menschliche“ Existenz in ihrer Freiheit. In der äußeren Erfahrung kommt sie als menschliche Selbständigkeit zum Ausdruck. Nach der herkömmlichen Auffassung besitzt die Freiheit Stufen, deren Unterschied nicht zuletzt in gesteigerten sittlichen Ansprüchen besteht. Die geringsten Forderungen stellen sich auf der Stufe der physischen Freiheit, die auch Handlungsfreiheit genannt wird. Sie betrifft die äußere Freiheit der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt. Sie besteht darin, daß der „Mensch“ zum Beispiel sich dahin oder dorthin bewegen kann. Anspruchsvoller ist die psychische Freiheit, die auch moralische Freiheit heißt. In ihrem Sinn ist der „Mensch“ frei, wenn kein seelischer Zwang ihn nötigt. Beispielsweise ist er psychisch frei, wenn er seinen Leidenschaften widersteht und entsprechend den guten Sitten für sich selbst und mit seinen Mitmenschen lebt. Am meisten bedeutsam ist die Willens- oder Wahlfreiheit. In ihrem Sinn erstrebt und verwirklicht die humane Existenz bzw. die menschliche ExistenzGestalt Güter bzw. Werte, die als verschiedene erkannt worden sind. Deswegen geht mit der Wahlfreiheit die Verantwortlichkeit des „menschlichen“ Existierens einher. Verantwortung besagt, daß die Taten einem Tätigen zugerechnet werden und der Tätige in seinem Gewissen hierum weiß. Aufgrund ihrer Wahlfreiheit ist es das Schicksal der „menschlichen“ Existenz, daß sie auch schuldig werden kann. Das Existenzial der Personalität formuliert einen Bestand des „Menschen“, der oft genug als ärgerlich empfunden wird und deswegen in seiner Erkenntnis in der Schwebe bleibt. Bisweilen wird er sogar bezweifelt, sofern ihn die modernen Wissenschaften vom „Menschen“ nicht ausdrücklich leugnen. Es mag deswegen erlaubt sein, aus einer Zusammenfassung zu zitieren, die die Menschlichkeit der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt zu umreißen versucht: „Der Mensch ist dadurch von allem anderen Seienden unterschieden, daß er nicht in die Bindungen eines universalen Naturzusammenhanges restlos eingespannt ist und dadurch in seinem Wesen eine durchgängige Determinierung erfährt, sondern gleichsam ins Offene gesetzt ist. Damit ist er in die unvermeidbare Aufgabe gestellt, sich seine Wesensausprägung selbst zu geben und seine . . . verschiedenen Möglichkeiten selbst zu bilden. Auf diese Weise sich selbst aufgegeben zu sein macht den obersten und letzten Sinn von Freiheit aus.
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Diese Freiheit ist so fundamental, daß es dem Menschen nicht überlassen ist, sie zu gebrauchen oder nicht zu gebrauchen, denn der Verzicht auf die eigene Wesensausprägung . . . ist selbst schon eine Entscheidung über den Daseinssinn, somit eine Wesensausprägung des Menschen durch sich selbst. Eine unmittelbare und unüberhörbare Lebenserfahrung sagt jedem natürlich entwickelten Menschen, daß er mit jeder Handlung zugleich auch über sein eigenes Wesen entscheidet und dessen so geschehene Ausprägung zu verantworten hat. Insofern diese Freiheit mit dem Menschsein von selbst schon gesetzt ist, also seine Seinsweise konstituiert, kann sie auch personale Freiheit genannt werden.“381
Neben der Singularität und der Personalität findet sich als drittes Existenzial die Komplexität, die den inneren Aufbau der humanen Existenz bestimmt. Sie ist in der äußeren Erfahrung gegeben als Vieleinheit der „menschlichen“ Existenz. Der Gebrauch des Ausdrucks der Komplexität im vorliegenden Zusammenhang dürfte ungeläufig sein, sofern er nicht neu ist. Indem er auf das nicht unbekannte Wort Komplex zurückbezogen ist, mag sich sein jetzt gemeinter Sinn erschließen, sofern er sich nicht sogar aufdrängt. Die Verwendung des Namen des Komplexes findet sich in der Psychologie des „menschlichen“ Einzelfalls einerseits und in der systematischen Betrachtung „menschlicher“ Zusammenhänge andererseits. In jenen wie in diesen Studien benennt er im psychischen bzw. im sozialen Sinn eine „Gesamtheit von miteinander verflochtenen, eine Einheit bildenden Teilen“, also ein „aus vielfältigen Aspekten geschlossenes Ganzes“382. Das Existenzial besitzt in diesen Bestimmungen Merkmale, die es unter anderen Existenzialen auszeichnen. Zu ihnen zählt vor allem das Merkmal der „Einheitlichkeit“ von „Teilen“. Der Name der Komplexität bezeichnet jedoch ebensowenig eine Ganzheit wie die Gegliedertheit in ihre Teile. Die als Existenzial verstandene Komplexität meint vielmehr das, was zum Beispiel in der Phänomenologie als Lebenswelt bezeichnet wird. Es handelt sich um ein human-existenzielles An-sich-Sein, was sich zu sich selbst und sodann zu allem verhält, was als seine natürliche Umwelt, seine menschliche Mitwelt und seine geistige Denkwelt besteht. Der existenzkategoriale Name der Komplexität benennt insofern das Existieren des „Menschen“, von dem es seit alters her heißt, daß er als Mikrokosmos existiert. Als dieser ist er ein „All im Kleinen“ im Unterschied zum „All im Großen“. Der Sinn der Auffassung des „Menschen“ als Mikrokosmos besteht darin, daß man ihn nicht nur als „ein Teil der Welt, den man als Abbild, Gleichnis, verkleinerte Wiedergabe des Weltalls auffassen könnte“, sondern darin, daß die humane Existenz „realiter als Welt für sich existiert“, so daß sie die Welt als „die Welt selbst in sich enthält“383. 381 Max Müller/Alois Halder; Art. Freiheit, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 1988, S. 95. 382 Gerhard Wahring (Hrsg.), Brockhaus. Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Vierter Band, Art. Komplex, Wiesbaden/Stuttgart 1982, S. 95. 383 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer; Art. Mikrokosmos, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 414.
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Das Verständnis des „Menschen“ als All-Sein im Kleinen im Unterschied zum All-Sein im Großen reicht weit zurück. Vielleicht ist der erste Gelehrte, der die „menschliche“ Existenz als Mikrokosmos bezeichnet, der griechische Philosoph Demokrit (460–370). Von ihm ist das Fragment überliefert: Der Mensch ist ein Kosmos im Kleinen.384 Aristoteles bedenkt diesen Zusammenhang und entfaltet sein Verhältnis im Rahmen seiner Lehre über das Sein und sein Bewegtsein: „Von Lebewesen dagegen sagen wir: Es bewegt sich selbst. Folglich, wenn es denn zu einer Zeit gänzlich ruht, so wird ja wohl in einem Unbewegten Bewegung entstehen, aus ihm selbst und nicht von außen. Wenn das aber an einem Lebewesen geschehen kann, was hindert dann (die Annahme), daß das gleiche sich ereignen kann auch bezüglich des Alls? Wenn es doch in der ,kleinen Ordnung‘ geschieht, so auch in der großen; und wenn in der geordneten Welt, dann auch in der grenzenlosen Unbestimmtheit, wenn es denn möglich ist, daß die Grenzenlosigkeit als ganze sich bewegt oder ruht.“385
Die Unterscheidung zwischen der Welt als Welt des „Menschen“ und als Welt schlechthin ist bis heute geläufig. Zuletzt hat wohl Hermann Lotze (1817–1881) ihr eine umfassende Untersuchung gewidmet.386 Das Existenzial der Komplexität besagt also die Welthaftigkeit der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt und damit deren Verschiedenheit als Singularität/Einmaligkeit bzw. Personalität/Selbständigkeit dieser Existenz. Die psychischen Existenzkategorien meinen und sind die Grundweisen des Bestehens der humanen Existenz zunächst und zuerst als menschliche ExistenzGestalt. Bereits aus ihrer äußeren Anordnung vermag man zu entnehmen, daß die menschliche Existenz-Gestalt ursprunghaft in drei verschiedenen Ausprägungen wirklichkeitsfähig ist. Diese Grundgestalten der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt vereinigen in sich die psychischen Existenzkategorien, sofern man sie in ihren Spalten zusammensieht, die jeweiligen psychischen Kategorialverhältnisse also ein stimmiges Existieren der menschlichen Existenz-Gestalt zum Ausdruck bringen. Die erste Spalte umfaßt die psychischen Existenzkategorien, des Gefallens, des Fühlens, des Gemüts und der Singularität. Der durch sie benannte existenzkategoriale Zusammenhang kennzeichnet die real bestehende menschliche Existenz-Gestalt in ihrer Befindlichkeit. Vergleichbares läßt sich vom Verhältnis der psychischen Existenzkategorien des Guten, des Strebens, der Bewertung und der Personalität sagen.
384 Vgl. Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, Stuttgart 1968, S. 422. 385 Aristoteles, Physikê akroasis, (Vorlesung über Natur), (Edition Meiner), 252b. 386 Vgl. Hermann Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. Band 1: 1. Der Leib, 2. Die Seele, 3. Das Leben, Leipzig 1856; Band 2: 4. Der Mensch, 5. Der Geist, 6. Der Lauf der Welt; Band 3: 7. Die Geschichte, 8. Der Fortschritt, 9. Der Zusammenhang der Dinge, Leipzig 1864.
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Es umreißt die menschliche Existenz-Gestalt, insofern sie diese in ihrer ursprünglichen Würde da ist. Schließlich kennzeichnet der Zusammenhang der psychischen Existenzkategorien des Dinges, der Erkenntnis, der Behauptung und der Komplexität die menschliche Existenz-Gestalt, insofern sie denkend existiert. Es bestand schon Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß die menschliche Existenz-Gestalt eine einheitliche Existenz-Gestalt ist. Deswegen ist sie durchgängig da als ein Sichbefinden, als ein Bestand in Würde und als ein Existieren als Denken. Freilich ist die einheitliche Existenz der menschlichen Existenz-Gestalt nicht immer in derselben Weise ausgeprägt. Sie kann zum ersten maßgeblich durch ihre Befindlichkeit bestimmt sein, was besagt, daß der sich befindende Mensch seine Würde und sein Denken so oder so seiner Befindlichkeit einordnet, wenn nicht sogar unterordnet. Dieser Ausprägung entsprechen die beiden anderen grundgestaltlichen Realitäten der menschlichen Existenz-Gestalt. Sie kann also zum zweiten von ihrer Würde her bestimmt sein oder zum dritten durch ihr Denken. Diese Ausprägungen der menschlichen Existenz-Gestalt sind der Grund, der erklärt, daß die menschliche Existenz-Gestalt freiheitlich zwischen den psychischen Existenzialien wählen kann und tatsächlich auch wählt. Eine Erörterung dieser Wahlvorgänge mag hier auf sich beruhen. Unabdingbar ist jedoch die Feststellung, daß die menschliche Existenz-Gestalt in jeweils einer der in den Zeilen genannten Existenzkategorien ihres Bestandes sich ausprägt und begreift. Die Erkenntnis dieser kreuz und quer verlaufenden Vielfalt und die damit jeweils ausgebildeten Realitäten der menschlichen Existenz-Gestalt sind dem Alltag wie der psychologischen Wissenschaft geläufig. Hinsichtlich der Psychologie als Wissenschaft gilt, daß die verschiedenen Persönlichkeitstheorien bzw. Charakterologien in ihr ihren Grund besitzen. Ihr Erkenntnisgegenstand ist das wirkliche Menschlich-Einzelne und dessen Rückbezug auf das psychische Existenzial-Allgemeine. Diesseits dieser Psychologien finden sich die ursprünglichen Verwirklichungsbestände der menschlichen Existenz-Gestalt. Mit „exakter Phantasie“ unterscheidet das unmittelbare Erkennen zwischen dem „natürlichen Gefühlsmenschen“, dem „strebsamen Willensmenschen“ und dem „geistigen Verstandesmenschen“. Durch diese Unterscheidung läßt sich die folgende Untersuchung leiten. Sie bemüht sich, die menschliche Existenz-Gestalt zu erfassen und zu beschreiben, insofern sie vorzugsweise als Befindlichkeit oder vorzugsweise als Würde oder vorzugsweise als Denken verwirklicht ist. Hierbei weiß sie, daß die jeweils ausgeprägten Grundgestalten der menschlichen Existenz-Gestalt systematisch bis jetzt noch nicht hinreichend erfaßt und benannt worden sind. Dieser Befund erklärt, warum die Lehren von der humanen Existenz, sofern sie die genannten Grundgestalten unterscheiden, diese recht verschieden benennen. Von einer klaren und deutlichen Begrifflichkeit, in welcher die wissenschaftliche Forschung die Grundgestalten zu denken hat, ist man noch weit entfernt. Aus
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diesem Grund verbindet sich der Aufweis der Bestimmungen der Grundgestalten mit einigen terminologischen Klärungen. I. Der Mensch in seiner Befindlichkeit
Vorgeschlagen sei, die menschliche Existenz-Gestalt in ihrer ersten Ausprägung als Sichbefinden bzw. als Befindlichkeit des Menschen zu benennen. Gemeinhin bezeichnen die erwähnten Ausdrücke das natürlich-seelische Existieren des Menschen. So spricht man etwa davon, daß man bei sich ist, daß man sich bei sich selbst befindet, oder daß man bei guter Gesundheit ist, sich also des Vollbesitzes seiner körperlich-geistigen Kräfte erfreut, oder daß man guten Mutes ist, daß man sich also in einer hoffnungsfrohen Stimmung befindet, usw. Die Weisen dieses Sichbefindens hat maßgeblich die Philosophie von Martin Heidegger (1889–1976) unter phänomenologischem Einfluß aufgegriffen. Freilich hat sie ihnen alsbald jene besondere fundamentalontologische Bedeutung gegeben, die bereits benannt wurde. Existenzkategorial besagt das Sichbefinden oder, in der Wortwahl Heideggers gesprochen, die Befindlichkeit, das Ganze des vorgegebenen Bestandes der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt, das den „Menschen“ in seinem Selbstverhältnis begleitet. Sichbefinden benennt das Sichvorfinden des Menschen. Man könnte auch sagen, daß der Name das ursprüngliche Sich-Antreffen des Menschen benennt, daß der Mensch sich also von Anfang an zugegen ist. Des näheren läßt sich dieses Sichvorfinden oder die Befindlichkeit in einer dreifachen Weise wie folgt bestimmen. Das Sichvorfinden kann man zum ersten verstehen im Sinn des Tuns des Sichvorfindens: Der Mensch besinnt sich auf seine Befindlichkeit. Man kann es zum zweiten verstehen hinsichtlich eines gemeinten Gegenstandes, also im Sinn eines Vorfindbaren bzw. eines Vorgefundenen: Der Mensch entwickelt einen Sinn für seine Befindlichkeit. Drittens kann man es verstehen im Sinn des Trägers des Sichvorfindens: Der Mensch ergründet den Sinn seiner Besinnung wie den Sinn dessen, worauf er sich besonnen hat. Daß die Erkenntnisgeschichte der humanen Existenz wenig hilfreich ist, die angedeutete Beschaffenheit der menschlichen Existenz-Gestalt bzw. des Menschen als Befindlichkeit des weiteren zu bestimmen, ist bekannt. Das gilt auch von jenen Bemühungen, die darauf zielen, den Menschen als diesen selbst zu erkennen. Daß der Mensch jedoch spätestens im Ausgang der griechischen Antike in diesem Sinn aufgefaßt wird, belegt der Begriff der autotês, d.i. der Selbstheit des Menschen, den der zum Skeptizismus gerechnete Philosoph Sextus Empiricus (zwischen 150 und 250) in seiner Erkenntnis der humanen Existenz verwendet. Dieser Begriff heißt in der lateinischen Sprache esse ipse, d.i. das Selbstsein des Menschen. Was diese Namen der menschlichen Selbstheit bzw. des menschlichen Selbstseins zum Ausdruck bringen, ist aufgrund der voraufliegenden Erkenntnisbedingungen sowie der Wirkung dieser Bedingungen in
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den folgenden Jahrhunderten denkbar inhaltsreich. Deswegen mag es zutreffen, daß in den genannten Ausdrücken unter anderem auch die Befindlichkeit des Menschen mitgedacht worden ist. Ausdrücklich wird sie jedoch nicht erfaßt. Überdies ist der Zusammenhang, in dem der Mensch als dieser sich selbst zu erkennen versucht wird, nahezu durchgängig ethischer Natur.387 Plotin (204– 270), Porphyrios (233–300) und Augustinus (354–430) sind die Ausnahme von dieser Regel, da sie sich darum bemühen, das sichere Erkennen zu ergründen. Sie lehren, daß die Wahrheit nur durch die Rückwendung des Menschen auf das eigene Innere erfolgen kann, also auf sein seinshaft verbürgtes Selbst.388 Vergleichbares gilt von der Unterscheidung der seelischen Fähigkeiten des Menschen, die die mittelalterliche Begrifflichkeit ausbildet. Gewiß ist es richtig, daß sie zwischen dem sentire, dem velle und dem cognoscere, d.i. dem Sinnen, dem Wollen und dem Denken als den möglichen, jeweils vorherrschenden Ausprägungsbestimmungen der menschlichen Existenz-Gestalt unterscheidet. Aber sie rückt das Sinnen am Ende doch recht nahe an das Erkennen heran, indem es als Einfühlen, als Empfinden und als Wahrnehmen verstanden wird. Das Sinnen wird erkenntnisgeschichtlich erst spät als ein unterschiedener eigenständiger Bestand der menschlichen Existenz-Gestalt erkannt. In der Regel unter dem Namen des Gefühls erörtert, wird dieser Bestand des Sinnens als etwas eigenständiges aufgefaßt, das sich vom Bestand des Strebens und dem des Erkennens unterscheidet. In der Ausarbeitung dieser Verschiedenheit werden in der Erkenntnis des Menschen verschiedene Formen des Gefühls mit der Folge benannt, daß es darauf ankommt, insbesondere das Selbstgefühl ins Auge zu fassen.389 Wie es scheint, sind erst jetzt die Voraussetzungen erfüllt, die es erlauben, von der Befindlichkeit des Menschen in einer wohldefinierten Absicht zu sprechen. Will man dieses Erkennen als ein Erkennen im Sinn der besonderten existenzkategorial bestimmten Grundgestalt der menschlichen Existenz-Gestalt begreifen, dann ist man gut beraten, zu studieren, was im letzten Jahrhundert über das Gefühl im allgemeinen und das Selbstgefühl im besonderen gesagt und geschrieben worden ist, um durch diese Studien hindurch zum Bestand der menschlichen Befindlichkeit vorzudringen. Es ist bekannt, daß sich zahlreiche Untersuchungen finden, die unter dem Titel des Gefühls bzw. dem des Selbstgefühls durch eben diese hindurch die menschliche Befindlichkeit zu erfassen suchen. Eine der herausragenden Arbeiten, die überdies dem Realismus verpflichtet ist, liegt in der Schrift mit dem 387 Vgl. z. B. Hans Jürgen Fuchs, Art. Selbstheit sowie Anton Hügli, Art. Selbstsein, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 462–465 bzw. Sp. 520–528. 388 Vgl. Redaktion et al., Art. Selbst, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 292–313. 389 Vgl. Hermann Drüe, Art. Selbstgefühl, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 444–453.
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Titel Metaphysik des Fühlens vor. Sie stammt aus der Feder des Essayisten, Kulturkritikers und Philosophen Theodor Haecker (1879–1945). Daß dieser Autor und mit ihm sein Werk heute weithin in Vergessenheit geraten ist, tut nichts zur Sache. Zur Erklärung kann man auf die Bedingungen hinweisen, unter denen Haecker arbeitete. Dies gilt im besonderen von der genannten Untersuchung. Sie ist eine nachgelassene unvollendete Arbeit, deren Veröffentlichung er nicht mehr erlebt hat. Die Umstände erklären sich aus der Herrschaft des deutschen Nationalsozialismus, der Haeckers öffentliches Schaffen zunächst behinderte und schließlich verbot. Daß es ihm nicht mehr geschenkt war, das Ende des II. Weltkriegs zu erleben, gehört zum tragischen Schicksal dieses mutigen philosophischen Schriftstellers. Dem Studium der humanen Existenz verpflichtet, wie sie in der europäischen Kultur maßgeblich in ihren beispielgebenden Personen verwirklicht ist, wendet Haecker sich vor allem jenen Lebensschicksalen zu, denen er sich durch seine eigene Person verbunden weiß. Zu ihnen zählen Blaise Pascal (1623–1662), der das Leben eines Mathematikers und Religionsphilosophen führte, und der religiös denkende und existentiell philosophierende Sören Kierkegaard (1813– 1855). Aufmerksam wendet Haecker sich ihrem Lebensschicksal zu, um es in seiner Gefälligkeit, in seinem Bewegtsein, in seinem Gemütszustand und in seiner Einmaligkeit zugleich zu erfassen. Haecker hat also im Auge, was man treffend als die Befindlichkeit der genannten Personen zu benennen hat. Daß Pascal wie Kierkegaard schlüsselhafte Selbstzeugnisse über ihre Befindlichkeit hinterlassen haben, ist ein Glücksfall. Ihnen gilt Haeckers Aufmerksamkeit, in der er sich jenen Lebensschicksalen zuwendet. Hier mag es genügen, allein die genannten Selbstzeugnisse wiederzugeben. Zum ersten urteilt in seinem berühmten Memorial über sein Sichbefinden Blaise Pascal: „Jahr der Gnade 1654. Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium. Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer. Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde vor Mitternacht. Feuer. ,Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs.‘ Nicht der Philosophen und der Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Friede. Gott Jesu Christi. Vergessen der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden. Größe der menschlichen Seele. ,Gerechter Vater, die Welt kennet dich nicht; ich aber kenne dich.‘ Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude. ,Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ Möge ich nicht auf ewig von ihm geschieden sein. ,Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist,
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und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.‘ Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, kann man ihn bewahren: Vollkommene und liebevolle Entsagung.“390
Einzigartig ist auch das Dokument Kierkegaards, das dieser über sein Sichbefinden von seinem Grunde her hinterlassen hat. Es lautet: Tagebuch des Jahres 1838. „19. Mai vormittags 10 1/2 Uhr. – Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die ebenso unerklärlich uns durchglüht, wie der Ausbruch des Apostels unmotiviert eintritt: ,Freuet euch und wiederum sage ich: Freuet euch‘ – nicht eine Freude über dieses und jenes, sondern der Seele feuriger Ausruf ,mit Zunge, Mund, aus Herzensgrund‘: Ich freue mich mittels meiner Freude – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unsern übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich wie ein Windhauch kühlt und erfrischt, eine Welle des Passates, der aus dem Hain Mamre“ (d.h. aus dem des amoritischen Fürsten, der mit dem Erzvater Abraham [zwischen 1900 und 1700 v. Chr.] verbündet war) – „zu den ewigen Wohnungen bläst.“391
Diese Selbstzeugnisse, in denen ein Sichvorfinden der Existenz Pascals wie der Kierkegaards zum Ausdruck kommt, versteht Haecker maßgeblich als ein Existieren im Sinn der ersten existenzkategorialen Grundgestalt der menschlichen Existenz-Gestalt bzw. des Menschen. Konkret weiter denkend, richtet sich nach der Würdigung der religiös-gläubigen Ergriffenheit, die in den zitierten Zeugnissen im Vordergrund steht, sein forschender Blick auf weitere ursprüngliche Ausprägungen des Sichbefindens des Menschen. Zu ihnen zählen die Lust des Menschen und die menschliche Scham. Mit ihrer Untersuchung setzt Haecker seine Darstellung fort. Ihr schließt er seine Erörterung des Staunens des Menschen an. Überraschenderweise geschieht dies nicht, wie man meinen möchte, in einer Verdeutlichung des Lebens bald dieser oder jener Person der griechisch-antiken Welt, in der erstmals von Staunen die Rede ist, sondern in einem Sichbesinnen auf die Existenz Immanuel Kants (1724–1804). Denn auch er staunte. Zum Beleg erinnert Haecker an das bekannte Wort aus dem Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, 390 Blaise Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées) (1670), Heidelberg 19463, S. 250 f. 391 Sören Kierkegaard, Die Tagebücher 1834–1855. Auswahl (1923), München 19534, S. 100.
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überdem noch in grenzenlosen Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht wie dort in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne.“392
Im Umfeld dieses Befundes, der sich einerseits aus der Sinnlichkeit und andererseits aus dem Verstand des Menschen nährt, wendet Haecker sich dem Freiheitssinn, dem Gerechtigkeitsempfinden, dem Pflichtgefühl und nicht zuletzt dem Schulderleben zu, von denen bei Kant ebenso die Rede ist. Diese Aufweise schließlich hinter sich lassend, dringt er zu jenen Ausprägungen der Befindlichkeit vor, die sich als Liebe und als Glück ereignen, und er kennzeichnet deren Gegenteil, nämlich die Bosheit und die Verzweiflung. Als Einführung stellt Haecker seiner Untersuchung einen Dialog statt eines Vorworts voran. Dieses kurze Gespräch zwischen einer Person A und einer Person B benennt, was es am Ende mit der Befindlichkeit des Menschen auf sich hat. Wenn die vorliegende Untersuchung den von ihm noch verwendeten Ausdruck des Fühlens durch den des Sichbefindens ersetzt, so mag dies nicht nur erlaubt sein, sondern vielmehr als geboten erscheinen. Der Text, in dem der schlüsselhafte Ausdruck des Fühlens durch den des Sichbefindens wiedergegeben ist, lautet wie folgt: „A. Es ist kein Zweifel, daß Gut und Böse am besten zum Wollen passen, Wahr und Falsch zum Denken, – daß sie dort jeweils ,daheim‘ sind, und Sie wissen ja allmählich, wie mütterlich und väterlich ich besorgt bin, daß Worte und Begriffe heimfinden und ihre Heimat nun nie mehr vergessen. Wie ist es mit dem“ Sichbefinden? „Was ist dort daheim? Ich sehe im Augenblick kein Attribut, das ihm in ähnlicher Weise ewig zukommt, Am ehesten noch Echt und Unecht, aber das hängt eigentlich mit Wahr und Falsch und also dem Denken zusammen; oder Freundlich und Unfreundlich, aber das hängt doch mit Gut und Böse und also dem Wollen zusammen. Es ist seltsam, das“ Sichbefinden „ist die schwerst zugängliche Seinsweise des Menschen. B. Das ist wahr, mein Freund, eben weil das“ Sichbefinden „so innen ist, trotz seines Reichtums so stumm ist. Es ist im Schweigen mehr zu Hause als im Sprechen, in der Musik mehr als im Wort. Es ist die Weise des Seinskerns selber, noch vor dem Wort und dem Ausdruck. Wollen und Denken schaffen mehr Distanz und sind überhaupt nach außen gerichtet in ihrer Tätigkeit; sie haben immer einen Gegenstand. Das“ Sichbefinden „ist sozusagen die primordiale Seinsweise des vollen Seins als Geist und Subjektivität. Auf das Sein selber geht, ob nun bloß auf seine Oberfläche, die wechselt, oder seine Tiefe, die bleibt, das“ Sichbefinden, „und auf das ,Befinden‘ dieses Seins. Unmittelbar weiß das ein jeder Mensch. Aber der reflektierende Philosoph kann sich täuschen und irregehen – so wie Sie anscheinend,
392 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1787), (Edition Meiner), Hamburg 1974, S. 186.
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mein Freund – oder vielmehr einfach blind sein. Wie denn? Sie sagen, daß Gut und Böse am unmittelbarsten zum Wollen gehören und Wahr und Falsch am unmittelbarsten zum Denken. Und sie haben ohne Zweifel recht. Aber nun meinen Sie, das“ Sichbefinden „habe keine solchen unmittelbaren Attribute. Und indem Sie besorgt weiterhin suchen, finden sie nicht, was so nahe ist, allzu nahe. Was will denn das Sein sein, das Sein in seiner höchsten Manifestation: in der Person? Was will es denn sein? Ja, wie will es denn sich“ befinden? „Selig will es sein. Und selig ist Gott, die Quelle alles Seins. ,Selig‘ aber ist ein, ist das sub-objektive Wort. Man kann nicht selig sein ohne sich selig zu“ befinden. „Wahrhaftig, wie Gut und Böse zum Wollen, wie Wahr und Falsch zum Denken, so gehört ebenso unmittelbar Selig und Unselig zum“ Sichbefinden.393 II. Der Mensch in seiner Würde
Die zweite mögliche Ausprägung der menschlichen Existenz-Gestalt ergibt sich aus dem stimmigen Zusammenhang der Existenzkategorien des Guten, des Strebens, der Bewertung und der Personalität. Es sei vorgeschlagen, den Bestand, der durch die genannten Existenzialien gekennzeichnet ist, durch den Inbegriff des Menschen in seiner Würde zu bezeichnen. Mit ihm ist im Unterschied zur natürlich-seelischen und zur geistig-seelischen Ausbildung der menschlichen Existenz-Gestalt der im engeren und damit im eigentlichen Sinn herausgeformte menschlich-seelische Bestand des menschlichen Existierens gemeint. Der in seiner Würde existierende Mensch ist derjenige Mensch, der seine Befindlichkeit wie sein Denken seinem würdigen existieren einordnet, wenn nicht unterordnet. Daß die menschliche Existenz-Gestalt, die als menschlich-seelische ExistenzGestalt ausgeprägt ist, sich durch den Inbegriff der Würde benennen läßt, ist nicht selbstverständlich. Der Grund liegt im Ausdruck der Würde. Was er besagt, ist umstritten. Als problematisch wird zum ersten das Verhältnis empfunden, das zwischen den genannten Existenzkategorien besteht. Zum zweiten ist es der Grund, der dieses Verhältnis trägt. Deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn es einerseits heißt: Würde „kommt den einzelnen Menschen und der Menschengattung zu“, man jedoch andererseits lesen muß, „daß der Begriff unklar ist und entzweit“. Die Tatsache, daß es sich mit dem Namen der Würde gegenwärtig so verhält, zwingt jedoch „nicht zum Verzicht auf ihn, sondern zu seiner Klärung“394. Um sie befördern zu helfen, sei im folgenden eine Bestimmung der Merkmale der Würde versucht. 393 Theodor Haecker, Metaphysik des Fühlens. Eine nachgelassene Schrift, München 1950, S. 7 f. – vgl. als Übersicht z. B. Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. 394 Norbert Brieskorn, Art. Menschenwürde als normative Grundlage? Regelsuche im pluralen Staat in Abwesenheit einer einzigen und letzten Instanz, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 34. Jg., 2/2004, S. 25.
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Grundlage der Bemühungen ist die Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungszusammenhängen, in denen der Begriff der Würde verwendet wird. Ihr zufolge läßt er sich zum ersten in der Absicht verstehen, Seiendes erkennen zu wollen. Von ihr verschieden ist die Absicht, Seinsollendes ins Auge zu fassen. Handelt es sich bei jener um ein theoretisches Erkennen, so bei dieser um ein praktisches. Dabei unterteilt sich jenes wie dieses Erkennenwollen in jeweils zwei Zusammenhänge. Im Fall der Seinserkenntnis ist zu unterscheiden zwischen einem Bestand, der aktuell beschaffen ist, der also wirklich da ist, und einem potentiellen Bestand, einem Bestand also, der als Vermögen besteht. Man könnte jenen einen gegebenen, diesen einen vorgegebenen Bestand nennen. Von dem, was ist, ist verschieden das, was sein soll. Mit dieser Bezeichnung ist im weiteren Sinn die Geltung von Regeln jeder Art gemeint, im engeren Sinn die Geltung von Regeln des humanen sittlichen Lebens. Zielt jenes praktische Erkennen auf alle Vorschriften, die sich der Einsicht als richtig und dem Willen als verbindlich auferlegen, so zielt dieses auf das Erkennen der Vorschriften, die gebieten, das Gute zu tun und das Böse zulassen. Die anstehende Untersuchung ist nicht praktischer, sondern theoretischer Natur. Deswegen fragt sie nach der Würde der menschlichen Existenz-Gestalt nur insoweit, als sie einen wirklichen bzw. einen vollendungsfähigen Seinsbefund darstellt. In einem ersten Zugang lassen sich die Inhalte, die im Begriff der Würde gegenwärtig zumeist gedacht werden, durch einen Vergleich mit einem Begriff bestimmen, der mit ihm sinnverwandt ist. Diese Verwandtschaft besitzt der Begriff Ehre. Unter einer ersten Rücksicht besagt er nahezu dasselbe wie der der Würde. Unter einer zweiten Rücksicht meint er jedoch etwas Verschiedenes. Die Geschichte beider Begriffe reicht weit zurück. Über das mittelalterliche Lateinische hinaus finden sie sich bereits in der Sprache der Griechen. Was ehedem als honor bzw. als timê benannt wurde, pflegen wir durch das Wort Ehre auszudrücken. Demgegenüber bezeichnen die Namen dignitas bzw. axio¯sis das, was man im Deutschen als Würde bezeichnet. Die Prüfung der Bedeutung dieser Namen bestätigt, daß sie weithin austauschbar sind. Unter dieser Rücksicht besagen sie, was man gegenwärtig am treffendsten wohl durch die Bezeichnung Achtung ausdrücken würde. Sogleich verspürt man jedoch verschiedene Betonungen im Sinn des Namens Achtung. Wie es scheint, will der Begriff der Ehre diejenige Achtung benennen, die jemand jemandem erweist. Demgegenüber bezeichnet der Begriff der Würde die Achtung, die jemand seiner Natur entsprechend besitzt. Benennt der Ausdruck der Ehre also vorzugsweise das Ehren, dem der Besitz der Ehre nachgeordnet ist, so ist es im Fall der Würde umgekehrt: Besitzt jemand Würde, dann wird er auch gewürdigt. Die Würde, die eine menschliche Existenz-Gestalt besitzt, gelangt auf zweifache Weise zum Ausdruck. Sie kann einem Menschen in einem ungegenständlichen und in einem gegenständlichen Sinn zukommen, wie man sagen könnte. Ungegenständlich ist diejenige Würde, die der Bewußtseinswelt der mensch-
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lichen Existenz-Gestalt angehört, gegenständlich ist diejenige, die zu ihrer Sinnenwelt zählt. Auf ungegenständliche Weise würdig ist zum Beispiel jemand durch das Ansehen, das er genießt, aufgrund der Begabungen, die er einsetzt, dank der Rechtschaffenheit, die er unter Beweis stellt, kraft der Vorbildlichkeit, die jemand lebt, und in ähnlichen Weisen des menschlichen Existierens. Von ihnen verschieden ist die gegenständlich beschaffene Würde. Zu ihr sind zum Beispiel zu zählen die vornehme Herkunft, der angesehene Beruf, der gepflegte Lebensstil, das großzügige Mäzenatentum usw. Kommt jemandem auf jene wie auf diese Weise Würde zu, werden ihm in der Regel Würdigungen zuteil. Sie machen seine Würde offenkundig mit dem Ziel, sie zu befestigen. Sie kommen in beziehungshaften Verhaltensweisen anderer Menschen zum Ausdruck. Sie bestehen beispielsweise als Anerkennung, als Aufmerksamkeit, als Auszeichnung durch Orden, Titel und Preise, als Bewunderung, als Gunsterweis, als Hochschätzung, als Lobpreis, als Rühmen, als Verehrung und in zahlreichen anderen Arten des Würdigens, in denen die Werthaftigkeit der menschlichen Existenz-Gestalt zum Ausdruck gebracht wird. Der Versuch, sich der inbegrifflichen Bedeutung des heute gebräuchlichen Namens der Würde zu nähern, ist auf verschiedene menschlich-existentielle Bestände und zuzuschreibende Verhaltensweisen unter menschlichen Existenz-Gestalten gestoßen. Ihre Vielzahl und Verschiedenartigkeit dürften der Grund sein, aus dem sich die zitierte Meinung erklärt, daß der Begriff der Würde heute „unklar ist und entzweit“. Deswegen sollte man vermuten dürfen, daß es in der Vergangenheit anders um ihn bestellt war. Vielleicht wußte man in der Tat vom Altertum bis zur Heraufkunft der Neuzeit, was es mit der Würde des Menschen auf sich hat. Wenn es so ist, sieht man ein, daß Immanuel Kant (1724–1804) sich noch verhältnismäßig mühelos verständlich machen konnte. Zu seiner Zeit begriff man, was er meinte: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder seinen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, hat eine Würde.“395 Da für den modernen „Menschen“ inzwischen aber auch das kantische Reich der Zwecke zerfallen ist, bleibt im Vagen, was als Würde des Menschen zu bestimmen ist. Deswegen besteht aller Anlaß, über sie in grundsätzlicher Absicht nachzudenken.396 Überblickt man die gegenwärtigen Erörterungen des Ursprungsgrundes der menschlichen Würde, muß man zumindest zwischen drei Gründen der Herkunft unterscheiden. Der erste Grund findet sich in der Bestimmung der menschlichen Existenz-Gestalt im Sinn des christlich-religiösen Glaubens. Der zweite Grund 395 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), (Edition Meiner), Hamburg 19653, S. 58. 396 Vgl. z. B. Thomas Wachtendorf, Die Würde des Menschen. Ontologischer Anspruch, praktische Verwendung und lebensweltliche Notwendigkeit, Marburg 2004; Paul Tiedemann, Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt 2006.
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erklärt sich aus der metaphysischen Auffassung der menschlichen Existenz-Gestalt als Person. Die dritte Deutung der Würde der humanen Existenz gründet in der Idee ihrer Humanität. Nach der christlich-religiösen Überzeugung besitzt die Würde des Menschen ihren Ursprungsgrund in der göttlichen Wahrheit, die sich offenbart hat. Als Botschaft besagt sie, daß die humane Existenz ein Geschöpf Gottes ist und als Abbild ihres Schöpfers existiert. So lehrt es das Alte Testament.397 Daß die humane Existenz ein Ebenbild Gottes ist, besagt des näheren, daß sie am göttlichen Sein teilhat, daß sie also um ihrer selbst willen da ist. Zum zweiten besagt die Ebenbildlichkeit, daß die humane Existenz in einer Welt lebt, die als göttliche Schöpfungs- und Erlösungsordnung zu begreifen ist. In ihnen ist es ihr geboten, den göttlichen Ratschlüssen und Gesetzen zu folgen. Beachtet sie die humane Existenz, darf sie darauf hoffen, der ewigen Seligkeit teilhaftig zu werden. Sie vergeht nicht in der Zeit, sondern lebt in Ewigkeit. Weil die humane Existenz also ein Wesen der Endgültigkeit ist, ein Wesen, das in Freiheit und Gnade existiert und dem die Anschauung Gottes verheißen ist, besitzt die humane Existenz das, was man ihre Würde nennt. Sie vervollkommnet sich durch ihr Leben nach den sogenannten theologischen Tugenden. Sie bestehen als Glaube, d.h. als Zustimmung des Verstandes zu den göttlichen Wahrheiten, als Hoffnung, d.h. als berechtigte Erwartung der erstrebten Güter, und als Liebe, d.h. als schöpferisches Bejahen des wollenden menschlichen Geistes. Inwieweit diese Glaubensüberzeugungen von den Ursprungsgründen der Würde des Menschen in unseren Tagen erfaßt und wirksam gelebt werden, mag dahingestellt bleiben. Die zweite Auffassung des Ursprungsgrundes der Würde des Menschen ist metaphysischer Natur. Sie besteht in einer Deutung der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt, soweit sie der Vernunft zugänglich ist. Daß sich diese vernünftige Existenz auch im Sinn eines Ausdrucks der genannten religiösen Glaubensüberzeugung verstehen kann, ist damit nicht ausgeschlossen. Der metaphysischen Bestimmung zufolge existiert der „Mensch“ als Person. Im Zusammenhang der existenzkategorialen Benennungen der humanen Existenz ist die Person als Personalität ausgewiesen. Definierend heißt es: „Person heißt das Einzelne der geistigen Ordnung. Sie ist also ein mit einer geistigen Natur ausgestattetes Einzelwesen in seiner nicht-mitteilbaren Besonderheit, daher nicht Es, sondern Er. In der sichtbaren Welt erscheint nur der Mensch als Person; sie wird mit dem Eigennamen bezeichnet und tritt als Subjekt aller Aussagen, als Träger aller Eigenschaften auf: Paul ist Mensch, ist Künstler, ist gesund, usw.“398 Das personale Existieren der menschlichen Existenz-Gestalt ist also durch seine konkrete Geistigkeit ausgezeichnet. Was als Person benannt 397 Vgl. Die Heilige Schrift, 1. Buch Moses, (Edition Pattloch-Aschaffenburg/Bibelwerk Stuttgart), 1,27.
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wird, ist deswegen der Einzelfall eines unstofflichen, einfachen und selbständigen Wesens, das sich durch seinen Selbstbesitz und seine Selbstbestimmung auf sich selbst bezieht sowie durch sein übersinnliches Erkennen und sein Verwirklichen übersinnlicher Werte auf die Welt im Ganzen bezogen ist. Es sind diese Bezüge, die den Ursprungsgrund der Würde des Menschen ausmachen. Daß sie ihre Vervollkommnung durch ein tugendhaftes Leben erfährt, ist eine geläufige Überzeugung. Es besteht in der Erfüllung der Fähigkeiten des „Menschen“. Indem er sie ausbildet, gelangt seine anfängliche Tüchtigkeit zur Ertüchtigung, also zur Tugend. Deswegen ist die Lehre von der menschlichen Existenz-Gestalt als Person alsbald zur Formulierung eines Katalogs der Tugenden vorangeschritten. Schon das Altertum hat ihn ausgebildet. Als Tugenden des Verstandes gelten die Besonnenheit, also die Fertigkeit im Urteilen; die Wissenschaft, also die Fertigkeit im Schlußfolgern; die Weisheit, also die Fertigkeit, bis zu den letzten Wahrheiten vorzudringen; die Klugheit, also die Fertigkeit, Wahres von Falschem zu unterscheiden und die Technik, also die Fertigkeit, Dinge herstellen zu können. Als Tugenden des Willens gelten die Klugheit als die Fähigkeit, das rechte Mittel zu erkennen, um das gebotene praktische Ziel zu erreichen; die Gerechtigkeit, als die Fähigkeit, jedem das Seine zukommen zu lassen; die Tapferkeit als die Fähigkeit, um höherer Güter willen sich Gefahren auszusetzen und die Mäßigung als die Fähigkeit, das Streben in Maßen zu halten. Die dritte Bestimmung des Ursprungsgrundes der Würde des „Menschen“ erklärt sich aus der menschlichen Existenz-Gestalt, die die Idee ihrer Humanität entwickelt hat. Ihr zufolge gibt die humane Existenz sich selbst das Gesetz ihrer Vollendung. Über die Voraussetzungen, die Vollzugsweisen sowie über die Ziele der Ausbildung und der Erfüllung der menschlichen Existenz-Gestalt gehen die Meinungen auseinander. Wie es scheint besitzen sie jedoch noch immer ihren begründenden Fluchtpunkt in der Lehre Immanuel Kants (1724–1804), nach der der Mensch als Zweck an sich existiert. Kant zu zitieren ist deswegen ratsam: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“399 Aus dieser Bestimmung des Menschen als Selbstzweck folgt, daß der „menschliche“ gute Wille sich seinen Pflichten unterwirft, der „Mensch“ also existiert, wie er seiner zielstrebigen Verwirklichung wie seinem sittlichen Gesetze nach existieren soll. Dieses Existieren begründet seine Würde: „Man kann aus dem kurz vorhergehenden sich es jetzt leicht erklären, wie es zugehe; daß, ob wir gleich unter dem Begriffe 398 Johannes B. Lotz, Art. Person, in: Walter Brugger (Hrsg.), Wörterbuch der Philosophie, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 285 f. 399 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), (Edition Meiner), Hamburg 19653, S. 50.
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von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns dadurch doch zugleich eine gewisse Erhabenheit und Würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt.“400 Oder an anderer Stelle gesagt: „Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde.“401 Mit dem Ursprungsgrund der Würde, wie Kant ihn maßgeblich im sittlichallgemeinen Sinn benennt, ist die besondere Auffassung verwandt, wie sie die Aufklärung in rechtlich-politischer Absicht formuliert. Sie entwickelt das Verständnis, nach dem die vernünftig erkannte bzw. als verbindlich vereinbarte Natur der menschlichen Existenz-Gestalt jene Rechtsnormen enthält, die als überpositives Naturrecht die Menschenwürde begründen. Sie finden in den positiven Menschenrechten ihren Ausdruck. Es sollte an dieser Stelle genügen, allein an den ersten Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu erinnern. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Begründung der rechtlich verstandenen Menschenwürde erklärt sich nicht zuletzt aus den Erfahrungen der jüngsten Geschichte Deutschlands: „Art. 1 entspricht der Charta der Vereinten Nationen, aufgestellt auf der Konferenz in San Franzisco am 26.6.1945, worin der Glaube an die Grundrechte der Menschen, an die Würde und den Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Männern und Frauen, großen und kleinen Nationen aufs neue bestätigt ist . . . Abs. 1 enthält mit Voranstellung der Menschenwürde einen Protest gegen vorangegangenen Gewaltmißbrauch und ein feierliches Bekenntnis zur Achtung der Persönlichkeit, die in Zukunft gelten soll.“402 Es liegt in der Beschaffenheit der Würde, daß sie geachtet wird. Dieser Forderung hat sowohl derjenige zu entsprechen, der selbst im Besitz der Würde ist wie auch derjenige, der jemanden zu würdigen gehalten ist. Wird ihr im ersten Fall nicht entsprochen, stellen sich Verfehlungen ein, die man als Übertreibungen bzw. als Untertreibungen der Würde zu beurteilen pflegt. Zu jenen zählt die Ehrsucht, die Eitelkeit, der Hochmut, der Stolz, usw. Zu diesen rechnet man die Unterwürfigkeit, die falsch verstandene Demut, die Selbsterniedrigung und ähnliche Verkennungen des würdevollen Existierens. Wird ihr im zweiten Fall nicht entsprochen, bestehen die Beschädigungen der Würde zum Beispiel als Beleidigung, als Mißachtung, als Verleumdung, kurzum in jeder Form eines entwürdigenden Verhaltens. Weil die Würde also verletzt werden kann, stößt man durchgängig auf das Gebot, die Würde zu wahren, zu schützen und zu verteidigen 400
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), a. a. O., S. 64. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), a. a. O., S. 58. 402 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland usw., hrsg. von Otto Model, Düsseldorf 1949, S. 36. 401
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und auf das Verbot, sie zu mißachten, zu verletzen oder gar mit Füßen zu treten. Abschließend ist die Frage anzusprechen, ob zwischen der menschlichen Würde und der Selbstliebe des Menschen ein Zusammenhang besteht, eine Frage, die man als heikel oder jedenfalls als vertrackt empfinden mag. Der Grund für diese Empfindung dürfte im gegenwärtig verbreiteten Vorverständnis der menschlichen Existenz-Gestalt liegen, nach dem die Selbstliebe des „Menschen“ bestenfalls ein Irrtum ist. Wahrscheinlicher dürfte es sein, daß es sich bei dieser Behauptung um so Etwas wie einen frommen Schwindel handelt. Denn jedes Sichlieben besteht zuletzt doch nur als Selbstsucht, also als Egoismus, wie die herrschende Meinung lautet. Er besteht in einem Sicherhalten, Sichbehaupten und Sichsichern ohne Rücksicht auf die Menschen, mit denen eine menschliche Existenz-Gestalt in einer Beziehung steht. Meinungen über Selbstlosigkeit oder gar über Selbstverleugnungen nehmen eine seelische Subjektivität an, die es nach dem modernen „Menschen“-Verständnis nicht gibt, es sei denn als seelische Erkrankung. Die Bemühungen, das menschliche An-undfür-sich-Sein aufzulösen, scheinen ihr Ziel erreicht zu haben. Ein Sichlieben der humanen Existenz, das dem erörterten Sichbefinden des Menschen entspricht, wird also verneint. Die angedeutete Beurteilung der menschlichen Existenz-Gestalt als würdiges Selbstsein durch sich selbst wie durch die Menschen, zu denen es sich verhält, dürfte nicht zuletzt die problematische „Menschen“- und Sittenlehre Kants befördert haben. Wohl ist es richtig, daß Kant das, was die Tradition Selbstliebe nennt, nicht unbekannt gewesen ist. Er spricht von ihr als einem „Wohlgefallen an sich selbst“403. Aber bereits seine andere Sprache läßt aufhorchen. Denn das, was jetzt als Sich-Wohlgefallen bezeichnet wird, hat mit dem, was der Name der Selbstliebe meint, wenig zu tun. Wohlgefallen an sich selbst benennt nicht mehr als das Gefühl der Achtung, das der „Mensch“ gegenüber dem Gesetz empfindet. Es besteht „als Wirkung des Gesetzes“, „nicht als Ursache desselben“404 Worauf es ankommt, ist allein die Vorstellung der Ursachen. Ihr entsprechend, sucht der „menschliche“ Wille „sich selbst zum Handeln zu bestimmen“405. Also urteilt Kant: „Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut“406. Denn indem die Achtung des Gesetzes zum Gesetz führt, mißachtet sie den Achtenden, also die „menschliche“ Existenz-Gestalt, die liebend sich zu sich selbst verhält oder, mit Friedrich Schiller (1759–1805) gesprochen, die in sich die Neigung verspürt. 403 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen B-Auflage 1794), (Edition Meiner), Hamburg 2003, S. 59. 404 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 405 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 406 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785),
Vernunft (1793/ a. a. O., S. 19. a. a. O., S. 50. a. a. O., S. 19.
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Die Lehre Kants, daß der „Mensch“ als Zweck an sich selbst besteht, der seine Erfüllung allein in seinem guten Willen findet, indem er der Autonomie der reinen praktischen Vernunft gehorcht, also dem sich selbst gegebenen allgemeinen (Sitten-)Gesetz, ist alsbald kritisiert worden und wird bis heute kritisiert.407 Dennoch ist Kants Lehre vom würdigen Existieren der menschlichen Existenz-Gestalt nach wie vor lebendig. Sie zählt zu den verschiedenen, gegenwärtig sich findenden Auffassungen, die mit der Kantischen zwar nicht in der Begründung, wohl aber im Ziel übereinstimmen, nämlich im Sichbejahen der menschlichen Existenz-Gestalt als Grund der Würde der humanen Existenz, d.h. sich nicht preiszugeben. Zu diesen Meinungen zählt zum ersten der sogenannte Altruismus. Er meint, daß es darauf ankommt, zuerst und des weiteren an das Wohl des anderen „Menschen“ zu denken. Indem jedermann sich solchermaßen selbst hintanstellend verhält, seinem Egoismus also abschwört, führt er ein menschenwürdiges Leben. Übersehen wird in diesem Fall, daß der Egoismus des „Einzelnen“ durch den Egoismus der „Gesellschaft“ ersetzt wird. Dem Altruismus ähnlich ist die Philanthropie. Sie meint, daß der „Mensch“ nur dann ein würdiges Leben führt, wenn seine Existenz sich dem Menschengeschlecht hingibt. Wie man jedoch leicht erkennt, ist dieser Universalismus kaum verwirklichungsfähig. Er ist phantastisch und zerstört dadurch das konkrete Verhältnis der menschlichen Existenz-Gestalt zu sich selbst. In einer gemilderten Form wird schließlich behauptet, daß die Würde des Menschen in ihrem Mitleid besteht. Mitleid heißt Einfühlung in fremdes Leid, und es versucht, dieses Leid zu überwinden. Daß das Ertragen von eigenem Leid bisweilen als vorrangig geboten sein kann, will die Lehre vom Mitleid nicht wahrhaben. Die erwähnten Einwände gegen die Selbstliebe sind kein Anlaß, auf ihre Bestimmung zu verzichten. Wie es scheint gestattet erst eigentlich die Besinnung auf sie, die eingangs erwähnten Gründe, die für die Selbstliebe sprechen, in ihrem Gehalt zu erkennen. Man wird sie entweder als Elemente des ersten Ursprungsgrundes der Bejahung der menschlichen Existenz-Gestalt durch sich selbst auffassen müssen oder als zweite Ursprungsgründe der menschlichen Selbstliebe, die ihren ersten Ursprungsgrund zur Voraussetzung haben. Die erwähnten Begründungen der Würde der humanen Existenz in ihrer Geschöpflich-
407 Vgl. z. B. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer–Herbst 1884; ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 11, Berlin/New York und München 1967–1977, S. 172: „Schopenhauer hat sich mit Recht lustig gemacht über Kants ,Zweck an sich‘ ,absolutes Soll‘ ,absoluter Werth‘ als über Widersprüche: er hätte das ,Ding an sich‘ hinzuthun sollen.“ – Unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung, also unter dem Gesichtspunkt der Teleologie, findet sich die Kritik an Kant z. B. bei Robert Spaemann/Reinhard Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981, S. 105: „Die Inversion dieser Teleologie besteht darin, daß die Struktur der Selbsttranszendenz auf die Endlichkeit zurückgebogen wird, wodurch die Selbsterhaltung gleichzeitig als einzig mögliches telos übrigbleibt.“
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keit, in ihrem Bestand als Person sowie in ihrem Bestand als Idee ihrer Humanität ordnen sich danach in einem einsichtigen gläubig-vernünftigen Erkenntniszusammenhang. In einem Fall des Erkennens, wie dem anstehenden, muß man die Erfahrung befragen. Etwas erfahren heißt, Gegebenes entgegenzunehmen. Für die menschliche Existenz-Gestalt besteht die Erfahrung ihrer selbst in der erkennenden Entgegennahme bald ihrer natürlichen Natur, bald ihrer geistigen Natur bzw. in deren Einheit. Stellt man die Frage, wie die natürliche Natur der menschlichen Existenz-Gestalt die Selbstliebe erfährt, so bekommt man die Antwort: Selbstliebe ist „die aus dem Selbsterhaltungstrieb hervorgehende Neigung des Menschen, sich selbst zu achten und geltend zu machen, die in sich nicht verwerflich ist, soweit sie nicht in Selbstsucht ausartet“408. Die Antwort auf die Frage nach der geistigen Natur des sich selbst liebenden Menschen heißt: „Selbstliebe als Annahme und Verwirklichung der eigenen Existenz ist ein wesentliches Moment menschlicher Verantwortung. Dazu gehört die Fähigkeit der Selbstbehauptung und des Widerstandes gegen unberechtigte Übergriffe anderer, also die Sorge um das eigene Leben und die Gesundheit, die Wahrung der verschiedenen Rechte der Freiheit, des Eigentums, des guten Rufes, usw.“409 Bald in einem mehr natürlichen und bald in einem mehr geistigen Sinn aufgefaßt, existiert die menschliche Existenz-Gestalt als sich selbst liebend in einem uranfänglichen Bestand des Menschen im konkreten Sinn. Als diese ist sie ein elementarer Urbefund, nämlich der Liebe des menschlichen Seins. Ein besonderes Urteil an kritischer Stelle, das bemüht ist, das, was man als Liebe zu benennen hat, beim Namen zu nennen, lautet wie folgt: Liebe „erschließt als geistsinnlicher Totalakt des Menschen Personen, auch die eigene, und nichtpersonales Seiendes als wert und würdig, um seiner selbst willen da zu sein“410. Liebe besteht also im Bejahen von Etwas bis hin zur schöpferischen Zustimmung zu ihm. Nach der überkommenen Überzeugung äußert sich dieses wertschätzende Wohlwollen in einer dreifachen Weise. Liebe manifestiert sich als Gottesliebe, als Nächstenliebe und als Selbstliebe. Faßt man den Vollzug des Liebens der menschlichen Existenz-Gestalt ins Auge, so gilt von seiner Ordnung: „Die Selbstliebe ist der Liebe zu Gott und des Nächsten nicht entgegengesetzt, sondern deren Voraussetzung.“411 Mit der Behauptung, daß die Selbstliebe die Voraussetzung zunächst der Gottesliebe und sodann der Nächstenliebe 408 Armin Regenbogen/Uwe Meyer, Art Selbstliebe, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1989, S. 598. 409 Hans Rotter, Art. Selbstliebe, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 350. 410 Georg Scherer, Art. Liebe, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkardt (Hrsg.), Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen, Stuttgart/Weimar 1996, S. 297. 411 Alexander Willwoll, Art. Liebe, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 225.
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ist, wird benannt, worin ursprünglich die Würde der humanen Existenz besteht. Sie findet sich fernab aller ihrer sonstigen Bestimmungen als der Urakt ihrer Bejahung durch sich selbst.412 Die Untersuchung abschließend, die wie keine andere der herrschenden Soziologie, die als Soziologismus sich mißversteht und deswegen die Natur der humanen Existenz bzw. der menschlichen Existenz-Gestalt von Grund auf verkennt, sollte nicht auf den Hinweis verzichtet werden, daß das Nachdenken über die Selbstliebe sich schon in den Anfängen der Besinnung über das menschliche Sein auf sich selbst findet. Es weiß um die Selbstliebe und um den Unterschied zwischen ihr als dem Grund der Würde der humanen Existenz und der Selbstsucht als dem Grund des Verstoßes gegen sie: „Der Begriff ,Selbstliebe‘ hat seine Vorformen in Formulierungen griechischer Tragiker wie der, daß jeder Mensch ,sich selbst Freund‘ . . . ist oder ,sich selbst mehr als den anderen liebt‘ . . . Daneben ist aber auch eine Selbstliebe . . . bekannt, die edel ist und der ,gewinnsüchtige Motive fremd sind‘. Vielleicht geht dies auf Diskussionen im Umkreis des Sokrates zurück. Platon lehrt eine Tugend, durch die ,wir uns selbst und den Göttern Freund werden‘ . . . In seinem Spätwerk bezeichnet er aber die ,übergroße Selbstliebe‘ . . . als das allergrößte übel und die Ursache aller Fehltritte, weil sie für das Gerechte blind mache. Aristoteles stellt die Frage, ,ob man sich selbst am meisten lieben solle . . . oder einen anderen‘. Versteht man ,selbstliebend‘ . . . im gewöhnlichen Sinn als Streben nach Geld, Ehre und körperlichen Genüssen, so ist dies zu tadeln. Wer sich aber um das Gerechte und alle anderen Tugenden bemüht, ist in ,einem höheren Grad selbstliebend‘ . . . denn er beansprucht ,für sich das Schönste und Beste‘, und deshalb wäre er zu loben.“413 III. Der Mensch in seinem Denken
Die dritte mögliche Ausprägung der menschlichen Existenz-Gestalt ergibt sich aus dem stimmigen Zusammenhang der Existenzkategorien des Dinges, des Erkennens, der Behauptung und der Komplexität. Jede dieser Existenzialien ist in ihren verschiedenen Bedeutungen zu verstehen. Beurteilt die Erkenntniskritik die Gründe, aus denen diese gegenüber jener Bedeutung vernünftig ist, so umfassen sie als Existenzialien die Vieldeutigkeit der menschlichen ExistenzGestalt. Der mittelalterliche Realismus kleidete sie in die Formel des homo dissimilis sibi, d.i. daß der Mensch für sich in ungleichartiger Weise existiert. Unter gewandelten Bedingungen spricht die heutige Wissenschaftssprache von der Identitätsproblematik des „Menschen“. Es sei vorgeschlagen, den Bestand, der durch die genannten Existenzialien gekennzeichnet ist, durch den Inbegriff des 412 Daß das abendländische Denken auch den tragischen Gegenzug in sich enthält, darf nicht unerwähnt bleiben. Bekannt ist das Zeugnis des Sophokles in seinem Oidipos auf Kolonos, 1224 f: „Am besten ist es, überhaupt nicht geboren zu werden.“ 413 Ulrich Dierse, Art. Selbstliebe, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 461.
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Menschen in seinem Denken zu bezeichnen. Mit ihm ist im Unterschied zum bevorzugten natürlich-seelischen und zum menschlich-seelischen Existieren jene Herausbildung der menschlichen Existenz-Gestalt gemeint, die man als geistigseelisch bezeichnen kann. Die als geistig existierend benannte menschliche Existenz-Gestalt meint dasjenige menschliche Existieren, das seine Existenz als Befindlichkeit und seine Existenz in Würde seinem Existieren als Denken sich einordnet, wenn nicht unterordnet. Der inbegriffliche Ausdruck des Menschen in seinem Denken ist erklärungsbedürftig. Deswegen soll im folgenden versucht werden, anzugeben, was er in seinen heute zumeist verwendeten Bedeutungen besagt. Sie finden sich in einem alltäglichen Sinn, im Sinn des philosophischen Realismus, im Sinn der herrschenden Psychologien und schließlich in den verschiedenen Bemühungen des Unterscheidens zwischen Denken und Bewußtsein. Die anfänglich gestellte Frage, was es mit dem Denken auf sich hat, wird zum Beispiel wie folgt beantwortet: Denken ist „das innerliche, aktive Schalten und Walten mit den eigenen Vorstellungen, Begriffen, Gefühls- und Willensregungen, Erinnerungen, Erwartungen usw.“ Das Ziel, das das denkende Tun verfolgt, besteht darin, „eine zur Meisterung der Situation brauchbare Direktive zu gewinnen“414, also in einer Anleitung, Etwas zu bewältigen. In diesem weiten Verständnis mag die Ansicht begründet sein, daß das Wort Denken nicht nur ein Ausdruck ist, der aus fachlichen Rücksichten gebildet wurde. Es ist vielmehr ein „Grundwort auch der Umgangssprache“415. Sein Sinn wird vielfach auch dann gemeint, wenn der Ausdruck des Denkens selbst gar nicht verwendet wird: „Der Imperativ ,Denk daran!‘ ist für uns so leicht zu befolgen wie die Aufforderung ,Bring das mit!‘; die Frage ,Was denkst du?‘ so verständlich wie ,Was machst du da?‘.“416 Der Befund, daß der Mensch sich jederzeit und allerorten „denkerisch“ verhält, scheint der Grund zu sein, aus dem viele Autoren davon überzeugt sind, daß eine aufzählende Beschreibung jenes „aktiven“ und damit von jedem „passivem“ unterschiedenen Tun die angemessene Bestimmung des Denkens ist. Eine von ihnen lautet wie folgt: „Denken (gr. noein, lat. cogitare, verwandt mit altlat. tongere ,wissen‘), im weitesten Sinn jedes aktive seelische Verhalten des Menschen im Unterschied zum Empfinden, Hingegebensein an Eindrücke, Waltenlassen von Bildern usw. So wird im allgemeinen Sprachgebrauch oft schon das Verweilen bei flüchtig auftauchenden Erinnerungsbildern, wobei man ,an gar nichts denkt‘, das anschauliche Vorstellen, das Vermuten (Dünken), Sicherinnern (Danken), Glauben, Hoffen, aber auch das willentliche Gerichtetsein auf Etwas, das Vorhaben, Beabsichtigen usw. Denken genannt. Ebenso nennt man das Zusammenwirken, die Gesamtheit dieser einzelnen 414 Georgi Schischkoff, Art. Denken, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 199122, S. 125. 415 K. Foppa, Art. Denken, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2, Basel 1972, Sp. 61. 416 Karl Friedrich Graumann, Denken im vorwissenschaftlichen Verständnis, in: ders. (Hrsg.), Denken, Köln/Berlin 1965, S. 15.
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seelischen Verhaltensweisen das Denken eines Individuums und meint damit seine Gesinnung, seinen Charakter. Wenn ich von einem Menschen weiß, ,wie er denkt‘, so weiß ich auch, wie er sich in einer verantwortlichen Lage verhalten wird.“417
Eine Bestimmung des Denkens, wie die wiedergegebene Beschreibung, gilt im alltäglichen bzw. im ursprünglichen Sinn. Wissenschaftlich wird sie zumeist als unbefriedigend empfunden. Ihre Ablehnung erklärt sich in der Regel aus dem Mangel einer Ordnung der Merkmale des Denkens. Also begrüßt man dankbar, was als Hilfe der Einteilung des Denkens dienlich sein könnte. Zumeist ist von drei Grundsätzen die Rede. Der erste Grundsatz unterscheidet zwischen dem, „was“ gedacht wird und dem, „daß“ gedacht wird. Denken meint demnach das Denken von Etwas und das Sich-Denken von Etwas. Der zweite Grundsatz unterscheidet zwischen dem Denken als einem Hervorbringen und dem Denken als einem Hervorgebrachten. Denken meint einerseits den Vorgang des denkenden Tuns und andererseits dessen Ergebnis, also das Denken als das Gedachte. Nach einem dritten Grundsatz ist Denken ein Auffassen. Als ausdrückliches meint man, es als Denken bezeichnen zu sollen, als nichtausdrückliches wird es zumeist als Im-Bewußtsein-Haben benannt. Denken ist dieser Unterscheidung zufolge verschieden nach seinem Gegenstand, nach seinem Vollzug und nach seiner Innerlichkeit.418 Mit diesem Suchen nach den ordnenden Merkmalen wagt die Besinnung über das Denken sich über ihr alltägliches Verständnis hinaus. Daß unsere hohe Kultur maßgeblich eine Auffassung des Menschen als eines denkenden Wesens ist, wurzelt in einer Erkenntnis des Denkens, die reflektierend geleistet wird. Diese Einsicht spricht über das Denken zumindest unter drei Gesichtspunkten: Denken ist zum ersten ein Befund, der sich zum Sein verhält; Denken ist zum zweiten ein Befund, der sich zu sich selbst verhält; Denken ist drittens ein Befund, der sich anders als körperlich verhält. Das Bemühen um die Bestimmung dieser Verhältnisse reicht in unserer Kultur weit zurück. Erstmals wohl in der Formel des Pythagoreers Alkmaion (um 500 v. Chr.) benannt, daß der Mensch ein Wesen ist, das ein Organ besitzt, auf das sich bezieht, was man sein Denken nennen muß, entwickelt der eleatische Philosoph Parmenides (515/510–450?) in seiner Lehre von der Realität als dem Seienden, auf das sich das Denken richtet, seine folgenreiche Auffassung des Denkens. Platon (427–347) und der Platonismus sowie Aristoteles (384–322) und der Aristotelismus bestimmen schicksalhaft, was als Denken zu begreifen ist, wodurch festgelegt wird, welche „Ideale“ die menschliche Existenz-Gestalt von sich selbst entwickelt.
417 Johannes Hoffmeister, Art. Denken, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 19552, S. 154. 418 Ähnlich Gottfried Seebaß, Art. Denken, in: Friedo Ricken (Hrsg.), Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik, München 1984, S. 38 f., ohne daß die Ordnungsgesichtspunkte jedoch benannt würden.
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Wollte man die Merkmale angeben, durch die Platon das Denken bestimmt, so könnte dies wie folgt geschehen. Durch Parmenides beeinflußt, lehrt Platon zum ersten, daß alles Denken ein Denken eines Bestandes ist. Des genaueren benannt, ist dieser Bestand nicht von der Art des Wahrnehmbaren, sondern ein Bestand entsprechend seiner Idee. Denken richtet sich also auf Etwas in seiner Urbildlichkeit, nicht auf ein abbildliches Etwas. Seinen Bezug auf das Urbildliche besitzt das Denken, weil es selbst urbildlich beschaffen ist. Es vermag sich nämlich selbst zu durchdringen. Im denkenden Gespräch mit sich und der Welt erfaßt der Mensch keine äußeren Begebenheiten. Vielmehr denkt er sie lautlos in ihrem ursprünglichen Existieren. Oder mit den Worten Platons gesagt: „Denken also und Aussagen sind dasselbe, nur daß das erstere ein Gespräch der Seele innerlich mit sich selbst ohne sprachliche Äußerung ist, weshalb es denn eben den Namen von uns erhielt: denken.“419 Im Denken, das so beschaffen ist, offenbart sich nicht weniger als die Unsterblichkeit des Menschen. Denn als sich denkende ist die humane Existenz eine ewige Existenz. Sie vergeht nicht, wie alle übrigen Wesen dieser Welt. Weil der Mensch denkt, bleibt er im Sein. In diesem Bleiben gründet auch der Vorzug gegenüber dem Streben des Menschen. Nur weil er Etwas erkennt, kann er auch Etwas erstreben. Was Platon über das Denken lehrt, macht sich Aristoteles zueigen. Wenn es einen Unterschied zwischen diesen Philosophen gibt, dann den, daß die Aufmerksamkeit des Aristoteles weiteren sorgfältigen Untersuchungen gilt. An jenem Grundsatz des Verhältnisses zwischen dem Denken und dem Sein festhaltend, meint Aristoteles einerseits ein aktives und andererseits ein passives Denken unterscheiden zu müssen. Das Denken ist nicht nur hinnehmend, sondern auch ergreifend beschaffen. In der Folgezeit wird seine Lehre von der Seele jedenfalls in dieser Weise gedeutet. Der nous, d.i. das Denken, ist nicht nur pathêtikos, d.i. leidend, sondern auch poiêtikos, d.i. schaffend. Eine zweite Unterscheidung betrifft die Verschiedenheit des Denkens von dem, was man heute – jedenfalls bei einem genauen Sprachgebrauch – als Bewußtsein zu benennen pflegt. Denken bezeichnet bei Aristoteles das Begreifen, also das geistige Erkennen. Hiervon unterschieden ist das geordnete Hinnehmen von Wahrnehmungen: „Hinsichtlich des Seelenteils, mit dem die Seele erkennt und denkt, mag er abtrennbar sein oder auch räumlich nicht abtrennbar, sondern nur gedanklich, muß geprüft werden, was er für ein unterscheidendes Merkmal trägt und wie das Denken zustande kommt. Wenn sich denn das Denken mit dem Wahrnehmen vergleicht, ist es ein Erleiden . . .“ Demgegenüber muß der geistige „Seelenteil leidensunfähig sein, aber fähig, die Form anzunehmen und der Möglichkeit nach so sein wie die Form . . ., und es muß sich, wie das Vermögen der Wahrnehmung zu den Wahrnehmungsgegenständen, so der denkende Geist zu den Denkgegenständen verhalten.“ So besitzt der denkende Geist „auch keine 419
Platon, Sophistes, (Edition Meiner), 263.
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andere Natur als diese, daß er Vermögen ist. Der sogenannte Geist der Seele – ich nenne Geist das, womit die Seele nachdenkt und vermutet – ist der Wirklichkeit nach, bevor sie denkt, nichts von den Dingen.“420 Nach der Überzeugung des Aristoteles wird im Denken also zum ersten Wesentliches zum einen gedacht und zum anderen erdacht. Deswegen ist das Denken, zweitens, unterschieden vom Wahrnehmen. Es besteht als ein Hinnehmen des Wahrnehmbaren, weshalb es von ihm auch abhängig ist. Zusammengenommen verweisen diese Unterschiede, drittens, das Denken der menschlichen Existenz-Gestalt auf das Denken schlechthin. Es besteht in der noêsis noêseo¯s, d.i. im Denken des Denkens, also im wirksamen geistigen Sein.421 Aristoteles bildet seine Lehre vom Denken des Menschen nicht nur im angedeuteten materialen Sinn aus, also als Lehre vom subjektiven Innewerden von Etwas in Wahrheit. Er gab ihr auch ihre Gestalt im formalen Sinn, d.h. hinsichtlich der Denkinhalte in sich, hinsichtlich ihres inneren Aufbaus, hinsichtlich ihrer Formen als Begriff, Urteil und Schluß und hinsichtlich ihrer gegenseitigen notwendigen Beziehungen. Zumal diese formale Logik behauptete sich durch die Jahrhunderte und sie behauptet sich bis heute. Es ist der neuzeitliche erkenntnistheoretische Idealismus, der den aristotelischen Realismus in Frage stellt. Seitdem wächst freilich die Verlegenheit, was der Name des Denkens eigentlich bezeichnet. Als deren Folge werden nur noch einige wenige Merkmale benannt, deren jeweiliger Gehalt aber zugleich bestritten wird. Wie es scheint, erschöpft sich die Kennzeichnung des Denkens in einigen Bezügen, die es zu dem von ihm Gedachten besitzt. In diesem Sinn wird es zum ersten bestimmt durch seine Bezüge, die es eher zum Allgemeinen als zum Besonderen besitzt. Zum zweiten werden seine Bezüge zur Sprache benannt. Drittens ist das Denken ausgezeichnet durch seine Bezüge, die es zum Menschlich-Inneren unterhält. In einer bald mehr, bald weniger rücksichtslos vollzogenen Abwendung von der Geistigkeit des Menschen wird sie im physiologischen Sinn als Gehirn und im psychologischen Sinn als Mentalität betrachtet. Viertens zeichnet das Denken sich durch seine Bezüge aus, die es zu den Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnisgegenstände besitzt. Nicht nur schnöde Urteile sehen in diesen Bestimmungen eine Willkür am Werk. Deswegen halten die folgenden Angaben der Merkmale des Denkens an jener Auffassung fest, wie sie der kritische Realismus entwickelt und bewahrt hat und beachtlich gut bis heute verteidigt. 420 Aristoteles, Peri psychês, Über die Seele (Edition Grumach/Flashar), 429a; vgl. auch a. a. O., 430a, 431a und 432a. 421 Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1074b; verdeutlichend heißt es a. a. O. z. B. 1072b: „Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst erkennt die Vernunft in Ergreifung des Intelligiblen; denn intelligibel wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, so daß Vernunft und Intelligibles dasselbe sind.“
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Als reale Definition des Denkens, wie es die idealrealistische Tradition begreift, kann die folgende Auffassung gelten: „Denken ist die auf Seiendes als solches und seine Sinnbeziehungen gerichtete unanschauliche Erkenntnisweise.“422 Die Bestandteile dieser Definition sind hinsichtlich des Denkens an sich selbst wie hinsichtlich anderer Arten des Erkennens des Menschen wesentlich. Hinsichtlich seiner selbst betrachtet, zielt das Denken zum ersten „auf Seiendes als solches“. Deswegen ist es ausgerichtet beispielsweise weder allein auf das Sosein von Etwas noch auf dieses Etwas als Erscheinung. Zählt jenes Sosein zu den ersten Ursprungsgründen von Etwas, so diese Erscheinung zu den Gegebenheiten der äußeren Erfahrung. Denken richtet sich im Grundsatz auf das, was ist, insofern es ist. Zum zweiten: Wenn gesagt wird, daß das Denken sich auf die „Sinnbeziehungen des Seienden“ bezieht, so meint das, daß es danach trachtet, letzte Bestimmungen von Etwas zu erfassen. Zum Beispiel sind Sosein und Dasein solche letzte Bestimmungen. Zu ihnen zählen auch die inneren Aufbaugründe der körperlichen Welt, also der Wirklichkeit im Unterschied zur Möglichkeit oder die sogenannten transzendentalen Relationen, also diejenigen Beziehungen, ohne die Etwas nicht sein kann, zum Beispiel, daß ein Fisch nur im Wasser, nicht auf dem Land leben kann. Zum dritten wird das Denken als unanschaulich bezeichnet. Gemeint ist der Unterschied zur Anschaulichkeit des sinnlichen Erkennens. Ob der Mensch eine geistige Anschauungskraft besitzt, gehört zu den andauernden Streitfragen. Endlich wird das Denken als Erkennen bestimmt. Erkennen im weitesten Sinn „ist jener dem Menschen unmittelbar aus seinem Bewußtsein bekannte Lebensvorgang, bei dem der Erkennende (das Subjekt) das Erkannte (das Objekt) so auf tätige Weise in sich hat, daß er es in dieser tätigen Einheit mit sich zugleich sich entgegensetzt. Erkenntnis bedeutet die erstaunliche Tatsache, daß ein Seiendes, das Erkennende, nicht nur unter anderen Seienden vorhanden ist, sondern gleichsam sich selbst leuchtend (transparent), sich ,seiner selbst bewußt‘ und so ,bei sich‘ ist, zugleich aber auch sich über sich selbst hinaus weitet, indem es das Andere in sich widerspiegelt und so ,in gewisser Weise alles wird‘, wie Aristoteles sagt.“423 Faßt man das Erkennen im weitesten Sinn auf, also nicht nur im Sinn des Vollzugs des geistigen Erkennens, läßt sich der Mensch in seinem Denken als durch sein Begreifen bestimmt verstehen. Es lohnt sich, die zeitgenössische Lehre von den Grundgestalten der menschlichen Existenz-Gestalt an dieses Begreifen zu erinnern: „Etwas begreifen heißt zunächst etwas durchschauen, ihm bis auf den Grund schauen. Was ganz begriffen ist, wird so geschaut, wie es ist, d.h. von seinem Grund her, aus dem es erwächst. Da aber das Kontingente den zureichenden Grund 422 Alexander Willwoll, Art. Denken, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 59. 423 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 90.
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seines Seins nie in sich selbst, sondern immer in einem anderen, seiner Ursache, hat, heißt einen kontingenten Sachverhalt begreifen, ihn aus seinen Ursachen zu erkennen. Dem Begreifen von Naturerscheinungen dient zunächst das Erklären oder die Zurückführung auf notwendige Naturursachen und Naturgesetze, ergänzend aber auch das Verstehen aus der Teleologie; dem Begreifen des geistigen Seins die Zurückführung auf Ziele und geistige Individualität oder das geisteswissenschaftliche Verstehen. Soll etwas Kontingentes vollständig, d.h. nicht nur in dieser oder jener Eigenart, sondern in seiner Kontingenz selbst begriffen werden, so muß der Rückschritt zur letzten, aus sich notwendigen Ursache geschehen. Für das Begreifen von wesensnotwendigen Zusammenhängen sagt man meist: einsehen; die Wesensbeziehungen selbst sind einsichtig. Dem Begreifen auf Seiten des Verstandes entspricht die Begreifbarkeit der Gegenstände. Die Frage ist, ob die Gegenstände in ihrer Gesamtheit oder das Seiende als solches begreifbar sind. Auf jeden Fall darf die dem Seienden als solchem wesenhafte Begreifbarkeit nicht bloß auf den menschlichen Verstand bezogen werden. Sie geht auf den Verstand überhaupt und betrifft daher in erster Linie den reinen und unendlichen Verstand Gottes. Für ihn allein gibt es eine restlose Begreifbarkeit alles Seienden, da er sich selbst wegen der vollständigen Identität von Erkennen und Sein vollkommen einsichtig ist, alles andere aber von seinem tiefsten Grund her durchschaut, sofern es aus ihm (und seiner freien Willenssetzung) erfließt. Das Prinzip der durchgängigen Begreifbarkeit alles Seienden kennzeichnet den metaphysischen Idealismus.“424
Das Denken, das der Realismus als Begreifen versteht, zeichnet sich durch charakteristische Merkmale aus. Zusammenfassend könnte man sie zum einen als Elemente und zum anderen als Vollzugsweisen des Denkens bezeichnen. Als Elemente, also als ursprüngliche Bestandteile des Denkens gelten die Akte des Erfassens von Etwas, die Stellungnahme gegenüber dem Erfaßten und das Urteil über das, was im Denken erfaßt wurde. Als Akte des Erfassens werden in der Regel drei Bestände des Denkens angesehen. Der erste von ihnen ist die Einsicht in das Verhältnis des Wesens zwischen diesem und jenem Ding. Wird in einem ersten Schritt dieses und jenes Was-Sein in einer Vorstellung gedacht, so vergleicht ein zweiter Schritt das Gedachte miteinander. Ist die Beziehungseinheit hergestellt, schreitet das Denken voran zur Ausbildung von Begriffen. Wurden zum Beispiel Hans und Grete bis jetzt als etwas Verschiedenes aufgefaßt, so wird nunmehr Hans im Begriff des männlichen Menschen und Grete im Begriff des weiblichen Menschen gedacht. Dieser Begriffsbestimmung schließt sich die Schlußfolgerung an. Weil es sich in jenem Fall um ein männliches menschliches Wesen und in diesem Fall um ein weibliches menschliches Wesen handelt, könnte gefolgert werden, daß sie einander heiraten wollen oder daß sie schon miteinander verheiratet sind. Das stellungnehmende Denken steht vor der Frage, ob dieser oder jener Schluß berechtigt ist. Der letzte Bestand des Denkens besteht in der Urteilszustimmung. Sie behauptet, daß das Ist-Sagen nach der Be424 Walter Brugger, Art. Begreifbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 38.
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ziehungseinsicht, der Begriffsbildung und der Schlußfolgerung sowie der Stellungnahme zu ihnen zu Recht besteht. Zusammenfassend werden die ursprünglichen Bestandteile auch als Problemlösen bezeichnet. Daß dieser Ausdruck der zeitgenössischen fachwissenschaftlichen Psychologie nicht ungeläufig ist, ist nicht unbekannt. Er wird jedoch in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Von den Elementen des Denkens sind verschieden dessen Vollzugsweisen, also nicht die Bestandteile, sondern die Verwirklichungen des Denkens. Daß zum ersten das Denken in einem ruhigen Hinschauen auf Etwas besteht, ist aus dem Bewußtsein gewiß und durch die Reflexion erschließbar. Beide Erkenntniseinstellungen bemerken, daß das Denken auch als ein Suchen und in einem Voranschreiten besteht. In der wissenschaftlichen Sprache heißt dieses Vorgehen des Denkens diskursives Denken. Von ihm als dem erforschenden Denken verschieden ist das Denken als ein nachschaffendes Verstehen der Dinge, wie sie sich darbieten. Das Bemerkenswerte an diesem Verstehen besteht darin, daß es bereits Verstandenes mit neu Verstandenem verknüpft. Von diesem reproduktiven Denken verschieden ist das kreative Denken. Es ist fähig, im Denken Erfaßtes zu einem noch nicht Bestehenden zu vereinen. Im Unterschied zur ursprünglichen Schöpfung ist das schöpferisch denkende Wirksamsein „jede Hervorbringung, bei der etwas Neues aus den aufgenommenen Bestandteilen nicht völlig Ableitbares in die Erscheinung tritt. In diesem Sinne muß man die dem geistigen Leben eigentümliche Regsamkeit als schöpferisch bezeichnen.“425 Daß die Erforschung des Menschen in diesem Denken und damit auch diese Art des Denkens nicht im Mittelpunkt der Erforschung des Gesellschaftsdenkens steht, ist nicht unbekannt. Tatsächlich dürften die Zukunftsprobleme der Psychologie und der Soziologie der humanen Existenz in diesen Befunden liegen. Als denkende humane Existenz ist sie nicht nur ein Begreifen ihrer selbst als menschliche und als gesellschaftliche Existenz-Gestalt, sondern auch ein Entwerfen, Ausdrücken, Gestalten, Deuten und Formulieren ihrer selbst. Über dieses sogenannte wirkliche Denken und seine, im Alltag sich findenden Voraussetzungen, ist im folgenden noch zu sprechen. Das Denken, das sich als Begreifen bestimmen läßt, ist das Denken des Menschen, das eingebunden ist in dessen sinnliches Erfassen der Dinge. Aristoteles folgend, unterscheidet der Realismus zwischen der äußeren und der inneren Sinneserkenntnis. Als äußeres sinnliches Erkennen gilt dasjenige Erfassen von Etwas, bei dem ein menschliches Sinnesorgan beteiligt ist. Aristoteles zählt sie auf und spricht vom Auge, vom Ohr, von der Nase, vom Mund und vom Tastsinn.426 Die innere Sinneserkenntnis erklärt sich aus sinnlichen Einwirkungen 425 Viktor Naumann, Art. Schöpfung, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 340. 426 Vgl. Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 424b.
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auf das menschliche Zentralorgan, also auf das Gehirn. Mit Aristoteles werden heute zumeist fünf innere Sinne unterschieden, nämlich der Gemeinsinn, die Phantasie, das Gedächtnis, die Schätzungskraft und – bei der humanen Existenz – die Gestaltungskraft. Jenseits der eigenen Leistungen, die sie erbringen, besitzen die inneren Sinne die Fähigkeit, das Empfindungs- bzw. das Wahrnehmungsmaterial zu ordnen und zu formen, das die sinnlich erkennende humane Existenz in sich aufgenommen hat. Ein Ton, der gehört worden ist, eines Instrumentes, das gesehen worden ist und zwar an dieser ertasteten Stelle usw. werden zum Beispiel zum Klang einer gezupften Geige vereinigt. Unter dieser zusammenfassenden Rücksicht nimmt unter den inneren Sinnen der Gemeinsinn womöglich den ersten Platz ein. Von Aristoteles als koinê aisthêsis benannt427, übersetzt die lateinisch sprechende gelehrte Welt diesen Ausdruck durch den Namen sensus communis428. Im Deutschen setzt sich dessen Übersetzung in der Wortwahl Bewußtsein durch. Da das Verhältnis der noêsis und der koinê aisthêsis, also das Verhältnis zwischen Denken und Bewußtsein, in der Neuzeit ins Zwielicht geraten ist, sollte nicht darauf verzichtet werden, alsbald auf den Unterschied zwischen Denken und Bewußtsein einzugehen. Die genannte Erklärungsbedürftigkeit ergibt sich nicht zuletzt aus der verbreiteten Meinung, der zufolge die dem Denken der humanen Existenz voraufliegenden Bedingungen ihres Denkens sowohl als Bedingungen dieses Denkens wie auch als Bedingungen ihres Bewußtseins verstanden werden. In jenem wie in diesem Fall handelt es sich nur um verschiedene Namen für ein und denselben Sachverhalt, mag er bald mehr im Sinne der menschlichen Existenz-Gestalt, bald mehr im Sinne der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt verwirklicht sein. Gedanken dieser Art führen jedoch in die Irre. Denn zwischen Denken und Bewußtsein besteht kein Unterschied in den Existenzen des „Menschen“, sondern in der Art ihres Auffassens. Das existentielle a priori, also das Ganze der Bedingungen des geistigen Erfassens, ist nur ihnen eigentümlich. Im weitesten Sinn besteht es im Fall der menschlichen wie der gesellschaftlichen ExistenzGestalt als das Gesamt derjenigen Voraussetzungen, die dem Denken der humanen Existenz zugrunde liegen. Sie werden bemerkt als Denkeinflüsse auf ihre Denkinhalte, auf ihre Erarbeitung sowie auf ihre Ausgestaltung. Weil das so ist, ist es nötig, zwischen Denktemperamenten bzw. Denktypen bzw. Denkgestalten zu unterscheiden. Im anstehenden Zusammenhang kommt es darauf an, diese Probleme hinsichtlich der menschlichen Existenz-Gestalt im Auge zu behalten.
427
Vgl. Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar),
425a. 428 Vgl. z. B. Thomas Leinkauf, Art. Sensus communis. Abschnitt: Die lateinische Tradition sowie Thomas Dewender, Abschnitt Mittelalter, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, Sp. 629–639.
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Von noch größerem Gewicht als die Klärung des existentiellen a priori des Denkens der humanen Existenz ist die Bedeutung der Eigenart ihres Denkens, sei es als Denken ihrer menschlichen oder sei es als Denken ihrer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. In der Erklärung des Begriffs des Denkens als Begreifen ist diese Frage bereits gestreift worden. Das Begreifen der humanen Existenz ist kein Begreifen schlechthin, sondern ein Begreifen, wie es dem Existieren der geistig-körperlich beschaffenen humanen Existenz eigentümlich ist. Die neuzeitliche Lehre vom Denken hat diesen Unterschied weitgehend fallen gelassen. Als humane Geistigkeit gelten Vernunft und Verstand, also die geistigen Fähigkeiten der humanen Existenz als Fähigkeiten ohne Grenzen, sofern sie nicht ausdrücklich als gleichsam göttliche Kräfte verstanden werden, die im profanen Sinn die Gesellschaft besitzt. In der Folge der Ineinssetzung der menschlichen mit der übermenschlichen Geistigkeit wird das ehedem als Liebe zur Weisheit bestimmte Denken zunächst als aufgeklärtes429 und schließlich als absolutes Wissen430 bestimmt. Diesen neuzeitlichen Auffassungen des Denkens entgegengesetzt, hält die realistische Überzeugung an den herkömmlichen Merkmalen des Denkens fest. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ist Denken zwar auf Einsichtiges eingestellt, so bleibt es doch eingebunden in die Sinneserkenntnis der humanen Existenz. Zum zweiten: Greift das Denken zwar über das Gegebene hinaus, so bleibt es ihm doch verhaftet. Drittens: Ist das Denken zwar auf das Denkbare schlechthin bezogen, so ist dieser Überstieg doch mehr ein Ahnen als ein Wissen. In der gelehrten und damit um größere Genauigkeit bemühten Sprache heißen diese Grundsätze: Bezieht das Denken sich zwar auf das Sensible, so ist es doch stets auch auf das Intelligible bezogen. Ist Denken zwar rezeptiv beschaffen, so ist es zugleich von spontaner Natur. Verbleibt das Denken wohl in der Immanenz der Welt, so ist es nicht unfähig, zur Welt in ihrer Transzendenz vorzudringen. Die Neuzeit wird diese polare Beschaffenheit des Denkens der humanen Existenz zunächst in Frage stellen und alsbald leugnen. Als Ergebnis dieser „Kritik des Denkens“ stellen sich die heute herrschenden einseitigen Auffassungen des Denkens ein. Sie bestehen zum ersten als Meinungen der empiristischen Logik einerseits und der rationalistischen Logik andererseits. Denken wird sodann aufgefaßt im Sinn des unbedingt forschenden Geistes zum einen sowie als Bewußtsein, das vom Sein abhängig ist, zum anderen. Denken ist endlich etwas körperlich Abhängiges, dem die Auffassung entgegensteht, daß es ein Konstruieren, also ein Herstellen der Welt ist. Auf die zahlreichen Abwandlungen und Spielarten der Bestimmung des Denkens, die aus den genannten Grundbestimmungen
429 Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung? (1784), in: Paul Menger (Hrsg.), Kants populäre Schriften, Berlin 1911, S. 227. 430 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), (Edition Meiner), S. 549 ff.
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abgeleitet werden, kann hier nur hingewiesen werden. Die Wurzel dieser Gegebenheiten versucht die folgende Übersicht zu benennen: „Durch die neuzeitliche Überführung der Ontologie in Erkenntnistheorie wird der Gegensatz von Denken und Sein revisionsbedürftig, da ,Denken‘ in einem prägnanten Sinn nur als partiell oder durchgängig konstitutiv für die Wirklichkeit gilt. Zugleich wird ,Denken‘ synonym mit ,Bewußtsein‘ und damit vollständig auf den (vom physischen prinzipiell unterschiedenen) mentalen Bereich beschränkt. Diese Entwicklung sucht seit Anfang des 20. Jh. vor allem die Analytische Philosophie zu überwinden. Der Versuch des ,logischen Behaviorismus‘ (Ryle, Wittgenstein), Denken ohne Rekurs auf Mentales zu definieren, muß als gescheitert gelten. Aber auch moderatere behavioristische Explikationsversuche wie die sogenannten ,Analogietheorien‘ des Denkens (Sellars, Aune, Geach) sind wenig befriedigend geblieben, ebenso die versuchte Identifizierung mentaler mit neuronalen Denkereignissen (,moderner Materialismus‘). Ein adäquater Begriff des Denkens steht aus.“431
Über die verschiedenen „nicht-adäquaten Begriffe“ des Denkens, wie sie die gegenwärtige theoretische Philosophie kennt, erfährt man in einem Lehrbuch das folgende: „Seit mehr als einer Generation verlagert sich in der Analytischen Philosophie der Schwerpunkt von der Sprachphilosophie zur Philosophie des Geistes (,philosophy of mind‘). An die Stelle nach dem Verhältnis von Sprache und Welt (,linguistic turn‘) tritt die nach dem Verhältnis von Geist und äußerer Wirklichkeit (,cognitive turn‘). Dabei knüpft man nicht an die hochentwickelten Bewußtseins- und Selbstbewußtseinstheorien von Kant und dem Deutschen Idealismus oder an Husserls Phänomenologie an. Man befaßt sich vielmehr mit dem auf Descartes zurückgehenden Leib-Seele-Problem, jetzt freilich als Körper-Geist-Problem. Und in der Regel folgt man insofern der empiristischen Tradition, als man sich mehr von den ,Naturwissenschaften des Geistes‘ inspirieren läßt: von ,Kognitionswissenschaften‘ wie Linguistik, Psychologie, Neurobiologie und Hirnforschung, auch Informatik.“432
Die ehedem deutlich gezogenen Grenzen zwischen der universalwissenschaftlichen Philosophie des Denkens und der spezialwissenschaftlichen Psychologie des Denkens werden in unseren Tagen also bisweilen absichtlich aufgehoben. Nutznießer dieser Aufhebung sind jene Bemühungen, die unter dem keineswegs klaren Namen der Kognitionswissenschaften sich der Erkenntnis des Denkens widmen. Die einstmals durch ihre unmißverständlich festgelegte Fragestellung zuständige fachwissenschaftliche Psychologie des Denkens scheint sich jedenfalls überfordert zu fühlen, wenn sie sagen soll, was es in ihrem Sinn mit dem Denken auf sich hat. Deswegen erstaunt es nicht, wenn die fachwissenschaftliche Psychologie uneins darüber ist, was sie untersucht, wenn sie vom Denken spricht: „Wie alle wichtigen Grundbegriffe der Psychologie so ist auch Denken 431 Gottfried Seebaß, Art. Denken, in: Friedo Ricken (Hrsg.), Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik, München 1984, S. 39. 432 Otfried Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie. Abschnitt: Zur theoretischen Philosophie der Gegenwart, München 2001, S. 302 f.
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keiner einfachen Definition zugänglich, zu stark gehen hier wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Vorannahmen mit ein – es ist schon ein Problem, ob es überhaupt einen gemeinsamen Nenner aller Denkphänomene gibt.“433 Wenn es um die Psychologie des Denkens derart bestellt ist, dürfte es vertretbar sein, auf eine zusammenfassende Darstellung der Meinungen zu verzichten. Wer das Bedürfnis verspürt, sich den Fragestellungen, Absichten und gegebenenfalls auch Ergebnissen zuzuwenden, sei auf die Stichworte der Informationsverarbeitung, des Problemlösens und der Kognition hingewiesen, die die Grundlagenwerke der Psychologie enthalten. Unter diesen Bezeichnungen scheint der Ausdruck der Informationsverarbeitung wohl die weiteste psychologische Bezeichnung für das zu sein, was herkömmlich Denken genannt wird. Informationsverarbeitung heißt Ordnung von neuen Mitteilungen, die den Empfangenden in seinem Bewußtsein wie in seinem Verhalten ausrichten oder jedenfalls ausrichten können. Enger ist der Begriff des Problemlösens. Ihn hat die denkpsychologische Forschung schon seit längerem ausgebildet. Er bezeichnet in der Regel diejenigen Denkbestände, die herkömmlich Begriffsbildung, Urteil und Schluß heißen. Doch bewegt sich das Denken als Problemlösen keineswegs immer in der Nähe jener Bestände, wie sie die formale Logik kennt. Problemlösen heißt vorzugsweise vielmehr jenes „Denken“, das sich bemüht, ein nicht-durchschautes in ein durchschautes Erleben zu überführen. Zunehmend stellt die fachwissenschaftliche Psychologie endlich die Frage nach den Bedingungen, Vorgängen und Ergebnissen der Kognition. Kognition ist ein anderer Name für geistiges Erkennen, also für das Begreifen. Als kognitive Psychologie findet die Psychologie als Fachwissenschaft den Weg zurück zur Erkenntnis des Denkens als eines einsichtigen Erfassens von Etwas. Damit rückt sie den Menschen in seinem Denken wieder in die Mitte ihrer Erkenntnisabsicht, also hin zur dritten möglichen Ausprägung der menschlichen Existenz-Gestalt. Dem Sachverhalt gehorchend, hat die vorliegende Bestimmung der dritten möglichen Ausprägung der menschlichen Existenz-Gestalt, also des Menschen in seinem Denken, sich darum bemüht, den Ausdruck des Bewußtseins zu vermeiden. Nur einmal ließ seine Verwendung sich nicht umgehen. In einem Zitat, das die wiederholt vorgetragene Auffassung bekräftigen sollte, nach der die Neuzeit die Ontologie zur Erkenntnistheorie umgebildet hat, wurde der Hinweis aufgenommen, daß der Sinn des Ausdrucks des Denkens nunmehr dem des Ausdrucks des Bewußtseins gleichgesetzt wird. Folgt man dieser neuzeitlichen Denk- und Redeweise, dann ist es einerlei, ob man vom menschlichen Denken oder vom menschlichen Bewußtsein spricht. Zumal die aufkommenden Gesellschaftswissenschaften verwenden den Ausdruck des Bewußtseins, wenn sie genötigt werden, über den „Geist“ des „Menschen“ zu sprechen. Was dem Namen 433 Thomas Städtler, Art. Denken, in: ders., Lexikon der Psychologie, Stuttgart 2003, S. 184 f.
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des Geistes sich nicht fügen will, wird jenseits des Bewußtseins als menschliches Wissen, als menschliche Ideologie oder als menschliche Mentalität benannt. In dem Maße, in dem diese Bezeichnungen sich durchsetzen, verliert der ehemalige Schlüsselbegriff des Denkens der humanen Existenz seinen Sinn. Nicht mehr mit dem Denken als diesem sind die Gesellschaftswissenschaften befaßt, sondern nur noch „mit der Beziehung zwischen dem Denken und seinen Strukturen einerseits und den Einflüssen der sozialen Verhältnisse andererseits“434 Mit diesem Verständnis des Menschen löst sein Existieren als Denken sich auf. In seinem Denken ist der „Mensch“ zu einem Wesen des Bewußtseins geworden. Als „gesellschaftliches“ Bewußtsein ist es jenes bestimmende Vermögen, das über die Form und den Inhalt des „individuellen“ Bewußtseins verfügt. Der Bruch, den die genannte Vorstellung mit der Tradition der realistischen Bestimmung des Denkens vollzieht, beherrscht seitdem die Erkenntnis des denkenden Menschen. Denn die maßgeblich auf Aristoteles zurückgehende Lehre behauptet, daß Denken und Bewußtsein verschiedene Dinge sind. Wie in der voraufliegenden Darlegung angedeutet wurde, besteht das Denken als ein Vermögen der geistigen Seele in einem Begreifen des Seienden als diesem. Hiervon verschieden ist das Bewußtsein als ein Vermögen der inneren Sinneserkenntnis: „Bewußtsein im eigentlichen und engeren Wortsinn besagt eine Art Begleitwissen (con-scientia) um das eigene seelische Sein und seine augenblicklichen Befindlichkeiten“, also um die Gemütszustände der humanen Existenz. „Während die Pflanze zwar ,lebt‘, jedoch um ihre Lebenstätigkeit nicht weiß, kann der Mensch diese durch ein sie begleitendes Wissen um sie ,erleben‘, sie als ,seine Erlebnisse‘ haben“435. Wollte man dieses Erleben genauer benennen, müßte man wohl die folgenden Merkmale erwähnen: Das Bewußtsein ist nicht nur ein Begleitwissen von gegenwärtigen, sondern auch von erinnerten Erlebnissen, also von solchen, die durch das Gedächtnis vermittelt sind. Zum zweiten besteht das Bewußtsein auch als ein Wissen um den Wert bzw. den Unwert des eigenen Soseins und des eigenen Wirkens. Schließlich zeichnet es sich als eine Fähigkeit aus, nämlich als die Fähigkeit, Erlebnisse zu „haben“ oder auch nicht zu „haben“. Deswegen finden sich manche Erlebnisse in der „Mitte“ des Bewußtseins, andere an ihrem „Rand“ und wiederum andere, die ins Nicht- bzw. ins Un-Bewußte eingegangen sind. Seit wann unsere Kultur über das Bewußtsein der humanen Existenz spricht, ist umstritten. Ernst zu nehmende Gelehrte behaupten, daß sich das älteste Zeugnis in der Philosophie des Platon (427–347) nachweisen läßt. In seinem 434 Karl-Heinz Hillmann, Art. Denken, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 145. 435 Alexander Willwoll, Art. Bewußtsein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 46.
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Dialog Charmides spricht Platon von einer epistêmê heautês, also von einem Wissen des „Menschen“, das diesem stets gegenwärtig ist.436 Aristoteles nimmt diese Lehre Platons auf, um sie durch sorgfältige Unterscheidungen zu bereichern. Wesentlich ist seine Unterscheidung zwischen der noêsis, d.i. dem Denken, und der aisthêsis, d.i. dem Wahrnehmen. Eine der Arten des Wahrnehmens ist die koinê aisthêsis, d.i. der Gemeinsinn. Die Verschiedenheit zwischen der noêsis und der aisthêsis veranlaßt Aristoteles jedoch nicht dazu, die Wahrnehmung als ein nachgeordnetes Begreifen zu beurteilen. Ihm erscheint die koinê aisthêsis als derart wichtig, daß er sie als ou kata symbebêkos bezeichnet, d.i. als nicht beiläufig. Für Aristoteles ist die koinê aisthêsis etwas Wesentliches. Er schreibt: „Für die gemeinsamen Wahrnehmungsgegenstände aber haben wir schon einen gemeinsamen Sinn, und zwar nicht nebenbei.“437 Was Aristoteles als koinê aisthêsis benennt, bezeichnet das Mittelalter mit dem Ausdruck sensus communis, d.i. Gemeinsinn. Sich verschlingende Denkwege verführen die folgende Erkenntnisgeschichte, an die Stelle des Ausdrucks sensus communis einen anderen Ausdruck zu setzen. Zunehmend ist statt des Namens sensus communis die Rede von der conscientia. Es mögen vor allem zwei Gründe gewesen sein, die zu dieser Wortwahl führten. Der erste Grund liegt vermutlich in der Abwandlung der Bedeutung des Namens sensus communis im angelsächsischen Sprachraum. Zunehmend bezeichnet dieser Ausdruck dort das, was als common sense benannt wird. Mehr und mehr erhält dieser Ausdruck den Sinn, jene allgemein urteilende Instanz zu bezeichnen, die in Fragen der Erkenntnis und mehr noch in Fragen der Sittlichkeit zuletzt angerufen werden kann. Der theoretische Begriff des sensus communis wird als common sense zu einem praktischen Begriff. Um von ihm die überkommene koinê aisthêsis zu unterscheiden, wird der Name koinê aisthêsis zunehmend durch den Namen conscientia ersetzt. Unguterweise hat dieser Name jedoch eine eigene Begriffs- und Problemgeschichte. Das Wort conscientia ist ursprünglich die lateinische Übersetzung des griechischen Ausdrucks syneidêsis. Seine Wurzel liegt im Tätigkeitswort syneidenai, d.i. im Wissen um das eigene (sittliche) Tun. Syneidêsis bezeichnet also die Fähigkeit der humanen Existenz, um die Werte und in der Folge um die sittlichen Gebote zu wissen. Dieses Wissen um Etwas wird heute in der Regel als Gewissen bezeichnet. Der Name syneidêsis bzw. der Name synderesis – was auf eine mittelalterliche Schreibverschiedenheit zurückgeht – verliert in der Folgezeit seine sittliche Bedeutung. Aus diesen vielschichtigen Bedingungen fließen der Sinn der Bezeichnungen koinê aisthêsis 436 Vgl. Platon, Charmides, (Edition Meiner), 166; vgl. erläuternd z. B. Karen Gloy, Bewußtseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, Freiburg/München 1998/20043, S. 105–144; vgl. im Sinn der Wiederbelebung des metaphysischen Idealismus: Dieter Henrich, Bewußtes Leben, Stuttgart 1999. 437 Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Grumach/Flashar), 425a.
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= sensus communis = conscientia ineinander. Der Unterschied des Zusammenhanges zwischen koinê aisthêsis = sensus communis = Gemeinsinn (= Bewußtsein) wird also preisgegeben. Es ist nicht zuletzt der Sprachgebrauch des René Descartes (1596–1650), der zu dieser Bedeutungsvielfalt in der Benennung des „Geistes“ der humanen Existenz führt. Christian Wolff (1697–1754) ist zu danken, daß er die eingetretenen sprachlichen Mängel aufzuheben versucht. Freilich gilt dies maßgeblich nur für den deutschen Sprachraum. Wolff ist es, der den erkenntnistheoretischen Begriff des Bewußtseins festschreibt und diesem Begriff den ethischen Begriff des Gewissens gegenüberstellt. Seiner terminologischen Vereindeutigung folgend438, befleißigen sich bis heute die um Klarheit bemühten Redeweisen: Es wird unterschieden zwischen der koinê aisthêsis = sensus communis = Bewußtsein und der syneidêsis bzw. der synteresis/synderesis = conscientia = Gewissen. Es wäre wünschenswert, wenn diese sprachlichen Vereindeutigungen beachtet werden würden und im Hinblick auf die Ausprägung der dritten möglichen Grundgestalt, nämlich der des Menschen in seinem Denken ihre Beachtung fänden. Die neuzeitliche und insbesondere die moderne Lehre vom Denken und vom Bewußtsein nutzen die Vieldeutigkeit jenes und dieses Namens. Dies kritisierend, hat zum Beispiel Ernst Cassirer (1884–1945) zu Recht bemerkt: „Der Bewußtseinsbegriff scheint der eigentliche Proteus der Philosophie zu sein. Er tritt in allen ihren verschiedenen Problemgebieten auf; aber zeigt in keinem von ihnen dieselbe Gestalt, sondern ist in einem unablässigen Bedeutungswandel begriffen.“439 Daß die herrschenden Gesellschaftswissenschaften sich über diese Mehrdeutigkeit freuen, ist schon bemerkt worden. Angesichts insbesondere der gesellschaftswissenschaftlichen Anpassungsfähigkeit ist die realistische Lehre vom Bewußtsein der humanen Existenz in Verlegenheit geraten. Ihre Auffassung erscheint als veraltet, also als überholt, weil sie irrig ist. Um so nötiger ist es, die herkömmlichen Unterscheidungen ins Gedächtnis zu rufen. Zu ihnen zählt zum ersten die Unterscheidung zwischen dem unvollkommenen und dem vollkommenen Bewußtsein. Jenes wird auch als nicht-reflexes und dieses als reflexes Bewußtsein bezeichnet. Die Merkmale des reflexen Bewußtseins lassen sich wie folgt zusammenfassen: „Vollkommen reflexes Bewußtsein richtet sich auf die seelischen Vorgänge und Zustände (AktBewußtsein), auf die Objektgerichtetheit der Akte (Objekt-Bewußtsein), aber auch auf das eigene Ich als den Träger der Erlebnisse (Subjekt-Bewußtsein, IchBewußtsein, Selbst-Bewußtsein).“440 Diese Verschiedenheit des Bewußtseins wird bisweilen auch als Bewußtheit, als Bewußtsein und als Wissen bezeichnet. Aber 438 Vgl. Christian Freiherr von Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720, I, cap. 3, § 194. 439 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis, Berlin 1929, S. 27.
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die Namen tun nichts zur Sache. Wesentlich ist, was das reflexe Bewußtsein ermöglicht. Es erlaubt der humanen Existenz, zwischen dem erlebenden Ich, seinen Verwirklichungen und den von ihnen gemeinten Gegenständen zu unterscheiden. Diese Unterscheidungen bestehen sowohl formal- wie material-logisch als auch hinsichtlich der Achtung vor sich selbst wie jemandem Anderen gegenüber und endlich hinsichtlich des Vorfindens seiner selbst und von jemand Anderem. So beschaffen, ist das Bewußtsein ein Vermögen der Sinnenseele eines geistig-seelischen Wesens. Es ist also ebensowenig eine Begleiterscheinung von Etwas, das durchgängig materiell wie durchgängig geistig beschaffen ist. Mit anderen Worten: Das Bewußtsein „verweist auf die substantielle Seele“441. Wenn das Bewußtsein aber solchermaßen beschaffen ist, tut man gut daran, zwischen ihm und dem Denken zu unterscheiden. Da das Bewußtsein im Unterschied zum Denken unmittelbar gewiß ist, bietet es sich an, von ihm aus zur Bestimmung des Denkens voranzuschreiten. Für die Bestimmung des Menschen in seinem Denken „erweist sich das Zeugnis des unmittelbaren Bewußtseins als die erste und sicherste Quelle objektiv sicheren Wissens“442, also des Menschen als eines begreifenden Wesens. Es erfährt seine Erweiterung als soziales Bewußtsein bzw. als Sozialdenken der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. B. Selbstzeugnisse der als Einheit ihrer Grundgestalten verwirklichten menschlichen Existenz-Gestalt Daß die menschliche Existenz-Gestalt wirklich so besteht, wie sie aufgezeigt worden ist, wird zuletzt durch diese Existenz-Gestalt selbst bezeugt. Bezeugen heißt, die Gewißheit einer Erkenntnis zum Ausdruck bringen. Die Selbstzeugnisse der menschlichen Existenz-Gestalt sind gewiß in einem ursprünglichen Sinn, will man dem Menschen sein glaubwürdiges Verhältnis zu sich selbst nicht absprechen. Als Grundsätze verstanden, behaupten sie ein Doppeltes: Erstens sagen sie, daß die humane Existenz als menschliche Existenz ein einsames Existieren ist und kein gemeinsames, ein solitäres und kein solidarisches, ein psychisches und kein soziales oder wie man dieses Existieren benennen mag. Sodann besagen sie, daß dieses Existieren sich in existenzkategorial bestimmtem Grundgestalten ausprägt. Diese Ausprägungen wurden benannt als der Mensch in seiner Befindlichkeit, als der Mensch in seiner Würde und als der Mensch in seinem Denken. Aus der Verwirklichung ihres Verhältnisses erklären sich die verschiedenen Existenzweisen der einheitlichen menschlichen Existenz440 Josef de Vries, Art. Bewußtsein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 46. 441 Josef de Vries, Art. Bewußtsein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 46. 442 Josef de Vries, Art. Bewußtsein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 47.
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Gestalt. Daß es sich mit ihr in jenem allgemeinen und in diesem besonderen Sinn so verhält, zeigen die Selbstzeugnisse der menschlichen Existenz-Gestalt auf. Unter ihnen gibt es drei Arten von Zeugnissen, die herausragen. Es sind die Zeugnisse des Monologs, also des Gesprächs der menschlichen Existenz-Gestalt mit sich selbst, die Zeugnisse der Autobiographie, also von Niederschriften über das eigene Leben oder jedenfalls über Lebensabschnitte durch die menschliche Existenz-Gestalt und die Zeugnisse des Selbstporträts, also des Abbildes der menschlichen Existenz-Gestalt durch sie selbst. Wenn das herrschende Gesellschaftsdenken meint, daß diese Zeugnisse der menschlichen Existenz-Gestalt keine ursprünglichen Zeugnisse ihrer selbst sind und behauptet, daß es sich um Bekundungen des „Menschen“ handelt, die sich aus seinen gesellschaftlichen Existenzbedingungen erklären, so irrt dieses Denken. Denn als dieser ist der Monolog kein Dialog, ist als diese die Autobiographie keine Biographie und ist als dieses das Selbstporträt kein Porträt. Der Name Monolog benennt den bekannten Befund, daß jeder Mensch mit sich spricht. Der humane zuständliche Selbstand sagt sich Etwas und zwar sein Leben lang. Was der Mensch sich selber sagt, ist verschieden beschaffen. Seiner Form nach besteht das Selbstgespräch zum Beispiel in der Erinnerung, die sich einstellt oder im Ausdrücken einer Vorstellung, die geklärt sein will oder im Besprechen eines Entwurfes, der in der Zukunft verwirklicht werden soll, usw. Stellt das Selbstgespräch sich einerseits unwillkürlich ein, so wird es andererseits doch auch absichtlich herbeigeführt. Nicht weniger bedeutsam ist der Befund, daß es ursprünglich von niemandem erkannt wird, dann aber doch wahrgenommen werden kann. Das geschieht zum Beispiel in der Selbstbeobachtung und sodann auch in der Fremdbeobachtung der Lippen der menschlichen Existenz-Gestalt, die mit sich spricht, und bisweilen kann ein Außenstehender ein Selbstgespräch sogar hören, nämlich dann, wenn es sich in Lauten ausdrückt. Zu seinem Inhalt ist festzustellen, daß er alles umfaßt bzw. umfassen kann, worüber ein Mensch zu sprechen vermag. Das sind zum einen die Gegenstände des Seins, zum anderen die Gegenstände des Sollens und zum dritten die Gegenstände der Gestaltung. Um bei den ersteren zu bleiben, sei zum Beispiel an die alltägliche Besorgung des Lebensunterhalts erinnert. Wer hätte nicht schon im Supermarkt seinen Einkaufszettel überprüft und hierbei mit sich darüber gesprochen, ob er nichts übersehen hat? Zum zweiten: Jedermann weiß, daß man sittlich gut handeln soll. Ist die Gewissenserforschung etwas anderes als ein Selbstgespräch? Zum dritten: Wie wir uns zum Beispiel in einer Kunstausstellung verhalten, ist jedem von uns geläufig. Redet über die Formen und Inhalte der angeschauten Werke der Betrachter nicht mit sich selbst? Von der Dichtkunst wie von ihrer systematischen Erkenntnis, also der Literaturwissenschaft, sind die Eigenart und der Stellenwert des Monologs seit langem erkannt. Sie erarbeiten bzw. erörtern vor allem den sogenannten inneren Monolog. Der Name bezeichnet das Sich-Etwas-Sagen als einen Höhepunkt des
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menschlichen Existierens, über das die jeweilige Abhandlung geht. Ein Beispiel kann diesen schriftstellerischen Kunstgriff verdeutlichen. In seiner Erzählung „Fräulein Else“, in der er das von James Joyce (1882–1941) meisterhaft verwendete Stilmittel des inneren Monologs kultiviert, läßt Arthur Schnitzler (1862–1931) seine Protagonistin das folgende sagen, die sich zugunsten ihres verschuldeten Vaters anbieten soll: „Warum schaut mich die holländische Familie so an? Man kann doch unmöglich was merken. Der Portier sieht mich auch so verdächtig an. Ist vielleicht noch eine Depesche gekommen? Achtzigtausend? Hunderttausend? Adresse bleibt Fiala. Wenn eine Depesche da wäre, würde er es mir sagen. Er sieht mich hochachtungsvoll an. Er weiß nicht, daß ich unter dem Mantel nichts an habe. Niemand weiß es . . .“443
Ein Monolog, wie der zitierte, ist nicht ohne Paradoxie. Das gilt zumal vom inneren Monolog. Denn ist er wohl ein Bestand der Innenwelt der menschlichen Existenz-Gestalt, so strebt er doch danach, in einer Außenwelt zum Ausdruck zu kommen, wie das bereits angedeutet wurde. Die gewählte Bezeichnung Paradoxie benennt jedoch keine Unvereinbarkeit, wie das zumeist der Fall ist. Sie meint vielmehr das, was para doxa ist, d.i. das, was der geltenden Meinung entgegensteht. Das ist das Sonderbare oder das Unerwartete, also das, was der herrschenden Auffassung zuwider läuft. In der Tat ist der Monolog von seinem Ursprung her betrachtet ein Reden der menschlichen Existenz-Gestalt mit bzw. in sich selbst. Deswegen gehört es zu ihrem Innensein. Man kann diesen Befund auch mit dem Namen bezeichnen, daß der Mensch als ein Für-sich-Sein existiert. Solchermaßen lebend, lebt er nicht sich selbst gegenüber, ist er kein Existieren auch gegenständlicher Art. Diese ungegenständliche Beschaffenheit der menschlichen Existenz-Gestalt zählt zu den ältesten Erkenntnissen des Bestandes des Menschen. Andererseits weiß diese Tradition jedoch, daß die humane Existenz und damit der humane zuständliche Selbstand sich immer auch gegenständlich erfaßt. Er ist im Stande, sich gleichsam zu entzweien und dadurch sich selbst gegenüberzutreten. In diesem paradoxen Vermögen der menschlichen Existenz-Gestalt haben jene Selbstzeugnisse des Monologs ihren Grund, die als Selbstgespräche eine äußere Gestalt annehmen. Wie man weiß, zählen nicht wenige dieser nach außen gewendeten Soliloquien zu den großen Zeugnissen der menschlichen Existenz-Gestalt, die immer auch zugänglich sind. Wenigstens dem Namen nach seien einige wenige von ihnen benannt. Von einmaliger Größe sind noch immer die Selbstgespräche des Aurelius Augustinus (354–430). In ihnen versucht er, sich einem Gott gegenüber zu bekennen und sich selbst zu erkennen. Kommentiert werden diese Selbstgespräche zum Beispiel wie folgt:
443 Zitiert nach Claudia Becker, Art. Innerer Monolog, in: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. Autoren–Werke–Begriffe. Band 3, Dortmund 1989, S. 1435.
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Die Selbstgespräche des Augustinus sind „unmittelbar nach der Bekehrung 387 geschrieben im Geiste der gleichzeitigen philosophischen Schriften, an denen der rückschauende Augustin ,die Schule des alten Stolzes‘ zu tadeln hat. Das berühmte ,Gebet‘ verrät im Schleier des prunkenden Wortes Züge des Übergangs von der noch antik gestimmten denkerischen Logos-Andacht in die Fühlweise des Christen gegenüber Gott dem Herrn und Vater.“444
Berühmte niedergeschriebene Selbstgespräche aus der Zeit, die der des Augustinus voraufliegt, sind die des Philosophen Seneca (um 1–65), die unter dem Titel Vom glückseligen Leben zusammengefaßt worden sind, die Selbstbetrachtungen des Kaisers Marc Aurel (121–180) oder die als Gedichte über das Selbst benannten Teile der sogenannten carmina arcana des Kirchenlehrers Gregor von Nazianz d. J. (334–390). Aus der Zeit, die uns Heutigen näher liegt, seien wenigstens Peter Abaelards (1079–1142) Historia calamitatum mearum genannt, in welcher er sich sein Lebensschicksal vergegenwärtigt, sowie Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Rêveries du promeneur solitaire, in welchen der einsam gewordene, seine Existenzstationen rechtfertigende Philosoph sich sein Leben vergegenwärtigt. In der Neuzeit und zumal in der sich zur Moderne entwickelnden Zeit nehmen die Selbstgespräche geradezu überhand. Also genügt es, auf sie hinzuweisen, wobei nicht verkannt werden soll, wie notwendig es ist, auf den grundlegenden Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen dem Monolog der menschlichen Existenz-Gestalt und dem Reden des Singles als gesellschaftlicher Existenz-Gestalt besteht.445 Eine Sonderform des Selbstgespräches der menschlichen Existenz-Gestalt, das gegenständlich greifbar ist, ist das Tagebuch. Als Tagebuch bezeichnet man zumeist Aufzeichnungen von Gedanken über das eigene Existieren in dessen zeitlichem Ablauf. Ein Tagebuch wird nicht für einen anderen Menschen geführt. Es ist niemand anderes Eigentum als das des Tagebuchschreibers. Er notiert, was er bedenkt, für sich. Deswegen enthält das Tagebuch keine zeitgeschichtlichen Ereignisse. Es dokumentiert keine Begebenheiten. Das Tagebuch ist der Niederschlag der sich zu sich selbst verhaltenden erlebenden menschlichen Existenz-Gestalt. Vielleicht findet sich das erste Zeugnis dieses Ausdrucks in den Essais des Michel de Montaigne (1533–1592). Denn er „betrachtete seine Arbeit an den Essais als eine Übung des Geistes, der Selbstreflexion und -besinnung“446. Man darf annehmen, daß das Selbstgespräch in der Form des Tagebuchs seit Montaignes Zeiten bis zur eigenen Gegenwart in seiner Form wie in seiner Zahl zugenommen hat. Eines der erschütterndsten Zeugnisse 444 Joseph Bernhart, Art. Vorbemerkung (zu den Alleingesprächen), in: ders. (Hrsg.), Augustinus. Bekenntnisse und Gottesstaat (Auswahl), Stuttgart 1930, S. 29. 445 Vgl. z. B. Bettina Best (Hrsg.), Ich lebe alleine, München 1974, S. 8: „Leben in der ersten Person Einzahl: Die vorliegende Anthologie sammelt unterschiedliche Lebensäußerungen und Einsichten beim Alleingang.“ 446 Susanne Röhse, Art. Montaigne, Michel, in: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. Autoren–Werke–Begriffe. Band 4, Dortmund 1989, S. 2033.
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unserer Tage ist das Tagebuch der Anne Frank (1929–1945). Wem wäre das Schicksal dieses jüdischen Mädchens nicht bekannt, über das die Gewaltsamkeit des Nationalsozialismus entschieden hat? In einer literaturwissenschaftlich-politischen Sprache ausgedrückt, findet sich über dieses Tagebuch beispielsweise dieses Urteil: „Die Dagboegbrieven, in denen Anne einer fiktiven Freundin Kitty von ihren täglichen Erlebnissen berichtete, sind ein ,document humain‘ über die Entwicklung des Mädchens Anne, ihre Gefühle und Gedanken während der unfreiwilligen Isolation. Durch ihre Direktheit und Subjektivität vermitteln sie auf erschütternde Weise Einblick in das Schicksal von Verfolgten des Nationalsozialismus und stellen eine Mahnung an die folgenden Generationen dar.“447
Vom stillen und vom verlautbarten Selbstgespräch verschieden ist ein anderes Zeugnis der menschlichen Existenz-Gestalt, nämlich die schriftliche Darstellung des eigenen Existierens oder jedenfalls von einigen seiner Abschnitte, also die Autobiographie. Sie ist verschieden vom Monolog auch in dessen weitestem Sinn. Denn die Autobiographie wird nicht ohne Ehrgeiz verfaßt, und sie wendet sich an andere „Menschen“. Die folgende literaturwissenschaftliche Definition der Autobiographie kennzeichnet diese Bestimmungen im einzelnen: Autobiographie ist die „Bezeichnung für die literarische Darstellung des eigenen Lebens, die aus einer meist übergeordneten Perspektive die innere Entwicklung und äußere Zeitgebundenheit zu einem geschlossenen Ganzen fügt. Im Gegensatz zu Memoiren fragt die Autobiographie auf existentielle Weise nach der Bildung eines selbständigen Ichs. Sie beschreibt die Entwicklung einer Persönlichkeit in Form der sinngebenden Verknüpfung von chronologisch geordneten Fakten und individuellen Erfahrungen.“448
Daß die Autobiographie schon seit mehr als 100 Jahren ein Gegenstand insbesondere der literaturwissenschaftlichen Forschung darstellt, ist bekannt. Sie hat in dieser Zeit eine reiche Fragestellung entwickelt. Denn nachdem die Autobiographie als eine eigene literarische Gattung erkannt worden ist und zunehmend sicherer von anderen Stilen und Gehalten der Literatur unterschieden werden konnte, wandte die Forschung sich zum ersten den Beständen der Autobiographie zu, die sich ihr mehr und mehr erschlossen. Dieser Hinblick eröffnete zum zweiten die Frage nach der Geschichte der Autobiographie, innerhalb der wiederum die Gründe ihrer Entstehung aufmerksam studiert werden. Das reiche Material, das zusammengetragen werden konnte, drängte schließlich zu einer systematischen Gliederung. Es galt, Typen von Autobiographien auszubilden, also autobiographisch Gleiches bzw. Ähnliches von autobiographisch Verschiedenem zu unterscheiden. Mit diesen Hinweisen auf die systematische Erkennt447 Herman Vekman, Art. Frank, Anne, in: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. Autoren–Werke–Begriffe, Band 2, a. a. O., S. 985. 448 Jürgen H. Koepp, Art. Autobiographie, in: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Autoren–Werke–Begriffe. Band 1, a. a. O., S. 257.
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nis der Autobiographie mag es sein Bewenden haben.449 Denn für das Verständnis der menschlichen Existenz-Gestalt, die verschieden ist von der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt, erscheint der Aufweis einiger biographischer Zeugnisse von größerem Gewicht. Er vermag zu erhärten, was die grundsätzliche theoretische Erkenntnis erfaßt hat: Daß die humane Existenz wirklich als menschliche Existenz-Gestalt besteht. Aus der großen Zahl der vorliegenden Autobiographien seien jene Darstellungen des eigenen Lebens etwas näher beschrieben, die verfaßt worden sind von Aurelius Augustinus, von Jean-Jacques Rousseau, von Johann Wolfgang von Goethe, von Friedrich Nietzsche und von Rainer Maria Rilke. Im Übergang des Altertums in das christliche Mittelalter lebt Aurelius Augustinus (354–430). Seine Darstellung des eigenen Lebens trägt den Titel Confessiones. Augustinus hat seine eigene Lebensbeschreibung etwa zwischen 397 und 401 verfaßt. Was er meint, über sich selbst sagen zu müssen, sind zwei Gedankenzusammenhänge. Besinnt er sich zum einen über die Wege und Irrwege seines Lebens, weshalb seine Schrift über sich selbst einer Beichte gleichkommt, so vergewissert er sich zum anderen über das Ziel seines Lebens, weshalb er seine Niederschrift zu einem Lobpreis Gottes entfaltet. „In seiner Widmung der „Bekenntnisse“ schreibt Augustinus an seinen Freund Darius: „,Empfange gemäß deinem Wunsche die Bücher meiner Bekenntnisse. Da betrachte mich, damit dein Lob nicht mehr aus mir mache als was ich bin; da glaube mir selbst statt anderen über mich; da lerne mich kennen und sieh, was ich gewesen bin – in mir, aus mir selber. Und wenn dir etwas an mir gefallen sollte, so lobe da mit mir den Einen, den ich meinerhalb gelobt haben wollte.‘“450
Befragt man die autobiographische Forschung über die Confessions von JeanJacques Rousseau (1712–1778), so stößt man auf die vorherrschende Überzeugung, daß diese „Bekenntnisse“ sich mit denen von Augustinus messen wollen. Sie sind zwischen 1765 und 1770 entstanden. Verfaßt sind sie von einem religiösen Freigeist, dessen Lebensbeichte folglich gänzlich anderer Art ist, und der sein Lebensziel in der Menschlichkeit des „Menschen“ erblickt. Also sind seine „Bekenntnisse“ vor allem ein Erkennenwollen der eigenen tatsächlich-seelischen Verfaßtheit, und ist der Bericht über seine Befolgung des Sittengesetzes der Versuch einer Rechtfertigung, warum Rousseau in seinem Leben nicht nur
449 Vgl. zum Zusammenhang z. B. Günter Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989/erw. 19982, sowie als Autobiographien der eigenen Gegenwart z. B. Walter Hinck, Selbstannäherungen. Autobiographien im 20. Jahrhundert von Elias Canetti bis Marcel Reich-Ranicki, Düsseldorf/Zürich 2004. Daß auch Soziologen ein Leben als menschliche Existenz-Gestalt führen, belegt z. B. René König, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, München/Wien 1980. 450 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, in: Joseph Bernhart (Hrsg.), Augustinus. Bekenntnisse und Gottesstaat (Auswahl), Stuttgart 1930, S. 53.
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Gutes, sondern auch Böses getan hat. Er schreibt über sein autobiographisches Werk selbstbewußt: „Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.“ – „Die Posaune des Jüngsten Gerichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde vor den höchsten Richter treten, dieses Buch in der Hand, und laut werde ich sprechen: ,Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Versammle um mich die zahlreichen Scharen meiner Mitmenschen, sie mögen meine Bekenntnisse anhören, mögen ob meiner Schändlichkeiten seufzen und rot werden ob meiner Schwächen. Jeder von ihnen entblöße am Fuß deines Thrones sein Herz mit derselben Wahrhaftigkeit, und wer von ihnen es dann noch wagt, der mag geruhig hervortreten und sprechen: ,Ich war besser als dieser Mann dort.‘“451
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hat seiner Autobiographie den Namen gegeben Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Er hat sie in der langen Zeit zwischen 1811 und 1832 niedergeschrieben. Goethe steht bereits diesseits der Auseinandersetzung mit der christlichen Welt. Durchgängig versteht er sein Leben im profanen humanistischen Sinn. Des näheren benannt, begreift Goethe es als eine Einheit von (antiker) Bildungswelt und (neuzeitlichem) Weltbild. Wohl zutreffend wurde deswegen über Goethes Autobiographie geschrieben: „Der Titel dieser Lebens- und Epochenbeschreibung, deren Rang erst verständlich wird, wenn man sie vergleicht mit Augustinus’ Confessiones und J.-J. Rousseaus Confessions. Goethe versteht die Dichtung als Medium, um die ,Wahrheit‘, das ,Grundwahre‘ ans Licht zu bringen. Die ,Dichtung‘ weist dem Dasein Folge und Sinn zu, die den widersprüchlichen Lebensfragmenten fehlen. Mit seiner Autobiographie legte Goethe ein unüberholtes Muster vor, Geschichts- und Kunstwerk in einem. Die Jugendzeit liefert den Stoff, das Alter erschließt ihn durch formgebende Urteilskraft und geschichtliches Verstehen.“452
Auf die eigene Gegenwart schreitet die Zeit voran im Sinn der Verweltlichung der Welt. Europa entchristlicht sich. Dessen Zeitzeuge ist vor allem Friedrich Nietzsche (1848–1900). Aber er bringt den Zeitenwandel auch autobiographisch zum Ausdruck. Er leistet diese Aufgabe in seiner Schrift Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Diese autobiographischen Notizen stammen aus den Jahren 1888/9, also aus einer Zeit kurz vor seinem leiblich-seelischen Zusammenbruch. Abgefaßt als Schilderung der Absichten seines Lebenswerkes, hatten sie des näheren den Zweck, als Zusammenfassung seiner Arbeit an der
451 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse (1781), Leipzig 1966 bzw. Frankfurt a. M./Leipzig 1985, S. 37 f. 452 Werner Keller, Art. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, autobiographische Schrift von Johann Wolfgang von Goethe, in: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur. Autoren–Werke–Begriffe. Band 1, Dortmund 1989, S. 252.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
Umwertung aller Werte dienlich zu sein. In einem sachkundigen Kommentar ist zu lesen: „Die Schrift ist das letzte Ergebnis der autobiographischen Selbstreflexion, die Nietzsche seit seiner frühesten Jugend pflegte (vgl. etwa die Skizze Aus meinem Leben). Zuletzt hatte er noch zwischen 1886 und 1887 im Zyklus der Vorreden für eine neue Ausgabe seiner Schriften versucht, seinen Denkweg nachzuzeichnen. Er wollte nun dem geplanten Hauptwerk . . . seine Autobiographie als eine Art Vorrede vorausschicken. Sie sollte eine gespannte Erwartung hervorrufen und dadurch die Verbreitung jener Schrift fördern, der Nietzsche geradezu welthistorischen Einfluß zutraute: ,Dionysos gegen den Gekreuzigten‘ . . .“453
Gewiß nicht nihilistisch im Sinn der Umwertung aller Werte, wie Nietzsche sich als deren Vollstrecker empfand, jedoch ebenfalls rückbezogen auf die Einmaligkeit der humanen Existenz, die im Sinn des modernen „Menschen“ existiert, urteilt Rainer Maria Rilke (1875–1926). Seine Schrift Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge aus dem Jahr 1910 enthält seinen Bericht über sich selbst, der beispielhaft das Selbstverständnis des modernen Menschen zum Ausdruck bringt. Rilke besteht darauf, daß die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn umgedeutet werden muß. Lehrt die christliche Exegese, daß es sich in diesem Gleichnis um die Wiederaufnahme eines „Menschen“ handelt, der das religiös-gläubige Vaterhaus aus stolzem Sinn verlassen hat und überdies seinen Bruder vergaß, so versteht Rilke den Auszug des „Menschen“ und seinen Verzicht auf die Brüderlichkeit im modernen profanen Sinn. Der sogenannte verlorene und seinem Bruder vermeintlich verbundene „Mensch“ kann sich heute nur noch dadurch verstehen, daß er allein sich selbst liebt. „Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen.“ „Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten.“ „Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte? Nein, er wird fortgehen.“ „Fortgehen für immer. Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach fällt es ihm ein und, wie andere Vorsätze, so ist auch dieser unmöglich gewesen. Denn er hat geliebt und wieder geliebt in seiner Ein-
453 Marco Brusotti, Art. Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: Franco Volpi (Hrsg.), Großes Werklexikon der Philosophie. Band 2, Stuttgart 1999, S. 1080.
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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samkeit; jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die Freiheit des andern.“ „Selbst in der Zeit, da die Armut ihn täglich mit neuen Härten erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war und ganz abgegriffen, da sich überall an seinem Leibe Geschwüre aufschlugen wie Notaugen gegen die Schwärze der Heimsuchung, da ihm graute vor dem Unrat, auf dem man ihn verlassen hatte, weil er seinesgleichen war: selbst da noch, wenn er sich besann, war es sein größtes Entsetzen, erwidert worden zu sein.“ „Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit.“ „In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern . . . er ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war und zunahm.“ „Es ist begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch das überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, daß ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht mehr betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.“454
Eine dritte herausragende Weise sich in seinem Ich-Sein zu bezeugen, ist das Selbstporträt. Noch mehr als die Fähigkeit, das eigene Leben zu beschreiben, hängt es freilich von der Begabung der bildhaften Gestaltung ab. Das Selbstbildnis kann verschieden sein, da es ein Ausdruck der zahlreichen bildenden Künste ist. Zu ihnen zählt man in der Regel die Architektur, die Bildhauerei und damit auch die Plastik und das Relief, die Malerei, die Graphik und mit ihr das Zeichnen sowie das Kunsthandwerk einschließlich der Fotographie. Diese Darstellungsweisen werden zumeist von den Künsten unterschieden, die das literarische und das musikalische Schaffen ausbildet. Die vorliegende Untersuchung kann auf diese vielen bildenden Gestaltungen nicht eingehen. Sich auf eine Ausdruckform beschränkend, ist im folgenden nur vom malerischen Selbstbildnis die Rede und das maßgeblich nur insoweit, als von ein und demselben Maler sowohl Fremdbildnisse als auch Selbstbildnisse geschaffen worden sind. Auf eine Erörterung des Entstehungsgrundes, der Geschichte, der Gestaltungsweise und -absicht, der Typenbildung usw. des Selbstbildnisses wird also verzichtet. Schließlich mag es genügen, nicht mehr als drei Maler zu benennen, 454 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders., Sämtliche Werke. Band VI, Frankfurt a. M. 1966, S. 938 ff.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
denen unvergleichliche Bildnisse anderer Personen wie der eigenen Person zu danken sind. Mit diesem Hinweis sei abermals daran erinnert, daß die menschliche Existenz-Gestalt an sich und für sich existiert, also verschieden ist von jedem Existieren in der Gesellschaft. Als erster Künstler soll Albrecht Dürer (1471–1528) genannt sein. Unter seinen Bildnissen anderer Personen ragen heraus die Porträts des Kurfürsten Friedrichs des Weisen, angefertigt um 1497, das des Kaisers Maximilian I. von 1519 sowie das des Philipp Melanchthon von 1526. Von diesen Bildnissen sind die Selbstbildnisse Dürers verschieden. Erste Zeichnungen seiner selbst verfertigte er um 1484, die in der Albertina in Wien und um 1492, die in der Universitätsbibliothek Erlangen zu sehen sind. Ihnen folgen Dürers Gemälde seiner selbst auf verschiedenen Altersstufen und in verschiedenen Existenzbezügen von 1493 (heute im Louvre in Paris), von 1498 (heute im Prado in Madrid) und um 1500 (heute in der Alten Pinakothek in München). Dürers Selbstbildnisse drücken das Maß aus, das fortan für das psychische Selbstbildnis gilt. Kann man von Dürer sagen, daß ihn das Selbstbildnis mehr beschäftigte als das Abbild, so kann man das Entgegengesetzte von seinem späten Nachfahren Franz von Lenbach (1836–1904) behaupten. Er gilt als der berühmteste deutsche Porträtist des 19. Jahrhunderts. Es heißt, daß er allein Otto von Bismarck mehr als 80 Mal gemalt hat. Aber trotz seiner Kunst, andere Personen zu porträtieren, malte Lenbach auch sich selbst. Im Haus, das er bewohnte, und das heute die Städtische Galerie München beherbergt, kann der Betrachter seine Selbstbildnisse anschauen, in denen er sich in meisterhaften Lichteffekten einerseits und andererseits in seiner Arbeit wie in seinen engeren Lebenszusammenhängen selbst darstellt. Zum dritten sei auf Rembrandt Harmensz van Rijn (1606–1669) hingewiesen, der kurz Rembrandt genannt wird. Gewiß ist Rembrandt nicht nur Porträtmaler. Vielmehr schuf er Gemälde sehr verschiedener Thematik, deren Darstellung als einmalig gilt. Aber er ist auch ein Maler menschlicher Existenz-Gestalten und unter diesen im besonderen der Gestalt seines eigenen Existierens. Wie kein Künstler vor ihm und bis auf den heutigen Tag wohl kein Künstler nach ihm hat er etwa 100 Bildnisse gemalt, die man ihm als Selbstbildnisse zuschreibt. Um diese Arbeit zu verdeutlichen, mag es erlaubt sein, eine Erläuterung des Selbstbildnisses von Rembrandt von 1657 wiederzugeben, das die Schottische Nationalgalerie in Edinburgh beherbergt. „Das Gemälde gehört zu den späteren der zahlreich erhaltenen Selbstbildnisse Rembrandts und datiert in eine Zeit, in der er zu bisher unbekannten bildnerischen Möglichkeiten der Menschendarstellung fand, indem die äußere Repräsentation in seinen Bildern zurücktrat. Die Haltungen wurden elementarer; Mimik und Ausdruck der Augen scheinen verinnerlicht. Obgleich Rembrandt seit Ende der Vierziger Jahre materiell und menschlich großes Leid zu tragen hatte, begegnet er ihm – wie seine späten, von tiefem Wissen um die menschliche Existenz getragenen Selbstporträts
3. Kap.: Die zwei Existenz-Gestalten der einen humanen Existenz
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beweisen – mit großer Würde und ohne eine Spur von Bitterkeit. Vielmehr scheint ihm die Schicksalswende vom umschwärmten und vermögenden zum verarmten und vergessenen Maler künstlerischen Auftrieb gegeben zu haben. Seine Werke gewannen an Kühnheit und Ausdruckskraft. Seine Selbstporträts legen – wie dieses des damals Einundfünfzigjährigen – mehr als bei jedem anderen Künstler Rechenschaft über ihn selber ab. Das Licht bringt die warm-braunen Farben wie von innen zum Aufleuchten und zum Verlöschen, so daß die Licht-Schatten-Führung ebenso wie die Wechselwirkung von Kostüm und Physiognomie zu psychischen Bedeutungsträgern werden und den Bildraum bestimmen.“455
Der voraufliegende Zweite Teil der vorliegenden Untersuchung kommt zum Schluß. Er lautet, daß die humane Existenz nicht nur aus zutreffenden, sondern auch aus hinreichenden Gründen als menschliche Existenz-Gestalt verstanden werden muß. Es ist irrig, zu behaupten, der „Mensch“ oder, wie man sagt, das Menschsein, besteht durchgängig in seiner gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Gesellschaftlich skeptische Kritiker meinen sogar, daß die humane Existenz nur als menschliche Existenz-Gestalt existiert. Weil zu dieser menschlichen Existenz-Gestalt auch ihre Beziehungen gehören, ist das, was unter dem Namen der Gesellschaft in Anspruch genommen wird, nicht mehr als das In-Beziehung-Sein einer Mehrzahl von menschlichen Existenz-Gestalten. Wie aufgewiesen, kann man sich dieses Sein als bloße Beziehungssumme (= unum additionis) denken oder als sinnhaft begründeten Beziehungszusammenhang (= unum ordinis). Zuletzt ist diese Unterscheidung gesellschaftlich jedoch unwesentlich. Der Grund liegt eben auch darin, daß die Gesellschaft weder eine Sinnganzheit (= unum in se) noch eine Seinsganzheit (= unum per se) ist. Bedenkt man den Aufweis und darüber hinaus die ermittelten Grundsätze des Existierens der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt, möchte man jedoch in der Tat zum Schluß kommen, daß die Rede vom „Menschen“ als eines gesellschaftlichen Wesens unbegründet ist. Daß der „Mensch“ ein gesellschaftliches Wesen ist, erscheint als eine Behauptung, die man auf sich beruhen lassen kann. Über den „Menschen“ als Gesellschaftswesen zu reden, ist Gerede. In der Folge dieser Kritik stellt sich die Behauptung ein, daß die Wissenschaften von der Gesellschaft ein törichtes Geschäft sind. Zumal die seit kurzem über die Maßen gelobte Soziologie muß sich sagen lassen, daß sie nicht zu den disziplinierten wissenschaftlichen Disziplinen zählt. Deswegen kann man auf sie verzichten. Voller Spott hat sich in dieser Sache zum Beispiel die britische Premierministerin Margret Thatcher geäußert. Sie meinte, daß es das, was gemeinhin Gesellschaft genannt wird, nicht gibt. Was es gibt, sind menschliche Individuen mit ihren Beziehungen. Die Behauptung Thatchers trifft die herrschenden Gesellschaftswissenschaften in ihrem Kern. Obwohl ihr Ursprung den vielen politi455 Wolf Stadler, Gesamtleitung, Art. Selbstbildnis (mit einer Wiedergabe des Selbstbildnisses von Rembrandt von 1657), in: Lexikon der Kunst. Malerei–Architektur– Bildhauerkunst. 10. Band, Freiburg/Basel/Wien 1989, S. 375; vgl. z. B. auch Renate Tmek (Hrsg.), Selbstbildnis. Der Künstler und sein Bildnis, Wien 2004.
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2. Teil: Erschließung der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft
schen Nachrichten zuzurechnen ist, ist sie in der unglücklichen Soziologie, wie Helmut Schelsky einmal sagte456, nicht unbemerkt geblieben. Sie findet sich sogar im Original zitiert: „There is no such thing like society. There are only individuals.“457
456 Vgl. Helmut Schelsky, Die Erfahrung vom Menschen, in: ders., Rückblicke eines ,Anti-Soziologen‘, Opladen 1981, S. 125. 457 Vgl. Heinz Abels, Einführung in die Soziologie. Band 1. Der Blick auf die Gesellschaft, überarb. Wiesbaden 20042, S. 46.
Dritter Teil
Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft (Die universalwissenschaftlichen und die spezialwissenschaftlichen Grundfragen nach dem logos der societas) Erstes Kapitel
Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft § 11 Kleines Kompendium der realistischen Lehre von der Wissenschaft und damit auch von der realistischen wissenschaftlichen Lehre von der Gesellschaft A. Philosophie der Gesellschaft und Allgemeine Soziologie: Ihre wissenschaftssystematische Problematik als Universalund als Spezialwissenschaft und ihre erkenntniskritische Problematik als empirische und als rationale Erkenntnisgestalt I. Vom Erkennen zum Wissen und vom Wissen zur Wissenschaft
Aristoteles (384–322) eröffnet seine Metaphysik mit dem Satz: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“1 Der begründete Hinweis auf die Natur der humanen Existenz zeigt an, daß diese Existenz sich ursprünglich durch ihr eidenai auszeichnet. Etwas wissen zu können und dieses Wissen auch zu erreichen, ist der Adel des „Menschen“. Die Übersetzung des griechischen Wortes eidenai durch den deutschen Ausdruck des Wissens ist freilich erklärungsbedürftig. Denn zumal als Wort der Alltagssprache besitzt es einen größeren Umfang als es derjenige ist, den der Name des Wissens zum Ausdruck bringt. Ein sorgfältiger Sprachgebrauch legt es nahe, festzuhalten, daß das Wort eidenai auch dasjenige meint, was das Wort erkennen bezeichnet. In diesem Sinn verstanden, benennt der Ausdruck des Wissens einen besonderen Fall des Erkennens. Wissen ist nur dasjenige Erkennen, das als sicheres Erkennen besteht bzw. erstrebt wird. Der Hinweis auf den Unterschied zwischen Wissen und Erkennen deutet an, daß es ratsam sein dürfte, darzulegen, was der Realismus mit 1
Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 920a.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
diesen Namen bezeichnet und welche Gründe er für seine Unterscheidung besitzt. Sie zählt zu den Bemühungen der vorliegenden Untersuchung, diejenigen Wege gangbar zu machen, auf denen man zu sicheren Erkenntnissen der Gesellschaft kommt. Für eine Besinnung darauf, was man einerseits Wissen und andererseits Erkennen nennt, spricht auch der Umstand, daß die Soziologie alsbald jene Teildisziplin ausgebildet hat, die man als Wissenssoziologie bezeichnet. Maßgeblich unter dem Einfluß von Karl Marx (1818–1883), der die idealistische Denkweise seiner Zeit in einen Materialismus verkehrte und deswegen behauptete, daß es nicht das Bewußtsein ist, das das Sein bestimmt, sondern vielmehr das Gegenteil wahr ist2, bemüht sich die Soziologie des Wissens um die Klärung der Probleme, die sich aus der sogenannten Seinsverbundenheit des Wissens, des Denkens, des Erkennens oder ähnlich benannt3, ergeben. In diesen Versuchen werden zumal die überkommenen erkenntniskritischen Lehren vom Wissen im Besonderen und von der Erkenntnis im Allgemeinen in Fragen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz mit dem Ziel bestimmt, sie als Fragen auszuweisen, auf die maßgeblich, wenn nicht ausschließlich die Wissenssoziologie die Antwort weiß. Was immer der Name des Bewußtseins meint bis hin zum psychisch und technisch bestimmten Existieren der humanen Existenz, wird gebieterisch soziologisiert. Die Berechtigung hierfür wird um so nachdrücklicher behauptet, je mehr das moderne Leben des „Menschen“ sich zur sogenannten Wissensgesellschaft fortbildet.4 Der Realismus ist der Auffassung, daß alle Lebewesen erkennen können. Deswegen spricht er vom Erkennen als einem besonders ausgerichteten „Lebensvorgang“5. Was als Leben wirksam ist, zeichnet sich durch verschiedene Vollkommenheitsgrade aus. Ihnen entsprechend sind die verschiedenen Erkenntnisvermögen beschaffen. In unserer Welt besitzt die höchste Vollkommenheit des Erkennens die humane Existenz. Sie vermag sich auf Etwas schlechthin auszurichten. Das geistige Erkennen befähigt den „Menschen“, nicht nur sich Selbst und Anderes von Grund auf zu erfassen, sondern auch die verschiedenen Grade des Erkennens und deren Verhältnis zu bestimmen und diese sodann den verschiedenen Lebewesen zuzuschreiben. An maßgeblicher Stelle wird das Erkennen der humanen Existenz als Vorgang und in seinem Ergebnis wie folgt beschrieben: „Erkenntnis ist jener dem Menschen unmittelbar aus seinem Bewußtsein bekannte Lebensvorgang, bei dem der Erkennende (das Subjekt) das Vgl. Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie (1859), Berlin 19512, S. 13. Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt a. M. 19788, S. 227 ff. 4 Vgl. z. B. Jenö Kurucz, Art. Wissenssoziologie, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. Band 3, Stuttgart 1989, S. 828 ff. sowie Karin Knorr Cetina, Art. Wissenssoziologie, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 2002, S. 707 ff. 5 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 90. 2 3
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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Erkannte (das Objekt) so auf tätige Weise in sich hat, daß er es in dieser tätigen Einheit mit sich zugleich sich entgegensetzt.“6 Mit andern Worten: „Menschliches“ Erkennen heißt (1) das Tätigsein von Einem gegenüber einem Anderen. (2) Das Ziel des Tätigseins besteht im Hereinholen des Anderen in das Eine. (3) Durch die Vereinigung wird der Unterschied zwischen dem Einen und dem Anderen aber nicht aufgehoben, weil das Eine sich durch seinen Bestand bestimmt, dem das Andere zwar inne ist, aber sein Gegenstand bleibt. Oder kürzer gesagt: Das „menschliche“ Erkennen besteht in der Ausrichtung auf das zu Erkennende, um dieses als ein Nicht-Eigenes sich zueigen zu machen. Durch den Vollzug des Erkennens wird also das sogenannte Subjekt-Objekt-Verhältnis gesetzt. Es ist und bleibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Innensein von Etwas, das immer auch als Außensein besteht. Wenig klar wird es zumal in der Alltagssprache als Verhältnis zwischen dem auffassenden „Menschen“ und den aufzufassenden Gegenständen verstanden. Da sich das „menschliche“ Subjekt auf jedes Subjekt erkennend richten kann, ergibt sich im Fall der Objektivierung eines Subjektes, daß derselbe Sachverhalt sowohl als Subjekt als auch als Objekt zu bezeichnen ist. Rasch entstehen aus einer solchen Redeweise Mißverständnisse. Deswegen ist auf den jeweils umgreifenden sinnvollen Seinszusammenhang zu achten, aus dem sich ergibt, wer bzw. was in der anstehenden Erkenntnis als Subjekt, d.h. als Träger des intentionalen Erkenntnisaktes, und wer bzw. was als Objekt, d.h. als intendierter Erkenntnisgegenstand, gilt. In der Erkenntnis der Gesellschaft ist es deswegen nicht statthaft, zu sagen, daß es der „Mensch“ ist, der die „Gesellschaft“ erkennt. Zutreffend muß es heißen, daß die humane Existenz als menschliche Existenz-Gestalt fähig ist, sich und die gesellschaftliche Existenz-Gestalt zu erkennen, bzw. umgekehrt, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt fähig ist, sich und die menschliche Existenz-Gestalt zu erkennen, also sich selbst und den Menschen. Als Erkennen des „Menschen“ unterliegt das Erkennen den Grenzen der humanen Existenz. Diese Begrenztheit ist besonders zu berücksichtigen, wenn es um das Erkennen absoluter Sachverhalte geht. Absolut ist, was unbedingt ist. Diese formal- wie materiallogische Problematik hat eine psychologische Problematik neben sich. Sie besteht darin, daß die humane Existenz, die nach Erkenntnissen strebt, ihr Erkenntnisziel auch verfehlen kann. Man nennt diese Unzulänglichkeit Irrtum. Da der Erkenntnis der humanen Existenz jene wie diese Beschränktheit bekannt ist, ist sie bemüht, ihr entgegenzuarbeiten. Gewiß ist der „Mensch“ trotz seines begrenzten und irrenden Erkennens imstande, sein Leben zu meistern, zumal sein Alltagsleben. Aber das genannte Erkennen genügt nicht den Anforderungen, die ihm aus seinen Möglichkeiten erwachsen. Seine Anlagen gebieten ihm, zur Begründung und zur Irrtumsfreiheit des Erkennens fortzuschreiten. Das Ergebnis dieser Bemühungen heißt in der Regel Wissen. Wis6
Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, a. a. O., S. 90.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
sen ist sichere, also gewisse Erkenntnis. Eine nicht gewisse Erkenntnis ist eine Meinung. Erfährt die gewisse Erkenntnis die Zustimmung des erkennenden Subjekts, spricht man von Überzeugung. Verbleibt die Begründung der Erkenntnis im erkennenden Subjekt, nennt man sie subjektive Gewißheit. Objektive Gewißheit liegt vor, wenn die Begründung aus der Evidenz des erkannten Sachverhaltes folgt. Probleme, wie die angesprochenen, gehören zum Fragenzusammenhang nach der Erkenntniswahrheit. Sie liegt vor, wenn bejaht wird, was ist, und verneint wird, was nicht ist. Die Voraussetzungen und das Erzielen eines wahren Urteils untersucht die logische Wahrheitstheorie. Wie erwähnt, wird heute zumeist zwischen drei Ausprägungen dieser Theorie unterschieden. (1) Wahrheit bedeutet die Übereinstimmung von Begriff und begriffener Sache (Adäquationstheorie). (2) Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen einem Begriff und der Gesamtheit der zur Sache vorliegenden Begriffe (Kontexttheorie). (3) Wahrheit ist die Übereinstimmung meines Begriffes mit den Begriffen Anderer (Konsenstheorie). Die Berechtigung dieser Theorien prüfend, spricht der Realismus sich für die altehrwürdige Lehre von der Adäquation aus: Wahrheit ist die Übereinstimmung von Geist und Sein. Mit dieser Auffassung bezieht er sich nicht zuletzt auf die Grade des Wissens, die sich unterscheiden lassen. Wissen kann zum ersten ein unwillkürliches Wissen sein. Es erreicht seine Reife im Wissen des Wissens, also in der Reflexion. Es kann zum zweiten ein Wissen sein, das von „Menschen“ nach Regeln ins Werk gesetzt wird. Zum dritten kann es ein Wissen sein, das sich durch seine geistige Abgeklärtheit auszeichnet. Dieses Wissen heißt zumeist Weisheit. Sie ist kein „beliebiges Wissen, sondern ein Wissen um das Wesentliche, um die letzten Gründe und Ziele des Seienden, eine Betrachtung und Beurteilung alles Zeitlichen im Licht der Ewigkeit (sub specie aeternitatis), ein Wissen, das sich dadurch als fruchtbar erweist, daß es allen Dingen in der Rangordnung des Alls den ihnen zukommenden Platz anweist, nach dem Wort des Thomas von Aquin: ,Sapientis est ordinare‘“7, d.i. der weise „Mensch“ ordnet die Welt. Vorausgesetzt, daß die Unterscheidung zwischen dem Alltäglichen und dem ihm eigentümlichen reflexiven Wissen, dem absichtsvollen Wissen und dem Wissen, das als Weisheit besteht, zumindest typologisch maßgeblich ist, kommt es darauf an, aufzuweisen und zu begründen, welchem Typ das wissenschaftliche Wissen zugehört. Wie es scheint, dürfte sich alsbald eine Übereinstimmung darüber einstellen, daß das Betreiben der Wissenschaft nicht zu den Aufgaben gehört, die man alltäglich besorgt. Natürlich gibt es so etwas wie eine Verwissenschaftlichung des Alltags. Das ist in der Regel der Fall, wenn täglich gebrauchte Güter als wissenschaftlich erstellt oder zumindest als wissenschaftlich geprüft bezeichnet werden. Ähnliches gilt für andere Lebenszusammenhänge, 7
Josef de Vries, Art. Weisheit, a. a. O., S. 453.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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zum Beispiel von der „wissenschaftlichen“ Bildungsarbeit, von der „wissenschaftlichen“ Politikberatung, usw. Der genaue Hinblick zeigt, daß derartige Bezeichnungen in der technischen Anwendung von wissenschaftlich erbrachten Ergebnissen begründet sind. Die Herstellung einer Zahnpasta ist ebensowenig eine Leistung der Wissenschaft wie die Förderung des Geschichtsbewußtseins durch die Volkshochschule oder wie das Gutachten eines Beirates zur Überwindung der Arbeitslosigkeit in einer Volkswirtschaft. Besteht dieses Urteil zurecht, kann der forschende Blick sich dem weisheitlichen Wissen zuwenden. Sind Wissenschaftler weise „Menschen“? Hilft die Wissenschaft, gut zu leben? In diesem und in jenem Fall mag es so sein. Aber gemeinhin wird man die Wissenschaftler wohl eher als gescheit und vielleicht auch als gebildet bezeichnen und ihre Werke als nicht mehr denn als nützlich beurteilen. Im eigenen Zeitalter ordnen die Wissenschaftler nicht mehr das Leben. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, daß sie vor allem den Fortschritt im Sinn der Beherrschung der Natur im Auge haben. Aus diesem Grund und aus verwandten Haltungen drängt sich die Feststellung auf, daß Wissenschaft und Weisheit inzwischen verschiedene Wege gehen. Damit kann der Schluß formuliert werden: Wenn die Aufgaben der Wissenschaft keine Aufgaben des Alltags sind und wenn sie auch nicht der weisen Besinnung angehören, so ergibt sich, daß das wissenschaftliche Wissen zum absichtlichen bzw. zum planvollen Wissen zählt. Nach diesen ersten Bestimmungen des Unterschiedes zwischen Erkennen und Wissen, des im Wissen gründenden Subjekt-Objekt-Verhältnisses, des als wahr aufgefaßten Wissens sowie der Grade des Wissens zeichnet das planvolle Wissen sich von anderen Ausprägungen des Wissens insbesondere in Kunst und Technik durch die folgenden Merkmale aus. Das wissenschaftliche Wissen ist zum ersten dadurch bestimmt, daß es sich im Horizont vernünftig-„menschlicher“ Erfahrungen und Einsichten bewegt. Wenn es hierbei auch keineswegs voraussetzungslos ist, so gründet es sich doch in keiner weltanschaulichen Überzeugung und noch weniger in einem religiösen Glauben. Als nur „menschliches“ Wissen strebt es nach Erkenntnissen, die gewiß sind. Hierbei ist charakteristisch, daß diese keine einzelnen Erkenntnisse sind. Sie bilden vielmehr einen Zusammenhang. Der Begriff der Wissenschaft ist deswegen stets ein Inbegriff. Er wird zunächst in einem umfassenden Sinn gebraucht. Derart verwendet, bezeichnet der Ausdruck „die“ Wissenschaft das Wissen einer Zeit. In einem zweiten Sinn ist die Rede von der Wissenschaft als „einer“ Wissenschaft. Dieser Begriff benennt die Gesamtheit von Erkenntnissen, die sich auf ein und denselben Gegenstand(-sbereich) beziehen und untereinander in einem Begründungszusammenhang stehen. Dieses Verständnis des wissenschaftlichen Wissens dürfte weitgehend Zustimmung finden. An ihm ist bemerkenswert, daß der erfaßte und zum Ausdruck gebrachte Begründungszusammenhang „nicht einfach Abbild eines realen Zusammenhanges“ ist, doch „entspricht“ er „auf seine Weise den im Realen sich findenden Zusammenhängen, Sachgründen
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
bzw. Ursachen“8. Mit anderen Worten: Der bzw. einer Wissenschaft ist der Hang zur Systematisierung ihres Gegenstandes und seiner Ursprünge eigentümlich. Die Besonderheit bzw. die Allgemeinheit der Begründung wird nicht zuletzt durch die Methoden des Erkennens bestimmt, also durch die kontrollierbaren Erkenntnisverfahren mit ihren Eigentümlichkeiten des schrittweisen Erfassens des Gegenstandes. Zu diesem Erfassen gehört auch die Ausbildung von vorläufig geltenden Annahmen von Beständen, Verhältnissen und Ursprüngen, also von Hypothesen. Nicht jeder wissenschaftliche Satz ist von Haus aus ein sicherer Satz. Diese Bestimmung gilt zumal von den Lehrsätzen im Unterschied zu den Basis- oder Grundsätzen, d.h. von den Erkenntnisprinzipien sowie von den Axiomen, die durch Übereinkunft erzielt werden. Endlich ist die wissenschaftliche Sprache zu erwähnen. Die Fachsprache sollte sich aus möglichst klaren und eindeutigen Bezeichnungen zusammensetzen. „Menschliches“ Gewißheitsstreben, Gegenstandsbezug des erkennenden Subjekts, Begründung bzw. Begründungszusammenhang, Methode und Terminologie sind also die vorrangigen Merkmale des Erkennens als Wissenschaft. Das wissenschaftliche Erkennen nimmt seinen geschichtlichen Ausgang in der epistêmê der Griechen und findet seine Fortsetzung in der scientia der Lateiner. Die Neuzeit der europäischen Kultur entwickelt es kraftvoll, wenn nicht fortschrittsgläubig und damit einseitig im Sinn des erwähnten „Herrschaftswissens“. Hierbei verzweigt es sich zunehmend zu besonderen wissenschaftlichen Disziplinen. Heute besteht diese Entwicklung als ein Zusammenhang, der nur noch mit Mühe übersehen werden kann. Das ist der Grund aus dem das vielfältige wissenschaftliche Erkennen aus sich heraus reflexiv geworden ist, also eine Wissenschaft von den Wissenschaften ausgebildet hat. Umfassend verstanden, heißt sie Wissenschaftslehre. Sie zieht auch ihre Nachbarwissenschaften in sich hinein, etwa die wissenschaftstheoretische Kritik, die Ethik, die Geschichtswissenschaft und andere mehr, um das Ganze der Wissenschaft sicher zu begreifen. Im engeren Sinn heißt diese Wissenschaft Wissenschaftstheorie. Sie sieht es zum ersten als ihre Aufgabe an, Wissenschaften sinnvoll einzuteilen sowie zum zweiten die Erkenntnistechniken ihrer Methoden zu bestimmen.9 Im Begreifen der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis ist sie hilfreich, indem sie den materialen Erkenntnisgegenstand Gesellschaft formal unterscheidet. Die gesellschaftliche Existenz-Gestalt der humanen Existenz ist eine andere im Sinn der Philosophie der Gesellschaft, eine andere im Sinn der Allgemeinen Soziologie sowie im Sinn der Besonderen Soziologien, eine andere im Sinn der Gesellschaftswissenschaften, die mit den Besonderen Soziologien zwar das Material8
Josef de Vries, Art. Wissenschaft, a. a. O., S. 472. Vgl. z. B. Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie. 3 Bände, München 1969/1985; Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Sonderausgabe. 4 Bände, Stuttgart 2002; Gerhard Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2006. 9
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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objekt teilen, es aber unter einer anderen Rücksicht studieren, und sie ist eine andere in den Sozialwissenschaften, die als Natur- und Geisteswissenschaften unter ihren Gegenständen material gesellschaftlich beschaffene Gegenstände im Auge haben. Sodann unterscheidet die Wissenschaftstheorie zwischen verschiedenen Hilfsmitteln des Erkennens und fragt, ob und wie sie den jeweiligen Methoden dienlich sind. Im Fall der gesellschaftstheoretischen wissenschaftlichen Erkenntnis reichen sie von der statistischen Tatsachenfeststellung bis zum semantischen Sinnverstehen der verschiedenen gesellschaftlichen Gestalten und Gestaltenwelten. Hierbei ist von eigener Problematik das Verhältnis zwischen dem verstehenden Erkennen der Gesellschaft, der der Erkennende angehört, und ihr als einem gegenständlichen Bestand, also das Verhältnis zwischen den intuitiven und abstrakten Erkenntnisverfahren.10 II. Die ersten und die nächsten Gründe als Ziel der universalwissenschaftlich-allgemeinen und der universalwissenschaftlich-besonderen sowie der spezialwissenschaftlichen Erkenntnis
Es bestand schon Gelegenheit, zu erwähnen, daß die europäische Wissenschaftskultur bis ins Altertum zurückreicht. Es sind die Griechen, die um die Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus den Übergang vom Mythos zum Logos erarbeiten, wie die geläufige Formel lautet. Mythos heißt Rede, Kunde, Sage. Indem die symbolbestimmte Weltanschauung sich erschöpft, entwickelt die Zeit an ihrer Stelle den Logos, d.h. das Wort, den Blick auf die Sache und die ergründende Erkenntnis. Der zusammenfassende Name des neuen Bemühens heißt epistêmê. Er benennt im Sinn des Wirkens das Sichverstehen auf Etwas, die Geschicklichkeit und das Kundigsein. Im Sinn der Gedanklichkeit bezeich10 Vgl. z. B. Werner Ziegenfuß, Art. Wesen und Formen der Soziologie. Abschnitt 9. Soziologie und Sozialwissenschaften, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956; vgl. zum reichlich entfalteten Meinungsstreit über das „richtige“ gesellschaftswissenschaftliche Erkennen z. B. Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964/19722; Ernst Topitsch/Peter Payer (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln/Berlin 1965/198010; Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt a. M. 1970; Karl-Dieter Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbeck 1970/19762; Rolf Priem/Heribert Tilmann, Grundlagen einer kritischrationalen Sozialwissenschaft. Studienbuch zur Wissenschaftstheorie, Heidelberg 1973/ 19773; Gerald Eberlein/Werner Kroeber-Riel/Werner Leinfellner, Forschungslogik der Sozialwissenschaften, Düsseldorf 1974; Bernhard Giesen/Michael Schmid, Basale Soziologie: Wissenschaftstheorie, München 1976; Hartmut Esser/Klaus Klenovits/Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie. 2 Bände, Bd. 1: Grundlagen und analytische Wissenschaftstheorie; Bd. 2: Funktionsanalyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Darmstadt 1978; Norbert Konegen/Klaus Sondergeld, Wissenschaftstheorie für Sozialwissenschaftler, Opladen 1985; Karl Acham, Art. Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, in: Karl-Heinz Hillmann (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
net er das Erkennen und das Wissen, und zwar in zielstrebiger Absicht. In seinem Höhlengleichnis legt Platon (427–347) dar, daß es Stufen des Wissens gibt, die zusammen einen Aufbau des Wissens aus Gründen bilden. Die humane Existenz ist aufgefordert, aus dem Schattendasein des bloßen Meinens herauszutreten und das Licht der sicheren Erkenntnis zu erstreben. Sie besteht als anschauliches Denken der Wesensgründe. Seinen Ausgang besitzt der Aufstieg in der eikasia, d.i. die Vermutung, was es mit dem Seienden auf sich hat. Ihr folgt die pistis, d.i. das Fürwahrhalten, daß und was Etwas ist. Auf sie folgt die Wissensstufe der dianoia, d.i. der begreifende Verstand. Sein Ziel erreicht der Aufstieg in der noêsis, d.i. die einsichtige Vernunft.11 Aristoteles macht sich diese Unterscheidung der Wissensstufen wohl zueigen, deutet zum ersten aber die ideelle Beschaffenheit des jeweils gemeinten Seienden um, indem er seinen Grund nicht mehr außerhalb seiner, sondern in ihm liegend bestimmt. Zum zweiten ordnet er das durch die Art seiner Allgemeinheit gegliederte Wissen in einer Weise, die erfahrungsorientiert ist. Sie prägt bis heute die Einteilung des planvollen sicheren Erkennens. Im Ganzen benennt er es mit dem überkommenen Namen epistêmê, d.i. Wissenschaft. Sie besteht in einem vornehmen, d.i. erste Gründe ermittelnden Sinn und in einem schlichten Sinn, in dem es darauf ankommt, den nächsten Grund von Etwas zu erfassen. Im vornehmen Sinn heißt die Wissenschaft philosophia, d.i. Liebe zur Weisheit. Realistisch bescheiden sich die Griechen mit diesem Streben. Sie wissen, daß es vermessen wäre, zu sagen, daß der „Mensch“ voll in den Besitz der Weisheit zu kommen vermöchte. Weise in jeder Hinsicht ist allein die Gottheit.12 In dem Maße, in dem es dem „Menschen“ möglich ist, nach der Weisheit zu streben und an ihr Teil zu haben13, befaßt er sich freilich mit der höchsten Wissenschaft.14 Höchste Wissenschaft ist sie, weil sie „das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende“15. Aus diesem Grund spricht Aristoteles von dieser Philosophie als der pro¯tê philosophia, d.i. Erste Philosophie.16 Die Beschäftigung mit ihr heißt theo¯ria, d.i. Betrachtung um der Betrachtung willen.17 Sie ist zunächst allgemeine Seinswissenschaft. Als diese befaßt sie sich mit den ersten oder obersten Weisen des Seienden. Diese ersten aitiai, d.i. Ursprünge sind zum Beispiel Form und Stoff, Selbstand und Zustand, Wirklichkeit und Möglichkeit, Einheit und Vielheit und so fort. Schließlich besteht sie als epistêmê theologikê, d.i. als Lehre von den archai, d.i. von den ersten Anfängen18, 11 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. Platon, Politeia, (Der Staat), (Edition Reclam), 514a–518a. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), Edition Meiner), 1072b. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 982a. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1064b. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1003a. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1026a. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1064b. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1064b.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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in Sonderheit von den ersten Anfängen im theı¯on, d.i. in Gott als dem Denken des Denkens19 und als dem ersten Grund aller Bewegung20. Die Erste Philosophie als Seins- und als Gotteslehre hat neben sich die deutera philosophia, d.i. Zweite Philosophie. Sie wird auch als Physik bezeichnet. Aristoteles schreibt: Wir versuchen, „hinsichtlich der sinnlichen Wesen Begriffsdefinitionen zu geben; denn eigentlich ist die Untersuchung über die sinnlichen Wesen Aufgabe der Physik und des zweiten Teils der Philosophie“21. Die Zweite Philosophie zielt also auf die Erkenntnis der jeweils nächsten Gründe eines Seienden, durch die es im Aufstieg durch seine Gattungen an seinen ersten Gründen teilhat. Der Ersten Philosophie voraufliegend sowie ihr nachfolgend kennt Aristoteles weitere wissenschaftliche Erkenntniszusammenhänge. Zu den voraufliegenden Wissenschaften zählen insbesondere die Untersuchungen zur Logik. Zu den nachfolgenden gehören die Besonderen Ersten Philosophien. Unter ihnen nimmt die Lehre von der Seele einen herausragenden Platz ein. Was die Zweite Philosophie betrifft, so ist sie von zahlreichen Wissenschaften umgeben, die die lebendige und nichtlebendige Natur untersuchen. Sie stellen im Ganzen das dar, was im engeren Sinn der Name epistêmê meint, nämlich das Insgesamt der zahlreichen Einzel- oder Fachwissenschaften, wie man diese Wissenschaften heute nennt. Einen Überblick über die Vielzahl der Wissenschaften, wie sie die peripatetische Schule erarbeitet hat, bietet die folgende Zusammenfassung: „Aristoteles schafft ein universales Werk philosophischer und einzelwissenschaftlicher Forschung, das auf einzigartige Weise Begriffsschärfe und Spekulation mit Erfahrung verbindet. Zugrunde liegt ihm ein außergewöhnlich reiches Material: eigene oder überlieferte Beobachtungen der Gestirne, des Wetters, der Pflanzen und Tiere sowie Erfahrungen, die der Mensch im persönlichen Leben, in Familie, Freundeskreis und Staat macht, nicht zuletzt Beobachtungen der Sprachformen, der Argumentations- und der Redekunst. Mit diesem empirischen Interesse verbindet sich die analytische Intention, die verschiedenen Phänomene für sich und im Verhältnis zueinander zu bestimmen, sowie die wissenschaftlich-spekulative Aufgabe, sie durch einen Rückgang auf Gründe bis zu schlechthin ersten Gründen, den Prinzipien, einsichtig zu machen. Aristoteles grenzt zum ersten Mal aus der einen Philosophie einzelne Forschungsgebiete aus; er begründet Spezialforschungen und Einzelwissenschaften. Dabei schlägt er die verschiedenen Forschungsbereiche nicht etwa über den Leisten einer einheitlichen Methode; im Gegenteil praktiziert er ein hohes Maß an Flexibilität und Toleranz.“ „Zu den relativ autonomen Einzeldisziplinen, zu Logik und Beweistheorie, zu Naturphilosophie, Kosmologie, philosophischer Psychologie und verschiedenen Bereichen der Zoologie, zu Gegenstandstheorie (Ontologie) und philosophischer Theologie, zu Ethik, Politik, Poetik und Rhetorik, verfaßt Aristoteles je eigene Lehrschriften. Bis heute bilden sie das Urbild philosophischer Abhandlungen“. „Und viele der
19 20 21
Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1074b. Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1012b. Aristoteles, Ta meta ta physica, a. a. O., 1037a.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
dabei eingeführten Begriffe sind ein wesentlicher Teil unsere Weltorientierung. Weil sie aber längst ins allgemeine Bildungsgut eingedrungen sind, übersieht man leicht, daß sie sich Aristoteles’ außergewöhnlicher Anstrengung des Denkens verdanken.“22
Auf die Unterscheidung des wissenschaftlichen Wissens als Erste Philosophie oder philosophische Allgemeinwissenschaft und als Zweite Philosophie oder als philosophische Sonderwissenschaft und als von diesen zwar verschiedene, ihnen aber zugeordnete universalwissenschaftliche bzw. spezialwissenschaftliche Sonderwissenschaft geht die Einteilung der Wissenschaften zurück, wie sie bis heute geläufig ist. Natürlich finden sich neben ihr andere Einteilungen. So wird zum Beispiel unterschieden zwischen den Wissenschaften, die sich gegebenen Ordnungen zuwenden und solchen, die Ordnungen untersuchen, die dem „Menschen“ aufgegeben sind. Die ersten werden in der Regel als theoretische, die letzteren als praktische Wissenschaften benannt. Zu jenen zählt (heute) beispielsweise die philosophische Psychologie, zu diesen die Ethik. Eine andere Einteilung unterscheidet zwischen formalen und materialen Wissenschaften. Zu jenen rechnet man (heute) beispielsweise die Mathematik und die Methodologie, zu diesen die Natur- und die Geisteswissenschaften. Aber diese Bemühungen sind hier nicht von Belang; deswegen werden sie auch nicht weiter verfolgt. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen der seinswissenschaftlichen Philosophie und den seinswissenschaftlichen Einzelwissenschaften oder, wie man auch sagt, zwischen der einen Universalwissenschaft und den vielen Spezialwissenschaften. Diese weiterführende Unterscheidung liegt in der Verschiedenheit der Reichweite, die ein Grund eines Gegenstandes der Erkenntnis besitzen kann. Auf ihn aber kommt es an. Hat man den Ursprung einer Sache erfaßt, hat man die Sache erfaßt. Oder mit Aristoteles gesprochen: „Allgemeines Merkmal“ dieses Ursprungs ist „in allen Bedeutungen“, „daß es ein Erstes ist, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird“23. Ursprung in der wissenschaftlichen Erkenntnis ist der Grund von Etwas. Der erste Grund ist derjenige, der den Erkenntnisgegenstand schlechthin trägt und deswegen zuletzt verständlich macht. Dieser erkenntnistheoretische Satz hat die erwähnte Auffassung zur Voraussetzung, daß das Seiende einen gestuften Aufbau besitzt. Ist es zwar real da als dieses Einzelne, so wird es doch immer nur als ein Einzelnes seiner Art hinreichend erkannt. Sokrates kann als Sokrates nur festgestellt und beschrieben werden. Erkannt wird er dadurch, daß man seine Wesensart erfaßt, d.h. daß man ihn als humane Existenz begreift, die zum Beispiel als menschliche Existenz-Gestalt real ist. Über die Gattung der Wesensart Mensch mit deren je besonderen Unterschieden aufsteigend, erkennt man, daß Sokrates ein vernünftiges Lebewesen ist, daß er sodann ein belebter Körper und 22 Otfried Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, S. 43 und S. 45 f. 23 Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1013a.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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daß er schließlich ein leiblich-geistiger Selbstand mit seinen Zuständen ist. So verhält es sich dem Erkennen nach. Aristoteles hat diesen Erkenntnisweg in der Nachfolge der platonischen Lehre von der gestuften Gemeinschaft der Ideen abschließend weiterentwickelt, indem er zwischen den begrifflichen Aussageweisen der Art, der Gattung, der spezifischen Differenz, den Eigentümlichkeiten und den zufälligen Eigenschaften unterschied.24 Dem Sein nach sind die Verhältnisse umgekehrt. Im Seinssinn ist Sokrates zuerst da entsprechend seinem Wesen im Unterschied zu Etwas von anderer Wesensart, d.h. als selbständiger „Mensch“. Sodann besondert er sich nach den Gattungsstufen. Die Besonderung findet ihren Abschluß „in diesem Einzelnen“, also in Sokrates. Aristoteles drückt den gegenläufigen Zusammenhang des Erkennens von Etwas und des Seins von Etwas wie folgt aus: Vom Standpunkt der Erkenntnis aus betrachtet, d.h. pros hemas, d.i. für uns, ist Etwas als dieses Einzelne das Frühere. Von ihm haben wir die erste Kunde, nämlich in seiner Wahrnehmung. Dabei nehmen wir freilich Etwas wahr, was vor unserer Erkenntnis als etwas Erkennbares begründet worden ist. Es ist das pro¯teron tê physei, d.i. das Erste der Natur nach. Ein Seiendes ist als Einzelnes das Erste im Erkennen, es ist als Allgemeines das Erste im Sein.25 Mit anderen Worten: Die „menschliche“ Erkenntnis erfaßt die Realität zwar zuerst, aber nur als diese Realität, während sie den Aufbau der Realität zwar später erfaßt, aber aus seinen Gründen. Denn daß eine aufgebaute Realität da ist, verdankt diese nicht ihrem erscheinenden Bestand, sondern den Ursprüngen, die diesen Bestand verwirklicht haben. In dieser Gegenläufigkeit von Erkennen und Sein, von Begrifflichkeit und Sachlichkeit von Etwas gründet der Unterschied zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Erkenntnis. Die Universalwissenschaft ist zwar gehalten, von der Erscheinung eines Gegenstandes auszugehen, aber ihr Erkenntnisziel ist der erste Ursprung des Sachverhalts. Die Philosophie bleibt zwar an die Erfahrungen des erkennenden Subjekts gebunden, aber sie denkt prinzipiell, d.h. dem Sein und dem Erkennen nach ursprungsbezogen, nicht hypothetisch. Sie „ist Universalwissenschaft, weil sie die Gesamtheit des Wirklichen umfaßt und deshalb zu den letzten Gründen alles Wirklichen überhaupt oder zu den absolut letzten Gründen vordringt“26. Dieses Urteil gilt jedoch nur dem Grundsatz nach. Denn wie schon erwähnt, hat Aristoteles der Mitte der Ersten Philosophie als Ontologie und Theologik, die zusammen wenig später den Namen Metaphysik erhalten, zahlreiche weitere philosophische Disziplinen angegliedert. Daß die Logik und die sogenannte rationale Psycholo24
Vgl. Aristoteles, Topika, (Organon V), (Edition Meiner), 101b–102a. Vgl. Aristoteles, Topika, a. a. O., 141a sowie ders., Analytica hystera, (Organon IV), (Edition Meiner), 71b; ders., Analytica protera, (Organon III), (Edition Meiner), 68b; ders., Physikê akroasis, (Vorlesung über Natur), (Edition Meiner), 184a. 26 Johannes B. Lotz, Art. Philosophie, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 295. 25
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
gie zu ihnen zählen, wurde bereits erwähnt. Weitere philosophische Sonderwissenschaften sind die Poetik, die Rhetorik und unter normativen Gesichtspunkten die Ethik und die Politik. Vergleichbares gilt von der Zweiten Philosophie, also von der Physik in der Benennung durch Aristoteles. Als grundlegende Lehre von der Bewegung wird sie ergänzt durch die Lehre von den Gestirnen, den Pflanzen, den Tieren und so fort. Aus der Anlehnung an diese Vorstellung und in der eigenen Sprache ausgedrückt, ergibt sich die folgende Dreiteilung der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie besteht (1) als Allgemeine Philosophie; sie besteht (2) in Besonderen Philosophien, und sie besteht (3) in den zahlreichen Einzel- oder Fachwissenschaften. Was diese Erkenntniszusammenhänge unterscheidet, sind die jeweiligen Gegenstände, deren Gründe bzw. Begründungszusammenhänge und die ihrer Erkenntnis angemessenen Methoden. Für die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft ergeben sich aus der aufgezeigten Einteilung die folgenden Unterscheidungen ihrer Kerndisziplinen Gesellschaftsphilosophie und Allgemeine Soziologie. Die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft besteht erstens als Philosophie der Gesellschaft. Als diese ist sie eine philosophische Sonderwissenschaft. Ihr Gegenstand ist die Gesellschaft schlechthin. Weil es noch andere philosophische Rücksichten gibt, ist dieser Gegenstand begrenzt. Diese zwar auf einen besonderen Gegenstand gerichtete, aber als Philosophie schlechthin bestehende Erkenntnis kann man in der Sprache der Phänomenologie als regionale oder materiale Ontologie bezeichnen. Was immer von gesellschaftlicher Wesensart ist, bildet ihren Gegenstand. Deswegen sind die Gründe, die sie zu erkennen sucht, erste Gründe, d.h. solche, die von allem Gesellschaftlichen gelten. Mit ihren Erkenntnisverfahren verhält es sich anders. Sie sind zunächst solche der Sinneserkenntnis oder, wie man auch sagt, solche der äußeren Erfahrung. In der Abfolge des Erkennens aber begibt sich die philosophische theoretische Gesellschaftserkenntnis auf den Weg der Abstraktion. Auf ihm schreitet das gesellschaftsphilosophische Erkennen so lange voran, bis es zu den ersten Gründen der Gesellschaft gekommen ist bzw. bis es ihren Urgrund erreicht hat. Der Erkenntnisvorgang läßt sich ohne Mühe beschreiben. Als Beispiel mag eine Familie A dienen. Sie ist bekannt als konkrete Familie, beispielsweise des eigenen Lebenszusammenhanges. Der erste Schritt der gesellschaftsphilosophischen Erkenntnis besteht darin, die Familie A wahrzunehmen und in ihren Erscheinungen zu erfassen. Sobald der Allgemeinbegriff dieser Erfahrung es erlaubt, ist nach der Wesensart der Familie A zu fragen. Dieser Begriff erfaßt die Familie A als gleich, als ähnlich oder als verschieden beschaffen gegenüber der Familie B und allemal von anderen gesellschaftlichen Gestaltwirklichkeiten. Im Urteil werden die Familien als Grundgestalten der humanen Existenz erfaßt. Grundgestalt besagt, daß sie verschieden sind von anderen Grundgestalten. Als erste Gattung begriffen, d.h. als Erhaltung des humanen Daseins, erweist sie sich als verschieden von anderen ersten Gestaltgattungen, zum Beispiel von denen der Daseinssinngebung (kultische
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Gemeinde) und der Daseinssicherung (Staat). Auf der nächsthöheren Gattungsstufe gibt sie sich wiederum durch ihren besonderen Unterschied zu erkennen als verschieden von anderen humanen Existenz-Gestalten, insbesondere in den Sozialkategorien Beziehung, Handlung, Gesellschaft und Singularität. Am Ende des Aufstiegs findet sich der Ursprungsgrund bzw. der Begründungszusammenhang seinshafter Natur, also das humane Zusammensein zuständlicher Selbstände. Dieser Ursprung weist die Familie A als etwas Gesellschaftliches aus. Um diesen Ausweis der humanen Existenz als gesellschaftliche Existenz-Gestalt geht es der Gesellschaftsphilosophie, und zwar zunächst im Zusammenhang einer Gesellschaft und schließlich der Gesellschaft sowie in der Folge um den Unterschied zu anderen Realitäten der humanen Existenz. Von der gesellschaftsphilosophischen Erkenntnis verschieden ist das einzelwissenschaftliche Erkennen der Soziologie. Freilich teilt sie mit der Gesellschaftsphilosophie den Ausgangspunkt ihrer Erkenntnis, also die Familie A, um beim Beispiel zu bleiben. Den ersten Schritt ihrer Erkenntnis bildet ihre Wahrnehmung. Aber schon in ihrer Erkenntnis der genannten Familie als Tatsache findet sich nicht mehr das philosophische Erkenntnisziel der unbegrenzten Erkenntnis eines begrenzten Gegenstands. Der Blick richtet sich nicht mehr auf das Allgemeine bzw. auf das Wesentliche. Das Erkenntnisinteresse zielt auf das Erfahrbar-Allgemeine und damit auf seinen nächsten Ursprung. Insofern begnügt sich die soziologische Erkenntnis mit der Annahme, daß die fragliche Gestalt etwas Gesellschaftliches ist. Die Frage, ob sie die Familie A nicht als etwas Geschichtliches, als etwas Sittliches, als etwas Juristisches, usw. untersucht, läßt sie auf sich beruhen. In der Folge zielt das Erkennen in die angenommene gesellschaftliche Breite. Es wird also nach den Beschaffenheiten der Familie A fragen und nach den Verhältnissen, in denen sie sich befindet. Vermutlich richtet der erste Blick sich auf die Ehe- bzw. Lebenspartner; auf ihre Herkunft, auf ihre Gewohnheiten und auf ihren Lebensstil; sodann mögen die Kinder von Interesse sein, ihre Zahl, ihre Erziehung, ihre Lebenschancen; sodann die verwandtschaftlichen Verhältnisse, die Ehescheidung und Wiederverheiratung; schließlich auf die Eingliederung der Familie in das gesellschaftliche Umfeld als Nachbarschaft und Arbeitsfeld; auf Beständigkeit und Veränderungen gegenüber der vorgängigen Generation, auf wirtschaftliche Sicherungsbedingungen und auf Fragen des Wohlstandes und der Erbfolge, und es mag vordringen bis zum Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie und hierin ein sogenanntes Kontraktionsgesetz der Familie erblicken. In diesem Sinn wird die Soziologie in allen genannten und in zahlreichen weiteren Fragen bemüht sein, den jeweils nächsten Grund zu erkennen. Sie mag ihn finden zum Beispiel in der Bewertung, die ein Geschlecht sich und dem anderen zuteil werden läßt, in der Individualisierung und Säkularisierung, in der Bewahrung oder Ausgliederung von familiären Tätigkeiten, in den Beweglichkeiten gegenüber der Arbeitswelt und der Ausbildung, und sie mag vordringen bis zur Behauptung, daß die Familie
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
als sogenanntes soziologisches Universale besteht, das zu allen gesellschaftlichen Relativitäten quer liegt. Sofern in diesen und zahlreichen weiteren Begründungen etwas gesellschaftlich Richtiges und nicht nur etwas human Richtiges erkannt worden ist, handelt es sich um das Erfassen der nächsten Gründe, aus denen die Gestalt der Familie A so wahrnehmbar ist, wie sie wahrnehmbar ist, sofern sich die Soziologie nicht mit mutmaßlichen Lehrsätzen begnügt. Die erkannten Gründe gelten somit von einem begrenzten Gegenstand, auf den sich eine begrenzte Erkenntnisabsicht richtet. Die Philosophie der Gesellschaft und die Soziologie unterscheiden sich also zum ersten hinsichtlich der Tiefe ihres Gegenstandes und zum zweiten hinsichtlich der angezielten Gründe bzw. Begründungen mit den auf sie gerichteten Methoden. Die universalwissenschaftliche Philosophie der Gesellschaft untersucht diese und damit einen zwar begrenzten Gegenstand, diesen jedoch im Allgemeinen, weshalb sie bemüht ist, ihn aus seinen ersten Gründen zu begreifen. Die spezialwissenschaftliche Soziologie untersucht im Unterschied hierzu die Gesellschaft als einen begrenzten Gegenstand, den sie in seiner Besonderung verstehen will, d.h. aus seinen nächsten Gründen. Deswegen ist es abwegig zu meinen, die Philosophie „schweift spekulativ“ oder sogar als verderbliche Doktrin durch die gesellschaftlichen Räume und Zeiten, um der Soziologie streitsüchtig auf diese Behauptung zu erwidern, daß sie selbst, zumal als empirische Soziologie, nichts anderes betreibt, als die Erfahrungsrealität zu verdoppeln. Am Ende dieses Abschnitts mag es nützlich sein, auf ein sprachliches Problem aufmerksam zu machen. Um der Verständlichkeit willen wurde in der Bestimmung des Unterschiedes zwischen der Philosophie der Gesellschaft und der Allgemeinen Soziologie nahezu durchgängig der Ausdruck des (realen) Grundes bzw. der (logischen) Begründung verwendet. Der Name Grund wird jedoch in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Überdies hat er sinnverwandte Ausdrücke neben sich. Zu ihnen zählen insbesondere die Ausdrücke Ursprungsgrund bzw. Prinzip und Ursache. Zu gegebener Zeit werden die Sinnunterschiede dieser Begriffe zu klären sein, so daß Mißverständnisse jedenfalls rückwirkend ausgeschlossen werden können. III. Der Realismus als Erkenntnisgestalt
Als Kerndisziplinen der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis sind die Philosophie der Gesellschaft und die Allgemeine Soziologie benannt worden. Daß es sich bei ihnen um Erkenntniszusammenhänge handelt, die zwar ein und dieselbe Gesellschaft im Auge haben, diese aber insbesondere gegenständlich und methodisch anders auffassen, so daß die Ergebnisse ihrer Erkenntnis verschieden sind, wird gegenwärtig nicht in dem Maße berücksichtigt, in dem das nötig ist. Verbreitet ist die Auffassung, daß der Name Philosophie der Gesellschaft als eine zusammenfassende Bezeichnung für verschiedene wissenschaftliche bzw.
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als Wissenschaft sich ausgebende Bemühungen besteht, deren Kern sich schließlich als Gesellschaftsethik verstehen läßt. Die herrschende Philosophie der Gesellschaft ist jedenfalls keine gesellschaftliche Seinslehre, sondern eine mehr oder weniger wohlbegründete gesellschaftliche Sollenslehre. Den Bestand der Gesellschaft erkennt allein die Soziologie und zwar in der Form der Erforschung intersubjektiv ermittelter „natürlicher“ Gesetzmäßigkeiten bzw. „kultureller“ Regelmäßigkeiten. Als Zusammenfassung dieser mangelhaft bestimmten, wenn nicht in die Irre führenden Auffassungen können die folgenden Bestimmungen dienen, die sich an repräsentativen Orten finden. Über die Philosophie der Gesellschaft kann man lesen: „Sozialphilosophie, Sammelbezeichnung 1. für unterschiedliche Gebiete der praktischen Philosophie, wie politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Sozialethik; 2. für theoretische Grundlagenfächer der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie . . .; 3. für Untersuchungen über elementare Formen der Zwischenmenschlichkeit“.27
Über die Soziologie heißt es: „Soziologie . . ., eine selbständige Einzelwissenschaft, die als Sozialwissenschaft auf die empirisch-theoretische Erforschung des sozialen Verhaltens, der sozialen Gebilde, Strukturen und Prozesse ausgerichtet ist. Da das soziale Zusammenleben der Menschen insgesamt und nicht nur bestimmte, inhaltlich umgrenzte Bereiche und Aspekte (Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung u. a. m.) das Forschungsgebiet der Soziologie darstellt, bildet sie die grundlegende Sozialwissenschaft.“28
Die mangelhafte Bestimmung der universalwissenschaftlichen Art der Philosophie der Gesellschaft, die durch die Erkenntnis ihrer ersten Gründe im Besonderen ausgewiesen ist, und der spezialwissenschaftlichen Soziologie mit ihrer Erkenntnis der nächsten Gründe einer Gesellschaft sowie der Verhältnisse zwischen der Philosophie der Gesellschaft und der Soziologie, ist indessen nur ein erster Befund der Unzulänglichkeit der theoretischen Gesellschaftserkenntnis. Ein zweiter Befund betrifft die herrschenden Gestalten der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis. Der Name der Erkenntnisgestalt bezeichnet die tatsächlich bald so und bald anders ausgebildete Vieleinheit eines Erkenntnisvorganges. Ihren Grund besitzt diese Vieleinheit darin, daß ein und dasselbe erkennende „menschliche“ Subjekt nicht nur über ein Vermögen des Erkennens verfügt, sondern verschiedenartige Erkenntnisvermögen besitzt. Zumal sie überdies verschieden ausgeprägt sind, lassen sie sich verschieden anordnen. Dieser Anordnung entsprechend, bildet das Erkennen verschiedene Erkenntnisgestalten aus. In der Literatur finden sich statt des Namen Erkenntnisgestalt auch die Namen Erkenntnistyp und Erkenntnisform. Gemeint ist immer die in sich ge27 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Sozialphilosophie, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 617. 28 Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 821.
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schlossene und unterschiedene Art des Erkennens, die aus verschiedenen Erkenntnisweisen in ihren Eigentümlichkeiten besteht, die sich nicht auf einander zurückführen lassen. Fürs erste können diese Erkenntnisweisen zusammengefaßt als Sinneserkenntnis einerseits und als geistige Erkenntnis andererseits benannt und unterschieden werden. Von der Sinneserkenntnis spricht man dann, wenn ein körperliches Organ des „Menschen“, beteiligt ist, das Zentralorgan des „Menschen“, das Gehirn, selbstverständlich eingeschlossen. Von diesem Erkennen verschieden ist das geistige Erkennen. Es gründet in der Geistigkeit des „Menschen“. Worin sie besteht, darüber geht der Streit. Man darf ihn als erfreuliche Besinnung begrüßen, denn die Zeit der Leugnung des Geistes der humanen Existenz scheint vorbei zu sein.29 Altertümlich gesprochen, ist das geistige Erkennen ein Vermögen der Seele bzw. allgemein benannt, eine Wirkung des ursächlichen Geistes. Denn „eine Analyse der Verstandeserkenntnis zeigt . . ., daß diese nicht notwendig auf den menschlichen Modus eines Denkens des sinnlich Gegebenen eingeschränkt werden muß, sofern nämlich in einem rein geistigen Vollzug dem Erkennen sein An-sich-Sein für sich selbst in reiner Anschauung gegeben sein kann. Ob es solche rein geistige Vollzüge gibt . . ., bedarf eigener Begründung.“30 Dieser Hinweis auf den transzendierenden Ausgriff des Geistes verdeutlicht, daß das geistige Erkennen zu den höchsten Vermögen der humanen Existenz gehört. Mit dieser Bestimmung ist auch das Verhältnis zwischen der Sinneserkenntnis und der geistigen Erkenntnis charakterisiert. Man spricht von ihm als einer Stufung, wobei die Sinneserkenntnis die untere und die geistige Erkenntnis die obere Stufe einnimmt. Das Erkennen des „Menschen“ umfaßt stets beide Stufen. Ein Erkennen nur auf einer Stufe gibt es nicht. Alle „menschliche“ Erkenntnis ist sowohl sinnlich als auch geistig. Allerdings ist das Verhältnis dieser Stufen nicht festgelegt. Denn das erkennende „menschliche“ Subjekt besitzt die Fähigkeit, über den Anteil der jeweiligen Erkenntnisweise zu entscheiden. Als Wesen, das Wollen kann, vermag der „Mensch“ über die Gestalt seines Erkennens zu bestimmen. Hierbei ist er jedoch gehalten, diejenige Erkenntnisgestalt auszubilden, die die vorgegebenen logischen Gesetze gebieten. Offenkundig lassen sich drei Grundgestalten des Erkennens unterscheiden. Ihre erste wird als „vollmenschliche“ Erkenntnisgestalt bezeichnet. Von der zweiten heißt es, daß sie sich in einem „Reduktionsbegriff“ erfassen läßt. Von der dritten wird gesagt, daß das „menschliche“ geistige Erkennen verschieden ist von „einem rein geistigen Vollzug“31. Als erkenntnistheoretische Zusammenhänge heißen diese Er29 Vgl. z. B. Winfried Weier, Das Phänomen Geist. Auseinandersetzung mit Psychoanalyse, Logistik, Verhaltensforschung, Darmstadt 1995; Dieter Teichert, Einführung in die Philosophie des Geistes, Darmstadt 2006. 30 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 91. 31 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, a. a. O., S. 91.
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kenntnisgestalten in der Regel Realismus, Empirismus und Rationalismus. Die gesellschaftstheoretische Erkenntnis ist ihnen gegenüber nicht unvoreingenommen. Diese Einstellung wird verständlich, wenn man bedenkt, daß das Offenkundigwerden der Gesellschaft im Seinssinn geschichtlich mit der Ermüdung und schließlich mit der Verdrängung der realistischen Erkenntnisauffassung einhergeht. Wie bekannt, tritt an ihre Stelle das rationale Erkennen, dem auf dem Fuß sein Gegenteil folgt, nämlich das empirische Erkennen. Jenes wie dieses Erkennen entdeckt die „Gesellschaft“ als denjenigen trag- wie deutungsfähigen, die „Metaphysik“ ersetzenden Grund, der das Leben der humanen Existenz schlechthin wie deren wissenschaftliches Erkennen im besonderen zu gewährleisten vermag. Deswegen dürfte es ratsam sein, die drei Erkenntnisgestalten zu skizzieren, um ihre Folgen verständlich werden zu lassen. Der Realismus besitzt seinen Namen deshalb, weil nach seiner Auffassung das Seiende wirklich da ist. Real zu sein besagt, „daß alles, was überhaupt ist, einen sachlichen Gehalt besitzt“, d.h., daß es „eine inhaltliche Bestimmung und Wesensverfassung aufweist“32. Das Reale ist weder ein bloßer Schein noch etwas widerständiges Materielles. Seine Beschaffenheit läßt sich vielleicht am besten dadurch verdeutlichen, daß man den „Wirklichkeitsstandpunkt“ von seinem Gegensatz im engeren Sinn her beurteilt. Das ist die Seinsauffassung des Idealismus. „Idealismus ist dem Wortsinn nach die Lehre, die den Ideen, den Idealen und damit dem Geist im Ganzen des Seins die beherrschende Stellung zuweist.“33 Wenn heute die Meinung vertreten wird, daß das Seiende im Ganzen ideal oder geistig beschaffen ist, so hat diese Ansicht gemeinhin ihren Grund in der Erfahrung des Bewußtseins der humanen Existenz. Insbesondere seine Ausprägung als reflexes Bewußtsein macht es zu einem einzigartigen Befund. Indem das Bewußtsein sich auf sich selbst richtet, vermag es zwischen dem Aktbewußtsein, dem Gegenstandsbewußtsein und dem Selbstbewußtsein zu unterscheiden. Es weiß Etwas über den Zustand, die Ausrichtung und über die Trägerschaft seiner selbst. Dem Grundsatz nach ist es sich selbst durchsichtig. Die Kraft dieses Selbstbesitzes eröffnet dem „Menschen“ den Zugang zum geistigen Leben. Tritt er in dieses Leben ein und schreitet er in ihm voran, mag es sein, daß er zuletzt das Seiende im idealen Sinn bemerkt, erfaßt und bestimmt. Freilich bleibt diese Deutung des Seienden an die Bestimmung des Bewußtseins und des Denkens des „Menschen“ gebunden. Die aufgefundene Idealität ist keine Idealität schlechthin. Weil sie innerhalb der Grenzen der humanen Existenz aufgefaßt und ausgelegt wird, ist es nicht statthaft, zu folgern, daß alles, was ist, auf ideale Weise „real“, d.h. da ist. Erst der Nachweis, daß es eine Idealität gibt, die schlechthin besteht, erlaubt diese Behauptung. Daß der tradi32 Max Müller/Alois Halder, Art. Realität, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch. Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 257. 33 Josef de Vries, Art. Idealismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 174.
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tionelle Realismus ihr zwar nahesteht, aber den Unterschied zwischen der Realität und der Idealität nicht verwischt sehen will, ist bekannt. Denn der Realismus ist darauf eingestellt, von der äußeren zur inneren Erfahrung voranzuschreiten und sodann durch Abstraktion die Gründe der Bestände zu bestimmen, um so zu den ersten Ursprüngen vorzudringen. Sie mögen sich als Ideen oder sogar als Ideale, also als verwirklichte Ideen, aufweisen lassen. Sofern es diese Geistigkeit gibt, geht sie in der Tat formgebend und inhaltfüllend in das Seiende ein. Aus diesem Zusammenhang von Realität und Idealität erklärt sich der Standpunkt der klassischen Metaphysik, der als Idealrealismus bezeichnet zu werden pflegt. Er lehrt die „Einsichtigkeit des Gesehenen“, d.i. das sogenannte intelligibile in sensibili. Aber diese Geistbestimmtheit ändert nichts an der realistischen Auffassung, nach der das Seiende sachlich beschaffen ist. Es ist ein An-sich-Sein, das dem Bewußtsein gegenübersteht. Die Körperlichkeit von Etwas und das Bewußtsein von ihm sind verschiedene Dinge. Es scheint nicht unnütz zu sein, diesen Zusammenhang noch einmal zu erwähnen. Die realistische Auffassung des Seienden, nach der es da ist kraft seiner Sachlichkeit, wirkt sich zum ersten in der Lehre von der sinnlich wahrnehmbaren Welt aus. Zusammenfassend wird vom Problem des Außenweltrealismus gesprochen. Dieses Lehrstück versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, aus welchem Grund es erlaubt ist, von den Gegebenheiten, die die Sinne erfassen, zu behaupten, daß sie an sich seiend bestehen. Denn aufgenommen hat das Bewußtsein nur dieses und jenes äußere, d.h. sinnliche Datum. Beispielsweise vermag sich die Aufmerksamkeit auf Etwas zu richten, was in der Farbe als rot gegeben ist, was sich rundlich anfühlt, was herb duftet und süß schmeckt. Beachtlich ist bereits die unwillkürliche Annahme, daß diese Daten nicht bestritten werden können. Noch erstaunlicher aber ist, daß das Bewußtsein sie in ein Verhältnis zueinander bringt. Denn was berechtigt das erkennende Subjekt, diese sinnlichen Daten als ein und demselben Seienden zugehörig anzusehen? Dennoch sagt man ohne zu zögern: Jene Gegebenheit kann eine Kirsche sein. Obwohl man solchermaßen sicher urteilt, ist jedem klar, daß dem Kirsche-Sein keine Sinneserkenntnis entspricht. Die zum Ausdruck gebrachte Sachlichkeit bzw. Seinshaftigkeit jenes Bestandes wird sinnlich nicht erfaßt. Sie wird unwillkürlich vom erkennenden Subjekt als real existierend behauptet. Das erwähnte Verhältnis zwischen der Art der Wahrnehmung und der Art des An-sich-Seins der Gegebenheiten findet sich durchgängig als Verhältnis zwischen dem „menschlich“ erkennenden Subjekt und der Sinnen- bzw. Körperwelt. Es ist ein bestimmungsfähiges Verhältnis. Nach der Art der Bestimmung wird über den Seinscharakter der Außenwelt geurteilt. Über diesen Charakter sagt der Realismus zusammenfassend das folgende: Es ist zuzugeben, „daß das Sein als solches nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern zum Wahrgenommenen hinzugedacht wird“. Der Realismus „bemüht sich deshalb, die zunächst nicht reflex bewußten Gründe für die ,Objektivierung‘ . . . der Sinnesdaten phi-
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losophisch zu klären. Letztlich dürften es nicht formale Schlüsse sein, die den Ausschlag geben, sondern die Tatsache, daß ohne die Annahme einer realen Welt der Gesamtzusammenhang unseres Lebens, besonders die Erfahrung intersubjektiver Verständigung, völlig unbegreiflich wird.“34 Daß naturgemäß auch das gesellschaftstheoretische Erkennen sich der genannten Problematik im Sinne der Bewußtseinswelt und der transsubjektiven Außenwelt gegenübersieht, sei zwischendurch wenigstens erwähnt. Alle gesellschaftstheoretische Erkenntnis kennt auch die sinnliche Erkenntnis des Verhaltens der humanen Existenz. Aber welche Daten dieses Verhaltens sind solche seiner gesellschaftlichen Existenz-Gestalt? Es liegt in der Natur der Sache, daß ihre Gesellschaftlichkeit als solche sinnlich nicht wahrnehmbar ist. „Menschliche“ Verhaltensweisen müssen als reale gesellschaftliche Verhaltensweisen erklärt werden. Wann also ist eine „menschliche“ oder auch „natürlicherweise“ mitmenschliche Gegebenheit ein gesellschaftlich seiender Bestand? Um eine anschauliche Erklärung bemüht sich zum Beispiel Max Weber (1864–1920), wenn er schreibt: „Nicht jede Art der Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wäre ihr Versuch, dem anderen auszuweichen und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ,soziales Handeln‘.“35 Wäre Max Weber ein Vertreter des Außenweltrealismus, würde er etwa wie folgt antworten: Das „sinnhaft am Verhalten des anderen orientierte eigene Verhalten“ ist von einzigartiger, nämlich von sozialer Geformtheit und von inhaltlicher, nämlich menschlicher Erfülltheit. Die „Orientierung am anderen“ bezieht sich auf ein Sein-an-sich. Auf eben diese Weise antwortet Max Weber jedoch nicht. Er urteilt nicht im Sinn des Realismus. Er ist Idealist. Da sich, wie er meint, über den Sinn, den ein „menschliches“ Subjekt anstrebt, nichts ausmachen läßt, bleiben auch seine wahrnehmbaren Verhaltensweisen unbestimmt. Kommt ihnen aber kein An-sich-Sein zu, obwohl es sie zu erkennen gilt, kann die nötige Erklärung sich nur im Bewußtsein des soziologischen Forschers finden. An ihm liegt es, Modalitäten des Verstehens zu entwerfen. Als gedachte Verhaltenstypen sind sie etwas Ideales. Werden sie in der Erkenntnis verwendet, lassen sich die Orientierungen der „Menschen“ an einander als „soziales Handeln“ verstehen. Wie Immanuel Kant (1724–1804) vertritt Max Weber „für die Weltwirklichkeit in Raum und Zeit einen empirischen Realismus“, erkenntnisprinzipiell jedoch „einen transzendentalen Idealismus“36 oder vielleicht genauer: Einen logischen Idealismus, also einen Idealismus, der auf die Benennung des Trägers des Erkennens verzichtet, 34
Josef de Vries, Art. Realismus, a. a. O., S. 317 f. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei Halbbände, Tübingen 1922, S. 11. 36 Max Müller/Alois Halder, Art. Realismus, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 257. 35
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indem er nur auf die Klärung des Verhältnisses von Denkinhalten von gesellschaftswissenschaftlich gelehrten Köpfen Wert legt. Daß der logische Idealismus einen gesellschaftstheoretischen Individualismus zur Folge hat, ist bekannt. Eine zweite Auswirkung der Auffassung, nach der das Seiende förmlich verfaßt und inhaltlich bestimmt ist und deswegen gegenüber der Bewußtseinswelt als Außenwelt wirklich da und erkennbar ist, betrifft das Erkennen dieses Bestandes im Allgemeinen. Zweifellos ist der Bestand da als dieser Bestand. Auf ihn zeigt man mit dem Finger. Andererseits existiert er aber nicht nur im Einzelnen, sondern auch im Allgemeinen. Nach dieser Auffassung sind zum Beispiel Peter und Paul zwar zwei verschiedene Wesen, aber zugleich ist Peter ein „Mensch“ wie Paul ein „Mensch“ ist. Mit ihrem Einzelsein verbindet sich ein allgemeines Sein. Die nähere Betrachtung läßt ein Doppeltes erkennen. Sie betrifft einen Befund des Bestandes und einen Befund des Auffassens des Bestandes. Zum ersten: Peter und Paul sind zwar beide „Menschen“, aber das PeterSein und das Paul-Sein andererseits ist von ihrem „Menschsein“ nicht real verschieden. Peter und Paul sind nicht nur diese, sondern als diese auch „Menschen“. Peter ist da als „Mensch“, und Paul ist da als „Mensch“. Ihre jeweilige Vereinzelung, durch die sie verschieden sind, bilden mit ihrer Allgemeinheit einen einheitlichen Bestand. Anders verhält es sich in der Erkenntnis. Zum zweiten also: Die Erkenntnis ist genötigt, das Einzelsein und das Allgemeinsein als etwas Verschiedenes aufzufassen. Das Erkennen trennt, was in der Realität als Einheit besteht. Wie das Verhältnis von Einzelnem und von Allgemeinem im Erkennen zu bestimmen ist, erweist sich als ein Problem ersten Ranges. Unter dem Namen des Begriffsrealismus lautet die Auffassung, daß das Allgemeine gegenüber dem Einzelnen den Vorrang genießt, mehr noch: Daß es getrennt von ihm als Idee existiert. Das Einzelne ist allein nur dadurch „wesentlich“ beschaffen, daß es an seinem Urbild teilhat. Bekanntlich ist das die Auffassung Platons und die Ansicht aller idealistischen Philosophie bis heute. Sie löst das Allgemeine so weit vom Einzelnen ab, daß es als „Reich der Ideen“ einen Bestand bildet, der unabhängig vom „Reich der Dinge“ besteht. Was als Tatsache vorhanden ist, richtet sich nach seiner Idee und nicht umgekehrt. Diesem Begriffsrealismus steht jene Meinung entgegen, die zusammenfassend Nominalismus heißt. Diese Lehre vom Allgemeinen und vom Einzelnen behauptet, daß es ein seiendes Allgemeines nicht gibt. Real existiert allein das Einzelne. Es besteht ohne jeden Allgemeinheitsbefund. Das Allgemeine gibt es allein als Namen. Mit seiner Hilfe ist ein Forscher im Stande, einzelne Dinge und „Menschen“ zusammenfassend und unterscheidend zu benennen. Die Frage nach dem Allgemeinen ist eine Frage der Sprache, keine Frage der Sache. Weniger grundsätzlich als dieser Nominalismus ist der sogenannte Konzeptualismus. Nach seiner Meinung findet sich das Allgemeine sehr wohl. Das belegt jedes Urteil, in dem wenigstens die Satzaussage ein Allgemeinbegriff ist. Aber diese Behauptung besagt nicht, daß
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das Allgemeine auch im gegenständlichen Sinn besteht. Es ist nur ein Denkinhalt. Von den bis jetzt genannten Auffassungen verschieden ist die realistische Lehre vom Bestand und vom Verhältnis des Einzelnen und des Allgemeinen hinsichtlich des Gegenstandes und hinsichtlich des Begriffs. Der Realismus nimmt „nicht nur an, daß es allgemeine Begriffe gibt, sondern auch, daß ihr Inhalt, die gedachte ,Washeit‘, im Seienden verwirklicht ist. Nach dem auf Aristoteles zurückgehenden gemäßigten Realismus . . . ist der Inhalt des Begriffs ,auf andere Weise‘, d.h. nicht real unterschieden von den das Einzelne als solches konstituierenden Bestimmungen verwirklicht, sondern mit ihnen zur konkreten Einheit eines Seienden verbunden.“37 Daß die realistische Logik der Bestimmung des Begriffs große Aufmerksamkeit schenkt, ist bekannt. So benennt sie ihn zum ersten in seinem Wesen als die einfachste Form des Denkens. Damit stellt sie den Begriff in die Reihe der logischen Gebilde des Urteils und des Schlusses. Sodann unterscheidet sie am Begriff den Denkakt und den Denkinhalt, wobei dieser auf seinen Denkgegenstand bezogen ist. Der sprachliche Ausdruck des Begriffs ist ein Wort. Ausführlich wird die Einteilung der Begriffe erörtert. Nicht weniger umfassend spricht der Realismus über die Gewinnung von Begriffen. Nach seiner Auffassung beginnt sie mit der Aufnahme von Sinnesdaten durch das erkennende Subjekt und gelangt mit Hilfe verschiedener Vermögen der inneren Sinneserkenntnis sowie der rezeptiven und spontanen Fähigkeiten des Verstandes und der Vernunft schrittweise zum klar und deutlich gedachten Allgemeinbegriff. Dieses Denken des Allgemeinen im Einzelnen ist entweder ein Allgemeinbegriff der Erfahrung oder ein Allgemeinbegriff des Wesens. Unter den wesentlichen Allgemeinbegriffen sind die Erstbegriffe grundlegend, zum Beispiel als Begriffe der Ursprungsgründe des Seienden, des Werden und des Erkennens. Diese Hinweise sollten genügen. Sie mögen verständlich gemacht haben, welches erkenntnistheoretische Gewicht die Bestimmung des Begriffs besitzt. Die Welt wird anders aufgefaßt, wenn sie in idealistischen Begriffen gedacht wird oder in realistischen Begriffen. Sie wird anders gedacht in Denkinhalten des Konzeptualismus und in Namen des Nominalismus. Daß gegenwärtig der Nominalismus das gesellschaftswissenschaftliche Erkennen beherrscht, ist bekannt. Gegenüber dem Anspruch, den er erhebt, ist eine klare Antwort nötig. Sie lautet wie folgt: Die nominalistische „Ansicht widerspricht dem klaren Bewußtseinsbefund, der außer den Gemeinnamen auch allgemeine Denkinhalte aufweist“. „Unter dem Eindruck mangelhafter Bewußtseinsanalyse“ greift der Nominalismus „zu sinnlichen Schemen als Ersatz für echte Allgemeinbegriffe. Der Grund dafür liegt im Verkennen der geistigen Abstraktion, die allein erklärt, wie wir zwar in der Bildung der Begriffe von der Erfahrung abhängig 37 Josef de Vries, Art. Realismus in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 318.
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sind, wie aber die Allgemeinbegriffe trotzdem die Erfahrung übersteigen.“38 Eben dieser Überstieg ist nötig, will man erkennen, um welchen „menschlichen“ Bestand es sich im Fall der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt handelt und wie diese sich im Wesentlichen aufbaut und verwirklicht. Die vorliegende Untersuchung ist dabei, den „Wirklichkeitsstandpunkt“ zu erläutern. Dieses Bemühen hat den Zweck, die Voraussetzungen anzugeben, die der realistischen Lehre von der Gesellschaft zugrunde liegen und sie dadurch zugleich von Gesellschaftslehren anderer Erkenntnisgestalt zu unterscheiden. Als erstes Merkmal wurde die realistische Auffassung des endlich Seienden erörtert. Es wurde bestimmt als an-sich-seiend, obwohl die Körperwelt der Bewußtseinswelt nur in ihrer sinnlichen Beschaffenheit zugänglich ist. Verbunden mit diesem Zusammenhang von Sein und Zugänglichsein wurde das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem zu bestimmen versucht. Während diese in den Sachverhalten als Einheit bestehen, faßt das erkennende Subjekt sie als getrennt auf und leitet aus dieser Trennung bisweilen weitreichende Urteile über die Beschaffenheit des Seienden ab. Ein drittes Merkmal, das den Realismus charakterisiert, ist das Problemganze, das der Begriff der Erfahrung benennt. Dieser Zusammenhang ist im folgenden zu umreißen. Dabei mag es zweckmäßig sein, sogleich darauf hinzuweisen, daß der Ausdruck der Erfahrung bzw. der der Empirie in der gesellschaftstheoretischen Diskussion zu jenen Bezeichnungen gehört, die alsbald für Streit sorgen. Denn wenn eine gesellschaftswissenschaftliche Untersuchung sich als empirisch bezeichnet und wenn sie auch in der gesellschaftswissenschaftlich gelehrten Welt als empirisch bezeichnet wird, gilt sie ipso facto als nach den Regeln der Erkenntnis erarbeitet und damit als begründet. Das liegt maßgeblich an ihrem Gegensatz. Von ihm heißt es, daß er als Spekulation besteht. Sie ist Gedankendichtung, nicht Erkenntnis. Gegenüber dieser vereinfachenden, wenn nicht unsachlichen Auffassung ist daran zu erinnern, daß der Ausdruck der Erfahrung verschiedene Bedeutungen besitzt. Es ist deswegen nötig, zu sagen, in welchem Sinn er verstanden sein soll. Der Name der Erfahrung ist alt. Auch gehört er von Anfang an zur wissenschaftlichen Sprache. Im Griechischen ist von empeiria die Rede, im Lateinischen von experientia. Dem Wortsinn nach besagt der Name Erfahrung, Etwas durch Fahren oder Wandern erreichen. Das Erreichen besteht in einem Gewahrwerden oder Vernehmen von Etwas. Im weitesten Sinn gehört das, was man als Erfahrung bezeichnet, also zu demjenigen „menschlichen“ Verhalten, das man als Erkennen benennt. Aber die Erfahrung besitzt nicht die Zielstrebigkeit und Ordnung des Erkennens. Bisweilen fährt und wandert man wohl, aber nicht, um Etwas zu suchen und zu finden. Die Bedeutung des Ausdrucks Erfahrung schwankt zwischen der gelegentlich-unbeabsichtigten Entgegennahme von Etwas und der erstrebten Wahrnehmung von Etwas als des zusammenfassenden 38
Josef Santeler, Art. Nominalismus, in: a. a. O., S. 270.
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Abschlusses verschiedener Empfindungen eines besonderen Sachverhalts. So verstanden, besteht die Erfahrung als ein Erkennen im Vorfeld des Erkennens im strengen Sinn und damit auch in der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Begriffs. Immanuel Kant sprach davon, daß die Erkenntnis mit der Erfahrung „anhebt“39. In der Literatur werden immer wieder die folgenden drei Merkmale der Erfahrung genannt: Die Erfahrung ist rezeptiv, in gewisser Weise evident, und sie ist bezogen auf einzelne Wesen. Der Realismus arbeitet mit einem weiten Begriff der Erfahrung. Er unterscheidet deswegen zwischen verschiedenen Arten der Erfahrung. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen der äußeren und der inneren Erfahrung. Neben ihr findet sich die Verdeutlichung der Erfahrung als alltäglich-vorwissenschaftliche Erfahrung und als Erfahrung der messenden Wissenschaften. Zwischen der äußeren Erfahrung und der Sinneserkenntnis bestehen fließende Übergänge, sofern es sich nicht um nicht mehr als zwei Namen für ein und dieselbe Sache handelt. Die äußere Erfahrung „geht auf die sinnlichen Gegebenheiten (qualitativer und quantitativer Art), die von uns unwillkürlich auf ein von unserer Wahrnehmung unabhängig existierendes ,Ding‘ bezogen werden; nicht selten wird dabei allerdings auch das an sich existierende Ding selbst als Gegenstand der Erfahrung bezeichnet“. Auf diesen Unterschied ist also zu achten, soll der zunächst als Sinneserkenntnis bestimmte Erkenntnisvorgang nicht (im nachhinein) auch als Seinserkenntnis gelten. Mit der inneren Erfahrung verhält es sich ähnlich, vorausgesetzt, daß sie als Erfahrung anerkannt wird. „,Innere Erfahrung‘ . . . meint das Erleben der eigenen seelischen Akte und Zustände.“ Diese Akte und Zustände „und das Ich als ihr Subjekt“ sind freilich „nicht in einem ,direkten Hinblick‘ gegeben. Sie werden „nur in der ,Rückwendung‘ (reditio) von den Gegenständen der Akte her, im ,begleitenden‘ Bewußtsein erfaßt“. „Die ,vollendete Rückwendung‘ (reditio completa) läßt in allen geistigen Akten das geistige Selbst bewußt werden. Dieses geistige Selbstbewußtsein, das Bedingung der Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis ist, wird manchmal transzendentale Erfahrung genannt.“40 Der Realismus lehrt also, daß sich aus der Erfahrung der Befindlichkeiten des Ich ein Pfad eröffnet zur Erfahrung des Ich-Selbst, d.h. zu den Fragen nach den Bedingungen der Existenz des Ich. Soweit sie als Voraussetzungen, als Grund und als Ursache des Ich erkannt sind, führt der Weg der Erkenntnis zur Erkenntnis weiterer Ursprünge und über diese hinaus zu den ersten Ursprungsgründen. Mögen diese grundsätzlichen Fragen sich wissenschaftlich noch mancherorts stellen, so hat sie die gegenwärtig herrschende wissenschaftliche Erfahrungser39 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), (Edition Meiner), B 1: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.“ 40 Josef de Vries, Art. Erfahrung, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 89.
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kenntnis aus sich verbannt. In ihr gilt die Meinung, daß alle Erkenntnis sich der äußeren Erfahrung verdankt und auf sie beschränkt ist. Von Bestand ist allein das Gegebene. Es ist das Empirische ohne prinzipiellen Gehalt. Natürlich existieren die Gegebenheiten in einer unüberschaubaren Vielzahl von Tatsächlichkeiten. Soll die Erfahrung nicht durch die Fülle dieses Wahrnehmbaren und ihrer Verhältnisse überfordert werden, ist sie gut beraten, sich vor ihrem Erkenntnisbemühen ein symbolisches Ordnungsinstrument zu erarbeiten. Es besteht in der Regel in möglichen Sprachzusammenhängen. Mit ihrer Hilfe erscheint es als möglich, das empirische Material zu bewältigen, d.h. aufzufassen, zu ordnen und vielleicht auch zu erklären. Unter dieser Rücksicht muß man feststellen, daß die Erfahrungen der Erfahrungswissenschaften keine „natürliche“ Entgegennahme von „natürlich“ Gegebenem sind. Sie bestehen als Wahrnehmungen von mehr oder weniger bestimmten Rohstoffen, deren Beschaffenheit durch die jeweiligen Benennungen und die aus ihnen abgeleiteten Kennzeichnungen definiert werden. „In den empirischen Einzelwissenschaften hat die Erfahrung weniger den Sinn der Gegenwärtigung des Gegebenen und seiner Selbstbedeutung als vielmehr in der Bestätigung eines methodisch-vorentworfenen gesetzmäßigen Verhältniszusammenhanges.“41 Daß diese Erkenntnisgestalt mit der Heraufkunft der Neuzeit verschiedene Spielarten ausgebildet hat, ist bekannt. So gilt als Begründer des Empirismus John Locke (1634–1704) mit seiner Behauptung: Alle Erkenntnis gründet in der äußeren Erfahrung, als Begründer des Sensualismus David Hume (1711–1776) mit seiner Behauptung: Alles Denken des Erfahrenen ist eine hinzugefügte Vorstellung und als Begründer des Positivismus Auguste Comte (1798–1857) mit seiner Behauptung: Alle Realität besteht in Tatsachen und ihren Verhältnissen. Diese und ähnliche Strömungen in der Erkenntnislehre verneinen mit ihrem engen Erfahrungsbegriff den realistischen Grundsatz, daß man „auch im gegebenen Sinnlichen einen geistigen Gehalt . . . (wird) annehmen müssen“42. Das Erkennen der humanen Existenz ist zwar einheitlich beschaffen, gliedert sich aber in die Stufe der Sinneserkenntnis und in die Stufe der geistigen Erkenntnis. Als Sacherklärung des Begriffs der Sinneserkenntnis kann man zum Beispiel die folgende Bestimmung wiedergeben. Sie umfaßt zwei Merkmale, nämlich die Eigentümlichkeit und die Reichweite des sinnlichen Erkennens. Es heißt: „Sinneserkenntnis ist, seinshaft betrachtet, jede Erkenntnis, an deren Zustandekommen körperliche Organe (äußere Sinnesorgane, Gehirn) unmittelbar beteiligt sind, vom Gegenstand her definiert, ein Erfassen bloßer Erscheinungen im Gegensatz zum Sein und Wesen der Dinge.“43 In systematischer Absicht hat 41 Max Müller/Alois Halder, Art. Erfahrung in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch. Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 80. 42 Josef de Vries, Art. Erfahrung, a. a. O., S. 89. 43 Josef de Vries, Art. Sinneserkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 354.
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zum ersten Mal wohl Aristoteles über die Sinneserkenntnis gesprochen. Er unterscheidet zwei Arten dieser Erkenntnis. Sie werden heute in der Regel als äußere und als innere Sinneserkenntnis bezeichnet. Die äußere Sinneserkenntnis des „Menschen“ begründet man bis heute mit Aristoteles aus der Bindung des Erkennens an ein körperliches Organ. Er benennt die genannten fünf Sinne: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn. Sodann kennzeichnet er sie als Vermögen der Sinnenseele und bemüht sich, ihr Verhältnis zu bestimmen.44 Denn zumeist umfaßt die sinnliche Erkenntnis einer Sache mehrere Empfindungen dieser Sache. Den Zusammenhang von Empfindungen zu einer Wahrnehmung begreift Aristoteles als koinê aisthêsis, d.i. Gesamtauffassung. Gehört diese Gesamtauffassung zunächst zur äußeren Sinneserkenntnis, so übersteigt sie diese doch durch ihre bindende Kraft. Mit andern Worten: Während zum Beispiel das Auge Etwas sieht, ohne sich selbst zu sehen, erbringt die Wahrnehmung nicht nur den Zusammenschluß von Empfindungen, sondern nimmt diesen Zusammenschluß auch wahr. Dieser Befund veranlaßt Aristoteles zu dem Urteil: „Für die gemeinsamen Objekte haben wir bereits einen gemeinsamen Sinn, und zwar nicht akzidentell.“45 Wissenschaftsgeschichtlich wird diese Erkenntnis zum Lehrstück von den inneren Sinnen fortentwickelt. Die Sinneserkenntnis kennt auch Erkenntnisleistungen des Zentralorgans des „Menschen“, also des Gehirns. Die Erkenntnislehre, die Aristoteles folgt, unterscheidet in seiner Absicht, wie erwähnt, zwischen vier bzw. fünf inneren Sinnen, nämlich dem Gemeinsinn – d.i. jene grundlegende koinê aisthêsis –, der Phantasie, dem Gedächtnis, der (Gegebenes als förderlich oder als schädlich beurteilenden) Schätzungskraft und dazu beim „Menschen“ der (der Verstandeserkenntnis zugewandten) Gestaltungskraft.46 Mit dem Aufweis der vielfältigen Fähigkeiten des sinnlichen Erkennens in seinen Grundformen als äußere und als innere Sinneserkenntnis ist die erste Stufe des Erkennens der humanen Existenz benannt und in seinem geordneten Zusammenhang bezeichnet. Abschließend stellt sich die Frage nach dem Wert der Sinneserkenntnis im Erkennen des „Menschen“ im Ganzen. Nach der traditionellen Anthropologie existiert die humane Existenz als ein zo¯on logon echo¯n, als ein animal rationale, d.i. als ein vernünftiges Sinnenwesen. Nach dieser Bestimmung besitzt der „Mensch“ seinen Adel dadurch, daß er am logos teilhat, an der ratio, an der Vernunft und am Verstand. Kraft dieser Erkenntnisvermögen übersteigt er geradezu grenzenlos seine begrenzten Fähigkeiten als Sinnenwesen. Wird dieser Überstieg auch zu Recht betont, so bleibt die humane Existenz doch in ihre Sinnlichkeit eingebunden. Aus dieser Existenzbedingung erklärt sich die Plausibilität, die alle empirischen bzw. empiristischen Erkenntnislehren besitzen. In 44
Vgl. Aristoteles, Peri psychês, (Über die Seele), (Edition Meiner), 424b. Aristoteles, Peri psychês, a. a. O., 425a. 46 Vgl. Josef de Vries, Art. Sinneserkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 355. 45
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die erkenntnistheoretische Diskussion können sie den Grundsatz einbringen: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, d.i. nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. Bekanntlich hat dieser Satz seine Geschichte.47 Was er begründet behauptet, sagt man auf andere Weise wohl treffender: „Die Bedeutung der Sinneserkenntnis innerhalb des rein animalischen Lebens erschöpft sich darin, daß sie zu lebenswichtigen Wirkweisen anregt. Im Menschen hingegen erlangt die Sinneserkenntnis als Werkzeug des Verstandes ihre größte Bedeutung dadurch, daß sie erstens den meisten Stoff zur Bildung geistiger Begriffe liefert und daß zweitens auch das abstrakteste Denken natürlicherweise den Zusammenhang mit Sinnesbildern wahren muß.“48 Die zweite Stufe des Erkennens der humanen Existenz besteht als geistiges Erkennen. Blickt man aufs Ganze der herrschenden Bemühungen um das theoretische Erfassen der Gesellschaft, erscheint diese Bezeichnung für das nichtsinnliche Erkennen als veraltet. Denn mit der Abkehr von der realistischen Erkenntnis werden die Vorgänge des Erkennens als anders beschaffen aufgefaßt und in der Folge auch anders benannt. Ähnlich wie das Sinnliche als das Empirische bestimmt und bezeichnet wird, wird das Geistige als das Kognitive verstanden und benannt. Das Kognitive wird nicht mehr als Erkenntnisvermögen der Geistseele verstanden, sondern als diejenige „seelische Tätigkeit“ des „Menschen“, die sein „Wissen“ betrifft: Kognition, so heißt es, ist die „Bezeichnung für den Prozeß, durch den der Organismus Informationen oder ,Kenntnisse‘ über Objekte der Umwelt und die Beschaffenheit der Realität erwirbt. Dazu gehören die Aktivitäten des Wahrnehmens, Denkens, Lernens, Urteilens usw. In diesem Sinne wird die Kognition – neben dem Fühlen (den emotionalen Prozessen) und dem Wollen (den volitionalen Prozessen) – häufig als eine der psychischen Grundfunktionen betrachtet.“49 Der Begriff der Kognition, der auf diese Weise bestimmt wird, ist in mehrfacher Hinsicht klärungsbedürftig. Ihm gegenüber ist der vorgeschlagene Begriff des geistigen Erkennens klar und deutlich. Er benennt – kurz gesagt – das intentionale Inne-Sein eines Objekts in einem Subjekt, das sich als immateriales Subjekt durch seinen Selbstbesitz, sein Selbstbewußtsein und seine Selbstbestimmung auszeichnet. Es sollte deswegen erlaubt sein, den Begriff des geistigen Erkennens beizubehalten. 47 Vgl. z. B. Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 455: „. . . der fälschlich dem Aristoteles zugeschriebene Grundsatz des Sensualismus, den G. W. Leibniz durch den Zusatz einschränkte: nisi intellectus ipse ,ausgenommen der Verstand selbst‘. Er tritt zuerst bei Cicero als Satz des Epikur auf: Quidquid animo cernitur, id omne oritur a sensibus, . . . findet sich dann in der üblichen Form bei Thomas von Aquin, Bovillus u. a.“ 48 Josef de Vries, Art. Sinneserkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199822, S. 355. 49 Rolf Klima, Art. Kognition, in: Werner Fuchs-Heinritz, u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 342.
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Eine lange Tradition hat für die Benennung des geistigen Erkennens in verschiedenen Sprachen verschiedene Namen ausgebildet. Maßgeblich ist einmal mehr die klassische griechische Philosophie. Sie spricht vom nou¯s der humanen Existenz und benennt damit seinen Geist als erkennenden Geist. Das Studium dieses Geistes führt alsbald zu einer erkenntnisgeschichtlich folgenreichen Unterscheidung besonderer Fähigkeiten des Geistes. Eine erste Fähigkeit des Erkennens erweist sich als dianoia, d.i. die Fähigkeit des Nachdenkens. Die zweite Fähigkeit des Geistes besteht in seiner noêsis, d.i. seine Fähigkeit der Einsicht. Im Lateinischen werden diese Namen des Geistes wiedergegeben als ratio und als intellectus. In die deutsche Sprache übertragen, heißen die Beschaffenheiten des Geistes Verstand und Vernunft. Obwohl also stets von einem geistigen Erkennen die Rede ist, das sich als dieses vom sinnlichen Erkennen unterscheidet, werden sogleich zwei Befähigungen des erkennenden Geistes benannt. In der Sprache Immanuel Kants ausgedrückt, ist der Verstand das Vermögen der Begriffe und die Vernunft das Vermögen der Prinzipien. Die Ausdrücke Vernunft bzw. Vermögen der Prinzipien wollen sagen, daß das geistige Erkennen imstande ist, „Anfänge“ zu erfassen. Daß das geistige Erkennen fähig ist, Einsichten zu erwerben, ist der vorsichtig gebrauchte Name für das Gewahrwerdenkönnen von Ursprüngen. Besäße die „menschliche“ Vernunft die Kraft der geistigen Anschauung, vermöchte sie dieser Ursprünge unmittelbar inne zu sein. Ihr Anschauungsvermögen ist jedoch maßgeblich sinnlicher Natur. Daß sie sich dennoch den „Anfängen“ zuzuwenden fähig ist, gründet zum ersten in ihrer Art der Geistigkeit. Zum zweiten verdankt sie es ihrem Zusammenwirken mit dem Verstand. In der Erkenntnis eines „Anfangs“ wendet dieser sich zunächst dem Subjekt eines Urteils zu, sodann dem Prädikat und schließlich deren Verhältnis. Ist die aufgewiesene Beziehung ursprünglich vernünftig, beurteilt die Vernunft sie als Einsicht. So verstanden, liegt die Vernunft dem Verstand einerseits zwar vorauf, andererseits ist sie jedoch seine Erfüllung. In diesem Verhältnis leistet der Verstand die Kärrnerarbeit der geistigen Erkenntnis der humanen Existenz. Findet sich in seiner Mitte zumeist das diskursive Denken, also das voranschreitende geistige Erkennen in der notwendigen Abfolge von einem ersten Begriff zum nächsten und so fort, so hängt diese Diskussion doch von einer Reproduktion und von einer Intuition von Erkanntem ab, wobei das Denken ausgespannt ist zwischen bloßer Sinnlichkeit und reiner Geistigkeit, zwischen Rezeption und Spontaneität sowie zwischen Immanenz und Transzendenz. Hierbei bleibt wesentlich, daß die Verstandestätigkeit von einem „humanexistentiellen Apriori“ des erkennenden Subjekts getragen wird. Es unterliegt den Bedingungen des jeweiligen „Denktemperaments“ der menschlichen bzw. der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Zusammenfassend lassen sich das Denken als Vermögen des Verstandes und die Einsicht als das Vermögen der Vernunft etwa wie folgt definieren, wobei die Besonderungen der psychischen und der sozialen geistigen Erkenntnis nicht berücksichtigt sind.
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Über das Denken des Verstandes, wie es die humane Existenz besitzt, kann man lesen: „Denken ist die auf Seiendes als solches“ (Konstituiertes) „und dessen Sinnbeziehungen“ (Konstitutionsbedingungen) „gerichtete unanschauliche Erkenntnisweise. Sie vollzieht sich im menschlichen Geist in verschiedenen Akten des Erfassens (Relationseinsicht, Begriffsbildung, Schlußfolgern) und der Stellungnahme (Frage, Zweifel usw.), um in der Urteilszustimmung zum endgültigen (oder doch endgültig gemeinten) Umfassen eines Sachverhaltes zu gelangen.“ „Von der Sinneserkenntnis unterscheidet sich das Denken wesentlich. Es richtet sich nicht nur auf Sinnfälliges, sondern auch auf Unanschauliches und im Sinnfälligen auf die den Sinnen nicht faßbare Washeit der Sache. Es folgt nicht nur den Gesetzen sinnblind wirkender Assoziationen und Komplexe (= subjektive Denknotwendigkeit), sondern orientiert sich . . . letztlich am notwendigen Zusammenhang der Inhalte selbst (= logische oder objektive Denknotwendigkeit). Es ist trotz mannigfacher Bindungen an das Stoffliche, doch nicht wie die Sinneserkenntnis ein unmittelbar vom Stofflichen mitvollzogenes Tun, sondern geistig.“50
Von der Einsicht der Vernunft, wie sie die humane Existenz besitzt, wird gesagt: „Etwas begreifen heißt zunächst etwas durchschauen, ihm bis auf den Grund schauen. Was ganz begriffen ist, wird so geschaut, wie es ist, d.h. von seinem Grund her, aus dem es erwächst. Da aber das Kontingente den zureichenden Grund seines Seins nie in sich selbst, sondern immer in einem andern, seiner Ursache, hat, heißt einen kontingenten Sachverhalt begreifen, ihn aus seinen Ursachen zu erkennen.“ „Soll etwas Kontingentes vollständig, d.h. nicht in dieser oder jener Eigenart, sondern in seiner Kontingenz selbst begriffen werden, so muß der Rückschritt zur letzten, aus sich notwendigen Ursache geschehen. Für das Begreifen von wesensnotwendigen Zusammenhängen sagt man meist: einsehen; die Wesensbeziehungen selbst sind einsichtig.“ Vom Erkennen gilt das Folgende: „Im Gegensatz zu den Seinsprinzipien meint das Wort Erkenntnisprinzipien das Erste und Grundlegende in unserer Erkenntnis, vor allem einsichtige allgemeine Sätze (Grundsätze).“ – „Die Grundsätze gehen uns . . . in einer apriorischen Erkenntnis auf, die im besonderen Einsicht genannt wird.“51
Gemeinhin beurteilt, besteht das Ziel des realistischen Erkennens in der Übereinstimmung des Subjekts, das nach Erkenntnis strebt, mit dem zu erkennenden Objekt. Denn die „menschliche Erkenntnis beruht im Gegensatz zur entwerfenden, den Dingen ihr Maß vorschreibenden Erkenntnis des Schöpfers auf Angleichung oder Assimilation (Abbildtheorie). Erst wenn die Erkenntnisfähigkeit auf eine unstoffliche Weise dem Objekt in gewissen Soseinszügen angegli50 Alexander Willwoll, Art. Denken, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 59. 51 Walter Brugger, Art. Begreifbarkeit sowie Josef de Vries, Art. Erkenntnisprinzipien, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 38 und 92.
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chen ist . . ., kann sie diese aus sich heraus und sich gegenüberstellen“52. Daß die herrschenden gesellschaftstheoretischen Erkenntnislehren anders über das Ziel des Erkennens denken, ist bekannt. Im Sinn der positivistischen Meinungen begnügen sie sich mit der Feststellung, der Beschreibung und der gedanklichen Ordnung von festgestellten Tatsachen und ihrer Verhältnisse. Im Sinn des Kritizismus und seiner Abwandlungen bemühen sie sich, sinnliche Anschauungen mit Hilfe apriorischer Verstandesbegriffe zu erfassen und dadurch als objektiv geltende Erfahrungsurteile zum Ausdruck zu bringen. Im Sinn des Idealismus haben sie das Ziel, zum Wahren durch eine Übereinstimmung der am Urteil beteiligten Personen vorzudringen. Aber diese und ähnliche Lehren vom Ziel des Erkennens stehen nicht zur Diskussion. Zu erörtern ist die Beschaffenheit des Erkenntniszusammenhanges, den ein erkennendes Subjekt ausbildet. Gegenstand der Untersuchung ist die sogenannte Erkenntnisgestalt. Realistisch verstanden ist sie eine Vieleinheit, die sich aus dem Gefüge der Sinneserkenntnis und aus dem Gefüge der geistigen Erkenntnis zusammensetzt. Wenn es richtig ist, daß das Erkennen als Übereinstimmung zwischen dem Erkenntnisvollzug und dem Erkenntnisgegenstand besteht, dann ist ein Urteil dann wahr, wenn das Behauptete im Sachverhalt begründet ist bzw. wenn das Verneinte im Sachverhalt nicht begründet ist. Die in den Wissenschaften zu beurteilenden Dinge sind denkbar vielfältig beschaffen. Es sollte an dieser Stelle genügen, nur einige wenige Sachverhaltszusammenhänge zu benennen. Beispielsweise finden sich in der Realität Sinnfälliges und Wesentliches, Einzelnes und Allgemeines, Beständiges und Werdendes, Beisichseiendes und Verbundenseiendes, Gegebenes sowie Vor- und Aufgegebenes und Mannigfaches mehr. Auf Sachverhalte, die so und noch anders beschaffen sind, richtet sich das Erkennen. Es ist deswegen nötig, in der Erkenntnis so weit als möglich auszugreifen, um die Sachverhalte erfassen zu können, die auf verschiedene Weise bestehen bzw. zu erkennen sind. Aus diesem Grund bemüht sich das realistische Erkennen, seine Erkenntnisgestalt umfassend auszubilden. Nichts, was ist, soll durch seine Erkenntnis unzulänglich erfaßt oder womöglich aus dem Blickfeld gerückt werden. Dabei weiß das realistische Erkennen, daß trotz seiner umgreifenden Ausbildung die letzte Sicherheit der Erkenntnis in der Evidenz der Sache gründet. Evidenz „bezeichnet einerseits das klare Sichzeigen, Offenbarsein, Einleuchten eines Sachverhalts, andererseits das damit gegebene geistige ,Sehen‘, Einsehen. Die beiden Seiten sind korrelativ, daher von einander untrennbar.“53 Das realistische Erkennen ist also ausgespannt auf alles, was sich zeigt. Es erstreckt sich von den einzelnen Empfindungen und ihrem jeweiligen zusammenfassenden Abschluß als Wahrnehmung, es bedient sich der inneren Erfah-
52 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 91. 53 Josef de Vries, Art. Evidenz, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 100.
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rung, es ist fähig, Begriffe, Urteile und Schlüsse auszubilden und schöpferisch auszugestalten, und es vermag vorzudringen bis zur einsichtigen Erkenntnis von ersten Ursprungsgründen. Alsbald soll sich zeigen, daß die herrschenden gesellschaftstheoretischen Auffassungen diese Weite der Erkenntnisgestalt nicht kennen. Sie sind beschränkt ausgebildet. Zwei Schwerpunkte lassen sich aufzeigen. Den ersten Schwerpunkt bildet das Erkennen, das als Erfahrungserkenntnis entwickelt ist und sich in ihr genügt. Das will besagen, daß dieses Erkennen alle Sachverhalte als sinnliche Sachverhalte auffaßt, also als Tatsachen, deren Wesensverhalte unberücksichtigt bleiben. Zum anderen liegt der Schwerpunkt in einer rationalen Erkenntnis. Ihr zufolge sind die Sachverhalte etwas BegrifflichLogisches. Die Sachverhalte sind nicht anschaulich-, sondern ideen-bestimmt und deswegen angemessen nur durch den Verstand zu erfassen. Bedenkt man diese Beschränkungen, kommt man zu dem Urteil, daß allein das realistische Erkennen als „vollmenschliches“54 Erkennen bezeichnet werden sollte. Der empirische und der rationale Erkenntnisstandpunkt umfassen nicht das Erkennen, das dem „Menschen“ angemessen ist. Der Empirismus und der Rationalismus bestehen als „nur teilweise“ ausgebildete Erkenntnisgestalten. Mit den weiteren erkenntnistheoretischen Auffassungen, die sich finden, ist es gleichermaßen bestellt. Wie sehr der Realismus sich auch den Dingen als Erscheinungen zuwendet, also konkret denkt, so sehr ist er nicht weniger der Erkenntnis der „Anfänge“ zugetan, wodurch er prinzipiell denkt. Aus der Bestimmung über das Ganze der Welt und ihrer Wesen weiß er, daß alles kontingente Seiende, also das NichtNotwendige, einen Grund besitzt. Aristoteles jedenfalls behauptet: „Denn dann glauben wir etwas zu wissen, wenn wir die Ursache desselben erkannt haben.“55 Durch die Jahrhunderte hindurch werden die Fragen nach dem „Woher“ eines Bestandes, seiner Erkennbarkeit und der Bedeutung, die es für seine Erklärung besitzt, erörtert. Erst der neuzeitliche Geist trachtet danach, diese Frage loszuwerden. In diesem Sinne meint zum Beispiel Auguste Comte, daß sich endlich „die relative Natur des positiven Geistes“ durchgesetzt hat: „Nicht nur müssen sich unsere positiven Forschungen überall im wesentlichen auf die systematische Beurteilung dessen was ist, beschränken, indem sie darauf verzichten, seinen ersten Ursprung und seine letzte Bestimmung zu entdecken“; das positive Zeitalter hat erkannt, „daß unsere Theorien mehr und mehr dazu neigen, die äußeren Gegenstände unserer ständigen Forschungen genau wiederzugeben, ohne daß jedoch die wirkliche Beschaffenheit auch nur eines einzigen (von ihnen) in irgend einem Falle vollständig beurteilt werden könnte, so daß sich der wissenschaftliche Fortschritt darauf beschränken muß, dieser idealen Grenze so
54 Walter Brugger/Alexander Willwoll, Art. Erkenntnis, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 91. 55 Aristoteles. Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 994b.
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nahezukommen, wie es unsere verschiedenen realen Bedürfnisse erfordern.“56 Der Meinung von Comte kann der Realismus nicht zustimmen. Andere Auffassungen finden dagegen seine Anerkennung. Zu ihnen zählt zum Beispiel die ausführliche Begründung, nach den „Anfängen“ zu fragen, wie sie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in seinen Bemühungen vorgelegt hat, das Kausalitätsprinzip des näheren zu bestimmen. „Das erstmals von Leibniz ausgesprochene principium reddendae rationis sufficientis (= Grundsatz vom zuzustellenden zureichenden Grund; Kurzform: Satz vom Grund nihil est sine ratione = nichts ist ohne Grund) besagt, daß jedes Seiende als solches einen zureichenden Grund dafür hat, daß es ist (und nicht nicht ist) und daß es so ist, wie es ist (und nicht anders) und daß dieser Grund in der Erkenntnis dieses Seienden beizubringen ist.“57 In der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis findet die Frage nach den „Anfängen“ von etwas Gesellschaftlichem kaum mehr Beachtung. Sie ist aus dem Kanon der erörterungswürdigen Probleme ausgeschieden. Sie ist unwesentlich geworden – und sollte sie sich wider Erwarten einmal als unabweisbar einstellen, wird sie ad hoc durch eine „pragmatische“ Behauptung beantwortet. Sachlich betrachtet, erweist die Frage nach den „Anfängen“ sich jedoch als eine unverzichtbare Erkenntnisaufgabe. Sie wird zumeist durch drei Begriffe gekennzeichnet, nämlich durch den Begriff des Grundes, den des Ursprungsgrundes oder des Prinzips und den der Ursache. Der realistische Gebrauch dieser Begriffe ist in der Regel klar, wenn man auch zugeben muß, daß sich ihre Bedeutung vielfach erst aus den Darstellungszusammenhängen erfassen läßt. Ihrem Sinn nach werden sie seit den Zeiten verwendet, seit denen der erkennende Geist des „Menschen“ sich um das Begreifen der „Anfänge“ von Etwas bemüht. Die herrschenden gesellschaftstheoretischen Erkenntnisweisen setzen sich über diese Tatsache hinweg. Deswegen soll die Bedeutung der genannten Begriffe in einer ersten Annäherung im folgenden benannt werden. Sie liegt ihrer späteren Klärung im Zusammenhang der Bestimmung der sogenannten Seinsprinzipien vorauf. Aus diesem Grund verstehen sich die nachstehenden Bemerkungen als eine Einladung der zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Erkenntnis, am Sinn nicht vorbei zu gehen, den die Ausdrücke Grund, Ursprungsgrund (Prinzip) und Ursache im Realismus besitzen. Was man im Deutschen Grund nennt, hat in den alten Sprachen zwar keine wortwörtliche, wohl aber eine sinngemäße Entsprechung. Diese Gegebenheit erklärt sich daraus, daß der Name Grund eine altdeutsche Wurzel dergestalt besitzt, daß seine Bedeutung, die er durch die Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts erfährt, bis heute mitschwingt. Jenseits dieser Besonderheit finden sich in den alten klassischen Sprachen Ausdrücke, die dem des Grundes entsprechen 56 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), (Edition Meiner), Hamburg 1956, S. 27 ff. 57 Max Müller/Alois Halder, Art. Ratio, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 254.
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bzw. mit ihm zumindest sinnverwandt sind. Grund heißt im Griechischen logos, im Lateinischen heißt Grund ratio. Im weitesten Sinn bezeichnen diese Namen das, was zu unterst von Etwas liegt. So spricht man zum Beispiel vom Meer, dessen Tiefe bis zu seinem Grund reicht. Ähnlich verstanden wird das Erdreich als der Grund eines Hauses. Allgemein bestimmt, benennt der Grund „das, warum“ Etwas Bestand besitzt. Hierbei ist zu beachten, daß der Grund im nicht-wirksamen und im wirksamen Sinn verstanden werden kann. Der Grund, der nicht wirksam ist, liegt Etwas nur vorauf. Er bringt das Begründete nicht hervor, trägt es nicht und macht es deswegen auch nicht verständlich. Aber er ist als das Zugrundeliegende auch nicht nichts. Von ihm verschieden ist der Sachgrund (Real-Grund oder Seins-Grund). Er ist dadurch ausgezeichnet, daß er das von ihm Begründete hervorbringt, trägt und verstehen läßt. In jenem wie in diesem Fall besteht der Grund als Grund des Seins, des Werdens und des Erkennens. Deswegen bezeichnet man jene als Sachgründe, diesen als Erkenntnisgrund. Das sachlich Begründete heißt Wirkung, das in der Erkenntnis Begründete heißt Folge. Der wirksame Sachgrund nähert sich in seiner Bedeutung den Bedeutungen der Namen Ursprungsgrund und Ursache bzw. ist sinngleich mit dem Namen Ursprungsgrund der Erkenntnis (Erkenntnisprinzip). Im Unterschied zu diesen Namen schwingt im Gebrauch des Namens Grund freilich immer das mit, was man nur schwer rückübersetzen kann: Das, was Etwas seine Tiefe gibt. Daß sich selbst in den anspruchsvollen Lehrbüchern und in den um Auskunft bemühten Werken der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis kein Hinweis auf den Begriff des Grundes bzw. des Grundes der Gesellschaft sowie der Gründe von Gesellschaftlichem findet, darf wiederholt bemerkt werden. Die herrschende gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis denkt nicht grund-sätzlich. Mit dem Begriff, der zum zweiten genannt wurde, mit dem des Ursprungsgrundes, verhält es sich ebenso. Den herrschenden Gesellschaftswissenschaften liegt es fern, sich mit dem Ursprungsgrund der Gesellschaft bzw. mit den Ursprungsgründen von Gesellschaftlichem zu befassen. Es heißt, daß die Gesellschaft im Ganzen und in ihren Teilen da ist, und daß es mit dieser Feststellung sein Bewenden haben kann. Warum die etablierten Gesellschaftswissenschaften, die gegenüber ihren Untersuchungsgegenständen und zumal gegenüber ihren verschiedenen Deutungen durchgängig kritisch eingestellt sind, sich in eigener Sache nicht gerade hellhörig verhalten, erklärt sich wohl aus dem Ganzen ihrer neuzeitlichen Entstehungsbedingungen sowie aus den nicht-theoretischen, also aus den praktischen Zielen, die sie bis heute verfolgen. Jedenfalls weiß jedermann, daß das Fragen nach dem Ursprungsgrund – zunächst im kosmologischen und alsbald auch im anthropologischen Sinn – den Beginn der abendländischen Philosophie und Wissenschaft ausmacht. Wenn man von Thales von Milet (etwa 624–546) sagt, daß er zu den ersten Philosophen und Gelehrten zählt, dann weiß man auch, daß er das wissenschaftliche Denken unter anderem
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mit der Frage eröffnete, wodurch denn das ist, was ist. Aristoteles (384–322) hat uns sein prinzipielles Denken wie folgt überliefert: „Von den ersten Philosophen hielten die meisten nur die stoffartigen für die Prinzipien von allem; denn dasjenige woraus alles Seiende ist, und woraus es als Erstem entsteht und worein es als Letztem untergeht, indem das Wesen bestehen bleibt und nur die Eigenschaften wechseln, dies, sagen sie, ist Element und Prinzip des Seienden. Denn es muß eine gewisse Natur vorhanden sein, entweder eine oder mehr als eine, aus welcher das andere entsteht, während jene erhalten bleibt. Doch über die Menge und die Art eines derartigen Prinzips stimmen nicht alle überein. Thales, der Urheber solcher Philosophie, nennt es Wasser . . .“58 Seit den Zeiten des Thales fragt die Philosophie bzw. die Wissenschaft nach dem Ursprungsgrund von Etwas. Im Griechischen heißt dieser Ursprungsgrund archê, im Lateinischen heißt er principium. In der Sache benennt der Name des Ursprungsgrundes bzw. der des Prinzips „das, wodurch“. Das ist das Erste eines Aufbaus. Im Bild ausgedrückt, ist das erste eines Hauses sein Fundament. Ein Fundament besteht wiederum hinsichtlich des Seins, des Werdens und des Erkennens. Es findet sich also einerseits als Prinzip der Seinsordnung und andererseits als Prinzip der Erkenntnisordnung. Von ihnen nimmt ein Bestand, ein Geschehen oder ein Erkennen seinen Ausgang. Sodann gilt von einem Prinzip, daß es als erstes Prinzip bestehen kann, d.h. als Anfang schlechthin, und als zweites Prinzip, d.h. als Anfang, der einen vorgängigen Anfang zur Voraussetzung hat. Das, was der Name Prinzip bezeichnet, darf nicht verwechselt werden mit dem, was die Namen Ursache und Element benennen. Der Ausdruck Ursache verweist stets auf ein Anderes, das von Einem beeinflußt und deswegen von ihm abhängig ist. Der Name Element benennt einen ursprünglichen Bestandteil eines Ganzen. Für das Prinzip sind diese Bezüge der Abhängigkeit bzw. der Teilhabe ohne Bedeutung. Um zu verdeutlichen, was der Begriff des Prinzips besagt, erfolgte sein Vergleich mit der Ursache. Des genaueren bestimmt, bezeichnet der Begriff der Ursache, daß sie das ist, wovon ein kontingentes Seiendes real abhängt. Der Name der Kausalität im weitesten Sinn benennt den Einfluß, den eine Ursache auf eine Wirkung hat und das in ihm begründete Verhältnis. Schon der gelehrten Welt der Antike hat dieser Zusammenhang sich als Seins- und als Erkenntnisproblem aufgedrängt. Griechisch heißt die Ursache aitia, lateinisch heißt sie causa. Die Zweifel, die zumal in der Neuzeit aufkommen, ob es sich beim Ursache-Wirkung-Verhältnis um ein reales Verhältnis handelt oder um eine bloß gedankliche Verknüpfung von Beobachtungen, hat der Realismus stets als unbegründet verworfen. Über die Ursache im engeren Sinn, die sogenannte Wirkursache, lehrt er: „Die Realgeltung des Begriffs der Wirkursache steht aus dem Bewußtsein fest, in dem wir uns selbst – namentlich in den Willenserlebnissen 58
Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 983b.
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– als Bewirker unserer Akte erfahren. Darum beruht die Vorstellung der Kausalität nicht, wie Hume annahm, nur auf der Umdeutung eines regelmäßigen Nacheinander in einen inneren Zusammenhang der Vorgänge, und der Begriff der Ursache ist auch nicht, wie Kant wollte, nur eine reine Verstandeskategorie. Die Einsicht in das Kausalprinzip gibt uns die Möglichkeit, auch in der Außenwelt wahre Ursächlichkeit festzustellen.“59 Überzeugt von der Realgeltung der Ursächlichkeit hat der Realismus diejenige Lehre von der Abhängigkeit von Etwas durch seine Verursachung fortentwickelt, die Aristoteles begründet hat. Um die Zusammenhänge zwischen Sein und Werden erklären zu können, sieht Aristoteles sich veranlaßt, zunächst zwischen vier verschiedenen Ursachen zu unterscheiden. Von ihnen gehen zwei in das von ihnen Verursachte ein. Sie sind die sogenannten inneren Ursachen. Zwei von ihnen gehen nicht in das von ihnen Verursachte ein, weshalb sie äußere Ursachen genannt werden. „Innere Ursachen aller Körper sind . . . Stoff und Form, die durch gegenseitige Mitteilung ihrer selbst das ganzheitlich Seiende des Körpers bilden, der Stoff, indem er die Form in sich aufnimmt und trägt, die Form, indem sie den Stoff bestimmt und so dem Ganzen seine artliche (spezifische) Prägung verleiht. Äußere Ursache ist zunächst die Wirk-Ursache (Ursache im engeren Sinn), die durch ihr Wirken ein Seiendes, das als Gewirktes Wirkung heißt, hervorbringt. Nach dem Finalitätsprinzip ist jedes Wirken letztlich durch ein Ziel bzw. einen Zweck bestimmt, dessen erkannter und gewollter Wert die Wirkursache anlockt oder ihrem naturnotwendigen Wirken . . . vorgesteckt ist; darum ist auch das Ziel (bzw. der Zweck) als das, um dessenwillen das Seiende besteht, dessen äußere Ursache. Zu dieser klassischen Vierzahl der Ursache tritt dann noch als weitere Ursache das Vorbild bzw. Urbild (= erstes Vorbild), das als die äußere Form, der ein Seiendes nachgebildet wird, auf die Ursächlichkeit der Form zurückgeführt werden kann.“60 Endlich ist die Instrumentalursache zu nennen. Als Werkzeugursache stellt sie eine Art der Wirkursache dar. Die neuzeitliche Wissenschaft hat die realistische Ursachenlehre nahezu durchgängig aufgegeben. Form und Stoff sind als Ursachen ebenso „vergessen“ wie das Ziel als ursächlicher Beweggrund. Die Wirkursache ist in der Regel durch die Vorstellung ersetzt, daß Dinge Variable sind und sich gesetzmäßig verhalten können, was sich schließlich quantitativ-mathematisch als Funktion darstellen läßt. Zusammenfassend beurteilt, verstehen sich die neuzeitlichen Wissenschaften und damit auch die Gesellschaftswissenschaften als Wissenschaften, die konkret wahrnehmbare Sachverhalte in ihren tatsächlichen Bedingtheiten studieren. Bedingtsein heißt, daß etwas sinnlich Gegebenes anderem sinnlich Gegebenen unterliegt. Auf die Erkenntnis der Gesellschaft bezogen be59 60
Viktor Naumann, Art. Ursache, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 425. Viktor Naumann, Art. Ursache, in: Walter Brugger (Hrsg.), a. a. O., S. 425.
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sagt diese Auffassung: Menschlich-gesellschaftliches Verhalten von „Menschen“ unterliegt menschlich-gesellschaftlichem Verhalten von „Menschen“. IV. Der Empirismus als Erkenntnisgestalt
Das „menschliche“ Erkennen ist als Vieleinheit bestimmt. Sie besteht aus dem sinnlichen Erkennen mit seinen verschiedenen Fähigkeiten und aus dem geistigen Erkennen mit seinen unterschiedlichen Vermögen. Als Vorstufe des Erkennens der humanen Existenz gilt die Erfahrung. Im weitesten Sinn ist sie eine Entgegennahme von etwas Gegebenem. Dieses Gegebene ist ein konkret existierendes Einzelnes, das sich in der Regel als das zeigt, „was“ es ist. Es gehört jedoch zu den Erstaunlichkeiten des Lebens der „Menschen“, daß sie das, was gegeben ist, nicht immer auf dieselbe Weise entgegennehmen oder, genauer gesagt, daß sie das Gegebene als unterschiedlich tiefreichend und weit sich erstreckend auffassen. So wird die Welt beispielsweise bald durchgängig als religiös, bald durchgängig als profan erfahren. In anderer Hinsicht gilt von den Dingen und den „Menschen“, daß sie einerseits nur so sind, wie sie erscheinen, daß sie andererseits jedoch so sind, wie sie ihr Wesen bestimmt. Durch Erfahrungen dieser Art wird maßgeblich sowohl die Beschaffenheit des Seienden als auch die Weise des Erkennens aufgefaßt und festgehalten. Ohne weitere Bedingungen der Bestimmung gering zu achten, kann man sagen: Die „Wirklichkeit zeigt sich stets als Korrespondenzbegriff zu Erfahrung: wird diese eingeschränkt . . ., so ist auch der Wirklichkeitsbegriff sehr eng, meint sie dagegen die Gesamtheit der Lebensvollzüge des Menschen, so umspannt auch der entsprechende Wirklichkeitsbegriff eine umfassende Vielzahl von Formen und Weisen derselben.“61 Zu den herausragenden Meinungen über die Beschaffenheit des Seienden und des Erkennens zählt zum ersten diejenige Auffassung, die das Erkennen im Sinn der äußeren Erfahrung versteht, gegenständlich also im Sinn des Sinnfälligen und erkenntnismäßig im Sinn der Empfindungen und ihres Abschlusses in der Wahrnehmung. In der Regel nennt man diese Bestimmung des Seienden und des Erkennens Empirismus. Beansprucht der Empirismus schlechthin zu gelten, spricht man von einer empiristischen Seins- und Erkenntnisauffassung. Zumal in ihrem Sinn besteht das Seiende nicht als Realität, sondern als Faktum. Der Empirismus widerspricht insofern zum Beispiel dem Realismus, der das Seiende als formbestimmt und inhalterfüllt begreift. Für den Empirismus erschöpft sich das Seiende in seiner Tatsächlichkeit. Wohl ist eine Tatsache etwas Transsubjektives, aber dieses existiert nicht an sich. Sofern es dieses Ansich-Sein geben sollte, ist es wohl denkbar, aber es ist nicht erkennbar. Das 61 Max Müller/Alois Halder, Art. Wirklichkeit, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 348.
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Seiende besteht im einzelnen wahrnehmbaren „Daseienden“ oder kurz: Das Seiende ist das Empirische. Aus diesem Verständnis des Seienden erklärt sich die Auffassung, die der Empirismus von der Außenwelt hat. Wie erinnerlich, nimmt der Realismus an, daß sich das Seiende ausgliedert in eine Bewußtseinswelt und in eine von ihr verschiedene transsubjektive Welt, die sich durch ihr mitgedachtes Sein dergestalt auszeichnet, daß sie dem erkennenden Bewußtsein selbständig gegenübersteht. Der Empirismus ist anderer Meinung. Zwar kennt auch er eine Außenwelt, aber sie ist nicht mehr als das Ganze der wahrnehmbaren einzelnen Erscheinungen. Denn diese Erscheinungen sind keine Erscheinungen von Etwas, sondern nur diese selbst. Sie sind keine „Äußerung“ eines „Inneren“. Die Welt besteht also aus nichts anderem als aus einzelnen Wahrnehmbarkeiten. Das gilt auch von allen Erscheinungen, in denen Bewußtes zum Ausdruck kommt. Zum Beispiel verwandeln sich im erkennenden Subjekt jene Wahrnehmbarkeiten in sinnliche Vorstellungen. Für den Empirismus ist die Außenwelt also nichts Reales, sondern etwas Phänomenales, nämlich das Insgesamt einzelner sinnlicher Sachverhalte. Bezieht man dieses Verhältnis auf die – wie immer erkannte – Gesellschaft, wird verständlich, daß deren empirische Auffassung notwendig eine individualistische Deutung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt zur Folge hat. Denn sie kennt nicht diese als solche, sondern nur deren Angehörige, die sich bald so und bald anders verhalten. Dem Urteil über die Beschaffenheit der Außenwelt entspricht das Urteil des Empirismus über die Beschaffenheit des Allgemeinbegriffs. Wie jenes ist es mit der Auffassung, die der Realismus vom Allgemeinbegriff besitzt, nicht vereinbar. Nach seinem Verständnis zeichnet sich der Allgemeinbegriff im engeren und eigentlichen Sinn dadurch aus, daß er das Was-Sein des Denkgegenstandes zu seinem Denkinhalt hat. In seinem Erkennen nähert sich der Denkakt abstrahierend dem wesentlichen Gehalt der Sache, auf die sich seine Aufmerksamkeit richtet. Dieser wesentliche Gehalt ist das Allgemeine im real existierenden Einzelnen. Da der Empirismus ein transsubjektives Allgemeines nicht kennt, ist ihm diese Bestimmung des Allgemeinbegriffs fremd. Was sodann das erkennende Subjekt betrifft, so erklärt sich sein Erkennen dem Grundsatz nach allein aus der äußeren Erfahrung. Das, was man als dessen Denken bezeichnet, ist nichts anderes als diejenige seelische Tätigkeit, die empirische Materialien feststellt, vergleicht, unterscheidet, ordnet und in Zusammenhänge bringt. Das Ergebnis dieser Bemühungen besteht in einer Vereinigung von sinnlichen Merkmalen als deren „Begriff“. Das, was dieser Ausdruck des „Begriffs“ besagen will, wird verschieden bestimmt. Als klassisch gilt die Meinung von David Hume (1711–1776). Ihr zufolge ist das erkennende Subjekt fähig, Erscheinungen mit einander zu verbinden, zu assoziieren. So wird Etwas erkannt, wenn es einem anderen ähnlich ist oder wenn es sich unter vergleichbaren raum-zeitlichen Verhältnissen findet oder wenn man gewohnt ist, sich Etwas als zusam-
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menhängend vorzustellen. Letzteres gilt vor allem für den Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Als sogenanntes Schema verstanden, ist jener „Begriff“ eine Gemeinvorstellung. Sie besteht als eine gedankliche Darstellung, die das erkennende Subjekt aus sich heraus hervorbringt, um die gemeinten sinnlichen Gegebenheiten gleichsam einzufangen und dadurch zu verallgemeinern. Als sogenannter empirischer Allgemeinbegriff verstanden, umfaßt er Erscheinungen eines realen Sachverhalts in ihren tatsächlichen Beziehungen. Der empirische Allgemeinbegriff ist also unterschieden vom wesentlichen Allgemeinbegriff, der das, was Etwas ist, abstraktiv-geistig darstellt. Im Sinn des Nominalismus endlich ist der „Begriff“ nichts anderes als ein Name, ein Wort. Es benennt, unterscheidet, ordnet und verarbeitet Wahrnehmungen, um schließlich dem Austausch der erkennenden Subjekte dienlich zu sein. Ob eine der angedeuteten Bestimmungen des Allgemeinbegriffs zureichend oder sogar die richtige ist, darüber gehen im Empirismus die Meinungen auseinander. Deswegen ist an dieser Stelle nur der Grund zu benennen, aus dem sich die verschiedenen Auffassungen erklären. Wie es scheint, sind sie die notwendige Folge der Verkennung des Geistes als Erkenntnisquelle. Er ist es, der Wesensverhalte zu erfassen fähig ist und damit einzelne Dinge und „Menschen“ im Allgemeinen. Da auf sie sich die Erkenntnis der Wissenschaft richtet, ist der Empirismus gehalten, die Möglichkeit der Erfassung von äußeren Erfahrungen als in der „Natur“ des erkennenden Subjekts liegend aufzuzeigen. Dieses Bemühen erstreckt sich auch und gerade auf das Verhältnis zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat eines sinnvollen Urteils. Denn jede begründete Erkenntnis erfaßt in ihm ein notwendiges Verhältnis. So ist zum Beispiel der Satz: Die Gesellschaft besteht als humanes Zusammensein zuständlicher Selbstände, keine leere sprachliche Formel, sondern ein einsichtiges Urteil. Nach dem Aufweis des empirischen Verständnisses des Seienden, der Außenwelt und des Allgemeinbegriffs können die Erläuterungen darüber kurz ausfallen, wie der Empirismus den Vorhof des Erkennens auffaßt, also die Erfahrung. Bekanntlich ist sie für ihn der Quellgrund, aus dem sich alle Erkenntnis speist. Der Gedanke, daß das Erkennen vorab und zumeist eine Leistung des Geistes ist, liegt dem Empirismus fern. Die Fähigkeit des Wahrnehmens und der Verarbeitung von Wahrgenommenem gründen allein in der Erfahrung. So etwas wie einen erkennenden Geist gibt es nicht. Er müßte in dem bestehen, was der Gegenspieler des Empirismus, der Rationalismus, als angeborene Ideen bezeichnet. Als neugeborener „Mensch“ ist das erkennende Subjekt jedoch ein unbeschriebenes Blatt. Erst im Lauf seines Lebens füllt es sich und zwar mit eben seinen Erfahrungen. Was sie ihrem Umfang nach sind, ist nicht immer klar bestimmt. Vorrangig zählen zu ihnen die äußeren Erfahrungen, also das, was herkömmlich als Sinneserfahrung bezeichnet wird. Bisweilen werden zu ihnen aber auch die inneren Erfahrungen gerechnet. Das sind die Erlebnisse, die das Bewußtsein „hat“. Die Bestimmung der Merkmale der Erfahrung erweist sich also als mehr-
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deutig. Problematischer noch ist es um die Begründung dieses Erkennens bestellt. Übersteigt das Urteil der Erfahrungserkenntnis über sich selbst nicht sein Vermögen? In der Tat: Geschieden von jeder Erfahrung befindet der empirische Standpunkt darüber, was der Ausdruck „Entgegennahme eines (sinnlich) Gegebenen“ bedeuten soll. Die Erfahrungsphilosophie hält sich nicht an ihre Voraussetzungen. Indem der Empirismus diesen Trugschluß bemerkt, in welchem er über die erfahrungsjenseitigen Bedingungen seiner Möglichkeit spricht, weitet er sich in der Regel zum logischen Empirismus. Ihm zufolge ist die Erfahrung zwar die einzige Erkenntnisquelle, aber an ihrem Ursprung findet sich sogleich jene seelische Tätigkeit des erkennenden Subjekts, die den sinnlichen Strömungen ihren Fluß weist. Diese Tätigkeit wird in der zeitgenössischen Wissenschaftslehre als Kognition bezeichnet. Er ist, wie schon bemerkt, ein vieldeutiger Sammelname, der den herkömmlichen Begriff der Erkenntnis ersetzen will. Er benennt sehr verschiedene Akte vor allem des „menschlichen“ Subjekts, das nach Erkenntnis strebt. Zu ihnen zählen die Empfindung, die Wahrnehmung, das Lernen, die Erinnerung, die Vorstellung, die Phantasie, das Wissen, das Verstehen, die Begriffsbildung, das Urteilen und andere Bewußtseinsbefunde mehr, die sonst sorgfältig unterschieden werden. In diesem vielschichtigen Zusammenhang gelten sodann die Gesetze der formalen Logik, denen das „Denken“ des Erfahrenen folgen soll. Hinzu kommen die sprachlichen Ausdrucksweisen des Gedachten in ihrer Problematik. Daß der solchermaßen beschaffene logische Empirismus gegenwärtig in sehr verschiedenen Ausprägungen vertreten wird, ist verständlich. In ihrem Sinn arbeiten auch diejenigen Gesellschaftswissenschaften, die man als empirische Sozialwissenschaften zu bezeichnen pflegt. Als Benennung der äußeren Erfahrung wird der Begriff des Empirismus auch als Inbegriff der Sinneserkenntnis verwendet. Etwas empirisch zu erkennen besagt, es zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu tasten. Diesem neueren Sprachgebrauch entgegen ist es dennoch sinnvoll, am Wortgebrauch der Sinneserkenntnis festzuhalten. Denn mit dem Namen der Sinneserkenntnis wird auf die zweite Stufe des Erkennens verwiesen, nämlich auf die geistige Erkenntnis. Bei der Verwendung des Begriffs der Erfahrung ist der Bezug jedenfalls nicht selbstverständlich. Folgerichtig bleibt zum ersten der Gedanke ausgeblendet, daß die Sinneserkenntnis das Material bereitstellt, daß die geistige Erkenntnis benötigt, um Begriffe bilden zu können. Zum zweiten wird nicht bedacht, daß das Erkennen auch und gerade in seinen unanschaulichen Verallgemeinerungen auf jenes sinnlich-anschauliche Material verwiesen bleibt. Einzigartig ist dieser Rückbezug bei jenen Sachverhalten, die als sinnlich-geistige Einheit bestehen. Zu ihnen zählt die humane Existenz in ihrer menschlichen und in ihrer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Zum Beispiel mag man aus methodischen Gründen von der einen und von der anderen Beschaffenheit absehen. In der Folge wird der „Mensch“ einseitig betrachtet. So gilt er beispielsweise einerseits als bloßes Naturwesen und andererseits nur als Kulturwe-
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sen. Ist diese Unterscheidung auch erlaubt, so ist sie in allen Urteilen, zu denen das Erkennen kommt, doch erklärend zu berücksichtigen. Denn den körperlichgeistigen, d.h. den ganzen „Menschen“ hat es nicht im Blick. Das hat die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis zu bedenken, die vorherrschend als empirische Erkenntnis einerseits und als rationale Erkenntnis andererseits entwikkelt ist. Im empirischen Erkennen begreifen die Gesellschaftswissenschaften die gesellschaftliche Existenz-Gestalt im Grundsatz nur in soweit, als die Sinneserkenntnis sie zu erfassen vermag. Wenn dem Gesellschaftlichen aber kein sinnlicher Befund entspricht, wie erfassen die Gesellschaftswissenschaften dann diese Existenz-Gestalt? Max Weber (1864–1920) veranschaulicht die Eigenart des gesellschaftswissenschaftlichen Erkennens durch das folgende drastische Beispiel, mag es maßgeblich auch nur seine eigene Auffassung der Gesellschaft als „soziales Handeln“ wiedergeben.62 Aus dem Fenster schaut eine Person, um festzustellen, ob es regnet. Es ist die Sinneserkenntnis, die erfaßt, daß der Himmel seine Schleusen geöffnet hat. Die Person, die ihr Haus verlassen will, kann aber auch in Erfahrung bringen, ob es regnet, indem sie die Passanten daraufhin beobachtet, ob sie Regenschirme tragen oder nicht. Mit diesem unterscheidenden Blick auf den Guß und auf die Regenschirme will Max Weber sagen, daß die Orientierung am Regen „nur mich“ betrifft, also mich als menschliche Existenz-Gestalt, während die Orientierung an den Passanten „mich in der Beziehung zu anderen“ betrifft und damit mich in meiner gesellschaftlichen ExistenzGestalt. Das Beispiel macht deutlich, daß die Sinneserkenntnis zwar Bestandteil einer jeden Erkenntnis ist, daß sie aber sowohl von einer vorgängigen immateriellen Aufmerksamkeit wie von einer abschließenden nicht-sinnlichen Beurteilung abhängig ist. Der Realismus lehrt, daß jene Frage und dieses Urteil eine Leistung des nicht-sinnlichen Erkennens ist, d.h. des Denkens als eines Vermögens der geistigen Seele. Der Empirismus kennt wohl dieses „Denken“, nicht aber die geistige Seele. Deswegen besteht das „Denken“ für ihn im mehrdeutigen Sinn einer kognitiven Aktualität. Das zweite Vermögen des Erkennens der humanen Existenz ist das geistige Erkennen. Es ist ausgeprägt als Verstand und als Vernunft. Die Tätigkeit des Verstandes heißt üblicherweise Denken. Formelhaft ausgedrückt, besteht das Denken im Vermögen der Begriffe, d.h. im Erkennen dessen, was Etwas ist. Das sinnvolle Gefüge von Begriffen heißt Urteil. Die gesetzmäßige Verknüpfung von Urteilen heißt Schluß. Die Tätigkeit der Vernunft wird zumeist Einsicht genannt. Die Einsicht ist das Vermögen der Ursprungsgründe. Ursprungsgründe besitzen das Seiende, das Werden und das Erkennen. Die Tätigkeit des Denkens und des Einsehens werden seit den frühesten Zeiten als theoretisches Tun bezeichnet. Die Theorie besteht in der Betrachtung von Etwas um seiner 62 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei Halbbände, Tübingen 1922, S. 11.
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Betrachtung willen. Sie ist verschieden vom praktischen und vom technischen Tätigsein des „Menschen“. Von der Theorie heißt es bei Aristoteles: Hê theo¯ria to hêdiston kai ariston, d.i. betrachtend tätig zu sein, ist das Angenehmste und das Beste, dessen der „Mensch“ fähig ist.63 Von der umrissenen Auffassung der Theorie hat sich der gegenwärtig herrschende Empirismus weit entfernt. In dem Maße, in dem er das geistige Erkennen als Verstand und Vernunft als die Vermögen des Erfassens des Soseins und des Grundes von Etwas preisgegeben hat, meint er auch mit dem Begriff der Theorie etwas Anderes. Gemeinhin verstanden, also als Ausdruck, der den Gegensatz zur Empirie benennt, bezeichnet er jede nicht-sinnliche Tätigkeit eines „menschlichen“ Subjekts, das sich um das Erkennen bemüht. In diesem Sinn kann man über die Entwicklung gesellschaftstheoretischer Vermögen zum Beispiel das folgende lesen: „Natürlich gehört . . . dazu auch eine vielfältige Auseinandersetzung zwischen reiner Spekulation, begrifflicher Deduktion und empirischem Herumprobieren“64, kurzum alles, was ein moderner gesellschaftswissenschaftlicher Forscher diesseits seiner empirischen Daten aufgefordert ist, „sich auszudenken“. Dem entgegen ist die Bedeutung des Begriffs der Theorie im Sinn der Forderungen der herrschenden Wissenschaftslehre eng umrissen. Dieser enge Begriff der Theorie besteht einerseits im Unterschied zu dem der Hypothese und andererseits im Unterschied zu dem der Feststellung einer Tatsache. Hypothese heißt die angenommene Erklärung einer Tatsache. Ihre Feststellung erfolgt durch eine Beobachtung bzw. durch ein Experiment in der Erwartung, daß die angenommene Erklärung zutrifft bzw. nicht zutrifft. Im Fall der einzig möglichen hinreichenden Erklärung wird die Hypothese in den Rang einer Theorie erhoben. Was die gesellschaftswissenschaftliche Theorie betrifft, so ist vorgeschlagen worden, zwischen der soziologischen Theorie und der Theorie der Gesellschaft zu unterscheiden. In dieser Unterscheidung schwankt der Begriff der soziologischen Theorie zwischen jenem zuerst genannten gedanklichen Experimentieren und der Verifizierung bzw. Falsifizierung einer mutmaßlichen Erklärung. Der von ihm unterschiedene Begriff der Theorie der Gesellschaft erstreckt sich indessen nicht weniger weit. Bezeichnet er einerseits die betrachtende philosophische Lehre von der Gesellschaft, so reicht er zum anderen hin bis zur Kennzeichnung politisch-gesellschaftlicher Doktrinen. Durch diese Bedeutungsvielfalt des Namens Theorie sollte man sich jedoch nicht verwirren lassen. Wie steht es also mit der Theorie, d.h. mit der wissenschaftlichen Betrachtung der Gesellschaft? Zum ersten ist bedeutsam, daß die empirische Erkennt63
Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1072b. René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1. Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 1. 64
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nisgestalt der Gesellschaft den Ausdruck nahezu durchgängig im fachwissenschaftlichen Sinn gebraucht. Der Name gesellschaftswissenschaftliche Theorie wird also richtig übersetzt mit dem Namen soziologische Theorie. Er benennt alle Feststellungen und nächste Erklärungen von gesellschaftlichen Tatsachen und ihren Verhältnissen. Über den Inhalt des Begriffs dieser Theorie ist das folgende zu lesen: Von dem, was man als gesellschaftswissenschaftliche Kategorienlehre bezeichnen könnte, „müssen in einem nächsten Schritt die eigentlichen soziologischen Theorien abgetrennt werden, sofern sie bereits zu mehr oder weniger umfassenden Begriffssystemen entwickelt worden sind. Im Durchschnitt kann man sagen, daß wir bisher nur über relativ wenige weitreichende theoretische Ansätze verfügen.“ Wir müssen uns deswegen „darüber ganz klar sein, daß solche Integrationserscheinungen höheren Grades in der soziologischen Theorie noch recht selten sind. In der Majorität der Fälle bewegen wir uns noch ganz im Rahmen eigentlicher ad-hoc-Beziehungen, die im Zusammenhang mit einzelnen begrenzten Zusammenhängen von Erscheinungen entwickelt worden sind, ohne daß man Sorge getragen hätte, sie mit anderen ähnlichen begrifflichen Teilsystemen in Verbindung zu bringen. Manchmal erreicht aber die Forschung nicht einmal die Stufe der ad-hoc-Theorien, sondern bleibt auf der Stufe der bloßen deskriptiven Feststellungen von gewissen Regelmäßigkeiten stecken, ohne eine auch nur teilweise theoretische Erklärung für diese Regelmäßigkeiten geben zu können.“ – „Wir erhielten dann folgende Reihe, die nach Maßgabe des wachsenden Abstraktionsgrades der gewonnenen Begriffe geordnet ist: Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, Entwicklung von ad-hocTheorien, Theorien mittlerer Reichweite, Theorien höherer Komplexität.“65 Das, was man als soziologische Theorie bezeichnet, sind also „unterschiedlich fundierte, ausgerichtete und entfaltete Aussagensysteme mit hohem Allgemeinheitsgrad und oft auch auf hohem Abstraktionsniveau, die sich mit ihrem umfangreichen Objektbereich auf soziokulturelle Verflechtungszusammenhänge, Strukturen, Prozesse und soziales Verhalten beziehen.“ Natürlich ist das Interesse groß, welche „Aussagensysteme“ sich schließlich aufweisen lassen. Denn nur in diesem Fall ist greifbar, was das anspruchsvolle Wort Theorie benennt. Im anderen Fall bleiben die Abhandlungen über die soziologischen Theorien unbestimmt, und sie sind das, als was sie oben aufgewiesen wurden66: „Die Vielzahl soziologischer Theorien und Theorieansätze läßt erkennen, daß bisher in der Soziologie noch keine hinreichend ausgereifte Theorie zustande gekommen ist, die den Objektbereich des Faches umfaßt und von der Profession (der Soziologen) akzeptiert wird.“67 Wenn es aber mit dem verständigen und mit 65 René König, Art. Einleitung, in: ders., Handbuch der empirischen Sozialforschung, a. a. O., S. 3 f. 66 Vgl. § 7, A., III.: Die vielfach in sich zerfallende Soziologie. 67 Karl-Heinz Hillmann, Art. Soziologische Theorien, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 824.
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dem vernünftigen Begreifen, also mit der Durchdringung der gesellschaftlichen Erscheinungen derart bestellt ist, ist ihre Erkenntnis als empiristisch zu benennen: „In der Soziologie ist mitunter eine Forschungspraxis zu beobachten, die als theorieloser Empirismus bezeichnet wird. Demgemäß werden einfach, gleichsam ,stoffhuberisch‘, als plausibel und wichtig erscheinende Fakten gesammelt und ausgezählt, ohne daß eine präzise und eingegrenzte Fragestellung bzw. ein theoretisch-hypothetisches Konzept vorliegen, die mit den Tatsachen konfrontiert werden könnten.“68 Die benannte fachwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft verfährt ohne Verstand und Vernunft. Wenn es sich mit der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis aber so verhält, wird man von ihr nicht erwarten, daß sie zu Urteilen kommt, die mit der Realität übereinstimmen. Offensichtlich erreicht die Logik der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung die Höhe ihrer Zeit, wenn sie sich bemüht, Theorien im Sinne begrifflicher Netze von der Art zu knüpfen, daß sie demnächst imstande ist, mit ihrer Hilfe sinnvolles gesellschaftliches Erfahrungsmaterial einzufangen. Bei Karl Popper (1902–1994) findet sich dieses Bild vom erkennenden „menschlichen“ Geist wie folgt umschrieben: „Die Erfahrungswissenschaften sind Theoriensysteme. Man könnte die Erkenntnislogik die Theorie der Theorien nennen.“ – „Die Theorie ist das Netz, was wir auswerfen, um ,die Welt‘ einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen.“69 Im weitesten Sinn ist eine Lehre von der Erkenntniswahrheit, wie diese, eine Lehre von der Übereinstimmung eines Satzes mit der Gesamtheit der zur Sache vorliegenden Sätze. Voraussetzung ist, daß wenigstens ein Satz verifiziert ist. Nach dem Kritischen Rationalismus aber bleibt er eine bestenfalls bewährte Hypothese auf Zeit. Zuletzt erstrebt die gesellschaftliche Erkenntnis das, was man – in einer Anlehnung an das Dichterwort – dasjenige nennen könnte, „was die gesellschaftliche Welt im Innersten zusammenhält“. Eine einheitliche Bezeichnung für diesen Zusammenhang hat sich bis jetzt noch nicht gefunden. Vielleicht kann man sagen, daß es den Gesellschaftswissenschaften letztlich um die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten geht, Regelmäßigkeiten, die die gesellschaftliche ExistenzGestalt der humanen Existenz als diese kennzeichnen. Daß das Bild von der Gesellschaft als eines Organismus alsbald ausgebildet worden ist und sich bis heute erhalten hat, erklärt sich nicht zuletzt aus der Suche nach jenen Regeln des gesellschaftlichen Lebens. Denn wie keine andere Veranschaulichung bringt das Organismusbild Geregeltes bzw. Regelndes zum Ausdruck. Man verspürt in ihm geradezu die notwendigen Verhältnisse, die herzustellen bzw. zu erhalten 68 Karl-Heinz Hillmann, Art. Empirismus, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, a. a. O., S. 181. 69 Karl R. Popper, Logik der Forschung (1934), Tübingen 19662, S. 31.
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sind. Sie betreffen die Verhältnisse zwischen dem Organismus im Ganzen und seinen statischen Gliedern bzw. dynamischen Organen, und zwar sowohl zwischen diesen untereinander als auch im Verhältnis zum Ganzen. In der herrschenden Sprache ist von der Struktur der Gesellschaft mit ihren Positionen und Rollen die Rede. Wo das Bild von der Organismusordnung bzw. von der Strukturordnung aufgegeben worden ist und an seine Stelle ein Verständnis gesetzt wurde, die Gesellschaft aus der Sicht der „persönlichen“ Beziehungen und Handlungen zu verstehen, wird von Beziehungs- und Handlungszusammenhängen gesprochen. Aber auch diese anders bestimmte „Gesellschaft“ will letztlich in ihrer Regelhaftigkeit verstanden sein. Was mit dem Namen der Regelmäßigkeit zu umschreiben versucht wurde, wird in der gesellschaftswissenschaftlichen Sprache zumeist als Gesetz bezeichnet. Im weitesten Sinn verstanden, meint der Ausdruck des Gesetzes ein beständiges Verhältnis. Dieses Verhältnis kann entweder der Sache nach oder dem Begriff nach bestehen. Jenes ist deswegen ein reales Gesetz, dieses dagegen ein logisches. Zur Verdeutlichung dieses Unterschiedes heißt es an gelehrter Stelle: Beim neuzeitlichen Begriff des Gesetzes „können zwei grundsätzliche Tendenzen unterschieden werden. Die eine ist naturwissenschaftlich orientiert und behandelt das Gesetz vorwiegend als relationalen Zusammenhang, durch den der menschliche Verstand die Gegenstände der Natur in eine . . . faßbare Beziehung bringt. Weil so das Gesetz als vom Subjekt geleistete Verbindung aufgefaßt wird, stellen sich vor allem erkenntnistheoretische Fragen nach Art und Gültigkeit dieser Verbindung.“ „Auf der andern Seite sehen z. B. Hegel und die marxistisch-leninistische Philosophie das Gesetz in dem objektiven Zusammenhang eines Weltganzen. Es wird in dieser Sicht als ,abhängiges Moment Einer Totalität‘ betrachtet. Die Gesetzesformulierung ist daher nur eine relative, vom Subjekt geleistete Reproduktion eines dialektischen Vollzugs. Die Vertreter dieser Denkweise können sich auf die antike Tradition berufen, die seit ihren Anfängen im Gesetz das Ordnungsprinzip sah, durch welches die Bewegung und Vielfalt der Welt geregelt wird.“70 Der Unterschied zwischen dem Gesetz als einer „vom Subjekt geleisteten Verbindung“ und als „abhängiges Moment Einer Totalität“ darf nicht verwechselt werden mit den Bedeutungen des Ausdrucks in seinen Anwendungsbereichen. Wiederholend sei bemerkt: In einem ersten Sinn sind Gesetze sogenannte Naturgesetze. Sie normieren das Wirken der nicht-„menschlichen“ Körper. In einem zweiten Sinn finden sich diejenigen Gesetze, die das Wirken der Natur der humanen Existenz bestimmen. Der Unterschied zwischen jenen und diesen besteht darin, daß die Gesetze der humanen Existenz durch ihre Erkenntnis vermittelt sind. Als erkannte Gesetze der natürlichen Natur und der „mensch70 Karl-Heinz Hillmann, Art. Gesetz, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 290 f.
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lichen“ Natur bestehen sie als Beschreibungen von Abläufen bzw. von Geschehnissen. Die Gesetze der „menschlichen“ Welt sind des näheren Identitäten oder Funktionalitäten. Als Identitäten bestehen sie unter einer Rücksicht als ein und dasselbe, unter einer anderen Rücksicht jedoch als etwas Verschiedenes. Als Funktionalitäten sind sie konstante Veränderungen zwischen Beständen, die von einander abhängig sind. In einem dritten Sinn sind Gesetze Regeln im rechtlichen, im sittlichen und im logischen Sinn. Ihre Erkenntnis wird in Sätzen zum Ausdruck gebracht, die Etwas vorschreiben. Viertens sind Gesetze im Sinn der möglichen Existenzgestaltung aufgegebene Gesetze. Daß die humane Existenz gegen jene Gesetze verstoßen bzw. sie verschieden anwenden kann, ist bekannt. Derartige Verstöße stören oder zerstören gar die humane Existenz. Der gesellschaftswissenschaftliche Empirismus versteht als Gesetz den Regelfall eines „menschlichen“ Verhaltens gegenüber einem oder mehreren anderen „Menschen“. Die Regelmäßigkeit ist ein Sachverhalt der Erfahrung. Deswegen ist es eine Aufgabe des erkennenden Subjekts, der Regel nachzuspüren, sie als Regelmäßigkeit zu durchschauen, sie in Beziehung zu anderen Regeln zu setzen und sie schließlich als Gesetz zum Ausdruck zu bringen. Wie es mit der Formulierung von Gesetzen in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis bestellt ist, sagt die folgende Auskunft: „Das Gesetz beinhaltet eine Aussage über bestimmte, unter angegebenen Bedingungen wirksame Beziehung zwischen bestimmten Elementen oder Variablen eines Sachverhalts, d.h. es behauptet Gleichförmigkeiten, Regelmäßigkeiten oder Entwicklungen. Angesichts weitreichender Interdependenzen zwischen sozialen Tatsachen und Prozessen bereitet die für die Aufstellung und Überprüfung sozialwissenschaftlicher Gesetze notwendige Abstraktion und Reduktion der problematisierten Variablen oder Elemente große Schwierigkeiten.“71 „Über die Kriterien der ,Gesetzesartigkeit‘ von Aussagen findet sich in der Literatur keine Einigkeit.“72 Die Rückbesinnung läßt erkennen, daß die vorliegende Untersuchung des gesellschaftswissenschaftlichen Empirismus das, was der Realismus als geistige Erkenntnis bezeichnet, in drei Schritten erörtert hat. Zum ersten: Das Erkennen, das der Realismus als Erkennen des Verstandes und als Erkennen der Vernunft bezeichnet und tut, benennt die empirische Erkenntnis der Gesellschaft nicht nur mit einem anderen Namen. Vielmehr verhält sie sich auch nach dieser veränderten Benennung. Sie faßt das verständige und das vernünftige Denken als theoretisches Denken auf. Mit dieser Umbenennung kommen mindestens zwei neue Bedeutungen des Ausdrucks Theorie ins Spiel. Zum ersten gilt als theoretisch jedes Verhalten eines empirisch eingestellten Gesellschaftswissenschaftlers, 71 Lucia Kern, Art. Gesetz, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 243. 72 Friedrich Kaulbach, Art. Gesetz, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Basel 1974, Sp. 501.
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das sich um Begriffliches bemüht, also um das, was verschieden ist von der sinnlichen Wahrnehmung. Zum anderen gilt als Theorie die verifizierte Hypothese, insbesondere im Zusammenhang mit anderen bewahrheiteten Erklärungsannahmen, sofern diese Bewahrheitung möglich ist. Zum zweiten: Als Ziel der realistischen Erkenntnis wurde die Angleichung von Geist und Sein genannt. Im Gegensatz hierzu sieht es der Empirismus als seine Aufgabe an, das logische Netzwerk des Erkennens immer dichter zu knüpfen. Sein Verständnis der Urteilswahrheit besteht im Anschluß von Sätzen an andere verifizierte bzw. falsifizierte Sätze. Zum dritten: Für den Realismus besteht die Form des wahren Urteils im Realitätsbezug zwischen dem Subjekt und dem Objekt dergestalt, daß das erkennende Subjekt bejaht, was ist und verneint, was nicht ist. In diesen Fällen ist das Urteil logisch begründet bzw. ist das Begründete von seinem realen Grund her erfaßt. Der Empirismus erklärt nichts aus „Gründen“. Denn in der Erfahrung sind Gründe nicht gegeben. Er beobachtet vielmehr Verhaltensweisen und stellt zwischen ihnen dann begriffliche Beziehungen her, wenn sie wiederkehrend der Fall sind. Diese Erkenntnisform ist ein Erkennen von Gesetzen. Mit der Erkenntnis von Gesetzen hat der Empirismus das Ziel erreicht, das er erstrebt. Die Frage, was eine Gesetzmäßigkeit ist bzw. warum es sie gibt, erscheint dem Empirismus als abwegig. Wie vermöchte „hinter“ einem Gesetz ein Gesetz zu walten? Zu meinen, man müsse auch den Grund oder den Ursprung oder die Ursache einer Regelmäßigkeit bzw. überhaupt von Etwas erforschen, gehört zur Metaphysik, die inzwischen überwunden ist. Im Werk von Auguste Comte (1798–1857), dem Gründungsvater der Soziologie wie des Positivismus, wird auf die folgende Weise beschrieben, daß und wie sich die Zeiten geändert haben: Die „lange Reihe notwendiger“ theologischer und metaphysischer „Vorstufen führt schließlich unsere schrittweise frei gewordene Intelligenz zu ihrem endgültigen Stadium rationaler Positivität . . . Nachdem derartige vorbereitende Übungen von selbst die völlige Nichtigkeit der der anfänglichen Philosophie . . . eigenen unklaren und willkürlichen Erklärungen bewiesen haben, verzichtet der menschliche Geist fortan auf absolute Forschungen, wie sie nur seiner Kindheit angemessen waren, und beschränkt seine Bemühungen auf das von da an rasch sich entwickelnde Gebiet der echten Beobachtung, der einzig möglichen Grundlage der wirklich erreichbaren und unseren tatsächlichen Bedürfnissen weise angemessenen Erkenntnisse.“ – „Die reine Einbildungskraft verliert dann unwiderruflich ihre alte geistige Vorherrschaft und ordnet sich notwendig der Beobachtung unter, sodaß ein völlig normaler Geisteszustand herbeigeführt wird; nichtsdestoweniger leistet sie auch weiterhin den positiven Theorien einen ebenso wesentlichen wie unerschöpflichen Dienst, indem sie die Mittel endgültiger oder provisorischer Verbindung schafft oder vervollkommnet. Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im wesentlichen darin, überall anstelle der unerreichbaren Bestimmung der eigentlichen Ursachen die einfache Erforschung von Gesetzen, d.h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen beobachteten
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Phänomenen bestehen. Ob es sich nun um die geringsten oder die höchsten Wirkungen, um Stoß und Schwerkraft oder um Denken und Sittlichkeit handelt, wahrhaft erkennen können wir hier nur die verschiedenen wechselseitigen Verbindungen, die ihrem Ablauf eigentümlich sind, ohne jemals das Geheimnis ihrer Erzeugung zu ergründen.“73
Am Schluß der Erörterung der Merkmale des realistischen Erkennens fand sich die Gelegenheit zu einem zusammenfassenden Urteil über die Erkenntnisgestalt des Realismus. Sie wurde als vollmenschliche Erkenntnisgestalt benannt. Dieses Urteil besitzt seine Begründung im Umfang und der Ausprägung des Erkennens. Es reicht von der äußeren Erfahrung bzw. von der äußeren Sinneserkenntnis bis zum einsichtigen Erkennen von Ursprungsgründen. In dieser Erstreckung finden sich verschiedene Besonderungen des Erkennens, zumal im Verhältnis zu einander. Im weitesten Sinn ist das realistische Erkennen ausgewiesen als ein Erkennen des intelligibile in sensibili, d.i. ein Erkennen des „Einsichtigen im Gesehenen“. Von ihm ist das empirische Erkennen verschieden. Es besteht in einem ordnenden Auffassen von sinnlich Gegebenem. Geistige Gegebenheiten finden sich nicht. Also entfaltet die humane Existenz gegenüber dem Empirischen ihre seelischen Erkenntniskräfte im Sinn einer Synthese der Vielfalt des Wahrgenommenen. Weil es eine ursprüngliche Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt nicht gibt, besteht das „Denken“ letztlich getrennt vom „Sein“. Dieses Verhältnis gilt nicht nur von den Ausformungen des Empirismus im strengen Sinn. Es findet sich auch in den Bemühungen, ihn zu überwinden, zum Beispiel im Kritizismus von Immanuel Kant (1724–1804): „Kant erkennt zwar, daß die Erfahrung nur durch nicht erfahrbare Funktionen des Geistes möglich ist, beschränkt aber mangels einer letzten Analyse dieser Funktion deren objektive Geltung wieder im Sinne des Empirismus auf das Feld der Erfahrung.“74 Aus den genannten Gründen kann man die empirische Erkenntnis und damit auch die empirische Erkenntnis der Gesellschaft nicht als vollmenschliche Erkenntnis bezeichnen. Als nichtvollmenschliche Erkenntnis ist sie eine begrenzte Erkenntnis. Die Begrenztheit der empirischen Erkenntnisgestalt wirkt sich nicht zuletzt wissenschaftssystematisch aus. In Sonderheit handelt es sich um das Verhältnis zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Ausformung der Gesellschaftserkenntnis. Faßt man die verschiedenen Gründe zusammen, die der gesellschaftswissenschaftliche Empirismus für die Zulänglichkeit seiner Erkenntnisgestalt beansprucht, dann wird verständlich, daß er keine Veranlassung besitzt, sich auch als Philosophie der Gesellschaft zu entwickeln. Maßgeblich versteht er sich als Fachwissenschaft, d.h. als „Soziologie, 73 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), (Edition Meiner), Hamburg 1956, S. 25 ff. 74 Josef Santeler, Art. Empirismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 83.
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die nichts als Soziologie ist“. Wie sehr man dieser Selbstbeschränkung auch zustimmen kann, so sehr ist man überrascht darüber, daß diese Soziologie auf alles, was von der Art der Philosophie ist, gereizt reagiert. Als bestünde – aus freilich nicht bedachten erkenntniskritischen Gründen – zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Erkenntnis der Gesellschaft kein Unterschied, wird alsbald und rundum gefordert, daß aus der im genannten „Sinn verstandenen Soziologie . . . alle philosophisch ausgerichteten Betrachtungen ausgemerzt“75 werden müssen. Denn „einzig die Soziologie ist Wissenschaft von der Gesellschaft, und Wissenschaft ist letztlich nur als empirische Forschung möglich“76. Also besteht die Philosophie der Gesellschaft in einer „Doktrinenbildung“.77 Wenn man will, kann man die Philosophie der Gesellschaft auch als Theorie der Gesellschaft bezeichnen, um sie mit Hilfe dieses Namens von der soziologischen Theorie zu unterscheiden.78 Nicht als auszumerzende Doktrin, sondern als „Theorie der Gesellschaft“ verstanden, mag man sogar zugestehen, daß sie den Inbegriff darstellt für „alle gedanklichen Systeme, Theorien und Hypothesen über gesellschaftliche Phänomene, die . . . zum ,Wesen‘ oder ,wirklichen Sein‘ dieser Phänomene Aussagen machen wollen“79. Eine derart arbeitende Philosophie der Gesellschaft wäre in der Tat eine Universalwissenschaft im Besonderen, nämlich von der Gesellschaft, mit dem Ziel der Erkenntnis ihrer ersten Ursprünge. Durch diese Bestimmung ist auch der Unterschied und das Verhältnis zur Soziologie geklärt. Sie arbeitet als spezialwissenschaftliche Disziplin, nämlich als Fachwissenschaft von der bzw. einer Gesellschaft, und sie erstrebt die Erkenntnis ihrer jeweils nächsten Ursprünge. V. Der Rationalismus als Erkenntnisgestalt
Die erkenntnistheoretische Auffassung, die der empirischen entgegengesetzt ist, ist der rationale Erkenntnisstandpunkt. Wie man jenen als Empirismus bezeichnet, benennt man diesen als Rationalismus. Beansprucht der Rationalismus, allein zu gelten, spricht man von einem rationalistischen Erkennen, das dem Fall des empiristischen Erkennens entspricht. Die folgende Darstellung begnügt sich damit, die Merkmale des rationalen und naturgemäß vor allem die Merkmale des rationalistischen Erkennens aufzulisten, soweit sie gesellschaftstheoretisch bedeutsam sind. 75
René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967,
S. 8. 76 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 1. 77 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a. M. 1967, S. 9. 78 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), a. a. O., S. 11. 79 Karl-Heinz Hillmann, Art. Sozialphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 810.
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Der Ausdruck des Rationalen kann in einem weiteren und in einem engeren Sinn verstanden werden. In seiner engeren Bedeutung bezeichnet er das begrifflich voranschreitende Erkennen, also das Erkennen, das logisch und methodisch sein will. Als Erkennen des Verstandes ist es unterschieden vom Erkennen der Vernunft. Das vernünftige Erkennen ist intellektuell bzw. einsichtig. Im weiteren Sinn umfaßt der Begriff des rationalen Erkennens das Erkennen sowohl des Verstandes als auch der Vernunft. Beide Ausdrücke meinen das geistige Erkennen der humanen Existenz im Unterschied zu ihrer sinnlichen Erkenntnis. Mit dieser Unterscheidung ist die Vorstellung verbunden, daß das Erkennen einen inneren Aufbau besitzt. Die erste Stufe ist die des sinnlichen Wahrnehmens. Auf sie folgt die des begrifflichen Denkens. Über sie erhebt sich die dritte Stufe der grundlegenden Einsicht. Auf diese Weise bestimmt, ist das rationale Erkennen unterscheidend und in seinen Verhältnissen zutreffend definiert. Die Definition des Rationalismus ändert sich, wenn die Rationalität anders aufgefaßt wird. Festzustellen sind vor allem zwei andere Meinungen über ihren Sinngehalt. Der erste Fall liegt vor, wenn der Bezug preisgegeben wird, der zwischen dem geistigen Erkennen und dem sinnlichen Erkennen besteht. In der Folge wird das geistige Erkennen als reiner Verstand bzw. als reine Vernunft aufgefaßt. Begriffe und Einsichten besitzt die Rationalität aus sich heraus. Wie immer man das Geistige auch versteht, es gilt als alleinige Quelle der „menschlichen“ Erkenntnis. Nach diesem ersten Schritt der Loslösung der Rationalität von der Sinnlichkeit erfolgt meist ein zweiter Schritt. Er kommt in der Meinung zum Ausdruck, daß der „menschliche“ Verstand bzw. daß die „menschliche“ Vernunft als Verstand bzw. als Vernunft schlechthin besteht. In der Folge dieser Ansicht wird das geistige Erkennen als etwas Absolutes aufgefaßt. Für die Neuzeit hat René Descartes (1596–1650) den Weg eröffnet, auf dem dieser Rationalismus zunehmend an wissenschaftlichem Einfluß gewinnt. Der von ihm behauptete Satz cogito, ergo sum besagt zum ersten, daß es das Denken allein ist, das zur Gewißheit führt, und zum zweiten, daß ich meiner selbst gewiß bin durch mein Denken. Diese Sätze über die Art des „menschlichen“ Bewußtseins bzw. über das „menschliche“ Denken einerseits und über das „menschliche“ Erkennen als in der Subjektivität des „Menschen“ begründet andererseits, sind inzwischen zur durchgängig geltenden Voraussetzung der rationalistischen Erkenntnis geworden. Daß jenes Bewußtsein bzw. Denken und diese Subjektivität verschieden aufgefaßt werden, ist bekannt. Diese Deutungen sind eine erste Form des Rationalismus. In der Regel bezeichnet man sie als erkenntnistheoretischen Rationalismus. Eine zweite Ausformung findet sich als rationalistische Haltung der humanen Existenz. Haltung heißt Lebenseinstellung. Dieses rationalistische Sichverhalten erklärt sich aus Charaktereigenschaften des „Menschen“ ebenso wie aus geschichtlichen Lebensumständen. In der Geschichte findet es sich deswegen immer wieder im Sinn einer geistigen Bewegung. Die rationalistische Haltung ist vor allem daran
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erkennbar, daß der Verstand sich das Willens- und das Gefühlsleben botmäßig zu halten versucht, vom sinnlich-anschaulichen Leben ganz zu schweigen. Stürmisch drängt das Verstandesdenken zur Klarheit. Gemeinhin wird dieses Streben als Aufklärung bezeichnet. In dieser rationalistischen Einstellung wird auch heute vielfach geurteilt, und zwar nicht zuletzt über den Bestand und das Geschehen zumal der gegenwärtigen Gesellschaft. Vielleicht darf man sagen, daß der Rationalismus die Gesellschaft in ihrem Sein im Sinn des Realismus auffaßt. Der Realismus bestimmt sie als formbestimmt und als inhalterfüllt. Freilich vermag der Rationalismus die Gesellschaft als Erscheinung nicht recht wahrzunehmen. Ihm zeigt sie sich nicht in anschaulicher Weise. Maßgeblich bestimmt ist sie in ihrem An-sich-Sein, das freilich als ihre Idee besteht, die ihr voraufliegt. Die Aufmerksamkeit des Erkennens der Gesellschaft wird sich deswegen zum einen der Klärung der Wahrnehmungen zuwenden, um Unbestimmtes zu bestimmen. Es kommt darauf an, undeutlich Wahrgenommenes zu verdeutlichen. Sodann wird der Rationalismus die Idee der Gesellschaft zu denken versuchen, also ihr Urbild. Worin die Vergesellung urbildlich besteht, ist freilich nicht ausgemacht. Der Gesellschaftsbegriff im Sinn der reinen Vernunft ist noch in seiner Ausbildung begriffen. Jedenfalls hat sich der Versuch, den zum Beispiel Immanuel Kant (1724–1804) unternommen hat, nicht durchgesetzt. Kant meinte, daß der „Mensch“ nach dem Willen der Natur „alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe“. Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, damit die humane Existenz alle ihre Anlagen entfaltet, besteht in der Gesellschaft als ein „antagonism“, also in einem Wettstreit unter den „Menschen“, „sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung“ wird: „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht.“80 Die Gesellschaft als Antagonismus unter den „Menschen“ zu verstehen, der eine Ordnung eigener Art darstellt, hat in die gesellschaftstheoretische Erkenntnis keinen Eingang gefunden. Nach der Auffassung des Rationalismus ist die Gesellschaft gegenüber dem erkennenden Subjekt nichtsdestoweniger eine transsubjektive Welt. Dabei ist sie im Gegensatz zum Empirismus kein bloßer „menschlicher“ Rohstoff, den es in seiner Tatsächlichkeit und in seinen Verhältnissen zu beobachten und gedanklich zu gliedern gilt. Die Gesellschaft ist ein Bestand von eigenem „Geist“. Obwohl sie auch als Tatsache besteht, ist sie doch so etwas wie das Schicksal der humanen Existenz. Diesen Charakter als Lebensgeschick verkennt die empirische Wissenschaft von der Gesellschaft. Deswegen ist sie in der Gefahr, sich in der Aufzeichnung des gesellschaftlich „Positiven“ zu erschöpfen. Erliegt sie ihr, 80 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, (Edition Meiner), Hamburg 1959, S. 8 f. Vgl. auch § 8. B., II.
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leistet sie keinen Beitrag „im Geist der Beurteilung“. Sie ist nicht mehr als eine „bloße Verdoppelung der Realität durch Gedanken“81. Vom rationalistischen Verständnis der Außenwelt kann man deswegen sagen, daß sie den Gegenstand seiner Kritik darstellt. Denn die empirisch bzw. empiristisch verstandene Realität ist eine falsch verstandene Realität. Die Begriffe des Rationalismus versuchen zu erfassen, was im Einzelnen und was im Allgemeinen der Fall ist. Die „wesentlich“ gemeinten Allgemeinbegriffe, denen naturgemäß der Vorrang eingeräumt wird, sind die Ideen, die sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Sie beherrschen das Erkennen. Streng genommen sind sie von vornherein geltende Entwürfe der göttlichen und sodann der „menschlichen“ Vernunft. Unter diesen Bedingungen finden sich die Ideen also durchgängig durch das Seiende. „Der Rationalismus setzt voraus, daß uns mit den Vernunftbegriffen die ideae innatae, z. B. Substanz, Kausalität, Wahrheit, gegeben seien, die man nur klar und deutlich einzusehen brauche, um sich der Wahrheit seiner Erkenntnisse von der Wirklichkeit gewiß zu werden.“82 Oder es sollte wenigstens so sein. Hinsichtlich ihrer vernünftigen Bestimmung müßten die Theoretiker der Gesellschaft sich somit einig sein. Tatsächlich verhält es sich im Allgemeinen wie im Besonderen jedoch anders. Deswegen stellt sich die Frage, wie der eine Theoretiker der Gesellschaft zu den von ihm als vernünftig erachteten Ideen und ein anderer zu anderen Ideen kommt. Man kann die Problematik an Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und an Karl Marx (1818–1883) verdeutlichen, die sich gesellschaftstheoretisch ebenso nahestehen wie von einander entfernt sind. Hegel faßt die eigene, also die bürgerliche Gesellschaft, als sogenanntes System der Bedürfnisse auf. Er beschreibt es zum Beispiel wie folgt: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen: diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen.“83 Marx faßt die Bedürfnisverhältnisse anders auf, nämlich als „Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat“84. Die ersten Ideen der Gesellschaft sind also verschieden, und zwar so verschieden, daß darüber der Streit geht, ob Marx die Lehre Hegels nicht vom Kopf auf die Füße stellen muß.85
81 Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Art. Begriff der Soziologie, Frankfurt a. M. 1956, S. 17 f. 82 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Rationalismus, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1988, S. 547. 83 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß (1821), (Edition Herdflamme), Jena 1927, S. 717. 84 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848), Berlin 1958, S. 7. 85 Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Band 1 (1867), Berlin 1956, S. 18.
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Ein zweites Problem, vor das sich der Rationalismus gestellt sieht, ist die Frage, wie die irgendwie an sich bestehenden Ideen in die Sache gelangen, die sie bestimmen. Zwei Möglichkeiten einer Antwort bieten sich an. Zum ersten kann man meinen, daß die Wesenheiten sich in einem platonischen Ideenhimmel versammeln, um sich von dort in die Welt zu verströmen. Indem die einzelnen Dinge und „Menschen“ an ihnen teilhaben, sind sie das, was sie sind. Dieser Platonismus ist erkenntnistheoretisch jedoch gründlich subjektiviert. In der Folge gibt der Rationalismus sich auf und verwandelt sich in sein Gegenteil, also in den Empirismus. Gefordert wird, daß man die Tatsachen studieren muß, um zu erkennen, welche Ideen ihnen zugrunde liegen. In diesem Sinn begründet Hegel seine angeführte Auffassung wie folgt: „Es gibt gewisse allgemeine Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Kleidung usw., und es hängt durchaus von zufälligen Umständen ab, wie diese befriedigt werden. Der Boden ist hier oder dort mehr oder weniger fruchtbar, die Jahre sind in ihrer Ergiebigkeit verschieden, der eine Mensch ist fleißig, der andere faul, aber dieses Wimmeln von Willkür erzeugt aus sich allgemeine Bestimmungen, und dieses anscheinend Zerstreute und Gedankenlose wird von einer Notwendigkeit gehalten, die von selbst eintritt.“86 Der ehedem ideal bestimmte Zweck-Mittel-Zusammenhang zwischen mir und dem anderen erklärt sich also aus der Notwendigkeit der Natur. Ebenso tatsachenbezogen begründet Marx seine Auffassung vom kommenden Kommunismus: „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.“87 Sind die rationalistischen Allgemeinbegriffe nun Aussagen von Ideen oder Feststellungen von Tatsachen? Die mangelhafte Lösung dieses erkenntnistheoretischen Problems hat zur Folge, daß die Erkenntnis der Gesellschaft im Sinn des Rationalismus nach wie vor danach trachtet, begründet zu bestimmen, was als Gesellschaft gelten kann. Diese Suche erklärt die verschiedenen Bemühungen um den vernünftigen Allgemeinbegriff der Gesellschaft. Der zuletzt ausgearbeitete Versuch ist im sogenannten linguistic turn zu erblicken. Es ist die Sprache unter den „Menschen“, die aus der Subjektivität insbesondere des Kritizismus und des Idealismus herausführen soll. Nach dieser Auffassung wird die Wahrheit über die Gesellschaft in einem herrschaftsfreien Diskurs der Mitglieder der Gesellschaft gefunden und sprachlich ausgedrückt. „Insofern alles Denken und alles Gedachte nur in und als Sprache und Gesprochenes . . . erscheint, 86 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß (1821), (Edition Herdflamme), Jena 1927, S. 726 f. 87 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei (1848), Berlin 1958, S. 23.
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konnte (die) Sprachphilosophie zunehmend den Rang einer ,ersten Philosophie‘ (Fundamentalphilosophie) einnehmen“. Die Realitätsauffassung, die durch die „menschliche“ Sprachlichkeit definiert wird, versucht also den Platz einzunehmen, „den im Anschluß an Aristoteles stets die Ontologie beansprucht hatte“88. Mit dem Verhältnis von Sprache und Welt und deswegen auch mit dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft ist es jedoch nicht zum Besten bestellt. Wenn nicht alles trügt, dürfte der linguistic turn alsbald vom cognitive turn89 abgelöst werden. Hinter ihm wartet bereits ein breiter cultural turn90, in dem auch ein religious turn91 vernehmbar ist. Die rationalistische Erkenntnis bleibt auf der Suche nach der Idee der Gesellschaft. In der Behandlung der rationalistischen Auffassung des Allgemeinbegriffs konnte im Vorübergehen auch das Einzelne erwähnt werden und damit das, was den Gegenstand der äußeren Erfahrung darstellt. Von diesem Gegebenen besitzt der Rationalismus keine hohe Meinung. Das Empirische erscheint ihm als das Verworrene. Obgleich es real besteht und die Realität kein Chaos ist, ist es begrifflich nicht klar erfaßbar. Es bleibt unübersichtlich, bis das Denken seiner Ideen zur Ordnung und zur Bestimmung der Bedeutung der Tatsachen gelangt ist. Insbesondere diejenigen Gesellschaftswissenschaften, die sich als empirische Sozialforschung verstehen, häufen derartig viele und verschiedene Materialien an, daß sich jener Zustand einstellt, von dem das Sprichwort sagt, daß man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. „Der Schein entsteht, als sei die Gesamtgesellschaft die Summe von ,Regionen‘: sozialen Klassen, sozialen Schichten, sozialer Planung, sozialer Organisation, sozialer Dynamik, sozialer Kontrolle und zahlloser anderer. Diese Soziologie ließe sich eine ,Soziologie ohne Gesellschaft‘ nennen“92. Diese äußere Erfahrung der Gesellschaft geht unmerklich über in ihre Sinneserkenntnis. Wie jene erfreut sie sich keiner rationalistischen Wertschätzung. Sie dient weder der Bildung von Begriffen noch haben diese einen Bezug zur Sinnenwelt, denn sie sind anderweitig begründet, insbesondere durch ihre Deduktion. Also drängt sich die Annahme auf, daß die Sinneserkenntnis nicht mehr ist als das Erfassen eines Scheins. Ihn mit Hilfe insbesondere der obersten Allgemeinbegriffe aufzuheben und den jeweils wahren Bestand einer Tatsache ans
88 Max Müller/Alois Halder, Art. Sprachphilosophie, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 295. 89 Vgl. Otfried Höffe, Kleine Geschichte der Philosophie, München 2001, S. 302. 90 Vgl. z. B. Doris Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. 91 Vgl. z. B. Clemens Pornschlegel, Das göttliche Ding. Die Rückkehr der Religionen im Zeitalter der Globalisierung, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.07.2006, S. 11. 92 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Art. Begriff der Soziologie, Frankfurt a. M. 1956, S. 16.
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Licht zu bringen, ist eine der wesentlichen Aufgaben der rationalistischen Erkenntnis. Die Wahrheit bringt das geistige Erkennen an den Tag. Es besteht als kritische Vernunft. Sie ist dem instrumentellen Verstand entgegengesetzt. Keimhaft angelegt ist sie in der inneren Erfahrung, d.h. im Erleben der eigenen Zustände und des eigenen Wirkens. Dieses Erleben erfüllt das „menschliche“ Bewußtsein. In gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen wird über dieses Bewußtsein in einer doppelten Rücksicht gesprochen, wobei der Einfluß des Materialismus maßgeblich bleibt. Zum ersten: Die bekannte Formel lautet: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“93 Damit will das Folgende gesagt sein: Zum ersten lautet die Behauptung, daß die humane Existenz nur als gesellschaftliche Existenz-Gestalt real ist. Als diese lebt sie nicht an und für sich. „In seiner Wirklichkeit“ ist das „einzelne Individuum . . . das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“94 Genauer gesagt: Die gesellschaftliche ExistenzGestalt als die einzige Gestalt der humanen Existenz lebt durchgängig in ihrer Komplexität, niemals in ihrer Singularität. Zum zweiten: Solchermaßen abhängig, kann „der Einzelne in der Gesellschaft“ mit seiner Gesellschaft und gegen seine Gesellschaft leben. Lebt er gegen sie, d.h. gegen die Gesellschaft als geschichtlich gerichtete Bewegung, erfüllt ihn ein falsches Bewußtsein. Es hält ihn ideologisch gefangen. Existiert er in der Richtung des Sinnzieles der Gesellschaft, besitzt er das richtige Bewußtsein und damit auch die richtige Ideologie. In den Lebensvollzügen bauen sich diese Weltanschauungen auf und werden zum Mittel des Überlebenskampfes. Das Denken bleibt an seinen Standpunkt gebunden. „Ideologie ist Rechtfertigung.“95 Ihre Begründung erfährt sie durch die Prinzipien des Seienden bzw. durch diejenigen der Gesellschaft. Sie sind der empirischen Erkenntnis fremd. „Die grundsätzliche Differenz dessen, was man seit Comte ,Soziologie‘ zu nennen sich gewöhnt hat, von der philosophischen Gesellschaftslehre Platons wie der des Aristoteles oder auch noch der Hegels ist demnach keine bloß stoffliche, sondern weithin eine der Konzeption und der Methode. Die große Philosophie hatte ihr Ideal an der Entwicklung der Gesellschaftslehre aus absoluten Prinzipien des Seins. Der Ehrgeiz der Soziologie jedoch war, seit sie den Namen trägt, dem genau entgegengesetzt: sie wollte wie die Naturwissenschaften von jeglicher Teleologie sich emanzipieren und mit regelhaften Kausalzusammenhängen sich zufriedengeben.“96 Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie (1859), Berlin 19472, S. 13. Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845/46), in: ders., Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut (1932), Stuttgart 1953, S. 340. 95 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Art. Ideologie, Frankfurt a. M. 1956, S. 168. 96 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Art. Begriff der Soziologie, Frankfurt a. M. 1956, S. 14. 93 94
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Weil das vernünftige Erkennen im Empirismus sich selbst preisgegeben hat, hält es der gesellschaftstheoretische Rationalismus für um so dringender, vor allem zwei Aufgaben nicht aus den Augen zu lassen. Zum ersten gilt es, die Gesellschaft in ihrer „Form“ zu bestimmen. Zum zweiten sollte diese Bestimmung nicht im Elfenbeinturm geschehen, sondern absichtsvoll in aller Öffentlichkeit. Daß und wie die Vernunft als kritische Vernunft dem gesellschaftswissenschaftlichen Empirismus entgegenzutreten hat, ist bereits angedeutet worden. Erklärend sollte ergänzt werden, was der Rationalismus meint, wenn er von der Gesellschaft im anspruchsvollen Sinn spricht und insofern der empirischen Gesellschaftsauffassung widerstreitet. In diesem Sinn ist zum Beispiel das folgende zu lesen: „Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhängen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird. Der Begriff der Gesellschaft wird ein Funktionsbegriff, sobald er mehr die Verhältnisse zwischen seinen Elementen und die Gesetzmäßigkeiten solcher Verhältnisse bezeichnet als die Elemente oder die bloßen Deskriptionen.“97 Die statische Bestimmung der Gesellschaft, in der alle mit allen in Beziehung stehen, und die dynamische Bestimmung als Erfüllung von Lebensaufgaben durch alle, die in ihr wirksam sind, ist nicht ungeläufig. Ging und geht nicht die Rede von der Gesellschaft als eines Organismus, der Glieder bzw. Organe besitzt? Die Gefahr, daß die Gesellschaft tatsächlich als etwas Biologisches verstanden wird, hat nicht zuletzt zu einem Wandel in der Ausdrucksweise geführt. Die Ausdrucksweise vom Ganzen, das Teile besitzt, die Tätigkeiten ausüben, scheint weniger mißverständlich zu sein. Chickere Sprachversionen reden freilich von der Struktur bzw. vom System mit den dazugehörigen Funktionen. Da diese Ausdrücke aber noch immer an den Organismus und seine Organe erinnern, benennt diese Lehre von der Gesellschaft sich abermals um und heißt jetzt Theorie des kommunikativen Handelns. Der Sache nach bleibt das anstehende Problem jedoch ungelöst. Denn wie begreift der gesellschaftstheoretische Rationalismus das, was den gesellschaftlichen Bestand ausmacht? Als Antwort auf diese Frage ist zu lesen, daß er in einer „Antizipation eines . . . Gesamtsubjekts“ besteht, das als „Subjekt aller Erkenntnis . . . zugleich das Objekt“ aller Erkenntnis ist. Diese Annahme ist um so nötiger, als die rationalistische Gesellschaftstheorie ein pädagogisch-politisches, um nicht zu sagen, ein ethisches Interesse verfolgt. „Nur auf Grund dieser Antizipation“ vermag die rationalistische Gesellschaftslehre „die Erscheinungsformen der bestehenden Gesellschaft 97 Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen. Art. Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1956, S. 22 f.
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als Erscheinungen eines gesellschaftlichen ,Unwesens‘ zu begreifen; die Triftigkeit ihrer Erkenntnis ist gebunden an die Wirksamkeit eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses.“98 Die kritische Vernunft ist also eine Vernunft mit einem auf eine Theorie zurückbezogenen praktischen Ziel. Es wird Emanzipation genannt. Emanzipation ist ein anderer Name für Aufklärung. Sie definierend heißt es: „Unter Aufklärung versteht man allgemein den Versuch, überkommene, auf (insbesondere religiöser) Tradition und (staatlicher und sonstiger) Autorität beruhende Anschauungen einer kritischen, sich auf die Autonomie des Verstandes (ratio) berufende Prüfung zu unterziehen und sie, soweit sie dieser Prüfung nicht standhalten durch ,vernünftige Anschauungen‘ zu ersetzen sowie die gesellschaftliche Praxis nach deren Maß einzurichten.“99 Zur gesellschaftlichen Praxis zählt der Rationalismus auch die Verständigung über die Erkenntniswahrheit. Im Unterschied zur realistischen Auffassung dieser Wahrheit als Übereinstimmung von Sein und Geist wird sie zumeist in einer Übereinstimmung zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft erblickt, die um deren Aufklärung bemüht sind. Gegen diese rationalistische Ansicht wird eingewandt, „daß sie dem Soziologismus, vor allem in seiner neomarxistischen Prägung, als fügsamer Prinzipienlieferant dienstbar ist – sie liefert geradezu die Formel für die Aufhebung der Grenze, die Philosophie von Ideologie unterscheidet“100. Im angesprochenen Sinn urteilt der Rationalismus auch über die Ursprünge von Etwas und damit auch über die „Anfänge“ der Gesellschaft. Wohl sind ihm diese Fragen bekannt, aber sie werden noch immer nicht von einer hinreichend vernünftigen Vernunft gestellt. Erst das herrschaftsfreie universale Gespräch der Beteiligten wird des Projekt der Moderne101 vollenden. Indem die kritische Vernunft „in ihrer Weiterentwicklung“ – zum Beispiel im Rahmen der sogenannten kritischen Theorie – die „gesellschaftlichen Prozesse . . . als im weitesten Sinn sprachliche Kummunikationsvorgänge (Diskurse) versteht, sucht sie die Pathologien gegenwärtiger Kommunikation aufzudecken und durch die Konzeption idealer Sprachhandlungsformen ein Regulativ bereitzustellen für die Entwicklung in Richtung . . . eines freien und guten Lebens.“102 In diesem Leben wird der menschheitliche Sündenfall überwunden und der Reichtum eines jeden Menschenlebens hergestellt sein. 98 Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt a. M. 1969, S. 143. 99 Max Müller/Alois Halder, Art. Aufklärung, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 35. 100 Helmut Kuhn, Der Weg vom Bewußtsein zum Sein, Stuttgart 1981, S. 217. 101 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 7. 102 Max Müller/Alois Halder, Art. Kritische Theorie, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 162.
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Die „ursprüngliche Akkumulation (sc. des Kapitals) spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der anderen faulenzende, ihr alles, und mehr, verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigene Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse . . . und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten.“103
Überblickt man die Merkmale, die das rationale bzw. das rationalistische Erkennen auszeichnen, stellt sich das Urteil ein, daß diese Erkenntnisgestalt einseitig ausgebildet ist. Sie teilt diese Beschaffenheit mit der des Empirismus. Gewiß spricht sich in der rationalen Anschauung die zutreffende Überzeugung aus, „daß ,alles Menschliche dadurch und allein dadurch menschlich (ist), daß es durch das Denken bewirkt wird‘ (Hegel)“. Der „Rationalismus in diesem Sinn ist (die) Grundweise des abendländischen Selbst und Weltverständnisses . . ., wie es sich systematisch in der Metaphysik auslegte“104. Dennoch ist die Frage unabweisbar, wie diejenige Rationalität auszubilden ist, die dem „Menschen“ angemessen ist. Zu denken gibt die folgende Kritik: „Der erkenntniskritische Rationalismus wird dem Ganzen der menschlichen Erkenntnis nicht gerecht. Er engt sie ungebührlich nach zwei Seiten ein: einmal indem er die Eigenständigkeit der Sinneserkenntnis nicht anerkennt und so die begriffliche Erkenntnis in leeren Formalismus entarten läßt . . .; dann indem er, trotz der scheinbaren Annäherung der menschlichen Begriffe an die göttlichen Ideen, doch vielmehr die Vernunfterkenntnis auf die spezifisch menschliche Weise des begrifflich-diskursiven Denkens einschränkt und in dieser Beschränkung zur höchsten Norm aller Erkenntnis und alles Seins macht.“105 Wissenschaftssystematisch hat die rationalistische Erkenntnisgestalt zur Folge, daß sie sich bevorzugt als Philosophie ausbildet. Darin unterscheidet sie sich vom empirischen Erkenntnisstandpunkt. Er drängt danach, sich als Spezialwissenschaft zu entfalten und deswegen alles Philosophieren aus sich auszuscheiden. Weil der rationalistischen Erkenntnisgestalt die philosophische Erkenntnisweise naheliegt, ist sie an den fachwissenschaftlichen Ergebnissen nur 103
Karl Marx, Das Kapital. Band 1 (1867), Berlin 1955, S. 751. Max Müller/Alois Halder, Art. Rationalismus, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 255. 105 Walter Brugger, Art. Rationalismus, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 198822, S. 314. 104
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insoweit interessiert, als sie Gegebenheiten benennen, die es zu kritisieren gilt. Hinter den Bezeichnungen Philosophie der Gesellschaft und Soziologie verbirgt sich somit nicht nur der Unterschied zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Fragestellung. Die Namen bezeichnen in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis auch zwei verschiedene Erkenntnisgestalten, nämlich die empirische und die rationale Erkenntnisgestalt. Der Streit darüber, wie die wahre theoretische Erkenntnis der Gesellschaft beschaffen ist, wird so lange andauern, so lange die verschiedenen Erkenntnisgestalten und die Wissenschaftssystematik des theoretischen Erfassens der Gesellschaft nicht erkannt sind. B. Die Lehre von den Seinsprinzipien Aristoteles eröffnet seine Untersuchung der ersten Philosophie mit dem Hinweis auf eine ursprüngliche Lebenserfahrung. Zu allererst, so heißt es, ist der „Mensch“ genötigt seine leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen. Hat er diese Besorgungen erbracht, kann er darüber nachsinnen, was ihm eine angenehmere Lebensführung erlaubt. Um sie zu erreichen, wird er über die Techniken und Künste nachdenken, die er ausbilden kann. Nach der Ausbildung des nützlichen Wissens wird der „Mensch“ das zu erreichen versuchen, was die Alten epistêmê nennen, ein systematisches Wissen oder, wie Aristoteles auch sagt, eine zweite Philosophie. Von ihr verschieden ist die „Wissenschaft im Allgemeinen“. Alle besonderen Besorgungen hinter sich lassend, strebt sie nach der Erkenntnis dessen, was „zuerst“ ist. In seine erste Philosophie einführend, will Aristoteles „zeigen, daß alle (sc. geistig bemühten „Menschen“) als Gegenstand der sogenannten Weisheit die ersten Ursachen und Prinzipien ansehen“. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, bemüht er sich, zu erklären, was die Namen erste Ursache und erstes Prinzip besagen sollen. Genau will er den Sachverhalt bestimmt wissen, den er zu erkennen trachtet. „Da wir nun die Wissenschaft suchen, müssen wir danach fragen, von welchen Ursachen und Prinzipien die Wissenschaft handelt, welche Weisheit heißt.“ Seine Klarstellung lautet, daß die erste Philosophie nach der Erkenntnis desjenigen strebt, was grundlegend ist, nach dem, was ein Anderes ursprünglich begründet. „Am genauesten . . . sind unter den Wissenschaften die, welche am meisten auf das Erste sich beziehen; denn auf eine geringe Zahl von Prinzipien bezogene Wissenschaften sind genauer als diejenigen, bei denen noch gewisse Zusätze hinzukommen.“ Wer Etwas schlechthin erkennen will, der wird also „die höchste Wissenschaft . . . wählen“. Die höchste Wissenschaft als die Wissenschaft des „im höchsten Sinn Erkennbaren“ ist die Wissenschaft, die auf „das Erste und die Ursachen“ zielt. Diejenige Wissenschaft, die sich als erste Philosophie bzw. als Weisheit versteht, ist somit die „auf die ersten Prinzipien und Ursachen gehende theoretische Wissenschaft“. Den Grund benennend und die Eigentümlichkeiten der
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„Liebe zur Weisheit“ aufzeigend, faßt Aristoteles seine Lehre wie folgt zusammen: „Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens.“ Daraus erhellt, daß wir die Erste Philosophie als die Lehre von den ersten Prinzipien und ersten Ursachen „nicht um irgend eines anderweitigen Nutzens willen suchen; sondern, wie wir den Menschen frei nennen, der um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen ist, so auch diese Wissenschaft als allein unter allen freien; denn sie allein ist um ihrer selbst willen.“106 In der Wissenschaft von den ersten Ursprüngen vollendet sich der „Mensch“ als geistiges Wesen. Die Erinnerung an die Lehre von den ersten Ursprüngen erfolgt nicht nur aus wissenschaftsgeschichtlichen, sondern auch und vor allem aus wissenschaftssystematischen Gründen. Denn um die Klärung der genannten Anfänge oder Ursprünge bemüht sich jene Wissenschaft, die bei Aristoteles Erste Philosophie heißt und später Metaphysik genannt wird. Mit der Heraufkunft der Wissenschaften, wie die Neuzeit sie versteht, ist es um die Metaphysik schlecht bestellt. Wie es heißt, bewegt sie sich jenseits der Erfahrung und damit jenseits „der Geltungsgrundlage aller Erkenntnis“, „auch der intuitiv gewonnenen“. Des näheren lautet die Geringschätzung der Metaphysik, die bis zur Verneinung ihrer Möglichkeit reicht, zum Beispiel wie folgt: „Der kühne Glaube, das Transzendente intuitiv erkennen zu können, ist eine Illusion des Wunschdenkens. Metaphysische ,Erkenntnisse‘ gibt es also nicht und kann es nicht geben.“ Dem „kritisch-wissenschaftlichen Denken in der Philosophie“ steht „das unkritischunwissenschaftliche Erkenntnisstreben der Metaphysiker gegenüber. Während der kritisch-wissenschaftlich eingestellte Philosoph die metaphysischen Probleme als Scheinprobleme entlarvt, klammert sich der Metaphysiker an seine selbstgeschaffene Traumwelt. Nicht zu unrecht steht daher die Metaphysik unter Ideologie-Verdacht“, mehr noch: Der Metaphysiker neigt „zur kritiklosen Übernahme traditionellen Gedankengutes und nicht zuletzt zum Wirrdenken, indem er Begriffe für Realitäten hält oder die metaphysische Hinter- und Überwelt in mythologisierender Manier mit personifizierten Mächten oder unpersönlichen Kräften besetzt denkt“107. Auf dieser Meinung, die heute aus verschiedenen Gründen sowohl in der Philosophie als auch in den Fachwissenschaften weit verbreitet ist, wobei besonders die Soziologie durch ihre Streitlust auffällt, ist mit der folgenden Feststellung zu antworten: „In der Neuzeit führte die Säkularisierung des ontotheologischen Denkens der Metaphysik weithin zum Subjektivismus, der an Stelle der grundlegenden Subjektivität des göttlichen Geistes die Innenwelt des Bewußtseins setzt“108, sei es in seiner ersten Stufe als Indivi106
Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 981a–982b. Franz Austeda, Art. Metaphysik, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Philosophie, Wien 19893, S. 238. 108 Max Müller/Alois Halder, Art. Metaphysik, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 1988, S. 195. 107
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dualismus oder in seiner zweiten Stufe als Sozialismus. „Die kritischen Einwände gegen die Metaphysik . . . können nicht überzeugen, die Möglichkeit der Metaphysik ist nicht sachlich widerlegt.“109 Wenn es aber so ist, dann sind die folgenden metaphysischen Untersuchungen des Prinzips, der Ursache und des Grundes nicht auf Sand gebaut. Wegen der mangelhaften Vertrautheit der verbreiteten Auffassung mit der Denkweise der Tradition dürften über den Ursprungsgrund, die Ursache und den Grund einige ergänzende Erklärungen nützlich sein. Ein erster „Anfang“ von Etwas ist das, was man als seinen Ursprungsgrund bezeichnet. Die Beschäftigung mit ihm reicht weit zurück. Sie findet sich am Beginn der Wissenschaft, wie sie die europäische Kultur ausgebildet hat. Über den Ursprungsgrund sprechen erstmals die Griechen. Sie nennen ihn archê. Der Name besagt das Erste im beherrschenden Sinn. Im Lateinischen verlagert sich die Bedeutung ins handlungsmäßig Erste. Es wird principium genannt. Die gegenwärtige deutsche alltägliche wie wissenschaftliche Sprache übernimmt jenen wie diesen Sinn und drückt ihn im Namen Prinzip bzw. Ursprungsgrund aus. Die Frage nach dem Ursprungsgrund besteht als die Frage nach dem, wodurch Etwas ist. Sie zielt auf die Bestimmung des Ersten eines Aufbaus. Wiederholend sei genannt: „Prinzip . . . ist das, wovon etwas in irgendeiner Weise seinen Ausgang nimmt. Was vom Prinzip ausgeht, ist in ihm virtuell enthalten“, also der Anlage nach. In der Regel wird zwischen zwei Arten von Prinzipien unterschieden. Erste Prinzipien sind solche, „die in ihrer Ordnung nicht aus anderen Prinzipien hervorgehen“110. Zweite oder nächste Prinzipien sind durch die Voraussetzung gekennzeichnet, daß ihnen erste Prinzipien zugrunde liegen. Sodann ist auf den Unterschied zu achten, der zwischen dem Prinzip einerseits und dem Element und der Ursache andererseits besteht. Ein Element ist ein Teil eines Ganzen, der ihm notwendig zugehört. Ursache besagt, daß ein von ihr Verschiedenes dieses dergestalt hervorbringt, daß es von ihm abhängig ist. Ein Prinzip kann auch als Element und als Ursache bestehen. Gerade in diesen Fällen ist für das Prinzip wesentlich, daß es eine Ordnung von Etwas aufbaut bzw. genau formuliert, daß seine „Verneinung folgerichtig jeweils die ganze angesprochene Ordnung unmöglich macht“111. Ein zweiter „anfänglicher“ Begriff ist der der Ursache. Auf ihn ist zurückzukommen. Unterscheidend wurde er soeben angesprochen. Ursache heißt im Griechischen aitia im Lateinischen causa. Unter einer Ursache versteht man das, „von dem das Sein eines kontingenten Seienden in irgend einer Weise 109
Emerich Coreth, Grundriß der Metaphysik, Innsbruck 1994, S. 25. Walter Brugger, Art. Prinzip, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 304. 111 Walter Brugger, Art. Prinzip, in: Friedo Ricken (Hrsg.), Lexikon der Erkenntnistheorie und Metaphysik, München 1984, S. 151. 110
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wirklich abhängig ist“112. Die Ursächlichkeit oder Kausalität besteht also im Einfluß von Etwas, d.i. die Ursache, auf ein von ihr Hervorgebrachtes, d.i. die Wirkung, und in der zwischen ihnen waltenden Beziehung. Die Betonung, daß das Ursache-Wirkung-Verhältnis sich nicht nur als etwas Gedachtes findet, sondern auch als etwas Reales, scheint ratsam zu sein. Diese Realität ist aus dem Bewußtsein gewiß. Von der Ursache verschieden ist die Bedingung, insbesondere die notwendige Bedingung. Ist sie zwar erforderlich dafür, daß eine Ursache eine Wirkung hervorbringen kann, so ist sie doch etwas Anderes als die Ursache. Zu unterscheiden sind Grade und Formen der Ursache. Zu den Graden zählen die physischen Ursachen und die humanen bzw. existentiellen Ursachen, die als psychische und als soziale Ursachen bestehen. Von diesen Ursachen als den innerweltlichen Zweitursachen ist die überweltliche Erstursache verschieden. Wie aufgezeigt, unterscheidet die Tradition zunächst zwischen den äußeren und den inneren Ursachen. Die äußeren Ursachen bestehen als getrennte Verhältnisse zwischen der Ursache und der Wirkung. Die inneren Ursachen finden Eingang in das von ihnen Bewirkte. Jene heißen Wirkursache und Zielursache, diese werden Formalursache und Materialursache genannt. Ein besonderer Fall der Ursächlichkeit liegt in der sogenannten Auslösung vor. Sie besteht in der Aufhebung einer Sperre. Wird sie beseitigt, kann die in Bereitschaft befindliche Ursache ihre Wirkung ausüben. Zumal die Wissenschaften von der humanen Existenz haben allen Grund, sich der Vielzahl und der Verschiedenheit der Ursachen bewußt zu sein. Auf diese Zusammenhänge wurde bereits verwiesen. Der dritte „anfängliche“ Begriff ist der schon erwähnte Begriff des Grundes. Der Ausdruck entstammt dem spätmittelalterlichen Philosophieren in deutscher Sprache. Er wird maßgeblich im religiösen Sinn gebraucht. Gott wird als der Grund aller Gründe verstanden. Er ist der Urgrund. In der Folgezeit weitet sich der Sinn des Ausdrucks, so daß er sich auch auf weltlich Seiendes bezieht. Grund besagt „,das, warum‘ Etwas Bestand hat“113. Was unterschieden wurde als Prinzip, das aufbaut, als Ursache, die eine Wirkung besitzt, und als Grund, der Etwas verständlich macht bzw. Etwas zu tragen fähig ist oder sogar hervorbringt, gilt in den verschiedenen Ordnungen, die die Welt bestimmen. Die genannten Bestände bzw. Begriffe finden sich im Allgemeinen in der Ordnung des endlich Seienden und damit auch in der Ordnung des Werdenden sowie in der Ordnung der Erkenntnis. Im Sinn dieser Bezüge unterscheidet der Realismus insbesondere zwischen den Seinsprinzipien bzw. den Prinzipien des Werdens und den Erkenntnisprinzipien. Entsprechendes gilt von der Ursache und vom Grund. Auf die Verhältnisse zwischen diesen Aus112 Viktor Naumann, Art. Ursache, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 424. 113 Josef de Vries, Art. Grund, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 157.
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drücken wurde schon hingewiesen. Dennoch scheint es ratsam zu sein, den Unterschied bzw. die Selbigkeit der Bedeutung des jeweiligen Ausdrucks noch einmal durch ein Beispiel zu verdeutlichen. Versteht man den Grund als Realgrund, so benennt dieser Ausdruck auch ein Prinzip des äußeren Wirkens sowie eine äußere Ursache. Abgekürzt gesprochen und allein auf den Beispielsfall bezogen, benennen die Namen Prinzip – im Sinn von äußerem Prinzip –, Ursache – im Sinn der äußeren Ursache – und Grund – im Sinn von Realgrund – ein und dasselbe. Man sollte sich aber nicht verwirren lassen. In der Regel gewährleistet der Sinnzusammenhang eines Textes, welcher Sachverhalt jeweils gemeint ist. Freilich ist der grundsätzliche Unterschied von Prinzip, Ursache und Grund im Auge zu behalten. Keineswegs ist es statthaft, die mit diesen Namen benannten Sachverhalte in dem Sinne aufzufassen, den die Ausdrücke Gesetz, Norm, Regel, Funktion, Bedingung oder ähnlich besitzen. Im folgenden ist von den Seinsprinzipien die Rede. Seinsprinzipien sind verschieden von den Werdensprinzipien und den Erkenntnisprinzipien. Seinsprinzipien sind das Erste eines Aufbaus. Sie begründen Etwas in seiner Ordnung im Unterschied zu Anderem in dessen Ordnung. Die folgende Darstellung erstrebt eine Bestimmung der Seinsprinzipien im Allgemeinen. Sie dürfte ratsam sein, weil den herrschenden gesellschaftstheoretischen Untersuchungen die Beschäftigung mit prinzipiellen Fragen fern liegt. Die Kennzeichnung der Seinsprinzipien im Allgemeinen hat den Zweck, auf die Erörterung der Seinsprinzipien der Gesellschaft vorzubereiten. Wie erinnerlich, unterscheidet der Realismus äußere und innere Seinsprinzipien. Äußere Seinsprinzipien sind diejenigen „Anfänge“, deren Einfluß in das von ihnen Beeinflußte nicht eingeht. Von ihnen verschieden sind die inneren Seinsprinzipien. Im Allgemeinen sind sie durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: „Die inneren Prinzipien . . . treten als Teilelemente oder Komprinzipien (Mit-Prinzipien) in den Aufbau des aus ihnen Hervorgehenden ein; sie heißen im prägnanten Sinne des Wortes: ,Seinsprinzipien‘. Sie sind nicht selbst ein Seiendes, d.h. ein Ganzes, das ist, sondern nur ein Seins-haftes, eben ein Teil, durch den ein Ganzes ist. Als Wesensteile, die das Seiende in seiner Wesensstruktur aufbauen, treten sie den bloßen Ausdehnungsteilen gegenüber (im Menschen: Seele und Leib, im Gegensatz zu: Kopf, Arme, Beine).“114 Der Bestand von Etwas aus ersten „Wesensteilen“ trifft auf alles zu, was konkret ist. Konkret ist das Zusammengewachsene, d.h. das Nicht-Einfache. Als ein Zusammengesetztes will es Schritt um Schritt erkannt sein bis zum letzten Schritt, mit dem sein erster Ursprungsgrund bzw. seine ersten Ursprungsgründe erfaßt werden.
114 Johannes B. Lotz, Art. Seinsprinzipien, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 350.
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Der Aufbau des begrenzten Seienden wird erbracht durch das Aufbaugeschehen. Sein Ergebnis besteht im Aufbaubestand. Er gliedert sich in den Kern des Bestandes und in die Fülle des Bestandes. Vielfältig waltet zwischen ihnen das Verhältnis von Akt (Wirklichkeit) und Potenz (Möglichkeit). Der innere Aufbau von Etwas beginnt mit dem Seinsprinzip der Wesenheit. Der Begriff der Wesenheit ist eine Anwendung des Begriffs des Wesens unter einer bestimmten Rücksicht. Wesen im Allgemeinen heißt so viel wie Etwas-Sein im Sinne des Bestehens, des „Anwesens“. Das Verhältnis des Etwas-Seins zum Sein als der Vollkommenheit, an der das Sein teilhat, kennzeichnet die Abwandlung des Ausdrucks des Wesens. Zum ersten kann das Etwas-Sein als das So-BeschaffenSein eines Seienden bestehen. Diese Beschaffenheit ist die Beschaffenheit von Etwas, das da ist. Findet sich das Wesen in einem körperlich Seienden, heißt es Wesensform. Besteht das Wesen als Träger erfahrbarer Erscheinungen, heißt es physischer Wesensgrund. Doch zurück zur Bestimmung des Wesens als des ersten inneren Seinsprinzips. „Als Sosein“ bildet das Wesen „den Gegenpol zu Dasein und wird dann Wesenheit genannt. Wie das Dasein auf die Frage, ,ob‘ ein Seiendes ist, antwortet, so das Sosein auf die Frage, ,was‘ ein Seiendes ist; deshalb heißt die Wesenheit auch Washeit. Wendet man für Dasein das Wort ,Existenz‘ an, so bezeichnet man im Gegensatz dazu die Wesenheit als ,Essenz‘.“115 Die Wesenheit bestimmt jedes Seiende als das, was es ist. Logisch betrachtet ist das zum Beispiel der Selbstand dieses „Menschen“ Peter und von ihm verallgemeinernd gedacht der Selbstand eines bzw. des „Menschen“. Das ist die Wesensart der humanen Existenz. Ob sie wirklich da ist, bedarf einer eigenen Prüfung. Sie besteht in der erwähnten Frage nach dem Dasein dieser Existenz bzw. eines Seienden. Das Dasein als der Gegenpol zur Wesenheit drückt aus, „,daß‘ etwas ist. Wenn etwas existiert, ist es nicht bloß gedacht oder phantasiemäßig vorgestellt, sondern unabhängig davon in sich selbst und von sich aus einfach da oder wirklich vorhanden. Deshalb wird es von uns vorgefunden, wir sind passiv von ihm betroffen, erfahren seinen Widerstand; wir müssen mit seiner vorgegebenen Eigenart rechnen und können nicht wie bei dem bloß Gedachten nach unserem Belieben verfahren. Obwohl das naive Bewußtsein immer wieder geneigt ist, bloß das räumlich Sichtbare für wirklich zu halten, gehört das nicht zum Wesen des Daseins; denn wir erfahren in unseren Akten und unserem Ich ein Daseiendes, das keineswegs räumlich-sichtbar und doch wirklich vorhanden, eben geistige Wirklichkeit ist.“116 Mit dem Dasein des Geistes stellt sich die Frage nach der Endlichkeit bzw. nach der Unendlichkeit von Daseiendem. Von der humanen Existenz als geistiger Existenz gilt, daß sie endlich ist. „Unser und aller Weltdinge Dasein ist begrenzt, in der Tat nur 115 Johannes B. Lotz, Art. Wesen, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 463. 116 Johannes B. Lotz, Art. Dasein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 55.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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ein Da-sein, d.h. ein auf ein bestimmtes räumliches und zeitliches Da beschränktes Sein. Diese Beschränkung stammt von unserer endlichen Wesenheit, da wir nur nach deren Fassungsweite Sein aufnehmen, teil-zu-haben vermögen. Eine endliche Wesenheit erreicht also nicht die ganze Fülle des Seins und fällt darum nicht mit dem Sein zusammen: Unterscheidung von Wesenheit und Sein im Endlichen. Damit existiert dieses nicht-notwendig . . .; da seine Wesenheit nicht von sich aus Sein besagt, kann es sein oder nicht sein, wirklich vorhanden oder nur möglich sein.“117 Das Seinsprinzip der Wesenheit und das Seinsprinzip des Daseins bauen also alles endlich Seiende auf. Diese Beschaffenheit wird auch als Kontingenz des Seienden bezeichnet. Die Kontingenz ist die erste Bestimmtheit unserer Welt. Deswegen bestehen die genannten Seinsprinzipien als Grundlegungen schlechthin. Auf ihnen ruhen die weiteren prinzipiellen Bestimmungen der Dinge und der humanen Existenz auf. Die zweite Stufe der Seinsprinzipien besteht in denjenigen „Anfängen“, die das Seiende bestimmen, insofern es körperlich beschaffen ist. In ihm bildet seine Wesenheit sich fort zum „Inhalt“ und zur Wesensform eines sinnlich wahrnehmbaren Dinges bzw. eines „Menschen“. Durch diese Wesensform empfangen „Gehalte“ ihre Gestalt, bestehen sie als gegliederte Ganzheit. Die Lehre von den Erstbestimmungen des körperlich Seienden geht auf Aristoteles zurück.118 In seiner Nachfolge wird sie heute als Hylemorphismus bezeichnet. Die Ausdrücke hylê und materia benennen den (Ur-)Stoff bzw. das (Roh-)Material, die Namen morphê und forma benennen die Form bzw. die Gestaltung. Nach dem Hylemorphismus sind alle raumzeitlichen Einzelwesen, also die Körper, durch die genannten zwei Ursprungsgründe „anfänglich“ bestimmt. Der erste Ursprungsgrund ist der Stoff oder die Materie schlechthin. Der eine wie der andere Name wird gegenwärtig nicht nur im Sinn der aristotelischen Seinslehre verwendet. Aristoteles bezeichnet mit dem Namen hylê den Stoff im Sinn des Urstoffs. Dieser wird später auch als erste Materie benannt. Von diesem Stoff verschieden sind die zweite Materie, d.i. die artlich geformte Materie, der Naturstoff und der Werkstoff. Naturstoff ist das, wodurch Etwas gebildet wird. Das sind zum Beispiel Eisen, Kohlenstoff, Schwefel, usw. Körper aus diesen Stoffen sind Dinge besonderer Beschaffenheit, nämlich im Sinne der Definition durch die Chemie. Der Werkstoff ist das, was „Menschen“ in Kunst und Technik bearbeiten. Das sind zum Beispiel Holz oder Stein. Von der zweiten Materie, dem Naturstoff und dem Werkstoff verschieden, besagt die Bezeichnung Urstoff das, was zwar ist, aber keine Gestalt besitzt. In der Wahrnehmung des Alltags ist zum Beispiel das Holz das Ungeformte eines Baumes, während dieser Baum seiner Form nach zum Beispiel stämmig, hochgewachsen, ausladend,
117 Johannes B. Lotz, Art. Dasein, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 55. 118 Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1029a.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
usw. ist. Dasselbe gilt vom Kunstwerk. Sein Stoff ist beispielsweise das Marmorgestein, während seine Form eine menschliche Figur ist. Definierend bestimmt der Realismus den Stoff durch zwei Merkmale. Stoff ist zum ersten das Substrat aller Körper. Als dieser ist er ein potentielles Subjekt, also Träger von Möglichkeiten, der in sich Bestand besitzt. Zum zweiten ist der Stoff der Ursprungsgrund von Raum und Zeit, wodurch er insbesondere die Vereinzelung bewirkt. Den relativen Gegensatz zum Stoff bildet die (Wesens-)Form. Diese Form läßt wirklich sein, was stofflich möglich ist. „Die Form in diesem Sinn, die Wesensform, steht in den Körpern der Materie gegenüber. Sie ist nicht nur (statisches) Prinzip des arteigenen Seins, sondern auch (dynamisches) Prinzip des zielstrebig auf die arteigene Vollendung ausgerichteten Wirkens (Entelechie).“119 Stoff und Form bilden also die „begründende“ Zweieinheit alles körperlich Seienden und damit auch der humanen Existenz. Im Allgemeinen wird diese Einheit dadurch ausgedrückt, daß man sagt: Der „Mensch“ besteht aus Leib und Seele. Das meint, daß die humane Existenz stofflich als Leib existiert, d.h. als beseelter Körper, und der Form nach als Seele, d.h. als körpergebundener Geist. Die Einheit des polaren Gegensatzes von Wesenheit und Dasein sowie die auf der Wesenheit aufruhende Polarität von Form und Stoff bilden das aus, was der Realismus den Bestandskern des kontingent-körperlich Seienden nennt. Er ist das, was man in der Tradition als Substanz bezeichnet. Vom Selbstand verschieden ist der Zustand oder genauer: Die Zustände von Selbständen. Griechisch heißt der Zustand symbebêkon, lateinisch accidens. Soweit die gegenwärtige Philosophie sich mit diesen logischen wie ontologischen Befunden noch befaßt, spricht sie von Eigenschaften von Etwas. Genau ist das nicht. Denn Eigenschaften sind zum ersten in der Erfahrung gegebene Merkmale von Etwas, wobei, zweitens, das Verhältnis, das zwischen der Eigenschaft und dem Träger der Eigenschaft besteht, zumeist unbestimmt bleibt. Der Realismus des Aristoteles ist anspruchsvoller. Symbebêkota oder Zustände sind logisch Urbegriffe bzw. ontologisch Seinskategorien.120 Als diese sind sie die Grundlage von Eigenschaften, durch welche die Zustände weiter bestimmt werden. Deswegen gilt die erste Aufmerksamkeit den Zuständen. Zustand „im weitesten Sinn ist alles, was bestimmend zu einem Subjekt hinzukommt. In der logischen Ordnung ist Akzidens jede Bestimmung, insofern sie einem Subjekt sowohl zukommen als fehlen kann (logisches Akzidens: z. B. schwarzhaarig bezüglich des Menschen). In der Seinsordnung ist Akzidens das, was eine Substanz, die durch sich eine bestimmte Seinsstufe einnimmt, weiterhin bestimmt (ontologisches Akzidens:
119 Josef de Vries, Art. Form, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 110. 120 Vgl. Aristoteles, Topika, (Topik), (Edition Meiner), 102b: ders., Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1025a.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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z. B. die Denkmöglichkeit bezüglich der Seele).“121 Der logische Zustand ist also an die Weise der Aussage gebunden, d.h. an die Prädikabilien. Das sind Art, Gattung, artbildender Unterschied, Eigentümlichkeit und Zufälligkeit. Der ontologische Zustand ist durch den Selbstand in seinem Seinsgrund und durch seine seinskategoriale Ordnung bestimmt. Des näheren ist der Zustand durch vier Merkmale charakterisiert. Zum ersten ist er dadurch ausgezeichnet, daß er einem Selbstand anhängt. Als Selbstand zu bestehen, vermag er nicht. Er ist zum zweiten der Zustand eines oder mehrerer Selbstände. Er ist also der Zustand eines Selbstandes bzw. eines selbstandsanalogen Zusammenseins. Das besagt, daß er zum Beispiel direkt wirkt oder als Vermögen der Realisierung von Etwas besteht. Der Zustand ist viertens das Ergebnis eines Ausflusses eines Selbstandes oder mehrerer Selbstände. Als Emanation ist er proprietär, d.h. charakteristisch, oder spontan, d.h. plötzlich oder reaktiv, d.h. rückwirkend. Als Zustände, die durch die aufgewiesenen Merkmale bestimmt sind, kennt der Aristotelismus, wie erwähnt, maßgeblich drei Bestimmungen. Zwei von ihnen sind Bestimmungen des Selbstandes an ihm selbst, eine bestimmt ihn gegenüber etwas Anderem. Die Bestimmungen des Selbstandes an diesem selbst sind die Quantität und die Qualität. Die Bestimmung eines Zustandes gegenüber einem Anderen ist die Relation. Sie ist in Sonderheit nicht zu verwechseln mit jenem Bestand, der sich innerhalb einer Gesellschaft als Beziehung findet. Mit dem Namen der Quantität wird die Frage nach dem Wie-groß-Sein von Etwas gestellt. Sie zielt auf die Erkenntnis von Teilen, die dieselbe Beschaffenheit besitzen wie das teilbare Ganze. Etwas, das quantitativ besteht, ist dadurch ausgezeichnet, daß es ausgedehnt ist. Es ist ein Körper, der seinen Raum einnimmt. Von der Quantität verschieden ist die Qualität. In ihr bekundet sich eine Güte bzw. ein Wert eines Selbstandes. Natürlicherweise zählen zu diesen Beschaffenheiten zum Beispiel die Wärme oder die Härte von Etwas, usw. Im „menschlichen“ Sinn sind es zum Beispiel die Ordnungsliebe oder das feine Gespür, aber auch der Eigensinn oder die Fügsamkeit, usw. Einen abschließenden Katalog der Qualitäten erstellen zu wollen, erscheint weder nötig noch möglich. Der dritte genannte Zustand ist die Relation. Sie bestimmt die Einstellung eines Selbstandes bzw. eines Zusammenseins gegenüber etwas Anderem. Die Lehre von der Relation unterscheidet das zuständliche Sich-Verhalten in verschiedener Hinsicht. Wesentlich ist die Verschiedenheit zwischen den seinskategorialen und den transzendentalen Relationen. Die seinskategorialen Relationen, also diejenigen, die wie andere Zustände einem Selbstand bzw. einem Zusammensein anhaften, können sein: Einseitig oder wechselseitig; von gleicher und von verschiedener Art; zwischen zwei oder mehreren Dingen bzw. „Menschen“ und/oder zwischen Gesellschaften; verschieden nach ihrem Tief121 Josef Santeler/Johannes B. Lotz, Art. Akzidens, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 7.
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gang und ihrer Dauer und endlich hervorgehend aus einem Mangel oder aus einem Reichtum. Von diesen Formen der seinskategorialen Relation verschieden ist die sogenannte transzendentale Relation. Als Element eines Selbstandes bzw. eines Zusammenseins durchzieht sie alle seinskategorialen Zustände. Zu ihnen zählen die notwendig bestehenden Relationen zwischen den sogenannten Seinsprinzipien. Aber sie finden sich auch in der Tatsachenwelt. Beispielsweise kann man an die Relation zwischen der Atemluft und dem „Menschen“ denken. Der bald so, bald anders beschaffene Zustand ist der Träger dessen, was man eine Erscheinung beziehungsweise eine Eigenschaft nennt. Sie sind alles das, was einen zuständlichen Selbstand oder ein zustandsbestimmtes Zusammensein zu einem gerade so beschaffenen Bestand macht. Diese Vielfalt ist maßgeblich der Gegenstand der äußeren Erfahrung bzw. der sinnlichen Erkenntnis. Er ist das Erste des Seins-für-uns im Unterschied zum Ersten des Seins-nach-der-Natur der Sache. Die Eigenschaften gliedern sich in eigentümliche, kennzeichnende und zufällige Eigenschaften. In ihnen zeigt sich in anschaulicher Weise die Fülle des prinzipiell aufgebauten kontingent-körperlich Seienden. Im Bild gesprochen kann man sagen, daß die Bestandsvielfalt den Bestandskern umgibt. Der innere Aufbau des Seienden im Verständnis der Philosophie des Aristoteles und der Tradition, die sich auf sie gründet, wird vielfach als blockhaft-starr begriffen. Diese Meinung ist unzutreffend. Denn Aristoteles behauptet, daß in einem innerlich aufgebauten Bestand auf vielfache Weise das Spannungsverhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit waltet.122 Wirklichkeit heißt in der Sprache der Alten energeia bzw. actus, Möglichkeit heißt dynamis bzw. potentia. Sie gelten als die Kräfte der aufgewiesenen Seinsprinzipien, die einen Bestand innerlich aufbauen. Im einzelnen bestimmt der Realismus deren Vollzüge wie folgt: Das grundlegende Verhältnis von Wesenheit und Dasein besteht als Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit in dem Sinn, daß im Begriff des Daseins auch das vollendet Wirkliche und im Begriff der Wesenheit auch das nur Mögliche ausgesagt wird. Diesseits weiterer sorgfältiger Unterscheidungen ist das Mögliche das, was dem Unmöglichen und dem Notwendigen entgegengesetzt ist. Findet sich zum Möglichen das ihm entsprechende Wirken eines Daseins als entitativer Akt, vereinigen sie sich zu einem kontingenten und gegebenenfalls auch zu einem notwendigen Bestand. Gleichermaßen verhält es sich mit dem Stoff und mit der Form. Besteht der Stoff als Möglichkeit, so die ihm entsprechende Form als Wirklichkeit. Sie verhalten sich wie das Nehmend-Bestimmbare zum Gebend-Bestimmenden. Kraft ihrer Verbindung bilden sie die Einheit eines geformten Körpers, zum Beispiel die duomonistische Einheit der leiblich-seelisch existierenden menschlichen Existenz-Gestalt oder der duomonistischen Einheit der menschenmehrheitlich-verbunden existierenden gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Abermals dieselben Verhältnisse finden sich zwi122
Vgl. Aristoteles, Ta meta ta physica, (Metaphysik), (Edition Meiner), 1048b.
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schen dem Kern des innerlich aufgebauten Bestandes und seiner zuständlichen Vielfalt. Besteht der Kern als das Mögliche, so die Bestandsfülle als seine Verwirklichung. Der vollzogene innere Aufbau eines kontingent-körperlich Seienden stellt also einen Bestand dar, der in dreifacher Hinsicht in sich gespannt ist. Er erweist sich als Etwas, das in sich durch und durch bewegt ist. Der Aufbau des kontingent-körperlich Seienden erfolgt zum ersten durch die inneren Seinsprinzipien. Wesenheit und Dasein, Stoff oder Inhalt und Form sowie diese zusammen als Selbstand gegenüber den sich ausbildenden Zuständen erster und zweiter seinskategorialer Ordnungsstufe sind diejenigen Ursprungsgründe, die in das eingehen, was sie begründen. Soll das Aufbaugeschehen, das im Aufbaubestand sein Ziel erreicht, in Gang kommen, bedarf es des Wirksamseins der äußeren Seinsprinzipien. Sie zeichnen sich gegenüber jenen dadurch aus, daß sie nicht in den Aufbau eingehen, den sie hervorbringen. In der Regel werden diese äußeren Seinsprinzipien als Ursache bezeichnet. Zu ihnen zählen die Wirkursache und die Zielursache. Besteht die Wirkursache im Verursachen einer Wirkung, so die Zielursache in der Ausrichtung des Verursachens auf das, was bewirkt sein soll. Schließt man die Beziehung in den Ursache-Wirkung-Zusammenhang ein, der aufgrund des Einflusses des Wirkens auf das Verwirklichte besteht, bezeichnet man das Verhältnis als Kausalität bzw. als Ursächlichkeit sowie als Finalität bzw. als Zielstrebigkeit. Nach den Seinsgraden unterscheidet man zwischen der Naturkausalität und -finalität und der humanen Kausalität und Finalität. Beherrschen die ersten die Welt der sichtbaren Körper, so die zweiten die „Menschen“-Welt als Welt des Geistes bzw. der Kultur. Die humanen Ursächlichkeiten gliedern sich in die psychische und in die soziale Kausalität und Finalität. Wirksam sind sie sowohl in der menschlichen Existenz-Gestalt in ihrer realen Differenz und intentionalen Identität gegenüber der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt wie umgekehrt in der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt gegenüber der menschlichen Existenz-Gestalt. Wie jedes kontingent-körperlich Seiende baut die gesellschaftliche ExistenzGestalt sich schließlich aus ihren ersten Ursprungsgründen auf. Als erste Ursprungsgründe, die den Bestandskern von Etwas bilden, wurden aufgewiesen die Wesenheit und das Dasein, die Form und der Gehalt sowie die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen der Möglichkeit und der Wirklichkeit. Hinsichtlich der Gesellschaft gilt deswegen, daß sich ihr Bestandskern aufbaut aus dem Verbundensein als ihrer Wesenheit und aus real existierenden menschlichen Existenz-Gestalten als ihrem Dasein. Insofern die menschlichen Existenz-Gestalten den Inhalt der Gesellschaft bilden, steht ihnen die Sozialität gegenüber, die ihre Form darstellt. Das, was die Bezeichnungen Verbundensein, menschliche Realität, soziale Form und menschliche Mannigfaltigkeit benennen und wie diese sich zueinander verhalten, ist im folgenden zu klären.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
§ 12 Das Aufbaugeschehen und der Aufbaubestand der Gesellschaft A. Die ersten Ursprungsgründe des inneren Aufbaus der Gesellschaft I. Der Aufbau des Bestandskerns der Gesellschaft: Die Gesellschaft als endlich Seiendes (1)
Das Verständnis des Aufbaus der Gesellschaft mag leichter fallen, wenn seiner Darstellung eine Tafel vorausgeschickt wird, die eine Übersicht über die Problemfelder bietet. Sie besteht als stichwortartige Benennung und Ordnung der Grundfragen, auf die die realistische Philosophie der Gesellschaft zu antworten versucht. Die Tafel lautet wie folgt. Tafel der ursprünglichen Gegenstände der Erkenntnis des Aufbaugeschehens und des Aufbaubestandes der Gesellschaft durch die realistische Philosophie Der metaphysische Wesensgrund der Gesellschaft als (1) Endlichkeit:
Zusammensein → Seinsformengefüge ← Reale menschliche als Verbundensein Existenz-Gestallten
(2) Körperlichkeit:
Soziale Existenzialien
Die Gesellschaft als Erscheinung – im Bezug auf ihren Wesensgrund: – als diese, d.h. in (3) ungegenständlichen Erscheinungen: (4) gegenständlichen Erscheinungen: Das Ins-Dasein-Bringen der Gesellschaft (5):
→
Existenzstil
← Leben und Geist menschlicher Existenz-Gestallten
l Sichzeigen der Gesellschaft unterschieden von ihr als An-sich-Sein ↓ Bewußtsein der Gesellschaft Ordnung der Gesellschaft ↑ Existentielle Kausalität der Gesellschaft
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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Die Grundfragen betreffen den Aufbau der Gesellschaft. Er gliedert sich in ihren inneren und in ihren äußeren Aufbau. Der innere Aufbau erklärt sich aus denjenigen „Anfängen“, die als erste Bestandteile die Gesellschaft real sein lassen. Sie finden sich als „Anfänge“ des Bestandskerns und als „Anfänge“ der Bestandfülle der Gesellschaft. Den Bestandskern kann man auch als metaphysischen Wesensgrund der Gesellschaft bezeichnen und die Bestandsfülle als das Ganze der erscheinenden Gesellschaft. Vom inneren Aufbau verschieden ist der äußere Aufbau der Gesellschaft. Er besteht in denjenigen „Anfängen“, die die Gesellschaft zwar durch ihren Einfluß bewirken, die jedoch nicht in die Gesellschaft eingehen. Wie ersichtlich, ist die erwähnte Dreigliederung des Aufbaus unterteilt und mit Verweisen versehen. Auf sie ist zurückzukommen. Was die Unterteilung betrifft, so gilt sie vor allem für den Bestandskern und die Bestandsfülle der Gesellschaft. Hinsichtlich des Bestandskerns zielt die realistische Philosophie auf die Erkenntnis (1) der endlichen Beschaffenheit der Gesellschaft sowie (2) ihrer Beschaffenheit im körperlichen Sinn. Endlichkeit der Gesellschaft besagt, daß sie in Grenzen da ist. Körperlichkeit besagt, daß sie etwas sinnlich Wahrnehmbares ist, das – wohlverstanden – ausgedehnt besteht und sich deswegen wie ein räumliches Wesen verhält. Der metaphysische Wesensgrund besteht nicht ohne Bezug zur Erfahrung. Er „zeigt sich“ in der Gesellschaft als Erscheinung. In ihrer Vielfalt umgibt diese als Bestandsfülle den Bestandskern der Gesellschaft. Die Bestandsfülle besteht des näheren (3) in ungegenständlichen Erscheinungen. Sie erweisen sich als das Bewußtsein der Angehörigen der Gesellschaft. Darüber hinaus erscheint die Gesellschaft im gegenständlichen Sinn. So beschaffen besteht sie (4) als gesellschaftliche Ordnung. Zuletzt stellt sich der realistischen Philosophie der Gesellschaft die Frage, wie die Gesellschaft ins Dasein gebracht wird. Damit ist das benannte Problem des äußeren Aufbaus der Gesellschaft aufgeworfen (5). Der Realismus lehrt, daß der innere Aufbau von Etwas zum ersten durch seine Wesenheit bestimmt wird. Wie aufgewiesen, besteht die Wesenheit der Gesellschaft im Allgemeinen, also im seinskategorialen Sinn, als Zusammensein auf der Vollkommenheitsstufe des „menschlichen“ Seins. Es ist ausgebildet als Verbundensein. Deswegen ist das Verbundensein das Sosein der Gesellschaft. Es bildet den Gegenpol zu ihrem Dasein. Es besteht in realen menschlichen Existenz-Gestalten. Seinskategorial gesprochen, sind die realen menschlichen Existenz-Gestalten humane zuständliche Selbstände in der Mehrzahl. Nach der Lehre von den Seinsprinzipien sind die Wesenheit und das Dasein auf einander verwiesen. Das Verbundensein und die realen menschlichen ExistenzGestalten sind demnach einander zugeordnet. Diese Zuordnung findet sich ausgebildet als Verhältnis von Potenz (oder Möglichkeit) und Akt (oder Wirklichkeit). Als realer Bestand ist ihre Beziehung von einzigartiger Beschaffenheit. Allgemein gesprochen besteht sie in einem Binden von bindungsfähigen Exi-
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
stenzen. Oder im Bild gesprochen: Sie stellt kein Bündel dar, sondern ein Gebinde. Der Sache begrifflich sich nähernd, kann man von einem Bauplan sprechen, wie er einem realen Bau zugrunde liegt. Zur klaren und deutlichen Bezeichnung des Verhältnisses vom „menschlichen“ Umschließen von „menschlich“ Umschließbarem ist der Name des Seinsformengefüges vorgeschlagen worden. Dieser Name besagt soviel wie Stützwerk von Etwas von Innen heraus. Sachlich meint er eine unbedingte Bedingung, im anstehenden Fall also die unbedingte Bedingung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. Wie man das Seinsformengefüge zu denken hat, ist nicht geläufig. Die herrschenden Auffassungen der „Wesenheit“ und des „Daseins“ der Gesellschaft sowie ihres Verhältnisses stehen dem realistischen Erkenntnisbemühen abweisend entgegen. Denn sie erklären bald jenen und bald diesen „Anfang“ entweder durch eine Zurückführung auf etwas Natürliches oder durch eine Ableitung aus etwas Geistigem. Es dürfte deswegen angebracht sein, etwas ausführlicher aus einer Untersuchung zu zitieren, die sich der Bestimmung des gesellschaftlichen Seinsformengefüges, also des Gerüstes, das die Gesellschaft innerlich trägt, ausdrücklich widmet. Der Grundriß, der der Gesellschaft Halt gibt, wird im Allgemeinen wie folgt beurteilt: Der Bestandskern der Gesellschaft ist in seiner ersten Bestimmung aufzufassen als „ein bestandhaftes Gefüge von Seinsformen, das es erst ermöglicht, sie als eine Gesamtheit von eigenem Wirklichkeitscharakter anzusehen und zu erkennen. Als Vermittlung des personhaft und sinngebundenen, transzendent orientierten und Gestalt bildenden Willenslebens in das gesellschaftliche Sein hinein und durch diese in die ,Geschichte‘ besteht ein Strukturzusammenhang von charakteristischen Momenten, der als das Schema des sozialen Seins dem gesellschaftlichen Leben zu seiner Auswirkung und Darstellung in einem bestandhaften Gefüge eigener Art verhilft. Er bedeutet gleichsam ein Netz von Widerständen das der Strom der persönlichen Willensenergien durchlaufen muß, um im ,Leben‘ kreisen und gesellschaftlich sichtbar in Erscheinung treten zu können. Ohne das Schema der gesellschaftlichen Erscheinungswelt würde die Personenwelt wie ein Universum von Monaden sein, deren Zusammenhang miteinander nichts anders als durch eine von Gott prästabilierte Harmonie gedeutet werden könnte. Indessen stehen die Willensträger der sozialen Existenz nicht in einem Nichts, sondern sie wirken als lebendige Energiezentren in einer welthaften Seinsstruktur, von der losgelöst sie als gesellschaftliche Wesen nicht gedacht werden können.“123
Das Seinsformengefüge, zu dem sich das Verbundensein und eine Mehrzahl von real existierenden menschlichen Existenz-Gestalten zusammenfinden, wird des näheren durch seine Merkmale bestimmt. Das erste von ihnen ist die raumanaloge Beschaffenheit des inneren Gerüsts der Gesellschaft. Die Bezeichnung raumanalog will besagen, daß die Gesellschaft gleichsam als ausgedehnt und 123 Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1954, S. 39.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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deswegen an einem Ort mit seinen Lageverhältnissen befindlich aufzufassen ist. Diese raumähnliche Beschaffenheit des Seinsformengefüges der Gesellschaft ist sodann von eigentümlicher Zeitlichkeit. Das ist ihr zweites Merkmal. Zeitlichkeit meint das Dauern von Etwas nach seiner Natur. Deswegen ist die Raumanalogie des Seinsformengefüges zeitbestimmt, nicht dieses Gefüge als solches. Es ist seinskategorial beschaffen und aus diesem Grund wesenhaft dauernd. Soweit das Seinsformengefüge im raumanalogen Sinn aufzufassen ist, läßt es sich verstehen als gegliedert in Dimensionen. Dimension heißt Weite des Maßes. Diese Weite ist von dreifacher Art. Sie findet ihren Ausdruck zum ersten in der Entfaltungsbreite der Gesellschaft. Sie ermöglicht das ihr eigene Seinsformengefüge; sie findet sich zum zweiten in der regionalen Ordnung der Gesellschaft als eines Gestaltzusammenhanges und zum dritten in der sogenannten Überschichtung der gesellschaftlichen Grundgestalten. Die erste Dimension des Seinsformengefüges besteht in der Entfaltungsbreite, die sie der Gesellschaft einräumt. Sie ist durch vier Kennzeichen bestimmt. Das erste von ihnen ist die Erstreckung der Entfaltungsbreite. Erstreckung meint den möglichen Umfang an menschlich-existentiellen Gehalten, den die Gesellschaft haben kann. Seiner Natur nach reicht er vom „einmaligen menschlichen Fall“ bis zum „menschlichen Fall überhaupt“. Die Erstreckung reicht vom menschlichen singulum bis zum menschlichen totum. Sie verschließt sich keiner realen Existenzweise der menschlichen Existenz-Gestalt. Also kennt die Gesellschaft menschlich gewohnheitsmäßiges, menschlich selbstbestimmtes und menschlich geregeltes Verhalten. „Nichts Menschliches ist der Gesellschaft fremd.“ Das zweite Kennzeichen der Entfaltungsbreite des Seinsformengefüges besteht in ihrer Gerichtetheit. Gerichtetheit der Entfaltungsbreite heißt, daß sie in einer Gespanntheit von-nach besteht. Sie besitzt ihren Beginn im gesellschaftlichen Bestand als einem menschlich-natürlichen Bestand. Er ist anfänglicher Natur. Alsbald drängt er über sich hinaus, um ein menschlich-geistiger Bestand zu werden. Immer läuft das Leben vom jungen Unerfahrensein zum alten Erfahrensein. Niemals ist es umgekehrt. Mit dieser Gerichtetheit verbindet sich jedoch kein Wertvorzug und schon gar keine existentiell sich organisierende Durchsetzungskraft. Das natürlich-gesellschaftliche Leben ist nicht tüchtiger als die geistig bestimmte Gesellschaftlichkeit. Die sittlich-soziale Bewertung hat darüber zu befinden, welcher Zustand der Gerichtetheit der Gesellschaft beispielhaft ist. Zum dritten weist die Entfaltungsbreite des Seinsformengefüges Grade der Dichte auf. Dichte heißt Festigkeit, Zusammenhalt, Widerstand u. ä. In diesem Sinn besitzt sie eigentümliche Beständigkeiten. Drei dieser Beständigkeiten fallen ins Auge: Die geringe Dichte gesellschaftlicher Bestände im Fall flüchtiger Beziehungen, die gesteigerte Dichte im Fall verweilender Gruppen und die geradezu verfestigte Dichte beharrender Gebilde. Allen gesellschaftlichen Realitäten liegen Bestimmungen dieser Art der Nähe zugrunde. Zum vierten ist die Entfaltungsbreite des Seinsformengefüges bestimmt durch eine Kraft, die in ihr
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
wirksam ist. Erstreckung, Gerichtetheit und Dichtegrade der Breite der Entfaltung der Gesellschaft kennen keine Leerstellen. Sie erstrecken sich allgegenwärtig über die gesamte Entfaltungsbreite. Das Seinsformengefüge besteht als Wirksamkeit (Dynamik). Sie nimmt die Mehrzahl realer menschlicher ExistenzGestalten als sich erstreckend, gerichtet und von unterschiedlicher Dichte in sich fest bindend auf. Die zweite Dimension des Seinsformengefüges besteht in ihrer Regionalität. Der Name der Regionalität benennt einen abgegrenzten Bereich. Dieser Bestimmung zufolge ordnet das Seinsformengefüge die Gestalten der Gesellschaft. Beispielhaft sind sie verwirklicht in ihren Grundgestalten. Sie sind real bestehend als Familie, als Gemeinde und als Staat. Sie sind ausgeprägt von einander abgegrenzt. Die sachlich früheste Grundgestalt ist die Familie. Daß ihre Ausgestaltung durch die Zeiten und Räume sich abwandelt, ist für den anstehenden Problemzusammenhang von nachgeordneter Bedeutung. Ihrer Eigenart nach besteht die Familie als diejenige gesellschaftliche Grundgestalt, die die Gesellschaft erhält. In ihrer generatio vergegenwärtigt und erneuert sich die Gesellschaft. Sie überlebt dank der Familie. Dabei ereignet sich der „Nachwuchs“ als einmaliges Ereignis. Dieses Kind wird geboren. Anders beschaffen ist die Gemeinde. Nicht dieses, sondern ein Mitglied wird für sie gewonnen. Das gilt für die eine wie für die andere Ausbildung der Gemeinde. Sie wird üblicherweise einerseits im religiösen und andererseits im örtlichen Sinn verstanden. In jenem wie in diesem Fall kommt es auf die Nachbarschaft an, ohne die man nicht auskommt. Sie besteht als öffentlich bindende Versammlung. Konfessionelle bzw. kommunale Regelungen haben nicht den „menschlich“-einmaligen Fall im Auge, sondern den „menschlichen“ Wir-Fall. Von der Gemeinde verschieden ist der Staat. Sein Ziel ist nicht, einen Sinn zu finden. Sein Ziel ist es, die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten. Also schreibt ihm die herrschende Auffassung das Gewaltmonopol zu. Der Staat ordnet das gesellschaftliche Leben in letzter Instanz. „Er übt Gerechtigkeit gegenüber jedermann.“ Die dritte Dimension des Seinsformengefüges als dem Gerüst der Gesellschaft besteht in der Überschichtung der gesellschaftlichen Grundgestalten. Der Ausdruck der Überschichtung meint, daß die Angehörigen der Gesellschaft die Grundgestalten als einander übergreifend erleben und anerkennen. Die Gesellschaft wird von ihnen als eine sich überlagernde Anordnung erfaßt. In diesem Befund, daß eine Gemeinde Familien umgreift und zu sich erhebt und daß der Staat Gemeinden zusammenfaßt und übergreifend ordnet, dürfte der Grund zu sehen sein, daß die Meinung hartnäckig fortbesteht, die Gesellschaft besteht als „Gesellschaftskörper“. Der bildliche Ausdruck will besagen, daß das gesellschaftliche „Ganze“ wie ein Organismus beschaffen ist, dem seine Glieder bzw. Organe eingeordnet sind. Dieses Bild der gesellschaftlichen Überschichtung ist denkbar beständig. Bislang vermochte es jedenfalls den Begrifflichkeiten der Ganzheits-, der Struktur- und der Systemtheorie zu widerstehen.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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Das gesellschaftliche Seinsformengefüge, das sich zum ersten in seine Dimensionen ausgliedert, zeichnet sich zum zweiten dadurch aus, daß diese Dimensionen der Zeitlichkeit unterliegen. Das grundlegende Gefüge der Gesellschaft als Entfaltungsbreite, Regionalität und Überschichtung ist zeitlich beschaffen. Die Dimensionen mit ihren Nebeneinander-Beständen sind von einem Nacheinander durchdrungen. Sie sind „Sein“ in der „Zeit“. Zeit besagt Dauer. Diese Dauer erweist sich des näheren als unterschiedlich schnell fließend. Natürlich ist dieser Fluß nicht im Sinn der Zeitmessung zu verstehen. Er ist ein Geschehen im Sinne verschiedenartigen Beharrens. Die angeführten „Räume“ der Entfaltung, der Regionen und der Überschichtung dauern unterschiedlich lang. Eine immerwährende Zuordnung des Bleibens der raumanalogen Bestände findet sich freilich nicht. Die Dimensionen des Seinsformengefüges bestehen in verschiedenen Ausdehnungen des Geschehens. Feststellen lassen sich jedoch charakteristische Zeiten, insofern sie einen Bezug zu den dimensionalen Beständen besitzen. Im weitesten Sinn kann zwischen drei Zeiterstreckungen unterschieden werden. Jede Gesellschaft kennt kleine, mittlere und umfassende Zeiteinheiten, wo immer sie sich finden mögen. Man kann sie auch als Augenblick, als Rhythmus und als Epoche bzw. als Äon bezeichnen. Im ersten Fall ist der Fluß der Zeit ein Jetzt, im zweiten eine Gleichmäßigkeit und im dritten ein Immerwähren. Die verschiedenen gesellschaftlichen Raumanalogien unterliegen also der Zeitlichkeit. Man kann sich die Verhältnisse an Beispielen verdeutlichen: Familien können ebenso von kurzer Dauer sein wie eine lange Geschichte haben; Gemeinden können ebenso nur im Heute bestehen wie die Zeit überdauern; schließlich gilt auch für die Staaten, daß sie bald nur kurzlebig existieren, bald in Epochen „für immer“ bestehen. Dieser zeitliche Elementarbefund der Dimensionen der Gesellschaft findet seinen Niederschlag im Zeiterlebnis der Angehörigen der Gesellschaft. Sie empfinden die gesellschaftlichen „Raum“Bestände zum ersten als schnellebig, zum anderen als gleichmäßig und zum dritten als bleibend. Die gesellschaftstheoretische Erkenntnis ist von Grund auf an das Seinsformengefüge in seinen Dimensionen sowie an deren Zeiterstreckungen gebunden. Die Folgen sind maßgeblich. Die gesellschaftswissenschaftliche Methodenlehre hat sie zu entfalten. Sie hat zu bedenken, daß die Gesellschaft nicht im Menschsein besteht und noch weniger in einem natürlichen oder in einem geistigen Sein. Sie muß sich leiten lassen von den Bestimmungen des ersten Wesenszuges der Gesellschaft. Er hat zum Inhalt das Zusammensein als Verbundensein, die Mehrzahl realer menschlicher Existenz-Gestalten sowie ihr Verhältnis als Seinsformengefüge. Das sind die Bestimmungen des gesellschaftlichen Seins, insofern es ein endlich Seiendes ist.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft II. Der Aufbau des Bestandskerns der Gesellschaft: Die Gesellschaft als körperlich Seiendes (2)
Das körperlich Seiende ist ein Fall des endlich Seienden. Deswegen ergibt sich aus dessen Wesenheit die Beschaffenheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Ihr Bestand ist bestimmt zum ersten durch die Wesensform, zum zweiten durch die Materie, also durch den Stoff bzw. Inhalt/Gehalt und zum dritten durch deren Verhältnis. Es bringt die Einheit des körperlich Seienden zum Ausdruck. In der Übersicht stellt sich das soziale Wesen der bzw. einer Gesellschaft wie folgt dar.124 Tafel der sozialen Wesensformen (= Vermögen des Sozialen), d.h. der sozialen Existenzkategorien bzw. sozialen Existenzialien, in welche die Wesenheit (= Verbundensein/herkömmlich: Das Soziale) der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt sich gliedert und dadurch die gesellschaftliche Existenz-Gestalt ursprünglich ordnet mit den ihnen entsprechenden Erscheinungen (gekennzeichnet durch das Zeichen >) sowie die den sozialen Wesensformen zugeordneten Grundgestalten der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt Die Existenzkategorien besagen und sind die Verwirklichung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt als Gegenstand in seiner Bestimmtheit:
Beziehung > Verhältnis
Gruppe > Verband
Gebilde > Gesamtheit
Geschehen in seiner Verursachung:
Handeln > Machen
Wandeln > Verändern
Gestalten > Arbeiten
Modus des Gegenstands und des Geschehens:
Gesellschaft > Ordnung
Gemeinschaft > Vertrauen
Herrschaft > Macht
Gliederung ihres Aufbaus:
Singularität > Einmaligkeit
Personalität > Selbständigkeit
Komplexität > Vieleinheit
Existenzkategorial zugeordnete Grundgestalten sind:
Die Gesellschaft als Familie
Die Gesellschaft als Gemeinde
Die Gesellschaft als Staat
124 Zum Unterschied zwischen den sozialen Existenzialien und den psychischen Existenzialien vgl. die Tafel der Wesensformen der menschlichen Existenz-Gestalt in § 10, A., S. 267.
1. Kap.: Grundzüge der Philosophie der Gesellschaft
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Die Tafel des Wesens der Gesellschaft in ihren Wesensformen dient dem Überblick und damit der Verständlichkeit sozial geformter menschlicher Existenz-Gestalten. Sie ist die Voraussetzung, gesellschaftliche Probleme zu ergründen, zu erfassen und zu formulieren. Zum ersten drängt sich die Frage auf, wie die sozialen Existenzialien sich auffinden lassen. Die zumeist als „Grundbegriffe der Gesellschaft“ benannten Sachverhalte werden in der zeitgenössischen Gesellschaftstheorie sowohl als Probleme der Gesellschaftsphilosophie als auch als Probleme der Allgemeinen Soziologie sowie als solche der soziologischen Theorie ausgewiesen. In diesen Meinungen kommt die Ungewißheit zum Ausdruck, in welchem Erkenntnishorizont sich die Klärung der sozialen Existenzialien bewegt. Erfahrung, Verallgemeinerung und Apriorisches gehen durcheinander. Diesen Unbestimmtheiten entgegen behauptet der Realismus, daß die sozialen Existenzialien Urweisen des Bestandes der Gesellschaft und damit auch ihrer Beurteilung sind. Die Bestimmung der sozialen Existenzialien ist eine der vornehmsten Aufgaben der Philosophie der Gesellschaft. Sie behauptet, daß die erfahrungsbestimmte Erkenntnis vernünftigen Einsichten nicht im Wege steht. Das Gegenteil ist der Fall. Als intellectus principiorum, d.h. als Einsicht in die Anfänge ist die Vernunft fähig, aus Erfahrungen Ursprünge zu erfassen. Die Kritik der Vernunft hat dazu geführt, in ihr nur erkenntnisleitende Ideen zu erblicken. Um so stärker meldet sich das intuitive Erkennen zurück. Für den Aufweis der sozialen Existenzialien darf gelten, daß sie in der Erfahrung ihren Ausdruck besitzen. Er ermöglicht es, sie in einer vernünftigen Besinnung als ursprüngliche Bestände zu erfassen. In zeitgenössischer Redeweise heißt es über die Erkenntnis der sozialen Kategorialität: „Bei dieser Methode der philosophischen Besinnung können die Kategorien nicht nach einem rationalen Prinzip aufgesucht werden, so daß ein Ganzes, ein Schema aller soziologischer Kategorien a priori garantiert wäre. Vielmehr würde auch nur der Versuch, ein solches Prinzip aufzustellen und nach ihm zu verfahren, eine metaphysische Vorentscheidung zugunsten des Verstandes als der ordnenden ratio auch dann bedeuten, wenn dieses Prinzip selbst ,irrational‘, etwa im Sinne einer voluntaristischen oder Organismuslehre gefaßt würde. Damit wäre alles verdorben und der Betrachter fände wirklich nur, wie nach Kant, in Erscheinungen wieder, was er selbst in sie hineingelegt hat. Es muß grundsätzlich daran festgehalten werden, daß alles, was . . . als Wesensform der Gesellschaft entwickelt wird, sich der anschaulichen Besinnung ergibt, wenn sich die Erfahrung zum soziologischen Wissen entfaltet.“125
Immer also ist die Sozialkategorialität gebunden an die Erfahrung dieser und jener Gesellschaft. Ihre Bestimmung geht „mit der Praxis der Forschung selbst zusammen. Sie darf es niemals wagen, ihr zu widersprechen, und wo sie über vorliegende Theoreme hinausgreift, zieht sie lediglich Linien im Ganzen durch, 125 Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1954, S. 90.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
die im Einzelnen begonnen sind oder bemüht sich um Grundlinien, aus denen eine künftige Forschung ihre Einzelzeichnung entwickeln kann.“126 Die sozialen Existenzialien, wie sie sich aus der Erfahrung der neuzeitlichen Gesellschaft und aus ihrer vernünftigen Erkenntnis aufweisen lassen, besitzen kennzeichnende Eigenschaften. Die erste von ihnen ist die Durchgängigkeit der Existenzialien durch die Gesellschaft. Jede von ihnen erstreckt sich auf das gesellschaftliche Ganze. Die Existenzialien sind nicht beschränkt auf Teilbereiche der Gesellschaft. Zum Beispiel kann die Gesellschaft durchgängig in Beziehungen bestehen. Beziehungen sind keine Besonderheit dieser oder jener gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. In demselben Sinn kann die Gesellschaft auch in Gruppen oder in Gebilden da sein. Die sozialen Existenzialien sind also Urweisen des Bestandes der Gesellschaft von derselben Formkraft. Zum zweiten: Die sozialen Existenzialien sind der Grund der Gesellschaft. Sie bilden das Unterste der Gesellschaft. Er benennt, warum sie Bestand besitzt. Ohne sie als Fundament gibt es keine Gesellschaft. Insofern sie allen gesellschaftlichen Befunden voraufliegen, gewährleisten sie die späteren Bestände. Zu ihnen zählt zum Beispiel der Bestand der Struktur, also die gegenständliche Geordnetheit der Gesellschaft. Wenn der Name der Struktur so viel besagt wie Aufbaugliederung, so kann diese sich auf die zugrunde liegenden Beziehungen oder Handlungen, usw. beziehen. Dasselbe gilt zum Beispiel von der Kommunikation. Sie benennt Mitteilungen aufgrund von Beziehungen, Handlungen, usw. Die herrschende Theorie der Erkenntnis bewegt sich deswegen nicht im Allgemeinen der sozialen Existenzkategorien, sondern einerseits in Verallgemeinerungen von Erfahrungen und andererseits in gedachten ersten Annahmen. Insofern die sozialen Existenzialien das Unterste der Gesellschaft sind, bestehen sie auch im Sinne des wirksam Untersten, also der Begründung. Als Begründung erklären sie, warum die bestehende Gesellschaft so ist, wie sie ist. Sie lassen verstehen, warum die Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Zusammenhänge einmalig-aufgelockert oder personhaft-verbunden oder komplex-gesamthaft bestimmt sind. Zum vierten besitzen die sozialen Existenzialien die Eigenschaft, daß sie das Verbundensein im ungegenständlichen wie im gegenständlichen Sinn zum Inhalt haben. Ungegenständlich sind alle ursprünglichen Weisen des humanen Zusammenseins, soweit sie als bzw. im Bewußtsein bestehen. Die sozialen Existenzialien sind solche des Erlebens. Die Gesellschaft besteht als ein Innensein. Zum anderen bringen sie aber auch das Außensein der Gesellschaft zum Ausdruck. Sie sind die Erstweisen bzw. Erstbegriffe der Gesellschaft, die als Ordnung besteht. Ein fünftes Kennzeichen der sozialen Existenzialien besteht darin, daß sie Ermöglichungen darstellen. Sie sind passive äußere Möglichkeiten. Sie wollen durch ein Vermögen aufgerufen, um nicht zu sagen: Schöpferisch hervorgebracht sein. Die Hervorbringung der Formen des Verbundenseins kennt ver126
Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, a. a. O., S. 90.
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schiedene Beschaffenheiten. Die Gesellschaft kann ihre Existenzialien im Sinne der Naturordnung, der Sittenordnung oder der Kulturordnung meinen, auslegen und zur Geltung bringen. In ihnen verwirklicht die Gesellschaft bald gegebene Regeln, also Natürliches, bald vorgegebene Regel, also Sittliches oder bald verfügbare bzw. aufgegebene Regeln, also Kulturelles. Vielleicht ist es zweckmäßig, die äußere Anordnung der sozialen Existenzkategorien zu erläutern. Zwölf an der Zahl, bilden sie in vier Zeilen drei Spalten. Die Tafel der sozialen Existenzialien benennt in ihrer ersten Zeile die Gesellschaft in ihrer Gegenständlichkeit. Die Frage: Was ist die Gesellschaft? findet ihre Antwort in dem Urteil, daß sie entweder als Beziehung oder als Gruppe oder als Gebilde besteht. Die Beziehung ist die lockerste Form des Verbundenseins. Von ihr verschieden ist die Gruppe als eine dauernde Verbindung. Zu einem bzw. als Gebilde vermögen sich Verbundenheiten zu bleibenden Beständen auszuformen. Der Gesellschaft im Sinn des Bestehens steht die Gesellschaft im Sinn des Geschehens gegenüber. Was als Gesellschaft existiert, findet sich also nicht nur als Sein, sondern auch als Werden. Der Streit darüber, ob die Gesellschaft – zum Beispiel – als Beziehung besteht oder – zum Beispiel – als Handeln geschieht, ist müßig. Alle Verbundenheiten sind auch Handeln, Wandeln und Gestalten. In diesen Existenzformen ereignet sich die Gesellschaft. Handeln ist die Form des unmittelbaren Sichereignens. Wandeln heißt umbilden. Das Existenzial Gestaltung meint das Geschehen, das die Gesellschaft abschließend ordnet. Sodann: Sein und Geschehen der Gesellschaft unterliegen der Art und Weise ihrer Realität. Daß die Gesellschaft als Gesellschaft oder als Gemeinschaft bestehen kann, gehört zu den ersten Unterscheidungen der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft. Die gewählten Ausdrücke mögen unglücklich sein, aber sie haben sich durchgesetzt. Jedermann weiß, was die Namen gesellschaftliche Gesellschaft und gemeinschaftliche Gesellschaft meinen. Nicht geläufig ist, daß die Theorie die genannten Unterscheidungen ergänzen muß um das soziale Existenzial der Herrschaft. Denn in ihrem Sinn kommt die gesellschaftliche Realität nicht weniger modal zum Ausdruck. Diese Realität wird letztlich gegliedert durch ihre existenzkategorialen Aufbaubestimmungen. Sie finden sich als Singularität, als Personalität und als Komplexität. Die herrschende theoretische Lehre von der Gesellschaft drückt sich anders aus, nämlich mehrdeutig und damit unbestimmt. Was als Singularität zu bezeichnen ist, benennt sie mit dem Namen Individuum. Wortwörtlich besagt dieser Ausdruck jedoch das Einzelsein der Gesellschaft. Wie jeder Mensch auch ein einzelner ist, so ist jede Gesellschaft stets auch eine einzelne. Individuell verstanden, ist jede Gesellschaft diese Gesellschaft, also die hier und jetzt existierende Gesellschaft. Sie besteht im Unterschied zur Gesellschaft im Allgemeinen, sei es im allgemein-erfahrungsbestimmten oder im allgemein-wesentlichen Sinn. Die Rede vom Einzelnen, der (oder das) der Gesellschaft gegenübersteht, ist sinnwidrig. Alles humane Zusammen von zuständlichen Selbständen ist also einer-
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
seits individuell, andererseits generell. Diese Unterscheidung ist ontologisch, also das Seiende als dieses betreffend. Sie hat „unter“ sich die genannten existenzkategorialen Bestimmungen. Ihnen zufolge besteht das vermeintlich Individuelle als Singularität. Sie besagt das Einmalige in der Gesellschaft bzw. der Gesellschaft. Die nämlichen sinnwidrigen sprachlichen Verhältnisse finden sich beim Gegenpol. In der Regel wird dem Einzelnen das Ganze entgegengesetzt. Die Gesellschaft ist jedoch nur ein Ganzes, wenn sie als geschlossene Ordnung ihrer Teile aufgefaßt wird. Das sind ihre Gestalten und Gestaltzusammenhänge jedoch nicht. Aus diesem Grund sollte man auf das Ausdruckspaar Ganzes/Teil verzichten. Das vermeintlich Ganze ist das Existieren der Gesellschaft als vieleinheitlicher Aufbau. Diese Vieleinheitlichkeit kann man als Komplexität des Verbundenseins benennen. Zum Begriff der Personalität bleibt anzumerken, daß der Begriff der Person herkömmlich das geistige Einzelsein meint. Diesem gegenüber ist der Begriff der Personalität beschränkt auf Rücksichten der Erkenntnis der Person. Er zielt nicht auf diese an sich und für sich, sondern auf notwendige Zustände im Verbundensein von Personen. Die erwähnten sozialen Existenzkategorien sollten nicht jede für sich, sondern stets im Zusammenhang aufgefaßt werden. In der ersten Anordnung der Spalten ergibt sich das Verhältnis Beziehung/Handeln/Gesellschaft/Singularität. Offenkundig bringt dieser Kategorialverbund die Gesellschaft zum Ausdruck, wie sie natürlicherweise besteht. Ihr lassen sich geburtlich-anfängliche Existenzgestalten zuordnen, bevorzugt die Grundgestalt der Familie. Von ihr verschieden ist der Kategorialzusammenhang Gruppe/Wandeln/Gemeinschaft/Personalität. Er bringt die „humanistisch“ bestimmte Gesellschaft zum Ausdruck, also die sinnbestimmte gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Von ihr verschieden ist die Verknüpfung Gebilde/Gestalten/Herrschaft/Komplexität. In ihr bekundet sich, daß die Gesellschaft eine vielheitliche Einheit ist. Natürlich ist der beschriebene Zusammenhang der sozialen Existenzialien in der Realität bald so und bald anders anordnungsfähig. Zeiten und Räume sind die äußeren Bedingungen der Verschiedenheiten. Zuletzt befindet das Verbundensein der realen menschlichen Existenz-Gestalten darüber, wie ursprünglich die Gestalten der Gesellschaft bzw. diese als Gestaltenzusammenhang zu ordnen sind. Ihre Abwandlungen sich vorzustellen, ist nicht schwer. Jedermann besitzt genügende Erfahrungen. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die sozialen Existenzialien sich antinomisch zueinander verhalten. Antinomie meint hier: Daß die gesellschaftlichen Sachverhalte, wie sie die Begrifflichkeit unterscheidet, nicht auch der Sache nach verschiedene Bestände darstellen. Was gesellschaftlich real ist, ist im Sinne des Zusammen einheitlich beschaffen. Ihre Erkenntnis löst diese Einheit jedoch auf, indem sie Unterscheidungen trifft. Eine einheitliche reale Verbundenheit läßt sich beispielsweise nur begreifen, wenn sie als Beziehung oder als Gruppe oder als Gebilde gedacht wird. Ob die gemeinte Gestaltrealität nicht in sofortigen Umschlägen vom einen zum andern
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sich verändert, läßt sich nicht erkennen. Hierüber befindet die verbundene Existenz-Gestalt. Ihrer Entscheidung gegenüber ist das gesellschaftstheoretische Erkennen gleichsam zu träge. Es ist zu einer Entweder-Oder-Erkenntnis genötigt. In den realen Verbundenheiten gelten andere Regeln als die des Erkennens. Sie sind bald von der Art des Notwendigen, bald des Pflichtgemäßen und bald von der Art des Gestaltbaren. Der Unterschied zwischen der Sozio-Logik und der Denk-Logik ist kaum erahnt. Aufs Ganze der Tafel der sozialen Existenzialien bezogen ist zwischen den folgenden Antinomien zu unterscheiden. Zum ersten: Wie angedeutet, besteht die Gesellschaft ihrer Gegenständlichkeit nach entweder als Beziehung oder als Gruppe oder als Gebilde. Vom Geschehen gilt Vergleichbares. Die Gesellschaft ereignet sich entweder im Handeln oder im Wandeln oder im Gestalten. Diese begrifflich begründeten Unterscheidungen fließen in der Sache jedoch ineinander. Alle gesellschaftliche Realität ist zum Beispiel gegenständlich und im Verhältnis von Gegenständlichkeit und Geschehen ein Handeln in Beziehungen, ein Wandeln in Gruppen oder ein Gestalten in Gebilden. Im Sein des Zusammen vereinigen sich Gegenständlichkeit und Geschehen. Von den Existenzialien des Modus gilt sodann, daß sie untereinander wohl antinomisch sind; sie sind es jedoch nicht gegenüber den Gegenstands- und Geschehenskategorien. Das Gesellschaftliche kann nicht zugleich gemeinschaftlich sein. Wohl aber gilt es, eine Beziehung sowohl als gesellschaftlich als auch als gemeinschaftlich zu denken. Von den Existenzialien des Aufbaus ist endlich zu sagen, daß sie an der Antinomik nicht teilhaben. Singularität, Personalität und Komplexität sind die zugleich bestehenden, also ursprünglichen Seins- und Wirkweisen der humanen Existenz als menschliche wie als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Zuletzt bestimmt das humane Existieren über das Verhältnis ihres Aufbaus, also ihre Wirklichkeit. Sie besitzt die Freiheit, sich in ausgewogener oder in je betonter Weise zu verwirklichen. Erkenntnistheoretisch wesentlich ist das Urteil, nach dem die sozialen Existenzialien sich nur dem einsichtigen Denken erschließen. Sie gehören zu den intelligiblen Sachverhalten. Sie sind verschieden von den sensiblen Erkenntnisgegenständen. Sie werden in der Wahrnehmung erkannt. Wie sehr der Realismus auf dieser Unterscheidung beharrt, so sehr bedenkt er auch deren Verhältnis. Ihm zufolge leuchtet das Intelligible im Sensiblen auf. Aus sinnlichen Gegebenheiten läßt es sich durch Schlußfolgerungen erkennen, sofern es nicht sogar die geistige Anschauung zu erfassen vermag. Die Tafel der sozialen Existenzkategorien ist bemüht, diesen Zusammenhang anzugeben. Man kann ihn im Sinne Kants als Schematismus begreifen, der zwischen den Kategorien und der Sinneserkenntnis vermittelt. Er besteht in den Erfahrungsbegriffen, die den Existenzialien zugeordnet sind. Die Begriffe der Erscheinungen verweisen auf die einsichtigen Erstbegriffe und damit auf die Erstbestände. Im gesellschaftstheoretischen Erkennen gilt also zum Beispiel die Beziehung als eine intelligi-
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ble Wesensform. Für die Erfahrbarkeit ist die Beziehung ein Verhältnis. Dieser Bezug zwischen der Einsichtigkeit und der Wahrnehmbarkeit von sinnenhaften Sachverhalten ist in der Tafel durchgängig zum Ausdruck gebracht. Es ist zuzugeben, daß der gesellschaftswissenschaftliche Sprachgebrauch die gewählten Benennungen zwar nahelegt, aber kein gesellschaftstheoretisches Allgemeingut ist. Verbesserungen mögen also angebracht sein. An den Unterscheidungen zwischen den sozialen Existenzialien als den wesentlichen Begriffen und den in der gesellschaftswissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis begründeten Allgemeinbegriffen ändern sie nichts. Ohne Frage würden weitere Beispiele die Existenzialien als die bestimmenden Formen der Gesellschaft noch einprägsamer verdeutlichen. In einem Aufweis der ursprünglichen Bestimmungen der Gesellschaft ist das jedoch nur begrenzt möglich. Auf die stimmigen Kategorienzusammenhänge, die die gesellschaftlichen Grundgestalten formen, ist schon hingewiesen worden. Selbstverständlich läßt sich jede gesellschaftliche Gestalt bzw. jeder gesellschaftliche Gestaltzusammenhang als Beispiel aufzeigen. In diesem Sinn kann man von der gegenwärtigen Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft etwa das folgende sagen: Beziehungshaft betrachtet, besteht sie als Arbeitsteilung; als Gruppe aufgefaßt, bildet sie den Markt; als Gebilde verstanden, ist sie geeint zur Volkswirtschaft. Unter dem Gesichtspunkt des Geschehens betrachtet, ist das wirtschaftliche Handeln ein Tauschen; sein Wandel erweist sich im Auf und Ab einer sogenannten Konjunktur; seine Gestaltung erweist sich als zumeist so bezeichnete Marktwirtschaft. Modal betrachtet, ist die Wirtschaft als Gesellschaft ein Wettbewerb; als Gemeinschaft stellt sie Verbindungen genossenschaftlicher Art dar; herrschaftlich ist sie verwirklicht in nationalen und internationalen Planungen. Damit zum zweiten Beispiel, dem Leben der heute erfahrbaren Demokratie: Beziehungshaft ist dieses Leben ein Umgang zwischen den Wählern und den Gewählten; als Gruppe findet es sich in der Mitgliedschaft in einer Partei; als Gebilde besteht es in der Gesamtheit der politischen Willensträger. Als Geschehen begriffen, mag man das politische Handeln in der Vertretung von Interessen erblicken; als Wandeln erscheint es als die Umsetzung von Programmen; die Gestaltung der Politik besteht in der Einflußnahme auf die Regierung; modal findet sich die politische Demokratie als Gesellschaft in der parteilichen Disziplin; als Gemeinschaft in der Solidarität der Demokraten; in Abstimmungen und ihrer Anerkennung wird Herrschaft ausgeübt. Inwieweit im gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Leben die Gesellschaft singulär, personhaft oder komplex bevorzugt ausgebildet ist, bleibt gesondert festzustellen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Singularität den Aufbau der Gegenwartsgesellschaft bestimmt. Deswegen schlägt das gesellschaftlich-existentielle Pendel nicht selten zurück. Der Rückschlag fordert die Einheit der Vielheit. Technische, psychische und rechtliche Überwachungen der Verbundenheit lassen sich feststellen.
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Die Darstellung und Veranschaulichung der sozialen Existenzialien ist an ihr Ende gekommen. Was zu sagen bleibt, findet sich beim Autor dieser Lehre, die hier nur in Teilen des näheren formuliert worden ist. Über die sozialen Wesensformen, die aus dem Verbundensein als der Wesenheit der Gesellschaft entspringen, heißt es: „Man wird fragen, wo denn über der Mannigfaltigkeit seiner Formen ,das‘ Wesen der Gesellschaft bleibe, und man wird vielleicht meinen, unser Ergebnis sei offenbar ein Verzicht auf Erkenntnis dieses Wesens in seiner Ganzheit. So ist es aber nicht. Zwar wäre es dem Sinn unserer Bemühungen durchaus entgegen und würde uns vor der an anderen Versuchen geübten Kritik nicht bestehen lassen, wenn wir in einem Satz, in einer Definition Gesellschaft als Wesen begreifen wollten. Was die Gesellschaft als ein aussagbarer Inbegriff“ als eines endlich Seienden ist, „wird im Einzelnen erschöpft durch die dargestellten Kategorien. Im Ganzen ist sie das in sich bezogene und sich in sich selbst durchdringende Zusammen und Gegeneinander ihrer Formen. Grundlegend für ihren Aufbau im vorausgesetzten Rahmen der sozialen Dimensionalität sind die Gruppen der Gegenstands- und Funktionskategorien. Diese sind mit ihrer begrifflichen Antinomik in sich und gegeneinander“ das Erste der gesellschaftlichen Realität. Sie stehen „in Wechselbedingung und Spannung zueinander: das soziale Leben ist Dasein in Spannung zwischen Beziehung, Gruppe, Gebilde und Handlung, Wandlung und Gestaltung. Das sich so entfaltende Gefüge aus Spannung modifiziert sich nach Gesellschaft, Gemeinschaft und Herrschaft“ und hat sein humanes geistiges Existieren in Singularität, Personalität und Komplexität. „Dieser Zusammenhang der Wesensformen ist es, der einzig und allein als Wesen der Gesellschaft“ im Sinn ihrer Wesensform(en) bezeichnet werden darf. „Er ist der sozialen Wirklichkeit durchgehend eingestaltet.“127
Im Zusammenhang der Erörterung der sozialen Existenzialien war es ratsam, wenn nicht bisweilen geboten, sie von den Materien, also von den Inhalten zu unterscheiden. Vorläufig sind diese Gehalte als Leben und Geist der menschlichen Existenz-Gestalt benannt worden. Diese Kennzeichnung ist formelhaft. Wenn von den menschlichen Existenz-Gestalten als Leben die Rede ist, sind alle ihre natürlichen Bestimmtheiten gemeint, von ihrer Leiblichkeit angefangen bis zu den Wirksamkeiten in ihrer Umwelt. Die menschliche Existenz-Gestalt im geistigen Sinn umfaßt den Menschen als Selbstbesitz, als Selbstbewußtsein und als Selbstbestimmung. In den oben aufgeführten psychischen Existenzialien ist dieses Existieren der humanen Existenz entfaltet. Der Mensch ist gegenständlich bestimmt durch seine Bezüge zum Gefallen, zum Guten und zu den Dingen; geschehnishaft ist er bestimmt durch sein Fühlen, durch sein Streben und sein Erkennen; modal ist er ausgezeichnet durch sein Gemüt, seine Bewertungen und Behauptungen. Wie benannt, ist er in der Folge dieser existenzkategorialen Ordnung ein Wesen der Befindlichkeit, der Würde und des Denkens. Es sind die sozialen Existenzialien, die den so gekennzeichneten humanen zuständlichen Selbstand zum humanen Zusammensein von zuständlichen Selbstän127
Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, a. a. O., S. 120 f.
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den umformen. Diese Umformung ändert an den Inhalten nichts. Deswegen ist die Gesellschaft ihren Gehalten nach durchgängig menschlich beschaffen. Zur Gesellschaft geworden, hat das Menschliche jedoch seine Form verändert. Das Ergebnis der gesellschaftlichen Umformung der menschlichen ExistenzGestalt besteht in der Begründung und Ausbildung eines gesellschaftlichen Existenzstils bzw. einer gesellschaftlichen „Welt“. Der Ausdruck des Stils ist in der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis ungewöhnlich. Erforderlich ist jedoch, für die Realität des verbindlich und deswegen sozial geformten Existierens der humanen Existenz einen Namen zu finden. In der Vergangenheit wurde zumeist auf das Wort Struktur zurückgegriffen. Sofern es nicht als Benennung einer Aufbaugliederung benutzt wird, ist es jedoch mehrdeutig. Was der Name des Existenzstils meint, ist als Wirkung dieser und jener Aufbaugliederung zu verstehen. Er meint die welthafte Realität zum Beispiel der mittelalterlichen Ständeordnung oder der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft. Er will ein gesellschaftlich geformtes menschliches Existieren in seinen Eigentümlichkeiten beim Namen nennen. Es sollte möglich sein, wenn man den Begriff des Stils nur unvoreingenommen aufnimmt und gebraucht. Hierfür hilfreich könnte die folgende Erklärung des Ausdrucks sein: „Stil. . . . 1. die Eigenart einer sprachlichen oder auch künstlerischen Ausdrucksweise, 2. die einheitliche und charakteristische Gestalt der Kunst- und Kulturerzeugnisse einer Epoche, der Werke eines Meisters oder einer Gruppe, Richtung, Schule, 3. die halb bewußt, halb unbewußt geprägte, alle Ausdrucksweisen und Lebensgewohnheiten durchziehende Form des persönlichen Lebens eines Menschen oder einer Menschengruppe“128. Gesellschaftstheoretisch besagt der Ausdruck Stil danach die eine Gesellschaft „durchziehende Form“, um sie als diese Gesellschaft auszuweisen. Man mag zum Beispiel an das Leben in der Gotik oder an das Leben im Barock denken. Stil meint, daß von der Porzellangestaltung einer Kaffeetasse bis zum höfischen Zeremoniell sich eine Ausdrucksweise durchhält. Sie besteht im gotischen Leben im sursum corda, im barocken im sogenannten Schief-Rund. Dem Gehalt nach befaßt sich mit diesen Beständen das geschichtswissenschaftliche Erkennen. Die gesellschaftstheoretische Erkenntnis setzt einen anderen Akzent. Sie befaßt sich mit dem Verhältnis von Gehalt und Form. Sie bemerkt, daß es stimmig und nicht stimmig sein kann. In den stimmigen Stilen bilden Form und Inhalt eine sinnenhaft-sinnstrebige Einheit. In den nicht stimmigen überwiegt bald die Form, bald der Inhalt. Im ersten Fall besteht die Gesellschaft vorwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich in formalen Beständen. Ihnen geht die sogenannte formale Gesellschaftserkenntnis nach. Sie sieht von den Lebensinhalten ab. Sie findet die Lebensformen zum Beispiel in der Nach128 Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Art. Stil, in: dies. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 632. – Vgl. hinsichtlich des Stils der Gesellschaft z. B. Werner Ziegenfuß, Der soziologische Weltbegriff, in: Studium Generale, 3. Jg., Heft 2/3, 1950, S. 131.
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barschaft, in der Konkurrenz, im Streit, usw. Sozusagen formalisierte Formen bestehen in Zahlenverhältnissen. Ein Zweier-Verhältnis zwischen „Menschen“ ist ein anderes als ein Dreier-Verhältnis. Was im Zweier-Verhältnis als face-toface-relation studiert wird, ist im Dreier-Verhältnis bald das des tertius miserabilis, bald das des tertius gaudens. Die Zahl 20 scheint gesellschaftstheoretisch nicht ohne Bedeutung zu sein. Von beispielhafter Bedeutung ist Georg Simmels (1858–1914) Untersuchung über das Geld.129 Sie zeigt, wie in der modernen Gesellschaft das Abstraktum „Mittel zum Tausch“ zum „Inhalt“ der Verbindungen singulärer gesellschaftlicher Existenz-Gestalten wird und diese erhält und bindet. Der umgekehrte Fall liegt vor in menschlich-gesellschaftlichen Gemengelagen. Sie sind nicht so sehr von der Art der Verbundenheit als vielmehr von der Art menschlicher Übereinkunft. Sie bestehen als Zwitter zwischen der menschlichen und der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Gesellschaftstheoretisch betrachtet, heißen sie in der Regel informelle Bestände der Gesellschaft. Sie sind den gesellschaftlich-formalen Beständen als menschliche „eingelagert“. Sie finden sich zum Beispiel „in Beziehungen, die man hat“, als Klüngel oder als Netzwerk. Sie reichen von Schwarzmärkten jeder Art bis zu Geheimbünden. Auch das Massengeschehen des als schick geltenden Kaufverhaltens, des ästhetischen Mitläufertums oder des kollektiven politischen Heilrufens ist zu erwähnen. Wegen ihrer menschlich mächtigen Bestimmtheit als „Gesinnung“, die die Formung der Gesellschaft nicht mehr fassen kann, sind diese menschlichen Gemengelagen eher der psychischen als der sozialen Erkenntnis zugänglich. Man müßte sich in sie gleichsam als gesellschaftstheoretischer V(-erbindungs-)Mann einschleusen, um das einerseits diskrete und andererseits in die Öffentlichkeit drängende Existieren in der formal ausgebildeten Gesellschaft angemessen zu begreifen. Die theoretische Erkenntnis der Gesellschaft hat naturgemäß die ausgeglichenen Bestände von Form und Inhalt der Gesellschaft im Blick. Sie sind stilbildend. Deswegen gehen sie in die Geschichte des Menschentums als epochale Existenzstile ein. III. Der Aufbau der Bestandsfülle der Gesellschaft: Das Bewußtsein der Gesellschaft (3)
Der Realismus als Lehre vom Erkennen unterscheidet zwischen dem Bestandskern und der Bestandsfülle des Gegenstandes, der erkannt werden soll. Der Bestandskern des Gegenstandes ist dessen metaphysischer Wesensgrund. Die voraufliegende Darstellung hat versucht, den Wesensgrund der Gesellschaft zu erfassen. Das Erkenntnisbemühen erfolgte in zwei Schritten. Es zielte (1) darauf, die Gesellschaft als ein endlich Seiendes unter den vielen endlich Seienden aufzufinden, zu unterscheiden, zu begreifen und zu benennen. Als etwas Endliches ließ sie sich in ihrer Wesenheit als Verbundensein und in ihrem Da129
Vgl. Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
sein als Mehrzahl menschlicher Existenz-Gestalten begreifen. Ihr Verhältnis erwies sich als besonderes Seinsformengefüge. Die Bestimmung der Gesellschaft zielte (2) auf sie als einen körperlichen Bestand. Er erwies sich als Existenzstil der Gesellschaft, also als diejenige Einheit, die aus der sozialen Kategorialität sowie aus dem Leben und dem Geist der menschlichen Existenz-Gestalten gebildet wird. Vom Bestandskern verschieden ist die Bestandsfülle. An diesen Erkenntnisgrundsatz hält sich auch die realistische Lehre von der Gesellschaft. Was deren Bestandsfülle betrifft, so wird sie unter verschiedenen Rücksichten erkannt. Man kann sie zum ersten als das Ganze der Zustände eines Selbstandes auffassen. Sie werden herkömmlich als akzidentelle Seinskategorien benannt und ausgewiesen. Zu ihnen zählen bevorzugt die Quantität, die Qualität und die Relation. Begreift man den Selbstand von Etwas als ein zwar Abhängiges, aber doch Absolutes, so besteht es als An-sich-Sein im Unterschied zu den Relativitäten, die das Etwas besitzt. Sie werden in der Regel nicht als Zustände, sondern als Erscheinungen bezeichnet. In ihnen zeigt sich das An-sich-Sein. Dieser Unterscheidung folgend, ist nachstehend die Gesellschaft als Erscheinung zu bestimmen. Es ist gesellschaftstheoretisch ratsam, sich über die Bedeutungen des Begriffs der Erscheinung zu verständigen. Die Erscheinung der Gesellschaft kann – wie in der Tafel angegeben – (3) im ungegenständlichen und (4) im gegenständlichen Sinn bestehen. Diese Unterscheidung versteht sich nicht von selbst. Im realistischen Verständnis der Welt bedeutet der Ausdruck Gegenstand „das, was entgegensteht (ähnlich das sinngleiche Wort ,Objekt‘, das ,Entgegengeworfene‘); es besagt also eine Beziehung auf den, dem der Gegenstand gegenübersteht. Der philosophische Sprachgebrauch“, an den zu erinnern ist, „hält an diesem relativen Sinn fest, verwendet also das Wort nicht gleichbedeutend mit ,Ding‘, wie es im Alltag geschieht.“ – „In zweifacher Hinsicht wird das Wort Gegenstand (und noch mehr das Wort ,Objekt‘) im philosophischen Sprachgebrauch eingeschränkt. Einmal versteht man unter Gegenstand oder Objekt nur jenes Erkannte bzw. Erstrebte, das dem Subjekt als etwas von ihm Verschiedenes gegenübersteht (also nicht das eigene Ich, insofern es im Selbstbewußtsein erkannt wird), oder – noch enger – nur das sachhafte, nicht das personale Seiende; letzteres wird als ungegenständlich bezeichnet.“130 Die humane Existenz kann also als gegenständlicher und als ungegenständlicher Sachverhalt aufgefaßt werden. Diese Unterscheidung gilt naturgemäß auch von der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Sie besteht ungegenständlich, sofern das Verbundensein sich als etwas Subjektives versteht. Sie besteht gegenständlich, wenn das Verbundensein von einem Subjekt als Etwas aufgefaßt 130 Josef de Vries, Art. Gegenstand, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 122.
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wird, das ihm entgegensteht. Der ungegenständliche Bestand der Gesellschaft ist der Bestand als Bewußtsein. Der Ausdruck ihres gegenständlichen Bestandes meint die Gesellschaft als Ordnung. Der Alltag drückt diesen Befund dadurch aus, daß er von den „Menschen“ und von den „Verhältnissen“ spricht. Im übrigen ist der zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Erkenntnis der Unterschied zwischen der Gesellschaft als eines miterlebten „Gegenstandes“ und eines versachlichten „Gegenstandes“ unter verschiedenen Rücksichten geläufig. Die empirische Sozialforschung unterscheidet zum Beispiel zwischen der teilnehmenden und der nichtteilnehmenden Beobachtung. In der teilnehmenden Beobachtung des Verbundenseins beobachtet der Beobachter nicht nur die Anderen, sondern auch sich selbst. Anders verhält es sich mit der nichtteilnehmenden Beobachtung. In ihr steht der Beobachter außerhalb des Verbundenseins. Es ist ein Sachverhalt, den er vergegenständlicht hat. Die Gesellschaft ist gemeint als subjektunabhängiges Objekt. Die Beschaffenheit der Gesellschaft als einerseits ungegenständlicher, andererseits jedoch als gegenständlicher Sachverhalt hält sich durch bis zur sogenannten, zumeist freilich nur ethisch verstandenen Werturteilsfrage. Einfach formuliert, lautet sie: Ist die Gesellschaft so beschaffen, wie sie im Verbundensein erlebt wird oder ist sie so beschaffen, wie der Gesellschaftstheoretiker sie erklärt, der objektiv denkt? Real betrachtet ist die Gesellschaft beides. Das erkennende Miterleben der Gesellschaft ist ebensowenig „nur“ subjektiv, wie die Erfassung der Gesellschaft als Ordnung „nur“ objektiv ist. Das reale Existieren der Gesellschaft im ungegenständlichen Sinn besteht in den Erscheinungen des Bewußtseins der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Der Ausdruck Bewußtsein der Gesellschaft benennt das Bewußtsein der verbundenen menschlichen Existenz-Gestalten. Das Bewußtsein der Gesellschaft ist also das Bewußtsein verbundener Iche. Es findet sich im Unterschied zum Bewußtsein des Menschen. Das ist das Ich der beisichseienden humanen Existenz. Diesseits der genannten Unterscheidung nach den Ordnungsstufen, die sich aus den seinskategorialen Bestimmungen ergeben, erklärt sich das Bewußtsein der einen und der anderen humanen Existenz in der überkommenen Weise. Es besteht im weitesten Sinn als ein Begleitwissen. Es ist im Fall der Gesellschaft ein Begleitwissen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt um sich selbst und ihre augenblicklichen Befindlichkeiten. Dieses Begleitwissen wird in der Regel als Erleben bezeichnet. Die Gesellschaft besteht insofern in ihrem Sich-Erleben. Diesem Erleben liegt ein Erleben-Können zugrunde. Wie man weiß, sind Erlebnisse begrenzt. Sie sind in ihrer Kraft und in ihrer Reichweite eingeschränkt. Ein weiteres Merkmal des Bewußtseins findet sich als Erinnerung an das Erlebte. Sie ist eine Zustimmung oder eine Verneinung. Sodann ist der Verlust des Erlebnisvermögens zu bedenken. Wie man sagt, kann man das Bewußtsein verlieren bzw. mit einem anderen Bewußtsein wieder erwachen. Schließlich spricht
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man vom Bewußtsein wie von einem Raum. Es können sich Erlebnisse in seiner Mitte oder an seinem Rande befinden. Vom Bewußtsein verschieden ist das Unbewußte. Das Verhältnis beschäftigt theoretisch die Lehre von der humanen Existenz. Als Formen des Bewußtseins werden herkömmlich unterschieden die Bewußtheit, das Bewußtsein und das Bewußthaben. In diesen Formen ist das Bewußtsein der humanen Existenz ursprünglich da. Es entdeckt sich, indem es sich auf sich selbst richtet. Durch diesen Blick wird das unmittelbare Bewußtsein zum reflexen Bewußtsein. Es wird zum Bewußtsein, das um sich weiß. Dieses Umsich-Wissen wandelt die Bewußtheit zum Akt- oder Zustandsbewußtsein, das Bewußtsein zum Objekt- oder Gegenstandsbewußtsein und das Bewußthaben zum Subjekt-, Ich- oder Selbstbewußtsein. Die Frage nach dem Grund dieser Reflexivität veranlaßt den Realismus nach dem zu fragen, was herkömmlich Seele heißt sowie nach den Vermögen, die sie besitzt. Schlußfolgernd lehrt er, daß sich die Seelenvermögen in allem bewußten Existieren finden. Voranschreitend lehrt er, daß vom unmittelbaren Bewußtsein über das reflexe Bewußtsein in Sonderheit die humane Existenz das entfaltet, was man Denken nennt. Denken heißt geistiges Erkennen. In der Annahme eines Bewußtseins der Gesellschaft gründet die Erkenntnis des logos der societas. Die gesellschaftliche Existenz-Gestalt wird im Bewußtsein und zumal im reflexen Bewußtsein verschieden aufgefaßt. Zum ersten wird durch seine Formen über ihre Existenz befunden, wie sie sich im ungegenständlichen Sinn zeigt. Sie wird zunächst im ursprünglichen Sinn des Bewußtseins der Gesellschaft erkannt. Das Verbundensein der menschlichen Existenz-Gestalten weiß um sich auf naive, also auf unvollkommene Weise. Das ist im täglichen gesellschaftlichen Leben der normale Fall. In einem zweiten Schritt urteilt das Bewußtsein kraft seines Vermögens der Reflexion. Reflexion des Bewußtseins heißt Rückkehr des Bewußtseins zu sich selbst. Das reflexe Bewußtsein kann unterschiedlich ausgebildet sein. Das ist zum ersten möglich in Teilen seiner Formen oder im Ganzen. In jenem wie in diesem Fall sind Vorrangigkeiten möglich. Im Ganzen ausgebildet will sagen, daß es als Zustands-, als Gegenstands- und als Selbstbewußtsein entwickelt ist. In Teilen ausgebildet will besagen, daß sich nur die eine oder die andere bzw. daß sich nur zwei dieser Formen finden. Ist nur eine der Formen entwickelt, ist das Bewußtsein entweder nur Zustands- oder nur Gegenstands- oder nur Selbstbewußtsein. Finden sich zwei Formen ausgebildet, ist das Bewußtsein entweder ein Zustands- und ein Gegenstandsbewußtsein oder ein Zustands- und ein Selbstbewußtsein oder ein Gegenstandsund ein Selbstbewußtsein. Vom Ausbildungsbestand ist das Ausbildungsgewicht zu unterscheiden. In einer Mehrzahl der Formen des Bewußtseins kann einer Form ein Vorrang eingeräumt sein, der die andere bzw. die anderen sich botmäßig hält. Bald kann das Zustands-, bald das Gegenstands- und bald das Selbstbewußtsein die jeweils anderen Formen sich unterordnen. In seinen Formen ist
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das Bewußtsein der Gesellschaft also bald einseitig, bald mehrseitig beschaffen und im letzteren Fall in einer Rangordnung bestehend. Nach der Benennung der Formen des Bewußtseins der Gesellschaft und nach dem Hinweis auf ihre unterschiedlichen Ausbildung mit ihrem gestuften Bestand ist auf die Polarität der Bewußtseinszustände aufmerksam zu machen. Sie kennzeichnen das alltägliche wie das reflexe Bewußtsein. Die Bewußtseinsbestände finden sich als polare Gegensätze. Sie bewegen sich zwischen Endpunkten, die einander zugeordnet sind. Für das unmittelbare Bewußtsein kann man die folgenden Kennzeichnungen angeben. Die Bewußtheit vermag sich auszudehnen zwischen dem Pol der Besonderheit und dem Pol der Gesamtheit. Sie ist in der Lage, Ein-und-Dasselbe sowohl als Dieses-da wie Überhaupt zu erleben. Vergleichbares gilt vom Bewußtsein. Es faßt den gemeinten Sachverhalt bald als ein Innensein und bald als ein Außensein auf. Im ersten Fall ist die Gesellschaft ein Wir-Sein, im zweiten eine andere Gemeinsamkeit. Schließlich vermag das Bewußtsein Etwas als Sinn und im Unterschied hierzu als Tatsache anzusehen. Sinn heißt Wertziel. Tatsache heiß Wahrnehmung eines Falles. Die Polarität der Bewußtseinsbestände kennzeichnet auch das reflexe Bewußtsein. Entspricht sie zwar den genannten Bewußtseinserstreckungen, so ist sie doch formal ausgebildet. Deswegen ist sie auch anders zu benennen. So reicht das Zustandsbewußtsein vom Pol des Speziellen bis zum Pol des Generellen. Das Gegenstandsbewußtsein bewegt sich zwischen der Subjektivität und der Objektivität und das Selbstbewußtsein schließlich zwischen der Theorie und der Empirie. Damit sind die Grundzüge benannt, die die Gesellschaft als Erscheinung im ungegenständlichen Sinn auszeichnen. Ihre Vergegenwärtigung läßt die Fülle erahnen, die die Gesellschaft als Bewußtsein besitzt. Sie ist ein Erleben, das in verschiedenen Graden, Arten und Erstreckungen in sich verflochten ist. Zum ersten besteht es unmittelbar und reflex; zum zweiten einseitig und vielseitig ausgebildet und verschiedene Zuordnungen aufweisend; zum dritten erstreckt es sich zwischen polaren Entgegensetzungen. Aus diesem vielschichtigen Befund ergibt sich die Problematik zunächst des Erlebens und sodann des Erkennens der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft zwischen ihren Bewußtseinsbeständen gleichsam oszilliert, wie wird sie dann „richtig“ gewußt und begriffen? Ein kleines Beispiel mag verdeutlichen, vor welche Aufgabe sich zumal das gesellschaftstheoretische Erkennen gestellt sieht. Wenn die Gesellschaft sich nur in ihrer Bewußtheit bzw. nur in ihrem Zustandsbewußtsein versteht und ihren Bestand nicht im Gesamten, sondern als Besonderung auffaßt, ist das ein Erleben des Verbundenseins von mir. Dieselbe Gesellschaft kann aber auch anders beschaffen sein. Der genannte Blick auf sie ist ausgeblendet. Also existiert sie nach dem (Objekt-)Bewußtsein als ein gleichsam fremder Gegenstand. Zumeist ist es auf die Außenseite der Gesellschaft ausgerichtet. Die Folge ist, daß die ehedem als Gesellschaft von mir als gesellschaftliche Aufbaugliederung aufge-
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faßt wird. Zum dritten: Die Gesellschaft wird durch das Bewußthaben bzw. durch das Ichbewußtsein erfaßt. In dieser Einstellung wird die Gesellschaft zumeist als Tatsache bzw. als Idee bestimmt. In der Folge dieser Erkenntniseinstellung zeigt sich die Gesellschaft als eine Datenfülle bzw. als eine Leerstelle, die das erkennende Subjekt ordnen bzw. die unbestimmte in eine bestimmte Gesellschaft verwandeln soll. Im Sinn dieser Andeutungen hat die realistische Gesellschaftstheorie sich durch das Bewußtsein der Gesellschaft hindurchzuarbeiten. Alles soziale Bewußtsein ist polymorph. Man muß deswegen die Rücksicht angeben, unter der man die Gesellschaft betrachtet. In diesem Zusammenhang sind Hinweise vonnöten, welchen methodologischen Anforderungen an das Erkennen der Gesellschaft als (wissenschaftliches) Sozialdenken man folgt. Zur gesellschaftstheoretischen Methodologie ist anzumerken, daß sie sich nicht von den unmittelbaren Beständen des Bewußtseins der Gesellschaft entfernen darf. Das wissenschaftliche Sozialdenken folgt den Beschaffenheiten des Bewußtseins der Gesellschaft. Deswegen ist der Gesellschaftstheoretiker immer eingebunden in die Gesellschaft, die er untersucht, es sei denn, er weiß um seine sogenannte persönliche Gleichung. Das wissenschaftliche rückgebundene Sozialdenken kennt also die folgenden Grundformen der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis. Der Rückbezug des Sozialdenkens auf die Bewußtheit bzw. auf das Zustandsbewußtsein macht verständlich, warum es als anschauliches oder inspiratives Denken der Gesellschaft besteht. Seine Überzeugungskraft liegt in seiner Lebensverbundenheit. Es denkt das Leben so, wie es erlebt wird. Darin liegt die Stärke des vorrationalen Denkens. Seine Schwäche liegt im Abstand des lebendigen Geistes vom Seienden im Sinne der an sich seienden Dinge. Das Sozialdenken kann ebenso gesellschaftliche „Phänomenologie“ wie gesellschaftliche „Romantik“ sein. Eine zweite Form ist das wahrnehmende oder reproduktive Sozialdenken mit seinem Rückbezug auf das Gegenstandsbewußtsein. Es hat die Gesellschaft in ihren Gegebenheiten im Auge. Nicht selten meint es, daß sie sich in ihnen erschöpft. Es heißt, daß die Gesellschaft etwas „Empirisches“ ist, also nichts „Subjektives“. Gewiß ist das Tatsachendenken unerläßlich, die Gesellschaft erschöpft sich jedoch nicht in wahrnehmbaren Mentalitäten und in den in ihnen gründenden Beziehungen bzw. Handlungen. Zum dritten findet sich das „wesentliche“ Denken in seinen Ausgestaltungen als voranschreitendes oder diskursives Denken sowie als einsichtiges oder vernünftiges bzw. intuitives Denken. Es ist vorgebildet im Bewußthaben bzw. im Ich-Bewußtsein. Es besteht als ergründendes Sozialdenken. Gesellschaftstheoretisch wird es gegenwärtig unterschiedlich gedeutet. Danach schwankt es zwischen „meinem gesellschaftlichen Ich“ bzw. dem „gesellschaftlichen Ich überhaupt“ und dem „gesellschaftlich schöpferischen (konstruierenden) Ich“. Materialistische, psychologistische, logizistische und idealistische Meinungen stehen einander entgegen. Eine realistische systematische Erkenntnis der Gesellschaft
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ist bis heute nicht ausgebildet. Die Auseinandersetzung über die diskursiven und intuitiven Erkenntnisweisen der Gesellschaft dauern an. IV. Der Aufbau der Bestandsfülle der Gesellschaft: Die Ordnung der Gesellschaft (4)
Die voraufliegende Darstellung hat die Gesellschaft in ihrem Inne-Sein zu erfassen versucht. Inne-Sein meint, daß das humane Zusammen von zuständlichen Selbständen im oder als Bewußtsein und nicht außerhalb des Bewußtseins besteht. Es ist ein Wissen, das den Wissenden einschließt. Diese Erkenntnishaltung wird zurecht als ungegenständliche Auffassung der Gesellschaft in ihren Erscheinungen bezeichnet. Von ihr verschieden ist ihre gegenständliche Betrachtung. In ihr wird die reale Selbigkeit von Wissen und Gewußtem aufgehoben. Sie faßt das humane Zusammensein zuständlicher Selbstände als Bestand auf, der als Objekt einem Subjekt gegenübersteht. Die Gesellschaft wird gegenständlich betrachtet. Des näheren wird sie als Ordnung angesehen, die gleichsam – oder im gemeinten Sinn real – transsubjektiv besteht. In dieser Meinung ist der erkennende (gesellschaftliche) „Mensch“ der Eine und sind die zu erkennenden bzw. erkannten (gesellschaftlichen) „Menschen“ die Anderen. Will man so sprechen und urteilen, muß klar sein, daß diese Unterscheidung ein sogenanntes Gedankending ist, ein ens rationis. Daß es ausgebildet wird, besitzt seinen Grund in der Objektivierbarkeit der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist imstande, sich von sich zu lösen und sich zu ihrem Gegenstand zu machen. Wie ist die Gesellschaft als Ordnung zu verstehen? Der Realismus spricht dann von einer Ordnung, wenn „eine Vielfalt von Gliedern, Elementen oder Teilen von einem Gesetz, einem Sinn oder einer Einheit durchwaltet und beherrscht ist“131. Als Ordnung ist die Gesellschaft also anders beschaffen als das Bewußtsein der Gesellschaft im Sinn seiner Form, Ausprägung und Erstreckung. Wesentlich für die Gesellschaft, die als Ordnung aufgefaßt wird, ist ihre Vielheit einerseits und ihre Geregeltheit andererseits. Die Vielheit der Gesellschaft im Sinn einer Mehrzahl von menschlichen Existenz-Gestalten ist verständlich. Anders verhält es sich mit der Regelung als dem Inbegriff von Gesetz, Sinn und Einheit. Ob Regeln sich finden, steht damit im Vordergrund der Erkenntnis der Erscheinung der Gesellschaft im gegenständlichen Sinn. Daß die Gesellschaft als Ordnung, also Regeln gehorchend, besteht, wird allgemein bejaht. Die Gesellschaft ist nichts Zufälliges im Sinn bald dieser, bald jener verwirklichten „menschlichen Verhältnisse“. Also schreitet die gesellschaftstheoretische Erkenntnis voran zum Erfassen der Ordnungsgründe der Gesellschaft. 131 Walter Brugger, Art. Ordnung, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 280.
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Wie erwähnt, kennt der Realismus drei Arten von Regeln, die auch als Gesetze oder Normen bezeichnet werden. Einprägsam benannt, wird zwischen gegebenen Regeln, vorgegebenen Regeln und verfügbaren bzw. aufgegebenen Regeln unterschieden. Gegebene Regeln sind unbedingter Art. Sie werden gemeinhin als Naturgesetze bezeichnet. Unvermittelt regeln sie die Dinge der Natur in ihrem Bestand, in ihren Verhältnissen und in ihrem Geschehen. Die vorgegebenen Regeln sind solche des Sollens. Sie sind Gebote, die sich dem Verstand als richtig und dem Willen als verbindlich auferlegen. Sie werden zumeist Normen genannt. Es gibt sie vielfach im Leben der humanen Existenz. Vorzugsweise finden sie Beachtung in deren sittlichem Leben. Deswegen werden sie zumeist als Sittengesetze bezeichnet. Die dritte Art der Regeln sind solche der Gestaltung. Diese Regeln sind von doppelter Art. Zum ersten sind sie „Identitäten oder Funktionalismen (Wenn-dann-Sätze)“; zum anderen „sind es Erfahrungssätze, die darauf beruhen, daß die Menschen ungeachtet ihrer Freiheit sich in ihrem Handeln weitgehend von Leitbildern und namentlich von ihrer Interessenlage bestimmen lassen; daraus ergeben sich gewisse, wenn auch keineswegs zwingende Regelmäßigkeiten“132. Sodann bestehen die Gestaltungsregeln als Richtschnur, wenn nicht als Idee. Jener wie dieser gemäß können bzw. werden schöpferisch Realitätszusammenhänge hervorgebracht. In ihnen wird Bestehendes aufgenommen, durchdrungen, in andere Verhältnisse gebracht und neu gefügt. Das Ergebnis ist Etwas, was aus seinen Bestandteilen nicht völlig ableitbar ist. Deswegen spricht man von ihm als Etwas Neuem.133 Die genannten Regeln begründen verschiedene Ordnungen. Die gegebenen Regeln begründen die Naturordnung, die vorgegebenen die Sittenordnung und die aufgegebenen die Gestaltungs- und Kulturordnung. Die Verhältnisse der Regeln und der Ordnungen, die durch sie begründet werden, veranlassen zu verschiedenen Fragen nach der Ordnung der Gesellschaft. Zum ersten ist zu klären, welche Regeln liegen der Ordnung der Gesellschaft zugrunde? Wenn ihr Regeln zugrunde liegen, wie sind sie erkennbar bzw. erkannt worden? Zum dritten: Um welche Regeln handelt es sich? Anders gefragt: Warum sind diese und nicht jene Regeln ausgewählt worden, um die Ordnung der Gesellschaft zu bestimmen? Sodann: Wodurch werden die gewählten Regeln als geltend durchgesetzt? Schließlich: Welche Folgen haben die Ordnungen für die Form der Gesellschaft und dafür, daß sie ihrem Zweck entspricht? Auf die angedeuteten Fragen ist im Allgemeinen erstens zu antworten: Der Gesellschaft können gleichermaßen die Naturgesetze wie die Sittengesetze und die Gestaltungs- bzw. Kulturgesetze zugrunde liegen. Ihnen gehorchend, ist die 132 Oswald von Nell-Breuning, Art. Gesetz, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 142. 133 Vgl. Viktor Naumann, Art. Schöpfung, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 340.
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Ordnung der Gesellschaft vollständig oder zumeist oder gar nicht von dieser oder von jener Art. Es gibt ausgeglichene und unausgeglichene Ordnungen der Gesellschaft. Hierüber befinden metagesellschaftliche Existenzbedingungen. Der Materialismus denkt die Stofflichkeit der Ordnung der Gesellschaft zu Ende. Der Idealismus ist ihm entgegengesetzt. Eine Berücksichtigung der Lebensnotwendigkeiten und der frei gewählten Ziele des Gemeinwesens wird die realistische Erkenntnis zu erfassen versuchen. Zweitens: Die Erkennbarkeit der Regeln der Ordnung der Gesellschaft ist eine Herausforderung der Lehre vom Erkennen. Zum einen stellen sich die Regeln der Ordnung der Gesellschaft als ein Problem der Erkenntnis der Natur dar. Sie besteht in der Wahrnehmung, die wissenschaftlich ausgebildet ist als Beschreibung, Beobachtung und Experiment. Zum anderen sind sie ein Problem der Sittlichkeit. Herkömmlich heißt es, daß diese Erkenntnis das Gewissen besorgt. Sie wird als beschreibende Moralwissenschaft entfaltet. Unter der Hand, wenn nicht ausdrücklich, verwandelt sie sich vielfach in eine normative Gesellschaftsethik. Sie besteht nicht mehr als gesellschaftstheoretisches Erkennen. Sodann geht es um die Erkenntnis der Gestaltungsregeln. Sie zielt auf das Erfassen, Formulieren und Verdeutlichen von Wahlalternativen. Wissenschaftlich in der Ästhetik begründet, bemühen sich zunehmend die Gesellschaftswissenschaften um eine Klärung. Die Wirtschaftswissenschaften dürften noch immer federführend sein. Ob und wie diese Erkenntnisse ineinandergreifen, ist komplex. Drittens geht es um die Wahl möglicher Regeln. Warum ist eine Ordnung so geregelt, wie sie geregelt ist? Sie könnte auch anders geregelt sein. Viertens stellt sich die Frage nach der Geltung der Regeln. Gelten heißt, zu Recht bestehen. Hieraus folgt, daß das, was gilt, auch durchgesetzt sein will. Hierzu bedarf es einer Autorität. Sie besteht als Tradition, als Rechtsordnung, als Religion, als Überzeugung, usw. Haben die Regeln die Ordnung der Gesellschaft bestimmt, erscheint sie fünftens verschieden in ihrer Form und in ihrem Inhalt. Die Form der Ordnung ist die erscheinende Aufbaugliederung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang hat der Name der Struktur seinen Sinn. Der Inhalt der Ordnung besteht in der „Welt der gesellschaftlichen Werte“. Sie ist der Inbegriff des Zweckes des erscheinenden Verbundenseins. V. Das Verhältnis zwischen dem Bestandskern und der Bestandsfülle der Gesellschaft
Wie der Bestandskern und die Bestandfülle eines Seienden sich zu einander verhalten, wird bisweilen mißverstanden. Am häufigsten findet sich das Mißverständnis in den Einzelwissenschaften. In ihnen herrscht verbreitet die Meinung, daß das Erkennen sich vorrangig der Bestandsfülle zuzuwenden hat. Gründe der Nützlichkeit werden angeführt. In dieser Weise verfährt nicht zuletzt die Soziologie gebieterisch. Über diese Meinung ist alsbald zu sprechen.
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Die realistische Seins- und Erkenntnisauffassung lehrt etwas Anderes. Von klassischem Maß ist das folgende zusammenfassende Urteil. „Jedes Endliche baut sich aus Wesenheit und Dasein auf; diese Doppelung konstituiert Endlichkeit (Geschöpflichkeit, Kontingenz) als solche und liegt allen anderen Seinsprinzipien zugrunde. Die Wesenheit des Körperlichen trägt Materie und Form als Seinsprinzipien . . . in sich, die nach der klassischen . . . Lehre Körperlichkeit als solche ausmachen. Um den substantiellen Kern legen sich bei jedem Endlichen (also auch im reinen Geist) die akzidentellen Bestimmungen, die als Seinsprinzipien das Endliche zur Fülle seines Bestandes vollenden. Zwischen den Polen der aufgezeigten Spannungen waltet jedesmal das Verhältnis von Potenz und Akt.“134
In dieser Bestimmung der Seinsprinzipien ist ein Doppeltes wesentlich. Sie erklärt zum ersten, daß nicht nur der Bestandskern, sondern auch die Bestandsfülle aus ersten Ursprüngen stammt. Kern wie Fülle des Bestehenden sind von ihrem Anfang her gleich wesentlich. Zustände von Etwas bzw. das Sich-Zeigen von Etwas sind von gleicher Entität, wenn auch in verschiedenen Bestandsweisen. Zustände bzw. Erscheinungen sind nicht „bloße“ Zustände bzw. Erscheinungen. Sie sind Zustände bzw. Erscheinungen von Etwas, das seinen Wesensgrund besitzt, wie umgekehrt der Wesensgrund sich in seinen Zuständen bzw. Erscheinungen äußert. Zum zweiten: Zwischen dem Bestandskern und der Bestandsfülle waltet das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit. Deswegen ist ein Seiendes kraft seines Wesensgrundes möglich und in seinen Zuständen bzw. Erscheinungen wirklich. Auf das Sein und Erkennen der Gesellschaft bezogen, besagt die genannte Unterscheidung folgendes. Ihr Bestandskern und ihre Bestandsfülle sind von gleichem Seinsrang. Jener ist das An-sich-Sein der Gesellschaft, diese ist das Sich-Zeigen der Gesellschaft. Die realistische gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis wird deswegen universalwissenschaftlich wie spezialwissenschaftlich auf den Kern wie auf die Fülle der Gesellschaft gleichermaßen blicken. Sie wird die Gesellschaftserkenntnis nicht spalten in eine Erkenntnis des „Gesellschaftlich-Wesentlichen“ und in eine Erkenntnis des „gesellschaftlich Erscheinenden“. In der Regel hat diese Spaltung den Zerfall der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis zur Folge. Unverbunden stehen sich alsbald eine „schweifende“ Gesellschaftsphilosophie und eine Einzelwissenschaft von „der“ Gesellschaft gegenüber.
134 Johannes B. Lotz, Art. Seinsprinzipien, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 350.
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B. Die ersten Ursprungsgründe des äußeren Aufbaus der Gesellschaft (5) Der Realismus unterscheidet zwischen inneren und äußeren ersten Ursprungsgründen von Etwas. Innere erste Ursprungsgründe sind diejenigen, die den Aufbau eines Seienden dadurch bestimmen, daß sie in den Bestand eingehen und in ihm wirksam sind. Die äußeren ersten Ursprungsgründe bringen Etwas hervor, ohne daß sie in das Hervorgebrachte eintreten. Sie bestehen als Bewirkenkönnen eines Bestandes, der erst als bewirkter da ist. Der Realismus erörtert die Frage der ersten Ursprungsgründe des äußeren Aufbaus von Etwas in der Lehre von den äußeren Ursachen. Der Name der äußeren Ursache benennt dasjenige Wirken, durch welches das Hervorgebrachte von ihr real abhängt. Das Ergebnis der tätigen Ursache ist eine Wirkung. Der Realismus unterscheidet zwischen zwei äußeren Ursachen. Die erste ist die Wirkursache, die zweite die Ziel- bzw. Zweckursache. Die Wirkursache besteht als Ursache im engeren Sinn, also in der genannten Bedeutung des Bewirkens. Von ihr verschieden ist die Ziel- bzw. Zweckursache. Sie gehorcht dem Finalitätsprinzip omne agens agit propter finem, d.i. alles Wirken ist zielgerichtet. Das Ziel, also ein (erkannter und erstrebter) Wert bzw. Zweck, d.h. ein WorumWillen, lenkt die Wirkursache, die als diese nur ein Hervorbringen ist. Erst als Zusammenhang bilden Wirk- und Zielursache eine sinnvolle Wirkeinheit. Die Lehre von der Wirkursache und mehr noch die Lehre von der Zielursache werden von den herrschenden Philosophien in Frage gestellt, wenn nicht ohne Federlesen verworfen. Sie meinen, daß Wirkursachen nur günstige Voraussetzungen tätiger Verhältnisse von Dingen sind. Zielursachen sind nur Vorgänge der Selbsterhaltung von Dingen. Im übrigen finden sich diese Ursachen zumeist nicht real, sondern in der Regel als bloß gedacht. Diesen Meinungen entgegen lautet die realistische Überzeugung von der Wirkursache wie folgt: „Die Realgeltung des Begriffs der Wirk-Ursache steht aus dem Bewußtsein fest, in dem wir uns selbst – namentlich in den Willenserlebnissen – als Bewirker unserer Akte erfahren. Darum besteht die Vorstellung der Kausalität nicht, wie Hume annahm nur auf der Umdeutung eines regelmäßigen Nacheinander in einen inneren Zusammenhang der Vorgänge, und der Begriff der Ursache ist auch nicht, wie Kant wollte, nur eine Verstandeskategorie. Die Einsicht in das Kausalitätsprinzip gibt uns die Möglichkeit, auch in der Außenwelt wahre Ursächlichkeit festzustellen.“135 Zur Zielursache heißt es: „Der Satz der Zielstrebigkeit ist leicht einsichtig für alles Wirken, das unmittelbar aus vernünftiger Überlegung hervorgeht.“ – „Der Satz der Zielsicherheit sagt darüber hinaus,
135 Viktor Naumann, Art. Ursache, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 425.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
daß das Ziel des Naturstrebens auch erreichbar ist; denn das Naturgesetz wäre ,sinnlos‘, wenn es sich auf ein völlig unmögliches Ziel richtete“.136 Aus der realistischen Überzeugung im Allgemeinen folgt, daß sich auch die Gesellschaft als Wirkung ihrer äußeren Ursachen erklärt. Dieser Lehrsatz ist nicht zu verwechseln mit der Meinung der herrschenden Gesellschaftslehre. Ihr zufolge ist die Gesellschaft nichts Hervorgebrachtes. Sie besteht von Anfang an. Die Gesellschaft ist humaner Natur, wie man sagen könnte. Was sich findet, sind allein Veränderungen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt in der Zeit. Für diese Ansicht ist die folgende gesellschaftsphilosophisch-soziologische Meinung beispielhaft: „Die um 1800 erfahrenen und gestalteten geschichtlichen Veränderungen vermitteln sich als Bilder des ,Fortschritts‘, der ,Umwälzung‘, aber auch des ,Aufbruchs‘, des ,Umschwungs‘ oder des ,Niedergangs‘. Nicht zufällig aktualisierte sich vor diesem Hintergrund im Wortfeld ,Wandel‘ die Bedeutung von ,verwandeln, verändern‘“. „Die Entwicklung der soziologischen Theorien sozialen Wandels ließe sich dahin zusammenfassen, daß die finalen Perspektiven teleologischer Entwürfe abgelöst wurden durch kausale Analysen der Faktoren und Impulse des Wandels.“137 „Die zahlreichen soziologischen Theorien zum sozialen Wandel versuchen, für eine Gesellschaft und ihre verschiedenen Teilbereiche . . . die Ursachen und Entwicklungstendenzen für die Herausbildung neuer sozialer Eigenschaften und höherer Grade der Kompliziertheit, Organisiertheit und Disparität oder Integration zu ermitteln.“138 Die Veränderung der bzw. einer Gesellschaft hat nichts mit dem Bewirken der bzw. einer Gesellschaft zu tun. Die herrschende Gesellschaftsphilosophie kennt nur jene, nicht diese Frage. Ihr ist das Problem fremd, wie die bzw. eine Gesellschaft ins Dasein kommt. Die vorliegende Untersuchung besaß indessen bereits Gelegenheit, die Thematik zu streifen. In der Bestimmung der humanen Existenz als menschliche Existenz-Gestalt und als gesellschaftliche ExistenzGestalt wurden auch deren Seinsverhältnisse als reale Differenz und als intentionale Identität einerseits und als Verwirklichungsverhältnisse andererseits benannt, die als wechselseitige Kausalität real sind. An diese existentielle Kausalität darf erinnert werden.139 Sie ist des näheren zu bestimmen, insbesondere in ihrer Form als Kausalität der Gesellschaft, also als ihr Hervorgebrachtwerden. „Kausalität bedeutet den Einfluß der Ursache auf ihre Wirkung und die sich darauf begründende Beziehung. Gewöhnlich meint man dabei den wirkursäch136 Josef de Vries, Art. Finalitätsprinzip, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 109. 137 Eckart Pankoke, Art. Wandel, sozialer, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, Basel 2004, Sp. 318 f. 138 Karl-Heinz Hillmann, Art. Wandel, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 919. 139 Vgl. oben § 9 Abschnitt A.
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lichen Zusammenhang; so, wenn man der Kausalität die Finalität entgegensetzt.“140 „Finalität besagt die Ausrichtung eines Seienden in Struktur und Funktion auf ein Ziel, in dem das Seiende seine wesensgemäße Erfüllung und Vollendung, aber auch das ,Ende‘ seines Werdens findet.“141 An Graden der Kausalität werden die physische und die existentielle Kausalität unterschieden. Die existentielle Kausalität besteht als psychische und als soziale Kausalität. Jene ist wirksam kraft der Natur der menschlichen Existenz-Gestalt, diese ist wirksam nach der Natur der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Die existentielle Kausalität gründet in der humanen Existenz als reale Differenz und als intentionale Identität. Diese ist die Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung der Gesellschaft bzw. umgekehrt der Hervorbringung des Menschen als Realität. Zu deren Bewirken bedarf es jeweils einer Mehrzahl von Menschen, die wirkursächlich bereit sind und zielursächlich übereinstimmen. Die wirkursächliche Bereitschaft besteht im Vermögen des Erkennens, des Strebens und des Fühlens, insbesondere in deren geistigen Formen als Denken, Wollen und Bewegtsein. Die beständige intentionale Identität der Existenz-Gestalten der humanen Existenz hat zur Folge, daß auch das wechselseitige Bewirken ununterbrochen besteht. Die Erkenntnis besagt, daß zu jeder Zeit und an jedem Ort Menschen die bzw. eine Gesellschaft hervorbringen können und daß umgekehrt die bzw. eine Gesellschaft sich immer und überall in Menschen auflösen kann. Erfahrung und Einsicht lehren jedoch, daß das nicht der Fall ist. Aus diesem Grund ist es nötig, an einen Einschluß zu erinnern, der in der existentiellen Kausalität waltet. Er dient der Erhaltung der einen und der anderen ExistenzGestalt bis auf weiteres. Schnell nämlich wechselt die humane Existenz vom Menschen oder der menschlichen Existenz-Gestalt in die Gesellschaft oder in die gesellschaftliche Existenz-Gestalt sowie wiederum umgekehrt von der Gesellschaft zum Menschen. Als Gemeinwesen braucht man sich – im Grenzfall – nur als Mensch zu „denken“, um solitär zu sein, wie man sich umgekehrt als mit andern Menschen zusammen zu sein nur zu „denken“ braucht, um solidarisch zu sein. Deswegen heißt es zurecht: „Eine besondere Form der Kausalität ist die Auslösung, bei der durch einen Anstoß oder die Beseitigung einer Sperre eine andere, schon in Bereitschaft befindliche Ursache einen Vorgang bewirkt.“142 Die Bewirkung der Gesellschaft kennzeichnen also die folgenden Merkmale. Erstens ist sie ausgezeichnet durch die intentionale Identität der humanen Existenz; zweitens durch eine Mehrzahl von Menschen, deren wirkursächliches 140 Viktor Naumann, Art. Kausalität, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 195. 141 Adolf Haas, Art. Teleologie, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 396. 142 Viktor Naumann, Art. Kausalität, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien, 199622, S. 196.
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Vermögen ihr Zusammensein zum Ziel hat; drittens durch die damit einhergehende Aufhebung des Existierens in der menschlichen Existenz-Gestalt. Ob die als Wirkung hervorgerufene Gesellschaft erhalten bleiben soll, ist eine Frage, die sich mit dem Beginn ihrer Existenz stellt. Deswegen muß man nach den Beweggründen forschen, die zur Verwirklichung der bzw. einer Gesellschaft geführt haben. Beweggrund im engeren und damit im eigentlichen Sinn ist ein vorgestellter Wert, der als Zielursache ein Streben begründet. Als Beweggrund, der zur Ursache führt, die die Gesellschaft bewirkt, nennt die realistische Gesellschaftsphilosophie drei Anlässe. Die ersten beiden sind einander entgegengesetzte Urteile, der dritte ist eine vermittelnde Annahme. Nach dem ersten Beweggrund verwirklicht die menschliche Existenz-Gestalt die Gesellschaft als Mittel ihrer Zwecke. Nach der zweiten erklärt sich die Verwirklichung der Gesellschaft aus der Bedürftigkeit der menschlichen Existenz-Gestalt. Nach dem dritten heißt es, daß der Mensch der Gesellschaft zwar nicht bedarf, aber auf sie doch hingeordnet ist. Des genaueren aufgewiesen, lauten diese Beweggründe der Hervorbringung der Gesellschaft wie folgt: „1. Man hält den Menschen für in sich selbst vollendet, so daß er nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit (Vorteile der Arbeitsteilung und dergleichen) sich vergesellschaftet; der Einzelmensch ist alles, die Gesellschaft bloß Mittel ohne Eigenwert“. – „2. Umgekehrt sieht man den Menschen als etwas in sich Unfertiges und Unselbständiges, das erst als Glied der Gemeinschaft einen Wesenssinn und Daseinszweck empfängt; die Gemeinschaft ist alles, der einzelne als solcher ermangelt des Eigenwertes“; – „3. Der Einzelmensch besitzt den unverlierbaren Eigenwert der sittlichen Person, der ihn niemals bloßes Mittel zu einem Zweck . . . sein läßt. Nichtsdestoweniger ist er kein in sich abgeschlossenes, sondern ein wesenhaft auf die Gemeinschaft bezogenes Wesen.“143
Wie sind diese Auffassungen der Beweggründe, die zur Verwirklichung der Gesellschaft führen, zu beurteilen? Zur ersten Meinung: Prüft man sie genau, ist festzustellen, daß sie die Realität der Gesellschaft verkennt. Die gesellschaftliche Existenz-Gestalt ist kein Mittel für Zwecke der menschlichen ExistenzGestalt. In dieser Meinung wird das humane Zusammen von zuständlichen Selbständen nur als ein irgendwie abhängiges Geflecht gedacht, das sich humanen zuständlichen Selbständen verdankt. Anders ausgedrückt: Die Gesellschaft besteht in Beziehungen, die Menschen unterhalten, soweit sie ihnen nützlich sind. Der genannte Beweggrund ist kein Beweggrund der Verwirklichung der Gesellschaft. Zur zweiten Meinung: Sie spricht die gesellschaftstheoretisch vorherrschende Ansicht aus. Nach ihr ist die menschliche Existenz-Gestalt „unfertig“ und „un-
143 Oswald von Nell Breuning, Art. Gesellschaftsphilosophie, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 141.
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selbständig“. Erst im Zusammensein erreicht der „Mensch“ das, was er sein soll und schließlich ist. Sein sogenannter Eigenwert besteht in der Ausbildung seiner Fähigkeiten und ihres Gebrauchs im Leben, was besagt: Im Zusammenleben. Beim bereits zitierten Immanuel Kant (1724–1804) heißt es: „Zunächst“ existieren die Menschen in einem „arkademischen Schäferleben“. Damit es sein Ende findet, hat die Natur in dieses Leben einen Wettstreit hineingetragen. Er dient den Menschen, um „die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen“144. Denn erst in der Gesellschaft wird der Mensch zum Menschen. Also wird behauptet, daß die Gesellschaft keinen äußeren Ursprung besitzt. Die Gesellschaft ist die humane Existenz, die aus sich die Gesellschaft bildet. Sie ist eine generatio aequivoca, d.i. eine Urzeugung. Diese Meinung widerstreitet der Erfahrung und schließlich der Einsicht, daß die Gesellschaft im Ganzen und zumal in ihren Teilen als Wirkung einer menschlichen Ursache besteht. Geselligkeiten werden von Menschen ins Leben gerufen. Aus den unzutreffenden Auffassungen des zum ersten und zum zweiten genannten Beweggrundes der Verwirklichung der Gesellschaft erklärt sich seine dritte Benennung. Ihr zufolge ist die menschliche Existenz-Gestalt ein „unverlierbarer Eigenwert“. Jedoch ist der Mensch „kein in sich abgeschlossenes Wesen“. Er ist vielmehr „auf die Gemeinschaft bezogen“. Der Schlüsselbegriff dieses Urteils ist der des Bezuges. Im strengen Sinn meint dieser Name jedoch nur das Verhältnis des einen Menschen zum anderen Menschen. Er benennt also gerade nicht das Zusammensein. Allein in diesem Sinn aber besteht die Gesellschaft. Die Prüfung der herkömmlichen gesellschaftsphilosophischen Beweggründe zur Verwirklichung der Gesellschaft hat ergeben, daß sie den Sachverhalt verkennen. Der Beweggrund der Verwirklichung der Gesellschaft findet sich allein in der menschlichen Existenz-Gestalt als mit der Gesellschaft intentional identischer Gestalt, insofern sie entscheidungsfähig ist. Gegebenen, vorgegebenen und verfügbaren bzw. aufgegebenen Regeln gehorchend, heißt es über das Vermögen, nicht nur aussuchen, sondern entscheiden zu können: „Entscheidung“, „im strengen Sinn . . . die Urwahl, in welcher sich der Handelnde seine eigene grundsätzliche Wesens- und Sinnmöglichkeit für sein Leben als die für ihn notwendige erwählt, die damit die Bahn und den Umkreis für weitere Wahlmöglichkeiten vorzeichnet und sich in der so begründeten Lebensführung bewähren können muß; der fundamentalste und höchste Akt der Freiheit.“145:
144 Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), (Edition Meiner), Hamburg 1959, S. 8 f. 145 Max Müller/Alois Halder, Art. Entscheidung, in: dies. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Brsg. 1988, S. 78. – Vgl. zum Sich-Entscheiden für die gesellschaftliche Existenz-Gestalt z. B. Werner Ziegenfuß, Person und Transzendenz, in: Philosophische Studien, Heft 2–4, 1949, S. 19 f. sowie ders., Der soziologische Gestalt-
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Anders gesagt: Ihrer Natur nach steht die humane Existenz vor der Wahl, ob sie als menschliche oder als gesellschaftliche real sein soll. Einsamsein oder Gemeinsamsein heißen die Alternativen. Sie sind Verwirklichungsmöglichkeiten von gleichem Rang. Das Beisichsein hat seinen Selbstand und seine Zustände wie das Zusammensein seinen Selbstand und seine Zustände besitzt. Jenes ist anders als dieses, aber beide sind von vergleichbarer Vollkommenheit. Es mag zweckmäßig sein, abschließend an Beispielen wenigstens anzudeuten, wie die menschliche die gesellschaftliche Existenz-Gestalt einerseits hervorbringt und wie diese andererseits aufgehoben und damit zur menschlichen Existenz-Gestalt wird. Jedermann ist geläufig, daß beispielsweise Ehen ebenso geschlossen wie auch wieder geschieden werden. Die Beweggründe, die zu den Ursachen des Eheschlusses und der Eheauflösung führen, sind gesellschaftstheoretisch im einzelnen zu untersuchen. Nämliches gilt zum Beispiel von Vereinen. Menschen gründen immer wieder und vielerorts Verbände. Sie lösen sie aber auch wieder auf. Wenn die Erfüllung des Vereinszwecks erkannt wird, fällt das Zusammensein auseinander. Also kann es nicht überraschen, daß das Ins-Dasein-Bringen und ihr Zu-Ende-Kommen auch von Staaten gilt, die Gesellschaften herrschaftlich zusammenfassen. Bald werden Staaten ausgerufen, bald heben sie sich auf. Der zeitgenössischen gesellschaftstheoretischen Erkenntnis bietet sich ein spektakuläres Beispiel an. Gemeint ist die Deutsche Demokratische Republik. Aus hinreichenden Beweggründen, die laut geworden sind zum Beispiel in den Demonstrationen in Leipzig unter dem Namen „Wir sind das Volk“, bewirkte sie ihr Ende. Im Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 beschloß die staatlich geeinte ostdeutsche Gesellschaft ihre Auflösung. Zu diesem äußeren Bewirken einer Gesellschaft als ihrem Zu-Ende-Kommen hatte die zeitgenössische Gesellschaftslehre nichts zu sagen.
begriff, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 106, Heft 2, 1950, S. 248.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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Zweites Kapitel
Grundzüge der Allgemeinen Soziologie § 13 Die Soziologie als einzelwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft A. Die wissenschaftlich verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Gesellschaft I. Der Ausdruck der Gesellschaft im gesellschaftsphilosophischen und im soziologischen Sinn
Der Begriff der Gesellschaft benennt im philosophischen Sinn das humane Zusammensein zuständlicher Selbstände in seinem Aufbaugeschehen und in seinem Aufbaubestand. Im soziologischen Begriff der Gesellschaft wird nicht die in ihrem Aufbau begriffene, sondern die aufgebaute Gesellschaft gedacht. Die voraufliegende Untersuchung war philosophischer Natur. Sie hat sich mit den Gründen befaßt, die zum Bestand der Gesellschaft führen. Die nachfolgenden Bemühungen zielen auf das Erkennen einer aufgebauten Gesellschaft. Sie sind also nicht philosophischer, sondern einzelwissenschaftlicher, d.h. soziologischer Natur. In der Darstellung der philosophischen Erkenntnisgestalten der Gesellschaft wurde der Unterschied zwischen der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Erkenntnis bereits erwähnt. Dies geschah in erkenntnissystematischer und in erkenntniskritischer Absicht. Diese Erörterung bedarf der Vervollständigung. Sie besteht in der Vereindeutigung des Ausdrucks der Gesellschaft im realistischen Sinn. Es wurde gesagt, daß der Ausdruck Philosophie der Gesellschaft die Gesellschaft in ihren letzten Gründen meint, der Ausdruck Soziologie dagegen die Gesellschaft in ihren nächsten Gründen. Ihren Ursprung hat diese Unterscheidung in der Lehre vom Begriff. Man muß sie bemühen, wenn Klarheit darüber erreicht werden soll, worin die Gesellschaftsphilosophie und die Soziologie sich unterscheiden. Die herrschende Meinung, nach der die Philosophie der Gesellschaft „doktrinär“ – bzw. als Ethik – und die Soziologie „empirisch“ beschaffen ist, geht an der Problematik vorbei. II. Der Unterschied zwischen dem Umfang und dem Inhalt eines Begriffs
Nach der Überzeugung des Realismus wird in einem Begriff das Was-Sein von Etwas gedacht. Verschiedene Merkmale kennzeichnen diese einfachste Form des Denkens. Sie ist insbesondere verschieden vom Urteil und vom Schluß. Zu den zahlreichen Merkmalen, die einen Begriff auszeichnen, zählt, daß er seinem Umfang und seinem Inhalt nach verschieden ist. Andeutungsweise war hiervon schon die Rede.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
„Bei jedem Begriff unterscheidet man Inhalt und Umfang. Der Inhalt des Begriffs ist die Gesamtheit der in ihm gedachten Merkmale, der Umfang die Gesamtheit der Gegenstände, von denen der Begriff aussagbar ist. Im allgemeinen gilt: Je reicher der Inhalt des Begriffs, desto geringer ist sein Umfang, und umgekehrt.“146
Mit anderen Worten gesagt und auf den Begriff der Gesellschaft bezogen, heißt das: Ein inhaltsvoller Begriff der Gesellschaft, also ein Begriff der Gesellschaft, in dem viele Merkmale gedacht werden, ist in seinem Umfang gering. Er ist womöglich der Begriff nur einer, also nur dieser bestimmten Gesellschaft. Umgekehrt ist ein umfangreicher Begriff der Gesellschaft ein Begriff, in dem das Was-Sein vieler, ja womöglich aller Gesellschaften gedacht wird. Entsprechend gering bedacht sind die Merkmale der vielen bzw. der einzelnen Gesellschaften. Die Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Umfang des Begriffs der Gesellschaft schlägt sich nieder in der Verbindung zwischen den verschiedenen Erkenntnisgestalten und den erkenntnissystematischen Absichten der universalwissenschaftlichen und der spezialwissenschaftlichen Grund- und Lehrsätze. Die theoretische gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis ist ordnungsbedürftig. III. Der weite und deshalb inhaltsarme Begriff der Gesellschaft in der Gesellschaftsphilosophie
Der Begriff der Gesellschaft, wie die Philosophie ihn verwendet, ist dem Umfang nach weit, dem Inhalt nach arm. Er benennt die Gesellschaft überhaupt oder, wie man ebenso sagen könnte, die Gesellschaft schlechthin. Man ist versucht, auch von der Gesellschaft im Allgemeinen zusprechen. Dieser Ausdruck ist jedoch mehrdeutig. Auch die einzelwissenschaftliche Erkenntnis gebraucht ihn vernünftig. Die Erkenntnis der Gesellschaft überhaupt ist deren Erkenntnis aus letzten Gründen. Im Realismus nennt man sie Seinsprinzipien bzw. Seinsprinzipien erster Ordnung. Sie sind das, warum und wodurch Etwas ursächlich letztlich bewirkt wird. Bewirktwerden bezeichnet das Aufbaugeschehen einerseits und das erreichte Ziel andererseits, also den Aufbaubestand. Als Aufbauanfänge der Gesellschaft erwiesen sich hinsichtlich ihres Bestandskerns das, was sie in ihrer Endlichkeit und ihrer Körperlichkeit bestimmt; hinsichtlich ihrer Bestandsfülle das, worin sie ungegenständlich und worin sie gegenständlich erscheint; deren Verhältnis ist das Verhältnis von Selbstand und Zustand bzw. von An-sich-Sein und Erscheinung. Als äußerer Anfang des Aufbaus der Gesellschaft wurden die existentiellen Wirk- und Zielursachen benannt.
146 Josef de Vries, Art. Begriff, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 40.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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Der weite philosophische Begriff der Gesellschaft sieht also ab vom Bestand dieser und jener Gesellschaft. Natürlich sind ihre Beschaffenheiten die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Gesellschaft überhaupt. Als diese beschäftigen sie jedoch nicht die Philosophie der Gesellschaft. Sie hat das humane Zusammensein von zuständlichen Selbständen in ihren Beständen im Blick. Sie strebt nach der Erkenntnis der letzten Gründe der Gesellschaft. IV. Der inhaltsreiche und deswegen umfangarme Begriff der Gesellschaft in der Soziologie
Die Soziologie unterscheidet sich von der Philosophie der Gesellschaft dadurch, daß sie danach trachtet, eine Gesellschaft zu erkennen. Dieser Ausdruck der Gesellschaft bezeichnet den Unterschied zur Gesellschaft überhaupt bzw. zur Gesellschaft schlechthin. Der Name eine Gesellschaft meint die einzelne Gesellschaft. Sie ist die jeweils aufgebaute Gesellschaft. Sie ist diejenige Gesellschaft, die real existiert. Im modernen Wissenschaftsverständnis ist vor allem sie der Erkenntnis würdig. Ein ausdrücklicher Bezug auf die Bedingungen ihres Aufbaus und ihres Aufbauergebnisses ist nicht nötig. Sie wird als vorhanden aufgefaßt, womit es sein Bewenden hat. Eine Bezugnahme auf die Bedingungen ihres Aufbaus und ihres Aufbaubestandes erscheint als überflüssig. Der Verzicht auf die Ausbildung dieser Erkenntnis erklärt sich aus dem Vorrang des nützlichkeitsorientierten einzelwissenschaftlichen Erkennens, wie es die Neuzeit ausgebildet hat. Die einzelwissenschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft arbeitet mit einem inhaltsreichen, dafür aber dem Umfang nach beschränkten Begriff. Sie begnügt sich zum ersten mit der Erkenntnis des physischen Wesensgrundes der Gesellschaft. Dieser Begriff besteht – um mit Kant zu sprechen – als ein Grenzbegriff der realistischen Erkenntnis. Zweitens: Unter den Bedingungen der weit aufgefaßten Erfahrung ist das, was er meint, der Einsicht irgendwie zugänglich. In ihm wird der „Träger“ der Eigenschaften der Gesellschaft gedacht. Diese bestehen als Erfahrungen der Eigentümlichkeiten der Gesellschaft, die ontologisch Zustände von Selbständen heißen. Dieser Zusammenhang macht verständlich, warum die einzelwissenschaftliche Soziologie auf die Erkenntnis der nächsten Gründe einer Gesellschaft zielt. Die letzten Gründe der Gesellschaft, d.h. der Gesellschaft überhaupt, interessieren sie nicht. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, also terminologisch, sollte man achtsam umgehen. Die folgenden Unterscheidungen sind in der theoretischen Erkenntnis der Gesellschaft vonnöten. Erstens: Die Philosophie der Gesellschaft betrachtet die Gesellschaft überhaupt. Zweitens: Von ihr ist die Gesellschaft als eine bzw. als diese Gesellschaft unterschieden. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung existiert sie nicht nur „empirisch“, sondern auch „intelligibel“. So beschaffen ist sie real zum Beispiel als Gesellschaft des Altertums, als Ständege-
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
sellschaft des Mittelalters, als bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit, usw. Einzelwissenschaftlich verstanden ist die Gesellschaft ein humanes Zusammensein zuständlicher Selbstände = eine Vergesellung = eine Gesellschaft. Der Begriff der Gesellschaft, wie die Philosophie ihn kennt, ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Gesellschaft, wie die Soziologie ihn kennt. Der Name der Gesellschaft bezeichnet die folgenden Bestände und Rücksichten ihrer Erkenntnis: (1) Die Philosophie der Gesellschaft kennt die Gesellschaft als Gesellschaft überhaupt. Diese Auffassung kann (1.1) formal vom Allgemeinen (Generellen) her oder (1.2) konkret vom Besonderen (Speziellen, wenn nicht Individuellen) her ausgebildet sein. (2) Die Soziologie kennt die Gesellschaft in diesem Sinn nicht. Sie kennt sie als eine Gesellschaft. Sie existiert als diese und als jene Gesellschaft. Ihr kann sich die Erkenntnis (2.1) formal zuwenden oder (2.2) konkret. Im ersten Fall faßt sie eine Gesellschaft begrifflich-abstrakt auf, im zweiten Fall so, wie sie sich in der Anschauung darbietet und beschreiben läßt. Der Ausdruck, die Gesellschaft findet sich somit im philosophischen wie im einzelwissenschaftlichen Erkennen der Gesellschaft. Den Ausdruck eine Gesellschaft gibt es nur in deren fachwissenschaftlichem Erkennen. Er wird unterschieden in den Begriffen diese Gesellschaft und die Gesellschaft. Jener Ausdruck benennt eine Gesellschaft anschaulich-beschreibend, dieser Ausdruck benennt eine Gesellschaft begrifflich-abstrakt. Unbedachtsamkeiten im gesellschaftstheoretischen Sprachgebrauch führen zu Verwirrungen. Diese Verfehlungen finden sich vor allem in der Rede von der Gesellschaft im Sinn der Gesellschaft überhaupt (= die Gesellschaft) und der Gesellschaft im Sinn einer bestimmten (= besonderen/einzelnen) Gesellschaft, die im Allgemeinen studiert wird. V. Die Ausrichtung der Grundfragen der Allgemeinen Soziologie nach den Grundfragen der Philosophie der Gesellschaft
Die Grundfragen der Allgemeinen Soziologie entsprechen den Grundfragen, wie sie die Philosophie der Gesellschaft stellt und zu beantworten versucht. Allerdings sind die philosophischen Problemfelder umfangreicher als die der Allgemeinen Soziologie. Aus diesem Befund der Gleichheit einerseits und der Verschiedenheit andererseits ergibt sich eine Ähnlichkeit der Grundfragen der Philosophie der Gesellschaft mit denen der Allgemeinen Soziologie. In ihrer Zahl und zumal in ihrer sachlichen Anordnung stimmen sie überein. In ihrer Gegenständlichkeit und deswegen in ihrer Erkenntnis sind sie anders beschaffen. Deswegen tragen die Grundfragen der Allgemeinen Soziologie andere Namen als die Grundfragen der Philosophie der Gesellschaft. Die folgenden, hiermit vorgeschlagenen systematischen Benennungen könnten hilfreich sein.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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Tafel der ursprünglichen Gegenstände der Erkenntnis einer aufgebauten Gesellschaft durch die Allgemeine Soziologie Der physische Wesensgrund einer Gesellschaft als (1) Seinsweise:
Verbindlichkeit → Verwirklichungsschema ← MenschenMehrzahl
(2) Beziehung von Vermittlung Form und Inhalt:
→
Mitwelt
l Eine Gesellschaft in ihren Eigenschaften
← Gehalte des Lebens und des Geistes menschlicher ExistenzGestalten
Weiterbestimmung einer eigentümlich bestimmten Gesellschaft
– im Bezug auf ihren Wesensgrund: – als diese, d.h. in (3) ungegenständlichen Eigenschaften:
↓ Ichhaftes Wissen um eine Gesellschaft
(4) gegenständlichen Eigenschaften:
Sachhafter Aufbau einer Gesellschaft
Das Ins-Dasein-Bringen einer Gesellschaft (5):
↑ Äußeres Bewirken einer Gesellschaft
Im Sinn des physischen Wesensgrundes, also des Wesensgrundes einer Gesellschaft, wie er der Erfahrung zugänglich ist, bilden den Bestandskern einer Gesellschaft (1) ihre Seinsweise und (2) die Beziehung zwischen ihrer Form und ihrem Inhalt. Seinsweise ist das, was als Wirkverhältnis zwischen der waltenden Verbindlichkeit und der vorhandenen Menschen-Mehrzahl besteht. Einmal hergestellt, ist es das Verwirklichungsschema einer Gesellschaft. Das ist das Ganze der Bedingungen ihrer Ausgestaltung. Sodann gehört zum Bestand einer Gesellschaft die Beziehung zwischen ihrer Form und ihrem Inhalt. Der Name Form besagt die Vermittlung, also das Binden von Verbindbarem. Der Name Inhalt besagt das Vermittelte. Das sind die natürlich und geistig tätigen menschlichen Existenz-Gestalten. Deren Verhältnis begründet die Welt der humanen Existenz als Mitwelt. Eine dergestalt in ihrem Kern beschaffene Gesell-
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
schaft erreicht ihre Fülle in ihren Eigenschaften. Eigenschaften sind Folgebestimmungen von Eigentümlichkeiten. Sie bestehen mit der Gesellschaft von Anfang an. Die Eigenschaften finden sich (3) als ungegenständliche Eigenschaften. Sie sind wahrnehmbar im ichhaften Wissen um eine Gesellschaft. Dieses Wissen besitzen wesentlich diejenigen Angehörigen, die ihre Gesellschaft bilden. Sodann wird eine Gesellschaft (4) gekennzeichnet durch gegenständliche Eigenschaften. In ihnen besteht der sachhafte Aufbau einer Gesellschaft. Er wird durch erfahrbare Regeln erfaßt, die die Ausformung und den Zweck einer Gesellschaft bestimmen. Endlich ist eine Gesellschaft (5) als äußerlich ins Dasein gebracht zu erfassen. Nicht wenige Allgemeine Soziologien greifen diese Frage nach dem bewirkten Anfang einer Gesellschaft auf. B. Das soziologische Erkennen der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft als Regelfall der herrschenden soziologischen Erkenntnis Die voraufliegenden Untersuchungen boten viele Gelegenheiten, über den Wissenschaftscharakter der Soziologie zu sprechen. Er wurde als einzelwissenschaftliches Erkennen der Gesellschaft bestimmt und begründet. Des Genaueren ist die Soziologie das Erkennen dieser und jener Gesellschaft aus ihren jeweiligen Gründen. Der Unterschied zwischen den einzelnen Gesellschaften erklärt sich aus den Bedingungen sowie aus den Zielen und den Mitteln der Verwirklichung der gesellschaftlichen Existenz-Gestalten. Im Horizont der engeren eigenen Erfahrungen werden der Zeit und dem Raum nach verschiedene Gesellschaften unterschieden. Zu ihnen zählen insbesondere die polis-Gesellschaft(en) der griechisch bestimmten Regionen, die res publica-Gesellschaft des Imperium Romanum und der orbis christianus der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Sie findet ihr Ende in der heraufkommenden Neuzeit. Die neuen Gründungen sind national gewendete Existenz-Gestalten der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft des Dritten Standes. Er ist es, der sich als bestimmende Kraft gegenüber dem ersten Stand, dem Adel, und dem zweiten Stand, der Geistlichkeit, durchsetzt. Nicht mehr adelig und nicht mehr geistlich zu leben, sondern bürgerlich, begründet eine neue gesellschaftliche Welt.147 In ihr wird das Zusammenleben in umfassender Weise anders. Nach dem Gesichtspunkt des Urteilens erhält diese Gesellschaft alsbald verschiedene Namen. Vor allem wird sie als moderne, als industrielle oder als kapitalistische Gesellschaft bezeichnet. Die Gestaltungsprobleme der neuen Gesellschaft lassen eine Erkenntnisweise entstehen, die – jedenfalls ausdrücklich – neu ist. Auguste Comte (1798–1857) 147
Vgl. z. B. Werner Ziegenfuß, Die bürgerliche Welt, Berlin 1949, insbes. S. 81 f.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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gibt ihr 1839 den Namen. Sie heißt Soziologie. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wird sie zur etablierten akademischen Disziplin. Maßgeblich weiß sie sich der bürgerlichen Gesellschaft verbunden, wenn nicht eben mehr: Daß sie auf diese Gesellschaft bezogen bleibt. In einem Beitrag zur Begründung der Soziologie ist das folgende zu lesen. „Die Soziologie ist aus der Frage nach einer Deutung und Überwindung der Krise der abendländischen Gesellschaft zur Zeit der Französischen Revolution und des beginnenden Industrialismus entstanden. Unter dem Einfluß der Aufklärung und des Liberalismus trat sie mit dem Anspruch einer problemlösenden Krisenwissenschaft auf, aber auch als ,Oppositionswissenschaft‘ . . . des aufstrebenden Bürgertums, das gegenüber der feudalistisch-absolutistischen Herrschaftsordnung der zerfallenden Ständegesellschaft zur politischen Emanzipation drängte.“148
Die Soziologie bringt also zum einen die neuartigen Fragen des Zusammenlebens zum Ausdruck, mag dies in „helfender“ oder in „oppositioneller“ Absicht geschehen. Aber sie begnügt sich nicht mit dieser Vergegenwärtigung. Zum zweiten überschreitet sie die Abbildung sozialer Probleme. Maßgeblich geschieht dies durch ihre Benennung. Die Soziologie gibt den Verhältnissen in der neuen Gesellschaft ihre Namen. Die Soziologie findet ihre Aufgabe nicht darin, diese und jene Gesellschaft sine ira et studio zu erkennen, sondern darin, in einer Gesellschaft mitgestaltend tätig zu sein, die sie hervorgebracht hat. In der Folge verengt sich die Soziologie zur Wissenschaft von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren verschiedenen Ausgestaltungen. Diese Beschränkung auf die Erkenntnis nur einer Gesellschaft, statt offen zu sein für die Erkenntnis jeder Gesellschaft, bleibt nicht unbemerkt. Zum Beispiel kann man das folgende lesen: „Soziologie und industrielle Gesellschaft stehen in einer höchst merkwürdigen Wechselbeziehung. Einerseits ist die Soziologie ein Kind der industriellen Gesellschaft; im Gefolge der Industrialisierung trat sie auf den Plan und gewann sie Bedeutung. Andererseits ist die ,industrielle Gesellschaft‘ selbst ein Lieblingskind der Soziologie; ihr Begriff darf als Produkt der modernen Sozialwissenschaften gelten.“149 Wie es scheint, ist die herrschende Soziologie bis auf den heutigen Tag auf ein Erkennenwollen der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft fixiert. In letzter Einseitigkeit hat Helmut Schelsky (1912–1984) von der Soziologie als einer „Gegenwartswissenschaft des Sozialen auf Dauer“150 gesprochen. Offener ist die Soziologie als „Soziologie der industriellen Gesellschaft“. Unter diesem
148 Karl-Heinz Hillmann, Art. Geschichte der Soziologie in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19964, S. 276. 149 Ralf Dahrendorf, Soziologie und industrielle Gesellschaft, in: ders., Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 14. 150 Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf/Köln 1959, S. 85.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
Stichwort findet sich ein erschöpfender Katalog der Probleme der modernen wie der sogenannten postmodernen Gesellschaft. „Industriegesellschaft . . ., eine technisch-wirtschaftlich hochentwickelte Gesellschaft“. – „Die Industriegesellschaft hat die relativ statische, traditionsgeleitete und hauptsächlich agrarisch-handwerklich ausgerichtete Gesellschaft . . . abgelöst. Wesentlich ist die Entfaltung technisch-wirtschaftlich verwertbarer Erfahrungswissenschaften und im Zusammenhang mit fortschreitender Säkularisierung die Ausbreitung eines säkularen Wertsystems, das Fortschritt und Innovation hoch bewertet. Technischer Fortschritt, Leistungs- und Erfolgsstreben, die Steigerung der Produktivität . . . und Wirtschaftswachstum bilden entscheidende Voraussetzungen für die Steigerung des Lebensstandards, für Massenwohlstand und Konsumdynamik . . . Charakteristisch sind der beschleunigte soziale Wandel, die Ausdifferenzierung funktionsspezifischer gesellschaftlicher Subsysteme . . ., die weitgehende räumliche Trennung von Familie und Wohnen einerseits, Erwerbsarbeit und betrieblicher Arbeitsstätten andererseits, Funktionsverluste der Familie und Verwandtschaft, die Herausbildung neuer Berufe und steigender Leistungsanforderungen, erhöhte vertikale und horizontale Mobilität . . ., die Entstehung großstädtischer Ballungsgebiete . . ., der Ausbau der sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Sicherung, eine verstärkte Tendenz zum individualistisch-hedonistischen Lebensstil.“151
Der zitierte Problemkatalog wird wieder und wieder aufgegriffen, bald eingeschränkt, bald ausgeweitet und unter aktuellen Gesichtspunkten stets aufs neue so und auch anders traktiert. Die herrschende Soziologie ist eine Soziologie der bürgerlichen, der industriellen, der kapitalistischen, usw. Gesellschaft. Ihre Themen überschwemmen die Soziologie.152 Sie sieht sich der Frage ausgesetzt, und sie behandelt sie gern: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?153 Indem sie diesem Tagesgeschehen hinterherläuft, verliert sie die Grundfragen ihrer Erkenntnis aus dem Blick. Als nur noch irgendwie mitbehandelte Fragen lassen sie sich aufspüren. Sie seien deswegen ins Gedächtnis gerufen: (1) Worin besteht die Seinsweise einer Gesellschaft? (2) Wie verhalten sich Form und Inhalt in ihr zueinander? (3) Welches ichhafte Wissen hat eine Gesellschaft von sich selbst? (4) Wie beschaffen ist der sachhafte Aufbau der gemeinten Gesell151 Karl-Heinz Hillmann, Art. Industriegesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19964, S. 362. 152 Vgl. z. B. Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer (Hrsg.), Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie, München 2001; die neuzeitliche Gesellschaft wird in alphabetischer Reihenfolge behandelt als Agrargesellschaft/Arbeits- und Industriegesellschaft/Bürgerliche Gesellschaft/Kapitalistische Gesellschaft/Klassengesellschaft/ Massengesellschaft/Moderne Gesellschaft/Nationalgesellschaft/Organisationsgesellschaft/Säkularisierte Gesellschaft/Technikgesellschaft/Totalitäre Gesellschaft/Wissensgesellschaft/Wohlfahrtsgesellschaft/Überflußgesellschaft. 153 Vgl. z. B. Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnose, München 1997; Armin Pongs (Hrsg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich. Band 1, München 1999; Band 2, München 2000; Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hrsg.), Soziologische Zeitdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000 sowie Soziologische Zeitdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Wiesbaden 2002.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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schaft? Und (5) Wodurch wurde diese Gesellschaft in ihrem äußeren Aufbau (Abbau) bewirkt?
§ 14 Formen der Allgemeinen Soziologie A. Die in sogenannten Ansätzen ausgebildete „Allgemeine“ Soziologie der eigenen Gesellschaft Der Name der Allgemeinen Soziologie, wie er üblicherweise verwendet wird, ist mehrdeutig. Weder benennt er klar ihre Merkmale, noch kennzeichnet er deutlich den Unterschied zu anderen Formen des soziologischen Erkennens. Es dürfte an diesem mißlichen Zustand liegen, daß zur Bezeichnung der allgemeinsoziologischen Erkenntnis in der gesellschaftswissenschaftlichen Sprache ein nichtssagender Ausdruck gefunden wurde und sich durchgesetzt hat. Der Name heißt Ansatz. Als Ansatz wird in der Regel etwas erkenntnistheoretisch Subjektives gemeint. Mitunter bezeichnet der Name aber auch etwas Objektives. Dieses Objektive ist nicht diese bzw. die gemeinte Gesellschaft, sondern einer ihrer Bereiche. Er besteht in einem material oder formal besonderen gesellschaftlich beschaffenen Gegenstand. Subjektiv benennt der Name Ansatz den Willensakt und die ihm folgende Erkenntnistätigkeit einer soziologischen Forscherpersönlichkeit. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahl wendet sie sich etwas Gesellschaftlichem in der Gesellschaft zu. Begründet ist die Haltung im spontanen Bewußtsein bzw. Denken. Werden diese nicht auf die Verantwortung bezogen, die das erkennende Subjekt bindet, ist die Spontaneität nichts als Willkür. Willkür heißt im vorliegenden Zusammenhang Bestimmung des Denkens durch den Willen. Von Ansätzen ist in der soziologischen Literatur die Rede, wenn man benennen will, daß eine Gesellschaft aus bestimmten Blickwinkeln betrachtet wird. Es liegt in der Natur des Willens, sich durchzusetzen. Was durch ihn bestimmt wird und soziologisch Anerkennung findet, ist ein maßgeblicher soziologischer Ansatz. Das, was zunächst eine Privatsache war, wird zu etwas Öffentlichem. Wie es zu diesem Umbruch kommt und insbesondere, ob der jeweilige Ansatz begründet ist, bleibt unbekannt. Willensenergien dürften entscheidend sein, weshalb unter deren Macht nicht nur Sachliches, sondern auch Unsachliches Beachtung findet. Unter den zahlreich vorliegenden Zusammenfassungen der genannten Meinungen entsprechend dem jeweiligen Ansatz sei auswahlweise eine des näheren ins Auge gefaßt. Man muß nicht alles abtragen, wenn der Probefall genügt. Sie ist eine illustre Darstellung des gegenwärtigen Bestandes der Allgemeinen Soziologie. Sie nennt sich Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. Natürlich legt dieser Titel die Annahme nahe, daß diese „soziologische Theorie“ die Grundfragen zumindest der eigenen Gesellschaft erfaßt, formuliert und beantwortet. Aber die Enttäuschung ist groß. Ohne daß Ord-
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
nungsgesichtspunkte des Erkennens, geschweige denn der Gegenständlichkeit ausgewiesen werden, zählt die Untersuchung nur die Hauptvertreter der (Allgemeinen) Soziologie auf. Nachstehend sei der bunte Pluralismus der Forscherpersönlichkeiten und ihrer vermeintlich allgemein-soziologischen Ansichten in Stichworten wiedergegeben. George Caspar Homans (1910–1989): Verhaltenstheoretische Soziologie; George Herbert Mead (1863–1931): Symbolischer Interaktionismus; Alfred Schütz (1899–1959): Phänomenologische Soziologie; Karl Marx (1818–1883): Materialistische Gesellschaftstheorie; Claude Lévi-Strauss (geb. 1908): Strukturalismus; Talcott Parsons (1902–1979): Handlungstheoretische Systemtheorie; Norbert Elias (1897–1990): Prozeß- und Figurationstheorie; Niklas Luhmann (1927– 1998): Sozialsysteme als selbstrefentielle Systeme; Jürgen Habermas (geb. 1929): Kritische Theorie sowie einige Vertreter der sogenannten postmodernen Soziologie.154 Wie die Erkenntnisse dieser „Allgemeinen Soziologen“ sich zu einander verhalten, geschweige denn, wie sie einen inneren Zusammenhang bilden, bleibt rätselhaft. Sie sind ein Allerlei, ein gesellschaftswissenschaftliches Kaleidoskop. Die aufgezählten Wiedergaben von Lehrmeinungen sind weit davon entfernt, das zu sein, was man begründet als Allgemeine Soziologie bezeichnet. Andererseits wird dieser Anspruch jedoch verspürt. Deswegen kennzeichnet der Blick auf die Werke ein Bemühen, ihnen irgendwie gerecht zu werden. Die Lösung der Aufgabe scheint sich im sogenannten Theorienvergleich anzubieten. Aber die Geschichte der Gesellschaftswissenschaften lehrt alsbald etwas Anderes. Die Erinnerung stellt sich ein, daß die „Aufzählung genau abgegrenzter theoretischer Ansätze praktisch unmöglich“ und „der Vergleich ausdifferenzierter Modelle ,zum Scheitern verurteilt und überflüssig‘ bzw. ,unmöglich‘“155 ist. Die Soziologie im Allgemeinen im Sinn dieses Namens scheint nicht begründbar zu sein. Deswegen muß man die Theorie hinter sich lassen und die Flucht in die Praxis antreten. Dann kann man sagen: „Für uns stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welchen hochgeschätzten Beitrag die Soziologie zum Bestand oder Wohlergehen einer modernen Gesellschaft leisten kann.“156 Natürlich ist diese Frage wissenschaftsethisch bedeutungsvoll. Mit der theoretischen Erkenntnis einer Gesellschaft bzw. der Gesellschaft hat sie jedoch nichts zu tun. Gegenüber einer Kompilation, wie der erwähnten, ist an die Begründer der Soziologie im Allgemeinen zu erinnern. Die meisten von ihnen waren nicht nur philosophisch gebildet, sondern in der Ausarbeitung der soziologischen Erkenntnis in hohem Maße diszipliniert. Zumeist hatten sie zielstrebig die Grundfragen 154 Vgl. Julius Morel u. a. (Hrsg.), Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter, München/Wien 1989/20017. 155 Julius Morel u. a. (Hrsg.), Soziologische Theorie, a. a. O., S. 289. 156 Julius Morel u. a. (Hrsg.), Soziologische Theorie, a. a. O., S. 305.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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der Allgemeinen Soziologie im Auge. Freilich fragten sie auf unterschiedliche Weise nach dem (modernen) gesellschaftlichen Bestand. Aber der Unterschied gründete in der zumeist nicht-reflektiert vorausgesetzten Kategorialität des Sozialen. Wie erinnerlich bilden die sozialen Existenzialien einen komplexen Aufbau. Um einen Beitrag zur Allgemeinen Soziologie zu leisten, ist der Bezug auf diese oder jene Kategorie ein unverzichtbarer Erkenntnisgrund. Er erschließt das Begreifen einer der Lebensweisen der (modernen) gesellschaftlichen ExistenzGestalt. Durch Beobachtungen lassen sich ihre Eigenschaften erkennen. Die erkenntnissystematische Ausrichtung der Beiträge ermöglicht eine Bestimmung der Verhältnisse unter den Erkenntniszusammenhängen. Ihre Zusammenfassung157 führt zu einem einigermaßen befriedigenden Bild von der Gesellschaft (der Gegenwart). B. Allgemein-soziologische Systementwürfe aus der frühen Zeit der deutschen Soziologie I. Gesellschaft als Beziehung: Georg Simmel (1858–1918)158
(1) Die Seinsweise der (modernen) Gesellschaft besteht nach Georg Simmel in Beziehungen zwischen „Menschen“. Sie besitzen ihren Grund im sozialen Existenzial der Beziehung. Es ist in der Darstellung der sozialen Kategorien aufgewiesen worden. Gesellschaftlich Sich-Beziehen heißt, Verbindungen haben. Sie sind erfahrbar im „menschlichen“ Sich-Verhalten. Beziehungen bestehen des näheren in der gesellschaftlichen Hinwendung des Einen zum Anderen und umgekehrt. Sie sind freilich von verschiedener Form. Es gibt sie als Wechselbeziehungen und als Wechselwirkungen. Wechselbeziehung heißt: Ein Ego verhält sich auf ein Alter hin und dieses wieder auf das Ego. Wechselwirkung heißt: Daß eine Wechselbeziehung als wirkursächliche Abhängigkeit besteht. Simmel meint bald die eine und bald die andere Form der Beziehung. Der Grund dürfte in seinen Auffassungen des Erkennens liegen. Simmel ist einerseits Realist. Nach dieser Überzeugung bezieht sich der eine „Mensch“ auf den anderen „Menschen“ auf wechselwirkungshafte Weise. Also ist die Gesellschaft die reale Hinordnung von „Menschen“ auf „Menschen“. Sie ist eine abgeschlossene Vielzahl solcher ursprünglicher Bindungen. Simmel denkt jedoch nicht nur realistisch. Zu gleichen Teilen, wenn nicht mehr ist er kantianischer Kritizist. Nicht Erfahrung und Einsicht erkennen das, was ist. Am Beginn findet sich vielmehr die Reflexion. Bildet sie den „Anfang“, dann liegt das Den157 Vgl. z. B. Werner Ziegenfuß, Abschnitt II. Wesen und Formen der Soziologie, Stuttgart, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 121–246. Auf die Belegstellen, die der Beitrag ausweist, sei ausdrücklich hingewiesen. 158 Vgl. als maßgebliches Werk Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
ken der Beziehungen den erfahrungsmäßigen Beziehungen vorauf. Simmel meint also im Gegensatz zur zuerst geäußerten Auffassung, daß jeder „Mensch“ dieses Denken „von Anfang an“ besitzt. Deswegen sagt er, daß die Gesellschaft in einem Von-vorn-herein-Sein besteht. Die Seinsweise der Gesellschaft besteht nicht in realen wechselwirkungshaften Beziehungen, sondern in einem sogenannten soziologischen Apriori. Alle „Menschen“ denken alle „Menschen“ als schon immer in Beziehung befindlich, sie mögen erfahrbar sein oder auch nicht. Nach Simmels Auffassung ist die Seinsweise der (modernen) Gesellschaft somit einerseits ein An-sich-Sein und andererseits ein Vorgestellt-Sein. (2) Die Auffassung Simmels von der Seinsweise der Gesellschaft bestimmt seine Kennzeichnung des Verhältnisses der Beziehung zwischen der Form und dem Inhalt der Gesellschaft. Seine Gedanken zielen auf die Form der Gesellschaft. Die erkenntniskritisch gemeinte Form wird als Denkform verstanden, die erkenntnisrealistische Form als abstraktiv gewonnener Realitätsbestand. Bald in jenem und bald in diesem Sinn ist Simmel bemüht, Formen der Vergesellschaftung aufzufinden, zu erkennen und zu beschreiben. Inhalte des menschlichen Geistes und des menschlichen Wirkens sind für ihn gesellschaftswissenschaftlich unerheblich, wenn auch nicht völlig bedeutungslos. Bekannt sind seine Verweise auf die Geometrie. So mag zum Beispiel eine Kugel bald aus dieser, bald aus jener Materie bestehen, aus Eisen, aus Holz, aus Glas, usw. Die Geometrie interessiert diese Beschaffenheit jedoch nicht. Sie beschäftigt die Form der Kugel, die „Kugeligkeit“. Vergleichbar ist es mit der Beziehung von Form und Inhalt der Gesellschaft. Soziologisch wesentlich ist ihre Form. Die Inhalte sind Gegenstände der sogenannten Geisteswissenschaften. Simmel spürt den Formen der Vergesellung nach bis zu jenen Formen, die an sich als Tatsachen bestehen. Das Geld zum Beispiel ist eine solche Tatsache der Form. (3) Im ungegenständlichen Sinn besteht die Gesellschaft nach Simmel im „menschlichen“ Existieren. Das besagt des näheren, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt in humanen Singularitäten besteht. Sie sind durch ihr Bewußtsein gekennzeichnet. Da Simmel zwischen Singularitäten und Individualitäten nicht unterscheidet, muß man in seiner Sprache sagen, daß die Gesellschaft in „menschlichen“ Individuen besteht. Die Gesellschaft ist „individuell“ und nicht „sozial“. (4) Im gegenständlichen Sinn ist der sachhafte Aufbau der Gesellschaft eine formale Ordnung. Zum Beispiel das Sich-Geben nach der Etikette bzw. letztlich nach positiven Verhaltensnormen sind Ordnungsformen dieser Art. Um dem Inhaltlichen auszuweichen, sieht Simmel die Ordnung der Gesellschaft schließlich in Zahlenverhältnissen verwirklicht. Eine Zweier-Beziehung ist etwas anderes als eine Dreier-Beziehung. Ihr Inhalt etwa als Liebe, als Freundschaft, als Geheimnis, usw. verschwindet geradezu aus der soziologischen Erkenntnis.
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(5) In der Frage, wie die Gesellschaft äußerlich bewirkt wird, ist Simmel kantischer als Kant. Wie erinnerlich lehrte er, daß die Natur aus sich einen Widerstreit unter den Menschen entläßt. Er besteht als Antagonismus, der die Menschen antreibt, ihre Anlagen zu entfalten. Simmel liegt dieser Gedanke fern. Er ist der Ansicht, daß der Grund des Aufbaus der Gesellschaft in einem existentiellen Apriori gegeben ist. In den „Menschen“ ist da, was sie zu „Mitmenschen“ macht. II. Gesellschaft als Gruppe: Alfred Vierkandt (1867–1953)159
Die soziologische Erkenntnis hat Mühe, die Gesellschaft vom sozialkategorialen Bestand der Gruppe her zu verstehen. Diese Schwierigkeit dürfte weniger im Erkennen als im Erkenntnisgegenstand liegen. Denn man wird nicht sagen können, daß die eigene Gesellschaft durch ein Leben in Gruppen ausgezeichnet ist. Beziehungen herrschen vor und ihre Überhöhung in einem Gebilde. Vierkandt zählt zu denjenigen Soziologen, die die Erkenntnis der Gesellschaft zwar in der Kategorie der Beziehung begründet sehen, die aber bemüht sind, die Gesellschaft als in Gruppen bestehend zu erfassen. (1) Die Seinsweise der Gesellschaft, die in Gruppen besteht, ist ausgezeichnet durch das Eigensein und in der Folge durch das Eigenleben von Bindungen. Mit dieser Auffassung wendet sich das Erkennen vom soziologischen Formalismus ab. Das Sein der Gesellschaft ist kein Vorgestelltsein von „Individuen“. Es ist ein Sein von Wechselbeziehungen bzw. von Wechselwirkungen besonderer Art. Es erklärt sich aus „menschlichen“ Beweggründen. Sie sind des näheren Beweggründe der seelischen humanen Existenz, also gleichermaßen ihres Erkennens, ihres Strebens und ihres Fühlens. Deswegen sind sie verschieden vom soziologischen Apriori, das sich im Bewußtsein jedes „Individuums“ findet. (2) Die „menschlichen“ Vergesellschaftungen bestehen als geformte Inhalte. Sie unterscheiden sich also nicht nur in ihrer Form. Die Gruppen sind als gehaltvolle Typen zu verstehen. Sie sind existentielle Gemeinzustände. Ihr Unterschied besteht jedoch in ihren Formen. So bestimmt, sind sie „mehr“ als Beziehungen und Beziehungsgeflechte und „weniger“ als ein Gebilde. Im Allgemeinen zeichnet sich eine Gruppe durch die Form des sogenannten WirBewußtseins und das ihm entsprechende Dauern aus. In einer Gruppe wird das „Ich-bin“ zu einem „Wir-sind“. Sodann reicht das Beharren der Gruppe über das Existieren ihrer „Individuen“ hinaus. Selbst wenn alle ihre ursprünglichen Mitglieder aus ihr ausgeschieden sind, bleibt die Gruppe, dank ihrer neuen Mitglieder, dieselbe.
159 Vgl. die zusammenfassende Darstellung durch Alfred Vierkandt, Art. Gruppe, in: ders. (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 239–253.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
(3) Der genannten Eigenständigkeit der Gruppe widerstreitet freilich Vierkandts Auffassung des „Menschen“ in der Gruppengesellschaft. Gewiß existiert er als ihr zugehörig. Aber das, was man als humanes „Gemeinwesen“ meint, ist ein „menschliches Individuum“. Das Verhältnis des „Einzelnen zum Zusammen“ bleibt ungeklärt. (4) Den Aufbau der Gruppengesellschaft tragen verschiedene Gründe. Sie bestehen im Besonderen als Lebensdrang, als Lebensordnung und/oder als Hilfsbereitschaft. Zu diesen Gründen zählt auch der Vertrag. Sie alle schließen nicht aus, daß die Gesellschaftsordnung durcheinander gerät und aufs neue eingerichtet werden muß. Insbesondere unter psychischen Gesichtspunkten wird die Ordnung der Gesellschaft stets aufs neue in Über-Unter-Ordnungs-Verhältnissen gefestigt. (5) Ins Dasein gebracht wird die Gruppengesellschaft einerseits durch reale wechselwirkungshafte Beziehungen von „menschlichen“ Existenzen. Andererseits heißt es, daß sie die Wirkung eines ursächlichen menschlich-sozialen Bewußtseins ist. Es ist die Ursache, die die Einheit, die Vorgänge und die Regeln der Vergesellung begründet. Die Mehrdeutigkeit bleibt unaufgeklärt. III. Gesellschaft als Gebilde (Organismus-Analogien)
Die Allgemeine Soziologie besitzt für die Bezeichnung der Gesellschaft im umfassenden Sinn nicht nur den Namen des Gebildes, sondern verschiedene weitere Namen. Zu ihnen zählen vor allem die Benennungen des Organismus, der Gesamtheit, der Ganzheit und des Systems. Ihnen eigentümlich ist, daß sie sich durch eine Aufbaugliederung auszeichnen. Sie wird zumeist Struktur genannt. Der Ausdruck Organismus benennt einen Körper, der lebt. Wird er auf die Gesellschaft bezogen, meint er, daß die gesellschaftliche Existenz-Gestalt so wie ein lebendiger Körper beschaffen ist. Wie erinnerlich, hat schon das griechische Altertum vom humanen Zusammensein gesagt, daß man es als ein Menschsein im Großen auffassen kann.160 Diese bildliche Deutung der Gesellschaft überdauert Jahrhunderte. Die christliche, näherhin die katholische Sittenlehre bewahrt sie als sittliche Ganzheitlichkeit bis heute.161 Die Neuzeit übernimmt die organische Auffassung der Gesellschaft, wandelt sie jedoch ab. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wendet sie ins Idealistische und Karl Marx (1818–1883) ins Materialistische. Soziologische Traditionen vorwiegend
160
Vgl. Platon, Politeia, (Der Staat), (Edition Reclam), 368e. Vgl. z. B. Edelberd Kurz, Individuum und Gesellschaft beim hl. Thomas von Aquin, München 1932; Ferdinand Frodl, Gesellschaftslehre, Paderborn/München/Wien 1962. 161
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in materiell bestimmten162, aber auch in geistbestimmten Organismusanalogien werden in der Auffassung der Gesellschaft zum Regelfall163. Unter ihnen besitzen die der Biologie nahen Analogien einen bevorzugten Platz.164 Aus den Schwierigkeiten dieser Auffassungen arbeiten sich Lehren heraus, die das Gebilde logisch-formal begreifen. Sie kennzeichnen die gesellschaftliche Vieleinheit als zu denkende Soseinsbestimmung besonderer Art. Zumeist wird die Gesellschaft als ein System verstanden, das funktioniert. Beim Wort genommen heißt das, daß sie ein Zusammengestelltes ist, das reibungslos abläuft und sich in seiner Umwelt behauptet.165 Die Lehre von der Gesellschaft als Gebilde ist also vielfältig entwickelt. Es verwundert nicht, daß die verschiedenen Ausprägungen sich untereinander befehden. Festzuhalten bleibt indessen, daß sie ein und derselben Wurzel entspringen. Diese Gemeinsamkeit ist im folgenden ins Auge zu fassen. Sie ermöglicht es, Antworten auf die Grundfragen der Allgemeinen Soziologie im Sinne der Lehre von der Gesellschaft als Gebilde zu formulieren. (1) Die soziologische Bezeichnung der Gesellschaft als Gebilde übernimmt sinngemäß die sozialkategoriale Begrifflichkeit. Die benennt die größtmögliche Vieleinheit einer Gesellschaft. Die im Gebildebegriff ausgedrückte umfassende Vieleinheit kennzeichnet die Seinsweise einer Gesellschaft. Ob sie als einem Organismus entsprechend oder als Ganzheit oder als System aufgefaßt wird, besteht als zweite Sorge. Denn die verschiedenen Deutungen der Gesellschaft als Gebilde besitzen gemeinsame Merkmale. Zusammengefaßt könnte man sie wie folgt benennen: Ein Gebilde zeichnet sich aus durch seine abschließende, durch seine sich selbst behauptende und durch seine ordnende Natur. Das besagt des näheren das folgende. Zum ersten: Jedes Gebilde ist charakterisiert durch seine Gesamtzielsetzung. Es trachtet danach, alle „Elemente“ als seine „Bestandteile“ zu bestimmen, sie sodann zu versammeln und auf ein Ziel hin auszurichten. Zum zweiten: Gegenüber anderen humanen Realitäten beansprucht es, einen Wertvorzug zu besitzen. Insbesondere anders beschaffene bzw. gedeutete Gebilde sind seine geborenen Gegenspieler. Sein Existenzwille ist gleichsam unbegrenzt. Zum dritten: Das Gebilde entwickelt aus sich heraus eine Gliederung von Stellungen und Tätigkeiten seiner Angehörigen. Das Gebilde weist also Le162 Vgl. z. B. Wolfgang Eichhorn u. a. (Hrsg.), Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Opladen 1969. 163 Vgl. z. B. Othmar Spann, Gesellschaftsphilosophie, München/Berlin 1928. 164 Vgl. z. B. Albert Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, 4 Bände Tübingen 1875–1878; Herbert Spencer, Die Prinzipien der Soziologie (1876–1896), Stuttgart 1877–1897. 165 Vgl. z. B. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften (1971), München 1972; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
benslagen und Lebensaufgaben zu. Mit der Frage nach dem Ursprung dieser kraftvollen Bestimmungen werden die Grenzen der soziologischen Erkenntnis erreicht. Nicht selten werden sie überschritten. Ist das der Fall, geht das einzelwissenschaftliche Erkennen in ein philosophisches Erkennen über. Man kann es auch als weltanschauliches Erkennen bezeichnen. Diesen Übergang hat die Soziologie deswegen zu bedenken, weil ihre Erkenntnisabsicht auf die Seinsweise und damit sogleich auf die Aufbaugliederung des Gebildes gerichtet ist. Sie hat zu berücksichtigen, daß die Auffassung der Struktur einer Gesellschaft sich im Sinn der Ursprungsdeutungen des Gebildes aufdrängt. Die vorherrschenden Meinungen sind benannt. Sie bestehen in den Verhältnissen von Organismus und Organ bzw. Glied, von Ganzem und Teil sowie von System und Funktion. Diese Kennzeichnungen erklären, welche Art von Verwirklichungsschema einer Gesellschaft zugrunde liegt, die als Gebilde besteht und gedacht wird. (2) In einem Gebilde wird die Beziehung zwischen Form und Inhalt durch den Inhalt entschieden. Die Beschaffenheit der jeweiligen Aufbaugliederung kennzeichnet das Verhältnis von Form und Inhalt einer Gesellschaft. So ist zum Beispiel der „Mensch“ im Sinn der Organismusanalogie nicht mehr als ein statisches Glied bzw. ein dynamisches Organ seiner Vieleinheit; oder er ist (verantwortlicher) Teil einer (sittlichen) Ganzheit; im Sinn der Systemauffassung besteht er in seinen Mitteilungen. Gehalte des wirksamen Lebens und eines bei sich seienden Geistes im menschlichen Sinn finden sich nicht. Der „Mensch“ spielt seine gesellschaftlichen Rollen. In ihnen sich zu erfüllen ist der Sinn der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz. So und nicht anders wird man zur sogenannten sozial-kulturellen Persönlichkeit, also zum gesellschaftlichen „Menschen“. (3) Das Ich, das um eine bzw. seine Gesellschaft weiß, ist kein singuläres, geschweige denn ein individuelles Ich. Der Auffassung der Gesellschaft als Gebilde fällt es schwer, das Ich als Selbstand aufzufassen. In seinem Sinn ist das Ich ein sozialisiertes Ich. Es ist der Ort, an dem die Verinnerlichung des Gebildes sich niederschlägt und zum Ausdruck kommt. Ehedem hat man vom Existieren von Ichen als Masse oder als Kollektive gesprochen. Zunehmend ist von angepaßten oder konformen Ichen die Rede. In den Lehren von der Kommunikation spricht man von Funktionen zwischen dem Kommunikator und dem Rezipienten. Hinter ihnen ist das Ich verschwunden. Es ist ein Psychologikum. Soziologisch stellt sich die Frage, wie eine gesellschaftliche Ich-Identität möglich ist. (4) Der sachhafte Aufbau einer Gesellschaft erklärt sich aus ihren Vorgegebenheiten. Sie besagen, daß die Ordnung einer Gesellschaft als Notwendigkeit besteht. Zum Beispiel verlangte es das geschichtliche Schicksal – was immer dieser Name bedeutet –, daß sich die bürgerliche Gesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaft entwickelt. Proletarier stehen gegen Bürger. Der Gedanke
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beherrscht auch das Ende der eigenen Gesellschaft. Auf sie als industrielle folgt die post-industrielle Gesellschaft. Sie besteht in schnellebigen, singulären und globalen Dienstleistungen. Wie auch immer: Das Gesellschaftsmitglied hat in ihnen keine eigenen Ziele. Es findet seine Erfüllung in ausführenden Tätigkeiten. (5) Der soziologischen Lehre von der Gesellschaft als Gebilde ist die Frage nach der Verursachung der Gesellschaft fremd. Die Auffassung der Gesellschaft als Gebilde wird – im Gegensatz zu ihrer sozialkategorialen Bestimmtheit – beherrscht von der Überzeugung, daß die Gesellschaft schon immer besteht. Die humane Existenz existiert als gesellschaftliche Existenz-Gestalt. Wenn man von Unterschieden sprechen will, so erklären sie sich als Abwandlungen nach dem Raum und nach der Zeit. Die Frage: Wodurch besteht die gemeinte Gesellschaft? erscheint als unverständlich. Man muß die Frage anders stellen, heißt es. Die Gesellschaft, die schon immer da ist, hat Gründe, aus denen sie sich gewandelt hat. Nicht nach dem Ursprungsgrund einer Gesellschaft, sondern nach ihrem Veränderungsgrund ist zu fragen. IV. Gesellschaft als Handeln: Max Weber (1864–1920)166
Der Soziologe Max Weber findet den Zugang zur Erkenntnis einer Gesellschaft in seinen Wahrnehmungen des tätigen Einzelmenschen. Er existiert ichhaft, d.h. als psychisches Subjekt, das im Handeln den Sinn seiner Subjektivität zu bestimmen versucht. Aus dieser Voraussetzung leitet sich das Verständnis ab, das Max Weber von der Seinsweise der Gesellschaft besitzt. Die Seinsweise besteht in der Verbindlichkeit, wie sie sich aus den Beweggründen des Wirkens 166 Vgl. insbesondere Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922; für das Verständnis der Soziologie von Max Weber ist hilfreich die Auswahl aus seinem Werk durch Max Graf zu Solms (Hrsg.), Max Weber, Schriften zur theoretischen Soziologie, der Politik und Verfassung, Frankfurt a. M. 1947. – Der verstehenden Soziologie von Max Weber ist verwandt die Soziologie von Alfred Schütz (1899–1959). Er orientiert sich jedoch nicht an der Erkenntnislehre, wie sie Weber von Kant über Rickert aufgenommen hat, sondern an der Lehre vom phänomenologischen Ur-Ich, wie sie von Edmund Husserl (1859–1938) entwickelt worden ist. In seinem grundlegenden Werk: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932/19602, heißt es S. 255: „Wissenschaft ist . . . immer objektiver Sinnzusammenhang und das Thema aller Wissenschaften von der Sozialwelt ist, einen objektiven Sinnzusammenhang von subjektiven Sinnzusammenhängen zu konstituieren. Das Problem jeder Sozialwissenschaft läßt sich also in die Frage zusammenfassen: Wie sind Wissenschaften vom subjektiven Sinnzusammenhang überhaupt möglich?“ – Vgl. hierzu den Einwand bei Werner Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie. Grundzüge der Theorie von Wesen und Erkenntnis der Gesellschaft, Stuttgart 1954, S. 38: Der angestrebte „,objektive‘ Sinnzusammenhang kann . . . über die Subjektivität einer Sinndeutung nicht hinausgelangen und damit bleibt auch die Objektivität des von der Wissenschaft zu ,konstruierenden‘ (herzustellenden), nicht zu konstatierenden (also festzustellenden) ,Sinnzusammenhanges‘ in die Grenzen der ,Subjektivität‘ gebannt.“
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
der einzelnen „Menschen“ ergibt. Beziehen sie sich zunächst von einem „Einzelnen“ auf einen anderen „Einzelnen“, so haben sie am Ende das „Ganze“ der Gesellschaft zum Ziel. Es ist insoweit sinnvoll, als es von den singulären sinnhaft Handelnden gemeint ist. Max Weber bemerkt jedoch den Unterschied, der zwischen der singulären und der komplexen Verwirklichung einer Gesellschaft besteht. Deswegen beurteilt er die Massenerscheinungen nur dann als sinnvoll, wenn sie als Kulturerscheinungen auftreten. Zufriedenstellend geklärt wird das Verhältnis zwischen dem am Anderen orientierten Handeln und den umfassenden (geschichtlichen) kulturellen Ereignissen nicht. (2) Daß die Gehalte des Lebens und des Geistes menschlicher Existenz-Gestalten sich zu einer Mitwelt vermitteln lassen, bezweifelt Max Weber. Denn das, was man das Soziale nennt, ist ganz und gar unbestimmt. Als sozial kann man nur bezeichnen, was durch einen Erkennenden als Form auf einen Inhalt bezogen wird. Das ist zunächst der sich verhaltende „Einzelne“. Im wissenschaftlichen und damit im sogenannten objektiven Sinn ist es die soziologische Forscherpersönlichkeit. Sie bezieht „menschliche“ Inhalte auf „soziale“ Formen. Das gesellschaftliche Form-Inhalt-Verhältnis ist ein gedachtes Verhältnis, das sich im strengen Sinn nur in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis findet. (3) Das ichhafte Wissen um eine Gesellschaft beurteilt Max Weber im Sinn des handelnden „Einzelnen“. Das Gesellschaftsdenken besteht in der Gestalt des „Ich denke mich in meinen Bezügen zum Anderen“. Gemeinhin bezeichnet man eine so beschaffene Gesellschaft als individualistisch. Ihre Benennung als singuläre Gesellschaft würde Fehlverständnissen vorbeugen. Denn jede Gesellschaft ist ebenso individuell wie generell beschaffen. Aber was Max Weber meint, ist geläufig. Nach seiner Meinung ist die (moderne) Gesellschaft gekennzeichnet durch ein „menschlich-gesellschaftliches Einzelsein“. Diese Auffassung wird nicht zuletzt dadurch verschärft, daß dieses „Einzelsein“ nicht so sehr durch das Gefühl bzw. durch die Überlieferung bestimmt ist, sondern durch die (Zweck-) Rationalität. In der (modernen) Gesellschaft ist ein Handeln um so verständlicher, je rationaler es ist. Rationalität bedeutet den Zweck-Mittel-Zusammenhang im Sinn wirtschaftlicher und auch politischer Leistungen. Andere Handlungsweisen sind nicht zeitgemäß und werden deswegen gesellschaftlich auch nicht richtig verstanden. (4) Die Frage des sachhaften Aufbaus der (modernen) Gesellschaft ist in der Lehre von der Gesellschaft als Handeln kaum faßbar. Denn wenn die Gesellschaft nur aus den Handlungen derer besteht, die sie bilden, ist der Bestand der Ordnung der Gesellschaft nicht mehr recht greifbar. Man kann die Ausrichtung des Einen zum Anderen und umgekehrt studieren, aber wie sollten sich Regeln der Gemeinsamkeit feststellen lassen? Als Gegenstandswelt ist die (moderne) Gesellschaft etwas Zufälliges. Als Inbegriff dieser Zufälligkeiten bietet sich der
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Ausdruck der Gesellschaft an. Er wird von außen an die Handlungsbezüge herangetragen. Max Weber faßt das „Gesellschaftliche“ in Teilen zusammen, indem er sich den sogenannten Idealtypus ausdenkt. Er ist unterschieden vom Realtypus und vom Maximaltypus. Er ist eine vorgestellte Verallgemeinerung. Also läßt er sich denken zum Beispiel als Idealtypus des Herrschers, des Kapitalisten, des Bürokraten, usw. In deren Sein und Sollen findet er sich nicht. Einen Überblick über seine Denkgebilde versucht Max Weber in seiner Lehre von den Kategorien der verstehenden Soziologie zu geben. (5) Handeln könnte nach Max Weber ein ähnlich verursachender Grund der Gesellschaft sein, wie es bei Georg Simmel das Beziehungsbewußtsein a priori ist. Max Weber weiß jedoch, daß das Handeln maßgeblich zielorientiert ist. Handeln verursacht nichts. Es ist ein Geschehen, das von einer Ursache abhängt. Deswegen spricht Max Weber von der Chance als Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft, die im Handeln besteht. Der Ausdruck der Chance meint weder einen Zufall noch eine günstige Gelegenheit. Chance ist nach Max Weber die Bedingung des je eigenen Handelns, das im Bezug auf den anderen Handelnden die (eigene) Gesellschaft zur Folge hat. Chance meint die Möglichkeit einer sogenannten Entsprechung: Entspricht das subjektive Handeln des „Einzelnen“ dem subjektiv sinnvollen Verhalten des „Anderen“, ist das „wirklich“, was man Gesellschaft nennt. Das „Sein“ der Gesellschaft ist ein geglücktes Sichereignen. V. Gesellschaft als Wandeln: Hans Freyer (1889–1969)167
(1) Der herrschenden Soziologie ist der sogenannte soziale Wandel nicht unbekannt. Sie versteht ihn freilich im Sinn einer Umbildung in der Beschaffenheit einer Gesellschaft. Ihr Anderswerden wird als Übergang einer ihrer Bestimmtheiten in eine andere aufgefaßt. Die Gesellschaft als Träger von Bestimmungen wird von Abwandlungen dieser Art nicht berührt. Sie bleibt, was sie ist. Von dieser Auffassung ist die Lehre vom Wandeln oder klarer gesagt: Vom Sich-Wandeln einer Gesellschaft verschieden. Die Gesellschaft ist ein SichWandeln oder, wie man sagen sollte, ein Geschehen. Der Name des Geschehens benennt ein geschichtliches Werden. Des genaueren ist dieses Kommen und Gehen ein Werden von sinnhaften Gestalten. Ihre Seinsweise besteht darin, den Sinn dieser Gestalten zu erfassen und ihn auszulegen, d.h. das Schema aufzuzeigen, das ihrem jeweiligen Existieren zugrunde liegt. Von einer Seinsweise der Gesellschaft kann deswegen in einem strengen Sinn nicht die Rede sein. Denn was gesellschaftlich „ist“, ist beherrscht vom Geschehen, also von der Geschichte. 167 Vgl. Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig/Berlin 1932/Stuttgart 19642.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
(2) Im Fluß der gesellschaftlichen Bestände ist ihr Sinn so etwas wie die Form einer Gesellschaft. Sie bringt die menschlichen Gehalte auf ihren Lebensweg. Andererseits besitzt allein der „Mensch“ das Vermögen, den Sinn der ereignishaften Gestalten der Gesellschaft zu erfassen und zu beurteilen. Er vermittelt gleichsam zwischen sich als Mensch und dem „Menschen“ als Mitmenschen. Das ist möglich, weil sich in ihm als humane Existenz ein sogenannter Übereinstimmungswille findet. Ob der Übereinstimmungswille zum Sosein dieser Existenz gehört oder nur eine Bedingung der gesellschaftlichen Formfindung ist, die womöglich selbst dem Wandel unterliegt, bleibt eine unbeantwortete Frage. (3) Das Wissen um die eigene Gesellschaft ist ein maßgebliches Merkmal der Angehörigen der Gesellschaft. Im Ganzen des gesellschaftlichen Geschehens ist es von besonderem Wert. In ihrer Singularität und noch mehr in ihrer Personalität bewährt sich das Geschichtsbewußtsein der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. (4) Der sachhafte Aufbau der eigenen Gesellschaft erschließt sich im Erleben der Gesellschaft. Weil sie ein Geschehen ist, ist sie bezogen auf andere gesellschaftliche Gestaltungen. Damit rücken ehedem vorhandene, aber auch mögliche zukünftige gesellschaftliche Vorgänge und Bestände in den Blick. Sie werden jedoch in dem Maße unzulänglich verstanden, in dem sie sich für die Gegenwart nicht erschließen lassen. Die vergangenen – und zukünftigen – gesellschaftlichen Geschehnisse geraten mit den gegenwärtigen in ein Spannungsverhältnis. Es läßt sich in gewissen Graden dadurch auflösen, daß man den Mut zu gleichsam übergeschichtlichen „Kategorien“ aufbringt. Zu Ihnen zählen die Bestände der Gesellschaft (als Modus), der Gemeinschaft und des Staates. (5) Das äußere Bewirken einer Gesellschaft erklärt sich im Allgemeinen daraus, daß sie ein Geschehen ist. Natürlich stellt sich sogleich die Frage nach dem Urheber. Er ist da, sofern sich Wollende finden, die eine Gesellschaft erstreben. Freilich muß über die Richtung des Geschehen-Sollens Übereinstimmung bestehen. Gewährleistet ist diese Übereinkunft durch das Erkennen des Geschehens. Es ist der begriffene Ausdruck des Sinnes der gesellschaftlichen ExistenzGestalt, die es zu verwirklichen gilt. VI. Gesellschaft als Gestalten: Gerhard Mackenroth (1903–1953)168
(1) In der Soziologie der Gestaltung, wie Gerhard Mackenroth sie vorlegt, wird das Beherrschtwerden der Gesellschaft durch die Geschichte gleichsam gebändigt. Gewiß faßt auch er die gesellschaftliche Existenz-Gestalt als ein Ge168 Vgl. Gerhard Mackenroth, Sinn und Ausdruck in der sozialen Formenwelt, Meisenheim/Glan 1952.
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schehen auf. Aber das Geschehen wird als Aufgabe der Gestaltbildung begriffen. Gestaltbildung der Gesellschaft heißt, daß sie auf eine geschlossene Sinnordnung hin zu gliedern ist. Deswegen kommt es darauf an, den Ausdruck der Gesellschaft zu erfassen, in dem sie ihren Sinn kundtut. Die Seinsweise der Gesellschaft ist die Kundgabe ihrer sogenannten Lebensverwurzelung. Diese Äußerung ist der umfassende Horizont des Verbundenseins und damit der Grundriß ihrer Realität. Das Verbundensein ist keine Zweckveranstaltung. Die Gesellschaft erschöpft sich nicht in Nützlichkeiten. Sie ist sinnhaft beschaffen, also wertvolle Lebensziele in geordneter Weise vorgebend. Der herrschenden Soziologie ist diese Auffassung des Seins der Gesellschaft fremd geworden. Sie denkt in Systemen und Funktionen, nicht in Sinnzielen und Gestaltungsvollzügen. (2) Die Beziehung zwischen den menschlichen Gehalten und ihren sozialen Formen beurteilt Mackenroth im überkommenen Sinn. Er unterscheidet zwischen natürlichen, seelischen und geistigen Gehalten der menschlichen Existenz-Gestalt. In der Gesellschaft werden sie in verschiedenen sogenannten Momenten zum Ausdruck gebracht. Sie sind teils körperlicher, teils zweckhafter und teils sinnvoller Natur. Insoweit besitzen sie eine jeweils begrenzte soziale Form. Eine einigende Sozialform im umfassenden Sinn ist kein Gestaltungsziel der modernen Gesellschaft. (3) Soweit die soziale Formenwelt in der modernen Gesellschaft noch besteht, bindet sie die Mitglieder der Gesellschaft. Mit ihrer Preisgabe entläßt die Gesellschaft ihre Angehörigen. In dem Maße, in dem der Ausdruckssinn fehlt, schwindet auch das Ausdrucksverstehen. Die Gesellschaft zerfällt in Verstehensweisen von Singularitäten oder löst sich sogar in Deutungen durch menschliche Individualitäten auf. (4) Den sachhaften Aufbau der Gesellschaft bezeichnet Mackenroth als Ausdrucksfeld. Sinnhaftigkeiten verschiedener Art gliedern dieses Feld in sogenannte Gefügtheiten. Das sind Teilordnungen des Gestaltungssinnes, der sich ausgliedert. Hierzu zählen zum Beispiel Berufseinheiten, Zusammenhänge von Kulturschaffenden, Volksgruppen, usw. Als Ganzes sind sie das, was man den Stil der gesellschaftlichen Gestaltung nennen kann. (5) Ins Dasein gebracht wird eine Gesellschaft durch sogenannte Lagen und/ oder das Geschehen. Die Lagen sind zu verstehen im Sinn der Chancen bei Max Weber; das Geschehen ist zu begreifen im Sinn der Geschichte bei Freyer. Wie bei diesen Autoren, sind sie bei Mackenroth Gegebenheiten. Insofern Lagen und Geschehen „da“ sind, widerstreiten sie den immer aufgetragenen gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben. Allerdings heißt es, daß diese Gegebenheiten gemeinsam erlebt werden. Dieses Erleben bildet sich zu einem sogenannten Verstehenshorizont aus. Es ermöglicht es, die Gesellschaft in ihren Sinngestalten auszuformen.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft VII. Gesellschaft als Gemeinschaft und Gesellschaft: Ferdinand Tönnies (1855–1936)169
(1) Die Lehre von der Gesellschaft von Tönnies besitzt ihren Ausgang in feststellbaren Verhaltensweisen von „Menschen“. Es heißt, daß „Menschen“ sich wechselseitig zueinander verhalten. In diesen Verhaltensweisen leuchtet die Idee der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt der humanen Existenz auf. Der Name der Idee benennt einen ursprünglichen Bestand. Der genauere Hinblick erkennt, daß die Gesellschaft urbildlich auf zweifache Weise besteht. Die Gesellschaft existiert zum ersten als sogenannte Gemeinschaft und zum zweiten als sogenannte Gesellschaft. Gemeinschaft und Gesellschaft sind die Seinsweise der Gesellschaft. Ohne weiteres verständlich kann man diese sprachliche Ausdrucksweise nicht nennen. Aber sie hat sich durchgesetzt. Jedermann weiß, was mit dem Ausdruck der gesellschaftlichen Gesellschaft und mit dem der gemeinschaftlichen Gesellschaft gemeint ist. Nicht unberücksichtigt darf bleiben, daß diese Benennungen inzwischen vor allem im modalen Sinn verwendet werden. Nach ihm sind zum Beispiel Beziehungen im gesellschaftlichen Sinn von gemeinschaftlichen Beziehungen zu unterscheiden. Das Werk von Tönnies kennt diese Unterscheidung sozialer Modalitäten nur in einer nicht-ausdrücklichen Weise. Vorrangig sind Gemeinschaft und Gesellschaft Gegenstandsbestimmungen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Ihnen zufolge besteht die Gesellschaft als Gemeinschaft in dauernden „Beziehungen“. Als Gesellschaft besteht die Gesellschaft in flüchtigen „Beziehungen“. Tönnies nimmt an, daß dieser Unterschied in der Vergesellschaftung sich nicht nur in der gegenwärtigen Gesellschaft findet, sondern in der Gesellschaft überhaupt. (2) Dem Herkommen folgend, heißt es, daß Form und Inhalt sich zueinander verhalten. Was Tönnies beschäftigt, ist ihr Verhältnis im Fall der Gemeinschaft und im Fall der Gesellschaft. Offenkundig ist die Gemeinschaft beherrscht von den Inhalten der menschlichen Existenz-Gestalt. Also rückt das Leben der Menschen in den Vordergrund. Sozial gesprochen ist das die Familie und alles das, was Tönnies als blutsverbunden bezeichnet. Anders ist es im Fall der Gesellschaft. Sie besteht als ein sogenanntes System von Gedanken. Das rechnende Denken beherrscht das Leben. Gemeinschaft und Gesellschaft sind geschiedene Formen der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. (3) Das Wissen um die (eigene) Gesellschaft ist im Fall der Gemeinschaft anders als im Fall der Gesellschaft. Lebt ein „Mensch“ gemeinschaftlich, ist er ein sogenanntes vollgültiges Gesellschaftswesen. Das meint, daß er sich im Wissen um seine Gesellschaft mit ihr eins weiß. Im Denken seiner Existenz in 169 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Kulturformen, Leipzig 1878; seit der 2. Auflage Berlin 1912 mit dem geänderten Untertitel: Grundbegriffe der reinen Soziologie; Neudruck Darmstadt 20054.
2. Kap.: Grundzüge der Allgemeinen Soziologie
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der Gesellschaft weiß er sich mit ihr nicht verbunden. Das besagt, daß er zwar frei lebt, aber „vereinzelt“ ist. Die Gemeinschaft verbindet, die Gesellschaft entbindet. (4) Der sachhafte Aufbau einer Gesellschaft ist durch die Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft vorbestimmt. Die Gemeinschaft bildet sogenannte vollgültige Gebilde aus. Sie bestehen zum Beispiel als Familie und als Volk, als Dorfleben und als Gemeinwesen sowie als Urbanität und als (protestantische) Kirche. Von ihnen verschieden ist die Vergesellschaftung. Sie besteht zum Beispiel in Großstädten, im nationalen Leben (Staat) und im kosmopolitischen Leben (Gelehrtenrepublik). Als gemeinschaftlich beschaffen kann man sie nicht bezeichnen. Andererseits sind Gemeinschaften und Gesellschaften allgemein aufweisbare Aufbauordnungen der Gesellschaft. (5) Das Entstehen und Vergehen einer Gesellschaft erklärt Tönnies aus Willensakten der humanen Existenz. Sie haben ihren Sitz im sogenannten SeelischSozialen. Aus ihm heraus entfaltet sich der soziale Wille als Wesenswille und als Kürwille. Jener wie dieser besteht in Akten der Bejahung. Indem er die ursprünglichen Verhältnisse in ihrer Verschiedenheit ins Werk setzt, läßt er die Vergesellung entstehen. Indem der Wille sozial Wesentliches will und sein Träger entsprechend tätig wird, entsteht die Gemeinschaft; indem er sozial Willkürliches bejaht und sein Träger tätig wird, entsteht die Gesellschaft. VIII. Gesellschaft als Herrschaft170
Die Erkenntnis der Gesellschaft als Herrschaft ist die letzte Aufgabe der Darstellung der allgemein-soziologischen Systementwürfe. Auch aus dem Bestand der Herrschaft erschließt sich eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Die soziologische Erkenntnis wird jedoch von einer wissenschaftssystematischen Besonderung überrascht. In der Aufteilung der Forschungsaufgaben wird das Studium der Gesellschaft als Herrschaft überkommenermaßen und inzwischen wohl endgültig durch die Wissenschaft von der Politik wahrgenommen. Man muß sagen, daß sie die ältere, um nicht einzugestehen, die viel ältere Schwester der Soziologie ist. Das Nachdenken über das Politische reicht bis ins griechische Altertum zurück. Die Politische Wissenschaft hat gute Gründe, aus denen sie die Gesellschaft als Herrschaft als den Gegenstand ihrer Erkenntnis bestimmt.171 Die Namen Politische Wissenschaft, politische Soziologie und Soziologie der Herrschaft besagen weitgehend dasselbe. Einer der Unterschiede liegt in der Weite der Räume und Zeiten der gemeinten herrschaftlichen Verhältnisse. Die 170 Vgl. z. B. Otto Stammer, Art Gesellschaft und Politik, in: Werner Ziegenfuß (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956. 171 Vgl. z. B. Manfred G. Schmidt, Art. Herrschaft, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 20042, S. 538.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
politische Soziologie beschränkt sich zumeist auf die Erkenntnis der neuzeitlich-europäischen Herrschaftszusammenhänge. Die Erwähnung der Gesellschaft als Herrschaft ist deswegen nur eine Art Nachtrag in der Abhandlung der ursprünglichen Gegenstände der aufgebauten Gesellschaft im Verständnis der Allgemeinen Soziologie. In einer Zusammenfassung lassen sich die allgemein-soziologischen Fragen der Gesellschaft als Herrschaft wie folgt benennen: (1) In ihrer Seinsweise ist die herrschaftlich bestimmte Gesellschaft das Bestehen von Über-Unter-Ordnungs-Verhältnissen. Sie sind Zusammenhänge zwischen Herrschenden und Beherrschten. Herrschaft ist die geordnete Ausübung von Macht. Es gibt sie in allen gesellschaftlichen Gestaltungen, also nicht nur im Staat bzw. in der Politik. Sie finden sich in der Familie ebenso wie in (religiösen) Gemeinden, usw. (2) Weil Herrschaft nicht Gewalt ist, bedarf sie der Zustimmung. Als Form ist sie da, soweit sie verstehbar-begründete Macht ist. Herrschaft hängt ab von gegebenen, vorgegebenen und aufgegebenen Ordnungen der humanen Existenz. Sie hat zum Inhalt, den Bestand und die Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens zu sichern. (3) Die Angehörigen einer Gesellschaft wissen um den genannten Zusammenhang. Was Autorität bzw. was Befehl ist und was Gehorsam ist, ist ihnen geläufig. (4) Über den Aufbau der herrschaftlichen Gesellschaft spricht die Soziologie bzw. die Politische Wissenschaft in einer weit ausholenden Begrifflichkeit. Zwischen den Polen des Totalitarismus (umfassende Gewaltherrschaft) und der Räterepublik (direkte Demokratie) finden sich vielfache Typologien der Herrschaft. Schon die griechische Antike kennt die politischen Aufbauordnungen der Monarchie, der Aristokratie und der Politie sowie ihre Verfallsformen. Die zeitgenössische Politische Wissenschaft hat unter anderen Gesichtspunkten andere Typologien der Ausübung der Herrschaft aufgezeigt. Das Erkenntnisziel besteht stets darin, zu erfassen, welchen Beitrag die jeweilige Herrschaft zum Aufbau einer Gesellschaft leistet. (5) Bewirkt wird die Gesellschaft als Herrschaft kraft ihrer sogenannten Rechtmäßigkeit. Richtig ist, daß sich immer eine gewalttätige Durchsetzung von Macht findet, zum Beispiel im Staatsstreich. Aber derartige revolutionäre Machtergreifungen begründen keinen gesellschaftlichen Bestand. Dieser Bestand besitzt seinen Ursprung in der Legitimation. Ihr Ergebnis, die Legitimität, besteht auf verschiedene Weise. Geläufig ist die Unterscheidung zwischen der charismatischen, der traditionalen und der rationalen Verwirklichung der Herrschaft. Sie hat neben sich verschiedene andere Erklärungen des Bewirkens der herrschaftlichen Gesellschaft. Sie erstrecken sich zwischen der Auffassung der Herrschaft als Gottesgnadentum und als Volkssouveränität.
3. Kap.: Die Allgemeine Soziologie und die Besonderen Soziologien
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Drittes Kapitel
Die Allgemeine Soziologie und die Besonderen Soziologien § 15 Eine Gesellschaft als Bestand im Ganzen und in ihren Teilen A. Die Auffassung einer Gesellschaft durch die Allgemeine Soziologie und durch die Besonderen Soziologien I. Die soziologische Erkenntnis einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und in ihren Bereichen
Die Erkenntnis der Soziologie hat das Erfassen einer Gesellschaft zum Ziel. Jede Gesellschaft ist so reich an Eigenschaften und an Gründen, die ihnen voraufliegen, daß der erkennende Blick genötigt ist, eine Gesellschaft auch unter besonderen Rücksichten zu betrachten. Die gleichermaßen gegenständlichen wie erkenntnisbestimmten Umstände sind der Anlaß für eine maßgebliche Unterscheidung des soziologischen Erkennens. Die Soziologie kann sich zum einen auf eine Gesellschaft im Ganzen richten. In diesem Fall hat sie die Eigenschaften dieser Gesellschaft schlechthin im Blick. Man kann auch sagen, sie ist bemüht, eine Gesellschaft im Allgemeinen zu erfassen. Zum anderen kann sie sich auf unterschiedene bzw. unterscheidbare Eigenschaften einer Gesellschaft richten. Ist das der Fall, wendet sie sich Besonderungen einer Gesellschaft zu. In jenem Fall bedenkt die Soziologie die Gesamtheit einer Gesellschaft, in diesem Fall richtet sie ihre Aufmerksamkeit bald auf diesen und bald auf jenen ihrer Bereiche. Die soziologische Erkenntnis gliedert sich in die Soziologie im Allgemeinen und in die Soziologie im Besonderen. II. Die herrschenden Auffassungen vom Verhältnis zwischen der Allgemeinen Soziologie und den Besonderen Soziologien
In der herrschenden Soziologie ist das Verhältnis zwischen der Allgemeinen Soziologie und den Speziellen Soziologien nicht klar bestimmt. Der Grund liegt in der mehrdeutigen Auffassung der Allgemeinen Soziologie. Aus ihr erklären sich die Mängel der Kennzeichnung der Soziologie(n) im Besonderen. Zur Verdeutlichung dieser Behauptung seien drei Aussagezusammenhänge zitiert. Sie sind der soziologischen Standardliteratur entnommen. Zum ersten heißt es: „Spezielle Soziologie, Bezeichnung für die Gesamtheit der speziellen oder sogenannten Bindestrich-Soziologien, die unter Anwendung der Begriffe und Theorien der Allgemeinen Soziologie und der Methoden der empirischen Sozialforschung auf die Erforschung einzelner sozialkultureller Bereiche (Wirt-
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schaft, Familie, Bildung u. a.) ausgerichtet sind.“172 Der zweite Text lautet: „Bindestrich-Soziologie, angewandte Soziologie, spezielle Soziologie, applied sociology, soziologische Forschungsgebiete, die sich mit gesellschaftlichen Teilbereichen (Recht, Wirtschaft, Familie usw.) befassen und dabei allgemeine soziologische Theorien anwenden.“173 Schließlich eine dritte Auskunft: „Bindestrich-Soziologie . . . spezielle Soziologie sind solche Teilgebiete der Soziologie, die sich mit spezifischen sozialen Phänomenen und/oder gesellschaftlichen Bereichen befassen. Dabei rekurriert man auf allgemeinere soziologische Konzepte und Theorien, die für den speziellen Gegenstandsbereich angepaßt werden, z. B. Medizin-Soziologie, Rechtssoziologie etc.“174 Erklärungen dieser Art, die sich durchgängig finden, wollen sagen, daß die Besonderen Soziologien Anwendungen bzw. Anpassungen der Allgemeinen Soziologie hinsichtlich besonderer gesellschaftlicher Erkenntnisgegenstände sind. Wenn es so ist, stellt sich die Frage, was zur Anwendung gelangt bzw. was angepaßt werden soll. Das Anwendungs- bzw. das Anpassungsziel ist ein zweites Problem. Es sind die Bereiche der Gesellschaft. Nach der herrschenden Meinung gelangt der Inhalt der Allgemeinen Soziologie zur Anwendung bzw. zur Anpassung, worin zuletzt ein Unterschied nur in der Wortwahl, nicht in der Sache besteht. Die vorliegende Untersuchung hat sich bemüht, unterscheidend aufzuweisen, was der Name der Allgemeinen Soziologie gegenwärtig vorherrschend meint. Des Nachdrucks wegen seien die Bedeutungen des Ausdrucks Allgemeine Soziologie in Stichworten wiederholt. Nach der Soziologie, so, wie sie verbreitet ist, benennt der Name der Allgemeinen Soziologie die folgenden fünf Sachverhalte: Die Allgemeine Soziologie besteht (1) in der Feststellung von gesellschaftlichen Tatsachen. Sie besteht (2) in der Erklärung von festgestellten gesellschaftlichen Tatsachen. Sie besteht (3) als Lehre vom Erkennen einer Gesellschaft. (4) besteht sie als Aufweis der Gründe des Seins und des Erkennens der Gesellschaft überhaupt sowie (5) als nicht näher bestimmter Gegenpol zu den Besondern Soziologien. Es stellt sich die Frage, ob diese Bestimmungen im Ganzen bzw. welche dieser Bestimmungen geeignet sind, auf Bereiche der Gesellschaft angewendet zu werden. Die Prüfung der Behauptung führt zu folgendem Ergebnis. Zur Bestimmung (1) der Allgemeinen Soziologie: Nach ihr besteht die Feststellung gesellschaftlicher Tatsachen durch die Allgemeine Soziologie ohne Einschränkung. Wenn die Allgemeine Soziologie Tatsachen der Gesellschaft im Ganzen feststellt, ist nicht einzusehen, wie die gewonnenen Erkenntnisse auf Bereiche der 172 Karl-Heinz Hillmann, Art. Spezielle Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 829. 173 Bruno W. Reimann/Rüdiger Lautmann, Art. Bindestrich-Soziologie, in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 19943, S. 106. 174 Siegfried Lamnek, Art. Bindestrich-Soziologie, in: Gerd Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, München/Wien19973, S. 68.
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Gesellschaft angewandt werden können. Die allgemeine gesellschaftliche Tatsachenerkenntnis besteht in der Erkenntnis je dieser, als einer besondern Tatsache. Zur Bestimmung (2): Nach ihr ergründet die Allgemeine Soziologie festgestellte gesellschaftliche Tatsachen. Von dieser Durchdringung von Erfahrungsgegebenheiten gilt, was soeben gesagt worden ist. Da die Ergründung durchgängig besteht, ergibt sich aus ihr kein Bezug zu besonderen Bereichen der Gesellschaft. Die Allgemeine Soziologie nimmt über die soziologische „Empirie“ hinaus auch die Aufgabe der soziologischen „Theorie“ wahr. Die Theorie der Gesellschaft umfaßt auch die Theorie ihrer Bereiche. Zur Bestimmung (3) der Allgemeinen Soziologie: Nach ihr besteht die Allgemeine Soziologie als Wissenschaftslehre von der Gesellschaft. Sie ist die Lehre vom Begriff, von den Methoden und vom System des Erkennens der Gesellschaft. Wird die Allgemeine Soziologie als Wissenschaftslehre des gesellschaftlichen Erkennens aufgefaßt, sind die Besonderen Soziologien in der Tat Fälle ihrer Anwendung. Wie das hinsichtlich gesellschaftlicher Bereiche geschieht und auf welche systematische Weise dies möglich ist, bleibt jedoch unklar. Denn es stellt sich die Frage, wie die Allgemeine Soziologie als diese und zugleich als ihre Wissenschaftslehre bestehen kann. Die Antwort lautet: Daß solches unmöglich ist. Nimmt man den Begriff der Allgemeinen Soziologie im sachlichen Sinn, besteht zwischen ihr und den Besonderen Soziologien entsprechend dem unter (2) dargelegten Einwand keine Beziehung. Zur Bestimmung (4) der Allgemeinen Soziologie: Gemeint ist die Allgemeine Soziologie im Dienst der Auffassung der Gesellschaft überhaupt. Einsichten dieser Art betreffen die Gesellschaft und ihre Erkenntnis von vornherein. Es ist unmöglich, sie anzuwenden. Sie sind die Bedingung der Möglichkeit der Anwendung, sei es der Anwendung im Allgemeinen oder im Besonderen. Die Allgemeine Soziologie als Seins- und als Wesens- und damit als Kategorienlehre liegt außerhalb jeder Möglichkeit einer einzelwissenschaftlichen Erkenntnis besonderer gesellschaftlicher Bereiche. Damit zur Bestimmung (5): Sie ist nichtssagend. Sie formuliert einen wissenschaftssystematischen Sachverhalt. Sie will sagen, daß die Allgemeine Soziologie das Gegenteil der Besonderen Soziologien ist. Die an dieser Stelle wiederholte Meinung, daß die Speziellen Soziologien Anwendungen der Allgemeinen Soziologie sind, ist unbegründet. Sachlich erscheinen die Verhältnisse vielmehr im umgekehrten Sinn. Nach ihm muß man zum ersten sagen, daß die Allgemeine Soziologie bzw. die Soziologie schlechthin als die Summe der Besonderen Soziologien besteht. Zum zweiten: Sofern diese Summe eine Verallgemeinerung darstellt, ist die Allgemeine Soziologie eine abhängige und formalisierte Systematik zuvor gewonnener besonderer Erkenntnisse. Daß so gedacht wird, erklärt sich aus den Gewissensbissen der Soziologie, sich nicht im Empirischen zu verlieren. Den Anschluß an die Erkenntnis der Gesellschaft im Ganzen bzw. überhaupt will die herrschende (Allgemeine) Soziologie nicht verpassen.
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
Das Verhältnis zwischen der Allgemeinen Soziologie und den Besonderen Soziologien ist von Grund auf anders zu denken. Es ist schon angesprochen worden. Der Deutlichkeit wegen sei wiederholend gesagt: Die Allgemeine Soziologie richtet sich auf eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Das Erkennen zielt auf ihre Eigenschaften, wie sie aus den Ursprüngen der Gesellschaft überhaupt erwachsen. Das sind die Beschaffenheiten einer Gesellschaft in ihrer Seinsweise, in ihrer Form-Inhalt-Beziehung, als ichhaftes Wissen um diese Gesellschaft, in ihrem sachhaften Aufbau und als Bewirktsein. Dieser Ergründung des Bestandes einer Gesellschaft folgt in einem zweiten Schritt die Einsicht, daß die Gesellschaft gestaltet besteht. Gestaltetsein heißt, zu sein als geschlossene und gegliederte Ordnung. Geschlossenheit besagt, in sich geeint und nach außen unterschieden sein. Gegliedert sein heißt, daß Unterschiede zwischen den „Elementen“ bestehen. Auf die gegliederten Bestände einer Gesellschaft richten sich die Blicke der Besonderen Soziologien. Sie sind an sich unterschieden bzw. in ihrer Erkenntnis ausgerichtet auf unterscheidbare Bereiche der Gesellschaft. B. Die Bereiche der Gesellschaft und ihr Erkennen durch die Besonderen Soziologien Was als Bereich einer Gesellschaft gelten kann, ist ein Zweck-, Wert- oder Sinnzusammenhang einer gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Ein Zweckzusammenhang ist ein Verbundensein um eines mittelgebundenen Zieles willen. Das Verbundensein besteht aus Gründen des Nutzens. Als Wertzusammenhang findet sich ein Verbundensein unter den Angehörigen einer Gesellschaft um seiner selbst willen. Das Verbundensein ist ein Selbstwert der humanen Existenz. Als Sinnzusammenhang besteht eine Gesellschaft um einer Ausformung willen. Das Verbundensein besteht in schöpferisch hervorgebrachten Aufbauordnungen. Die soziologische Erkenntnis ist bemüht, diese Ordnungen nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die Sinnordnungen beziehen sich wohl, sind aber nicht abhängig von voraufliegenden Zwecken und Werten. Sie sind durch ihren sogenannten Gestaltsinn bestimmt, also durch zielstrebige Anordnungen von „Elementen“. Wie es scheint, sind die ausgebildeten Speziellen Soziologien zumeist zweckorientiert. Sie sind entwickelt als Erkenntnisdisziplinen um eines Nutzens willen. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Erkenntnis der Gesellschaft ist lehrreich. So haben die späten mittelalterlichen gesellschaftstheoretischen Meinungen dazu geführt, daß sich die Auffassung durchsetzte, der zufolge die überkommenen Philosophien weder religiöse Streitigkeiten zu schlichten noch leibliche Not zu lindern vermochten. Deswegen findet eine Denkweise Zuspruch, die Abhilfe verspricht. Sie ist mitmenschlicher Art und darauf ausgerichtet, Nutzen zu stiften. Überlegungen aus diesem Ursprung der Soziologie sind bis heute wirksam. Sie haben sich in Besonderen Soziologien diszipliniert.
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Die Speziellen Soziologien bestehen auch als Soziologien von Wertzusammenhängen. Sie werden zumeist als Kulturzusammenhänge angesprochen. Als Kultur ist zu bezeichnen, worin die Natur der humanen Existenz sich erfüllt. Die Erfüllung ist ein Sich-Erheben über die materiellen Notwendigkeiten. So läßt beispielsweise die neuzeitliche Gesellschaft die Volkstümlichkeit und das Handwerk usw. hinter sich, um der Wissenschaftlichkeit und den Techniken usw. Anwendungen einzuräumen. Zum dritten bestehen die Speziellen Soziologien als Erkenntnis sinnvoller gesellschaftlicher Gliederungen. Sie verstehen sich von Haus aus nicht von selbst. Sie wollen hervorgebracht sein. Nach den menschlichen Maßen sind sie bald mehr, bald weniger von der Vernunft bestimmt. Man mag zum Beispiel an die Vergesellschaftungen in der neuzeitlichen Wissenschaft denken. Die, die ihr angehören, können unterschiedlich gegliedert sein. Deswegen meint eine Zeit, daß Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit begründet ist; daß sie vollzogen wird in der Einheit von Forschung und Lehre; und daß sie ihr gesellschaftliches Ziel besitzt in der Gemeinschaft der Lehrenden und der Lernenden. Eine andere Zeit meint, daß die Wissenschaft geplant werden muß; daß Forschung und Lehre zu trennen sind und ein kontrolliertes Lehren und Lernen vonnöten ist. Es ist die Erforschung eines Gestaltungssinnes von Bereichen einer Gesellschaft, die zur Ausbildung von Speziellen Soziologien veranlaßt. Am Ende der Bestimmung der Bereiche einer Gesellschaft, auf die sich die Speziellen Soziologien beziehen, ist auf das Verhältnis zwischen diesen Soziologien und den sogenannten Gesellschaftswissenschaften hinzuweisen. Man kann nicht sagen, daß es klar benannt ist. Der Grund liegt in der mangelhaften Bestimmtheit des Ausdrucks der Gesellschaftswissenschaften. Dafür sei das folgende Beispiel zitiert: „Gesellschaftswissenschaften, Bezeichnung für Wissenschaften, die grundlegend und allgemein auf die Erforschung der Strukturen und Prozesse des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen ausgerichtet sind.“175 Die Mängel dieser Definition sind mit Händen zu greifen. Erforschen nicht die Allgemeine Soziologie und die Besonderen Soziologien die Strukturen und Prozesse des überraschend so bezeichneten gesellschaftlichen Zusammenlebens? Wenn das der Fall ist: Worin unterscheiden sich die Soziologie und die (Summe der) Gesellschaftswissenschaften? Indessen besteht zwischen ihnen ein Unterschied. Er kommt in der folgenden Beurteilung zum Ausdruck: „Gesellschaftswissenschaften sind Wissenschaften, deren Gegenstände mit dem gesellschaftlichen Dasein des Menschen dadurch zusammenhängen, daß sie diese in besonderer Weise als Erscheinungsformen des Zusammenlebens charakterisieren, von ihm in entscheidender Weise bedingt werden oder gestalt-
175 Karl-Heinz Hillmann, Art. Gesellschaftswissenschaften, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19944, S. 290.
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bildend in dieses hineinwirken.“176 Ein Beispiel kann das klargestellte Verhältnis verdeutlichen. Angenommen sei der Fall des wirtschaftenden „Menschen“. Im Sinn der Speziellen Soziologie der Wirtschaft zielt das Erkennen auf wirtschaftlich verbundene „Menschen“. Sie produzieren, distribuieren, konsumieren, administrieren, usw. Waren. Die Wirtschaftswissenschaft hat das Wirtschaften als solches im Auge. Demgegenüber ist gesellschaftstheoretisch von Belang, daß es eine Wirtschaft „mitmenschlich“ zu charakterisieren gilt, zum Beispiel hinsichtlich ihres vermeintlichen Ursprungs in der calvinistischen Ethik, in der Erfindung der Kredit- und Geldwirtschaft, in den Wegen des Handels, usw. Die Soziologie der Wirtschaft ist ein Erkennenwollen von wirtschaftlichem „menschlichen“ Verbundensein; die Wirtschaftswissenschaft ist ein Erkennenwollen der wirtschaftlichen „menschlichen“ Bedürfnisbefriedigung. Wenn man will, kann man sorgfältigerweise auch noch zwischen den Gesellschaftswissenschaften und den Sozialwissenschaften unterscheiden. Dazu heißt es: „Die Sozialwissenschaften haben solche Zusammenhänge vor Augen, in denen die Determiniertheit der menschlich-gesellschaftlichen Existenz durch das Leben ihrer natürlich-seelischen menschlichen Träger, seine Bedürfnisse und Notwendigkeiten als besonderes Problem der Erkenntnis des Zusammenlebens und der entsprechenden Gestaltungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich aufdrängen.“ – „Sie meinen, eine speziell ,soziale‘ Problematik, die in innerem Zusammenhang steht mit der Gesamtordnung einer Kulturgesellschaft und praktische Bedeutung gewinnt in sozialpolitischen und kulturpolitischen Aufgaben.“177
§ 16 Versuch einer Einteilung der Besonderen Soziologien A. Die bestehenden Auffassungen von der Ordnung der Besonderen Soziologien Es läßt sich nicht feststellen, wie viele Spezielle Soziologien entwickelt worden sind bzw. zur Zeit bestehen. Auch ist nicht zu erkennen, wie sie sich gliedern. Im folgenden wird versucht, wenigstens zu einem Überblick über die Zahl und die Art der Besonderen Soziologien zu kommen. Um ihn zu erreichen, dürfte es ratsam sein, sich an soziologischen Sammelwerken zu orientieren. In ihnen werden Spezielle Soziologien abgehandelt, so daß sie wenigstens aufzählbar sind.
176 Werner Ziegenfuß, Abschnitt II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 237. 177 Werner Ziegenfuß, Abschnitt II. Wesen und Formen der Soziologie, a. a. O., S. 237.
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Zum ersten sei aus einer Übersicht zitiert, die soziologiegeschichtlich beachtenswert ist. In alphabetischer Reihenfolge notiert, kann man dem Werk Spezielle Soziologien unter den folgenden Titeln bzw. Stichworten entnehmen: Arbeiter / Betrieb / Eigentum / Krieg / Musik / (Religiöse) Orden / Pädagogik / Politische Parteien / Recht / Religion / Selbsthilfe / Sittlichkeit / Sprache / Staat / Technik / Wirtschaft / Wissen.178
Zum Vergleich sei eine Übersicht bemüht, die Jahrzehnte später veröffentlicht worden ist. In ihr lauten die stichwortartig gefaßten Benennungen von Speziellen Soziologien wie folgt: Agrar(wesen) / Bevölkerung / Familie / Großstadt / Industrie und Betrieb / Politik / Primitive Gesellschaften / Vorindustrielle Gesellschaft.179
In der Hochzeit der deutschen Soziologie nach dem II. Weltkrieg werden in einem ehrgeizigen Sammelwerk die folgenden Benennungen Spezieller Soziologien aufgeführt: Alter / Beruf / Familie / Freizeit / Großstadt / Horizontale Mobilität / Industrie / Jugend / Konsum / Kriminalität / Massenkonsum / Medizin / Militär / Organisation / Religion / Sprache / Stadt-Land / Unterentwicklung / Vertikale Mobilität / Vorurteile.180
In einem soziologischen Lehrbuch aus jüngerer Zeit werden die folgenden Speziellen Soziologien unterschieden: Arbeit-Beruf / Bevölkerung / Bildung und Erziehung / Entwicklung(sländer) / FamilieJugend-Alter / Recht / Religion / Stadt-Region / Sozialarbeit / Sport / Technik / Wirtschaft (und Konsum).181
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie berichtet regelmäßig aus den Bemühungen ihrer Sektionen und Arbeitsgruppen. Kürzlich führte sie in diesem Sinn die folgenden speziellen soziologischen Absichten auf: Arbeit und Industrie / Bildung und Erziehung / Entwicklung (und Sozialanthropologie) / Frauen und Geschlechter / Jugend / Kindheit / Körper / Kultur / Ost- und Mitteleuropa / Ökologie / Politik / Progression / Recht / Stadt-Region / Ungleichheit / Wissen.182
Die Speziellen Soziologien scheinen zu kommen und zu gehen. Zeitnöte scheinen ebenso wirksam zu sein wie ehrgeizige Beliebigkeiten. Eine innere 178
Vgl. Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931. Vgl. Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln 1955. 180 Vgl. René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Zwei Bände, Stuttgart 1962. 181 Vgl. Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Spezielle Soziologien, Opladen 1993; das Werk ist unter dem Titel Einführung in die Praxisfelder der Soziologie in 2. Auflage erschienen Opladen 1997; in ihm findet sich neu abgehandelt die Spezielle Soziologie der Religion; die Spezielle Soziologie der Entwicklung(sländer) wurde gestrichen. 182 Vgl. Georg Vobruba (Hrsg.), Soziologie. Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 36. Jg., Heft 1, Wiesbaden 2007, S. 117. 179
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
Ordnung der Speziellen Soziologien ist so, wie sie entwickelt worden sind und sich entwickeln, nicht erkennbar. Um so nachdrücklicher stellt sich die Frage, ob nicht eine sinnvolle Einteilung der Besonderen Soziologien möglich ist. B. Vorschlag einer sinnvollen Einteilung der Besonderen Soziologien I. Der Vorschlag
Die begrüßenswerte Vielfalt einer Gesellschaft wird zur Plage, wenn sie sich beliebig ausnimmt. Ihr entgegen sei der Versuch unternommen, eine sinnvolle Einteilung der Besonderen Soziologien vorzuschlagen. Die nachstehende Tafel möchte einen Überblick über diese Einteilung geben. Tafel der besonderen gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche Eine Gesellschaft gliedert sich im Besonderen in ihre Grundgestalten:
Familie
Gemeinde
Staat
Gestaltungsräume:
Wirtschaft
Kultur
Politik
Gestaltungsmächte:
Erziehung
Religion
Recht
Gestaltungsordnungen als – Mittel:
Generation
>
Beruf
< Sitte
– Zweck:
Funktion
> Schichtung und Mobilität < Rang
II. Das Ziel einer Einteilung der Besonderen Soziologien
Der Name Einteilung besagt die Benennung von Teilen eines Ganzen, die als diese ausgewiesen werden. Der Einteilung liegt die Annahme zugrunde, daß es Ganzheiten gibt, die „sich austeilen“. Dieser Annahme folgend, ist eine Einteilung erschöpfend, sofern das möglich ist. Sie will alle Teile eines Ganzen erfassen und benennen. Zum zweiten strebt eine Einteilung danach, die Teile sorgfältig von einander zu scheiden. Überschneidungen von Bereichen sollten ausgeschlossen sein. Zum dritten: Der Grund, aus dem sich eine Einteilung ergibt, darf nicht gewechselt werden. Jede Ordnung der Teile und ihres Verhältnisses zueinander und zum Ganzen hat Bestand – jedenfalls bis auf weiteres.
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Bezogen auf das Erkennen der Soziologie besagen die angedeuteten Grundsätze, daß es zum ersten so Etwas wie ein Ganzes von Besonderen Soziologien gibt. Sie sind nicht beliebig. In ihnen kommt in Teilen eine Gesellschaft im Ganzen zum Ausdruck. Zum zweiten: In den Besonderen Soziologien werden unterschiedene gesellschaftliche Sachverhalte untersucht. Familie, Gemeinde und Staat sind solche Verschiedenheiten. Wenn es sich zum Beispiel um Fragen der religiösen Erziehung handelt, ist zu vereindeutigen, ob diese Fragen der Religion oder der Erziehung zuzuordnen sind. Zum dritten: Es gilt den Einteilungsgesichtspunkt zu erhalten. So wird beispielsweise das wirtschaftlich-gesellschaftliche Leben als Kapitalismus nur im wirtschaftlichen Sinn verstanden. Nicht weniger ist der Kapitalismus auch der Inbegriff eines politisch-staatlichen „Systems“. In der Einteilung der Besonderen Soziologien ist Achtsamkeit geboten. III. Die Gliederung der Besonderen Soziologien
Als Erklärung für die Einteilung der Besonderen Soziologien drängen sich verschiedene Merkmale auf. Ein erstes Merkmal besteht in denjenigen Kennzeichen gesellschaftlicher Gestalten, die dazu führen, daß man von Grundgestalten einer vollentfalteten Gesellschaft sprechen kann. Es sind das die Grundgestalten der Familie, der Gemeinde und des Staates. Die Familie ist ein erster Bereich der Gesellschaft kraft der Regeneration des Verbundenseins. Sie ist, wie man sagt, ein soziales universale unbeschadet ihrer Abwandlungen in den Räumen und Zeiten. Ähnlich verhält es sich mit der Gemeinde. Sie ist der erste entfaltete Verbund, in dem das Innensein und das Außensein ausdrücklich entwickelt sind. Obwohl sie eine begrenzte Gestaltung ist, enthält sie die Grundbestände des Zusammenseins der humanen Existenz. Das sind alle Arten der Verbindung zwischen Ich, Du und Wir, des vertrauten Umgangs ebenso wie des öffentlichen Lebens, und sie ist gleichzeitig herkunftsgebunden wie zukunftsorientiert. Sie gründet einerseits in religiösen Überzeugungen und andererseits im Befund, daß die gesellschaftliche ExistenzGestalt sich in Siedlungen verwirklicht. Schließlich ist die Grundgestalt des Staates zu nennen. Er besteht als Ausbau und Abschluß des Verbundenseins. Die Sorge um das allgemeine Wohl ist seine Aufgabe. Um sie erfüllen zu können, ist der Staat souverän, d.h. uneingeschränkt wirkungsmächtig. In vergleichbarer Weise lassen sich die Gestaltungsräume, die Gestaltungsmächte und die Gestaltungsordnungen einer Gesellschaft charakterisieren. Im folgenden mag es mit stichwortartigen Benennungen sein Bewenden haben. So besteht der Gestaltungsraum der Wirtschaft als Gewährleistung des Zusammenlebens. In der Kultur darf man die Sinnfindung im gesellschaftlichen Existieren erblicken. Die Politik besorgt die Sicherung des Verbundenseins. Entsprechendes kann man von den Gestaltungsmächten einer Gesellschaft sagen. Die Erziehung will erreichen, daß von innen heraus getan wird, was äußerlich geboten,
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3. Teil: Die realistische Erkenntnis der Gesellschaft
wenn nicht eben notwendig ist. Die Religion erstrebt die letzte Begründung und Zielangabe einer Gesellschaft. Die Meinung hat gute Gründe, daß nichtreligiöse Gesellschaften sich selbst aufzehren. Das Recht dient dem Ausgleich von unbilligen Verschiedenheiten im Zusammensein. Gestaltungsordnungen sind auf die Grundgestalten, die Gestaltungsräume und die Gestaltungsmächte zurückbezogen. Sie durchziehen eine Gesellschaft als Gestaltenwelt. Als Gestaltungsordnung ist zum ersten die Generationsordnung zu nennen. Sie gliedert eine Gesellschaft in die gedeuteten und bewerteten Gegebenheiten der Jugend, der Lebensmitte und des Alters. Das Natürliche der Generationsordnung ist bloß dann natürlich, wenn sie im Sinn des Bevölkerungsaufbaus einer Menschenmehrzahl aufgefaßt wird. Den generativen Gegebenheiten entgegengesetzt sind die Sitten. Man kann auch vom Ethos sprechen, also von den befolgten Regeln der Verbundenheit. Sie sind von verschiedener Art. Sie reichen von den Gewohnheiten über die Gemeinsamkeiten des Empfindens und der Gesinnung bis zu den Pflichten. Verstöße gegen die sogenannten guten Sitten werden bisweilen streng geahndet. Die Wahrung von Anstand und Redlichkeit sind das Ziel. Die Reichweite einer Sitte kann begrenzt sein oder eine Gesellschaft im Ganzen durchziehen. Die Einheit der Generationsordnung und der Sittenordnung kann man als Tätigkeitsordnung bezeichnen. Zumeist wird sie als Ordnung der Berufe und Gewerbe benannt. Die Gestaltungsordnungen sind sodann auch zweckbestimmte Ordnungen. Funktionsordnungen kann man diejenigen nennen, die gegliederte Aufgabenerfüllungen umfassen. Von ihr verschieden ist die Rangordnung. Sie ist nicht wie jene leistungsbestimmt, sondern in einer Anerkennung begründet. Jene und diese Ordnung als Einheit aufgefaßt, wird in der Regel als sogenannte gesellschaftliche Schichtung bezeichnet. Der Ausdruck, der aus der Erdkunde übernommen ist, meint Über-Unter-Ordnungsverhältnisse, die begründet sind in gesellschaftlichen Stellungen und Tätigkeiten, die diese und jene Wertschätzung erfahren. Vorgänge in der Schichtung werden in der soziologischen Fachsprache als Mobilität bezeichnet. Die genannte Einteilung der Besonderen Soziologien ist fähig, sich auszugliedern. Die Speziellen Soziologien können sich besondern. Als Beispiel für eine Verdeutlichung sei der Gestaltungsraum der Wirtschaft ausgewählt. Die Besondere Soziologie der Wirtschaft wurde und wird vielfältig untergliedert. Sie hat sich entfaltet in eine Soziologie des Angestellten, der ländlichen Existenzweisen, d.h. der Bauern, des Betriebes, des Haushalts, des Konsums, des Marktes, des Unternehmens, der internationalen (Geld-)Wirtschaft (Globalisierung), usw. Aber diese Besonderungen bleiben besonderte Ausgliederungen des Einteilungsgrundsatzes der Wirtschaft. Solchermaßen verhält es sich im vielfältigen besonderen soziologischen Erkenntnisstreben. Es ist neugierig. Die angegebene Einteilung der Besonderen Soziologien bleibt jedenfalls sinnvoll, so lange sie umfassend ist, die ausgegliederten Bereiche einer Gesellschaft unterscheidet und vernünftige Gründe der Unterscheidung angibt.
Vierter Teil
Das Wirksamsein der Gesellschaft Erstes Kapitel
Die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit § 17 Die Gesellschaft als Realität und als Wirklichkeit Die vorliegende Untersuchung hat das Ziel, das humane Zusammensein von zuständlichen Selbständen als Bestand aufzuweisen. Sie widerstreitet der verbreiteten Auffassung, nach der die bzw. eine Gesellschaft einerseits eine bloße Tatsache ist, also kein wesentlicher Sachverhalt, andererseits jedoch der „Menschen“ wegen, die im Spiel sind, als ein Befund der Sittlichkeit verstanden werden muß. Gesellschaftliches Sichverhalten ist danach zum einen nur ein Fall der betrachtenden, zum anderen ein Fall der sittlichen Erkenntnis. Gegen diese mangelhafte Bestimmung des Gesellschaftsdenkens und in der Folge der Gesellschaft wendet sich der erkennende Blick auf die Gesellschaft als Bestand. Im Realismus wird das Seiende, sofern es da ist, als real bestehend bezeichnet. Sofern es aktuell ist, also als ausgebildete Realität, ist es verschieden von der Potentialität, d.h. von der Möglichkeit. Sie ist nicht nichts, sondern ein Seinsbestand. Der Realismus unterscheidet sodann zwischen dem real Aktuellen und dem wirksamen Aktuellen. Das real Aktuelle heißt lateinisch actus, das wirklich Aktuelle wird actualitas genannt. Im Deutschen wird dieser Unterschied durch die Ausdrücke Realität und Wirklichkeit wiedergegeben. Das sind verdeutlichende Namen für das ruhend Daseiende und das bewegt Daseiende. Das bewegt Daseiende ist im Unterschied zum ruhend Daseienden das Wirkliche bzw. das Wirksame. Gewiß wird dieser Unterschied nur in aufmerksamen Wahrnehmungen und Denkweisen erkannt. Das Alltagsverständnis, aber auch die Wissenschaft unterscheiden kaum zwischen Realität und Wirklichkeit. Zumal in den Wissenschaften von der Gesellschaft ist die Unterscheidung nicht geläufig. Der Unterschied zwischen dem „Sein“ der Gesellschaft und dem „Wirksamsein“ der Gesellschaft ist eingeebnet. Der Realismus bestimmt das Verhältnis zwischen dem Seienden als Realität und als Wirklichkeit des genaueren. Er lehrt, daß die Realität sich in der Wirklichkeit vollendet: „In seinem innersten Grund gehört das Wirken zu den Trans-
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
zendentalien. Gewiß kann man nicht, wie der Dynamismus alles in bloßes, frei schwebendes Wirken auflösen. Doch vollendet sich das Wesen des Seins im Wirken, so daß das Sein erst im Vollzug ganz es selbst, ganz Sein ist. Das Wirken tritt jedoch nicht als eigenes Transzendentale auf, sondern ist im Wahren und Guten enthalten, die den Wesenszusammenhang mit Denken und Wollen und so mit dem Wirken darstellen.“1 Der Realismus kennt drei Typen des wirksam Seienden. Es besteht zum ersten als inneres Wirken. Es ist ein Tätigsein aus sich heraus und in sich bleibend. Es ist immanent, wie es heißt. Alltagssprachlich zumeist als Leben bezeichnet, wird es in der Fachsprache als operationales Wirken benannt. Von ihm unterschieden ist das hervorbringende Wirken. Es ist ein Wirken auf Etwas. Man kann dieses Wirken als aktives bzw. als transeuntes Wirken bezeichnen. Von jenem wie von diesem Wirken verschieden ist das Wirksamsein als Vollzug. Es ist ein Sich-Gegenwärtigsetzen. Dem Studium der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt sind diese Typen des Wirkens bekannt. Es unterscheidet die Operationen nach ihren räumlichen und zeitlichen Grenzen. Das aktive Wirken wird als Einwirken einer Gesellschaft auf eine andere Gesellschaft aufgefaßt und darüber hinaus als Einwirken auf eine menschliche Existenz-Gestalt und über sie hinaus auf die jeweilige natürliche und geistige Umwelt. Das vollziehende Wirken war ehedem gegenwärtig im Repräsentieren des Herrschers. Es findet sich heute im staatlichen Leben. So ist zum Beispiel vom Vollzug von Gesetzen, Vorschriften, Regelungen usw. die Rede. Im Gegensatz hierzu war einstmals der Vollzug in der Seins- wie in der Erkenntnislehre geläufig. Ihn meint der Grundsatz omne agens agendo perficitur, d.i. alles Wirkungsfähige vervollkommnet sich durch sein Wirken. Der vorherrschenden gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis liegt es fern, die bzw. eine Gesellschaft als Wirksamsein zu begreifen. Das gesellschaftliche Tätigsein wird als gesellschaftliches Geschehen aufgefaßt. Das Geschehen ist jedoch kein Wirken. Es ist ein Werden. Über das Geschehen und in der Folge über die Veränderungen wird gesellschaftswissenschaftlich ausgiebig gesprochen. Unter den Namen der Geschichts- bzw. der Sozialphilosophie sowie unter dem Namen der Soziologie des Wandels hat es sich reich entfaltet. Die folgende Zusammenfassung geschichtsphilosophischer Ausrichtungen mag zum ersten zu zitieren erlaubt sein. „Die idealistische Richtung der Geschichtsphilosophie faßt die Geschichte auf als Verwirklichung einer göttlichen Idee, die naturalistische als notwendige Folge von Naturgesetzen. Erstere trat in theistischer und in pantheistischer Form auf. Nach Hegel, dem die Geschichtsphilosophie trotz mancher Gewaltsamkeiten des Systems, tiefe Einsichten verdankt, ist die Geschichte der Werdegang des objektiven Geistes. 1 Johannes B. Lotz, Art. Wirken, in: Walter Brugger, Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 470.
1. Kap.: Die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit
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Sinn der Geschichte für den Marxismus ist die Entfaltung der produktiven Kräfte des Menschen im Hinblick auf eine kraft immanenter Widersprüchlichkeit der Gesellschaft entstehende klassenlose Gesellschaft. Zur naturalistischen Richtung gehört außer dem Marxismus auch der Positivismus Comtes. Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen verbindet die idealistische und die naturalistische Sichtweise.“2
Diese mensch(heit)lich-epochalen Geschichtsphilosophien wechselt die Soziologie in kleine Münze. Sie besteht in mannigfaltig entwickelten Zeitdiagnosen der eigenen Gesellschaft. Über ihren Zweck und über die Begründungen der aufgezeigten gesellschaftlichen Zustände wird gestritten.3 Das Wirksamsein einer Gesellschaft findet sich noch auf eine andere Weise in der gängigen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis. Ihren Ausgang besitzen die Überlegungen in den Lehren des gesellschaftlichen Sollens. Sie werden zusammenfassend zumeist als Sozialethik bezeichnet. „Die Sozialethik ist gewissermaßen das Gegenstück zur Individualethik, insofern sie die Rechte und Pflichten akzentuiert, die der einzelne nicht gegenüber sich selbst, sondern der menschlichen Gemeinschaft hat, in der er lebt.“ – Da der Mensch also „ein soziales Wesen ist, . . . haben sich gewisse Formen des Zusammenlebens und -handelns etabliert bzw. institutionalisiert (Ehe, Familie, Gesellschaft, Staat etc.) Deren Ordnungsprinzipien sind aus den ethischen Grundprinzipien Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde hervorgegangen und gebieten damit ein Verhalten, das nicht nur das physische Überleben der Mitglieder der Gemeinschaft ermöglicht, sondern auch zum größtmöglichen Glück und Wohlergehen aller beiträgt.“4
Dieses Studium der Ethik des humanen Zusammenseins zuständlicher Selbstände beeindruckt die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Bestände. Selbst die Soziologie als empirische Sozialforschung fühlt sich in die Pflicht genommen, die die Sozialethik ausspricht. Überrascht kann man das folgende lesen: „Einmal erfaßt, wird die Sonde der Wissenschaft zu einer Verpflichtung, die ihre Adepten nicht mehr losläßt. Da sie die Möglichkeit eröffnet, jene Verhältnisse zu durchleuchten, in denen die Menschenwürde unter Umständen gefährdet ist, wird auch die Anwendung dieses Instruments nicht 2 Walter Brugger, Art. Geschichtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 139. 3 Vgl. z. B. Armin Pongs (Hrsg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich. Band 1, München 1999/20042; Armin Pongs (Hrsg.), In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Gesellschaftskonzepte im Vergleich. Band 2, München 2000; Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, München 1997; Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hrsg.), Soziologische Zeitdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Opladen 2000; Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hrsg.), Soziologische Zeitdiagnosen II. Vergleichende Sekundäranalysen, Wiesbaden 2002. 4 Annemarie Pieper, Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie, München 1985, S. 58.
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
mehr in unser Belieben gestellt. Sie wird ebenfalls zur Pflicht. Die eigentliche Sünde und der Verlust der intellektuellen Rechtschaffenheit sind dann gegeben, wenn von diesem Werkzeug kein Gebrauch gemacht wird.“5 Die Soziologie als empirische Sozialforschung erfaßt also nicht nur gesellschaftliche Tatsachen. Sie weiß auch, worin die Menschenwürde besteht, und sie verteidigt sie mit ihren Mitteln. Diesem Denken verwandt, versteht sich die Ethik der Gesellschaft. Sie spricht über die sittlichen Regeln der gegenwärtigen Gesellschaft, die zu befolgen sind, zum Beispiel wie folgt: „Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im ganzen könnte sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität auszehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist.“6 Welche Folgen die erwähnte Entgleisung haben kann, untersuchen die Futurologen.7 In ihrer maßgeblichen Strömung bleibt die Soziologie der äußeren Erfahrung der Gesellschaft als Erkenntnisweise verpflichtet. Um sich durch die Sozialethik nicht „korrumpieren“ zu lassen, versteht sie die normativ-ethischen Fragen nicht im gemeinten Sinn. Sie denkt sie um in deskriptive Fragen. Zumal die Soziologie als empirische Sozialforschung verwandelt die von ihr als ethische Aufgaben erfaßten Verpflichtungen in Fragen der Erkenntnis von Gegebenheiten. Die Soziologie wird zur beschreibenden Moralwissenschaft. Sie wird wie folgt definiert: „Der Moralpositivismus anerkennt zwar eine sittliche Verpflichtung, begründet diese aber nicht aus einer inneren Werthaftigkeit der gebotenen Handlung, sondern rein aus einem äußeren Prinzip, nämlich dem Gehorsam gegenüber einer befehlenden Autorität, sei dies die Gesellschaft mit ihren kollektiven Wertvorstellungen (Durkheim), der Staatsgewalt (Hobbes) oder der freie Wille (Ockham).“8 Was heute Soziologie genannt wird, ist zu großen Teilen als beschreibende Moralwissenschaft entwickelt. Diese Beschaffenheit hindert sie daran, das Zusammensein humaner zuständlicher Selbstände in seinem Wirksamsein zu erfassen, zu ergründen und in der theoretischen Lehre von der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.
5 René König, Art. Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 19733, S. 19 f. 6 Jürgen Habermas, Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Katholische Akademie in Bayern (Hrsg.), zur debatte, 1/2004, S. 2. 7 Vgl. z. B. Horst W. Opaschowski, Wir werden es erleben, Zehn Zukunftstrends für unser Leben von morgen, Darmstadt 2002. 8 Walter Kerber, Moralpositivismus, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 199622, S. 252.
1. Kap.: Die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit
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§ 18 Das wirksame Denken der Gesellschaft Die gesellschaftliche Realität wird als Wirklichkeit verstanden, wenn man sie von ihrem Wirken her begreift. Wirksamsein heißt, sich ereignen. Als Ereignis bekundet und vollendet sich die Realität. Das Wirkvermögen erklärt sich nach dem Grundsatz agere sequitur esse, d.i. das Wirken folgt dem Sein. Da die humane Existenz sinnlich und geistig beschaffen ist, finden sich in ihr sinnliche und geistige Fähigkeiten des Wirkens. Weil das geistige Existieren das wirkmächtigere Existieren ist, besitzt es den Vorrang. Die Benennungen dieser Fähigkeiten sind verschieden. Zudem ist das unwillkürliche Wirken anders als das absichtliche. Jenes wird in der Alltagssprache benannt, dieses in der Wissenschaftssprache. Die Wissenschaft spricht vom humanen und damit auch vom gesellschaftlichen Wirken als einem geistigen Erkennen, d.h. vom Denken der Gesellschaft, und vom geistigen Streben, d.h. vom Wollen der Gesellschaft. Die Realdefinitionen dieser Benennungen lauten wie folgt: „Denken ist die auf Seiendes als solches und dessen Sinnbeziehungen gerichtete unanschauliche Erkenntnisweise.“9 Sowie: Geistiges „Erkennen und Wollen sind die beiden Grundweisen geistiger Betätigung“. Wollen besagt „nicht notwendig Streben nach einem erst zu erwerbenden oder zu verwirklichenden Gut. Sein Grundakt ist die Bejahung eines Wertes.“10 Zumal in ihrer Verbindung bilden das Denken und der Wille sich zu den genannten Typen des Wirkens aus, nämlich zum immanenten, zum transzendenten und zum repräsentativen Wirken. Das nicht-ausdrücklich benannte Wirken meint das geistige Tätigsein der humanen Existenz und damit des „Menschen“ als Gesellschaftswesen. Es benutzt gleichermaßen den Ausdruck des Denkens, das es in einem Sinn auffaßt, der weiter ist als der wissenschaftliche Gebrauch dieses Namens. Das Wollen tritt im Sprechen über das geistige Wirksamsein in den Hintergrund, sofern es nicht sogar als Bestandteil des Denkens aufgefaßt wird. Der Begriff des Denkens ist der Inbegriff der geistig wirksamen humanen Existenz. „Denken . . . (ist) im weitesten Sinn jedes aktive seelische Verhalten des Menschen im Unterschied zum Empfinden, Hingegebensein an Eindrücke, Waltenlassen von Bildern usw. So wird im allgemeinen Sprachgebrauch oft schon das Verweilen bei flüchtig auftauchenden Erinnerungsbildern, wobei man ,an gar nichts denkt‘, das anschauliche Vorstellen, das Vermuten (Dünken), Sicherinnern (Danken), Glauben, Hoffen, aber auch das willentliche Gerichtetsein auf etwas, das Vorhaben, Beabsichtigen usw. Denken genannt.“ – „Aus diesem weitesten Begriff des Denkens erklärt sich auch die alte, schon von Aristoteles vertretene Auffassung, daß das Denken 9 Alexander Willwoll, Art. Denken, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 59. 10 Alexander Willwoll, Art. Wille, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 465.
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
der entscheidende Wesenszug des Menschen sei (De an.III,3).“ – Die neuzeitliche Erkenntnis besinnt sich auf diesen ursprünglichen Befund. Vgl. z. B. Hegel: „,Wenn es richtig ist, daß der Mensch durchs Denken sich vom Tiere unterscheidet, so ist alles Menschliche dadurch und allein dadurch menschlich, daß es durch das Denken bewirkt wird.‘“11
In der wissenschaftlichen Erkenntnis der bzw. einer Gesellschaft wird zumeist der alltägliche Begriff des Denkens benutzt. Denken ist der Allgemeinname allen nicht-sinnlichen Wirkens der gesellschaftlichen Existenzgestalt. In der Verwendung dieses Begriffs ist zu berücksichtigen, daß er das genannte geistige Erkennen im engeren Sinn und das angegebene geistige Streben im engeren Sinn einschließt. Hinsichtlich des Denkens der Gesellschaft wird diese Auffassung zum Beispiel wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Soziologie im weitesten Sinn der Wortbedeutung nennen wir den Denkzusammenhang, in dem der Mensch seine Existenz als Gesellschaftswesen erkennt, zugleich aber immer auch entwirft, ausdrückt, gestaltet, deutet und formuliert.“12 Dieses unwillkürliche Gesellschaftsdenken ist eigentümlich nicht nur „für den das Ganze des Lebens umfassenden Genius und sein Werk, für den Künstler und Dichter, den Praktiker der Wirtschaft und Politik“13. Es ist gemeinhin da, weil in ihm die Wirklichkeit der „Menschen“ als Gesellschaftswesen besteht. Das Gesellschaftsdenken im angedeuteten weiten Sinn besitzt drei auffällige Merkmale. Es ist zum ersten lebendig, zum zweiten stilbildend und zum dritten persönlich. Lebendig ist das Gesellschaftsdenken, weil es aus einem ursprünglich sich bildenden Bestand besteht, den es in seinen Verwirklichungen zu erhalten gilt. Stilbildend ist es, indem es zwischen Möglichkeiten auswählt und deswegen unterschiedliche gesellschaftliche Aufbauordnungen erstrebt. Zum dritten: Das gesellschaftliche Wirken hängt von Trägern der Verwirklichung ab. Das sind tätige Personen als Gesellschaftswesen. Der Realismus hält jene Meinungen für irrig, die behaupten, daß das gesellschaftliche Wirken notwendig materiellen bzw. natürlichen Entwicklungen folgt oder ideenbestimmten Zielsetzungen gehorcht. Das Gesellschaftsdenken ist wirklichkeitsbestimmt. Es gleicht sich dem gesellschaftlichen Geschehen an. Das heißt nicht, daß es relativistisch ist. Indem es zwischen dem Sein und dem Wirksamsein der bzw. einer Gesellschaft unterscheidet und sich der letzteren zuwendet, sucht es deren Vervollkommnungsstreben zu erfassen. Dem entgegen spricht der herkömmliche gesellschaftswissenschaftliche Realismus stets nur vom gesellschaftlichen Sein. Aus diesem ver11 Johannes Hoffmeister, Art. Denken, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 19552, S. 154. – Vgl. auch § 10, A.III. 12 Werner Ziegenfuß, Art. II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 170. 13 Werner Ziegenfuß, Art. II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), a. a. O., S. 189.
1. Kap.: Die Erkenntnis der Gesellschaft als Wirklichkeit
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kürzten Blick erklären sich realistische gesellschaftliche Mißverständnisse.14 Das soziologische Denken hört auf „sinnvolles Verstehen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein, wenn es glaubt, diese von einem Denken unabhängigen ,Ansichsein‘ herleiten zu können. Die Gefahr, daß das soziologische Denken formelhaft erstarrt oder sich an ein Absolutes als eigentliches Wesen und letzten Daseinsgrund der Gesellschaft fixiert, ist überall und ständig gegeben. Sie besteht nicht nur in der Gesellschaftsphilosophie, sondern überall dort, wo Menschen als Gesellschaftswesen über sich selbst und das Zusammenleben reflektieren.“15 Das Gesellschaftsdenken, das als Erkennen benannt worden ist, ist durch die Regeln bestimmt, die die Lehre vom Denken entfaltet und begründet. Es erstreckt sich zwischen dem genannten alltäglichen Erkennen und dem wissenschaftlichen Erkennen, zwischen der auffassenden Tätigkeit insbesondere im allein geistigen Sinn als der Seins- und Wesenserkenntnis und ihren Sinnbeziehungen. Dieses Erkennen erfolgt in den Schritten der Relationseinsicht, der Begriffsbildung, der Schlußfolgerung und der Stellungnahme. Als Denktypen kennt es die Diskursion, die Reproduktion und die rationale sowie die intellektuelle Intuition. Als Gesellschaftsdenken ist es bestrebt, das humane Zusammen von zuständlichen Selbständen terminologisch, methodisch und systematisch zu erfassen. Es ist universalwissenschaftlich als Philosophie der Gesellschaft und spezialwissenschaftlich als Soziologie und in den Gesellschaftswissenschaften ausgebildet. An die Arbeitsweisen und Ergebnisse dieser Disziplinen denkt man, wenn man vom Gesellschaftsdenken als einem wissenschaftlichen Erkennen spricht. Vom unwillkürlichen und absichtlichen Gesellschaftsdenken als bevorzugt geistigem Erkennen ist verschieden das Gesellschaftsdenken als Entwerfen. Das Denken als Entwerfen besitzt seinen Ausgang in einem Wissen um das gesellschaftlich Mögliche. Des näheren ist es eine Ausrichtung von Gedanken auf Pläne der Gesellschaft und deren Verwirklichung. Mit anderen Worten: Es ist ein Bedenken des voraufliegenden gesellschaftlichen Seinsformengefüges bzw. des gesellschaftlichen Verwirklichungsschemas im Hinblick auf die Verwirklichung eines Existenzstils der Gesellschaft bzw. einer möglichen gesellschaftlichen Mitwelt. In der Folge wendet das entwerfende Denken sich den gesellschaftlichen Bewußtseinsweisen bzw. den Weisen des Wissens um eine Gesellschaft zu, sodann der gesellschaftlichen Ordnung bzw. ihrem Aufbau sowie schließlich der existentiellen Kausalität bzw. dem äußeren Bewirken einer Ge-
14 Vgl. z. B. Ferdinand Frodl, Gesellschaftslehre, Paderborn/München/Wien 1962, S. 184. 15 Werner Ziegenfuß, Art. II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), a. a. O., S. 189.
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
sellschaft. Das Entwerfen zielt auf die bzw. eine mögliche gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Vergesellung, die möglicherweise von Menschen oder von einer realen Gesellschaft entworfen worden ist, will ausgedrückt sein. Ausdrücken heißt, Inneres bzw. Bewußtseinsgehalte nach außen bzw. in die Sinnenwelt wenden. Ausdrücken ist ein Kundgeben von Erlebnissen. Es hängt ab vom human-existentiellen Ausdrucksvermögen und von dem ihm folgenden Ausdrucksverhalten, das wiederum vor allem durch die verfügbaren Ausdrucksmittel bestimmt ist. Die moderne gesellschaftstheoretische Erkenntnis erörtert diese Bestimmungen und ihren Zusammenhang unter dem Begriff der Kommunikation, also der Mitteilung. Gelingen die Mitteilungen unter Menschen, die eine Gesellschaft verwirklichen wollen bzw. unter humanen Existenzen als Gesellschaftswesen, die eine Gesellschaft erhalten und entwickeln wollen, nimmt das Gesellschaftsdenken die Form des Gestaltungsdenkens an. Es besteht im erkennenden Wollen einer gegliederten geschlossenen Ordnung der humanen Existenz. Eine solche Gliederung will zum ersten als verwirklichungsfähig erkannt sein. Zum zweiten ist einzusehen, daß die beabsichtigte Gestalt andere Gestaltungen ausschließt. Die Moderne hat ein gebrochenes Verhältnis zu diesen Bedingungen. Also spricht sie lieber vom gesellschaftlichen Verhalten bzw. Handeln. Es orientiert sich nicht am Sinn bzw. Ziel einer Gestalt. Es nimmt diese Orientierung zurück in singularisierte Aktivitäten. Gestaltung wird als Geschehen aufgefaßt. Die gestaltete Gesellschaft bedarf der Deutung. Nicht alle Menschen bzw. humanen Gesellschaftswesen fassen die entworfene, ausgedrückte und gestaltete gesellschaftliche Existenz-Gestalt in derselben Weise auf. Aus diesem Grund ist die Deutung der bzw. einer Gesellschaft nötig. Sie ist eine besondere Form des geistigen Erfassens. Deuten heißt, aufzuzeigen, zu erläutern, verstehbar zu machen und auf Zusammenhänge zu verweisen. Ziel der Deutung ist die Angabe eines Gestaltsinnes in der bzw. einer Gesellschaft. Er findet sich als semantischer, als teleologischer und als metaphysischer Sinn. Die gesellschaftstheoretische Erkenntnis ist dankbar, auf die Lehre vom Verstehen zurückgreifen zu können. Das Lehrstück in ihrer Mitte ist der Satz des sogenannten hermeneutischen Zirkels. Er besagt einen doppelten Schluß. Ihm zufolge erklärt sich die Singularität aus der Komplexität und umgekehrt die Komplexität aus der Singularität. Der Schluß ist kein circulus vitiosus. Denn es wird nicht das Eine aus dem Anderen und das Andere aus dem Einen erschlossen. Dem Schluß liegt vielmehr eine Gemeinsamkeit zugrunde. Unter dieser Voraussetzung geht es um die Erhellung des Verhältnisses zwischen dem Angehörigen einer Gesellschaft und einer Gesellschaft als einem Bewandtnisganzen. Was deutend erkannt worden ist, will verständlich gesagt sein. Das meint der Ausdruck formulieren. Man muß die erkannte, entworfene, ausgedrückte, gestal-
2. Kap.: Kritische Aufgaben der theoretischen Erkenntnis
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tete und gedeutete Gesellschaft zur Sprache bringen. Man muß ihr einen Namen geben. In der Namensgebung drückt sich ihre Erkenntnis aus. Damit kehrt das Gesellschaftsdenken zu seinem Ausgangspunkt zurück. Steht ihm noch kein Begriff zur Verfügung, muß man auf zeichenhafte Ausdrücke zurückgreifen. Sie sind zur Benennung der gegenwärtigen Gesellschaft üblich. Diese Gesellschaft sei kapitalistisch, industriell, modern, pluralistisch, unüberschaubar usw. heißt es. Eine hinreichende Formulierung ist das nicht. Dieser Mangel ist im Mangel ihrer Erkenntnis begründet. Zweites Kapitel
Kritische Aufgaben der theoretischen Erkenntnis einer Gesellschaft § 19 Die Wahrung der Sozialität einer Gesellschaft Die realistische theoretische Erkenntnis einer wirksamen Gesellschaft ist bemüht, diese Existenz nicht nur in ihrer Tatsächlichkeit zu erfassen, sondern auch in ihrem Wesen. Der Name des Wesens ist ein Inbegriff. Er umfaßt drei Bedeutungen, die verwandt sind. Das Wesen von Etwas benennt zum ersten sein Sosein. Es ist der Gegensatz zum Dasein. Das Sosein wird auch Wesenheit genannt. Die Wesenheit einer Gesellschaft ist ihr Verbundensein bzw. ihre Verbindlichkeit. Das Wesen besteht zum zweiten als Wesensform. Sie ist die Bestimmung von Stofflichem bzw. von Inhaltlichem. Eine Gesellschaft besitzt ihre Wesensform in den sozialen Existenzialien bzw. in der Fähigkeit der Vermittlung. Zum dritten besteht das Wesen als Wesensgrund. Er ist der Träger von Erscheinungen bzw. von Eigenschaften. Im gesellschaftlichen Fall sind es die Erscheinungen der bzw. die Eigenschaften einer Gesellschaft. Sucht man nach einem Namen, der das Wesen einer Gesellschaft verständlich ausdrückt, bietet sich der Name des Sozialen an. Selbstverständlich ist diese Wortwahl jedoch nicht. Denn das Wort sozial wird in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Der Ausdruck des Sozialen ist zum ersten in einem normativ-ethischen Sinn geläufig. Sozial zu sein wird als ein Tätigsein verstanden, das sittliche Regeln vorschreiben. Wer sozial tätig ist, wirkt als „Mensch“, der gerecht sein will. Gerechtigkeit wird also als Inbegriff der „menschlichen“ Pflichten und Tugenden verstanden. In einem zweiten Sprachgebrauch hat das Wort sozial einen anderen Sinn. Das Soziale wird gleichgesetzt mit dem Gesellschaftlichen, also mit der Realität bzw. mit der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Existenz-Gestalt. Die Namen des Sozialen und des Gesellschaftlichen besagen dasselbe. Diese Eineb-
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
nung des Bedeutungsunterschiedes der Bezeichnungen beherrscht die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis. Sozial bzw. gesellschaftlich wird gleichermaßen das sogenannte gute und das sogenannte schlechte Verbundensein genannt. Eine caritative Hingabe ist sozial = gesellschaftlich und deswegen so aufzufassen wie das gewalttätige Verhalten einer Räuberbande. Jene wie diese sind Bestände von der Art der Gesellschaft. Daß hier ein Unterschied nicht berücksichtigt wird, ist immer wieder als Einwand gegen die Gleichsetzung der Namen für die Vergesellung zu hören. Dieser Einwand ist nicht praktisch gemeint, also ethisch, sondern theoretisch, hervorgebracht von der Seinserkenntnis der Gesellschaft. Es ist ein Unterschied, ob ein humanes Zusammensein geglückt ist oder ob es beschränktermaßen besteht. Um gelungene Verbundenheiten von weniger oder gar nicht gelungenen Verbundenheiten zu unterscheiden, ist vorgeschlagen worden, den Namen des Prosozialen zu gebrauchen.16 Ihm würde der Begriff des Kontrasozialen entsprechen. Wie es scheint, ist diese Unterscheidung aber noch nicht lexikonreif. Der Aufweis der Bedeutungsunterschiede zwischen dem Ausdruck des Sozialen und dem des Gesellschaftlichen will darauf aufmerksam machen, daß eine Gesellschaft in der Tat bald mehr und bald weniger „gesellschaftlich“ verwirklicht sein kann. Eine Gesellschaft kennt Grade ihrer Verwirklichung. Um diese Grade zu benennen, ist der theoretische Begriff des Sozialen willkommen. Daß die gesellschaftstheoretische Erkenntnis in der Wahrnehmung dieses Sachverhaltes und seiner Benennung nur mangelhaft ausgebildet ist, muß man zur Kenntnis nehmen. Ein Vergleich sollte gestattet sein. Der prüfende Blick wendet sich von der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis ab und der Erkenntnis zu, wie sie in der essayistischen und in der Romanliteratur vorliegt. In ihr finden sich Gesellschaftszustände aufgezeigt, die sorgfältig unterschieden sind. In beispielhaften Episoden wird das wirksame, nach einem Lebensstil strebende und von Personen verantwortete Suchen nach einer sozialen Gesellschaft dargestellt. Als wegweisende Werke der Erforschung der eigenen Gesellschaft gelten die Schriften des literarischen Realismus bzw. Naturalismus. Sie werden maßgeblich in Frankreich erarbeitet. Als Autoren wären zu nennen: Marie-Henri Beyle d.i. Stendhal (1783–1842), Honoré de Balzac (1799–1850), Gustave Flaubert (1821–1880), Emile Zola (1840–1902). In Deutschland wird die Literatur dieser Gattung zumeist als bürgerlicher Realismus bezeichnet. Als einer der ersten Autoren ist ihm Gustav Freytag (1816–1895) verpflichtet. Bald im strengen, bald im weiteren Sinn schreiben realistisch Theodor Storm (1817–1888), Gottfried Keller (1819–1890), Theodor Fontane (1819–1898), Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898), Wilhelm Raabe (1831–1910) und zahlreiche weniger bekannte 16 Vgl. z. B. Helmut E. Lück, Prosoziales Verhalten. Empirische Untersuchungen zur Hilfeleistung, Köln 1975.
2. Kap.: Kritische Aufgaben der theoretischen Erkenntnis
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Autoren. In unseren Tagen ist das Werk von Walter Kempowski (1927–2007) beispielhaft; vielleicht sollte man auch den Roman von Martin Walser (geb. 1927) Ohne einander ebenso wenig unerwähnt lassen wie die „Textsammlung“ von Botho Strauß (geb. 1944) Paare, Passanten. Es mag erlaubt sein, aus einem jüngst erschienenen Roman zu zitieren. In ihm fragen sich zwei Freunde nach den Bedingungen der loyalen, also der sozialen gesellschaftlichen Existenz. „Nach einer Weile kam er mit einem Blatt Papier wieder. ,Hier. Das haben wir einmal zusammen aufgeschrieben. In Coimbra, als uns die ganze Welt zu gehören schien.‘ Es war eine Liste, und darüber stand: Lealdade por. Darunter hatten Prado und O’Kelly die Gründe notiert, aus denen heraus Loyalität entstehen kann. Schuld am anderen; gemeinsame Entwicklungsschritte; geteiltes Leid; geteilte Freude; Solidarität der Sterblichen; Gemeinsamkeit der Ansichten; gemeinsamer Kampf gegen außen; gemeinsame Stärken, Schwächen; Gemeinsamkeit im Nähebedürfnis; Gemeinsamkeit des Geschmacks; gemeinsamer Haß; geteilte Geheimnisse; geteilte Phantasie, Träume; geteilte Begeisterung; geteilter Humor; geteilte Helden; gemeinsam getroffene Entscheidungen; gemeinsame Erfolge, Mißerfolge, Siege, Niederlagen; geteilte Enttäuschungen; gemeinsame Fehler. Er vermisse auf der Liste die Liebe, sagte Gregorius. O’Kellys Körper spannte sich, und für eine Weile war er hinter dem Rausch wieder ganz wach. ,Daran glaube er nicht. Mied sogar das Wort. Hielt es für Kitsch. Es gebe diese drei Dinge, und nur sie, pflegte er zu sagen: Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit. Und alle seien sie vergänglich. Am flüchtigsten sei die Begierde, dann komme das Wohlgefallen, und leider sei es so, daß die Geborgenheit, das Gefühl, in jemandem aufgehoben zu sein, irgendwann auch zerbreche. Die Zumutungen des Lebens, all die Dinge, mit denen wir fertig werden müßten, seien einfach zu zahlreich und zu gewaltig, als daß unsere Gefühle sie unbeschadet überstehen könnten. Deshalb komme es auf die Loyalität an. Sie sei kein Gefühl, meinte er, sondern ein Wille, ein Entschluß, eine Parteinahme der Seele. Etwas, das den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandle. Ein Hauch von Ewigkeit, sagte er, nur ein Hauch, aber immerhin.“17
Was der Romanautor Loyalität nennt, ist gesellschaftstheoretisch als Sozialität zu bezeichnen. Nach seinem Urteil findet diese sich in der eigenen Gesellschaft „wenigstens als ein Hauch“. Sie ist nicht in ihrer möglichen Fülle da. Die Sozialität ist verarmt. Sie ist nur mangelhaft verwirklicht. Dieser Sachverhalt der gradhaften Verwirklichung ist der Grund, aus dem „die Wirklichkeit des Zusammenlebens immer wieder vor der allgemeinsten Frage“ steht, „ob ein Zustand oder ein Verhalten, ein Milieu oder eine besondere Entscheidung als sozial, oder als asozial, unsozial oder antisozial gelten müssen“18. Wenn das gePascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon. Roman, München/Wien 2004/200617, S. 257 f. 18 Werner Ziegenfuß, Art. II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 202. 17
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
sellschaftstheoretische Erkennen diesem Denken des gesellschaftlichen Alltags folgt, geht es wie dieses, von der Voraussetzung aus, daß es ein An-sich-Sein der Gesellschaft gibt. Es besteht als Verbindlichkeit bzw. als Verbundenheit. Zugleich erkennt es, daß es hinter diesem An-sich-Sein zurückbleiben kann und in der Wirklichkeit auch zurückbleibt. Ihrem Wesen nach sozial, verwirklicht eine Gesellschaft sich vielfach nur in ihren sozialen Graden. Sie ist, wie das menschliche Existieren, nämlich bald mehr, bald weniger vollendet. Deswegen ist zu lesen: „Zwar wirken“ in diesem Erkennen „immer vielfältig bedingte normative Gesichtspunkte mit, jedoch geht es immer zugleich auch um ein ,Wesen‘ der Familie, des Betriebes und so weiter oder der Gesellschaft schlechthin.“ Hieraus folgt, daß die „Verantwortung der Theorie . . . keineswegs nur ,theoretischer‘ Art“ ist. Denn es „schwebt auch der ,Praxis‘ immer eine Grundbestimmtheit der Formen und Zusammenhänge theoretisch mit vor, über die sie urteilt“.19 Die gesellschaftstheoretische Erkenntnis der wirksamen gesellschaftlichen Existenz-Gestalt ist kritischer Natur. Zu ihren Aufgaben gehört das Erkennen, das Aussprechen und das Zur-Geltung-Bringen der praktisch folgenreichen erkenntnistheoretischen Beurteilung des Bestandes einer Gesellschaft. Sie benennen den gesellschaftlichen Bestand als soziale Gesellschaft oder als Gesellschaft, die in Graden sozial verfällt. Am Ende des Verfalls findet sich die Antisozialität. In ihr kommt die Unsozialität als die Steigerung der Asozialität zum Ende. Vom Ausgang der singulär bestimmten Sozialität20 kann sich eine Gesellschaft vollkommen erschöpfen. Kräfte ihrer Auflösung bewirken ihren Verfall. Die Folge der Antisozialität besteht im Übergang in die menschliche ExistenzGestalt. Aus gesellschaftlicher Sicht erscheint dieses Existieren als egologisch, wenn nicht als egoistisch.21 Aus dem Verständnis der humanen Existenz be19 Werner Ziegenfuß, Art. II. Wesen und Formen der Soziologie, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, a. a. O., S. 202. 20 Vgl. z. B. Hermann Schreiber, Singles. Allein leben. Besser als zu zweit? München 1978; Jürgen vom Scheidt, Singles. Alleinsein als Chance des Lebens, München 1979; Claus Gaedemann/Sibylle Weber, Report über die Alleinlebenden, München 1980: Claudia Szczesny-Friedmann, Die kühle Gesellschaft. Von der Unmöglichkeit der Nähe, München 1991; Gerd Grözinger (Hrsg.), Das Single. Die Lebenssituation Alleinstehender, Leverkusen 1994; Stefan Hradil, Die „Single-Gesellschaft“, München 1995; Jutta Kern, Singles. Biographische Konstruktionen abseits der Intim-Dyade, Wiesbaden 1998; Jutta Stich, Alleinleben – Chance oder Defizit?, Wiesbaden 2002. 21 Vgl. z. B. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845/Neuauflage Berlin 1924, S. 179: Ich muß die Gesellschaft „vernichten“ und „bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten“; vgl. die Abwandlung in: Fritz J. Raddatz, Kontaktsperre. Die moderne Literatur ist eine Bestandsaufnahme der Beziehungslosigkeit, in: Die Zeit, Nr. 43, 20.10.1978, Wiederabdruck in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur geistigen Situation der Zeit. 2. Band: Politik und Kultur, Frankfurt a. M. 1979 oder auch Ulrich Beck/Wilhelm Vossenkuhl/Ulf Erdmann Ziegler (Hrsg.), Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. Mit Fotos von Tim Rauscher, München 1995.
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trachtet, ist sorgfältiger zu urteilen. Denn die humane Existenz existiert als humaner zuständlicher Selbstand weiter, also im Menschen und seinen Beziehungen. Das gilt im Einzelnen und im Allgemeinen.
§ 20 Die Wahrung der Lebendigkeit des sozialen Bewußtseins einer Gesellschaft Das gesellschaftliche Erkennen besteht nicht nur in einer Besinnung auf das Wesen einer Gesellschaft, also auf die Sozialität. Es besteht auch in einer Kritik der Erscheinung einer Gesellschaft. Sie ist maßgeblich eine Kritik des sozialen Bewußtseins. Eine Gesellschaft als Ordnung bzw. eine Gesellschaft als Aufbau sind dem Wissen um eine Gesellschaft nachgeordnet. Lebendig ist eine Vergesellung im Bewußtsein ihrer Angehörigen. Über diesen Befund ist oben gesprochen worden. Unterschieden wurde zwischen den Graden, den Arten und den Erstreckungen des sozialen Bewußtseins. Als Grade dieses Bewußtseins wurden das unmittelbare und das reflexe Bewußtsein benannt. Als Arten wurden erwähnt der Zustand und die Gewichtigkeit von Erlebnissen, wie sie sich im Bewußtsein finden. Zum dritten wurden Erstreckungen des Bewußtseins aufgewiesen, also deren polare Ausgespanntheiten. Der Vielschichtigkeit des sozial beschaffenen Bestandes der Gesellschaft entspricht die Vielschichtigkeit des sozialen Bewußtseins von ihr. Dem aufgezeigten Befund muß eine erkenntniskritische Beurteilung folgen. Sie ruft ins Gedächtnis, was schon angedeutet worden ist. Das soziale Bewußtsein besteht als voll ausgebildeter Bestand zum ersten in seinen Graden. Der erste Grad ist das unmittelbare Bewußtsein. Es ist da mit dem Existieren der humanen Existenz. Es besteht als Bewußtheit, als Bewußtsein und als Bewußthaben. Der zweite Grad ist das reflexe Bewußtsein. Dem ursprünglichen Bestand folgend, findet es sich in den Formen des Akt- oder Zustandsbewußtseins, des Objekt- oder Gegenstandsbewußtseins sowie als Subjekt, Ich- oder Selbstbewußtsein. Die genannten Grade sind jedoch nicht immer voll ausgebildet. Das gilt vom unmittelbaren wie vom reflexen Bewußtsein. Vergleichbares ist von den Arten des Bewußtseins zu sagen. Es kennt einseitige Ausbildungen und Unterordnungsverhältnisse von Bewußtseinszuständen. Drittens erstreckt sich das Bewußtsein zwischen Polen. Im nicht-reflexen Sinn ist das Bewußtsein ausgestreckt zwischen dem Besonderen und dem Gesamten, zwischen dem Innen und dem Außen sowie zwischen Sinn und Tatsache. Das reflexe Bewußtsein gründet in diesen Erstreckungen. Um es als reflexes Bewußtsein kenntlich zu machen, werden in der Regel andere Benennungen verwendet. Das reflexe Bewußtsein erstreckt sich zwischen dem Speziellen und dem Generellen, zwischen der Subjektivität und der Objektivität sowie zwischen der Theorie und der Empirie.
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4. Teil: Das Wirksamsein der Gesellschaft
Ob in einer Gesellschaft diese vielfältigen Ausbreitungen des sozialen Bewußtseins ausgebildet sind und verwirklicht bleiben, bedarf der Überprüfung. Wie es scheint, sind einseitige Ausbildungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Nach diesen Bewußtseinslagen werden das Wesen und die Erscheinungen einer Gesellschaft aufgefaßt und beurteilt. So ist eine Gesellschaft – fachsoziologisch gesprochen – bald speziell, subjektiv und theoretisch bestimmt, bald generell, objektiv und empirisch beschaffen. Jener Auffassung liegt in der Regel ein bestimmendes Gegenstandsbewußtsein, dieser ein bestimmendes Selbstbewußtsein zugrunde. Zumeist kennen diese Bewußtseinsformen auch andere Bewußtseinsgewichtungen. Dennoch halten sie an ihren Bevorzugungen fest. Sobald die Einseitigkeiten bemerkt werden, besinnt sich die gesellschaftstheoretische Erkenntnis auf ihre kritische Zuständigkeit. Sie sieht sich veranlaßt, der Erstarrung des gesellschaftlichen Lebens entgegen zu wirken. Durch ihre Erkenntnis ruft sie die Mannigfaltigkeit des sozialen Bewußtseins in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurück. Sie möchte, daß die Fülle des sozialen Bewußtseins einer Gesellschaft lebendig bleibt.22
22 Vgl. das bisher nicht veröffentlichte opus postumum von Werner Ziegenfuß: WIRKLICHES DENKEN. Es findet sich als Rohmanuskript im Werner-Ziegenfuß-Archiv der Universität Regensburg.
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Namensverzeichnis Abaelard, Peter 410 Abel, Gerd 212 Abels, Heinz 170, 418 Abraham, Martin 170 Acham, Karl 191, 425 Adorno, Theodor W. 211, 225, 295 Albert, Hans 164, 211, 425 Albert, Karl 164 Albertus Magnus 328 Alkmaion 68, 69, 394 Allmendinger, Jutta 219 Andreski, Stanislav 212 Angehrn, Emil 164, 279 Apel, Karl-Otto 165, 167 Arendt, Hannah 225 Aristoteles 61, 74, 77, 82–93, 99, 114, 133, 184, 227, 230–233, 243, 246, 247, 262–268, 289, 290, 297, 309, 313, 318, 320, 321, 326–331, 342, 376, 392, 394–400, 404, 405, 419, 426–430, 439, 443, 444, 448, 451, 452, 458, 470, 471, 475, 476, 481– 484, 555 Aron, Raymond 188 Augustinus, Aurelius 35, 75, 93, 94, 328–331, 342, 347–349, 351, 379, 409, 410, 412, 413 Austeda, Franz 47, 339, 361, 476 Baader, Franz von 146 Bachmann-Medick, Doris 470 Backes, Gertrud 43 Bacon, Francis 114, 130 Baeumler, Alfred 149 Bahrdt, Hans Paul 170 Balog, Andreas 213
Balzac, Honoré de 184, 560 Baumgartner, Hans Michael 232, 246, 255 Beck, Eleonore 341 Beck, Ulrich 177, 180, 219, 562 Becker, Claudia 409 Behrendt, Richard 188 Bellebaum, Alfred 170 Berger, Peter L. 36, 177, 188 Bergstraesser, Arnold 294 Bernhart, Joseph 75, 243, 342, 410, 412 Bernsdorf, Wilhelm 192, 295 Best, Bettina 410 Bidden, Helga 177 Biemel, Walter 285 Bieri, Peter 310 Bismarck, Otto von 416 Blumer, Herbert 177 Bock, Michael 37 Boethius, Manlius Severinus 56, 342 Bölsche, Wilhelm 337 Bonifaz VIII. (Papst) 110 Bouman, Pieter Jan 188 Bourdieu, Pierre 169, 176, 180 Bovillus, Carolus 444 Brasser, Martin 346 Braun, Hans 188 Brauner, Hilmar 290 Brentano, Franz 308 Brieskorn, Norbert 65, 240, 383 Brock, Dietmar 169 Brugger, Walter 66, 67, 104, 227, 232– 242, 245–264, 268, 297–299, 305, 309–311, 314, 316, 323, 324, 330, 350, 357, 360, 368–372, 387, 391, 397–399, 404, 407, 420, 421, 429,
586
Namensverzeichnis
434, 435, 439, 441–448, 452, 464, 474, 477–483, 502, 507–514, 518, 552–555 Brunner, Emil 345 Brunner, Karl-Michael 178, 180, 181 Brusotti, Marco 414 Buber, Martin 60, 165, 345 Bühl, Walter 290 Burghardt, Anton 188 Burkard, Franz-Peter 23, 334, 335, 391 Büschges, Günter 23, 170 Capelle, Wilhelm 68, 69, 376 Casmann, Otto 323 Cassirer, Ernst 406 Cicero, Marcus Tullius 74, 83, 444 Coleman, James C. 176 Columbus, Christoph 111 Comte, Auguste 99, 152–154, 169, 184, 277, 278, 442, 448, 449, 463, 464, 471, 522, 553 Coreth, Emerich 232, 477 Cusanus, Nikolaus 108, 109 Dahrendorf, Ralf 211, 214, 523 Damur, Carl 171 Deku, Henry 171 Demmerling, Christoph 383 Demokrit 376 Dempf, Alois 171 Descartes, René 122–126, 130, 136, 187, 231, 331–336, 349, 350, 402, 406, 466 Dewender, Thomas 400 Diemer, Alwin 163 Dierse, Ulrich 278, 392 Dilthey, Wilhelm 28 Dreitzel, Hans-Peter 213 Drüe, Hermann 379 Dülmen, Richard van 350 Duns Scotus, Johannes 106, 107, 121, 328 Dürer, Albrecht 416 Durkheim, Emile 37, 202, 554
Eberlein, Gerald 425 Ebner, Ferdinand 165 Eden, Tania 225 Eichhorn, Wolfgang 531 Eickelpasch, Rolf 291 Eisenstadt, Shmuel 212 Eisermann, Gottfried 170, 213 Elias, Norbert 169, 177, 180, 212, 213, 412, 526 Endruweit, Günter 23, 291, 420 Engels, Friedrich 277, 468, 469 Epikur 444 Erasmus von Rotterdam 113 Esser, Hartmut 170, 425 Ezechiel (Prophet) 341 Fabio, Udo di 211 Feldmann, Klaus 170 Ferguson, Adam 137 Fisseni, Hermann-Josef 357 Flaubert, Gustave 560 Fontane, Theodor 560 Foppa, K. 393 Fornefeld, Gabriele 210 Forschner, Maximilian 164 Francis, Emerich 188 Frank, Anne 411 Franz, Arthur 119 Frenzel, Ivo 163 Freund, Julien 212 Freyer, Hans 535, 537 Freytag, Gustav 560 Friedenthal, Richard 350 Friedrich, Jürgen 188 Friedrich der Weise 416 Fritz-Vonnahme, Joachim 218 Frodl, Ferdinand 530, 557 Fuchs, Hans Jürgen 379 Fuchs-Heinritz, Werner 22, 28, 30, 55, 189, 444, 462, 542 Fugger, Jakob 109 Funiok, Rüdiger 372 Funk, Walter 170 Fürstenberg, Friedrich 188
Namensverzeichnis Gabriel, Gottfried 512 Gadamer, Hans-Georg 323 Gaedemann, Claus 562 Galilei, Galileo 114, 130 Garfinkel, Harold 177 Geach, Peter Thomas 402 Gehlen, Arnold 51, 165, 188, 322, 547 Geiger, Theodor 207, 208 Gerhardt, C. J. 121 Giddens, Anthony 170, 177, 180, 280 Giesen, Bernhard 425 Gigon, Olof 326 Glasersfeld, Ernst von 334, 353 Gloy, Karen 405 Goclenius, Rudolf 321 Goethe, Johann Wolfgang von 47, 144, 373, 412, 413 Goffman, Irving 177 Görg, Christoph 213 Goudsblom, Johan 213 Gouldner, Alvin 213 Grathoff, Richard 291 Graumann, Karl Friedrich 393 Gregor von Nazianz 410 Grieswelle, Detlef 188 Grözinger, Gerd 562 Gründer Karlfried 60, 61, 74, 77, 101, 116, 162, 232, 328, 337, 350, 370, 379, 392, 400, 512 Guardini, Romano 60, 345 Gumplowicz, Ludwig 292 Gutenberg, Johannes 111 Haas, Adolf 513 Habermas, Jürgen 165–167, 177, 211, 212, 425, 473, 526, 554, 562 Haecker, Theodor 380–383 Haeffner, Gerd 21, 323 Hahn, Alois 188 Halbfass, Wilhelm 232 Halder, Alois 20, 234, 318, 346, 375, 435, 437, 442, 449, 453, 470, 474, 476, 515
587
Haller, Max 213 Hartmann, Nicolai 257 Hauck, Gerhard 169 Heckmann, Friedrich 293 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 144–150, 180, 232, 240, 276, 277, 361, 401, 461, 468, 469, 471, 474, 530, 552, 556 Heidegger, Martin 165, 251, 252, 323, 332, 362, 363, 378 Heimsoeth, Heinz 121 Hengstenberg, Hans-Eduard 239, 291 Hennecka, Hans Peter 170 Henrich, Dieter 405 Henscheid, Eckhard 40 Herakleitos 68 Herbart, Johann Friedrich 361 Herodot 99 Herrmann, Theo 340 Herrwig, H. 350 Hesse, Hermann 351–355 Hildebrand, Dietrich von 210, 239, 291 Hillmann, Karl-Heinz 22, 23, 26–32, 41– 43, 50, 52, 54, 101, 131, 168, 169, 187, 189, 191, 204, 219, 233, 290, 404, 425, 433, 459, 460, 461, 465, 512, 523, 524, 542, 545 Hinck, Walter 412 Hirschberger, Johannes 85, 126, 262, 290 Hitler, Adolf 210 Hobbes, Thomas 130–137, 142, 143, 231, 554 Hochkeppel, Willy 281 Hoefnagels, Harry 291 Höfer, Josef 108, 349 Höffe, Otfried 167, 402, 428, 470 Hoffmeister, Johannes 394, 556 Hofstätter, Peter R. 340 Hohmann, Rainer 279 Holzhey, Helmut 328 Homans, George C. 176, 526 Hondrich, Karl Otto 212 Honneth, Axel 164
588
Namensverzeichnis
Horster, Detlef 163, 167 Hradil, Stefan 562 Huber, Helmuth P. 340 Hügli, Anton 379 Hume, David 137, 214, 336, 442, 452, 454, 513 Husserl, Edmund 165, 177, 187, 232, 284–286, 290, 291, 309, 332, 402, 533 Janssen, Hans-Günter 101 Janssen, Paul 286 Jany, Brigitte 300 Jaspers, Karl 23 Jedin, Hubert 108 Joas, Hans 170 Jonas, Friedrich 169 Joyce, James 409 Junge, Matthias 169 Kaehlbrandt, Roland 40 Kamper, Dietmar 213 Kant, Immanuel 40, 41, 45, 56, 140, 185, 187, 199–203, 232, 245, 261, 272–274, 279–285, 332, 333, 337, 350, 351, 360, 381, 382, 385, 387– 390, 401, 402, 437, 441, 445, 452, 464, 467, 493, 497, 511, 515, 519, 529, 533 Karrenberg, Friedrich 233 Käsler, Dirk 169, 170, 280, 291, 293 Kather, Regine 346 Kaufmann, Franz-Xaver 300 Kaulbach, Friedrich 462 Kaupp, P. 23 Keller, Gottfried 560 Keller, Werner 413 Kempowski, Walter 561 Kerber, Walter 61, 162–166, 242, 554 Kern, Jutta 562 Kern, Lucia 462 Kessler, Susanne 177 Kierkegaard, Sören 362, 380, 381 Kieserling, André 219
Kiss, Gábor 169, 170 Kissler, Alexander 167 Kleinhappl, Johannes 104 Klenovits, Klaus 425 Klima, Rolf 25, 55, 445 Klose, Alfred 162, 164, 233 Klüber, Franz 233 Kluth, Heinz 188 Knebel, Hans Joachim 188 Kneer, Georg 334, 335, 524, 553 Knoll, August 60, 211 Knospe, Horst 192, 295 Kob, Janpeter 213 Kobusch, Theo 346 Koch, Volker 30 Koepp, Jürgen 413 Koesters, Heinz-Paul 109 Koltermann, Rainer 65, 240 Konegen, Norbert 425 König, René 37, 40–42, 163, 185, 189, 192–194, 236, 412, 459, 465, 547, 554 Korte, Hermann 99, 170, 547 Krähnke, Uwe 169 Krawietz, Werner 213 Kreckel, Reinhard 188 Krings, Hermann 232, 246, 255 Kroeber-Riel, Werner 425 Kröll, Friedhelm 293 Krüger, Gerhard 35, 287 Krysmanski, Hans-Jürgen 212 Kuhn, Helmut 37, 187, 286, 473 Kurt, Ronald 291 Kurucz, Jenö 420 Kurz, Edelbert 75, 530 Kwant, Remigius 60 Lambert, Johann Heinrich 282 Lamnek, Siegfried 542 Landgrebe, Ludwig 212 Landmann, Michael 323 Landshut, Siegfried 471
Namensverzeichnis Landweer, Hilge 383 Lange, Friedrich Albert 337 Lautmann, Rüdiger 43, 542 Lehmann, Burkhard 291 Leibniz, Gottfried Wilhelm 121, 312, 444, 449 Leinfellner, Werner 425 Leinkauf, Thomas 400 Lembeck, Karl-Heinz 279 Lenbach, Franz von 416 Lenz, Karl 291 Lepenies, Wolf 169 Lepsius, M. Rainer 212 Lévi-Strauss, Claude 526 Liebsch, Burkhard 164 Liselotte von der Pfalz 126 Livius, Titus 71, 111 Locke, John 136, 137, 336, 442 Lotz, Johannes B. 238, 324, 350, 368, 371, 387, 429, 479–481, 483, 510, 552 Lotze, Hermann 376 Löw, Reinhard 390 Löwith, Karl 275 Lück, Hermann 560 Lückert, Alexander 210 Luckmann, Thomas 36, 177, 212, 291 Lüdemann, Susanne 172 Ludwig der Bayer (Kaiser) 108 Luhmann, Niklas 22, 165, 177, 212, 526, 531 Luther, Martin 113 Lutz, Bernd 107, 134 Lykurg 77 Macchiavelli, Niccolo 110, 111 Mackenroth, Gerhard 536, 537 Maindok, Herlinde 170 Mannheim, Karl 291, 420 Mantl, Wolfgang 162, 164, 233 Marc Aurel (Kaiser) 410 Marsilius von Padua 108 Marwedel, Peter 212
589
Marx, Karl 149–151, 153,165, 177, 179, 202, 224, 276, 277, 312, 340, 361, 420, 461, 468–474, 526, 530, 531, 553 Matthes, Joachim 212, 213 Maus, Heinz 163 Maximilian I. (Kaiser) 416 McKenna, Wendy 177 Mead, George H. 177, 526 Melanchthon, Philipp 113, 416 Menger, Paul 401 Mensching, Günther 107 Mercier, Pascal 561 Merton, Robert K. 202 Metz, Johannes B. 349 Meyer, Conrad Ferdinand 560 Meyer, Theodorus 241 Meyer, Uwe 266, 328, 375, 391, 433, 444, 468, 500 Michel, Ernst 60 Mikat, Paul 108 Mikl-Horke, Gertraude 169 Millar, John 138 Miller, Gabriele 341 Milles, Joachim 30 Mills, C. Wright 212 Mittelstraß, Jürgen 424 Model, Otto 388 Moebius, Stephan 99 Montaigne, Michel de 119, 120, 350, 410 Morel, Julius 169, 188, 526 Mounier, Emmanuel 60, 345 Mozetic´, Gerald 213 Müller, Adam Heinrich 146 Müller, Max 20, 234, 318, 346, 375, 435, 437, 442, 449, 453, 470, 473– 476, 515 Müller-Doohm, Stephan 213 Münch, Richard 170, 177 Nassehi, Armin 524, 553 Naumann, Viktor 314, 316, 399, 452, 478, 508, 511, 513
590
Namensverzeichnis
Neidl, Walter 232 Nell-Breuning, Oswald von 60, 66, 67, 232–238, 241, 508 Neuner, Josef 110, 342–344 Nida-Rümelin, Julian 130, 162, 225 Nietzsche, Friedrich 120, 156, 157, 162, 333, 334, 350, 390, 412–414, 553 Niggl, Günter 412 Nigsch, Otto 170 Nippel, Wilfried 77 Nozick, Robert 166 Oberndörfer, Dieter 212 Ockham, Wilhelm von 107, 108, 554 Oesterdiekhoff, Georg 219 Offe, Klaus 177 Opaschowski, Horst 554 Opp, Karl-Dieter 176, 211, 212, 425 Oppen, Dietrich von 60 Oswald, Julius 245 Pankoke, Eckart 512 Pannier, Jörg 23 Papcke, Sven 210 Pareto, Vilfredo 202 Parmenides 394, 395 Parsons, Talcott 169, 177, 202, 212, 526, 531 Pascal, Blaise 344, 350, 380, 381 Paulus (Apostel) 75, 92, 341, 342 Payer, Peter 425 Perl, Carl Johann 75, 342, 348 Pesch, Heinrich 232 Petrarca, Francesco 112 Pfeffer, Karl Heinz 294 Philipp IV. (König) 110 Pico della Mirandola, Giovanni 117, 118 Pieper, Annemarie 553 Pieper, Josef 210 Pilot, Harald 213
Platon 55, 74, 77, 79, 80, 82, 83, 86, 87, 90, 99, 184, 227, 229, 264, 309, 324– 330, 342, 392, 394, 395, 404, 405, 426, 429, 438, 469, 471, 530 Plessner, Helmuth 165, 322 Plotin 328, 330, 379 Pohler-Funke, Margret 169 Pongs, Armin 524, 553 Popper, Karl R. 165, 211, 460 Pörksen, Uwe 39 Pornschlegel, Clemens 470 Porphyrios 379 Prechtl, Peter 23, 334, 335, 391 Priem, Karl 425 Protagoras 55, 214 Raabe, Wilhelm 560 Raddatz, Fritz J. 562 Radnitzky, Gerard 314 Rahner, Karl 108, 110, 342, 349 Rammstedt, Otthein 210, 294 Rassem, Mohammed 217 Ratzinger, Joseph 167 Rauscher, Anton 232 Rawls, John 166 Regenbogen, Arnim 266, 328, 375, 391, 433, 444, 468, 500 Reid, Thomas 137 Reimann, Bruno W. 189, 542 Reimann, Horst 170 Reinhold, Gerd 22, 54, 189, 198, 542 Rembrandt 416, 417 Rhemann, Josef 163 Ricardo, David 150, 151 Ricken, Friedo 394, 402, 477 Rickert, Heinrich 533 Riedel, Christoph 350 Riehl, Wilhelm Heinrich 146 Riescher, Gisela 167 Rilke, Rainer Maria 412, 414, 415 Ritsert, Jürgen 23, 281
Namensverzeichnis Ritter, Joachim 23, 60, 61, 74, 77, 101, 116, 162, 232, 280, 328, 337, 350, 370, 379, 392, 393, 400, 462, 512 Röhse, Susanne 410 Rombach, Heinrich 291 Roos, Heinrich 110, 342–344 Rotter, Hans 391 Röttgers, Kurt 162, 164 Rousseau, Jean-Jacques 36, 138, 139, 150, 151, 312, 351, 410, 412, 413 Rüegg, Walter 188 Runkel, Günter 188 Ryle, Gilbert 310, 402 Sacher, Hermann 60, 232 Safranski, Rüdiger 323 Saint-Simon, Claude Henri de 37 Salisbury, Johannes von 105 Santeler, Josef 440, 464, 483 Sartre, Jean-Paul 197 Schaeffler, Richard 163, 279 Schäfers, Bernhard 44, 170, 212, 300, 547 Schäffle, Albert 531 Scheerer, Eckhart 74, 116, 337 Scheidt, Jürgen vom 562 Scheler, Max 51, 322 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 144 Schelsky, Helmut 188, 211, 213–217, 295, 418, 523, 547 Scherer, Georg 391 Schiller, Friedrich 389 Schimank, Uwe 524, 553 Schischkoff, Georgi 166, 214, 372, 393 Schlegel, Friedrich 146 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 144, 154, 156 Schmid, Carlo 114 Schmid, Michael 212, 425 Schmidinger, Heinrich 346 Schmidt, Manfred 539 Schmidt, Siegfried 335, 353 Schneider, Peter K. 188
591
Schneider, Thomas 134 Schneider, Wolfgang Ludwig 213 Schnitzler, Arthur 409 Schöndorf, Harald 122 Schoeck, Helmut 99 Scholtz, Gunter 278 Schönpflug, U. 350 Schopenhauer, Arthur 120, 140, 141, 390 Schreiber, Hermann 562 Schröder, Jürgen 310 Schroer, Markus 524, 553 Schülein, Johann August 178, 180, 181 Schurz, Gerhard 424 Schütz, Alfred 177, 291, 526, 533 Searle, John R. 280, 281, 310 Seebaß, Gottfried 394, 402 Seeber, David 213 Seger, Imogen 188 Seiffert, Helmut 314, 424 Sellars, Wilfried 402 Seneca 410 Sextus Empiricus 378 Siebel, Wigand 170 Sigmund, Steffen 280 Simmel, Georg 171, 202, 206, 279, 280, 501, 527–529, 535 Simon, Dieter 219 Sloterdijk, Peter 163 Sokrates 80, 82, 83, 87, 106, 184, 392, 428, 429 Solms, Max Graf zu 533 Solon 69, 70 Sombart, Werner 257 Sondergeld, Klaus 425 Sophokles 392 Spaemann, Robert 314, 390 Spann, Othmar 531 Spencer, Herbert 531 Spinoza, Baruch de 142–144 Srubar, Ilja 291 Stadler, Wolf 417 Städtler, Thomas 403 Stagl, Justin 214
592
Namensverzeichnis
Stammer, Otto 539 Steinbacher, Franz 170 Stendhal 560 Stich, Jutta 562 Stieglitz, Heinrich 217, 295 Stirner, Max 333, 562 Storm, Theodor 560 Strauß, Botho 561 Stromberger, Peter 188 Strub, Christian 370 Suárez, Francisco 119, 120, 122, 231 Sutor, Bernhard 57 Szczesny-Friedmann, Claudia 562 Teichert, Dieter 434 Teichert, Will 188 Tenbruck, Friedrich 213, 215–217 Thales von Milet 450, 451 Thatcher, Margret 417 Theunissen, Michael 164 Thieme, Frank 54, 210 Thies, Christian 369 Thomas von Aquin 75, 93, 94, 104, 105, 115, 241, 243, 328, 331, 342, 348, 349, 422, 444, 530 Thukydides 99 Tiedemann, Paul 385 Tilmann, Heribert 425 Tjaden, Karl Hermann 212 Tmek, Renate 417 Tönnies, Ferdinand 206, 292, 538, 539 Topitsch, Ernst 425 Treibel, Annette 172, 174–176 Trommsdorff, Giesela 23, 291, 420 Vaitkus, Steven 291 Vanberg, Viktor 211 Vekman, Herman 411 Vierkandt, Alfred 207, 208, 210, 529, 530, 547 Vobruba, Georg 547
Voegelin, Eric 171, 225, 278 Vogler, Paul 323 Vogt, Ludgera 280 Volkmann, Ute 524, 553 Volpi, Franco 130, 414 Vossenkuhl, Wilhelm 562 de Vries, Josef 227–229, 309, 368, 371, 407, 422, 424, 435, 437, 439, 441– 447, 478, 482, 502, 512, 518 Wachtendorf, Thomas 385 Wahrig, Gerhard 15, 181, 375 Wallerstein, Immanuel 177 Wallmuth, Lisa 300 Wallner, Ernst 169 Walser, Martin 561 Waßner, Rainer 213 Watzlawick, Paul 335, 353–355 Weber, Max 23, 37, 202, 206, 209, 214, 281, 282, 291, 300, 301, 437, 457, 533–535, 537, 562 Weber, Sibylle 562 Weber, Wilhelm 37 Weier, Winfried 434 Weigel, Hans 39 Weinberger, Ota 213 Weinert, Franz 340 Weippert, Georg 211 Weiß, Johannes 213, 219 Wellmer, Albrecht 473 Wiehn, Erhard 212 Wienold, Hans 22 Wilckens, Ulrich 75, 93 Wild, Christoph 232, 246, 255 Wildmann, Georg 60 Wildt, Andreas 60 Willwoll, Alexander 311, 330, 360, 391, 397, 404, 420, 421, 434, 446–448, 555 Wiswede, Günter 213 Wittebur, Klemens 210 Wittgenstein, Ludwig 402 Wolff, Christian 322, 406 Wössner, Jakobus 188
Namensverzeichnis Zapf, Wolfgang 44 Zehnpfennig, Helmut 425 Ziegenfuß, Werner 35, 36, 93, 94, 139, 140, 209, 211, 291–299, 425, 488, 493, 494, 499, 500, 515, 522, 527, 533, 539, 546, 556, 557, 561, 562, 564
Ziegler, Ulf Erdmann 562 Zimmermann, Laila 326 Zola, Emile 560 Zsifkovits, Valentin 162, 164, 233
593