Umbruch – Bild – Erinnerung: Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten [1 ed.] 9783737013796, 9783847113799


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Umbruch – Bild – Erinnerung: Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten [1 ed.]
 9783737013796, 9783847113799

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 29

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Carolin Führer / Antonius Weixler (Hg.)

Umbruch – Bild – Erinnerung Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten

Mit 72 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Dr. Alexander Schneider. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1379-6

Inhalt

Carolin Führer / Antonius Weixler Umbruch – Bild – Erinnerung. Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Umbruch – Bild – Erinnerung. Allgemeine Überlegungen Sophie-Charlotte Opitz Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Packard Erfundene Umstürze in Panels. Zur Zeichnung des Dokumentarischen, des Fiktionalen und des Politischen in Comics . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Mayer Spielformen des Umbruchs im Kinder- und Jugendtheater zwischen Utopie und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Cornelius Herz #1968: mnemonische Konstruktionen und das Doppelte der virtual reality – Überlegungen zu digital-visuellen Erinnerungsnarrativen einer Jahreszäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Antonius Weixler »The Closer You Looked, the Less You Could See.« Über Wahrnehmung und bildästhetische Darstellung in Zeiten des Umbruchs . . . . . . . . . . 109

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Inhalt

II. Umbrüche national erinnern Dorna Safaian 1979 oder eine Revolution ohne Ende. Über die Bilder des Umbruchs in der iranischen Staatspropaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Volker Wehdeking Mauerfall und Visual Turn. Bildikonen im Narrativ der Friedlichen Revolution in der Post-DDR-Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Anette Horn / Mikhaila Crous Bild-Text-Erinnerung: Johannesburg nach der Apartheid. David Goldblatts und Ivan Vladislavic´’ Projekt TJ/Double Negative . . . . . . . . 183 Jan Borkowski Metaphern für 1989. Mauerfall und Wiedervereinigung in der Lyrik

. . . 197

Vanessa Ossa 9/11 als Narrativ und Bild – vom Sagbaren zum Unsichtbaren . . . . . . . 215 Carolin Führer Nationalisierung von Umbrüchen in All-Age-Literatur und -Medien. Zur Mimesis der Bilder im Erinnern an 1968, 1989 und Nine Eleven . . . . . . 231

III. Umbrüche transnational erinnern Özkan Ezli Bruch statt Umbruch in der Geschichte der Migration in der Bundesrepublik. Debatte und Analyse der Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Bettina Henzler Geschichte im Blick des Kindes. Zur filmischen Darstellung von zeithistorischen Umbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Monika Wolting Der Krieg um den Berg Karabach in Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Marina Ortrud M. Hertrampf Der Arabische Frühling in Bildern: Bild-Narrative zwischen Dokumentation, (Re)Konstruktion und Fiktionalisierung . . . . . . . . . 307

Inhalt

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Sarah Ewald / Karin Polit Wenn Umbruch zum Alltag wird. Veränderte Temporalität, Zeugenschaft und künstlerische Praxis im Kaschmirtal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Carolin Führer / Antonius Weixler

Umbruch – Bild – Erinnerung. Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten

Umbrüche verändern vieles, aber nie alles. Sie markieren Veränderungen, die eine Gesellschaft in ihrer sozialen und kulturellen Struktur über einen längeren Zeitraum erfährt. In einer globalisierten Gegenwart sind sie transnational, ubiquitär, heterarchisch, höchst komplex und tiefgreifend. In ihrer Folge verändern sich politische Systeme oder zumindest die Ausrichtung der Politik einer Gesellschaft, wenn nicht gar die eines transnationalen politischen (z. B. EU) oder ideellen ›Systems‹ (z. B. ›westliche Welt‹). Nicht umsonst bezeichnet Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie gesellschaftlicher Entwicklung »rasche Übergänge eines Systems zu einem anderen Prinzip der Stabilität« auch als »Katastrophen« (Luhmann 1998, 655), die immer dann eintreten, wenn Evolutionsprozesse der Gesellschaft ein »Auswechseln der Form der Stabilität« (Luhmann 1998, 616) bedingen, also »die Form der Differenzierung« (Luhmann 1998, 655) tangieren. Da sich nach Luhmann in diesem Zug auch die zentralen Semantiken ändern, mit denen sich Gesellschaften selbst beschreiben (Luhmann 1998, 866–893), verwundert es nicht, dass Umbrüche die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewerten und wie wir die Welt, in der wir leben, ordnen und begreifen, grundlegend verändern. Umbrüche markieren eine historische Zäsur und teilen unser Geschichtsbewusstsein in ein Davor und Danach: Wie wir das Davor erinnern und beschreiben, ist im Danach nicht mehr wie im Davor, das Danach wird aber nur wirksam und ›sinnhaft‹ durch die Trennung vom Davor. Die wesentliche gesellschaftliche Funktion von Medien besteht auch und gerade darin, die durch Umbrüche plötzlich veränderten Bedingungen nicht nur zu registrieren und zu bewerten, sondern zuallererst eine Beschreibungssprache bereitzustellen, mit der neue Sinnstiftungs-, Narrativisierungs- und Interpretationsangebote entwickelt werden können. Im Kontext der Zeitgeschichte, auf die wir uns konzentrieren, erhalten Bilder für die Darstellung, Thematisierung und Reflektion gesellschaftlicher und politischer Umbrüche eine besonders relevante Funktion. Für Walter Benjamin »zerfällt« die gesamte »Geschichte […] in Bilder,

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nicht in Geschichten« (Benjamin 1983, 596). Jan und Aleida Assmann weisen in ihrer Theorie des kulturellen Gedächtnisses Bildern die Funktion von »Traditions- und Mythomotoren« zu (Assmann 2016). Harald Welzer konstatiert, dass das Gedächtnis ästhetisch organisiert sei und Erinnerung daher ohne Bilder kaum denkbar wäre. Bilder, so Welzer, fungierten als »Medien absichtsloser Vergangenheitsvermittlung« mit starker Prägekraft für das Geschichtsbewusstsein. »Das Gedächtnis braucht die Bilder, an die sich die Geschichte als eine erinnerte und erzählbare knüpft.« (Welzer 1995, 8) Zwar gebe es »Bilder ohne Geschichte, aber keine Geschichte ohne Bilder« (Welzer 1995, 8). »Bildhafte Darstellungen besitzen eine ideologische Wirksamkeit, weil Wahrnehmungsmechanismen ihre Rezeption erleichtern« (Sachs-Hombach 2013, 303), die beispielsweise Literatur sprachlich-diskursiv auffangen kann. Durch die Ubiquität der Bilder und ihre (z. B. digitale) Manipulierbarkeit sowie ihre (ideologische) Manipulationskraft ist ihnen in der Gegenwart aber auch zunehmend eine epistemische Verunsicherung eingeschrieben. Gerade die visual history (Paul 2006, 2008, 2009, 2013) betont die Bedeutung visueller Formen bei der Schilderung vergangener Wirklichkeit, wenn auch mit eigenen disziplinären Prämissen und unter vielfältiger methodologischer Ausdifferenzierung. Da die Wahrnehmung eines (historischen) Umbruchs letztlich immer von den Möglichkeiten und Interessen der Gegenwart gesteuert wird, sehen wir Interferenzen zwischen Bildrealitäten und Erinnerungsnarrationen nicht als Problem; vielmehr heben sie in ihren Verflechtungen den Konstruktcharakter jeder Geschichtsdarstellung hervor und stehen in besonderer Weise für die mediale Realitätserzeugung der Gegenwart und die Wahrnehmung von Wandlungsprozessen in und als Umbruch. Zeithistorisches Erzählen vom Umbruch verstehen wir in den Beispielen unseres Bandes daher mit Fulda und Jaeger (2019) als narrative Darstellungen, in denen »etwas über Geschichte ausgesagt wird: wie sie war oder gewesen sein könnte, wie sie sein sollte. Was Geschichte (im Allgemeinen oder in gewählten Ausschnitten) ausmacht oder antreibt« (Fulda und Jaeger 2019, 32–33).1 Erinnerungsnarration und -bild sind in dieser Konzeption keine klar voneinander abgrenzbaren Bereiche, sondern ineinander verschränkt (u. a. Mitchell 2008). Die Überlegungen der Bildwissenschaften finden also Eingang, es kann uns aber nicht darum zu tun sein, eine Theorie des Bildes im historischen Umbruch zu entwerfen, sodass wir zwar Bildpraktiken aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beleuchten, jedoch nicht unter Berücksichtigung ihrer epistemologischen Besonderheiten. Es geht also um die Umbruchserinnerungen der Gegenwart im weiteren Feld des Visuellen.

1 Diese trägt der Überlegung Hayden Whites (1973) Rechnung, dass auch historiografische Darstellungen auf »literarischen« Modellen und Verfahren basieren.

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Interdepenzen gesellschaftlicher, politischer und visuellkultureller Umbrüche Diese Diagnosen gilt es in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes zu präzisieren. An dieser Stelle seien nur einige wenige exemplarische, grundlegende Interdependenzen bedeutsamer gesellschaftlicher, politischer und – damit einhergehend – visuellkultureller Umbrüche angedeutet. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Etablierung einer Nachkriegsordnung im sog. Kalten Krieg kam der Kunst und Literatur u. a. die Rolle zu, den gesellschaftlichen und politischen Neuaufbau ethisch-moralisch zu unterbauen, sei es in der Nachkriegsliteratur in West-Deutschland, sei es in der Aufbauliteratur in Ost-Deutschland, wobei die beiden Teilstaaten hier jeweils repräsentativ für die jeweiligen politischen Blöcke genannt seien. Im Westen ging dies einher mit dem Siegeszug einer kapitalistisch organisierten und dieses ›System‹ affirmativ begleitenden Populärkultur anglo-amerikanischer Prägung, im Osten mit der staatlich verordneten und durch Zensurmaßnahmen streng durchgesetzten Doktrin des Sozialistischen Realismus. Die mit dem Geschichtszeichen ›1968‹ benannten Umwälzungen der sowohl westlichen wie östlichen Gesellschaften stellen einen bedeutsamen Ausnahmefall dar, da in diesem Fall die Veränderung vom kulturellen Feld ausging – im Westen von der sog. counterculture, im Osten von Schriftstellerinitiativen –, während in den anderen hier genannten Umbruchsbeispielen Kunst und Literatur auf (im weitesten Sinne) politische Veränderungen reagieren. Bei dem Beispiel ›1968‹ handelt es sich zudem um das vielleicht erste wirkliche transmediale Umbruchsphänomen, denn die Dynamik der 68er-Bewegung speiste sich wesentlich aus dem Zusammenspiel der verschiedensten Formate und Medien, von Popmusik über Teach-Ins und versuchter Reformen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bis hin zu den Auseinandersetzungen in den ›klassischen Medien‹, wie etwa der Kampagne der außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen Axel Springer und die Gegen-›Kampagne‹ des Springer-Konzerns. Der Mauerfall sah mit dem Ende des Kalten Krieges auch eine, wie es für einige Jahre schien, Aussicht auf eine blockfreie Welt, eine Welt, die sich kulturell und visuell in einem Siegeszug von Postmoderne und Populärkultur spiegelte, eine Welt nicht zuletzt, in der sich das Schlagwort Leslie Fiedlers vom »cross the border – close the gap« nicht nur zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur, sondern auch ganz konkret politisch zu verwirklichen schien. Nur vor dem Hintergrund einer zwischenzeitlich aufblitzenden postmaterialistischen Welt mit ihrer postpolitischen Populärkultur wird verständlich, welche Wucht die Bilder der Anschläge vom 11. September entfaltet haben, und warum die Veränderungen, die in der Folge von verschiedenen Theoretiker*innen und

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Forscher*innen identifiziert und beschrieben werden, so grundsätzlich und durchgreifend ausfallen. Wurde etwa Edmund Stoibers Proklamation des Endes der Spaßgesellschaft allgemein belächelt, stimmen in der Folge doch überraschend viele Forscher*innen in der Diagnose eines grundlegenden Umbruchs, d. h. Epochenwechsels überein. Mal wird dabei eine kulturgeschichtliche Epochenwende behauptet, also dass mit ›Nine Eleven‹ nichts weniger als die Postmoderne ende, da die Anschläge auf u. a. die Twin Towers einen »material turn« (Bennett 2010) oder auch einen »return of the real« (Foster 1996) hin zu einer Post-Postmoderne (»post-postmodernism«, Turner 1996) markiere. In etwas weniger grundsätzlich formulierten Hypothesen wird zumindest noch die gegenwärtig andauernde Konjunktur des schillernden Begriffes ›Authentizität‹ als Gegenreaktion auf die Postmoderne im Allgemeinen und als Reaktion auf 9/11 im Besonderen gedeutet. So fordern etwa Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm in der Nachfolge von »Nine Eleven« (Irsigler und Jürgensen 2008) einen »Relevanten Realismus«, der die »nur selbstreferenzielle Literatur« mit ihren »solipsistischen Selbsterkundungen« beende (Dean et al. 2005). Generell kommt der Literatur damit erneut die Rolle zu, auf die durch einen Umbruch erzeugten Veränderungen zu reagieren und diese hierdurch zuallererst erfahrbar, wahrnehmbar und beschreibbar zu machen sowie mit ihrer Reaktion zugleich ein Verstehens- und Sinnstiftungsangebot in einer als neu erfahrenen ›Umwelt‹ zu geben. Auf die wiedererwachte Sehnsucht nach ›Realität‹ bzw. nach ›realistischen‹ Erzählkonzepten bezogen, lässt sich hier anknüpfend fragen, ob z. B. Bilder die Prozesshaftigkeit und Komplexität politischer Umbrüche nicht nur verdichten, sondern ob die dargestellten Gegenstände durch die Art der Narrativisierung zugleich erst faktualisiert werden. Roland Barthes hat in diesem Zusammenhang von einer ›Desintellektualisierung der Botschaft‹ gesprochen, da »[d]as Fehlen eines Codes […] die Zeichen der Kultur als natürlich erscheinen« (Barthes [1964] 1990, 40) lasse. So werden die Emotionen zu Umbrüchen zuerst medial visuell vermittelt. Dies liegt an der sowohl Emotionen als auch Bildern zugrundeliegenden assoziativen Logik, die sich von der tendenziell argumentativen Logik textueller Kommunikation unterscheidet (vgl. Müller 2003, 26), weshalb ihnen möglicherweise im zeithistorischen Kontext wie im Geschichtsbewusstsein und der Erinnerungskultur die eingangs beschriebene herausgehobene Stellung zufällt. Dies ist nicht nur von der Geschichtswissenschaft konstatiert worden, sondern auch in der allgemeinen Bildtheorie wird betont, dass Bilder auf ihre eigenständigen kommunikativen Funktionen stets zu hinterfragen und zu analysieren seien (Sachs-Hombach 2011, 66). Die Visual Cultural Studies haben im Kontext der Bildpolitiken herausgestellt, dass und wie Visualität auf subtile Weise mit Ideologien und mit Machtverhältnissen verknüpft ist; im angloamerikanischen Raum wird damit sogar eine Veränderung von gesellschaftlichen Missständen in den Blick ge-

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nommen (Stiegler und Rimmele 2012). Mit dem New Historicism sind die Vermittlungsprozesse und Austauschbewegungen in den Blick zu nehmen, mittels derer Gedächtnisnarrative zwischen unterschiedlichen präexistenten Erinnerungskulturen einerseits und – für Umbrüche besonders relevant – mögliche Neuperspektivierungen und Veränderungen andererseits dargestellt werden (Erll 2011, 185; Führer 2021). In sämtlichen zeithistorischen Fällen wird deutlich, dass das In- und Nacheinander von zeithistorischen Umbrüchen, medialen Verarbeitungen und Repräsentationen, Nacherzählungen und Erinnerungsdiskursen gleichermaßen komplex und vielschichtig wie schwer zu vermessen ist. Die Komplexität in der Reaktion auf Umbrüche entsteht auch deshalb, weil die Künste nie bloß registrierend oder neutral beschreibend auf solche Veränderungen reagieren, sondern weil sich mit den neuen politischen, gesellschaftlichen, philosophischen etc. Umständen auch oftmals die zentralen Vorstellungen und Begriffe von z. B. ›Realität‹, ›Wahrnehmung‹, ›Kunst‹, ›Autorschaft‹ und ›Text‹ ändern. Mit anderen Worten, die Künste reagieren in ihrer Beschreibung der Umbrüche mit neuen ästhetischen und ästhetisierenden Verfahren, die den Text- und Dokumentcharakter von Artefakten, Bildern und Kunstwerken je neu vermessen, in denen sich die Verhältnisse und Begrifflichkeiten von Fakt und Fiktion neu austarieren und in denen sich hierdurch auch neue Wirklichkeits- und Realismusbegriffe ausbilden. Nicht selten fallen die großen historischen Umbrüche zudem mit Medienrevolutionen zusammen (Kittler 1985) und zeitigen darüber hinaus Folgen in der Wahrnehmung der Zeit (Koselleck 1979), der Position des Individuums in der Welt, etwa zwischen »Providenz und Kontingenz« (Frick 1988) oder im Hinblick auf die Wahrnehmungen der Welt durch »skopische Regime« (Jay 1988). Ihre Folgen lassen sich aber auch in ästhetischen oder lexikalischen Folgen für die Sprachgeschichte (Kämper 2011) oder der Ausgestaltung der künstlerischen Perspektive bzw. Fokalisierung (Münkler 1985) beobachten. Diese Umbruchsveränderungen im Einzelnen zu beschreiben, gleicht mitunter der Frage nach der Henne und dem Ei: Entwickelt sich in der Gesellschaft in Folge von Nine Eleven eine neue »Sehnsucht« oder ein neuer »Drang nach ›Wirklichkeit‹« (Fludernik et al. 2015, 11) oder entwickelt sich in der Kunst ein neues Realismus- und Authentizitätsverständnis, um die neue gesellschaftliche, politische und massenmediale Situation angemessen und ästhetisch innovativ beschreiben zu können? Diese Frage scheint uns letztgültig nicht entscheidbar zu sein, weshalb es zielführender ist, eine Heterarchie der Veränderungen zu konstatieren und das je individuelle In- und Nacheinander der Reaktionen zu analysieren. Der multidisziplinäre Zugriff des Bandes antwortet auf dieses Problem und diese Schwierigkeit, indem Disziplinen, Ansätze und Methoden nebenein-

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ander stehen dürfen, um die Limitationen jeder dieser Zugänge jeweils deutlich zu markieren. Der Heterarchie der kulturell-medialen Veränderungen durch Umbrüche wollen sich die Beiträge im vorliegenden Sammelband in je unterschiedlicher Fokussierung widmen. Diese Heterarchie scheint sich gleichsam aber auch, so unsere Ausgangshypothese, auf zwei darstellungsästhetische Kristallisationspunkte hin konzentrieren zu lassen: Die oben genannten wahrnehmungs- wie darstellungstheoretischen und -praktischen Veränderungen manifestieren sich in besonderer Weise an je neuen und innovativen Arten und Weisen, wie Bilder in der Verarbeitung von Umbruchsnarrativen verwendet werden. Anhand von bildlichem Erzählen im Besonderen wie in Bild-Text-Relationen im Allgemeinen lassen sich mediale und generische Entwicklungen, aber auch Innovationen in narrativen Verfahren sowie in Unmittelbarkeits- und Direktheitsästhetiken ablesen. So zentral die beiden letztgenannten Ästhetiken für Umbruchsnarrationen auch sind, ihnen ist stets bereits eine zeitliche Aporie mit eingeschrieben, insofern bei aller Unmittelbarkeit Umbrüche nicht anders als in Erinnerungsdiskursen ex post nachzuerzählen sind, ein Umbruch ist per definitionem eben stets, wie eingangs bereits skizziert, eine Zäsur, die das Davor vom Danach trennt, weshalb nach dem einschneidenden Ereignis vieles nicht mehr so ist, wie zuvor.

Gliederung des Bandes Die Untersuchung dieses Spannungsfeldes bzw. dieses heterarchischen Beziehungsgeflechts aus Umbruch – Bild – Erinnerung erfolgt in drei Sektionen. Während in den Beiträgen der ersten Sektion allgemeinere Überlegungen zu Umbruchsnarrationen entwickelt werden, widmet sich eine Reihe von Untersuchungen in der zweiten Sektion spezifischen nationalen Unterschieden in Erinnerungsdiskursen zu Umbrüchen, bevor sich abschließend die Analysen der dritten Sektion Erinnerungsstrukturen in transnationaler Perspektive zuwenden. Diese Struktur spiegelt die Annahme wider, dass die verhandelten Umbrüche zwar ein globales Phänomen darstellen und sich im Spannungsfeld der Erinnerungen strukturelle Parallelismen wiederfinden, sich aber keine Vergleichsmaßstäbe identifizieren lassen, die den tendenziellen Universalismus einer globalen Erinnerung (Levy und Sznaider 2010, Assmann und Conrad 2010) zu Umbrüchen zuließen. Anstelle von Homogenisierungsversuchen globaler Umbruchsnarrationen erlaubt die Ausrichtung auf Nationalität und Transnationalität, das Wesen und die historische Rolle von Grenzen in der kulturellen Erinnerung besser zu berücksichtigen (De Cesari und Rigney 2014, 4). So werden speziell zeitgeschichtliche Umbrüche häufig zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen von Nationalität und Transnationalität, insofern Nationen ihr Selbst-

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verständnis aus historischen Umbrüchen beziehen oder in diesen reflektieren können (z. B. Fall der Mauer, 9/11), jedoch auch ein kollektives Bewusstsein über die transnationalen Kontexte dieser Umbrüche existiert. Bilder des Umbruchs verhandeln hier ebenso Ausschlüsse und Einschlüsse des Nationalen wie des Transnationalen (z. B. beim Schahbesuch 1967). Damit kann in der Gliederung das Prinzip aufgegriffen werden, dass Erinnerungen ›reisen‹, und dies im Zeitalter der globalisierten Kommunikation in stetig zunehmendem Ausmaß. Es wird damit aber auch die dialektische Rolle anerkannt, die nationale Grenzen (die nicht nur imaginiert, sondern eben auch rechtlich definiert sind) in Erinnerungspraktiken und in der Gedächtnisbildung haben: The combination of ›transnational‹ and ›memory‹ opens up an analytic space to consider the interplay between social formations and cultural practices, or between stateoperated institutions of memory and the flow of mediated narratives within and across state borders. It makes it possible to move to the centre of analysis the material presence of borders in the ›flows‹ of globalized memories […]. (De Cesari und Rigney 2014, 5)

Unter anderem im Licht dieser Überlegungen kommen wir zu dem Schluss, dass eine transkulturelle Erinnerung zwar Teil von Bildumbruchsnarrationen ist, aber die Bildakte (Bredekamp 2010) sehr stark an nationale und transnationale Paradigmen gebunden sind, national nicht zuletzt im Kontext der offiziellen (politischen) und kommunikativen Erinnerungskultur zu zeithistorischen Umbrüchen. Zudem erscheint eine völlige Lösung vom Nationenbegriff nicht nur mit Blick auf die (Bilder)-Vergangenheit, sondern auch mit Blick auf die Bild-Zukunft als eine naive Vorstellung (ähnlich auch Assmann 2020). Dass Bilder historische Umbrüche nicht nur dokumentieren und ein wichtiges Medium der Erinnerungskultur darstellen, sondern dass Bilder politische Veränderungen, Aufstände, Revolutionen etc. auch überhaupt erst auslösen können, untersucht Sophie-Charlotte Opitz in ihrem Beitrag »Das Bild im Wandel«. In ihren theoretischen Vorüberlegungen zeigt Opitz dabei, wie mit »Visualität politische Visibilität« erzeugt wird, mithin wie Fotografien die Wahrnehmung einer Gesellschaft im Allgemeinen prägen und die Erkenntnis von bisher nicht wahrgenommenen Missständen im Besonderen evozieren können. Damit Bilder zu Auslösern von Umbrüchen werden können, ist nach Opitz insbesondere das Ausmaß der Repetition bedeutsam, ein Aspekt, der im digitalen Zeitalter noch einmal an Relevanz gewonnen hat. Opitz zeigt dieses umbruchgenerierende Potenzial von Bildern an einer Vielzahl von Beispielanalysen, von Susan Meiselas Arbeiten in/über Nicaragua über das syrische Amateurfotografenkollektiv Lens Young Homsi bis hin zum den Klimawandel thematisierenden Künstlerkollektiv Not An Alternative. Der Comic gehört durch seine Bild-Text-Interdependenzen zu einem besonders interessanten Untersuchungsgegenstand mit Blick auf das Verhältnis von

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Erinnerung und Bild. Stephan Packard zeigt in seinem Beitrag, dass Comics einerseits umbruchdokumentarisches Potential besitzen, andererseits sich historischen Ereignissen zumeist im Stile von Dokufiktionen widmen und damit mittels autonomer Erzählformen. Durch diese ästhetisch-generische Position versuchen sich Comics von der »historischen Akkuratesse und dem ständigen Quellennachweis der Dokumentation« zu befreien. Comics berichten oder zeichnen die Umbrüche, von denen sie handeln, nicht einfach nur nach, sondern ›erfinden‹ die Umstürze in ihren Bildern gleichsam neu. Nach Packard entsteht in den von ihm untersuchten Comic-Beispielen zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung somit ein Ort der »Aushandlung politischer Utopie, zeitgeschichtlicher Erinnerung und individueller Erfindung«. Im Unterschied zu anderen Darstellungsformen wie der Fotografie und dem Comic kommen im Theater die an der ästhetischen Praxis Beteiligten in physischer Ko-Präsenz zu einer bestimmten Zeit an einem Ort zusammen, wo der künstlerische Gegenstand zugleich hervorgebracht und wahrgenommen wird. In erinnerungskultureller Hinsicht ermöglicht diese besondere Konstellation der Nähe eine emotionale und unmittelbare Beteiligung der Zuschauenden am (Erinnerungs-)Geschehen auf der Bühne. Anhand grundlegender Merkmale und Entwicklungen des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters beschreibt Johannes Mayer Performationsstrategien, um historische Umbruchserzählungen und -bilder der nächsten Generation in einem spielerischen Umgang zu erschließen. Dass, wie oben beschrieben, Erinnerungen ›reisen‹ und dass sie dies im Zeitalter der globalisierten Kommunikation in stetig zunehmendem Ausmaß tun, hängt selbstredend auch mit der Digitalisierung unserer Welt zusammen. Cornelius Herz untersucht in seinem Beitrag, wie sich visuelle Erinnerungsnarrative verändern, wenn die dominanten Bilder von den klassischen Medien in die neuen digitalen Medien ›wandern‹. Die Erinnerungserzählungen an den Epochenwandel 1968 unter digitalen Bedingungen fokussierend und diese im Kontext einer ›dritten Welle‹, der nun transnational erweiterten memory studies, betrachtend, zeigt Herz, dass es durch den Medienwandel zu »Neuverhandlungen und Überschneidungsbereiche[n] bereits bekannter Felder« kommt, was Folgen sowohl für die Erzähl- als auch die Medienstrategien hat. Nach Herz evozieren die Interdependenzen von Erinnerungsnarrativen mit den spezifisch neuen digitalen Medien eine »doppelte Virtualität« von Umbruchserinnerungen. Antonius Weixler untersucht in seinem Beitrag, wie die Literatur reagiert, wenn sie von historischen Umbrüchen erzählen will, die bereits von einer massenmedialen Bilderflut geprägt bzw. überzeichnet ist. Die beiden Zäsuren Mauerfall und 9/11 stellen insofern zwei medienhistorisch bedeutsame Ereignisse dar, da man diese Umbrüche gleichsam live mitverfolgen konnte und sich in beiden Fällen zudem instantan ein Bewusstsein für eine historische Zäsur her-

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ausgebildet hat. In dem Beitrag wird gezeigt, dass sowohl die deutschsprachige als auch die US-amerikanische Literatur, bei allen kulturellen und literaturfeldlichen Unterschieden, auf diese Umbrüche auf eine Art und Weise reagiert, die die Eigenlogik literarischer Bildästhetik besonders herausstellt. Die Sektion zu spezifisch nationalen Umbruchsdiskursen leitet Dorna Safaian mit einem Beitrag zur Revolution im Irak 1979 ein, der in der politischen Selbstdarstellung der Islamischen Republik und damit für den irakischen nationalen Erinnerungsdiskurs eine konstitutive Rolle spielt. Safaian arbeitetet heraus, wie die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsorgane u. a. Texte und historische Fotografien zu einer Revolutionsnarration formt, in der die postulierte Evidenzfähigkeit technischer Bildmedien zu einer ideologisch geprägten Deutung der historischen Ereignisse eingesetzt wird. Der Beitrag fragt nach der medialen Konstruktion und strategischen Bedeutung des staatlichen Revolutionsbildes der Islamischen Republik und nimmt dafür exemplarisch die Infografiken und Plakate des Internetauftritts des politischen Oberhauptes des Iran, Ayatollah Sejjed Ali Khamenei, aus propagandatheoretischer und bilddiskursanalytischer Perspektive in den Blick. In der deutschen nationalen Erinnerungskultur hat kaum ein Ereignis in der jüngeren deutschen Geschichte so viele Bilder und damit auch eine so starke massenmediale bildliche Prägung der Umbruchserzählungen erzeugt, wie der Mauerfall von 1989. Literarisches Erzählen wiederum muss sich mit dieser bildlichen Vorprägung auseinandersetzen, will es eine eigene fruchtbare Wendeerzählung liefern. Volker Wehdeking widmet sich in seinem umfangreichen Beitrag dieser Auseinandersetzung in der »Post-DDR-Prosa«, also in Wenderomanen, die von in der DDR sozialisierten Autor*innen stammt. Er kann dabei insbesondere herausarbeiten, wie sich dieser literarische Erinnerungsdiskurs in den drei Jahrzehnten seit der Wende verändert hat, indem er zwei imaginative Grundmuster identifiziert: das Diktaturnarrativ vom Lebensgefühl des Eingesperrtseins hinter der Mauer einerseits und das Identitätsnarrativ des Familienzusammenhaltes in der DDR andererseits. Ebenso dem Mauerfall von 1989 und den metaphorischen Bildern, die für dessen Thematisierung und Reflektion in literarischen Texten, in diesem Fall insbesondere der Lyrik, erzeugt werden, widmet sich Jan Borkowski. Lyrik ist generell eine sehr schnelle Gattung, wenn es darum geht, historische Umbrüche zu thematisieren; Lyrik ist damit historisch meist auch die erste literarische Gattung, in der Umbrüche ästhetisch verarbeitet werden. Borkowski untersucht die Wendelyrik dementsprechend unter der »Perspektive der Zeitgenossenschaft« und kann zeigen, dass gerade auch in den lyrischen Metaphern nicht nur die historischen Ereignisse dargestellt und thematisiert werden, sondern dass darin auch »Metaphern für Geschichte« erkennbar werden, mit denen die Umbrüche sowohl gedeutet und kontextualisiert als auch emotional evoziert werden.

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Dass Mauern nicht nur ein faktuales historisches Bild sind, sondern in der Interferenz zum fiktionalen Bild für die Trennung und die Versuche, diese umbruchsbedingt zu überwinden, stehen, zeigen Anette Horn und Mikhaila Crous. In ihrem Beitrag »Johannesburg nach der Apartheit« wird klar, dass sowohl die Mauer als Bauwerk als auch die ›Mauer in den Köpfen als mentale Trennung von Gesellschaftsteilen‹, nicht nur eine deutsche nationale Besonderheit ist. Horn und Crous untersuchen mit TJ/Double Negative eine intermediale Kooperation zwischen dem Fotografen David Goldblatt und dem Schriftsteller Ivan Vladislavic´. Horn und Crous zufolge entwickeln Goldblatt und Vladislavic´ in ihrem bildlich-literarischen Text eine postmoderne und postkoloniale Erzählung der südafrikanischen Gesellschaft vor und nach dem Umbruch von 1994. Wohl kaum ein Ereignis seit der Mondlandung hat sich international durch seine live-Berichterstattung so ausgeprägt ins globale visuelle Gedächtnis eingeschrieben wie der Anschlag vom 11. September. Vielfach wurden seitdem auch die zahlreichen literarischen Verarbeitungen analysiert, in denen ästhetisch auf die mediale Bilderflut reagiert wurde. Auch Vanessa Ossa untersucht in ihrem Beitrag, wie 9/11 »als Narrativ und Bild« verarbeitet wird, allerdings widmet sich Ossa dabei vor allem dem filmisch-popkulturellen Erzählen Hollywoods und zeigt, dass obwohl der Anschlag wie auch die Hollywood-Produktionen gerne als globale Ereignisse wahrgenommen werden, diese nur unzureichend verstanden werden, wenn man den spezifisch nationalen Umbruchsdiskurs darin übersieht. In ihrer Untersuchung der drei Filme bzw. Serien Unites 93, Battlestar Galactica und der Comicverfilmung Secret Invasion untersucht Ossa, wie die us-amerikanische Angst eines Angriffes von außen auf subtile Weise in den grundlegenden Plotstrukturen und Protagonist-Antagonist-Konstruktionen in diesen drei Beispielen thematisiert werden. Auch in zeitgeschichtlichen All-Age-Medien werden Spannungen und Dynamiken in Prozessen des (systemischen) Wandels intensiv durch Bilder vermittelt. Um die damit einhergehende Sinnstiftung in Erinnerungskulturen der All-Age-Literatur und -Medien näher zu beleuchten, untersucht Carolin Führer exemplarisch einige dieser Geschichten mit Blick auf faktuale und fiktionale Bilder sowie Verbildlichungsstrategien genauer. Diese Betrachtungen verdeutlichen in der Zusammenschau doch sehr eindrucksvoll eine semiotische Grundstruktur dieser grundsätzlich unterschiedlichen Umbrüche: »Die Idee ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Zeichens« (Eco 1986, 406). Die Faktizität historischer Bilder zu 1968, 1989 und Nine Eleven wird stets imaginativ aufgeladen: In den Mimesen der Bilder finden sich nicht zuletzt verschiedenartige Ein- und Umschreibungen nationaler Ideen und Narrative.

Umbruch – Bild – Erinnerung

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Die Beiträge in der abschließenden Sektion widmen sich transnationalen Erinnerungsdiskursen. Den Anfang macht Özkan Ezli, der in seinem Beitrag die Aufarbeitung der bundesrepublikanischen Migrationsgeschichte in der Karikatur untersucht. Als Beispiel dient ihm eine Karikatur zum 50-jährigen Jubiläum der Migrationsgeschichte der Türken in Deutschland von Greser & Lenz, in der migrantische Stereotype sowohl reproduziert als auch dekonstruiert werden, weshalb die Karikatur sowohl Beifall als auch Kritik hervorgerufen hat. Diese Karikatur wird inzwischen auch in Schulbüchern verwendet, um damit die Migrationsgeschichte didaktisch aufzuarbeiten – auf eine nicht nur unproblematische Art und Weise, wie Ezli zeigen kann. Umbrüche sind immer wieder auch und gerade über einen kindlichen Blick vermittelt und erzählt worden, man denke etwa an Ernst Glaesers Jahrgang 1902 (1929) oder – besonders berühmt durch den Ich-Erzähler Oskar Matzerath, der sein Wachstum suspendiert und seine kindliche Perspektive damit auf Dauer stellt – Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959). Bettina Henzler widmet sich in ihrem Beitrag mit La faute à Fidel! (dt. Fidel ist schuld!, Frankreich 2006) Julie Gavras’ Verfilmung des Romans Tutta Colpa di Fidel (1998) von Domitilla Calamai, in dem vor allem die Veränderungen durch die 1968er Bewegung in Westeuropa thematisiert werden. Der kindliche Blick vermag einerseits die Auswirkungen von historischen Ereignissen auf die kindlichen Protagonisten zu offenbaren, die diese Veränderungen weder verantworten noch beeinflussen können, und andererseits wird durch diese besondere filmische Perspektivgestaltung (und damit Bildfoki) die Handlungsunfähigkeit und moralische Depravation der Erwachsenwelt vorgeführt. Monika Wolting untersucht anschließend das künstlerische ›Störungspotential‹, mit dem Literatur und Fotografie kriegsbedingte individuelle existentielle Krisensituationen verarbeiten und beeinflussen können. Konkret widmet sie sich in ihrem Beitrag dem Krieg um die Berg-Karabach-Region, wie er in dem deutschsprachigen Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga Grjasnowa (2012) sowie in der fotografischen Dokumentation im Blog von Maxim Mirovich verarbeitet wird. Das Störungspotential erkennt Wolting dabei in beiden medialen Formaten insbesondere in der Evokation von Emotionen. Marina Ortrud M. Hertrampf thematisiert die 2011 von Tunesien ausgehende Welle von Bürgerprotesten, die gemeinhin als ›Arabischer Frühling‹ bezeichnet wird. Dieser Umbruch hat nicht nur in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht eine nicht zu unterschätzende historische Relevanz, sondern auch mit Blick auf die kulturelle Bedeutung von Bildern in islamisch geprägten Ländern. Der Beitrag skizziert anhand einiger ausgewählter Beispiele aus Tunesien und Ägypten die Bedeutung visueller Medien während der Proteste und arbeitet dabei heraus, wie einzelne Bild-Narrative zu Bildikonen avancierten. Während einige dieser Bild-Narrative über die virale Verbreitung im Internet und die

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Nutzung von Bildformeln zu globalen Bildikonen für ›den‹ Arabischen Frühling wurden und u. a. in journalistischen Graphic Novels und Cartoons westlicher Provenienz verarbeitet wurden, weisen andere vornehmlich regionale Strahlkraft auf, schrieben sich aber umso fester in das nationalkulturelle (Bild-)Gedächtnis ein. Umbrüche sind nicht auf wenige ereignisreiche Tage, die sozusagen ›Geschichte‹ schreiben, beschränkt, Umbrüche können sich auch über einen sehr langen Zeitraum erstrecken und sich derart umso tiefgreifender in kulturelle Kontexte einschreiben. Sarah Ewald und Karin Polit untersuchen, inwiefern der seit über 30 Jahren schwelende Konflikt um die Kaschmir-Region die ästhetischen Reflektionen darüber verändert hat. In ihrem Beitrag können sie dabei zeigen, dass es kaschmirischen Künstler*innen unter anderem darum zu tun ist, ein eigenes Gegennarrativ zur offiziellen Konflikterzählung der indischen Regierung – das ein zukunftsgerichtetes Aufbruchs- und Umbruchsnarrativ ist – zu bewahren und zu behaupten. Ewald und Polit argumentieren, dass sich in den kulturspezifisch kaschimirischen Erzähl- und Performanztraditionen eine veränderte Temporalität als kollektive Erfahrung beobachten lässt, worin sich nicht zuletzt zeigt, dass für diese Menschen der Umbruch zum Alltag geworden ist. Der vorliegende Band geht auf die Ringvorlesung Visualizing narratives of change and revolution: Bild – Narration – Erinnerung im Sommersemester 2019 an der Eberhard Karls Universität Tübingen zurück. Für die großzügige Unterstützung der Ringvorlesung ebenso wie der Drucklegung dieses Bandes sind wir der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu großem Dank verpflichtet. Ebenso danken wir Hannah Kuhn, Leonie Lübben und Matthias Loy für ihre Umsicht, Sorgfalt und Mühe bei der Einrichtung des Bandes. Schließlich danken wir allen Beiträger*innen für die angenehme und wertschätzende Zusammenarbeit und ihre Bereitschaft, sich auf einen Band jenseits einer ›Kerndisziplin‹ einzulassen. Tübingen und Wuppertal, August 2021

Literatur Assmann, Aleida. »The Digital Archive and the Future of Memory«. (Post)Fotografisches Archivieren. Wandel – Macht – Geschichte (Das fotografische Dispositiv). Hg. Victoria von Flemming; Daniel Berndt und Yvonne Bialek. Kromsdorf: Jonas Verlag, 2016. 26– 39. Assmann, Aleida und Sebastain Conrad (Hg.). Memory in a Global Age: Discourses, Practices and Trajectories. London: Palgrave Macmillan, 2010.

Umbruch – Bild – Erinnerung

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I. Umbruch – Bild – Erinnerung. Allgemeine Überlegungen

Sophie-Charlotte Opitz

Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen

1.

Einführung

Das »Es ist so gewesen« erweist sich als ein essentieller Aphorismus der Fototheorie (Barthes 1985, 87). Roland Barthes beschreibt mit dieser Sentenz im Kontext seiner ontologischen Überlegungen zum Wesen der Fotografie, dass Letztere »mechanisch [wiederholt], was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können. In ihr weist das Ereignis niemals über sich selbst hinaus auf etwas anderes […]« (Barthes 1985, 12). Bedeutet dies nun einen Widerspruch oder auch eine lähmende Diskrepanz zwischen Fotografien, die vermeintlich auf die Vergangenheit gerichtet sind, und dem Umbruch, der auf die Zukunft hinarbeitet? Wie im Folgenden dargelegt wird, wirken Umbrüche nicht nur auf Gesellschaften ein, nachdem sie geschehen sind. Neben dem ›Danach‹ gilt es ebenso das ›Währenddessen‹ und ›Davor‹ näher zu studieren, die gleichermaßen auf Gesellschaften und deren Wahrnehmung einwirken und in einem reziproken Verhältnis zu Bildpraktiken stehen. Fotografien dokumentieren Proteste, lösen aber auch Proteste aus, wie es die Bilder von Abu Ghraib taten (vgl. Butler 2009), und mobilisieren Massen an Menschen – insbesondere in den heutigen Netzkulturen. Fotografien sind »Agenten im Handlungsraum« (Lethen 2014, 209), die das Potenzial haben, aufgrund ihrer Visualität politische Visibilität zu formen. So proklamiert Reinhard Matz: »Mit Fotografie leben wir« (Matz 2017, 12) und verweist auf die enge partnerschaftliche Beziehung von Gesellschaft und Fotografie, aber auch auf das ästhetische Potenzial und die »Bildfähigkeit« (Holert 2000, 14–33) mancher Fotografien. Sie können dafür sorgen, dass die Erinnerungen an ehemalige Ereignisse weiter initiiert werden. Zugleich können sie auf bestehende Machtverhältnisse hinweisen und diese ›sichtbar‹ machen. Bilder bedingen, wie und weshalb Menschen die Welt wahrnehmen. Im Kontext von gesellschaftlichen Umbrüchen nehmen Bilder eine relevante Rolle ein, denn verschiedene soziokulturelle, politische und historische Diskurse bauen auf ihnen auf, verbinden sich in ihnen, lösen sich ab und verwandeln

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Sophie-Charlotte Opitz

visuelle Kulturen. Die Wandel initiierenden Dynamiken nehmen hierbei gleichermaßen Einfluss auf das Bild, wie auf sich selber – werden aber auch durch das Bild selbst ausgelöst. Beispielsweise hat das affektive Potential von Bildern eine initiierende Wirkung auf individuelle und kollektive Gedächtnisse, deren Beschaffenheit und Potenzial Aleida Assmann beschreibt: »Whatever has the force to interrupt continuity of events […] has a good chance to be registered as flashbulb memory« (Assmann 2016, 28). Bilder können zudem Erlebnisse als solche erst registrierbar machen. Sie werden in diesen Prozessen zum Ereignis an sich (vgl. Baudrillard 2002, 202). Dieser Austausch von mediatisierten Erinnerungen, ihren konvergierenden wie auch divergierenden Bewegungen, die ebenso auf das individuelle wie auch auf das kollektive Erinnern wirken, bilden ein komplexes Welt-Bild-Gefüge, in dem gesellschaftliche Umbrüche stattfinden.1 Die folgenden Untersuchungen orientieren sich in ihrer Perspektive zeitlich und betrachten das Beziehungspaar Bild und Gesellschaft nach, während und vor Umbrüchen. Das erste Kapitel widmet sich deswegen den Dynamiken von Fotografien, die ihr initiierendes Potential nach einem Umbruch entwickeln. Dabei wird beispielhaft gezeigt, welche Medientransfers Bilder des Umbruchs durchlaufen können, aber auch welche künstlerischen Ansätze gewählt werden können, um multiperspektivische Dynamiken im Bild zuzulassen. Im Fokus stehen die Folgen durch und auf das Bild und die Gesellschaft nach einer Revolution. Im zweiten Kapitel werden Fotografien und Bildzirkulationen während des Umbruchs beleuchtet. Dabei werden insbesondere die gesellschaftlichen Mechanismen untersucht, die mit einer Implementierung von Fotografien in sozialen Netzwerken einhergehen. Das Forschungsinteresse widmet sich der hiermit verbundenen Ausgestaltung einer konnektiven Zeugenschaft von Fotograf*innen, Medienakteur*innen und der Netz-Community. Sie können, so die These, schon während des Umbruchs Einfluss auf Sichtbarkeitspolitiken und Deutungshoheiten nehmen. Das letzte Kapitel widmet sich nicht dem initiierenden Potenzial von Bildern, das reaktiviert und reagiert, sondern diesem, das aktivistisch zu Wandel führt, bevor dieser geschehen ist. Dabei bilden die zuvor untersuchten Dynamiken zwischen Fotografie und Gesellschaft die Grundlage für Bildpraktiken vor dem Umbruch.

1 Die Erläuterungen zum transdisziplinären Forschungsfeld der Visuellen Kultur und kulturellen Gedächtnisforschung basieren auf der Veröffentlichung: Opitz 2020.

Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen

2.

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Dokumentation, Verstetigung, image-Transfers – Fotografie nach dem Umbruch

Medien sind Ausformungen kultureller Interaktion, deren Visualität und das hiermit verbundene Sehen eigene Decodierungsstrategien benötigt: »Wenn die Visuelle Kultur ein grundlegendes Postulat hat, dann jenes, daß das Sehen eine ebenso fundamentale und verbreitete Form kulturellen Ausdrucks und menschlicher Kommunikation ist wie die Sprache und daß sie sich nicht auf das Modell der Sprache reduzieren oder mit ihm erklären läßt« (Mitchell 2008, 275). Fotografie trägt dazu bei, dass bestimmte Inhalte, die für Kollektive und Gesellschaften von Bedeutung sind, aufbereitet, vermittelt und verfügbar gemacht werden können. Hierbei spielt insbesondere die Repetition dieser Bilder eine relevante Rolle, also das Wiederkehren der Bilder in Kontexten, die durch die visuellen Strukturen eine soziale Interaktion zwischen den Menschen initiieren. Ein reflektiertes Sehen im Sinne eines Verständnisses für die außerhalb des fotografischen Rahmens mittransportierten sozialen, historischen und politischen Sichtbarkeiten wird nach Marianne Hirsch durch ebendiese Repetition der Bilder gefestigt (Hirsch 2001, 218). Ganz im Sinne von Mieke Bals Konzept einer »preposterous history« helfen gleichzeitig mediale und künstlerische Weiterverarbeitungen bestehender Bilder dabei, das Vergangene neu zu denken und das Erinnern an dieses kontinuierlich kritisch zu befragen und neu zu verhandeln (Bal 1999, 7). Neben dem fotografischen Akt ist es somit der notwendige Umgang mit dem fotografischen Material, der gesellschaftliche Diskurse formt. Dieser Umgang beginnt nicht erst bei den Rezipient*innen, sondern wird maßgeblich durch Autorschaft bestimmt. Die Fotografien zur nicaraguanischen Revolution der USamerikanischen Fotografin Susan Meiselas dienen als Ausgangspunkt und Beleg für die nachfolgenden Überlegungen zum Zusammenhang von gesellschaftlichen Umbrüchen und Autorschaft sowie zur Nachhaltigkeit von Erinnerung und der ikonischen Qualität von Fotografien.

2.1

Beispiel I: Nicaragua (1978–1979)

Im Sommer 1978 brach Susan Meiselas zum ersten Mal nach Nicaragua auf, um die gesellschaftlichen Unruhen und Proteste gegen den Diktator Anastasio Somoza Debayle im Land fotografisch zu dokumentieren (Lubben und Meiselas 2008, 115).2 Sie nutzt das fotografische Medium, um die politischen Vorgänge, 2 Für eine Darlegung der historischen Vorgänge in Nicaragua und Meiselas’ Reise siehe: Lubben und Meiselas 2008, 115–116.

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das Land und die Kultur Nicaraguas näher kennenzulernen. Jede ihrer Fotografien wirkt sich auf weitere fotografische Handlungen aus: »Whatever I convey to the rest of the world is, in a way, what I’ve learned later, after the fact. The point I’m trying to make here is that the camera creates a path for me to follow my instinct and curiosity« (Lubben und Meiselas 2008, 19). Am 30. Juli 1978 wurde eine ihrer Fotografien zum Coverbild des New York Times Magazin (New York Times Magazine, 30 Juli 1978, Frontcover). Ab diesem Zeitpunkt fanden Meiselas’ Nicaragua-Fotografien regelmäßig Einzug in internationale Zeitungen und Magazine (vgl. Meiselas und Lubben 2008). Sie waren jedoch stets an die Artikel gekoppelt, die mit diesen abgedruckt wurden. Die öffentliche Sichtbarkeit war demnach zwar gegeben, aber punktuell und selektiv. Ihre Fotografien waren als dokumentarische Belege der nicaraguanischen Revolution medial zweckgebunden. Mit der Frage, inwiefern Bilder Sichtbarkeit erhalten und dabei selber Sichtbarkeit für das Gezeigte generieren, sind auch Fragen zum kollektiven Gedächtnis, seiner Beschaffenheit und Funktion verbunden. Der kulturelle und soziale Rahmen, in dem visuelle Inhalte und Phänomene eingebettet sind, bezieht notwendig den Gedächtnisbegriff mit ein, denn im »Konvergenzfeld ›Gedächtnis‹ befruchten sich Wissenschaft, Kunstsystem und gesellschaftlicher Diskurs heute gegenseitig« (Erll 2011a, 73). So beschreiben Liedeke Plate und Anneke Smelik beispielsweise ku¨ nstlerische Handlungen als »hybrid notion of performing memory« (Plate und Smelik 2013, 6), in denen das Gedächtnis ebenso durch vermittelnde Strategien und Codes performt wird, wie sie auch als Analyse des Selbst und der Gesellschaft performativ wirken. Fotografien sind nie als abgeschlossene Werke zu verstehen, sondern dienen als materieller Beweggrund zur Speicherung, Transformation und Erzeugung von Erinnerungen. Strukturanalog zu Astrid Erlls »Gedächtnisroman« (2003), der »fu¨ r literarische Genres und Fiktionalitätsgrade [steht], die in bestimmten Kontexten zu Medien der Erinnerungskultur werden und kollektives Gedächtnis mitformen« (Erll 2011a, 80), können insbesondere Fotografien von affizierenden Ereignissen in bestimmten Kontexten als ›Gedächtnisbilder‹ bezeichnet werden. Auch Meiselas hatte in Bezug auf ihre Nicaragua-Fotografien den Wunsch »to gather them back, make sense of them and give them coherence – as well as permanence« (Lubben und Meiselas 2008, 116). Aus diesem Grund entschied sie sich 1981, ein Fotobuch zu erstellen. Nicaragua: June 1978–July 1979 (Meiselas 1981) zeigt neben ihren Fotografien auch anderes Primärmaterial wie Gedichte, Briefe, Notizen, Interviews und Statistiken. Die verschiedenen Materialien sind Fragmente der Revolution, die diese multiperspektivisch darstellen. Die Zusammenstellung in Meiselas’ Buch dient keiner Vervollständigung einer ›Umbruch-Geschichte‹. Im Gegenteil: Sie fördert eine Unvollständigkeit, die kollektiven Gedächtnissen inhärent ist. In dieser Vielfalt von Material und

Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen

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Narration erhalten Rezipierende die Möglichkeit, die verschiedenen individuellen, kollektiven, medialen und historischen Zugänge zur nicaraguanischen Revolution kennenzulernen und durch ihre eigenen Interpretationen zu ergänzen. Dennoch bildet Meiselas’ Autorschaft den Nexus der verschiedenen Erzählstränge, die im Buch zusammenlaufen. Anhand ihrer Text-Bild-Konzeption kann dies erkannt werden: Ihre Fotografien bilden den Hauptteil des Buches, die Bildunterschriften werden erst im zweiten Teil, der das weitere Primärmaterial beinhaltet, eingebunden. Katharina Menzel weist darauf hin, dass Bildunterschriften »eine Interpretation« vorgeben und »das, was auf der Abbildung vielleicht noch vieldeutiger ist, eindeutiger« machen (Menzel 2004, 18). Meiselas löst ihre eigenen Fotografien von diesem dirigierenden Effekt der Bildunterschriften. Dies entspricht W.J.T Mitchells oben zitierter Forderung, dem Sehen eigene Decodierungsstrategien zuzugestehen. Es ist dieses reziproke Verhältnis, in dem sich die Medien einander in ihren kommunikativen Qualitäten unterstützen können, die in Nicaragua: June 1978–July 1979 erkannt werden können. Dennoch wird das Fotobuch auch durch die Stasis charakterisiert, die sich aus seiner Abgeschlossenheit und materiellen Limitation formt. Soziale Interaktion ist stets statisch an die Bild- und Materialauswahl des Buches gebunden. Auch eine zeitliche Limitierung ist vorhanden, denn »Ausstellungen und Bücher [sind] ein Versuch, Fragmente dieser Zirkulation in einem physischen Raum der Gleichzeitigkeit sichtbar werden zu lassen und – im Fall des Buches – in einer Zeitkapsel einzuschließen« (Gerling et al. 2018, 199). Gedächtnisse funktionieren dynamisch und Erinnerungen können nur durch eine kontinuierliche Einbettung in soziale und mediale Kontexte bestehen bleiben (vgl. Erll 2011b). Meiselas, die sich der Relevanz einer sozialen Interaktion für Erinnerungskulturen bewusst ist (Meiselas 2016, 23), erweitert 24 Jahre später ihr Projekt und bringt ihre Fotografien der Revolution zurück an ihre Entstehungsorte. Wie im Folgenden gezeigt, vollzieht Meiselas hierdurch einen Wandel des statischen zum performativen Archiv.

2.2

Beispiel II: Reframing History (2004)

Fotografien werden als Instrumente politischer und soziokultureller Sichtbarkeit verstanden (vgl. Taylor 2008, 234). Auch Meiselas fragt in ihrem 2004 gedrehten Film Reframing History nach dem soziokulturellen Wert ihrer RevolutionsFotografien für die nicaraguanische Gesellschaft wie auch für die Einzelpersonen, die sie mit ihren Fotografien im öffentlichen Raum konfrontiert. Der Film beginnt mit Aufnahmen von Meiselas’ Fotografien, die großformatig im öffentlichen Raum installiert werden. Während junge Männer die Transparente

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Sophie-Charlotte Opitz

Abb. 1: Filmstill aus dem Film Reframing History (2004) von Susan Meiselas und Alfred Guzzetti

anbringen, schauen Passant*innen zu (Abb. 1). Dabei betrachten letztere nicht nur die Bilder am Ort, sondern auch den Ort als Erinnerung – ein lieu de mémoire (Nora 1998). Die Fotografien bieten nun Gelegenheit zum Erzählen, zum Austausch von Erinnerungen. Als Voice-Over werden die verschiedenen und manchmal sich aneinander reibenden Gedanken der Passant*innen integriert. Dass Meiselas an den Entstehungsort ihrer Fotografien zurückkehrt und mit Fragen nach deren Funktion als Gedächtnisbilder der Revolution verbindet, regt auch in der hier vorgenommenen Untersuchung zu Überlegungen zur Nachhaltigkeit von Sichtbarem und der Bewahrung von historischen und politischen Sichtbarkeiten an. Das ›Lernen nach einem Umstand‹ deutet mit Astrid Erll auf die »diachrone Pluralität« von kulturellen und kommunikativen Gedächtnissen hin (vgl. Assmann 1992; Assmann und Assmann 1994), die »ständigen Wandlungsprozessen unterliegen« (Erll 2011a, 134). Die Art des Erinnerns ebenso wie der Grund für dieses Erinnern verweisen in Reframing History auf ebendiese diachrone Pluralität, die mit einer kontinuierlichen »De- und Re-Semiotisierung« (Erll 2011a, 134) der Fotografien verbunden ist. Der Film zeigt die Interaktion der Menschen mit den Fotografien. Die vielschichtige mediale Begegnung mit der Revolution im Hier und Jetzt hilft dabei, Erinnerungsfragmente zu reaktivieren, aber auch, sie erneut zu befragen, kritisch abzuwägen und neu auszurichten. Es wird erkennbar, dass nicht nur Zeiten des Umbruches ›bewegend‹ sind, sondern ebenso die hiermit verbundenen Bild- und Gedächtnisdynamiken. Meiselas’ filmisches Projekt ist an Fragen von Autorschaft und Machtverteilung gekoppelt: Gehört das Bild der fotografierenden oder der fotografierten Person, einem Individuum oder dem Kollektiv? Gehört eine Fotografie über-

Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen

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haupt jemandem? Durch die performative Öffnung ihrer Fotografien am Ort ihrer Entstehung wird dementsprechend eine ›geteilte Autorschaft‹ initiiert. Der Grad der kollektiven Teilhabe wird dennoch von Meiselas bestimmt. Umberto Eco bezeichnet dieses Abstecken der Grenzen von Autorschaft als »field of given relations« (Eco 2006, 36). Reframing History ist gleichzeitig Produkt und Ereignis. Verstanden als Produkt, befragt der Film den Wert von Meiselas’ Fotografien für die nicaraguanische Erinnerungskultur. Als Ereignis kreiert der Film einen Raum, im Sinne eines praktizierten Ortes, der auf die Diskrepanz von Sichtbarem und Sichtbarkeiten aufmerksam macht. Durch Meiselas ›Zurückbringen‹ der Bilder nach Nicaragua wird die fragmentarische Beschaffenheit von Fotografie, ihre Instabilität und Multidimensionalität adressiert. Statt jedoch Fotografie als Medium im Prozess gesellschaftlicher Umbrüche zu problematisieren, will Reframing History aufzeigen, dass Fotografien das Potenzial haben, Vergangenes in der Gegenwart aufkommen zu lassen, neu zu interpretieren und hierdurch die Erinnerung an gesellschaftliche Umbrüche aktiv zu gestalten. Dabei können einzelne Fotografien auch zu Ikonen werden. Während eines Umbruchs entstanden, haben sie, wie das folgende Beispiel zeigen wird, das Potenzial, sich zu autonomen Token des Widerstands zu transformieren, die innerhalb neuer Bilddiskurse zirkulieren.

Abb. 2: Sandanisten an den Mauern des Hauptquartiers der Nationalgarde von Esteli. Esteli, Nicaragua (1979). © Susan Meiselas/Magnum Photos

32 2.3

Sophie-Charlotte Opitz

Beispiel III: Molotov Man (1979)

Meiselas nahm die Fotografie des Molotov Man am 16. Juli 1979 auf – dem Tag von Somozas Flucht aus Nicaragua (Abb. 2). Auf der Fotografie sieht man den sandinistischen Kämpfer Pablo Arauz (genannt: »Bareta«) mit einem aus einer Pepsi-Flasche hergestellten Molotov-Cocktail. Nach der Machtübernahme der Sandinisten wurde das Bild zum Symbol der Revolution. Aber warum gerade diese Fotografie? Aleida Assmann erkennt insbesondere in der Wiedererkennbarkeit und in der emotionalen Ergriffenheit, die Bilder auslösen können, ein wichtiges Moment zur Kreierung von Ikonen (Assmann 2016, 30). Diese Qualitäten sind abhängig von der ästhetischen Konzeption der Bilder. Sie wird maßgeblich durch das Agieren der fotografierenden, wie auch der fotografierten Person beeinflusst. Im Fall des Molotov Man nahm Meiselas eine niedrigere Position als ihr Motiv ein und fotografierte von schräg unten. Durch diese Perspektive tritt die Figur aus dem Hintergrund hervor. Die ästhetische Konzeption greift zudem eine »medienkulturelle Resonanz von Repräsentation« (Erll 2011a, 167) auf. In Baretas Pose kulminiert eine kultur- und kunsthistorische Repräsentation von Kämpfern und Kriegern, wie es auch Robert Capas ikonische Fotografie des Falling Soldier (1936) zeigt. Doch geschieht die Resonanz nicht nur in dem Medium der Fotografie, das Motiv findet sich ebenso in anderen Kunstgattungen wieder, z. B. in der Schlachtenmalerei Werner Schuchs und Anton von Werners: Gemälde wie General Seydlitz bei Roßbach zu Pferde (1889) oder Sturm auf die Spicherer Höhen (1880) sind nur zwei Beispiele einer Vielzahl von Schlachtengemälden, die ein kulturelles Sehen geschult haben (Abb. 3). Sie haben Schemata fu¨ r zuku¨ nftige mediatisierte Erfahrungen geprägt (Erll 2011a, 162). Neben der Pose der Figur ist es die Ästhetik des gesamten Bildes, die zur ikonischen Qualität beiträgt. Meiselas’ Analogaufnahme wirkt leicht gekörnt und die Horizontlinie ist durch die Bewegung der Fotografin schräg. Damit verweist die Ästhetik nicht nur auf das Abgebildete, sondern ebenso auf den Umstand seiner Herstellung. Anhand dieser Überlegungen wird gleichzeitig deutlich, dass Repräsentationsresonanzen nur dann funktionieren, wenn solche Bilder, die eine ikonische Qualität aufweisen, in neue Kontexte – soziokulturelle, mediale, zeitliche oder örtliche – eingebettet werden (vgl. Assmann 2016, 30). Auch die Fotografie des Molotov Man wurde kontinuierlich in verschiedene Kontexte und Medien implementiert (Meiselas 2020, Molotov Man). In ebendieser kontinuierlichen Interaktion mit dem Bild liegt das erinnerungskulturelle Potenzial als Ikone (Ebner, F. in Köhler et al. 2016, 155). Ikonen müssen nicht zwingend mit dem Bildinhalt verbunden bleiben. Sie können davon losgelöst für andere, neue Inhalte stehen. So wurde das Motiv des Molotov Man 2004 von der Künstlerin Joy Garnett nachgemalt und in einer

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¨ l auf Abb. 3: Anton von Werner: Sturm auf die Spicherer Ho¨ hen (1880). Gema¨lde, Wachs/O Leinwand., 350 × 515 cm

Ausstellung, sowie auf ihrer Webseite präsentiert (Abb. 4). Meiselas’ Anwalt sendete Garnett eine Unterlassungsaufforderung mit Verweis auf eine Urheberrechtsverletzung. Garnett besprach die Vorgänge auf rhizome.org mit anderen User*innen. Als sich Garnett dann entschied, ihre Malerei Molotov von ihrer Internetpräsenz zu nehmen, löste dies eine Protestwelle in der Netz-Community aus. Andere Künstler*innen, die in der Unterlassungsaufforderung eine Bedrohung der künstlerischen Freiheit sahen, implementierten Screenshots von Garnetts Molotov-Internetseite auf ihren eigenen Homepages und riefen dazu auf, ihrem Beispiel zu folgen (Garnett und Meiselas 2007, 54). Damit löste sich Meiselas’ ikonisches Bild vom Kontext seiner Entstehung und wurde selber zu einem Token einer neuen Netz-Revolution – dem »Joywar« (Garnett und Meiselas 2007, 55).3 3 Das Paragramm basiert auf dem Begriff »Toywar«, der einen Rechtsstreit über Nutzungsrechte beschreibt, in dem sich zwei Parteien – die Firmen etoy und eToys – um einen Domain-Namen

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Manche User*innen begannen Molotov in neue, abgeänderte Netzkunst umzuwandeln und weiterzuverbreiten. Diese Bilder stellen gleich in einer doppelten Weise »response images« (Vis zit. in Gerling et al. 2018, 184) dar. Sie zeugen (1) von einer emotionalen Ergriffenheit der User*innen, die sich für künstlerische Freiheit einsetzen. Eine Ebene tiefer hat (2) Garnett Meiselas’ Fotografie des Molotov Man ausgewählt, da in ihrer Serie Riot Menschen in »emotional distress, the figure in extremity« thematisiert werden (Debs & Co 2004).

¨ l auf Leinwand. Aus der Serie: Riot. © Joy Abb. 4: Joy Garnett: Molotov (2003). 178 x 152 cm. O Garnett

Andreas Huyssen spricht Medien einen »appetite for recyling« (Huyssen 2003, 95) zu, der danach strebe, lokale Erinnerungen in digitaler Form aufzubereiten und zu archivieren. Das Archiv erfährt so eine neue Sinnzuschreibung, denn es ist nicht mehr nur ein Speichermedium. Dadurch, dass die bisher verorteten Erinnerungen digitalisiert, grenzüberschreitend und global implementiert, abgerufen und weiterverarbeitet werden können, verändern sie auch ihren Charakter: »Within this economy of permament recycling of information, there is less need for empathic but short-term, updatable memory […]« (Ernst 2013, 99). Diese gestritten haben. (Vgl. https://www.sfgate.com/business/article/Etoy-Battling-eToys-Over-Do main-Name-2787154.php).

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»Remediation« (Bolter und Grusin 2000, 9), die den bewussten Einsatz vergangener mediatisierter Akte beschreibt, fällt mit einer »Premediation« zusammen – eine unbewusste Bereitstellung von Schemata durch die Medien selbst, auf die wiederum weiterführende Mediatisierungen zurückgreifen können (Erll 2011a, 167). Am Beispiel des Molotov Man können die sich hierin eröffnenden Sinnzuschreibungen und -ablösungen, Ikonisierungen und image-Transfers nachvollzogen werden. Doch Fotografien bewirken nicht erst dann etwas, wenn sie zu Ikonen geworden sind. Schon durch eine eigenständige Rezeption können sie in Bildgedächtnisse eingehen. Die nicaraguanische Revolution, die den Molotov Man als deren Ikone hat entstehen lassen, verschwindet im Joywar, öffnet damit aber wiederum gleichzeitig den Rahmen für neue Sinnzuschreibungen. Abgesondert vom ursprünglichen Kontext wird der Molotov Man zu einem Sinnbild der Revolution per se, ein Token des Widerstands in Zeiten des Umbruchs. Widerstand ist ein intrinsisches Element von Umbrüchen und nicht nur eine Folge derselben. Das nächste Kapitel widmet sich aus diesem Grund den Bildstrategien zur Vernetzung von Bildnutzer*innen und der Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Dynamiken während des Umbruchs.

3.

Konnektivität, Zeugenschaft, Antizipation – Fotografie während des Umbruchs

Die ikonische Qualität von Bildern entsteht maßgeblich durch ihre Dynamisierung, durch ein stetiges Austauschen, Verbreiten, Neuordnen, Speichern und Weiterentwickeln (Erll 2011a, 164; Leggewie 2009, 10). Das Internet und soziale Netzwerke begünstigen diese Vorgänge. Das digitale Zeitalter stellt jedoch nicht den Beginn dieser Dynamiken dar. Beispielsweise waren die Arbeiter*innenProtestbewegungen in Deutschland während der 1920er und 1930er Jahre durch eine Fotokultur des Beitragens und Teilens geprägt. In der Arbeiter-IllustriertenZeitung forderte im Jahr 1929 John Heartfield »Benütze Foto als Waffe!« (Heartfield in AIZ 1929, 17). Der Begleittext von F.C. Weiskopf weist auf das Potenzial einer politischen Kunst hin, die es zu nutzen gilt: »In der Kunst manifestiert sich das Leben. […] Lebensberichtigung und Geltung hat nur die Kunst, die die bewegenden Kräfte unserer Gesellschaft sieht und erkennt und aus dieser Erkenntnis die Forderung zieht: Parteinahme und Kampf!« (Weiskopf in AIZ 1929, 17). Arbeiter*innen sollten durch den gemeinschaftlichen Einsatz des fotografischen Mediums als ein relevantes Kollektiv der deutschen Gemeinschaft politische Sichtbarkeit erhalten (vgl. Muhry 2019, 130).

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Die Wirkmacht und Sichtbarkeit von Bildern beruht auf der Konnektivität der Menschen und ist an ein Verständnis von Zeugenschaft gekoppelt, das diese als einen performativen und partizipatorischen Akt versteht. Die Deutungshoheit über Bilder und bestehende ›Wahrheitseffekte‹ als deren allgemeingültige Interpretation können infrage gestellt und neu definiert werden. Als Mittel, Zweck und Produkt kann so Fotografie auf gesellschaftliche Umbrüche Einfluss nehmen. Es ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass heutzutage Krisen und Konflikte, aber auch die Widerstände gegen sie durch die Verbreitung und Bearbeitung von medial vermittelten Informationen geführt und gelenkt werden. Die enge Vernetzung von Medien und Erinnern ist zudem in den letzten zwei Jahrzehnten durch die fortschreitende Entwicklung im digitalen Sektor und den Ausbau seiner Anwendungs- und Einsatzmöglichkeiten zu einem weitverbreiteten Bestandteil kollektiven Erinnerns geworden (Rothberg 2009; Hoskins 2010; Reading 2011). Die Zirkulation und Distribution von Bildern in sozialen Netzwerken vereint nicht nur lokale Bildgenerierung mit globaler Bildrezeption, sondern passt daneben durch die Zirkulation auch Bildinhalte an, verändert und/ oder erweitert sie. Die neuen Möglichkeiten der Bildgenerierung und der Distributionsmöglichkeiten erweitern die politische Sichtbarkeit, die Fotografie offeriert. Dabei findet eine Verschiebung gesellschaftlicher Strukturen statt (Klein, 2010, 85), die für Protestbewegungen von Bedeutung sind. Soziale Interaktionen werden invertiert: Was früher im öffentlichen Raum stattgefunden hat, kann nun durch Technologie und Social Media im Privaten geschehen. Soziabilität wird in digitale Netzwerke wie Twitter, Facebook, WhatsApp und Instagram verschoben. Bilder im digitalen Kontext verändern die Erinnerungskultur und können in digitalen Prozessen, wie das Beispiel des Joywar zeigt, mit neuer Bedeutung aufgeladen werden. Statt eines Anstiegs an ›Gedächtnisbildern‹ scheint sich vielmehr der Charakter von Ikonen zu ändern. Wie Umberto Eco schon 1972 beschreibt, können »ikonische Zeichen« manche »Bedingungen der Wahrnehmung des Gegenstandes wieder[geben], aber erst nachdem diese auf Grund von Erkennungscodes selektioniert und auf Grund von graphischen Konventionen erläutert worden sind« (Eco 1972, 205; vgl. Matz 2017, 76). Ein Beispiel hierfür ist die Fotografie einer unbekannten Frau, die während der ägyptischen Proteste im Dezember 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo öffentlich von Mitgliedern des ägyptischen Militärs zu Boden geworfen und angegriffen wurde (Abb. 5). Während der Attacke rutschte ihr Oberteil hoch, sodass ihr blauer Büstenhalter entblößt wurde. Dieses Bild wurde durch seine Verbreitung in sozialen Netzwerken zum Symbol der ägyptischen Revolution. Der blaue Büstenhalter agiert als »Punctum« (vgl. Barthes 1985, 36), das den Blick vieler Rezipient*innen einfängt. Die Umstände, die zu der Entstehung des Bildes

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Abb. 5: Woman with the Blue Bra (2011). © 2020 Reuters

geführt haben, fusionieren mit den visuellen Strukturen der Fotografie zu einem Token des Widerstandes. Welche Relevanz die Kopplung der Bildgenerierung an Ort, Zeit und Ereignis für Fotografie als politische Handlung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche einnimmt, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei liegt das Augenmerk auf den Bildpraktiken und -mechanismen während des Umbruchs.

3.1

Beispiel IV: Lens Young Homsi

Das syrische Amateurfotografen-Kollektiv Lens Young Homsi, das aus ca. 15 männlichen Fotografen unter 25 Jahren besteht, fotografierte zwischen 2012– 2017 in der Konfliktregion Homs in Syrien. Die Fotografien wurden auf der gleichnamigen Facebook-Seite gesammelt und präsentiert. Als am 28. Mai 2012 Lens Young Homsi ihre Seite auf Facebook veröffentlichte, geschah dies in der Umbruchphase der bewaffneten Aufstände, die von der Free Syrian Army gegen die syrische Regierung gefu¨ hrt wurden. Sie mu¨ ndeten in den syrischen Bu¨ rgerkrieg (United Nations Human Rights Council, 15. 08. 2012, 67). Das Kollektiv wurde laut dem Gründungsmitglied Mohannad Hammoud kreiert, um die Ereignisse von ›Zerstörung und Hoffnung‹ in der Stadt zu dokumentieren (Mohannad Hammoud, Facebook-Konversation vom 17. Februar 2017) und die Dis-

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krepanz zwischen der medialen Aufbereitung des Konfliktes, in dem kaum Bildmaterial existierte, und den lokalen Vorgängen in Homs aufzuzeigen. Lens Young Homsi erfuhr eine große Aufmerksamkeit und zählte bis 2017 über 100.000 ›Gefällt mir‹-Angaben auf Facebook. Die Fotografien zeugen vom Alltag in der Stadt Homs. Es sind zerstörte Häuser, fliehende Menschen und Widerstandskämpfer*innen auf den Bildern zu sehen, aber auch Landschaften, Sonnenuntergänge und spielende Kinder. Aktivkriegerische Handlungen werden nicht gezeigt. Ein Grund hierfür stellt die Plattform dar, die Lens Young Homsi zur Sichtbarmachung ihrer Fotografien genutzt hat. User*innen in sozialen Netzwerken müssen unter den Prämissen der Richtlinien dieser Netzwerke agieren. So können zwar Fotos, Videos oder auch textbasierte Aussagen in den sozialen Netzwerken hochgeladen und mit der Community geteilt werden, jedoch nur, wenn diese mit den Richtlinien konform sind. Technologien werden konsumiert, aber in den wenigsten Fällen beherrscht (vgl. Kholeif 2010, 38). Die Vernetzungsstrategien des Kollektivs werden auf unterschiedlichen Ebenen vollzogen, finden jedoch ihren Nexus im sozialen Netzwerk Facebook. Die erste Ebene bildet das Kollektiv an sich. Viele der Viertel der Stadt Homs waren und sind voneinander getrennt, da unterschiedliche ethnische Gruppen4 dort leben und unterschiedliche politische Akteur*innen diese beherrschen (Duwaji 2013, 13. Abschnitt). Der Schutz der eigenen Fotografen wurde dadurch gewahrt, dass diese nahezu ausschließlich in ihren eigenen Vierteln fotografierten (Duwaji 2013, 13. Abschnitt). Die Facebook-Seite formierte dann einen virtuellen Begegnungsraum. Die zweite Ebene bildet die Vernetzung mit anderen syrischen Aktivist*innen. Das Kollektiv Lens Young Dimashqi ist in direkter Anlehnung an Lens Young Homsi entstanden und hat deren Logo übernommen. Auch der syrische Karikaturist Juan Zero verbindet seine Kunst mit den Fotografien des Kollektivs und nutzt diese als Grundlage seiner Zeichnungen, die er wie auch Lens Young Homsi auf Facebook präsentiert.5 Dieses repetitive Aufeinander-Verweisen unterstützt die Aufrechterhaltung von Sichtbarkeiten. Die dritte Ebene stellt die Vernetzbarkeit mit den Facebookuser*innen dar. Die Fotografien erhalten durch die User*innen ein Gegenüber, das als bestätigende Entität das fotografische Zeugnis sozial legitimiert. In diesem Sinne erweisen sich soziale Netzwerke als Nährboden für antizipierende Gedächtnisse (vgl. Assmann 2016, 33), die sich durch die aktive Anteilnahme der User*innen 4 Sunniten und Aleviten. 5 Der Eintrag ist einsehbar in der Timeline von Juan Zeros Facebook-Seite am 22. Juni 2012 unter: https://www.facebook.com/zero.Cartoonist?Ist=707277900%3A1519311896 (5. Oktober 2019).

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konstituieren. Neben den u¨ blichen Möglichkeiten des ›Gefällt mir‹-Markierens, Kommentierens und Teilens bietet Lens Young Homsi des Weiteren alle Fotografien in höherer Auflösung an.6 Hiermit verbunden ist die vierte Ebene, die neben der globalen die mediale Vernetzung betrifft. Aufgrund von Medien-Restriktionen, die die Regierung Syriens ausgesprochen hat, ist es ausländischen Nachrichtendiensten und Reporter*innen oftmals nicht möglich, aus bestimmten Gebieten zu berichten. Diesem Umstand wird durch eine Partizipation der syrischen Zivilist*innen entgegengewirkt. In der Vernetzung von professionellen Nachrichtenagenturen und Bildredaktionen mit Ziviljournalist*innen und -fotograf*innen wird die »Amateur-Profi-Dichotomie […] im Zuge der Veränderungen im Bereich der medialen Zeugenschaft zunehmend durchlässig« (Gerling et al. 2018, 191). Auch die Fotografien von Lens Young Homsi wurden von verschiedenen Nachrichtenund Bildagenturen veröffentlicht, u. a. von L’Agence France-Presse und Su¨ ddeutsche Zeitung (Baneva 2016). Dennoch besteht das Kollektiv nicht aus Ziviljournalist*innen. Die Fotografien zeugen vom Status quo während des Umbruchs – vom Alltag im Ausnahmezustand (Mohammed und Nelson 2016, 2. Antwort). Die vielen Interaktionen mit den Fotografien von Lens Young Homsi, die durch die User*innen durchgeführt wurden – das Teilen, Liken, Kommentieren, Weiterverarbeiten, Zusammenfügen, Erweitern – verändern den Charakter des Archivs von einem statischen zu einem dynamischen, von einem geschlossen zu einem offenen, von einem passiven zu einem aktiven. Die hiermit verbundenen antizipierenden Gedächtnisse fusionieren mit dem Konzept prothetischer Gedächtnisse (Landsberg 2004), das die Aneignung von Gedächtnisinhalten und -dynamiken beschreibt. Den massiven Umbruchzeiten in Syrien, die durch politische und gesellschaftliche Instabilität gekennzeichnet sind, werden Lens Young Homsis Fotografien entgegengestellt, die von den User*innen mit eigenen Gedächtnisinhalten durch Interaktion erweitert werden können. So berichtet Mohannad Hammoud: »I turned my hobby into work that I could give in the service of the revolution« (Mohammed und Nelson 2016, 11. Antwort). Durch diesen Gebrauch des fotografischen Mediums, der sich von einer reinen Dokumentarfotografie absetzt, gilt es nicht mehr, Fotografien als Ikonen in Bildgedächtnisse zu verstetigen, sondern simultan zu den Geschehnissen eine konnektive Zeugenschaft der Ereignisse einzurichten. Sie lässt unterschiedliche Perspektiven zu und fördert einen »Pluralismus der Stimmen« (Gerling et al. 2018, 199). 6 Auf der Internetseite ›flickr.com‹ konnten bis September 2018 alle online gestellten Fotografien von Lens Young Homsi in verschiedenen Auflösungen heruntergeladen werden. Siehe https://www.flickr.com/photos/lensyounghomsi/ (24. August 2019).

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Konnektive Teilhabe im Sinne eines ›Machens‹ – im Gegensatz zu einem bloßen ›Beobachten‹ – transferiert »the focus away from the ethics of seeing or viewing to the ethics of the spectator, an ethics that begins to sketch the contours of the spectator’s responsibility toward what is visible« (Azoulay 2008, 130). Verantwortung übernehmen in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche bedeutet Sichtbarkeiten zu kreieren und zu distribuieren, um den gegenwärtigen Zustand zu verändern. Wie verhält es sich aber mit der Verantwortung, wenn Umbrüche noch gar nicht begonnen haben? Welche Möglichkeiten offerieren Fotografien in diesem Kontext? Das folgende Kapitel untersucht, inwiefern solche Dynamiken vor einem Umbruch von Kollektiven nutzbar gemacht werden können, um Umbrüche zu initiieren oder aber auch aufzuhalten.

4.

Verantwortung, Hoffnung, Aktion – Fotografie vor dem Umbruch

Gesellschaftliche Umbrüche sind stets politisch, müssen aber nicht immer lokalisierbar sein. Im Kontext des Klimawandels, welcher globale Folgen mit sich bringt – Überflutungen, Dürren, Plagen etc. – kann pointiert nachvollzogen werden, dass gesellschaftliche Umbrüche auch ohne spezifische Verortung stattfinden können und – im konkreten Fall des Klimawandels – auch müssen. Ebenso wie die zuvor aufgeführten Revolutionen müssen gesellschaftliche Dynamiken, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen, politisch verstanden werden, denn die notwendigen gesellschaftlichen Umbrüche, die vonnöten wären, um die Folgen der Erderwärmung einzudämmen, sind noch nicht eingetreten. Bildpraktiken müssen in solch einem Kontext neu gedacht werden, da sie etwas adressieren, was noch nicht geschehen ist. Fotografische Strategien antizipieren dann eine Zukunft, die es aufzuhalten gilt. Die Herausforderung ist also die Produktion einer Sichtbarkeit von etwas, das noch nicht ist und niemals sein soll. Hoffnung kann als Nexus konnektiver Teilhabe aktivistische Bildpraktiken fördern. So beschreibt auch Rebecca Solnit: »Hope locates itself in the premises that we don’t know what will happen and that in the spaciousness of uncertainty there is room to act. When you recognize uncertainty, you recognize that you may be able to influence the outcomes […].« (Solnit 2016, xiv). Das folgende Beispiel legt zudem die Transformationen von Erinnerungskulturen offen: Die zuvor beschriebenen prothetischen, externalisierten und antizipierenden Gedächtnisse formieren sich zu agierenden Gedächtnissen. Das kommunikative Potential von Bildern (vgl. Holschbach 2016, 112) erweitert sich zu einem Em-

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powerment, das Deutungshoheiten nicht nur zurückgewinnen kann, sondern Zukünftiges generiert.

Abb. 6: Ausstellungsansicht: Exhibiting the Gaze (2014). The Natural History Museum, New York City. © Not an Alternative

4.1

Beispiel V: Not an Alternative

Das Kollektiv Not An Alternative ist eine gemeinnützige Organisation, die an der Schnittstelle von Kunst, Aktivismus und Theorie arbeitet. Sie entwickeln kritische Interventionen im öffentlichen (auch digitalen) Raum und nutzen hierfür Methoden aus Kunst, Architektur, Ausstellungsdesign und Politik. Sie intervenieren mit ihren Aktionen gegen die Mechanismen der freien Marktwirtschaft, die Einfluss auf Kultur und Natur nehmen. Das von ihnen 2014 gegründete Projekt The Natural History Museum ist ein reisendes Pop-up-Museum, das die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und kapitalistischen Wirtschaftsdynamiken thematisiert. Es dient der aktiven Sichtbarkeits- und Wissensproduktion bezüglich politischer Deutungshoheiten innerhalb visueller Kulturen: »The Museum inquires into what we see, how we see, and what remains excluded from our seeing« (The Natural History Museum, Mission). Museumspraktiken werden kritisch untersucht und nach deren Repräsentationsstrategien befragt. Die 2014 eröffnete Ausstellung Exhibiting the Gaze wurde in einem Zelt des Katastrophenschutzes aufgebaut. Neben Tierpräparaten wurden in 14 Leuchtkästen Fotografien ausgestellt, die in fünf Naturkundemuseen an der US-ame-

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rikanischen Ostküste aufgenommen worden waren (The Natural History Museum, Grand Opening). Sie zeigten Dioramen, in denen sich die Museumsbesucher*innen spiegelten, sodass sie gleichzeitig außerhalb und innerhalb der Naturszenen zu stehen schienen (Abb. 6). In dieser Ambivalenz der simultan passiven Betrachter*innen und aktiven Produzent*innen der Dioramen, die Sichtbarkeit von Natur thematisieren, verweisen die Fotografien auf die Verantwortung des Menschen. Es geht hierbei weniger um individuellen Naturschutz, sondern um Aktivismus gegen politische Institutionen, die Einfluss auf Kultur und Natur nehmen. Diese müssen kontrolliert werden, um das kapitalistische Top-Down-Modell durch ein kollektives Bottom-Up-Modell zu ersetzen: »Natural history museums often come under pressure to betray this [collective] future, to sell it off to the highest bidder. The Natural History Museum occupies this split in the institution […]« (The National History Museum, curatorial statement). Die hiermit einhergehende »sousveillance« (Monahan 2006, 158) – die Unterwachung durch diejenigen, die selber überwacht werden – könnte im Idealfall durch eine konnektive Zeugenschaft zukünftige Schäden an Natur und Kultur abwenden. Da jedoch sousveillance dieselben Technologien und Plattformen gebraucht, die auch die Machthaber*innen nutzen, ist es fraglich, ob sich konnektive Zeugenschaft und die damit verbundenen Bildpraktiken aus der Reziprozität von Überwachung und Unterwachung lösen können. Die Ausstellung Exhibiting the Gaze des Kollektivs Not An Alternative verdeutlicht auch, dass sich Bildpraktiken von einer zeitlichen Linearität lösen, wenn sie gesellschaftliche Umbrüche adressieren, die noch nicht geschehen sind. Verschiedene zeitliche Ebenen kulminieren und bilden einen Chronotopos: Die einst lebendigen Tiere, die ausgestopft zum Bestandteil eines Dioramas werden; die Menschen, die diese betrachten und hierbei fotografiert werden; die Besucher*innen, die die Fotografien in der Ausstellung Exhibiting the Gaze betrachten – sie alle sind Teil eines Prozesses, der deutlich macht, dass es der vergangenen Erfahrungen – erinnerungskulturell, politisch, sozial, technisch – bedarf, um neue Praktiken aufzubauen, die ein kritischreflektiertes Handeln fördern. Eine Zukunft, die nicht sein soll, kann in solch einer »Jetztzeit« (Horkheimer et al. 1942) in dieses Konstrukt einfließen, wodurch ihr durch fotografische oder andere mediale Strategien entgegengesteuert werden kann.

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5.

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Zusammenfassung

Fotografie und gesellschaftliche Umbrüche sind eng miteinander verbunden, doch die Ausformung ihrer Beziehung kann differieren. Während Susan Meiselas einen sozialdokumentarischen Ansatz während ihrer fotografischen Tätigkeit zu Zeiten der nicaraguanischen Revolution verfolgte, zeigt sich schon in der Gestaltung ihres Buches Nicaragua: June 1978–July 1979 (1981), dass das fotografische Medium durch das Zusammenführen verschiedener Medien und ›Stimmen‹ in Form von anderem Primärmaterial multiperspektivische Dynamiken zulässt. In ihrem zwei Jahrzehnte später gedrehten Film Reframing History (2004) befragt sie dann die Menschen am Ort ihrer ursprünglichen fotografischen Praxis nach dem erinnerungskulturellen Potenzial ihrer Fotografien und den Folgen der Revolution für Betroffene und Nachkommen. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Fotografie als auch die Erinnerung an die Revolution durch eine Instabilität gekennzeichnet ist, die einen Raum öffnet, in dem Vergangenes stetig neu interpretiert und verhandelt werden kann. Die Fotografie des Molotov Man exemplifiziert, dass insbesondere die Fotografien zu Ikonen werden, die als kultur- und kunsthistorische Resonanzbilder agieren und repetitiv in verschiedenen Diskursen und Displays rezipiert, konsumiert und distribuiert werden. Auch das Affekt-Potenzial von Fotografie ist relevant, da es mitbestimmt, ob ein Bild wert ist, geteilt und weiterverbreitet zu werden (vgl. Assmann 2016, 30). Sie können sich von ihrem historischen Kontext lösen und neue Sinnzuschreibungen erhalten. Diese Art von Ikonen, die in gesellschaftlichen Umbruchzeiten kreiert wurden, aber nun innerhalb neuer Bilddiskurse zirkulieren, können zu autonomen Token des Widerstands werden. Dabei ist auch das Engagement der Bildnutzer*innen von großer Bedeutung. Das stetige Austauschen, Verbreiten, Neuordnen und Speichern von Bildern steht in einer reziproken Beziehung mit der Konnektivität der Menschen. Das syrische Fotografen-Kollektiv Lens Young Homsi nutzt Facebook zur Vernetzung und Sichtbarmachung des Lebens während des Umbruchs. Die Anteilnahme des Kollektivs und das vielfältige Agieren der User*innen und Medienakteur*innen mit den Bildern verbindet antizipierende, prothetische, externalisierte und erweiterte Gedächtnisse. Gemeinsam treten die Akteur*innen der gesellschaftspolitischen Instabilität des Landes in Krisenzeiten durch ihre konnektive Zeugenschaft entgegen. Fotografie hat nicht nur ein initiierendes Potenzial, das Vergangenes reaktiviert, sondern ebenso eines, das aktionistisch Wandel initiiert. Die zuvor beschriebenen veränderten Bildpraktiken in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, die durch konnektive Zeugenschaft und agierende Gedächtnisse diese Umbrüche vorantreiben, ausbauen und sichern, sind die Grundlage für Bildpraktiken in

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Zeiten vor Umbrüchen. Sie wenden sich gegen eine zeitliche Linearität und somit gegen die Logik des »Imperativ[s] der Sichtbarkeit« (Gerling et al. 2018, 190).

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Das Bild im Wandel. Fotografische Praxis in gesellschaftlichen Umbrüchen

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Meiselas, Susan, Reframing History. 2004. Filmstill (00:00:52). Kopie im Privatbesitz der Verfasserin. Mit freundlicher Unterstützung von Susan Meiselas / Magnum Photos. Abb. 2: Meiselas, Susan. Nicaragua, June 1978–July 1979. New York: Aperture, 2008. 64. Abb. 3: Das Wissen des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Rheda: Verlag fu¨ r Wissen und Bildung. 908. Abb. 4: https://www.flickr.com/photos/newsgrist/494791246/ (22. März 2020). Abb. 5: https://pictures.reuters.com/CS.aspx?VP3=SearchResult&ITEMID=GM1E7CH1T G901 (29. Juli 2021). Abb. 6: http://thenaturalhistorymuseum.org/events/grand-opening-of-the-natural-histor y-museum/ (22. März 2020).

Stephan Packard

Erfundene Umstürze in Panels. Zur Zeichnung des Dokumentarischen, des Fiktionalen und des Politischen in Comics

In Comics über die deutsche Teilung und Wiedervereinigung verschränken sich Dokumentation, Fiktion und Politik. Comics erfinden die Umstürze, von denen sie berichten oder die sie herbeisehnen, in ihren Bildern neu. An drüben! (Simon Schwartz 2009), Berlin: Geteilte Stadt (Susanne Buddenberg und Thomas Henser 2012) und Treibsand (Max Mönch, Alexander Lahl und Kitty Kahane 2014) wird im Folgenden ausgehend (1) von der fundamentalen Freiheit des Zeichenstifts (2) die narrative und räumliche Aneignung von Geschichte in Geschichten, (3) die Repräsentation von historischen Veränderungen und Zäsuren in der eingeschriebenen Temporalität von Comics und (4) die Aneignung von Bildern aus anderen Medien dargestellt. So ergibt sich eine Lektüre der Comics als Aushandlung politischer Utopie, zeitgeschichtlicher Erinnerung und individueller Erfindung.

1.

Der freie Stift

Die folgenden Überlegungen gehen von einer kulturell inszenierten Mediendifferenz aus: Comics kommunizieren randständig, abseits der ersten und dominanten Medien der journalistischen Verständigung und retrospektiven Geschichtsschreibung. Ihre kulturelle Marginalität (Becker 2009) gibt ihnen besondere Möglichkeiten zur Appropriation, zum experimentellen und kritischen Umgang mit den Inhalten dominanter Bildmedien und Sprachverwendungen. Jeder der hier untersuchten Comics versteht in verschiedener Weise die eigene Kunstform als Alternative zu gängigeren, eher erwartbaren Formen der Auseinandersetzung mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Mit dieser Mediendifferenz ist keine semiotische oder technische Unausweichbarkeit gemeint. Stattdessen sind unterscheidbare Medien als Konventionen zu begreifen (vgl. zusammenfassend Rajewsky 2002, 14–16): als Verschränkung produktiver und rezeptiver Verfahren, die in bestimmten kulturellen Kontexten situiert sind und in ihnen bestimmte Ausdrucksformen und Inter-

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pretationen wahrscheinlicher machen als andere. Technischen, materiellen und semiotischen Voraussetzungen der eingesetzten Medien und ihrer Institutionen tragen sie Rechnung, lassen sich aber auf diese nicht reduzieren (Wilde 2014; Schmidt 2008; Bateman und Wildfeuer 2014). Diese kulturelle Position übersetzt sich in die Ästhetik des Comics als ›Intermedium‹, das Freiheitsgrade offenlässt oder erzeugt (vgl. Higgins 1965; Becker 2011). Ästhetischer Ausgangspunkt für die Beschreibung der vorliegenden Differenz ist die Freiheit des Zeichenstifts: Comics werden gezeichnet, und jede gezeichnete Linie ist von Menschenhand so gestaltet, wie sie vorliegt – sie hätte immer auch anders gezeichnet werden können. Weil Comics grundsätzlich jede graphische Gestaltung auf der Zeichenfläche erlauben, verbietet es sich, irgendeinen Aspekt der Linie aus der Analyse auszunehmen. Vielmehr ist alles potenziell bedeutsam, weil alles ebenso leicht anders gezeichnet werden könnte. Wo die Zeichnungen doch einen scheinbar offensichtlichen, einen unmarkierten Weg wählen, enthüllen sie die Konvention, die diese Optionen naturalisiert. In dieser Differenz setzen sich Comics von den Zuschreibungen ab, die wir fotografischen Bildern und sprachlicher Zeugenschaft zu machen gewohnt sind. So unterscheiden sie sich von der Indexikalität fotografischer Medien: Zwar wäre auch in der Fotografie grundsätzlich jede Gestaltung möglich. Das vom Objektiv gestiftete Verhältnis des Bilds zu einem Vorbild deutet in der gegenwärtigen Medienkultur jedoch ein ästhetisches Gefälle an, das als ›archivarisch‹ beschrieben wurde (Blümlinger 2009; Praetorius i.V.). Die Fotografie könnte alles aufs Papier bringen, aber was sich einem Objekt schnell abfotografieren oder abfilmen lässt, scheint leichter. Die Fotografie könnte alles meinen, aber eine Interpretation, die in Umkehrung der indexikalischen Logik der Spur annimmt (Kessler 2012), dass das Gezeigte irgendwann einmal irgendwo zu sehen gewesen sei, scheint intuitiver als andere. Die Unterscheidung zwischen dem es-ist-sogewesen, mit dem die private Einzelbildfotografie nach Barthes die Realität punktiert (1980), und den transparenter inszenierten Freiheiten des Bewegtbilds, die dokumentarische und archivarische Filme wiederum einholen sollen (Mundhenke 2017), erweist sich so als graduell. Wie im Bewegtbild die Montage, steht im Comic jener vorstellbaren Spur, die das Gesehene abbilden könnte, immer erst ein zweites Verfahren voran, das die Spur der Zeichnung auf die Seite einschreibt. Ob und wie sie einen Anblick oder eine Fotografie wiederholt, stellt ein einfaches archivarisches Verhältnis hintan. Dass in der Regel bereits eine visuelle Gestaltung in einer anderen Medialität vorliegt, bevor der Comic entsteht, macht aus seinen Visualisierungen immer auch gezielte Revisualisierungen. Die scheinbare Absichtslosigkeit der Vergangenheitsvermittlung, die der gängigen Bildmedialität bisweilen zugeschrieben wird (Welzer 1995, 8), greift hier also gerade nicht.

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Andererseits setzen sich Comics mindestens ebenso sehr von der Konvention sprachlicher Zeugenschaft ab: Selbst in Autobiographien und graphischen Memoiren (Schröer 2016) stellen sie den Aufwand und damit das Ausmaß der Bearbeitung und Gestaltung, die Nachträglichkeit ihrer Darstellung, in den Vordergrund. Erst recht gilt das, wenn die Autorschaft am Comic durch Kunstfertigkeit, Teamarbeit und spezifische Ambition der Autorität von Zeugenreden entgegengesetzt wird (Grünewald 2013, Schlichting und Schmid 2019). Die fragliche, nur in Konstruktionen eindeutig gestaltbare Position von Erzählinstanzen (Thon 2013) widerspricht der Autorität eines Zeugnisses noch weiter. Die Notwendigkeit, selbst persönliche Authentizität kulturell zu konstruieren, bleibt stets greifbar (Krieber 2019). Schließlich ist die cartoonhafte Semiotik von Comics immer geeignet, Fragen über die Eigentlichkeit des Gezeichneten, über die Differenz zwischen dem Gezeigten und dem Gemeinten zuzulassen: eine besondere Spielart der representational correspondence (Currie 2010), die für McCloud zu den entscheidenden Charakteristika des Comics schlechthin gehört (McCloud 1993; vgl. Packard 2009b). Ein dokumentarischer Anspruch kann nie ungebrochen eingelöst werden: er holt die Freiheit der Zeichnung nicht ein, sondern muss, wenn und insofern er gelten soll, von ihr eingeholt, aus den ästhetischen Möglichkeiten des Comics heraus verwirklicht werden. Diese Konstellationen werden in einer Reihe von Comics zur deutschen Zeitgeschichte, die um 2010 in großer Zahl erschienen, in verschiedenen Weisen bearbeitet. Ich beschränke mich auf eine Auswahl von drei Bänden, die das Spektrum deutlich machen soll. Der Auteurkünstler Simon Schwartz erzählt in seinem ersten Comicband drüben! (2009) von seiner Kindheit, die von der Flucht mit den Eltern aus der DDR in den frühen 1980er Jahren geprägt war. Er identifiziert über das autobiographische Ich sowohl die sprachliche Sprecherinstanz als auch die gezeichnete Wiedergabe des kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Simon in den Panels im Sinne des autobiographischen Pakts (Lejeune 1975) mit der Person des Künstlers. Alle Zweifel, Bemühungen und Differenzierungen des Genres gelten hier wie in anderen autobiographischen Medien. So changiert der Comic, der – offenbar zufällig – fast genau zum Jahrestag des Mauerfalls erschien (Schunck 2013, 42–43), zwischen persönlicher Erinnerung und nationaler Geschichte; er wird im Schulunterricht eingesetzt (Krause 2013, Kumschlies 2015). Andererseits ist er dem Genre nach mit tatsächlichen, aber auch mit fiktionalen Flucht- und Grenzüberschreitungserzählungen vergleichbar (Albiero 2020). Hinzu kommen nun jedoch die ästhetischen Wagnisse der bildlichen und körperlichen Selbstdarstellung im Comic (Greonsteen, Kap. 5 und 6) und der cartoonhaften Darstellung der historischen Zusammenhänge. Alle autobiographische Zeitzeugenschaft wählt aus: Die selektiven und zugleich produktiven Entscheidungen der freien Zeichnung fokussieren die damit verbundenen Fragen.

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Für den Band Berlin: Geteilte Stadt (2012) findet die Konkurrenz dieser verschiedenen Funktionen in einer Verteilung auf verschiedene Akteur*innen ihren offensichtlichsten Ausdruck. Den fünf Kapiteln sind im Inhaltsverzeichnis und auf den ersten Seiten jeweils die Namen von Zeitzeug*innen wie Autor*innen zugeordnet: sie erscheinen über dem Titel des Kapitels. Auf dem Umschlag und im Impressum erscheinen dagegen die Namen von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler. Sie verantworten demnach gemeinsam die Szenarien, Henseler zeichnet und Buddenberg koloriert. Ihre gemeinsame, überpersonale Autor*innenschaft schlägt sich auch in der zusammen betriebenen Film- und Graphikagentur Zoom und Tinte nieder. Das Impressum stellt außerdem fest: »Der Comic ›Berlin – Geteilte Stadt‹ beruht auf wahren Begebenheiten.« (Buddenberg und Henser 2012, 4) Die oft betonte Zentralperspektive, sehr klare Linienführung und Kontur und die vergleichsweise wenig cartoonisierten Körper tragen zur ästhetischen Fundierung dieses Anspruchs bei. Textdominierte Seiten mit Quellenangaben, deren spärliches Bildmaterial mal aus freien Zeichnungen, mal aus archivarischen Photographien besteht, kommen hinzu. Die ›Inszenierung historischer Authentizität‹, die Sándor Trippó bereits für den vorausgegangenen Band Grenzfall (2001) festgestellt hatte (Trippó 2014), setzt sich hier fort. Wie Grenzfall zwischen Dokumentation und Krimi, so changiert jedes der Kapitel in Geteilte Stadt zwischen dokumentarischen und anderen Genres. Von besonderem Interesse aber ist, dass die den Zeitzeug*innen zugeschriebenen Kapitel auch zum Genre Zeitzeugnis selbst ein changierendes Verhältnis einnehmen, das die Freiheiten der graphischen Gestaltung nutzt. Noch komplizierter mischt Treibsand (2014) in seiner Erzählung über den Zusammenbruch der DDR dokumentarische und – wie ich im Folgenden zeigen will – politische Ansprüche mit fiktionalen, narrativen und graphischen Freiheiten. Indem Max Mönch und Alexander Lahl als Autoren, Kitty Kahane als Künstlerin für den Band fungieren, ist der graphischen Gestaltung dabei von vornherein eine eigene Rolle zugewiesen, die sich in den Entscheidungen und der Auswahl bei der Recherche, der fiktionalen und narrativen Aufbereitung nicht erschöpft. In derselben Konstellation hatten die drei bereits in dem Band 17. Juni – Die Geschichte von Armin und Eva (2013) deutsche Geschichte bearbeitet. Statt in konkurrierender Autor*innenschaft wird die Instanz der Zeitzeug*innen hier im Figurenpersonal abgebildet: An historische Personen angelehnt, agiert als Protagonist ein fiktionalisierter Journalist und Korrespondent zusammen mit einer fiktiven Informantin und weiteren erfundenen Figuren, die jeweils in der erzählten Welt sowohl private als auch professionelle Gründe haben, etwas über die dargestellte Historie zu wissen. Keine historiographischen Textseiten wie in Geteilte Stadt, sondern fingierte handschriftliche Notizen und Skizzen leisten eine gegenläufige Inszenierung, weil sie einerseits die Kette der Informationen bis zu ihrer Quelle dokumentieren, andererseits die sehr selbständige Gestaltung

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dieser Provenienzen bei jedem Schritt ausmalen. Bereits auf dem Cover macht das Nebeneinander von sieben sehr verschiedenen Comicpanels, die teils Waffen und Gerät, teils Grenzarchitektur – Zäune, Mauern und Brücken – und teils Personen zeigen, die Gemengelage verschiedener Stimmen, Elemente und Perspektivierungen deutlich. Die Überschneidung des Dokumentarischen und des Fiktionalen erhält in diesen Bänden jeweils eine besondere Qualität. Sie erstreckt sich auch auf das politische Potenzial, das die drei Werke in unterschiedlicher Weise mobilisieren, auf das sie sich jedoch alle wenigstens als Relevanzargument beziehen. Wenn der normative Anspruch des Politischen auf einem erhofften utopischen Potenzial für die Zukunft einer Gesellschaft beruht, wird das unausweichliche fiktionale Potenzial in der Konstruktion ihrer Vergangenheit in jeder Positionierung darauf bezogen: Die ästhetischen Möglichkeiten des Comics dienen dieser doppelten Erfindung.

2.

Räumliche Aneignung von Geschichte in Geschichten

Für Geschichten aus der deutsch-deutschen Vergangenheit bietet die Teilung ein offensichtliches räumliches Motiv und die Berliner Mauer dessen Symbol. Beide werden immer wieder zentral gesetzt: So beginnt drüben! mit einer ganzseitigen Zeichnung eines Mauerabschnitts aus der Vogelperspektive (Schwarz 2009, 7). Es legt eine neue Interpretation für ein vorangestelltes Zitat von Gregor Brand nahe: Wo dort von dem »Messer der Gegenwart« die Rede ist, mit dem man »immer vergeblich [versucht], die Vergangenheit anzuschneiden« und »dabei nur die Gegenwart oder die Zukunft zum Bluten« bringen kann, weil die Vergangenheit »unverwundbar« sei (Scharz 2009, 6), tranchiert nun die Mauer das Bild. Sobald wir umblättern, bemächtigt sich jedoch die Comicseite mit seiner eigenständigen Tranchierung in meist vier Panels dieser Vergangenheit. Wessen Messer was schneiden kann, wird so in der Schwebe gehalten, auch wenn der gegenwärtige und zukünftige Schmerz und die unveränderlichen Teile der Vergangenheit die Erzählung charakterisieren werden. In Geteilte Stadt beginnen mehrere Kapitel mit einem ähnlichen Motiv, und teils spielen sie damit. Das Kapitel Das Krankenhaus an der Mauer wird der Zeitzeugin Ursula Malchow zugeschrieben, die die Erschießung Ernst Mundts gesehen hat. Das titelgebende Lazarus-Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat, liegt der Berliner Mauer gegenüber. Im ersten Panel (Buddenberg und Henser 2012, 25), das das Gebäude zeigt, dominiert aber die Hofmauer des Krankenhauses selbst das Bild. Nach dem Umblättern folgt ein Lageplan (Buddenberg und Henser 2012, 26), der die Bildmetapher in – für den Plot – strategische und

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– für die Geschichtsvermittlung – dokumentarische Informationen über die Positionen von Klinik, Grenze und Straße auflöst. Die im selben Band Regina Zywietz zugeschriebene Erzählung Wie der Mauerbau fast mein Abitur verhindert hätte beginnt mit dem Anblick der Unterführung am Bahnhof Friedrichstraße. Der Blick durch die Unterführung wird von einem Bus verstellt, Bewaffnete gehen zwischen anderen Passant*innen auf dem Gehsteig. Die Frage, ob der Raum sich öffnet oder versperrt wird, der den Plot der Erzählung bestimmen wird, wird so schon im ersten Bild gestellt. Die Ambivalenz wiederholt sich mehrfach. Eine eindrückliche Darstellung der Grenze in der Mitte der Geschichte zeigt sie als offenliegende Brücke, über die die Protagonistin mit dem Fahrrad zu fahren im Begriff ist. Nur die vor allem in Blocktexten wiedergegebene Handlung und das große, aber abseitsstehende Schild: »Vous quittez le secteur français« machen die Grenzüberschreitung und die Unsicherheit deutlich, wie lange diese möglich bleiben werde (Buddenberg und Henser 2012, 11). Es liegt sehr nahe, solche Plots von Grenzüberschreitungen mit Lotmans Erzähltheorie zu lesen (1972). Es ist demnach die Leistung des Kunstwerks, die Überschreitbarkeit einer Grenze in der dargestellten Welt durch die Anlage der Erzählung als möglich oder unmöglich zu kennzeichnen, so dass die tatsächliche Überschreitung eine besondere Leistung der Protagonist*innen wird. Die Seiten der Grenze können topographisch, topologisch und semantisch besetzt werden, und für Lotman kann schließlich eine antithetische Semantik die räumliche Realisierung der Grenze in der diegetischen Welt auch vollständig ersetzen. In tatsächlichen Erzählungen von räumlichen Grenzen kann dagegen die Semantisierung vielstimmig oder ganz offen bleiben. Die Seite, auf der die Grenze des französischen Sektors als offene Brücke dargestellt wird, beginnt mit dem Hinweis: »In der DDR wurde verlangt, im Unterricht die vorherrschende Meinung wiederzugeben. [In der Westschule] sollten wir aber auf einmal eine individuelle Sicht auf die Dinge haben.« Darunter ist ein Aufgabenheft gezeichnet, das nach der Überschrift »Meine Einschätzung:« zwei leere Seiten und einen unentschlossen aufs Papier tappenden Bleistift zeigt (Buddenberg und Henser 2012, 11). An die Stelle einer expliziten Einschätzung treten dann die folgenden Panels, die diese Unsicherheit in die Darstellung des Stadtraums übertragen. Als auf der letzten Seite der Zug vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen abfährt, löst sich das zuvor dichtgedrängt gezeichnete Stadtbild und damit auch die Darstellung des diegetischen Raums überhaupt auf. Waggon und Gleise laufen auf eine weiße, offene Fläche zu (Buddenberg und Henser 2012, 21). Ästhetisch wird die Unsicherheit so zugunsten eines revolutionären Topos im Sinne Lotmans entschieden, bei dem eine Zustandsveränderung Bestand hat. Die Grenze wird überschritten und bleibt überschritten. In der Handlung entspricht dies der Entscheidung zur Flucht. Hier, am Ende, wird diese Zäsur mit weiteren

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semantischen Oppositionen aufgeladen, die die Blocktexte beschreiben, die anstelle der figürlichen Raumdarstellung ins Panel gerückt sind: »Die unbändige Freude über die geglückte Flucht mischt sich mit Sorge und Schuldgefühlen um meine Eltern und meinen jüngeren Bruder […]. Das Abitur bestehe ich. Meine Lehrer haben mich sehr beeindruckt: […] Deshalb entschließe ich mich, selbst Lehrerin zu werden.« Eine Seite aus Treibsand (Abb. 1, Mönch et al. 2014, 73) inszeniert die Unsicherheit über die mögliche Grenzüberschreitung als revolutionären Plot mehrfach. Neben zwei Bilder von der befestigten Grenze treten zwei Bilder von Ingrid, die nach ihrer intradiegetischen Erzählung am Ufer steht, mit dem Plan – wie die nächste Seite verrät – »über die Ostsee [zu] schwimmen!« (Mönch et al. 2014, 74). Grenzen werden hier vielfach inszeniert und jeweils unterlaufen: Die Hoffnung auf die Flucht wird bereits im Rückblick als gescheiterter, ›teuer bezahlter‹ Versuch konterkariert. Die Grenze, die überschritten werden soll, wird zugleich von Ingrids eigenem Bruder bewacht: »Er sorgt dafür, dass Leute wie ich nicht abhauen können.« (Mönch et al. 2014, 73) Das keineswegs subtile, dazwischen montierte Bild vom farbenfrohen Vogel im Bauer, der vielleicht eingesperrt, vielleicht aber auch gerade freigelassen wird, steht im Kontrast zu etlichen Farbpaaren, die auf der Comicseite Grenzen ausdrücken: Der braunen militärisch befestigten Grenze steht die graublaue, freigebliebene Panelfolie gegenüber, die die andere Seite darstellt; ein dunkleres Blau zeigt gegen ein ockergelbes Ufer das Meer an, und diese Opposition wird wiederum geschnitten von dem von rechts über die fluchtbereite Schwimmerin fallenden Schatten. Die mehrfache Inszenierung setzt tatsächlich ganz unterschiedliche Räume gleich, in denen die Grenze mal als Zaun und Mauer, mal als offenes Meer erscheint. Ingrid wird in der weiteren Geschichte, durchaus auch als im Osten und Westen reproduziertes Klischee des ostdeutschen Sports, als Schwimmerin ausgezeichnet; wir sehen sie dann jedoch stets nur in engen Bahnen und Bädern, nie aber am noch oft gemalten Strand schwimmen – bis sie in einem winzigen Panel, wenige Meter (!) vom Ufer entfernt, sofort von einem Militärboot eingeholt wird (Mönch et al. 2014, 78). Die Unsicherheit wird hier letztlich in einem Scheitern des revolutionären Plots aufgelöst.

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Abb. 1: Seite 73 aus Treibsand

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3.

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Temporale Aneignungen von historischen Umbrüchen

In Lotmans Erzähltheorie wird der erzählte Raum zur Metapher semantischer Opposition, während der Begriff des Raums zur Metapher der Theorie für Handlungsoppositionen wird. Das Modell, das Lotman aus der bildenden Kunst begründet und vor allem für sprachliche Kunstwerke einsetzt, ist von vornherein transmedial angelegt. Das Verhältnis, das in Comics zwischen den beiden Beziehungen der Erzählung zum Raum und der Sprache zum Bild besteht, lässt sich mit Mikhail Bachtins Überlegung zum Chronotop noch präziser untersuchen (Bachtin 1981; Packard 2015). Für ihn entzieht sich die Dimension der Zeit der direkten Darstellung in der Erzählung. Diese präsentiert stattdessen einen Raum, der semantisch auf verschiedene Zeitkonzepte verweisen kann: die Straße auf die offene Zeitstruktur des Abenteuers, Schlösser und Museen auf die Historisierung von Zeit im Bürgertum. Für die Frage nach der besonderen Freiheit der Comiczeichnung ist entscheidend, dass mit Bachtin Visualisierbarkeit bereits eine Notwendigkeit sprachlichen, gerade nicht piktoralen Erzählens meint. Die Darstellungen seiner Chronotope sind die Straßen und Museen, von denen Romane in Worten erzählen. Die dagegen visuelle Darstellung dieser in Raum gebannten Zeit kommt im Comic so stets noch hinzu und kann die – generische, klischeehafte, autobiographische oder individuelle – Erzählung nochmals kommentieren, subvertieren, kritisieren oder bestätigen. Eines der zentralen Interessen von Bachtins Modell ist die Beschreibung der Aneignung von Zeit durch Raum: Der künstlerische Chronotop, in dem sich durch die Rezeption des Kunstwerks Autor*innen und Leser*innen begegnen, bildet die reale Raumzeit ab. Aber auch dies geschieht nicht direkt, sondern durch verschiedene kulturelle Konzeptionen des ›realen Chronotopos‹, die aus verschiedenen historischen Kontexten stammen und Vorstellungen von Zeit transportieren, die dort jeweils zur Verfügung standen. Die Tradierung von Kunst und Literatur führt nun dazu, dass sich in der Sinnsphäre des künstlerischen Chronotops nicht nur Autor*innen und Leser*innen, sondern auch verschiedene Genretraditionen mit ihren verschiedenen Zeitkonzepten in einem Dialog begegnen. Nicht ganz verschiedene historische und kulturelle Umstände, wohl aber die sehr verschiedenen Deutungen der deutsch-deutschen Zeitgeschichte treten in den hier betrachteten Comics in Gestalt verschiedener ZeitRaum-Abbildungen in Dialog miteinander. Wo Geteilte Stadt den Dialog scheinbar moderiert, indem den einzelnen Zeitzeug*innen verschiedene Kapitel zugeschrieben werden und am Ende meist eine eindeutige Auflösung der räumlichen und zeitlichen Spannungen aus den kurzen Erzählungen steht, hält Treibsand diese Dialogizität aufrecht: Die verschiedenen Positionen begegnen sich auf der Seite, und Ingrids Fluchtversuch drückt Sehnsucht, Scheitern, Aberwitzigkeit, Komik und Unmöglichkeit in einer Überblendung aus, die in der dialogischen

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Anordnung der Raumdarstellungen auf der Seite und in der Einfassung der Binnenerzählung im Gespräch mit dem Protagonisten umgesetzt wird. Letzterer nimmt zwei Positionen ein: Er ist Ingrids Gesprächspartner, dessen Empathie betont wird, und andererseits eine ›Genremaske des Autors‹ im Sinne Bachtins. Auf dem Höhepunkt von Ingrids Erzählung angekommen, erfahren wir nämlich Folgendes von seinen Gedanken: »Ich spürte beim Zuhören den unangenehmen Impuls, in Ingrids Drama die Story zu sehen, die ich hätte schreiben können. Der Bruder Grenzer, sie verhaftet als Grenzverletzerin […]« (Mönch et al. 2014, 82). Die Überblendung von Sehen und Hören, von verschiedenen Genrebezeichnungen, die selbstreflexive Betonung des Topos von der Grenzverletzung und der irreführende Konjunktiv – denn Mönch, Lahl und Kahane zeigen gerade diese Geschichte ja tatsächlich – rahmt die durchaus generischen Elemente der Erzählung mit einem Unbehagen, das sie nachträglich kompliziert. Eine Umbrucherzählung kann die Veränderung, von der sie handelt, in ein narratives Gefüge einbetten und etwa als die Überschreitung der Grenze durch die Protagonist*innen umsetzen. Eine stärkere Distanz zu gegebenen Geschichtsdeutungen nimmt der Comic ein, wenn er frei erzählt und die Zäsur in Opposition zu der Erzählordnung stellt. Statt der in den semantischen, räumlichen oder den Plot strukturierenden Oppositionen angelegten literarischen Ereignishaftigkeit erscheint die Zäsur dann als Infragestellung der Ordnung der Erzählung überhaupt. Die Zuschreibungen einer solchen uneinholbaren Zäsur an die Ereignisse vom 11. September 2001 gehört zu den am besten beschriebenen (vgl. Seiler, Schüller und Poppe 2009; Schüller und Seiler 2010), auch für Comics (Packard 2009a); zugleich ist die Auseinandersetzung kontrovers, wo sie die Zuschreibung zu wiederholen droht, statt sie zu analysieren. Stattdessen gilt es, die Konstruktion des vollständigen Umbruchs durch mediale Verfahren zu verstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Diskursivierung der Zäsur in einer erzählten Geschichte als Darstellung einer Unmöglichkeit denken, weil sie als eigentlich nicht diskursivierbar, als unerzählbar markiert werden soll (vgl. Packard 2009a). So kann sie vor und nach dem Eintreten des Umbruchs abgebildet werden, als bloße Vorstellung von dem, was gerade nicht geschieht. Momente vor und nach der Zäsur ähneln ihr also, aber diese Ähnlichkeit wird nur als uneigentliche, metaphorische denkbar, weil das Ereignis der Zäsur den restlichen erzählten Ereignissen grundsätzlich enthoben ist. So geschehen Einspiegelungen eines außerordentlichen Ereignisses in die Ordnung der Erzählung. Für Erzählungen von Grenzüberschreitungen aus der deutsch-deutschen Geschichte wird damit vorstellbar, dass jede Überschreitung Spiegelung der Auflösung der Grenze überhaupt, des Mauerfalls und der Wiedervereinigung, sein könnte. Diese Konstruktion lässt sich dann darauf befragen, ob sie die Spiegelung vor oder nach der historischen Zäsur annimmt, also entweder als Hoffnung, Vor-

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ausdeutung, Utopie oder Prophezeiung; oder aber als Erinnerung. Erzählungen, die wie die hier vorgestellten nach der Wiedervereinigung darstellen, wie die Grenze zuvor überschritten oder nicht überschritten wurde, kombinieren beide Möglichkeiten. Die graphischen Freiheiten der Kunstform eignen sich diese Überblendung in charakteristischer Weise an. So ist bereits in den zunächst kontextlosen Zeichnungen des Bahnhofs Friedrichstraße in der Erzählung Abitur das Angebot gemacht gewesen, Vergangenheit und Gegenwart aufeinander zu beziehen (inwiefern sieht das heute anders aus?), aber auch die historische Situierung versuchsweise am Raum abzulesen (steht die Mauer schon? steht sie noch?). Ingrids unsichere Flucht in Treibsand wird durch die Differenz zum historischen Verständnis der Leser*innen, das aber auch das Verständnis ihres Gesprächspartners wird, besonders hervorgehoben. Im ersten Kapitel präsentiert der Band durch einen Zahnarztbesuch eine übergreifende Metapher für diese Geschichtsaneignung schlechthin: Der Zahnarzt in New York beschreibt dem Protagonisten den Zustand seiner Zähne: »Offen gestanden, Tom, es sieht nicht gerade aus wie in einem Schaufenster der 5th Avenue. Eher wie auf einem Schrottplatz.« (Mönch et al. 2014, 5). Zeigt das nächste Panel auf derselben Seite zunächst aufgetürmte Autowracks, so folgt danach der ikonische Anblick der Charité und des Brandenburger Tors. Toms Erinnerung fasst sie zusammen: »Ich dachte an meine Nacht in einem Ostberliner Krankenhaus, als mir das eingebaut wurde, was Dr. Krasszic nun dabei war, zu entfernen. Es war der 9. November 1989, die Nacht, in der die Mauer fiel.« (Mönch et al. 2014, 5). In der weiterhin jede Subtilität schmähenden Konstellation werden Ein- und Ausbau der Zahnprothese mit einer Traumatisierung und dem Fall der Mauer direkt verbunden: sie rahmen als Abbilder die dazwischenliegende historische Zäsur, die als Schrottplatz, als Skyline und durch die Gleichzeitigkeit mit dem beschriebenen Eingriff vielfach metaphorisch bezeichnet wird. Indem Tom den Zahnarzt offenbar lange gemieden hat, wird auch die narrative Auflösung als verzögerte eingeführt, obwohl sie dann schnell erzählt ist, als schließlich der gezogene Zahn allein in einem ansonsten leeren Panel erscheint. »Die Geschichte, die auf dem Zahnarztstuhl von Dr. Krasszic endete, begann im Frühjahr 1989«, erfahren wir (Mönch et al. 2014, 7), und damit ist die Konfusion verschiedener Metaphern schließlich in eine erzählbare Geschichte überführt. Dargestellt wurde der Mauerfall auf der Seite dennoch nicht, es bleibt bei der nun narrativ fortgesetzten Allegorie.

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4.

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Angeeignete Bilder

Die ständige Stellvertretung des Mauerfalls zieht sich auch durch den restlichen Band. Ein Höhepunkt wird im Kapitel Die Auer est Omen erreicht, dessen an Beziehungen und Entstellungen der Botschaft (›die Mauer ist offen‹) überfrachtete Titel das Verfahren gut zusammenfasst. Viele der folgenden Seiten führen zahlreiche weitere neue Ersatzbilder und -motive für die Zäsur des Mauerfalls auf. Darüber hinaus wird dieser mit dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens parallelisiert, mit dem der Protagonist ebenso wenig zu einem erzählbaren Ende kommt. Eine besondere Signatur dieses Kapitels ist die Reflexion über die vielsprachige, weil in internationalen Nachrichtenmedien geleistete Spiegelung der Zäsur. Besonders explizit wird hier die marginale und sekundäre, potenziell kritische oder subversive Position des Comics gegenüber den dominanten journalistischen, aber später auch geschichtsschreibenden Medien gestaltet. Die Zäsur, die sich den anderen Medien und dem Comic gleichermaßen entzieht, eignen sie sich in zahlreichen indirekten Beschreibungen, Darstellungen und Übersetzungen an: Diese aber können sich wiederum dem Comic nicht entziehen. Während der Mauerfall kaum einmal auf den Seiten des Comics Treibsand erscheint, wird seine hilflose Repräsentation durch andere Medien zum Gegenstand der Abbildung. So wird durch eine stark abstrahiert gezeichnete simple Absperrung, auf deren beiden Seiten Journalist*innen unterschiedslos vom Fall der Mauer berichten (Abb. 2, Mönch et al. 2014, 123), die aber selbst wie eine zugleich unverletzte und sinnlose Mauer erscheint, die Vorstellung von einer Repräsentation der Zäsur ad absurdum geführt. Im nächsten Panel wird der Slogan ›The Wall Is Open!‹ mit zahlreichen Pfeilen auf einen Weltball, der als ›News‹ beschriftet ist, verwiesen: keine Spur von einer Mauer oder ihrer Öffnung, stattdessen die Fokussierung einer Welt, die nur noch aus ihrer medialen Abbildung besteht. Diese aber geschieht doppelt: in den vielen lauten Stimmen der Nachrichtenmedien, und dann noch einmal in der Aneignung durch das comichafte Bild. Die einfarbig rote Folie, der cartoonhaft verzerrte Weltball und die prominent platzierten, drastischen Lettern nämlich machen aus diesem Panel eines der typischsten und am stärksten selbstreflexiven Bilder im Band. Sie verwiesen auf die selbstbewusste Comicalität (vgl. Heyden i.V.) des Comics, der der Bilder- und Medienflut der dominanten Diskurse die eigenen Bilder nicht nur entgegensetzt, sondern die fremde Medialität in der eigenen aufnimmt, verformt, karikiert und kommentiert. Im Zentrum einer solchen wiedererkennbaren Comicästhetik steht sicher der Zeichenstil des Cartoons schlechthin. Mit Scott McCloud lässt er sich als reduzierte und partiell übersteigerte Darstellung denken, die vor allem menschliche

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Abb. 2: Seite 123 aus Treibsand

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Körper betrifft und in verschiedenem Grade auch auf andere Figuren und Abstrakta in der Zeichnung ausgreift (vgl. Packard et al. 2019, Kap. 2). Gerade indem Cartoonisierung auch innerhalb eines Comics verschieden stark ausfallen kann, erhält sie eine differenzierte Funktion. So enthält der Comic Treibsand Teile eines fingierten Binnentexts, eines Notizbuchs, in dem Tom Sandman unter demselben Titel Notizen, aber auch Skizzen über mögliche Inhalte zu seinem späteren Bericht festhält. In den Skizzen werden die zuvor schon stark cartoonhaft gezeichneten Körper noch weiter reduziert und karikiert. Der fremde Blick wird wie der fremde Anblick der Comicästhetik angeeignet. (Dass Sandmans Nachname auf einen der ambitioniertesten und bekanntesten Comics – Neil Gaimans vielhundertseitiges Sandman-Epos – und zugleich wie dieser auf die Auseinandersetzung mit Traum- und Visionsbildern verweist, ist vermutlich kein Zufall.) Die insgesamt in viel geringerem Maße cartoonisierten Zeichnungen in Berlin: Geteilte Stadt montieren immer wieder Zeitungsseiten und Fotografien. Dabei finden sie eine Gelegenheit, dieselbe mediale Konkurrenz auszudrücken, in dem Kapitel Die andere Seite. Das Kapitel wird dem Zeitzeugen Detlef Matthes zugeschrieben, der in den erzählten Episoden als Fotograf auftritt. Werden ihm als Kind sowohl die Mauer als auch West-Berlin nur als aus der Ferne erahnbare, kaum sichtbare Mysterien vorgestellt, sammelt er zunächst fotografische Ansichtskarten von West-Berlin. Als er zur Konfirmation eine Kamera geschenkt bekommt, ändern sich die Erzählung und die bildliche Darstellung: Zwischen die Panels ist eine erste große Fotografie vom Brandenburger Tor montiert, die Detlef gemacht haben soll. Gegenläufig hält der Blocktext, der in freien Lettern in die abgedruckte Fotografie aufgenommen ist, fest: »Damit kann ich mir nun ein eigenes Bild machen.« (Buddenberg und Henser 2012, 63) Der Comic tut hier das Gegenteil von dem, was sein Protagonist versucht: Die fremden Bilder der Fotografie werden erst zu den eigenen Bildern des Comics, indem sie seiner Cartoonisierung eingeschrieben werden. Das geschieht auf den folgenden Seiten immer wieder, teils durch die Aufnahme als Panel in die Comicseite, teils durch die comikale Beschriftung, und am nachdrücklichsten durch eine Szene, in der der cartoonhafte Protagonist in der ebenso gezeichneten Dunkelkammer an einer Fotografie hantiert, die in mehreren Kopien, gemäß der Logik der Panelfolge wiederholt, stets ästhetisch different als Foto abgedruckt, aber in den dargestellten Raum eingelassen wird (Abb. 3, Buddenberg und Henser 2012, 68). Im Zentrum der Tradition des Cartoonbilds steht das karikierte Gesicht. Die drei Comics gehen damit je verschieden um: Der sachlichere dokumentarische Anspruch von Geteilte Stadt wird in vergleichsweise realistischen Gesichtsbildern ausgedrückt, während Treibsand Gesichter je nach dem Zweck eines Bilds verschieden verformt und drüben! die durchgängige subjektive Perspektivierung durch das autobiographische Ich durch einen Cartoontyp ausdrückt, bei dem

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Abb. 3: Seite 68 aus Berlin: Geteilte Stadt

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jedes vorkommende Gesicht als Variation eines einzigen Typs des vereinfacht dargestellten menschlichen Gesichts schlechthin erscheint. In der Aneignung von Bildern aus dem DDR-Regime gehen Treibsand und drüben! jedoch auffallend ähnlich vor. Als Ingrid Tom vorwirft, er würde sie ausschnüffeln wie der Staatssicherheitsdienst die Bürger*innen der DDR, sagt sie: »Du hättest auch gleich mit Mielke sprechen können.« Zwischen zwei Panels, in denen sich die beiden Figuren unterhalten, ist ein Foto von Mielke montiert: »Erich Mielke leitete das Ministerium für Staatssicherheit.« (Abb. 4, Mönch et al. 2014, 71) Mielkes Gesicht ist stark reduziert und bleibt als blasse Chiffre gegenüber den Protagonist*innen charakterlos, während Mielke gleichwohl gut wiederzuerkennen ist. Sein Blick geht zum Augenwinkel und schielt gleichsam über den Bildrand, als wollte er die Figuren ausspähen. In einer ganz ähnlichen Weise erscheint das Bild Erich Honeckers in einigen Sequenzen in drüben!, in denen die Schule in Verlängerung der Staatsmacht den Überwachungsapparat darstellt. Simons Vater ist Lehrer; er erfährt in einer Szene (Abb. 5, Schwarz 2009, 54) von einem Schüler, dass dieser über ihn ausgehorcht wurde. Das an der Wand hängende Bild des Staatsoberhaupts ist anders gezeichnet als die Poster daneben, die eher eine dicht gefüllte fotografische Fläche meinen: Sein Gesicht ist wiederum stark reduziert und wird als Karikatur des bekannten Fotobilds leicht wiedererkannt, hat aber weder an dem Cartoontyp aller anderen Figuren noch an deren lebendiger Zeichnung Anteil. Der augenlose Blick der leeren Brille richtet sich parallel zu den weinenden Augen des Schülers auf den Lehrer, der ihm unterworfen und seiner Überwachung ausgesetzt ist.

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Abb. 4: Seite 71 aus Treibsand

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Abb. 5: Seite 54 aus drüben!

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5.

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Fazit

In vielen Comics über deutsche Zeitgeschichte wird eine Spannung zwischen einem faktualen Anspruch und einer fiktionalen Ambition deutlich. Die Fiktion dient hier keineswegs allein der Entlastung von der historischen Akkuratesse und dem ständigen Quellennachweis der Dokumentation, sondern wird als autonome Erzählform verfolgt. Gleichzeitig wird aber in allen drei besprochenen Comics deutlich, dass die Freiheit der Erzählung den dokumentarischen Anspruch auch nicht ganz suspendiert: Das Authentizitätsversprechen der Autobiographie in drüben!, die Aufbereitung der Quellen in Geteilte Stadt und die Parodie der Recherche in den Binnenzeichnungen von Treibsand werden jeweils von einer erklärenden Geste begleitet, die Informationen verspricht. Geteilte Stadt enthält zweiseitige historische Einordnungen zu jedem Kapitel. Aber auch Treibsand erklärt uns etwa: ›Erich Mielke leitete das Ministerium für Staatssicherheit.‹ (Mönch et al. 2014, 71). drüben! perspektiviert dagegen jede einzelne historische Aussage durch eine der Figuren oder den Erzähler: »Mein Vater […] war […] Mitglied der SED.« (Schwarz 2009, 15) »Mit dem Wunsch ›Nie wieder Krieg, nie wieder Uniformen‹ bauten sie [die Großeltern] begeistert den neuen Staat mit auf.« (Schwarz 2009, 16) »Er [der Vater] ging gern zur Schule und hatte Spaß bei den Pionieren.« (Schwarz 2009, 17) Die Rezeption als Schulmaterial, das dann eben von anderen erklärt werden muss (Krause 2013, Kumschliess 2015), holt den Band jedoch immer wieder ein. Wenn damit eine durchgängige politische Dimension verbunden ist, liegt sie wohl in der Appropriation gängiger Medien durch die Bildgestaltung und die Erzählung der Comics. Sie entwerfen in keinem dieser Fälle eine parteipolitische Vision. Sehr wohl aber entsteht der Entwurf einer Kommunikationsgemeinschaft, in der die Praxis der Comiczeichnung eine Lektüre anbietet, die in einem reflektierenden und potenziell widerständigen Verhältnis zu den geschilderten Grenzziehungen, politischen Zäsuren und übergreifenden Diskursen der Nachrichten- und der historiographischen Medien stehen.

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Johannes Mayer

Spielformen des Umbruchs im Kinder- und Jugendtheater zwischen Utopie und Erinnerung

Im Unterschied zu anderen Darstellungsformen wie dem Film kommen im Theater die an der ästhetischen Praxis Beteiligten in physischer Ko-Präsenz zu einer bestimmten Zeit an einem Ort zusammen, wo der künstlerische Gegenstand zugleich hervorgebracht und wahrgenommen wird. In erinnerungskultureller Hinsicht ermöglicht diese besondere Konstellation der Nähe eine emotionale und unmittelbare Beteiligung der Zuschauenden am (Erinnerungs-)Geschehen auf der Bühne und bietet als Spielraum einen spezifisch theatralen Umgang mit Umbruchserzählungen. Der Beitrag fokussiert das Kinder- und Jugendtheater als gesellschaftlich relevanten Ort erinnerungskultureller Praktiken für die nachwachsende Generation. Anhand grundlegender Merkmale und Entwicklungen werden künstlerische Strategien des zeitgenössischen Theaters für ein junges Publikum erläutert und Spielformen des Umbruchs anhand historischer und zeitgenössischer Entwicklungen beschrieben.

Forms of upheaval in children’s and youth theatre between utopia and memory In contrast to other forms of performance such as film, in theatre the participants in the aesthetic practice come together in physical co-presence at a specific time in a place where the artistic object is both produced and perceived. In terms of memory culture, this special constellation of proximity enables the audience to participate emotionally and directly in the (memory) events on stage and offers a specific way of dealing with narratives of upheaval. The article focuses on children’s and youth theatre as a socially relevant place of memory-cultural practice for the next generation. On the basis of fundamental characteristics and developments, artistic strategies of contemporary theatre for

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young audiences are explained and forms of upheaval are described on the basis of historical and contemporary developments.

1.

Einleitung

In Zeiten des Umbruchs kommt der theatralen Kunst nicht nur eine reaktive Rolle zu, aus der heraus gesellschaftliche Wandlungsprozesse ex post beurteilt und für die Bühne ästhetisiert werden. Vielmehr greift das Theater soziale Transformationen auch auf, bestärkt diese und treibt sie proaktiv voran. Es versteht sich sowohl als Aufführungsort gesellschaftlich relevanter Kunst als auch als ein Diskursort, der Akteuren, Provokateuren und Revoluzzern des Umbruchs eine Spielfläche bietet und soziale Fragen mit der Weiterentwicklung von Kunst in Verbindung bringt. Auf der Bühne finden Realität und Imagination, Vergangenheit und Gegenwartsdiagnostik, Erinnerung und Zukunftsvision zusammen. Als Erinnerungsraum gestaltet das Theater die historische Differenz zwischen vergangener Erfahrung und heutiger Wahrnehmung, als Wirklichkeitsraum zeigt es gesellschaftliche Bedingungen und soziale Zusammenhänge und erlaubt als Möglichkeitsraum deren Reflexion sowie die spielerische Erprobung von Gegenentwürfen. Die im Theater entworfene Welt ist dabei keine bloße Illusion, sondern stellt den gesellschaftlichen Prozessen alternative Gesellschaftsentwürfe gegenüber, die über die einzelne Aufführung hinausweisen und einen Diskurs anstoßen möchten, der mithin ein Diskurs über Erinnerungs- und Zukunftsräume ist und darüber, wie wir die Welt im Umbruch wahrnehmen und gestalten. Wenn dieser Beitrag in erinnerungskultureller Perspektive auf Spielformen des Umbruchs fokussiert, dann ist die Spannung sowohl eine utopische zwischen dem Hier und Jetzt und dem Noch nicht als auch eine, die sich Vergangenem als dem Dort und Damals zuwendet und es mit theatralen Mitteln präsentisch werden lässt. Im Vordergrund steht die Frage, welche Bedeutung dem Theater für die Rekonstruktion, Transmission und Bewahrung von Utopie und Erinnerung zukommt und wie hierbei die spezifische Ästhetik des Theaters ihre Wirkung entfalten kann. Der Beitrag geht vom Theater und seiner Ästhetik aus und wählt mit den Spielformen des Umbruchs und der Erinnerung im Kinder- und Jugendtheater einen Gegenstand, der als Erinnerungs- und Reflexionsraum für die nachwachsende Generation von besonderer gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung ist. Zunächst wird das Theater als transitorischer Raum vorgestellt und in Zusammenhang mit Medialität und Bildlichkeit gebracht. Hieran lässt sich eine im Verlauf der Theatergeschichte immer stärker ausgeprägte Dehierarchisierung der Theatermittel erkennen, die wesentlichen Einfluss auf die Theaterrezeption und erinnerungskulturelle Erfahrung genommen hat. Zwei Beispiele aus dem

Spielformen des Umbruchs im Kinder- und Jugendtheater

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Kinder- und Jugendtheater veranschaulichen die konkrete Verortung im Erinnerungs- und Umbruchsdiskurs: Am Beispiel des GRIPS Theaters wird ein emanzipatorisches Theater erkennbar, das mit Bezug auf die Gegenwartsreflexionen der 68er-Bewegung einen Umbruchsdiskurs anstoßen wollte und sich hierzu der Mittel eines ›armen Theaters‹ bedient. Das zweite Beispiel einer partizipativ entwickelten Inszenierung am Leipziger Theater der Jungen Welt zeigt eine Theaterkonzeption, die Geschichte und Erinnerung mit zeitgenössischem Umbruch verknüpft und hierzu plurimediale und stärker dehierarchisierte Darstellungsformen nutzt.

2.

Theater als transitorischer Raum

Für eine Gesellschaft kann Theater als ein besonderer Raum gelten, der die Spannung von Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Spiel nicht nur zeigt, sondern verhandelbar macht. Dies gilt sowohl für den Ort ›Theater‹ als auch für die Performativität des Theaters. Dass Theater in spezifischer Weise in die Vergangenheit und Zukunft wirken kann, hat wesentlich mit dem Theater als einem Ort zu tun, der als Kunst-Raum eine eigene Ästhetik ermöglicht. Im Sinne einer Heterotopie nach Foucault (2005) eröffnet die Bühne einen transitorischen Raum des Dazwischen, vereint mehrere Räume an einem Ort und setzt sie miteinander in Beziehung. Insofern Heterotopie bei Foucault nicht Freiheit von jeglicher Norm bedeutet, sondern einen Ort innerhalb einer normativen Ordnung meint, an dem Normen ausgesetzt werden, kann ein Theater, das gesellschaftliche Umbrüche zum Gegenstand nimmt, als ein ›anderer Ort‹ gelten, an dem gesellschaftliche Normen auf der Bühne gezeigt und nach den Regeln des Theaters in Repräsentation, Negation und Umkehrung reflektierbar gemacht werden (vgl. Mayer 2019a). Als »lokalisierte Utopie« (Foucault 2005, 7) hat es das Potenzial, auf der Bühne zumindest für die Zeit der Aufführung andere Orte zu etablieren und im fiktionalen Spiel Gegenmodelle zu entwerfen, die in der sozialen und ästhetischen Begegnung mit dem Publikum auch konkret und gegenwärtig sind. So bringt die performative Gestaltung der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Otto 2014, 287) mit den ästhetischen Mitteln des Theaters die Erfahrung der Vergangenheit in ein spezifisches Spannungsverhältnis mit der Erfahrung der Gegenwart und eröffnet damit eigene theatrale Erfahrungs- und Reflexionsmöglichkeiten als Teil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Diese Perspektive auf das Theater lässt einen diskursanalytischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungsansatz zu, der die Aufführung nicht allein als Abbild und Reflexion gesellschaftlicher Zustände wahrnimmt, sondern nach Interdependenzen zwischen gesellschaftlichem Wandel und ästhetischer Darstellung sucht.

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Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive erscheint das Theater zunächst als ein geschaffener realer Ort. Seit der Antike ist es ein Versammlungsort und meint als théatron den ›Ort, von wo man schaut‹, gewöhnlich als Zuschauende auf Agierende. Als Ort zum Schauen (theãsthai: ›schauen‹, ›anschauen‹) dient das Theater dem Menschen, unter dem Vorzeichen der Kunst zusammenzukommen und in der ästhetischen Begegnung eine Gemeinschaft auf Zeit zu bilden (vgl. Kotte 2014). Tragödien und Komödien fanden hier ebenso ihren Ort wie Feste, Sportveranstaltungen und Feiern, die alle als Teil der Selbstdarstellung und Identitätsbildung der Polis verstanden werden können. Jedoch ist ein rein statisches Verständnis von Theater und Bühne unvollkommen. Was Theater ist und was einen Raum zur Bühne werden lässt, muss auch als ein Konstrukt verstanden werden, insofern es durch eine künstlerische, soziale oder kulturelle Praxis performativ erst hervorgebracht wird. Theater und Bühne sind architektonischgeometrische Räume, sie sind aber auch eine dynamisch fluktuierende Räumlichkeit, die »nicht gegeben [ist], sondern ständig neu hervorgebracht [wird]« (Fischer-Lichte 2004, 199). In seiner Performativität schafft Theater einen sozialen und ästhetischen Raum, der in der Betonung der leiblichen Ko-Präsenz von Agierenden und Zuschauenden (vgl. Fischer-Lichte 2004) nicht rein spektatorisch ist, sondern unmittelbare Erfahrungen und Auseinandersetzungen zulässt. Der performative turn in den Kulturwissenschaften hat hier zu einer neuen Sicht auf das geführt, was im Theater geschieht. Nach Erika Fischer-Lichte wird mit dem Begriff der Aufführung bzw. Performance ein Ereignis bezeichnet, das aus der Konfrontation und Interaktion zweier Gruppen von Personen hervorgeht, die an einem Ort in leiblicher Ko-Präsenz gemeinsam eine Situation durchleben, wobei sie, auch abwechselnd, als Spielende und Zuschauende agieren (vgl. Fischer-Lichte 2004). Der deutsche Begriff der Aufführung ist insofern missverständlich, als woanders festgelegte Bedeutungen (in einem Text oder durch die Regie) gerade nicht aufgeführt im Sinne von übermittelt werden. Stattdessen bringt die Aufführung aus performativer Perspektive Bedeutung als zeitlich situiertes Ereignis erst hervor. Wirklichkeit wird dabei in einer doppelten Weise performativ konstruiert: sowohl durch ein aktives Erzeugen als auch durch ein Geschehen-Lassen. Letzteres verweist auf ein unvorhersehbares und nicht kontrollierbares Erscheinen von Phänomenen in der Situation, also auf Emergenz.

3.

Mediatisierte Erinnerung im Theater

Wie die vermeintlich gezeigte Wirklichkeit ist auch das im Theater dargestellte Erinnerungsgeschehen an ein situatives Erzeugen und Geschehen-Lassen gebunden und nicht zu trennen von den Modi seiner Wahrnehmung, seiner Re-

Spielformen des Umbruchs im Kinder- und Jugendtheater

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präsentation, Versprachlichung und Darstellung. Dies umfasst wesentlich auch die Medialität des kulturellen Gedächtnisses bzw. die Mediatisierung von individueller und kollektiver Erinnerung (vgl. Borsò et al. 2001; Erll und Nünning 2004). Neben der Rolle, die einzelne Medien als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren spielen, kommt der Intermedialität als »einem wirksamen Verfahren des kulturellen Erinnerns« eine besondere Bedeutung zu (Erll 2017, 72; vgl. auch Dickhaut 2005). Die Theaterwissenschaft allerdings hat sich lange schwer damit getan, an die Intermedialitätsdebatte der anderen Kunstwissenschaften anzuschließen. Die Uneinigkeit in der Diskussion um den Medienstatus des Gegenstands konzentrierte sich auf die Frage, ob Theater selbst ein Medium darstellt, weil es von einer grundlegend anderen Realität ausgeht als bei der Vermittlung durch etwas Drittes, das als Medium benannt würde (vgl. Hermann 2014; Balme 2014, 166ff.). Inzwischen wurde diese eher technische Vorstellung eines Mediums abgelöst durch theaterwissenschaftliche Perspektiven, welche die historischen und gegenwärtigen Interaktionen des Theaters mit anderen Medien stärker in den Mittelpunkt rücken. So werden unter dem Begriff Intermedialität einerseits unterschiedliche Phänomene berücksichtigt wie Medienkombinationen, Medienwechsel oder intermediale Bezüge (vgl. Rajewsky 2002; Kolesch 2014). Andererseits wird Theater als ein Plurimedium betrachtet, das in sich unterschiedliche Einzelmedien vereint (vgl. Meyer 1997, 120) bzw. deren Wechselwirkung in der Performativität einer Aufführung erst ereignishaft in Erscheinung treten lässt. Das intermediale Beziehungsgefüge ist dabei wesentlich bestimmt durch die Wechselwirkung und das getrennte Vorkommen der verkoppelten Medien (vgl. Wirth 2013, 254) und umfasst als Intermedialität »[m]edienüberschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren« und als Transmedialität »[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist« (Rajewsky 2002, 13). Entsprechend fallen auch im Hinblick auf Erinnerungskultur unter den Begriff Transmedialität »Wanderphänomene« wie »Themen, Motive, Phänomene, Strukturen« (Poppe 2013, 38), aber auch Gestaltungsstrategien wie ein transmediales Erzählen (vgl. hierzu auch Mayer 2019b). Mit der Verlagerung der Künste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zum Performativen gehen eine Hinwendung zur Medialität und Materialität künstlerischer Praktiken sowie eine Betonung des Aufführungs- und Ereignischarakters einher, was neben der Mediatisierung der Erinnerung eine merkliche Dehierarchisierung der Theatermittel zur Folge hatte. Auch in der theatralen Erinnerungskultur wird zunehmend der ganze Raum einbezogen, in dem Bewegungen, Aktionen, Worte und Handlungen unter Vernachlässigung einer formalen Trennung von Bühne und Publikum präsentiert werden. Die Grenze

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zwischen Bühne als Fiktionsraum und Zuschauerraum als Realraum wird überschritten, semiotisch noch verbunden durch die Sprache, mit der Fiktionalität hergestellt wird. Die erinnerungskulturell eingesetzten Theatermittel erscheinen nicht mehr in einer dienenden Funktion, sondern gleichzeitig und teilweise widerläufig, was Konsequenzen für den Wahrnehmungsmodus der Rezipierenden hat und die Polyvalenz und Uneindeutigkeit des Zeichengebrauchs sowie die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses in den Vordergrund rückt (vgl. Poschmann 1997, 129). Die Wahrnehmung als performativer Akt und die Medialität des Wahrnehmungsvorgangs werden offensichtlich und sind damit gleichzeitig Grundlage der Reflexion, der Auseinandersetzung und letztlich auch der Veränderung (vgl. v. Brincken und Englhart 2008, 100). Im Zuge der allgemeinen Aufhebung der Spartengrenzen werden unterschiedliche mediale Ebenen und Kunstformen immer freier miteinander verbunden, in den 1980er Jahren beispielsweise in der Verknüpfung von Tanz und Theater oder mit dem Einsatz von Film, TV oder Video. Auf diese Weise gehen Elemente unterschiedlicher performativer Künste und die Ästhetik neuer Medien ineinander über und eröffnen neben der sprachlich-semiotischen neue theatrale Formen der Speicherung, Kommunikation, Verbreitung und Erschließung von Erinnerung. Hierzu zählt auch, dass die Agierenden nicht notwendig in einer (historischen) Rolle auftreten, die zur Identifikation einlädt und durch die Handlung führt, sondern vielmehr als Figuren mit Betonung der Körperlichkeit statt des Verweischarakters. Insbesondere das postdramatische Theater ist weniger ein Theater der Repräsentation, sondern ein Theater der Präsenz, das vom performativen Prozesscharakter und der gleichzeitigen Hervorbringung und Rezeption von Zeichen lebt. So eröffnet das auch experimentelle Spiel vielfältige Motive und Motivketten und erzählt nicht linear, sondern transmedial über Mediengrenzen hinweg. Das gegenwärtige Theater nutzt sowohl dramatische wie postdramatische Elemente und führt sie »in einer vielschichtigen Konvergenz« (Englhart 2013, 122) zusammen. Auch das Kinder- und Jugendtheater baut heute vielerorts auf dem dramatischen Text als Grundlage von Inszenierungen auf und orientiert sich an der Tradition des Sprech- und Schauspieltheaters. Viele Theaterprojekte überwinden allerdings die bisherigen Grenzen und öffnen sich anderen Kunstsparten und neuen Ausdruckformen (vgl. Wenzel 2009). Neben traditionellen Inszenierungen sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend genreübergreifende, cross-mediale Formate entstanden, wo Schauspiel, Musik, Tanz und Medien zusammenfließen und – auch durch Kooperationstätigkeiten zwischen Kunstschaffenden – Sparten- und Genregrenzen überschritten werden. Im Kinder- und Jugendtheater werden insbesondere jugendkulturelle Kunstformen aufgegriffen und Tanz, Musik, Spoken Word, Video, Animationen, Graffiti, Social Networking etc. gehen enge Verbindungen ein.

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Der Sinnbildungsprozess und die (Re-)Konstruktion des Erinnerungsgeschehens entwickeln sich in Auseinandersetzung mit der Zeichenhaftigkeit der Darbietung und sind auf die Konkretisierung von Bedeutung im individuellen Wahrnehmungsakt angewiesen. Das rezeptionsästhetische Zentrum – und vielleicht auch die eigentliche Spielfläche – liegt in der Wahrnehmung der Zuschauenden und ihren Blicken, die in einem semiotischen Überangebot durch eigene Fokussetzungen gewissermaßen Regie führen (vgl. Fischer-Lichte 1997; Mayer 2017). Das Moment der ästhetischen Wahrnehmung wird zu einem aktiven und individuellen Akt der Partizipation am erinnerungskulturellen Geschehen, zu einer Suche nach Identifikationsangeboten und einer Auseinandersetzung mit Augenblicken der Irritation und vielleicht sogar der Verstörung. Wesentlich ist hierbei nicht allein, was man sieht, sondern vor allem wohin man schaut, wie, von welchem Ort aus und wie lange man jemanden oder etwas anblickt (vgl. Czirak 2012). Visuelle Bilder werden folglich nicht nur inszeniert, sie werden in den Blicken erst geschaffen. Es ist v. a. der Blick, der das eigene ästhetische Erleben dirigiert und neue Erfahrungsräume eröffnet, auch in der Begegnung der Anwesenden, also der Blickenden und der Angeblickten. Diese Überlegung bezieht sich nicht allein auf den Gesichtssinn. Die Theateraufführung als »genuin transmediale und mit intermodalen Sinneseindrücken operierende Kunstform« (Czirak 2012, 14) lebt von unisensorischen Betrachtungsprozessen, die das Sehen und Erleben mit mehreren Sinnesregistern verbindet und in der Rezeption individuelle Bedeutungen und Deutungen konstituiert. Aus dieser spezifischen Konstellation erwächst das besondere Potenzial theatraler Erinnerungskulturen, was im Folgenden anhand der Frage nach der Bildlichkeit vertieft werden soll.

4.

Bild und Theater

Gewannen die einzelnen Zeichenträger, Codes und Medien gegenüber dem bloß reproduktiven Nachspielen einer literarischen Vorlage im Zuge der Postdramatik an Bedeutung, so wurde damit auch die Rezeption als eigener bedeutungstragender und -erzeugender Aspekt in der Theaterrezeption gegenüber Textvorlage und Inszenierung aufgewertet. Gemäß dem Prinzip einer Emergenz von Bedeutung ist auch die Bildlichkeit als Teil des Inszenierungskonzepts zwar immer zwingend, letztlich wird sie aber erst performativ in der Situation der Aufführung hergestellt. Die performativen Prozesse vermitteln also nicht etwas zuvor Festgelegtes (z. B. ein historisches Faktum) und setzen es ›in Szene‹, sondern leisten eine Transformation in eine Situation, in der gleichzeitig Neues im Sinne eines Ereignisses hervorgebracht wird. Dieses Neue wird von beiden Seiten, den Agierenden wie den Zuschauenden, bestimmt, da die wahrnehmbaren Aktivitäten

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jedes Einzelnen Auswirkung auf andere haben und die Wirkung auch nicht ausschließlich von den Inszenierungsstrategien der Regie abgeleitet werden kann. Insbesondere die Rezeption zeitgenössischer und performativer Spielformen stellt die Zuschauenden vor neue Herausforderungen. Sie haben es nicht mehr mit einfacheren, einzelne Elemente betonenden Inszenierungen zu tun, sondern sehen sich mit einem vielschichtigen, komplexen Geflecht textueller, visueller, materieller und akustischer Zeichensysteme konfrontiert. Die Inszenierungen arbeiten mit unterschiedlichen Raum- und Körperdarstellungen und eröffnen medial mehrere Darstellungsräume. Zwar können die Inszenierungen die Wahrnehmung prinzipiell lenken, mit der Hybridisierung der Zeichensysteme dynamisieren sie die Konstruktion und Dekonstruktion von Bedeutung aber eher, als sie zu vereinfachen. Insbesondere seit der Postdramatik werden konventionelle Rezeptionsweisen nicht bedient, sondern durch performative Elemente bewusst irritiert und hinterfragt (vgl. Lehmann 2015). Die Gleichzeitigkeit und Flüchtigkeit der Darstellung stellt die Zuschauenden vor große Aufgaben, sie macht aber gerade auch den Reiz komplexer Inszenierungen aus, da sich die Rezeption in der Konfrontation und Wechselwirkung der einzelnen medialen Ebenen und Zeichensysteme vollzieht. Die Inszenierungen zielen nicht auf die Herausstellung eines Sinns bzw. einer Interpretation des literarischen oder historischen Stoffes, der in unterschiedlichen Medien zur Anschauung gebracht werden soll, sondern sie nutzen Kopplungen, Kreuzungen und Hybridisierungen von Medien zur Dynamisierung der Konstruktion und Dekonstruktion von Deutungsangeboten. Das Bühnengeschehen wird in seiner Medialität, Körperlichkeit, Materialität und Räumlichkeit erfahrbar und prägt in der Unmittelbarkeit der Kommunikation eine eigenständige performative und installative Ästhetik, die wiederum eigene Rezeptionsmodi, Wahrnehmungsmuster und Deutungsweisen konditioniert. Auf diese veränderte Sicht auf das Bühnengeschehen verweist auch ein neues Verständnis der Szenographie, die nicht mehr das bloße »Illustrieren von Dramen« meint, sondern in einem modernen Sinne »das Entwerfen einer modular gedachten, vielschichtigen Textur, die sich im Aufführungsvorgang formuliert, gleichsam einlöst« (Wiens 2014, 77). Bühnenbild, Requisiten und Kostüm bilden als ästhetisch autonome Komponenten einen aktiven Bestandteil der Gesamtinszenierung und werden gegenüber den handelnden Akteuren nicht mehr in einer passiven und dienenden Funktion gesehen. Primäres Medium und Material im Theater bleibt allerdings der Körper, der mit den anderen Zeichenträgern interagiert und dadurch auch in szenographischer Hinsicht eine besondere Bildlichkeit erschafft, die von den Zuschauenden wahrgenommen und durch eigene Imaginationen aktiv mitgestaltet wird. So ist auch die Raumwahrnehmung im Sinne von Merleau-Ponty ein körperlicher Prozess, der neben Sinnesleistungen auch eine aktive Bewegung, Erinnerung und Imagination erfordert

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(vgl. Bowler 2015). Im Theater als ephemere Kunstform, die von der performativen Hervorbringung einer spezifischen Bildlichkeit in der Situation der Aufführung lebt, werden die so entstehenden Bilder multimodal eingebunden und begleitet von anderen medialen Zeichenträgern wie Sprache, Musik und Klang. Mit der damit einhergehenden Hybridisierung und Immaterialisierung in der Gestaltung der künstlerisch-gestalterischen Praxis sowie einer Emanzipation der Rezipierenden als Mitproduzierende schließt das Theater an aktuelle Entwicklungen der visuellen Kultur an, die vermehrt auf komplexe ultra-visuelle Bilder zurückgreift und Medien, Artefakte und körperlich-szenische Elemente im Prozess der Aufführung in meist plurimedialen Ereignissen ›orchestriert‹ (vgl. McKinney und Butterworth 2009, 7). Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die originäre Konstellation der Nähe im Theater – im Unterschied zu anderen Kunstformen – ein unmittelbares Erleben ermöglicht zwischen Imagination und Wirklichkeit, Fiktion und Realität. Dies verleiht den ästhetischen Kommunikationsprozessen im Theater eine eigene Qualität. Das Zusammenwirken von Materialität, Zeichenhaftigkeit und Körperlichkeit als gegenwärtiges Spiel im Raum konfrontiert die Zuschauenden unmittelbar mit dem Geschehen und fordert sie als Gegenüber zu einer persönlichen Auseinandersetzung heraus.

5.

Inszenierungen des Umbruchs im Theater für junges Publikum

5.1.

Konkrete Utopien des Umbruchs im emanzipatorischen Kindertheater

Mit gesellschaftlichen Umbrüchen können die in den 1960er und 70er Jahren gegründeten Kindertheaterbühnen in unterschiedlicher Weise in Verbindung gebracht werden. Zum einen können die Kindertheater als Folge der gesellschaftlichen Veränderung betrachtet werden, als künstlerische Weiterführung der neuen Ideen und Orientierungen. Zum zweiten lassen sie sich als Form der künstlerischen Dokumentation gesellschaftlicher Umbrüche verstehen. Drittens tragen die Kindertheater mit ihrer Ausrichtung auf die Emanzipation von Publikum und Theaterschaffenden auch selbst zum Wandel bei (vgl. Mayer 2019a). Die folgenden Ausführungen zeigen grundlegende Veränderungsprozesse im Zuge der 68er-Bewegung am Beispiel des bis heute bestehenden Berliner GRIPS Theaters, das wie kein anderes für ein gesellschaftlich engagiertes Kindertheater steht. Daran wird erkennbar, wie sich die politischen, kulturellen und sozialen Umbrüche auf die Entstehung und Entwicklung des Kindertheaters und seine Stücke, Spielformen und Arbeitsweisen auswirkten und wie Kindertheater wie-

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derum den politischen und sozialen Umbruch dokumentieren und anstoßen wollten. Hierfür nutzten sie eine spezifische Inszenierungsweise und Bildlichkeit, was an zwei exemplarisch ausgewählten Szenen veranschaulicht wird. Im Zentrum der Entwicklung des emanzipatorischen Kindertheaters steht die Transformation der Bühne zu einem Ort, an dem die nachwachsende Generation ermutigt wird, die sie umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit zu erkennen, zu hinterfragen und im Sinne einer konkreten Utopie zu ihrer Veränderung beizutragen (vgl. zum Überblick Mayer und Kretzschmar 2018). Als ›armes Theater‹ geht das 1969 gegründete GRIPS vom ›leeren Raum‹ aus und verzichtet bewusst auf ein üppiges Bühnenbild, schmückenden Dekor, ausgefallene Kostüme oder technische Raffinessen. Im Fokus steht die von den Schauspielenden getragene Theaterhandlung selbst, der direkte Kontakt mit dem Publikum sowie die Imagination auf der Bühne und deren Erschaffen im Moment der Aufführung (vgl. Fischer 2002; Mayer 2019a). Im Unterschied zu einer Bühne mit Rampe und Guckkasten ermöglicht die offene Arenabühne erweiterte Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Sie erinnert an den ursprünglichen Gedanken der versammelten Polis und führt zu einer besonderen Spielsituation, in der das gleichzeitige Betrachten von Darstellenden und Zuschauenden das Erlebnis der Gemeinsamkeit verstärkt (vgl. Abb. 1). Die Aufführungen des GRIPS leben bis heute vom kollektiven Prozess des Theaters, bei dem die Zuschauenden das Bühnengeschehen unmittelbar miterleben. Die Partizipation der Zuschauenden spielt konzeptionell eine große Rolle, selbst wenn diese nicht notwendigerweise interaktiv sein muss. Was zählt, ist vor allem die innere Beteiligung: Das Publikum soll »sich wiedererkennen können mit seiner Wirklichkeit, seinen Problemen, Phantasien Träumen, seiner Wut und seinen Wünschen« (Ludwig zit. n. Fischer 2009, 7).

Abb. 1: Szene aus Doof bleibt doof (Foto © Frank Roland-Beeneken)

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Das Kindertheater von GRIPS will den theatralen Raum nicht für ein Illusionsspiel des Märchens oder die naturalistische Nachbildung von Gesellschaft in Milieustudien nutzen, sondern einen Wirklichkeitsraum im Sinne des realistischen Theaters gestalten (vgl. Fischer 2002). In Orientierung an Brecht sollte das Theater den Einfluss des kapitalistischen Systems auf allen Ebenen des sozialen Miteinanders exemplarisch vorführen. Durch die Darstellung sozialer Fragen als Realgeschehen auf der Bühne zielte das emanzipatorische Kindertheater bewusst auf einen Transfer zwischen Bühne und Realität ab. Den Zuschauenden sollte eine neue Perspektive ermöglicht werden, die zur Auseinandersetzung mit dem Bühnengeschehen und mit sich selbst, mit Fragen der Gleichberechtigung, Mitbestimmung etc. führt. Theater sollte ein Ort sein, der zum Verständnis der Welt und ihrer kritischen Betrachtung verhilft. Gemäß der Forderung der Studentenbewegung, Kritikfähigkeit auszubilden und darüber die Kinder bei der eigenen Emanzipation zu unterstützen, sollte es im Theater möglich sein, Partizipation, Selbst- und Mitbestimmung sowie Ich-Stärke und Ich-Identität zu entwickeln (vgl. Schneider 1984). Das Publikum sollte am Diskurs beteiligt werden, indem es die Gesellschaftsordnung wahrnehmen lernt. Gleichzeitig sollte auf der Bühne aber auch über den Bestand eben dieser Gesellschaftsordnung mitentschieden werden. Wo die Bühne als Wirklichkeitsraum der Vorführung der gesellschaftlichen Bedingungen diente, bot sie als Möglichkeitsraum die Chance, im realistisch angelegten, aber fiktiven Spiel auch Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen und anzustoßen. So verweigerte der gesellschaftskritische Gestus die Anerkennung des gesellschaftlichen Rollensystems und nutzte die Bühne, um Rollenfunktionen nach Belieben umzustellen (vgl. Schedler 1972, 18). In emanzipatorischer Ausrichtung wollte das Theater die Kinder im Publikum im Spiel mit der »Dimension des gesellschaftlichen Noch-Nicht« konfrontieren, sie »über die dramatische Kritik am Status quo« an dessen »Überwindung« heranführen und verstand sich »als Vorschule der Veränderung« (Schedler 1972, 169– 170; vgl. Mayer 2019a). Zwei exemplarisch ausgewählte Szenen sollen im Folgenden die zur Umsetzung dieser Ziele entworfene szenische Bildlichkeit veranschaulichen, die häufig (und einseitig) als didaktisch und belehrend kritisiert wurde (vgl. Fischer 2002, 130). Die erste Szene ist der frühen Phase der GRIPS-Geschichte entnommen, die von didaktischen Veranschaulichungen und bewussten Irritationen des Publikums geprägt war. Im Spiel des GRIPS-Ensembles konnten Alltagssituationen plötzlich ins Absurde kippen, um sie so zu verfremden. Dadurch wurden die Rezeptionsroutinen des Publikums entlarvt und im Lachen sollte sich auch die Erkenntnis der sozialen Widersprüche einstellen. In der noch stark antiautoritär geprägten Anfangsphase trat das Unterdrückungssystem häufig in karikaturhaften Gegenfiguren in Erscheinung wie in Stokkerlok und Millipilli (UA 1969) als der kinderfeindliche und alles verbietende »Kaputtmacher« Kratzwurst. Er

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wird in besonders anschaulicher Weise dadurch demaskiert und lächerlich gemacht, dass Millipilli sich seinen Verboten nicht mehr beugen möchte und selbst »Es ist verboten zu verbieten« auf die Verbotstafel schreibt (vgl. Abb. 2). Verstärkt durch die frontale Anordnung des damals noch in Reihen sitzenden Publikums wird so eine Bildlichkeit erzeugt, die sich durch einen eher demonstrativen und didaktischen Charakter auszeichnet.

Abb. 2: Szene aus Stokkerlok und Millipilli (Foto © Frank Roland-Beeneken)

Die zweite Szene entstammt dem Stück Ein Fest bei Papadakis (UA 1973). Dieses war wie viele GRIPS-Stücke am Volkstheater orientiert und wollte exemplarische Haltungen aufzeigen (vgl. Schedler 1975, 39). Darüber hinaus wurde mit dem Stück ein Stil des volksstückhaften, humorvollen, am Lehrstück orientierten Vorführtheaters geprägt, das die konkrete Utopie ausgestaltete und Wirklichkeit als veränderbar darstellte (vgl. Schneider 1984, 63). Das Stück greift die Sorgen und Nöte der ›Kleinbürger‹ auf und stellt sie in den Kontext gesellschaftlicher Wandlungsprozesse wie in diesem Fall die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre in Folge des Ölembargos, mit der auch ein totaler Einreisestopp für sogenannte ›Gastarbeiter‹ verbunden war. Die von der Rezession ausgelösten Ängste um den Arbeitsplatz wurden in der Öffentlichkeit – angestachelt durch tendenziöse Presseorgane – mit einer Ablehnung der scheinbar konkurrierenden Arbeitsmigranten verknüpft. Die Konkurrenzsituation steht im Zentrum eines

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exemplarischen Mini-Lehrstücks, das vom Protagonisten Papadakis als Spiel-imSpiel inszeniert wird (Papadakis 1985, 133): Müller […] Auf der Arbeit, da sind wir – na eben Konkurrenten! Natürlich Feinde! Papadakis Natürlich? Wieso natürlich? Müller

Weil – – ihr wollt uns die Arbeit wegnehmen!

Papadakis Das glaubst du wirklich? Müller

Klar! Und wo du auch bei Siemens arbeitest, weißt du doch, was Sache ist.

Papadakis steht auf Also, nun paß auf! Paß ganz gut auf! Wenn – Gastarbeiter er schnappt sich Jannis und deutsche Arbeiter er stellt ihm Dieter gegenüber sind Feinde stellt sich auf Stuhl – das gut für Chef. Jannis und Dieter nehmen drohende Haltung gegeneinander ein. Chef immer sagen: Gastarbeiter Ruhe! Oder – gehen nach Hause. Jannis stutzt. Und Chef sagen: Deutsche Arbeiter Ruhe! Oder – deine Arbeit macht Gastarbeiter! Dieter stutzt ebenfalls. Also, Chef macht Angst. Jannis und Dieter spielen Angst und gehen in die Knie. Weil beide Angst – beide so klein. Geht zu Müller. Aber wenn wir bei Siemens gehen zusammen – wie eben zu Platzbesitzer, dann wir sind stark. Dann wir können viel machen, dann wir sind groß – und das macht Chef Angst! Jannis klettert auf Dieter, machen so Papadakis Angst. Das macht Chef Angst! – Also, gerade jetzt, wo wenig Arbeit, Arbeiter nicht kämpfen gegen Arbeiter – kämpfen Arbeiter mit Arbeiter gegen Unrecht. Vera

Unrecht?

Papadakis Ja, gegen Wegnehmen von Arbeitsplatz, gegen Bürokratie, gegen Zeitungen, die schreiben Lügen über uns – aber jetzt nix Politik, jetzt Fest bei Papadakis. Entaxi?

Die Konkurrenzsituation der Arbeiter wird hier auf die sozio-ökonomischen Bedingungen zurückgeführt und mit einem szenisch aufgebauten Standbild zur Darstellung gebracht. Der damit etablierten und ganz im Sinne des ›armen Theaters‹ elementaren Bildlichkeit wohnt ein merklich didaktischer Impetus inne, indem die als veränderbar gezeigten Machtverhältnisse mit den hierarchisch angeordneten Körpern der Spielenden illustriert werden (vgl. hierzu auch Fischer 2002, 133–134). Diese didaktische Illustration richtet sich innerhalb des Spiels zwar an die anderen Figuren, im Kern jedoch an die Zuschauenden, die zu neuen Sichtweisen angeregt werden sollten. Ab den 1980er Jahren wurden die exemplarischen Lehrstücke abgelöst von einer Schwerpunktsetzung auf Inhalt und Ästhetik. Noch immer sollte Existenzielles erzählt werden, aber weniger über eine soziale Problemfeldanalyse, sondern durch das Erzählen von Schicksalen, zu denen es erst einmal keine Lösung im Sinne der Realutopie gab. Im unter skandinavischem Einfluss entwickelten

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poetischen Kindertheater der 1980er Jahre rückte die ästhetische Gestaltung des Erzählten, die Theaterkunst, ins Zentrum des Theaterschaffens, was wesentlich Einfluss auf die Bildlichkeit der Inszenierung hatte. Leitend sollte nun ein Begriff von künstlerischer Qualität sein, »wonach die Theaterkunst für Kinder und Jugendliche an ihrer ästhetischen Vieldeutigkeit, ihrer spielerischen Theatralität und ihrer eigentümlichen szenischen Poesie zu messen sei« (Taube 2015, 37).

5.2.

Erinnerungskultur im zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheater

Als Beispiel für Umbruchserzählungen als Thema theatraler Erinnerungskulturen der Gegenwart dient die Inszenierung Teenage Widerstand am Leipziger Theater der Jungen Welt. Die Inszenierung sticht hervor, weil das älteste professionelle Kinder- und Jugendtheater Deutschlands zum ersten Mal eine Produktion des Jugendclubs mit 13- bis 18-jährigen Laienspielern in das Abendprogramm aufnimmt, vor allem aber durch die gemeinsame Stückentwicklung von Theaterschaffenden und Jugendlichen auf Augenhöhe. An diesem Beispiel wird Theater nicht nur als Bühnenraum sichtbar, sondern auch als ein Ort, der zur Mitgestaltung und zum Austausch einlädt. Gemeinsames Anliegen der Akteure ist es, Fragestellungen und Lebenssituationen der jungen Generation aufzugreifen, sich mit elementaren und zeitgenössischen Themen auseinanderzusetzen und einen eigenen künstlerischen Ausdruck für diese Auseinandersetzung zu finden. Für den Produktionsprozess bedeutet dies, dass die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit historischen Umbruchsnarrativen, mit gesellschaftlichen Themen und aktuellen Fragestellungen nicht von Kulturverwaltenden antizipiert und anschließend zielgruppenspezifisch umgesetzt, sondern als Teilhabe am künstlerischen Prozess gestaltet und mit einem künstlerischen Ziel in den öffentlichen Diskurs eingebracht wird. Mit dieser Teilhabe wird ein »Sich-in-Beziehung-Setzen« (Wartemann 2009, 84) mit den künstlerischen Gegenständen angebahnt, das sehr viel stärker als das Konzept der Vermittlung an das Konzept der Begegnung als Wesensmerkmal ästhetischer Bildung anschließt. Ausgangspunkt der Arbeit am Stück waren eigene Recherchen der Jugendlichen zum gescheiterten Umbruch der »Leipziger Meuten«, die, wie es Winnie Karnofka formuliert, als »Rampe ins Jetzt« (LVZ vom 26. 02. 2019) dienen sollten. Die »Leipziger Meuten« sind weitgehend unbekannt und wurden vor allem durch den Leipziger Historiker Sascha Lange wieder ins öffentliche Bewusstsein geholt. Die unabhängigen Jugendgruppen widersetzten sich in den 1930er Jahren der Vereinnahmung durch die Hitlerjugend und legten Wert auf ihr Recht auf selbstbestimmte und ungezwungene Freizeit. Viele der Jugendlichen engagierten sich auch aktiv gegen die Nationalsozialisten und lieferten sich offene Kämpfe mit der HJ

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oder griffen Gebäude und Einrichtungen der NS an. In Leipzig gab es zwischen 1937 und 1939 insgesamt bis zu 1500 Jugendliche, die Mitglied in einer »Meute« waren (der Begriff entstammt dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch), davon etwa ein Viertel bis ein Drittel Mädchen. Die Mitglieder entwickelten mit der Zeit einen eigenen Dresscode, auch als Unterscheidungsmerkmal von der HJ und dem BDM: die Jungen trugen meist kurze Lederhosen mit Hosenträgern, die Mädchen dunkle Röcke, dazu karierte Hemden oder Blusen, weiße Kniestrümpfe und Wanderschuhe. Bisweilen wurden auch rote Halstücher getragen sowie Totenkopfabzeichen oder Abzeichen mit den Initialen »BJ«, was für »Bündische Jugend« stand. Der Bildvergleich von Abb. 3 und Abb. 4 zeigt ein Foto der Schönefelder Meute beim gemeinsamen Ausflug und ein Foto aus der Inszenierung am Theater der Jungen Welt. Die für die Inszenierung angefertigten grauen Overalls mit kurzen Hosen und unterschiedlichen farbigen Erkennungsmerkmalen lassen Referenzen zum historischen Foto erkennen, weisen aber auch eine eigene Gestaltung auf, die sich in die in sterilem Grau gehaltene Bühne einfügt.

Abb. 3: Schönefelder Meute (Foto: © Privatarchiv Sascha Lange)

An die Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte schloss sich eine Übertragung auf die Bühne an. Gemeinsam mit den Choreographinnen wurden die Themen mit unterschiedlichen theatralen und tänzerischen Mitteln erkundet. Als Ergebnis der Suche nach einem eigenen szenisch-bildlichen Ausdruck wurde beispielsweise die choreographische Bearbeitung des Übergangs von der Situation heutiger Jugendlicher zur historisch verorteten Gleichschaltung, dem Kon-

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Abb. 4: Inszenierung am Theater der Jungen Welt (Foto: © Tom Schulze)

formitätsdruck und zu den gewaltsamen Zusammenstößen und Ausbruchsversuchen auf die Bühne gebracht. Unter dem Leitthema »jugendliche Protestbewegungen« entwickelten sich in der gemeinsamen Erarbeitung Verknüpfungen historischer Diskurse mit Diskursen der Gegenwart. Die gemeinsamen Erörterungen im Verlauf des partizipativen Projekts münden in einem Zusammenspiel von Audio- und Videoeinspielungen, von Bewegung und Rhythmus, Musik und Tanz. Die theatralen Abstraktionen werden durch authentische Statements der jugendlichen Spieler ergänzt, die damit eine Spur legen von den historischen »Leipziger Meuten« hin zu jugendlichen Protestbewegungen der Gegenwart: von den Wutbürgern und Chemnitz bis hin zu Greta Thunberg und der »Fridays for future«-Bewegung. Die Inszenierung arbeitet mit einer Vielzahl an Zeichenträgern, Codes und Medien, die sie auf unterschiedliche Weise szenisch einbindet und damit die Zuschauenden mit komplexen visuellen Bildern und körperlich-szenischen Elementen konfrontiert. Die Spielenden sind nicht nur Aufführende, sondern im Sinne des Dokumentarischen Theaters auch mitverantwortlich für die Recherche und Mitgestaltung der plurimedialen Ereignisse. In persönlichen Statements erproben sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen gesellschaftlichen Engagements und bringen ihre Erfahrungen, ganz persönlichen Widerstands-Momente und eigene Texte in die Stückentwicklung ein. Dabei ist die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart keineswegs affirmativ. Dies zeigt das ikonisch inszenierte Bild von Greta Thunberg mit der Aufforderung, die inzwischen fast

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zum Credo einer Bewegung geworden ist: »Ich will, dass ihr panisch seid« (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Szene aus Teenage Widerstand (Foto: © Tom Schulze)

6.

Schluss

Anhand der Beispiele lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie Kinder- und Jugendtheater in ihrer historischen Entwicklung immer neue Formate und Spielweisen entwickelt haben und bis heute der nachwachsenden Generation einen geschützten Raum anbieten, der zur partizipativen Einübung einer künstlerischen Praxis und Reflexion einlädt. In erinnerungskultureller Perspektive gehört zu dieser Theaterpraxis, dass die grundlegenden Spannungsverhältnisse von Präsenz und Repräsentation, Authentizität und Fiktionalität, Vergegenwärtigung und Distanzierung einen eigenen ästhetischen Ausdruck finden müssen. Wie andere performative Erinnerungskulturen richten die Kinder- und Jugendtheater ihr Interesse dabei nicht nur auf den Einsatz einzelner textueller, visueller oder auditiver historischer oder historisierender Artefakte, sondern auf die Praktiken ihres ästhetischen Wahrnehmens im Erscheinen auf der Bühne und damit auf Körper, Objekt und Bühne als Medium. Die im Theater kollektiv gestalteten Erinnerungskulturen unterstützen den mentalitätsgeschichtlichen Wandel vom Vergessen zum Erinnern und machen deutlich, dass »erinnern« nicht nur ein Anliegen von Individuen ist, sondern

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auch etwas, das Gruppen tun, Gesellschaften oder ganze Nationen: etwas, das eine Aufgabe sein kann und eine eigene Praxis finden muss. Erinnerungskulturen können dabei unterschiedlich, müssen aber immer lebendig sein, insbesondere wenn Erinnerungen nicht nur kanonisch weitergegeben werden, sondern Teil einer diskursiven Reflexivität sind. Kinder- und Jugendtheater schlagen hier eine wichtige Brücke zur nachfolgenden Generation, indem sie historische Spuren aufnehmen und sie in der Performativität der Aufführung mit dem Hierund-Jetzt der Gegenwart verbinden. Als künstlerischer Diskursort bieten sie der nächsten Generation damit nicht nur einen spezifischen Ort erinnerungskultureller Praxis, sondern eröffnen einen Resonanzraum für aktuelle Umbrüche und Zukunftserzählungen.

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Cornelius Herz

#1968: mnemonische Konstruktionen und das Doppelte der virtual reality – Überlegungen zu digital-visuellen Erinnerungsnarrativen einer Jahreszäsur

1.

Einleitung

Wie ist digitales Erinnern an 1968 im Internet zu begreifen? Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, lässt sich mit einem Beispiel der Memorialkultur aus dem Netz selbst beginnen (vgl. Abb.1).

Abb. 1: Fotomontage Prager Frühling

Zu sehen ist ein mit erhobener Hand präsentiertes Papierfoto als historisches Artefakt, das vor den als Originalschauplatz inszenierten örtlichen Gegebenheiten reproduziert wurde. Dass sich zumindest bei einem ersten Blick auf die Webseite, auf der das Foto gezeigt wird, die klassischen quellenkritischen Fragen etwa nach dem ›Wer‹ der Aufnahme, deren kommunikativer Einbettung und

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deren Aufnahmezeitpunkt nicht sofort klären lassen, ist zwar für Quellenanalysen nichts Neues, aber dennoch charakteristisch für die Netzkommunikation, wie weiter unten noch erläutert wird. Was bereits schnell u. a. wegen der zu sehenden ikonischen Panzer naheliegt, ist, dass es sich um eine Fotografie vom Wenzelsplatz während des so genannten Prager Frühlings 1968 nach dem Einmarsch unterschiedlicher Truppenverbände des Warschauer Paktes ab dem 21. August 1968 handelt. Das fotografische Verfahren der Verdopplung selbst erinnert bei all dem an die in den kulturwissenschaftlichen Erinnerungstheorien prominente Pointe Halbwachs’, dass bei einem Spaziergang durch eine Stadt nicht nur die eigenen Erfahrungen, sondern immer auch sozial vorgeprägte Erinnerungen »mitlaufen« (vgl. Halbwachs 1991, 2–3). Es deutet aber ebenso an, dass Erinnerung stets an mediale Manifestationen gekoppelt ist. Im Beispiel wird entsprechend simultan die Zurschaustellung von Geschichte, von kulturellem Gedächtnis und von personalisierter Aktualisierung in der Verdopplung der Bildlichkeit offengelegt. Im digitalen Zeitalter allerdings lässt sich nur mehr schwer über solche visuellen Strategien allein sprechen. Das zeigt sich in deren medialer Kontextualisierung. Die genannte Fotografie ist kein durch einen chemischen Prozess auf Papier entwickeltes Produkt mehr, sondern digital. Sie stammt nicht von einer traditionellen Fotoserie, sondern von einer Webseite. Auf dieser Seite wiederum wird die Fotografie, anders als die obige Abbildung das nahelegt und wie im erweiterten Screenshot in Abbildung 2 zu sehen ist, zusätzlich in weitere kommunikative Zusammenhänge eingebettet. Insbesondere in diesen internetbezogenen Kontexten der Webseite manifestieren sich die spezifischen Charakteristika des Digitalen.

Abb. 2: Fotomontage und Webseite Prager Frühling

#1968: mnemonische Konstruktionen und das Doppelte der virtual reality

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Die ›zweifache‹ Fotografie ist eingefügt in eine Vielzahl multimodaler Kommunikationsformen, auf die das Rautezeichen bzw. der hashtag im Titel dieses Beitrags verweist (vgl. Bernard 2018), das inzwischen zum Standard-Symbol der Verlinkung, Verschlagwortung und damit der Verknüpfung von Inhalten im Internet geworden ist. Auch die Referenz zu 1968 wird so weiter expliziert, nämlich in einem unterhalb der Fotomontage beigefügten Schrifttext zum Prager Frühling. Auf digitalen Kommunikationsplattformen kann man visuelle Narrative1 entsprechend nicht isoliert betrachten. Neben der grundlegenden Situierung in gesellschaftlichen Erinnerungskontexten treten aus medienphilologischer Sicht digitale Verflechtungen hinzu, die – wie es sich im Begriff des ›World-Wide-Web‹ eigentlich schon expressis verbis ausdrückt – transnational sind. 1968 bietet sich als Gegenstand zudem nicht nur deshalb an, weil aufgrund der Erinnerungslogik von Jahrestagen das 50-jährige Jubiläum 2018 besonders ausgiebig thematisiert wurde, sondern insbesondere auch, weil diese Jahreszäsur anders etwa als die ›Wende‹ von 1989 historisch vor den ersten digitalen WebGenerationen der 1990er anzusetzen ist. Die digitale ›Sinngebung‹ von 1968 hat damit nicht zugleich mit einer generellen mnemonischen Praxis eingesetzt, sondern ist ihr nachgelagert. Der »#1968« ermöglicht gewissermaßen genuindigitale Beobachtungen eines Erinnerungsdiskurses. Was heißt das nun für das weitere Vorgehen? Aufgrund der mit den bisher knapp erörterten Aspekten einhergehenden Polyperspektivität ist eine erschöpfende Untersuchung nicht zu leisten. Im Folgenden wird deshalb explorativ mithilfe von eingebetteten Beispielen vorgegangen.2 Dazu dienen zunächst zwei methodische Vorbemerkungen, die den Gedankengang auch vor dem Hintergrund einer Skizze unterschiedlicher bisheriger Forschungsansätze genauer konturieren. Abschließend wird anhand von zwei zentralen Thesen exemplarisch untersucht, wie zeithistorisches Erinnern an 1968 unter digitalen Bedingungen zu verstehen ist: Methodische Vorbemerkungen: A) Digital-mediale Bildnarrative zu untersuchen, ist hinsichtlich der Quellenlage bzw. der Korpusbildung, der Auswertungsmethodik und der spezifischen, in der Regel internetbasierten Charakteristik des Gegenstandes methodisch nicht eindeutig zu lösen. 1 Im Anschluss an den Lessing’schen locus communis lässt sich zwar diskutieren, ob bildliche Kunst Handlungen in der Zeit darstellen kann, allerdings ist bereits in Lessings fruchtbarem, einzelnem Augenblick ein Handlungsrelais für andere, nicht dem Laokoon abgelesene Kunstformen angelegt, etwa paradigmatisch in der klassischen Moderne; vgl. Herz 2013, 169– 174; Kampmann und Schwering 2017, 212–220. 2 Vgl. dazu zusätzlich den noch erscheinenden Beitrag des Verfassers zur digitalen Erinnerungskultur zu 1989.

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B) Aus dieser Sicht ist es sinnvoll, sowohl den Fokus auf Visual History durch eine multimodale Situierung zu ergänzen als auch die nationalen oder (trans-)regionalen Bezüge zwar nicht zu suspendieren, sie aber zu weiteren globalen und konzeptionellen Rahmungen in Beziehung zu setzen. Thesen: Erste These: Erinnerungsformen an 1968 zeigen unter diesen Gegebenheiten Neuverhandlungen und Überschneidungsbereiche bereits bekannter Felder, die sowohl die Memory Studies, aber auch Erzähl- und Medienstrategien betreffen. Zweite These: Die Interdependenzen mnemotechnischer und digitaler Strukturen können als doppelte Virtualität gefasst werden.

2.

Methodische Vorbemerkungen

Wenn es in dieser Form um die Verwobenheit von Erinnern, Erzählen und Bild (-lichkeit) im Rahmen historischer, politischer und medialer Auseinandersetzungen geht, drängen sich sofort unterschiedliche Diskussionen der letzten Dekaden auf. Das reicht von einer mittlerweile etablierten Einteilung der Memory Studies in drei Phasen (vgl. Erll 2011; Feindt et al. 2014) über Problemstellungen der Historiographie und deren Abgrenzung zur Fiktion, die spätestens seit Hayden Whites sprichwörtlich »dichtender Klio« immer forcierter geführt wurden (vgl. White 1986, 1991 sowie Koselleck und Stempel 1973; vgl. aktuell Conway et al. 20193), bis hin zu der Wirkmacht von Bildern, wie sie im Zuge der visuellen Wende bzw. der Visual History diskutiert wurden (vgl. Paul 2016, 2013). Darin eingeschlossen sind Aspekte einer visuellen und mittlerweile gleichfalls einer digitalen Narratologie (vgl. Sommer 2018a, 236–252; Meer und Pick 2019, 115–140; vgl. auch Sebald und Döbler 2018; Weigel-Heller 2018; Hoskins 2018; Pallaske 2015; Garde-Hansen et al. 2009). Forschungspraktisch stellt sich entsprechend das grundlegende Problem der Eingrenzung. Die eingangs aufgeworfene generelle Frage nach digitaler Erinnerung an 1968 ist schwerlich in der vorliegenden Form zu beantworten, sie ist schlicht zu unspezifisch. Das ließe sich schnell an der Trefferzahl einer undifferenzierten Suchmaschinenrecherche verdeutlichen. In dieser Lage könnte es nun beispielsweise aus Sicht der empirischen Sozialforschung sinnvoll sein, ein definiertes Korpus abzustecken (vgl. z. B. Sommer 2018a, 81–84), etwa die Kommunikation zu 1968 auf deutschsprachigen Twitter-Kanälen ab dem Jubiläumsjahr 2018, und dieses Korpus mit qualitativen oder quantitativen Analysen zu erschließen. Allerdings ist ungeachtet genereller 3 Spezifisch in diesem Zusammenhang zu 1968 vgl. beispielsweise Behre 2016; Cornils 2016; Stallmann 2017.

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epistemologischer Herausforderungen, was daran zu erkennen wäre und was nicht, ein solches Korpus selbst wieder bereits problematisch. Für eine Einzelstudie wäre es zu groß und kaum vollständig zu erfassen. Darüber hinaus bleibt immer noch offen, was mit denjenigen Kommunikationsformen passiert, die aus dieser perspektivischen Festlegung ausgeschlossen werden, die zugleich aber über Retweets, Zitate, Bezugnahmen usw. mit einer Vielfalt an unterschiedlichen vorhergehenden und sich anschließenden Kommunikationen in Verbindung stehen. Eigentlich sind an dieser Stelle aufwändige Rechenprozesse nötig, die dazu in der Lage sind, Massen von Netzdaten automatisiert zu durchsuchen (vgl. dazu z. B. die einführende Diskussion zu Lev Manovichs Forschung bei Kampmann und Schwering 2017, 249–254). Das gilt gerade deswegen, weil sich 1968 als globales Ereignis und als digitale Kommunikation zumindest potentiell immer auf eine weltweite und zudem multimediale bzw. multimodale Interaktion bezieht, die im Übrigen mit den aktuellen Möglichkeiten wesentlich schwerer zu durchsuchen ist als ›reiner‹ Text. Schließlich müssen nicht auf Buchstaben basierende Inhalte in der Regel zumindest für den Standardgebrauch immer noch ›getaggt‹ bzw. verschlagwortet werden. So kann netzbasierte mnemonische Kommunikation schwerlich etwa mit Twitter auf nur einer Plattform (oder in nur einer Sprache) erfasst werden (vgl. Behre 2016; Frei 2008; Gassert und Klimke 2009). Zumal zu bedenken ist, dass Bestandteile von Netzkommunikationen ohnehin nicht zugänglich sind, sondern sich in dem abspielen, was sich als »dark social« bezeichnen lässt – also in einem mehr oder minder privaten, nicht-öffentlichen Raum (vgl. Goderbauer-Marchner und Büsching 2015, 16). Der vorliegende Beitrag erkundet das Feld so explorativ, indem Einzelstellenanalysen und digitale Erinnerungsphänomene insgesamt in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden. Dem Kontext des Bandes entsprechend wird dabei ein Fokus auf visuelle Kommunikation in europäischen Erinnerungsdiskursen gelegt, z. B. in Form von Memes bzw. Memes-Plattformen, als also in der Regel intertextuelle Referenzen aus einer Kombination von Schrift und Bild.4 Ein solches exploratives Vorgehen ist auch deswegen notwendig, da sich, anders als bei vorhergehenden Medien, Digitalisierung dadurch auszeichnet, alles in ein identisches Prinzip übersetzen zu können. Insofern wird das Betrachten von vordem als Einzelmedien aufgefassten Einheiten (wie z. B. Bild, Film, Tonaufnahme, Text) problematisch, da sie, einmal digitalisiert, de facto technisch nach 4 Das ursprünglich auf Richard Dawkins (1976) zurückgehende Konzept in Bezug auf via Imitation oder Kopie zu tradierende kulturelle Einheiten fasst Limor Shifman für OnlineMemes zusammen als meist in intertextuellen bzw. intermedialen oder multimodalen Formen schnell verbreitete und kopierte Inhalte, oft in Form so genannter Image-Makros, also in Kombinationen aus Text und Bild (vgl. Shifman 2014, 9–10). Diese Einbettung betrifft sicherlich ebenso AV-Formate usw., die wegen des Fokus auf Bildlichkeit allerdings in den Hintergrund treten.

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dem identischen Standard vorliegen. Aber auch wenn man von dieser Ebene der Platinen bzw. der Codierung in Stromintervalle absieht und eher das den User*innen zugewandte Interface betrachtet, das nach wie vor auf dem Screen Segmente von Bildern, Texten, Grafiken usw. unterteilt, bleibt festzuhalten, dass visuelle Kommunikation nicht monomedial, sondern immer multimodal zwischen Schrift, Audio, Video usw. auftritt (vgl. Bateman et al. 2017, 112–127; Meer und Pick 2019, 59–78). In mediensemiotischer Tradition können diese Einheiten (mit visuellem Schwerpunkt) als multimodale Sehflächen beschrieben werden (vgl. grundlegend Schmitz 2007, 2011a, 2011b sowie einführend Meer und Pick 2019, 51–113), die v. a. in einer Engführung von Bild-Text-Elementen kommunizieren (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Mem Four Seasons of Prague

So lässt sich bei den hier zitierten »Prager Jahreszeiten« nur im multimodalen Zusammenspiel die Pointe des Beispiels entschlüsseln, die sich aus einer textlosen Variante wohl lediglich mit mehr Mühe und Zeit ergäbe. Die skizzierten Zusammenhänge sind auch für die Machart des Eingangsbeispiels konstitutiv (vgl. Abb. 1 und 2). Erst der zusätzlich einzubeziehende Text samt der Rahmung der Webseite zeigen den Prager Frühling nicht allein als tschechische bzw. tschechoslowakische, sondern zugleich – abzulesen am Englischen und den Verweisen des Internetportals auf den nordamerikanischen Kulturraum – als internationale Kommunikation. In diesen unterschiedlichen Kontextualisierungen ergeben sich die mehrfachen, wenn man so will, narrativen Rahmenhandlungen. Man kann in der Verdopplung der Fotografie beispielsweise ein metahistorisches Verfahren oder einen medial-mnemonischen Zusatzkommentar

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sehen, zugleich aber auch ein Prinzip, das für digitale Medien als augmented reality diskutiert wird (vgl. Sevinc 2018 oder Schart und Tschanz 2018). Gemeint sind damit überblendende Zusatzinformationen, die ›reale‹ bzw. ›normale‹ Wahrnehmungen mittels medialer Möglichkeiten ergänzen, wie etwa bei einer Brille, auf deren Gläser zusätzlich zum normalen Sichtfeld weitere Daten projiziert werden. In diesem Changieren zwischen Faktualität, ›erweiterter Realität‹ und der historisierenden Fiktion der Fotografie verschwindet zudem, obwohl der Augenzeugentopos aufgerufen wird, die Urheberschaft des Bildes bzw. der Bilder. Es ist nicht eindeutig festzustellen, wer für die Papierfotografie oder deren digitale Reproduktion verantwortlich zeichnet. Diese Autorisierung wird auch nicht im Text, der der Fotografie beigegeben ist, geliefert. Vielmehr verliert sich die Spur des darin genannten digitalen Nutzernamens bei weiterer Recherche. Eine konventionelle Quellenkritik ist demnach nicht durchführbar.

3.

Doppelte Virtualität in den Erinnerungsformen an 1968

3.1.

Erste These

Erinnerungsformen an 1968 zeigen unter diesen Gegebenheiten Neuverhandlungen und Überschneidungsbereiche bereits bekannter Felder, die sowohl die Memory Studies, aber auch Erzähl- und Medienstrategien betreffen. Die in der These genannten Annahmen gelten zum Beispiel sicherlich für Astrid Erlls Verständnis von Re- bzw. Prämediation, die in aller Kürze als Umwandlungen vorhergehender medialer Verarbeitungen (Remediation), etwa durch die Neuzirkulation bestehender Fotografien, oder als Umwandlungen vorhergehender Denkschemata (Prämediation) konzeptionalisiert werden können (vgl. Erll 2007, 1–34; konzise 2017, 160–163). Zudem ist an die Verquickungen zwischen Medialität und Erinnerung wie etwa bei Marita Sturkens »tangled memories« (1997) für 1968 gerade in Bezug auf Vietnam oder an Ansätze zur digitalglobalen Erinnerungskultur zu denken (vgl. z. B. Hoskins 2018 oder GardeHansen et al. 2009; vgl. auch Erll 2017, 150–166). Weiterhin steht zu klären, inwiefern gleichfalls die vorliegend leitenden Bezeichnungen von beispielsweise ›Revolution‹ oder ›Umbruch‹ als gescriptete mentale Prämediationen kritisch zu reflektieren wären – gerade in Bezug auf die Denkschablonen der abrupten, auf ein Jahr verkürzten (und so retrospektiv gemachten) Erinnerung (vgl. z. B. Nassehi 2018). Es geht damit nicht allein um Deutungshoheit, sondern auf narratologischer Ebene bereits um die Auswahl, Kombination und Markierungen von Ereignissen, die sich zu einem Gesamtbild fügen (man denke z. B. an die verschiedenen erzähltechnischen Auffassungen von Geschehnis, Geschichte, Ge-

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schehen usw.; vgl. z. B. die aktuelle Diskussion bei Schmid 2014, 12–30 sowie 205– 250; vgl. konzise Lahn und Meister 2016, 216–219). Damit ist schließlich auch die theoretische Verortung in der ›dritten Welle‹ der Memory Studies angesprochen, die sich nach der u. a. an Halbwachs, Warburg oder Freud festzumachenden ersten Welle sowie nach der v. a. mit Jan und Aleida Assmann sowie mit Pierre Nora verbundenen zweiten Welle in einem dritten Abschnitt insbesondere in einer Kritik am nationalstaatlichen und essentialistischen Fokus Noras äußert. Zumindest implizit dürfte diese Kritik ebenfalls für das als hegemonial verstandene Assmann’sche Konzept des kulturellen Gedächtnisses gelten. Demgegenüber wird in der ›dritten Welle‹ argumentiert, dass Erinnerung verflochten, volatil und nicht an prä-existente Ordnungen wie an die Nation oder ähnliche »Container« gebunden ist (vgl. Feindt et al. 2014; vgl. zur Illustration Pestel 2014 zum Beispiel Versailles). Diese Annahmen sind auch für digital-visuelle Mnemonik wieder aufzunehmen. Das betrifft zunächst das Problem des von Nora skizzierten Verständnisses von Erinnerungskultur als nationalem Konstrukt, wie es sich vor allem in tendenziell additiven Kompendien nationalstaatlicher Erinnerungsorte manifestiert (vgl. paradigmatisch Nora 1984– 1992). Dieser Kritik scheinen auch die bisherigen Ausführungen hinzuzufügen zu sein, da die digitale Verflechtung von 1968 transnational zu begreifen ist. Solche »digitalen Erinnerungsorte« dürften damit eher in der Folge Levys und Sznaiders (2007) als globale oder durchkreuzte Erinnerungsformen zu verstehen sein. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass 1968 nach wie vor zu einem nationalen lieu de mémoire stilisiert werden kann, wie Félix Krawatzek etwa für den französischen Raum gezeigt hat (vgl. Krawatzek 2017; vgl. auch Behre 2016). Bei allen berechtigten Einwänden manifestiert sich so immer noch die Wirkungsmacht nationaler Verständnisrahmen – bzw. die Gleichzeitigkeit verschiedener Erinnerungen zwischen nationalen, internationalen und transnationalen Formen. Das ist – fasst man Revolution und Umsturz in einer klassisch europäisch-atlantischen Tradition – hinsichtlich der ab der Aufklärung dominanten ›mentalen Prämediationen‹ der Selbstbestimmung einer Nation (und des bürgerlichen Subjekts) nicht verwunderlich. Und auch in der digitalen Kommunikation treten entsprechende Referenzen auf. In der Hochkonjunktur des Gedenkjahres 2018 folgten auf die Verlautbarungen hochrangiger europäischer Repräsentant*innen Repliken, die dem offiziellen Erinnerungsdiskurs zum Kampf für freiheitlich-demokratische Rechte das Recht zur nationalen Selbstbestimmung am Beispiel Kataloniens entgegenhielten (vgl. Abbildung 4). Diese Aushandlungen weisen zugleich eine doppelte Referenz zu Erinnerung als Erzählung auf. Zum einen konterkarieren sie ein hegemoniales Narrativ, zum anderen bedienen sie sich dazu multimodaler narrativer Strategien. In einem gewissen Sinne geht es dabei um einen Austausch von Ereignissen, die pointiert als relevante Fakten markiert und gegenübergestellt werden. Aber auch darüber

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Abb. 4: Twitter-Antworten auf Jean-Claude Juncker (Prag 1968 – Katalonien 2018)

hinaus zeigt das Beispiel die typischen Taxonomien digital-visueller Kommunikation. Spezifische Einpassungen in eine Plattform wie hier in Twitter erzeugen nicht nur eine eigene Oberflächen- und Verknüpfungsstruktur. Sie legen auch die Frage nahe, ob die Zergliederung des Diskurses in einzelne kurze, stets vielfach verknüpfte Tweets bzw. Fragmente (vgl. Kampmann und Schwering 2017, 249– 253; Erll 2017, 152; Ernst 2007, 287–292) gegenüber linear-kausalen Erinnerungsmustern eine durch das Medium beeinflusste Form von Erinnerung generiert. Diese Form ließe sich zwar nicht unmittelbar als Fiktion der historischen Ereignisse begreifen, sehr wohl aber als Angebot, sie immer wieder neu zu erzählen und in den internettypischen Verfahren des beschleunigten Kopierens und Zitierens konstant zu zirkulieren und umzudeuten. Die Leistung dieser Vorgänge besteht sicherlich zumindest in Teilen darin, Partizipation und Diskussion zu ermöglichen. Durch die Vorgaben der Kommunikationsportale entstehen aber auch neue Formungen, die als Netzplattformnarrative bezeichnet werden können. Sie lassen in kurzer Zeit unterschiedliche Perspektivierungen und Reperspektivierungen sowohl durch legitimiert auftretende Personen bzw. Accounts als auch durch einzelne User*innen zu, die sich stets aufs Neue verknüpfen. Dazu gehört schließlich auch, was u. a. Vivien Sommer ausgeführt hat: Dass nämlich das Assmann’sche Konstrukt des kulturellen Gedächtnisses in digitaler Kommunikation problematisch wird, wenn nicht mehr Gatekeeper*innen die Verhandlungen bestimmen, sondern üblicherweise dem kommunikativen Gedächtnis zugeschriebene Interaktionsprozesse einzelner User*innen in hohem Maß an der Produktion öffentlicher Erinnerungskultur beteiligt sind (vgl. Sommer 2018b, 59–61; vgl. auch Jost 2018, 85–86). Demgegenüber ist

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sicherlich einzuräumen, dass diese Überlegungen lediglich bei einer tendenziell rigiden Konzeption des kulturellen Gedächtnisses zutreffen und Kanonisierungen immer schon einer steten Verhandlung und Absicherung ihres hegemonialen Status bedurften (vgl. Krenz-Dewe und Mecheril 2014, v. a. in Bezug auf Gramsci 44–46). Allerdings sind mnemonische Vorgänge im Digitalen noch aus einem anderen Grund wesentlich stärker als vorher immer schon als Vorgänge des kommunikativen Gedächtnisses zu verstehen. Auffindbarkeit, Verknüpfung und Zirkulation von Inhalten sind im Netz schließlich dadurch ein manipuliertes Massenphänomen, dass die Nutzungspraktiken von Milliarden von User*innen maschinell ausgewertet und algorithmisiert werden. Filterblasen, Chroniken oder Suchmaschinen-Muster sind bekannte Beispiele, die ihre Inhalte keiner kulturellen Tradition, sondern der kommunikativen Tradition der Netzpraktiken anpassen. Bei aller Ermöglichung von Diskurs und Kontroverse im Netz ist so auch eine konstante Selbstverstärkung als (zu problematisierende) funktionale Leistung digitaler Erinnerungskommunikation festzumachen.

3.2.

Zweite These

Die Interdependenzen mnemotechnischer und digitaler Strukturen können als doppelte Virtualität gefasst werden. Daran schließt sich unmittelbar die zweite These an. Dabei besitzt die aufgeworfene Frage, inwiefern Medien unsere Realität vorherbestimmen (›das Faktische‹ also medial konstruieren), eine lange Tradition. In seiner Rezension der voluminösen Studie Gerhard Pauls zur Visual History diskutiert Bernd Stiegler beispielsweise, was passiert, wenn Bildern eine vergleichbare »Macht« zur Konstruktion von Faktischem zugesprochen wird (vgl. Paul 2013 sowie Stiegler 2013). Stiegler jedenfalls fühlt sich »ein wenig in die Texttheorie der 1970er- und 1980erJahre zurückversetzt – damals waren es die Texte, die Geschichte schrieben und als deren Agent auftraten.« Er führt weiter aus, dass bei Paul nun zumindest in Ansätzen »Bilder die Position ein[nehmen], die dereinst von ›Diskursen‹, ›epistemischen Ordnungen‹ oder ›Regimen‹ besetzt wurde« (Stiegler 2013). Was angesprochen ist, ist aus medienphilologischer Sicht der klassische Konnex eines wie auch immer gearteten Medienmaterialismus – also die Frage danach, inwiefern das Medium sowohl das eigentliche Kommunikat als auch das eigentlich Kommunizierende ist. Das war spätestens mit McLuhans the medium is the message als globalem Allgemeinplatz so und lässt sich nach wie vor an den zitierten Ausführungen ablesen. Dass dieser Zusammenhang insbesondere in Anbetracht digitaler Medien von besonderer Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Hier schwingt schließlich das stete Unbehagen mit, dass diese digitalen Medien

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als hochgerüstete künstliche Intelligenz oder auch nur als profane Filterblase tatsächlich selbst handeln und eine eigene Realität erzeugen, weil sie es ja nachgerade als programmierte Aktanten sollen.5 Relevant dürfte in dieser Situation sein, wie zwischen konstruktivistischen und essentialistischen Perspektiven zu vermitteln ist. Denn auf der einen Seite bemerkt beispielsweise Astrid Erll zu Recht, dass medienmaterialistische bzw. -deterministische Annahmen die auch von Stiegler angemahnte Tendenz zu einem »totalen Medienkonstruktivismus« besitzen (Erll 2007, 31), wie er sich etwa in Baudrillards Simulacren (1981) manifestiert, die historische Ereignisse eigentlich nur als mediale Ereignisse begreifen können.6 Nimmt man die Kritik ernst, muss man sich als Alternative auf etwas außermedial real Gegebenes einlassen. Auf der anderen Seite wird jedoch auch vor dieser Art apriorischer Setzungen gewarnt wie beispielsweise in der Schulbildung der memory studies der zitierten dritten Welle, wenn essentialistische Präfigurationen für Erinnerung wie die Nation hinterfragt werden (vgl. Feindt et al. 2014, 26, 41).7 Auch wenn beide Einwände berechtigt erscheinen, stellt sich die Aufgabe nach deren Vermittlung. Aufschlussreich ist in diesem Kontext das von Dennis Niewerth gebrauchte Konzept der Virtualität, das er gerade im Kontext des Museums entwickelt, das als Institution ja zugleich auf auszustellende Realia wie auch auf deren immer wieder neu zu denkende Kontextualisierungen angewiesen ist (vgl. Niewerth 2018, 38–58; 2013, 5–6). Als Polysem kann sich der Begriff der Virtualität dabei – und das ist eine durchaus hervorzuhebende Leistung – sowohl auf Digitalisierung bzw. Medialisierung als auch zugleich auf die Realität der Erinnerung beziehen. Denn im Rückgriff v. a. auf Werner Schweibenz und Stefan Münker beruft sich Niewerth nicht nur auf die mit der Computertechnik verbundene Bedeutungsdimension des Virtuellen, sondern ebenso auf eine seit der Antike tradierte philosophisch-seinsbezogene Dimension, die zwischen Essentialismus und Konstruktivismus operiert. Gerade Gilles Deleuze habe das Virtuelle nicht – wie heute meist umgangssprachlich-technisch – als Gegenbegriff zur Realität verstanden, sondern im Realen selbst verortet. Das Virtuelle ist für ihn real, existiert allerdings (in scholastischer Tradition) als die Vielzahl der impliziten Varianten, die dem Realen inhärent sind, die allerdings nicht alle zugleich aktualisiert werden. Als Gegenbegriff zur Virtualität firmiert dann statt des Realen die Aktualisierung. Damit ist auch ein Verständnis von Virtualität als Fiktion oder als – philosophisch gesehen – bloße Möglichkeit bzw. Potentialität 5 Dennis Niewerth spricht beispielsweise von digitalen Medien als Teilnehmenden an und Determinanten von sozialen Sinnbildungsprozessen (2013, 1). 6 Vgl. zu Baudrillard die Einordnung seines Konzepts von Simulakrisierung des Realen im Gegensatz zum vorliegend weiter unten diskutierten Virtuellen (Miklenitsch 2005, 238). 7 Vgl. das Konzept des »mnemonic signifiers« als ein dem tendenziell entgegengesetztes Konstrukt; Feindt et al. 2014, 31.

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hinfällig. Korrespondierend wird sowohl einem medialen Konstruktivismus eine Absage erteilt, indem das Virtuelle als real verstanden wird, als auch einem Essenzialismus, indem neben aktualisierten Varianten immer zugleich andere realisierbar bleiben (vgl. Niewerth 2018, 84–86).8 Fasst man das Gedenken an 1968 als derartig verstandene virtuelle Erinnerung, so bezieht sich das nicht nur auf das Digital-Virtuelle als technische Komponente (wie in virtual oder augmented reality), sondern auch auf diesen theoretisch erweiterten Virtualitätsbegriff. Die Virtualität mnemonisch-digitaler Bildlichkeit ist damit immer doppelt, d. h. über das Technische hinaus auch ontisch zu verstehen. Die in diesem Sinne doppelte Virtualität von 1968 – als technische und ontisch-philosophische – lässt sich nun unterschiedlich beobachten, beispielsweise bei den Nachrichtenportalen der Rundfunk- und Presseanstalten. Denn in ihrer visuellen Strukturierung suggerieren sie, es gebe klare Ordnungsprinzipien, diese Prinzipien werden aber zugleich durch ihre Verdopplung bei konkurrierenden Portalen, durch die Kommentare von Nutzer*innen oder durch deren Umdeutung auf anderen Plattformen stets hinterfragt. Diese Form von Virtualität nicht als Fiktion, sondern als unterschiedliche Ausprägung von Aktualisierung findet sich auch in verschiedenen Re- und Prämedialisierungsprozessen wieder, wie beispielsweise im zum ikonografischen Repertoire von 1968 gehörenden »Olympics Black Power salute«. So haben die Fotografien der schwarz behandschuhten Sieger-Fäuste der Afrikanisch-Amerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos bei der Siegerehrung des 200-Meter-Rennens der 68er olympischen Spiele in Mexiko City auch noch 50 Jahre später Resonanzen im Netz ausgelöst. Eine dieser Varianten zeigt das olympische Siegertreppchen, wobei der australische Silbermedaillengewinner Peter Norman durch den italienischen Fußballnationalspieler Mario Balotelli ersetzt wurde. Balotelli ist in einer Jubelpose montiert, in der er nach seinem zweiten Tor während des 2:1 Sieges der italienischen gegen die deutsche Nationalmannschaft im Halbfinalspiel der EM 2012 in Polen und der Ukraine posierte (vgl. Abbildung 5). 8 Vgl. außerdem die ontologischen Prämissen ordnend Deleuze 1992, 264: »Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. […] Das Virtuelle muß selber als ein strikt dem Realobjekt zugehöriger Teil definiert werden – als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre.« [Hervorh. i. O.] Vgl. zudem Miklenitsch 2005, 235–236: »Dabei fällt ein Ereignis für Deleuze keineswegs mit dem Vorkommnis oder der Situation in eins, denen es Raum gibt, vielmehr fällt es aus dem linearen Nacheinander von Augenblicks-Punkten [sic!] heraus und bildet ein Geschehen, in dem nichts geschieht, es sei denn die leere tote Zeit der virtuellen Koexistenz reiner Vergangenheiten und Zukünfte.« Insofern ist das Konzept sowohl narratologisch als auch mnemonisch anschlussfähig, indem es Verbindungen sowohl zur erst noch ausstehenden Chronologisierung, Kausalattribuierung usw. der historischen Erzählung zulässt als auch unterschiedliche Varianten, Vergangenheit und damit zugleich Zukunft zu erfassen.

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Abb. 5: Montage Olympia 1968 – EM 2012

Betrachtet man die doppelte Virtualität des Bildes, dann zeigen sich beispielsweise nicht nur die technisch-virtuellen Potentiale der Montage, sondern auch unterschiedlich aktualisierbare Sinnangebote. So lassen diese Angebote differierende Narrative zu, die sich nicht nur in einer Traditionslinie zwischen Bürgerrechtsbewegungen und Black-Power-Movement von 1968 bis 2012 und darüber hinaus entfalten können. Genauso schwingt in der Person Balotelli immer auch die Tradition der fußballerischen Nationalmannschaftsspiele Italiens mit oder die Frage nach Migration, nach nationaler sowie individueller Repräsentation oder nach Männlichkeitsidealen. Und es wird ebenfalls, wie immer bei Erinnerung, auch das Vergessen mitthematisiert – in diesem Fall das Vergessen eines olympischen Silbermedaillengewinners. Kommt man bei all dem bisher Ausgeführten schließlich zum Eingangsbeispiel der doppelten Fotografie des Prager Frühlings zurück, dann geht es auch hier weniger um das Inszenieren historischer Ereignisse an ›realen‹ Schauplätzen, sondern eher um augmentierte Realität verstanden im Sinne der hier vor-

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gestellten Virtualität. Diese Realität ist sowohl einfach als auch verdoppelt, sowohl eigenständige fotografische Strategie als auch eingebettete Internetkommunikation – und sie lässt sich nicht nur auf eine Weise verstehen. Insbesondere der Aspekt der Aktualisierung des Virtuellen zeigt für dieses Beispiel Auswirkungen. So geht es nicht um die Möglichkeit, den Prager Frühling in alternativen Formen zeigen zu können, sondern um die Aktualität spezifischer Ausprägungen – und zwar durchaus manifest in den Rahmungen der digitalen Virtualität, wie sie durch Rezipient*innen jeweils unterschiedlich abgerufen werden können. Es geht damit um die Vielzahl der digitalen Varianten, die im Realen ›enthalten‹ sind. Eine erste Aktualität wird beispielsweise bereits in der Auswahl eines spezifischen Fotos aus dem Fundus zum Prager Frühling bestimmt. Eine zweite durch deren verdoppelte Re-Inszenierung am Schauplatz in Prag selbst. Eine dritte Rahmung ruht etwa in der textlichen Einbettung auf der Webseite sowie in den zusätzlichen Situierungen durch Links, multimediale Angebote und Werbungen. Schließlich könnte man noch hinzuzählen, dass das Foto selbst wiederum auf anderen Seiten verlinkt, kommentiert, neu gepostet, überarbeitet wird usw. Und damit ist nicht zuletzt auch etwas angesprochen, was nicht nur auf Memes zutrifft, wie beim Beispiel zu Mexiko 68 und Balotelli, sondern woran zugleich der vorliegende wissenschaftliche Beitrag als Teil eines typisch nichtlinearen Textgeflechtes Anteil hat. Auch er ›postet‹ und ›kommentiert‹ gewissermaßen die in der gezeigten Abbildung aktualisierte Erinnerung an den Prager Frühling. Insofern ist digital-visuelle Erinnerung an 1968 kein unikales Phänomen, sie partizipiert vielmehr in erheblichem Ausmaß an den Aushandlungen, die vorliegend als doppelte Virtualität verstanden wurden.

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#1968: mnemonische Konstruktionen und das Doppelte der virtual reality

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Fotomontage Prager Frühling: Eigener Screenshot. https://me.me/i/the-pra gue-spring-was-a-period-of-political-liberalization-in-11778110 (11. November 2019). Abbildung 2: Fotomontage und Webseite Prager Frühling: Eigener Screenshot. https://me. me/i/the-prague-spring-was-a-period-of-political-liberalization-in-11778110 (11. November 2019). Abbildung 3: Mem Four Seasons of Prague: Eigener Screenshot. https://bit.ly/3tLKZnp (me.me) (11. November 2019). Abbildung 4: Twitter-Antworten auf Jean-Claude Juncker (Prag 1968 – Katalonien 2018): Eigene Screenshots. https://twitter.com/JunckerEU/status/1031847545780293632 (11. November 2019). Abbildung 5: Montage Olympia 1968 – EM 2012: Eigener Screenshot. https://knowyourm eme.com/photos/358529-mario-balotellis-goal-celebration (11. November 2019).

Antonius Weixler

»The Closer You Looked, the Less You Could See.« Über Wahrnehmung und bildästhetische Darstellung in Zeiten des Umbruchs

»Keine Atempause / Geschichte wird gemacht / Es geht voran« heißt es in einem berühmten Punkschlager, wobei die Fehlfarben die Instanz, die hier Geschichte macht, bewusst unbenannt lassen (aber zumindest andeutungsweise dabei wohl an eine Entwicklung gedacht haben werden, die angeblich weder Ochs noch Esel aufzuhalten vermochten). Aber gegen die Fehlfarben lässt sich bei aller Sympathie konstatieren, dass es wohl eh gar nicht so wichtig ist, wer diese Geschichte ›macht‹, sondern wer sie wie schreibt, sprich, welcher Akteur des künstlerischen (oder historiographischen) Feldes mit welchen (bild-)narrativen Strategien und ästhetischen Mitteln historische Zäsuren setzt. Sowohl die Einschätzung, ob bzw. ab wann ein singuläres historisches Ereignis zugleich eine Epochenzäsur markiert, als auch wie man von solch einem Umbruch dann erzählt, ist naturgemäß perspektivabhängig. Geschichte wird angeblich immer nur von den Siegern geschrieben, will ein bekanntes Bonmot wissen, und das wären in der Regel ja die Gewinner von Umbrüchen, ließe sich entsprechend mit Blick auf das in diesem Band im Zentrum stehende Thema ergänzen. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille, denn Geschichte wird freilich, und sogar nicht unwesentlich, auch von den Verlierern geschrieben. Nationalmythen etwa sind erstaunlich oft Opfernarrative, in denen die (militärischen) Niederlagen zugleich in moralische und nationale Einheit stiftende Siege (und oft zudem in Heldennarrative) umgedichtet werden (vgl. Koschorke 2012, 104; Schivelbusch 2000). Offenkundig geht es bei solchen Erzählungen eben auch, wenn nicht sogar vor allem, um Machtfragen. Die postkoloniale Theorie sowie die damit zum Teil unmittelbar zusammenhängenden Überlegungen zu Othering und Framing versuchen zum Beispiel entsprechend, die dominant westlichen historischen und normativen Diskurse zu dezentralisieren und damit den elitären Umbruchsnarrativen Erzählungen aus alternativen Perspektiven entgegenzusetzen. Die Perspektivabhängigkeit lässt sich generell auch aus einem narratologischen Blickwinkel untersuchen, denn von Ereignissen – seien sie real oder faktual, seien es epochale Zäsuren oder banaler Alltag – lässt sich nie erzählen, ohne

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die Grundaktionen Selektion, Arrangement und Perspektivierung vorzunehmen (Pfister 112001; Weixler 2017, 10–14). Damit ließe sich nun freilich gut konstruktivistisch ein Panfiktionalismus für sämtliche medialen Kommunikationen behaupten, zielführender für die Analyse aber erscheint es, die Perspektivabhängigkeit von Umbruchserzählungen nach ihrer impliziten Normativität und damit generell nach dem Wie des Erzählens zu befragen; und der letzteren Frage wird sich dieser Beitrag vorwiegend widmen. Diese Frage stellt sich insbesondere bei literarischen Verarbeitungen, gerade bei solchen, die im Zeitalter der Massenmedien auf historische Zäsuren reagieren und sich dabei immer schon gegen eine bildgewaltige Medienkonkurrenz behaupten müssen. Im Folgenden sollen literarische Antworten auf den Mauerfall und 9/11 untersucht werden, da diese beiden Zäsuren besonders ausgeprägt von einer massenmedialen Bilderflut überzeichnet waren. Zu Fragen wird also sein, inwiefern es im Nachklang dieser beiden historischen Umbrüche auch zu literarisch-bildästhetischen Umbrüchen gekommen ist; unter ›Bildästhetik‹ sollen gegen eine enge Begriffsverwindung sowohl metaphorische Sprachbilder als auch fotochemisch analoge sowie digitale Fotografien verstanden werden. Um mit einem Disclaimer zu beginnen: So sehr sich die beiden hier ausgewählten Zäsuren medienhistorisch ähneln, so unterschiedlich sind sie doch in ihren historischen und politischen, »(literatur-) und (kollektiv-)psychologischen« Implikationen (Irsigler und Jürgensen 2012, 243). Eingestanden sei daher, dass 9/11 freilich vor allem als kollektives Trauma wahrgenommen und verarbeitet wurde, die Wende hingegen, gerade aus westlicher Perspektive, eher ein Gewinnernarrativ aufrief und sich das Ganze aus östlicher Perspektive wiederum anders und deutlich komplizierter ausnimmt (vgl. den Band von Führer 2016). Der Mauerfall hat wiederum insbesondere in der deutschen Literatur Widerhall gefunden, 9/11 hingegen international und gerade auch in der europäischen Literatur, bei allen Differenzen zwischen den Kulturräumen. Die jeweiligen literarischen Reaktionen schreiben sich dabei vorwiegend in die eigenen literarischen Märkte ein, mit all ihren kulturellen, feldlogischen und realismuskonzeptuellen Unterschieden. Entsprechend stehen mit Thomas Hettches Nox (1995) und Jonathan Safran Foers Extremely Loud & Incredibly Close (2005) zwei Beispiele im Zentrum der folgenden Ausführungen, die zugleich ähnlicher und unterschiedlicher kaum sein könnten. Abgesehen von den »(kollektiv-)psychologischen«, kulturellen und feldlogischen Unterschieden ist ihnen gemeinsam, dass beide Texte die »Eigenlogik fiktionalen Erzählens« im Angesichts einer »doppelte[n] Frontstellung behaupten, gegen die »postmoderne[] Infragestellung des Konzepts ›Realität‹« einerseits und gegen die »Dominanz der Bildmedien andererseits« (Irsigler und Jürgensen 2012, 255). Mit Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen zeigt sich diese Betonung der literarischen Eigenlogik generell darin, dass

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›Ereignisse‹ wie ›Bildereignisse‹ gleichermaßen […] in den literarischen Diskurs integriert bzw. nach seiner je spezifischen Eigengesetzlichkeit umgeschrieben und damit die ästhetische Autonomie gegenüber der Idee ›Wirklichkeit‹ und dem epistemischen wie ästhetischen Primat der (öffentlichen) Bildmedien behauptet [wird]. (Irsigler und Jürgensen 2012, 255)

Darüber hinaus zeigt sich noch eine weitere Parallele. Beide Texte erscheinen jeweils ca. ein halbes Jahrzehnt nach den jeweiligen historischen Ereignissen. Freilich gab es jeweils frühere und spätere Reaktionen, aber bemerkenswert ist doch, dass sowohl rund fünf Jahre nach dem Mauerfall als auch ziemlich genau ein halbes Jahrzehnt nach dem 11. September eine ganze Reihe von Romanen sich diesen Geschichtszeichen widmen, und zwar in beiden Kulturräumen (vgl. Hollmer und Meier 1999; Irsigler und Jürgensen 2012, 243).1 Nach einer anfänglichen Zeit, die vom Unsagbarkeitstopos geprägt ist, scheint das in etwa der Zeitraum zu sein, bis zumindest die Prosa – Lyrik reagiert für gewöhnlich schneller auf historische Ereignisse2 – eine ästhetische Faktur für das vermeintlich Unsagbare findet, sie umsetzen, produzieren und distribuieren kann. Büchermachen ist eben kein schnelles Geschäft.

Mauerfall und 9/11 oder History in the Making Zunächst sei die vermeintliche medienhistorische Gemeinsamkeit von Mauerfall und 9/11 näher betrachtet. Beide Zäsuren sind medienhistorisch von einiger Bedeutung, weil man jeweils – wenn auch im späteren Fall noch einmal unmittelbarer und schneller – einerseits live am Bildschirm history in the making mitverfolgen konnte, und sich andererseits nahezu instantan ein individuelles wie kollektives Bewusstsein dafür entwickelte, dass es sich hierbei um einen epochalen Umbruch handelte. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang etwa die Anmoderation der Tagesthemen am Abend des 9. November 1989 von Hanns J. Friedrichs, die er wie folgt einleitete: »Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren. Dieser 9. November ist ein historischer Tag.«3 Und für den 11. Sep1 1995 erschienen etwa auch noch Thomas Brussigs Helden wie wir, Günter Grass’ Ein weites Feld, Angela Kraus’ Die Überfliegerin, Erich Loests Nikolaikirche, Reinhard Jirgls Abschied von den Feinden (siehe auch Hollmer und Meier 1999). 2005/2006 erschienen unter anderem Deborah Eisenbergs Twilight of the Superheroes, Ken Kalfus’ A Disorder Peculiar to the Country, Jay MacInerneys The Good Life, Hugh Nissensons Days of Awe, Lyanne Sharon Schwartz’ The Writing on the Wall, Jess Walters The Zero. 2 Vgl. den Beitrag von Jan Borkowski in diesem Band sowie generell zu diesem Zusammenhang im Kontext der Befreiungskriege: Jürgensen 2018. 3 Zu sehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=m4FxsfTroHA (1. August 2021).

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tember drückt ein Tagebucheintrag von Else Buschheuer dieses unmittelbare Zäsurempfinden aus, mit der »Frage, die bald historisch sein wird: Wo warst du, als das World Trade Center zerstört wurde? Es gibt ja viele dieser Fragen: Wo warst du, als Kennedy… als Lennon… als die Mauer als Lady Di… Nun also die.«4 Medienhistorisch gemeinsam ist beiden Zäsuren zudem die bereits mehrfach genannte massenmedial produzierte und verbreitete Bilderflut, die diese beiden weltpolitischen Umbrüche in kaum gekanntem Ausmaß aus- und beleuchtete, freilich im Fall von 9/11 durch die zunehmende Verbreitung digitaler Kameras noch einmal in einer kategorial gesteigerten Form. Bei aller Gemeinsamkeit fiel die Bewertung demgemäß unterschiedlich aus: Während der Mauerfall etwa kaum Nachhall in der theoretischen Diskussion gefunden hat – in diesem Diskursfeld also gar nicht als ein Umbruch wahrgenommen wurde – gibt es zu 9/11 umso tiefgreifendere Hypothesen zur Signatur des Medienereignisses, die zudem auch noch diametral ausfallen. Häufig haben die theoretischen Diskussionen in den Kunst- und Literaturwissenschaften ja wenig mit der literarischen Wirklichkeit gemein, in diesem Fall laufen aber beide Diskursebenen gleichsam parallel bzw. reagieren aufeinander, daher seien diese Reaktionen auf 9/11, die von der Proklamation einer Realismusrückkehr bis hin zum bloßen Ästhetizismus reichen, hier kurz skizziert. Berühmt geworden ist etwa Karlheinz Stockhausens relativ schnell, schon im November 2001 geäußerte, hoch provokative ästhetizistische Interpretation der Anschläge als das »größte Kunstwerk, daß es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos«5. Die heftige Kritik, die darauf folgte und angesichts der Nähe zu den traumatischen Ereignissen wohl auch folgen musste, übersah dabei, dass Stockhausen damit weniger die Realität von tausenden von Toten meint, als vor allem die mediale Filterung und Rezeption, die die Anschläge zu einem »im Kern symbolhaften« (Irsigler und Jürgensen 2008, 9) Angriff machten. Anstatt authentischer Augenzeugenschaft stellte sich für die Fernsehzuschauer gleichsam instantan maximale Künstlichkeit ein, in dem immer wieder gesendeten »›Loop‹ der immer wieder einstürzenden und auferstehenden Türme. Damit ›verschwand‹ das reale Ereignis sozusagen sofort unter seiner medialen Aufbereitung« (Irsigler und Jürgensen 2008, 9). Für Jean Baudrillard führt dies sogar dazu, dass das Ereignis im Bild nicht nur verstärkt, sondern »gleichzeitig als Geisel« genommen würde:

4 Tagebucheintrag vom 13. November 2001, 10.30 Uhr New Yorker Zeit, aus dem derzeit nicht zugänglichen, ehedem auf else-buschheuer.de veröffentlichen Tagebuch. Zitiert nach Deupmann 2008, 18. 5 So Karlheinz Stockhausen in einem FAZ-Interview am 18. 11. 2001, zitiert nach Irsigler und Jürgensen 2008, 9.

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Es sorgt für eine unendliche Vervielfältigung, bewirkt gleichzeitig aber auch Zerstreuung und Neutralisierung. […] Das Bild konsumiert das Ereignis, das heißt es absorbiert es und bietet es dann zum Konsum dar. Gewiss, es verschafft ihm auf diese Weise einen noch nie dagewesenen Einfluss, doch nur mehr als Bild-Ereignis. (Baudrillard 2002, 29– 30; vgl. dazu auch Irsigler und Jürgensen 2008, 9)

Die Differenz zwischen ›Ereignis‹ und ›Bildereignis‹, die oben bereits zitiert wurde, ist für die vorliegende Untersuchung zentral. Die Anschläge wirkten ja auch deshalb irgendwie ›unwirklich‹, weil in Hollywood-Filmen die Zerstörung der Wolkenkratzer schon dutzendfach vorweggenommen worden war, etwa in Roland Emmerichs Independence Day (1996) oder Mimi Leders Deep Impact (1998) (Irsigler und Jürgensen 2012). Oder noch einmal mit Baudrillard: Am Anfang war das Bild, und erst dann kam der Schauder des Realen. Gleichsam eine zusätzliche Fiktion, eine Fiktion, welche die Fiktion übertrifft. Diese terroristische Gewalt bedeutet also weder eine Rückkehr der Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte. Diese terroristische Gewalt ist nicht ›real‹. In gewissem Sinne ist sie schlimmer als das: Sie ist symbolisch. […] Nur symbolische Gewalt vermag Singularität zu erzeugen. (Baudrillard 2002, 13–15)

Die ästhetizistische Lesart von 9/11 ließe sich dann wie folgt zusammenfassen: Man hat dem Ereignis überhaupt nur deshalb live zugesehen, weil der erste Turm absichtlich mit zeitlichem Abstand getroffen wurde, damit alle am Bildschirm sind, wenn der zweite getroffen wird – als große Symbolpolitik also. Der Anschlag passierte deshalb auch zu einem Zeitpunkt, als verhältnismäßig wenige Menschen in den Türmen waren, aber die Kameras bereits draufhielten – um Tote ging es nicht (oder doch nicht vorrangig), sondern um die Herstellung von hochgradig symbolischen, nicht vorrangig von authentischen Bildern (vgl. Irsigler und Jürgensen 2011; 2012). Mit etwas größerer zeitlicher Verzögerung setzte in der Forschung eine nahezu konträre Lesart der Anschläge ein, genauer: Interpretiert wurde das Medienereignis 9/11 als ein Katalysator für das Ende der Postmoderne, wie es sich etwa an der Rückkehr zu einer klassischen, um nicht zu sagen ›naiven‹ Authentizität zeige.6 So interpretieren Ulla Haselstein, Andrew Gross und MaryAnn SnyderKörber den 11. September als »authentic in a way, that postmodernism denied« (Haselstein et al. 2010, 15). Diese Reaktion auf das globale Medienereignis 9/11 arbeitet sich wohl auch deshalb ausgerechnet am Begriff des Authentischen ab, weil dieser ein Phänomen 6 ›Naiv‹ im Sinne Friedrich Schillers, der in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) beschreibt, dass wir zum ursprünglichen Zustand der Ganzheitlichkeit und Natürlichkeit des Naiven, den er vor allem in der Antike festmacht, in der vom Sentimentalischen – wie würden heute sagen: vom Selbstreflexiven oder Metadiskursiven – geprägten Gegenwart nicht wieder zurückkönnen.

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zu fassen versucht, bei dem sich wie bei vielleicht wenigen anderen Aspekten die Dimensionen der Wirklichkeitswahrnehmung und -bewertung mit Fragen der ästhetischen Wiedergabe und Darstellung von Realität überschneidet. In den Folgejahren wurde wiederholt ein Zusammenhang zwischen dem Ende der Postmoderne und einer neuen Konjunktur des Authentischen diagnostiziert, wenn auch nicht immer mit explizitem Bezug zu 9/11. Für Wolfgang Funk und Lucia Krämer handelt es sich bei Authentizität etwa um einen »Schlüsselbegriff nach-postmodernen Denkens und Fühlens« (Funk, Krämer 2011, 7), für Funk, Florian Groß und Irmtraud Huber geht es um »if and how this postmodern predicament can be overcome« (Funk et al. 2012, 12). Auch Michael Rössner und Heidemarie Uhl interpretieren die »neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen« und Authentischen als eine »Renaissance« des theoretisch eigentlich dekonstruierten Begriffes (Rössner und Uhl 2012). Zuletzt hat sich auch Erik Schilling noch einmal kritisch dieser gegenwärtigen »Karriere [der] Sehnsucht« nach dem Authentischen gewidmet (Schilling 2020). Die nun bereits mehrfach geäußerte Sehnsucht scheint dabei der Begriffsund Phänomengeschichte des Authentischen selbst schon inhärent zu sein. Der ungemein schillernde und komplexe Begriff Authentizität hat eine lange Geschichte, die bereits gut erforscht ist (insbesondere: Knaller 2006; 2007). Wichtiger für unseren Zusammenhang als eine erneute Rekapitulation seiner historischen Tiefendimension scheint hier allerdings eine systematische Differenzierung des Phänomens zu sein (vgl. Weixler 2012), zumal die erwähnte Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einem ursprünglichen Idealzustand typisch für die Rede über Authentizität ist: Helmuth Lethen etwa identifiziert »[…] stets die gleiche Topographie des Authentischen, immer liegt es unter einem modernen Konstrukt, das als Oberfläche begriffen wird, die durchdrungen werden muss« (Lethen 1996, 229). Das Authentische als Sehnsucht ruft somit ein triadisches Geschichtsmodell auf, insofern mit ihm die Sehnsucht nach einem Ideal untrennbar verbunden ist, das es in der Vergangenheit einmal gab (Phase eins), das es heute nicht mehr gibt (Phase zwei), aber wieder erreichbar werden könne, wenn man nur ›die Moderne‹ (oder die ihr nachfolgenden Modernisierungsprozesse wie die Postmoderne) hintergeht (Phase drei). Diesen geschichtsteleologischen Dreischritt sollte man in der Untersuchung des Phänomens allerdings nicht mit der typologischen Differenzierung in drei Begriffsdimensionen verwechseln. Anstatt von ›der Authentizität‹ zu sprechen, erscheint es heuristisch notwendig, die Vorstellung einer referentiellen Authentizität, die vormediale Unmittelbarkeit evoziert (oder simuliert) von einer medialen Relationalität einer Authentizität der ›Erschreibung‹ sowie einer die postmodernen Bedingungen reflektierenden metadiskursiven Authentizität der Zuschreibung zu differenzieren (vgl. Weixler 2012). In der Gegenwart können alle drei Formen der Typologie noch aufscheinen, während mit der Sehnsucht nach Authentizität eigentlich stets die

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Rückkehr zum ›naiven‹ Ideal referentieller Authentizität gemeint ist. Das Verführerische der Authentizität in der Gegenwart – ihr Sehnsuchtskapital sozusagen – ist, dass in medialen Kommunikationen nur mittelbare Relationalität möglich ist, dass authentisch wirkende Kommunikationen aber den Schein unmittelbarer Referentialität (als Rezeptionseffekt) annehmen können, obwohl sie diese nicht besitzen. Erkennbar wird dadurch, dass sich in den Formulierungen vom »return«, von der »Renaissance« oder von der »Sehnsucht nach dem Ursprünglichen« selbst das triadische Geschichtsmodell und folglich die Sehnsucht nach einer möglichen Rückkehr in eine vormoderne (oder doch zumindest vorpostmoderne) Ganzheitlichkeit und Direktheit zeigt.

Geschichtszeichen I: Mauerfall Kommen wir damit zurück zum ›Mauerfall‹ und widmen uns einer exemplarischen, sicherlich aber nicht repräsentativen literarischen Bearbeitung dieses historischen Umbruchs. Selbstredend gibt es nicht die eine literarästhetische Reaktion auf den Mauerfall, aber es gibt doch eine Strategie, die vielen literarischen Texten gemeinsam ist: nämlich auf die Dominanz der Bildmedien mit spezifisch literarischen Verfahren zu reagieren und den vorgeblich ›realistischen‹ Bildern mythische Umschreibungen entgegenzustellen. Wie vielfältig innerhalb dieser gemeinsamen Strategie die Literatur in den letzten 30 Jahren die Wende verarbeitet hat, darüber gibt die Synopse im Beitrag von Volker Wehdeking in diesem Band eindrücklich Aufschluss. An dieser Stelle soll Thomas Hettches Nox (1995) deshalb stellvertretend herangezogen werden, weil er die diskursleitende Betonung einer Eigenlogik des Literarischen besonders stark artikuliert. Bei Nox handelt es sich insofern um eines der konsequentesten Beispiele dafür, wie der medialen Bilderflut alternative sprachliche Bilder entgegengestellt werden, wie Christoph Deupmann bereits überzeugend herausgearbeitet hat: Literarische Erzählungen geschichtlicher Ereignisse sehen sich im Kontext der fortgeschrittenen medientechnologischen Moderne mit einem prinzipiellen Problem konfrontiert […]. Was immer ihre Narrationen im Medium der Schrift wiederholen, präsentiert sich zuvor bereits im Medium technischer Bilder. Jeder Versuch einer ›authentischen‹ Erzählung des Realen wird von dessen ikonischen Repräsentationen überholt, welche die literarische Darstellung als ›tertiäre‹, tendenziell tautologische und zugleich – gemessen an der sinnlichen Evidenz der Film- und Fernsehbilder – defizitäre Wiederholung diskreditieren. […] ›Authentisches‹ Erzählen zeitgeschichtlicher Ereignisse wird deshalb in der Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch aus mediengeschichtlichen Gründen zu einem ›unmöglichen‹ Projekt. (Deupmann 2003, 193)

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In Hettches Roman lässt sich dieses Prinzip an zahlreichen Aspekten beobachten. Gemeinsam ist ihnen, dass der geschichtliche Umbruch durchweg mit bildästhetischen und motivgeschichtlichen Textstrategien vorgeführt wird, in denen klassische Motive und Metaphern aufgerufen werden, allerdings nur, um diese dann postmodern umzuschreiben bzw. umzuinterpretieren. Dies zeigt sich schon in der Erzählsituation, die eine »postmortale« (Haller 2019) ist. »Ich sah in ihrer Hand das Messer nicht«, lautet programmatisch bereits der erste Satz des Textes (Hettche [1995] 2002, 9), und wenige Sätze später ist der Erzähler tot, erzählt aber unverdrossen fort. In Nox werden, dem Titel gemäß, die Ereignisse der einen Nacht des Mauerfalls mittels tendenziell von dies- und jenseits der Mauer sich auf sich zubewegenden, man könnte genauso gut aber auch von sich rhizomartig im Stadtraum Berlin sich bewegenden Figuren sprechen, beschrieben. Dabei ist allerdings unklar, ob man überhaupt von ›Figuren‹ sprechen sollte, denn das Romanpersonal hat weder einen klaren, individualisierenden Umriss noch sind ihre Handlungsabfolgen kausal motiviert, auch eine kohärente Plotstruktur sucht man eher vergebens. Der Roman ist letztlich eine die Rezeption durch ausgeprägte Verfremdungs- und Differenzierungsästhetiken erschwerende Groteske, die disperse discours-Strukturen mit hyperrealen, bizarr-expliziten und oftmals pornografischen histoire-Elementen kombiniert. Konkreter bzw. handlungsorientierter gesagt: Erzählt wird im Laufe des Romantextes der fortlaufende Verwesungsprozess des eingangs ermordeten Ich-Erzählers, die Geschichte eines Grenzhundes der DDR, der sich von seiner Leine, mit der er zur Grenzbewachung gezwungen wurde, losgemacht hat – die Geschichte der DDR-Grenzhunde hatte der Spiegel in einer großen Reportage 1994 erzählt7 – sowie die Geschichte der namenlosen Mörderin, die mit dem Hund durch die Nacht streift. Parallelisiert wird dieser Grundplot mit kurzen Episoden über und Perspektivwechsel auf weitere Figuren, die sich um ein Pathologen-Ehepaar sowie die pathologische Sammlung der Charité und um einen Masochisten mit bifurkiniertem Glied namens David drehen, »über dessen Körper sich eine obszöne Narbenschrift zieht« (Deupmann 2003, 196). Die Romanhandlung kulminiert schließlich in einer »sadomasochistischen Orgie« (ebd.), in deren Verlauf David kopfüber an durch seinen Körper getriebenen Fleischerhaken aufgehängt wird und stirbt. Bei der »Narbenschrift« handelt es sich um das zentrale Motiv des Textes, weshalb es hier beispielhaft für die Poetik des Textes etwas näher betrachtet werden soll. Narben und Wunden durchziehen nicht nur den Körper der Figur David wie eine Schrift, vergleichbare ›Erinnerungsspuren‹ durchziehen überdies sowohl die Stadt wie auch die Körper fast aller anderen Figuren. Wunden und 7 Dies ist nur ein Beispiel für die ausgeprägte Intertextualität und den Einbau heterogenen Textmaterials in Nox. Vgl. dazu Marie-Luise Scherer. »Die Hundegrenze«, Der Spiegel 6/1994.

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Narben dienen in Nox dabei aber gerade nicht als Memorialmetapher einer »Körperschrift«, wie sie von Aleida Assmann beschrieben wird: Körperschriften entstehen durch lange Gewöhnung, durch unbewußte Einlagerung und unter dem Druck von Gewalt. Sie haben die Stabilität und Unverfügbarkeit gemein. Je nach Kontext werden sie als authentisch, hartnäckig oder schädlich beurteilt. (Assmann 1999, 242)

Narben und Wunden haben einen anderen semiotischen Status als gewöhnliche Schrift, »Körperschrift« ist in diesem Sinne nicht nur eine Schrift unter anderen. Strukturanalog zur Spur lassen Narben sowohl »den sprachlichen Bezug als auch den Zeichencharakter der Kodierung hinter sich. Dennoch bleib[en] sie semiotisch lesbar als ein indexikalisches Zeichen, dem kein Kode zugrunde liegt« (Assmann 1999, 209). Mit anderen Worten, Spuren und Narben werden von Assmann deshalb als »authentisch« in ihrer Wirkung und Beurteilung beschrieben, weil sie als indexikalische Zeichen referentiell wirken, da sie keiner sprachlichen Kodierung und keiner medialen Mittelbarkeit unterliegen. Noch eine weitere Beobachtung von Assmann erweist sich in diesem Zusammenhang als relevant: Für Assmann erweitert sich mit dem Begriff der Spur »das Spektrum der ›Einschreibungen‹ über die Texte hinaus auf die photographischen Bilder«, da es ursprünglich eben diesen referentiell-unmittelbaren Zusammenhang von »Krafteinwirkungen am Objekt und durch Objekte« gegeben habe (Assmann 1999, 211). Dieser Zusammenhang wurde im Laufe von, so Assmann, vier entscheidenden Stadien der Geschichte der Schrift zusehends problematischer. In der letzten Stufe, der »Digitalschrift« habe man es nur noch mit einer »›strukturellen Schrift‹« zu tun, »die keinen Zeichencharakter habe[] und selbst nichts repräsentiere[]« (Assmann 1999, 211). Entsprechend verliere die Digitalschrift »die wichtigsten Merkmale, die Schrift zu einer suggestiven Gedächtnismetapher gemacht haben: Anstelle der fixierenden Eingravierung sind die Bilderkaskaden und Informationsflüsse geraten«, weshalb durch die neuen Medien in den »westlichen Zivilisationen« das »kulturelle Gedächtnis« ein »Problem« bekomme (Assmann 1999, 212–213): Die Bilderflut des Fernsehens macht die Schrift als zentrales Gedächtnis-Medium obsolet; neue Speicher- und Informationstechnologien basieren auf einer anderen Art von Schrift, nämlich der digitalen, die in ihrer flüssigen Gestalt nichts mehr zu tun hat mit dem alten Gestus des Einschreibens. (Assmann 1999, 214)

Kommen wir nach diesem kurzen Exkurs zurück zu Nox und dem durchlaufenden Motiv der Narbe, die nicht nur als buchstäblich verstandene Körperschrift auf der Haut von David, sondern vor allem als Einschreibung ›der Geschichte‹ in die Stadttopographie erscheint:

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Staunend sah sie zu, wie entlang der Mauer die Narbe, die mitten durch die Stadt lief, aufbrach wie schlecht verheiltes Gewebe. Wie man gleißend die Stelle ausleuchtete und eilig Wundhaken hineintrieb. Blitzenden Stahl ins Fleisch, um das unter Anspannung blutleere und weißglänzende Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun vollständig aufzureißen. (Hettche [1995] 2002, 79)

Wenig später wiederum werden Stadt- und Körpertopographie, werden die Spuren des Krieges und der Stadtgeschichte mit den von allerlei sadomasochistischen Praktiken ›gezeichneten‹ Körpern der Figuren David und Lara sogar in aller Deutlichkeit parallelisiert: Meine Haut ist die Topographie des Krieges, dachte sie [Lara]. Pläne und Intrigen, Grabenkämpfe, Partisanentrupps, Bündnisse und Übergabeforderungen haben auf ihr Platz. Meine Haut ist das Gelände einer Schlacht, deren Verlauf ich nicht begreife. Man verhandelt auf mir und fliegt Angriffe, deren Ziele ich nicht kenne. Zettelt Scharmützel an, und ich weiß nicht, gegen wen. Begradigt mir unbekannte Fronten, schließt Verträge, und ich weiß nicht, zu welchem Preis. Doch immer lesbarer wird die Schrift, dachte sie […]. (Hettche [1995] 2002, 115–116)

Unmittelbar nach dieser Szene beginnt die die Romanhandlung abschließende »sadomasochistische Orgie« um Lara und David. Und schließlich wird auch noch der Titel des Romans Nox als die Geschichte der einen Nacht anhand des Motivs der Narbe erklärt, um noch eine letzte hier einschlägige Textstelle anzuführen: Am lebendigen Leib, verstehen Sie? Sie reißen die Narbe auf, die so gut verheilt schien. In dieser Nacht, verstehen Sie? Man muß neu begrenzen, ins Wuchernde schneiden, tief ins Lebendige hinein. (Hettche [1995] 2002, 111)

Was Hettche in Nox damit bildsprachlich verarbeitet, ist natürlich die am weitesten verbreitete Metapher für die Deutsche Teilung: die Mauer als eine Narbe und Wunde, die Stadt wie Land durchziehe, so dass, wie die Isotopie-Ebene es gleichsam verlangt, mit dem Mauerfall ein Heilungsprozesse begonnen habe. Man könnte den Roman angesichts dieser ästhetischen Faktur nun als einen kritischen Wenderoman lesen, der durch die Beschreibung der Wende nicht vom Schließen und Verheilen, sondern vom Aufreißen von alten und dem Erzeugen neuer Wunden erzähle. Aber eine solche Lesart ginge an der Poesiologie des Textes vorbei. Denn was in Nox vorgeführt wird, ist das wörtlich Nehmen der Metaphern des öffentlichen und/oder politischen Diskurses, und damit eines Diskurses, der sich selbst als referentiell und faktual inszeniert, um dessen Referentialität man aber fürchten muss. In diesem Sinne verweisen die Motive und Metaphern in Nox auf nichts in der Realität, sie sind keine sprachlichen Zeichen, die referentiell oder medial-relational auf eine irgendwie geartete Wirklichkeit verweisen würden, sie verweisen auf nichts anderes als auf andere Sprachbilder. Die Narben und Wunden, die in Nox zur Sprache kommen, sind damit nichts anderes als eine Spur, wie sie Jacques Derridas in Grammatologie versteht, sind

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als »Spur das Bild eines erodierten, verschliffenen, bald verblichenen und vergessenen Signifikanten« (Derrida [1968] 1983). Erzählinstanz wie »Autor-Subjekt« lösen sich damit »buchstäblich auf in die Materialität der Zeichen« (Deupmann 2003, 198). Alles in allem führen die Bildsprachlichkeit wie die heterogenen Textebenen in Nox dazu, dass der Text die Grenzen zwischen Fiktionalität und Faktualität erkennbar verunklart (vgl. generell zur postmodernen Poetik in Nox Deupmann 2003; Horstkotte 2018). Der Text präsentiert dadurch seine eigene »Textur« (Baßler 1994) und organisiert dergestalt ein freies Spiel von Zeichen, die sich zwar lesen, aber nicht deuten lassen (im Sinne von referentialisieren). Der Text verweigert damit auch jegliche erzählerische Autorität, wofür in der oben bereits aufgerufenen Ermordung des Ich-Erzählers ein eindrückliches wie programmatisches Sprachbild steht. Diese prominent am Eingang des Romans platzierte Verweigerung führt uns zu der Frage zurück, die wir einleitend gestellt haben: Aus welcher Perspektive wird solch ein Umbruch eigentlich wahrgenommen und erzählt, bzw. auf den Fall Nox bezogen, wie geht die Literatur damit um, der massenmedialen Bilderflut eine eigene Perspektive entgegenstellen zu müssen, wenn die ästhetische Eigenlogik und der Weltdeutungsanspruch gewahrt bleiben sollen? Wie sich an Nox erkennen lässt, versuchen (zumindest ästhetisch avancierte) Erzähltexte nicht, das Konkurrenzmedium zu kopieren, namentlich gilt dies für die Perspektivwahl, wie sich Deupmann zustimmen lässt: »Eine ›authentische‹ Beobachtung sucht die Erzählung gar nicht erst zu suggerieren; sie geht bereits von einem Apriori der technischen Bilder aus, deren Unhintergehbarkeit für die Apperzeption zeitgeschichtlicher Ereignisse kaum mehr überzeugend bestritten werden kann« (Deupmann 2003, 206). Jeglicher Anspruch auf referentielle Authentizität oder erzählerische Autorität – etwa als das Prinzip, das Erzählte durch Augenzeugenschaft und Autorität beglaubigen und authentifizieren zu können – wird in Nox gleichsam direkt auf der ersten Seite mit dem Schnitt eines Messers wegweisend durchschnitten. Durchschnitten ist damit aber von der ersten Seite an jegliche Möglichkeit einer Referentialität; oder in poststrukturalistischer Diktion gesprochen, das, was uns erzählt wird, ist nichts anderes, als ein Verwesungsprozess eines Körpers, der metonymisch für das Erodieren, Verschleifen und Verbleichen des Signifkanten steht, dem kein Signifikat mehr entspricht (entsprechen kann). Mit dem Tod des Erzählers beginnt in Nox erst das Erzählen, und in diesem Jenseits des Lebens beginnt zugleich (und Jenseits eines im weiteren Sinne ›realistischen‹ Erzählens) die bildästhetische Eigenlogik des Literarischen.

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Geschichtszeichen II: 9/11 Sicher gab es nach dem Mauerfall noch einige historische Ereignisse, die von den Bildmedien ausgiebig ausgeleuchtet wurden, aber erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 war eine weitere Zäsur erreicht. Das history in the making war in diesem Fall noch etwas gravierender und unmittelbarer als bei seinem ›Vorläufer‹, da viele Fernsehzuschauer beim Einstürzen der beiden Türme sogar live mit dabei waren, ja der erste Einschlag zielte – in Stockhausens Lesart als große Symbolpolitik – wohl nur darauf, die Zuschauer vor die Bildschirme zu holen, damit sie live beim zweiten dabei sein würden. Das löste einerseits den Rezeptionseffekt aus, dass man sich in dieses Umbruchsereignis persönlich involviert fühlte. Die live-Übermittlung der Ereignisse führte zudem andererseits zu einer zumindest anfangs noch unstrukturierten Berichterstattung, man erinnere sich etwa an den sich immer wieder verhaspelnden Ulrich Wickert. Die Berichterstattung war nicht auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, war nicht professionell durchgestaltet, ja redaktionell kaum aufbereitet – und konnte es ob der Plötzlichkeit der Ereignisse ja auch nicht sein. Die Bilder erzeugten damit den Eindruck, dass man das Geschehen ungefiltert und unbearbeitet, eben so, wie es gerade passierte, gesehen hat. Dass für die journalistischen und narrativen Grundaktionen Selektion, Perspektivierung und Arrangement aufgrund der Unmittelbarkeit der Live-Bilder keine Zeit blieb, schien für einen Moment eine referentielle Authentizität oder doch zumindest eine unmittelbar wirkende medial-relationale Authentizität in einer eigentlich von einem postmodern informierten Medienbegriff geprägten Welt möglich zu machen – wobei dies erneut nur den durch die Form erzeugten Rezeptionseffekt beschreibt, selbstredend waren die Einstellungen immer ausgewählt und perspektiviert. Wie nachhaltig auch noch Jahre später dieser Rezeptionseffekt wirkte, zeigt ja die bereits zitierte Hypothese, dass »the attacks seemed to be authentic in a way, postmodernism denied«.8 Demgegenüber lässt sich die von der Live-Berichterstattung erzeugte »maximale Annäherung (›Evidenz‹) und Distanzierung zugleich« mit Deupmann als eine »Äquidistanz« fassen, da die vermeintlichen Augenzeugen vor Ort kaum mehr wussten als die Zuschauer, die sich gleichzeitig vor den Bildschirmen befanden: »Die technischen Medien haben« auf diese Art und Weise »die authentische Augen- und Ohrenzeugenschaft deprivilegiert« (Deupmann 2008, 17). Augenzeugenschaft garantierte damit nicht das, was es für gewöhnlich immer garantiert, nämlich Autorität und Authentizität, zu groß war einfach die Nähe zu 8 Solche Rezeptionseffekte des Authentischen, die durch eine ästhetische Differenz zur sonst üblichen massenmedialen Berichterstattung entsteht, lässt sich mit Christians Huck als ein »falscher Umkehrschluss« bezeichnen (Huck 2012).

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einem vollkommen unüberschaubaren Großereignis, Kathrin Rögglas und Else Buschheuers Tagebücher sind eindrückliche Belege dafür (vgl. Deupmann 2008, 18). Die vermeintliche Authentizität der Live-Berichterstattung war aber nicht weniger prekär, noch gesteigert dadurch, dass die Berichterstattung sich zusehends, wie Laura Frost am Beispiel der »Falling Bodies« zeigt, vom Ereignis selbst weg hin zu »showing footage of bystanders reaction to the falling people« (Frost 2008, 186) bewegte, mithin die Fernsehzuschauer in ihrer vermeintlichen Augenzeugenschaft in Wirklichkeit kaum je mehr als Beobachter zweiter Ordnung waren. Wollte sich Literatur in Medienkonkurrenz zu diesem realgeschichtlichen Ereignis stellen, muss sie sich also schon immer damit auseinandersetzen, hinter dem ›Ereignis‹ und dem ›Bildereignis‹ stets nur die Beobachterposition dritter Ordnung einzunehmen. Die äquidistanzielle Spannung zwischen ›maximaler Annäherung‹ und ästhetizistischer Distanzierung zugleich lässt sich vielleicht am eindrücklichsten am »Falling Man« bzw. den »Falling Bodies« und ihren zahlreichen künstlerischen Verarbeitungen veranschaulichen. Mit »Falling Man« ist eine berühmte Fotografie von Richard Drew gemeint, die am 12. September in zahlreichen amerikanischen Zeitungen abgedruckt wurde, mit »Falling Bodies« wiederum die Videoaufzeichnungen von Menschen, die aus Verzweiflung von den Twin Towers in den sicheren Tod sprangen. Letztere wurden von den TV-Anstalten schnell aus dem ›Loop‹ herausgenommen und von Bildern »showing footage of bystanders reacting to the falling people«, wie bereits zitiert, ersetzt, da viele Zuschauer die Aufnahmen als zu verstörend und sogar als traumatisierend empfanden, zumal dies die einzigen und »most visible victims« der gesamten Terroranschläge waren (vgl. Frost 2008, 180–186). Sobald man diese Bilder wiederum als Erklärung für die Anschläge generell wie als Beweis für ein persönliches Schicksal einer bestimmten Person heranziehen will, sie also referentiell lesen möchte, erkennt man eigentlich nur, dass man außer der Unschärfe nichts erkennt.9 Die Verzerrung des realen Ereignisses im ›Dauer-Loop‹ der Bildschleifen ebenso wie diese Unschärfe führen letztlich zum Rezeptionseffekt, dass, mit Baudrillard gesprochen, mit und durch diese Bilder das ›Ereignis‹ selbst »konsumiert« wurde und hinter dem »Bild-Ereignis« unsichtbar wurde. Bemerkenswert sind daher die Fülle an künstlerischen, gerade auch literarischen Reaktionen und Verarbeitungen, die die Bilder von den Falling Bodies evoziert haben, vielleicht gerade auch, weil sie aus dem ›Loop‹ herausgenommen 9 Bezeichnend diesbezüglich waren in den USA die Diskussionen darüber, was und wen die Bilder wirklich zeigen, etwa ob diese Sprünge im juristischen Sinne als Selbstmorde oder doch als Morde zu werten sind (was für christliche, besonders katholische Angehörige der Opfer keine Kleinigkeit war) oder im forensischen Sinne, welche Personen auf den Bildern zu sehen waren; mit übrigens fast immer indifferenten Ergebnissen (vgl. Frost 2008).

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wurden und mit ihnen – erneut in Sicht auf den Rezeptionseffekt perspektiviert – somit das Versprechen entstand, etwas über 9/11 erfahren zu können, was die massenmediale Bilderflut nicht (mehr) zeigen wollte oder konnte. Mit Tom Junods Essay The Falling Men (2003), Frederic Beigbeders Windows on the World (2003), Hugh Nissensons Days of Awe (2005), Deborah Eisenbergs Twilight of the Superheroes (2006), Art Spiegelmans In the Shadow of No Towers (2004) und Don DeLillos Falling Man (2007) ist nur eine geringe Auswahl solcher ästhetischen Bearbeitungen der Falling-Bodies-Bilder genannt. Diesen Bearbeitungen ist bezeichnenderweise gemein, dass sie den konkreten Beschreibungen der medial ja bereits überzeichneten Anschläge aus dem Weg gehen, und damit sowohl dem ›Ereignis‹ selbst als auch dem ›Bildereignis‹ aus dem Weg gehen. Auf einen ersten Blick könnten man nun kurzschließen, dass das Versprechen, das mit den Falling Bodies einherzugehen schien, die der Differenz (und hierdurch mithin: die der Authentizität) zu den Loop-Bildern des ›Bildereignisses‹ zu sein schien, sprich, dass in diesen Bildern zumindest die Möglichkeit einer Referentialität auf das ›Ereignis‹ sich anzudeuten vermochte. Doch geht mit diesen literarischen Verarbeitungen der Falling-Bodies-Bilder nicht die Sehnsucht nach einer neuen (oder zurückgekehrten) Authentizität einher, sondern vielmehr erneut die Selbstbehauptung einer literarischen Bildästhetik und Eigenlogik, etwas ›zeigen‹ und erzählen zu können, was die mediale Bilderflut nicht (mehr) zeigt. Innerhalb dieses breiteren literarischen Spektrums hat Jonathan Foers Roman Extremely Loud and Incredibly Close (2005) international (und gerade auch in der Forschung) sicherlich am meisten Aufmerksamkeit erfahren. Im Zentrum des Romans steht der 9-jährige Ich-Erzähler Oskar, der aus kindlicher Perspektive und unter anderem anhand von Bildersequenzen der Falling Bodies, die er sich in obskuren Internetforen ansehen muss, weil sie aus der Loop-Bilderflut rund um 9/11 herausgenommen wurden, versucht herauszufinden, wie sein Vater am 11. September ums Leben kam – und das »how« ist zentral in dieser Geschichte und für Oskar. Mit seiner Recherche versucht er das Trauma zu verarbeiten, dass er beim letzten Anruf des Vaters aus dem kurz danach einstürzenden Tower wie versteinert vor dem Telefon stehen blieb und nicht wagte, den Hörer abzunehmen. Im Roman wird die Eigenlogik des Literarischen unter anderem durch eine ausgeprägt metadiskursive Arbeit mit der Materialität des Textes und der eingebauten Bilder ausgestellt, etwa durch die Verteilung einzelner Worte im Raum der Textseite, durch farbige Textanmerkungen oder darin, dass an einer Stelle über viele Seiten hinweg der Text zunehmend enger gedruckt wird, bis er zur Unleserlichkeit zusammenrückt und schließlich ein schwarzer Block entsteht, was man als »Void«, einer für die Traumadarstellung typischen Leerstelle (vgl. Assmann 1999, 258–264; Frost 2008), lesen kann. In seiner ausgestellten Materialität gewinnt der Text in der Rezeption eine Haptik, die der auf »sinnliches

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Erleben ausgerichtete[n] Bewältigungspraxis« (Irsigler und Jürgensen 2011) Oskars entspricht. Die Auseinandersetzung mit Bildern und Fotografien dient einerseits dazu, das durch die Dauerwiederholung des massenmedialen ›Loop‹ verstärkte Trauma zu bewältigen: »It took me a long time, I don’t know how long, minutes, hours, my heart got tired, […] the same images over and over, as if the world itself were repeating« (Foer 2005, 272). In der Auseinandersetzung mit den FallingBodies-Bildern wiederum versucht Oskar, dieser Dauerwiederholung die Singularität des einen zu identifizierenden Körpers entgegensetzen, in der Hoffnung, in einem der fallenden Körper seinen Vater identifizieren zu können. Doch Sicherheit über den Verbleib seines Vaters, sprich Referentialität, stellt sich nicht ein, ja der Roman erzählt gerade von ihrer Unmöglichkeit – und vermag hierdurch als Rezeptionseffekt auf viele Leser*innen wiederum meta-diskursiv authentisch zu wirken. Denn je mehr Oskar versucht, etwas über die letzten Minuten seines Vaters aus den Bildern der Falling Bodies herauszulesen, desto mehr er versucht, abschließende Erklärungen zu finden, etwa indem er die Bilder eines Falling Man immer weiter vergrößert, desto undeutlicher und unklarer wird ›das Bild‹ nur: »I started thinking about the pixels in the image of the falling body, and how the closer you looked, the less you could see« (Foer 2005, 293). Die Unschärfe eröffnet zugleich überhaupt erst die Möglichkeit für Oskar, seinen Vater in eine der fallenden Personen zu projizieren: »I printed out the frames […] and examined them extremely closely. There’s a body that could be him. […] But I know I probably can’t [see glasses]. It’s just me wanting to be him« (Foer 2005, 257). In Oskars Traumaverarbeitung sind somit gar nicht so sehr die Falling Bodies als (vermeintlich referentieller) Verweis auf das ›Ereignis‹ oder als bildästhetischer Verweis auf das ›Bildereignis‹, dem er detektivisch und bildhermeneutisch nachspüren könnte, von Bedeutung. Entscheidender ist die Unschärfe der Bilder als Auslöser seiner Projektionen und damit als bedeutsamer Motor seiner Erinnerungsarbeit. Joachim Paech hat die Unschärfe auf fotochemisch produzierten Bildern in Fortführung von Barthes’ »punctum« (aus Die helle Kammer, [1980] 1989) und Derridas Spur-Begriff als »sichtbare Spur dessen« bezeichnet, »was fotografisch unsichtbar bleiben musste«. Die Unschärfe symbolisiere demnach »den (mentalen) Vorgang des Erinnerns«, sie sei »ein Bild der Erinnerung durch die Anwesenheit (unscharfe Spur) der Abwesenheit von etwas Dagewesenem« und könne so zu einer »Figur des Erinnerns« werden (Paech 2008, 358 und 350–351). Noch bedeutsamer, als sie eh schon erscheint, wird von hier aus die berühmte Schlussszene des Romans, in der es heißt: Finally, I found the pictures of the falling body. Was it Dad?

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Maybe. Whoever it was, it was somebody. I ripped the pages out of the book. I reversed the order, so the last one was first, and the first one was last. When I flipped through them, it looked like the man was floating up through the sky (Foer 2005, 325)

Was folgt sind 15 seitenfüllende Aufnahmen, in denen sich ein fallender Körper vom unteren bis zum oberen Bildrand bewegt, so dass er beim Durchblättern eine Bewegung in den Himmel vollführt. Oskar imaginiert noch weiter, dass, wenn er noch mehr solcher Bilder hätte, er seinen Vater sogar wieder zurück ins Gebäude und die Flugzeuge aus dem Gebäude wieder heraus fliegen lassen könnte: »We would have been safe« (Foer 2005, 326), lautet der letzte Satz. Der Romantext endet damit mit einem Konjunktiv, was in Sicht auf das dann folgende Daumenkino umso bedeutsamer ist: Mit diesem Daumenkino als Teil seiner Traumaverarbeitung imaginiert Oskar nicht nur, die Zeit umdrehen und seinen Vater wieder lebendig machen zu können, vor allem durchbricht er damit die Dauerwiederholung des ›Loop‹ und stellt diesen gleichsam auf den Kopf. Mehr noch, er stellt dem ›Ereignis‹ wie dem ›Bildereignis‹ die Memorialmacht der Literatur entgegen, ist das Durchblättern der Seiten im Daumenkino doch eine im Kern literarische Tätigkeit. Betont wird die Memorialmacht der Literatur auch darin, dass Oskar im Blättern und im Erzählen darüber aus dem vorgefundenen Bildmaterial eine ganz eigene ›Realität‹ erzeugen kann (in der der fallende Mann eben in den Himmel fliegen kann), die Literatur damit dem massenmedialen ›Bildereignis‹ ein ganz eigenlogisches, literarisches ›Bildereignis‹ entgegenstellen kann.

Was seitdem geschah: Ein kurzer Schluss zur langen Nachgeschichte Seit 9/11 hat es kein historisches Ereignis mehr gegeben, das von einer vergleichbaren bildmedialen Wucht überzeichnet war. Und überraschenderweise scheint zudem das Bewusstsein – man könnte auch sagen: die Wahrnehmung als epochale Zäsur –, die weiterhin einer fortlaufenden literarischen Verarbeitung bedürfe, seitdem laufend abzunehmen. Die Produktion von 9/11-Novels hat in den letzten Jahren erkennbar abgenommen,10 was umso erstaunlicher ist, wenn 10 Wobei in diesem Zusammenhang zu fragen ist, ob die Verarbeitungen sich nicht vielmehr verlagert haben, da in jüngeren Narrationen 9/11 eher Voraussetzung für den erzählten Weltentwurf ist und das Geschichtszeichen somit am Rande immer mit auftaucht. Vgl. zu unmittelbareren Verarbeitungen von 9/11 auch den Beitrag von Vanessa Ossa in diesem Band.

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man im Vergleich dazu Mauerfall und Wende heranzieht, die unverändert weitere literarische Verarbeitungen evoziert, jüngst etwa Gunter Vespers Frohburg (2017), Lutz Seilers Stern 111 (2020) und Ingo Schulzes Die rechtschaffenen Mörder (2020) (wobei die Wendeanpassung der ostdeutschen Kultur natürlich auch noch ein nicht abgeschlossener Prozess ist). Da es keine vergleichbaren Umbrüche mehr gegeben hat, ist naturgemäß schwer vorherzusagen, wie zukünftige ästhetische Antworten auf singulär anmutende historische Ereignisse aussehen werden. Aber um die eingangs gestellten Fragen nach dem ob, wer und wie noch einmal in etwas anderer Akzentuierung aufzugreifen: Die Finanzkrise, die sog. ›Flüchtlingswelle 2015‹ und zuletzt natürlich die Corona-Pandemie wurden im öffentlichen Diskurs als große Favoriten für weitere epochale Umbrüche diskutiert, als vollgültige ›Nachfolger‹ von 9/11 konnten die ersten beiden aber nicht einmal vergleichbar reüssieren, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die Literatur kaum mehr als ein mittelgroßes Interesse an Auseinandersetzungen damit gefunden hat. Beide Umbruchskandidaten kann man auch als Gradmesser dafür heranziehen, wie Bilder wirken und wie wichtig es für die Wahrnehmung eines Ereignisses als Umbruch ist, dass man ikonische Bilder davon hat. Gerade der Finanzkrise fehlt es aber an solchen Bildikonen. Das historische wie ästhetische Urteil über die CoronaPandemie steht demgegenüber natürlich erst noch aus, um das zu beurteilen, sollte man besser wenigstens ein halbes Jahrzehnt vergehen lassen, also die üblichen fünf Jahre, die Prosa für gewöhnlich für ästhetisch anspruchsvolle Antworten auf Umbrüche zu brauchen scheint. Die weiteren bildästhetischen Nachwirkungen ever since 9/11 lassen sich grob in die Geschichte von einer großen Hoffnung und einer umso tieferen Ernüchterung fassen. So schien massenmediale Manipulation im Zusammenhang mit den Terroranschlägen zumindest momenthaft deshalb ausschließbar, weil, so der diesbezügliche Rezeptionseffekt, die Terrorattacke nicht nur live, sondern auch ubiquitär d. h. von und mit hunderten Kameras abgelichtet worden war. Die Hoffnung war also technik- und medienbegründet, bzw. mit den Rezeptionsweisen, die diese hervorgebracht hat. Momenthaft schien, hier die weitere Entwicklung nur sehr grob skizzierend, mit der Vernetzung der Welt und der Ausbreitung des Internets, mit der Digitalisierung der Fotografie sowie massenhaften Verbreitung digitaler Kameras, nochmals gesteigert durch die beginnende Smartphonisierung der Welt seit dem Ende der Nuller Jahre, die Möglichkeit einer Demokratisierung einherzugehen, die mediale Mulitperspektivität barg zumindest momenthaft das Versprechen an eine Dezentralisierung der Machtdiskurse.11 Irans sog. Twitter-Revolution 2009 11 Mit Sascha Simons: »Die Legitimierung über Masse, Multiperspektivität und Partizipation an einem dynamischen Text bzw. stream übernehmen authentifizierende Funktionen, die

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sowie der Arabische Frühling sind Folgen dieses Versprechens, ihr jeweiliges Scheitern wiederum sind Belege dafür, dass das Versprechen ein falsches war. Was seit 2001 und dem 11. September als bildästhetischer und bildmedialer (Rezeptions-)Umbruch stattdessen eher zu erkennen ist, ist ein zunehmendes Misstrauen Bildern und massenmedialer Informationsvermittlung gegenüber. Doch diese Entwicklung ist weniger getrieben von einem Einzelereignis als vielmehr befeuert von technischen Entwicklungen, sie ist daher weniger Zäsur als Prozess, sprich ein Umbruch, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Mit den technischen Entwicklungen sind hier freilich die sog. ›Sozialen‹ Medien gemeint, die mit ihren share-Funktionen exponentielle Reproduktionen von Inhalten und dadurch wiederum geschlossene Kommunikationsforen (Filter Bubbles) erzeugen. Mit zunehmender Geschwindigkeit reagiert ›das Netz‹ inzwischen auf große Ereignisse mit Gegenerzählungen, die nur allzu oft die Form von Verschwörungserzählungen annehmen. Während das sogenannte Truth Movement sich zwar zeitnah, aber im Vergleich zu heutigen Dimensionen doch unfassbar langsam als Bewegung etablierte, die ersten Bücher, die die Anschläge als ›inside job‹ beschreiben, erst gut ein Jahr später und die erste Version von Loose Change von Dylan Avery etwa erst 2005 erschien, entwickeln sich vergleichbare Reaktionen inzwischen ungleich schneller und quantitativ ungleich vielzähliger. Wieder einmal wird für diese Entwicklungen rund um Fake News und Postfaktizität ›die Postmoderne‹ verantwortlich gemacht (etwa von Hampe 2016; Stöcker 2017), konkret wird das Misstrauen gegenüber der Faktualität journalistischer Berichterstattung und wissenschaftlicher Wissensgewinnung dann mit der postmodernen Dekonstruktion des Zeichenbegriffes in der Folge poststrukturalistischer Theoriebildung in Zusammenhang gebracht (vgl. in kritischer Distanz dazu Bauer 2017). Und wieder einmal werden in dieser Diagnose die geschichtsteleologischen und typologischen Dreierstrukturen verwechselt. So ist etwa eine ausgeprägte Strukturanalogie zwischen der ›naiven‹ Sehnsucht nach einer möglichen Rückkehr zur referentiellen Authentizität und Verschwörungserzählungen, aktuellem Populismus und Fake News zu erkennen (vgl. Weixler 2021). Die Sehnsucht nach referentieller Authentizität führt somit dazu, den einfachen und komplexitätsreduzierenden Erklärangeboten von Verschwörungserzählungen eher zu glauben, als den komplexitätsproduzierenden oder -reflektierenden Diskursstrategien des Journalismus oder der Wissenschaft. Ebenso bedingt die ›naive‹ Sehnsucht nach Referentialität ein Misstrauen gegenüber ästhetischen Verarbeitungen von historischen Ereignissen, die die Medialität der Zeichenträger postmodern reflektiert und damit auch hier traditionell durch verlässliche Erzählinstanzen und ein fixiertes Verhältnis[ ] von discours und histoire gewährleistet worden sind« (Simons 2021, 313).

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dem einfachen Verstehen und Erklären komplexitätssteigernde (und gegebenenfalls dann aber meta-authentische) Erklärangebote liefert, oder, noch schlimmer, die Eigenlogik des Literarischen selbstreflexiv und (zum Teil) metaauthentisch ausstellt. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr in oder einer Renaissance von vor-postmodernen Zeiten sowie zurück zur referentiellen Authentizität macht damit anfällig für die manipulativen Erzählstrategien von Verschwörungstheoretikern oder Populisten. Kritiken an der Postmoderne, die sich in der Form eines triadischen Geschichtsmodelles äußern und eine Rückkehr zu einem irgendwie verstandenen Ideal ersehnen, sollte also generell misstraut werden. Wenn es um die Postmoderne oder Authentizität geht, gibt es kein zurück, denn: »Keine Atempause / Geschichte wird gemacht / Es geht voran«.

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»The Closer You Looked, the Less You Could See.«

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Scherer, Marie-Luise. »Die Hundegrenze«, Der Spiegel 6/1994. https://www.spiegel.de/poli tik/die-hundegrenze-a-98cc6929-0002-0001-0000-000013684223?context=issue (1. August 2021). Schilling, Erik. Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München: C.H. Beck, 2020. Schivelbusch, Wolfgang. Die Kultur der Niederlage: Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Reinbek: Rowohlt, 2012. Seidler, John David. Die Verschwörung der Massenmedien: Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld: Transcript, 2016. Stöcker, Christian. »Was heißt ›links‹ eigentlich noch?« Der Spiegel, 4. April 2017. https:// www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ideologien-was-heisst-das-eigentlich-noch-links -kolumne-a-1141372.html (1. August 2021). Weixler, Antonius. »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt.« Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Hg. Ders. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 1–32. Weixler, Antonius. »Bausteine des Erzählens«. Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. Matías Martínez. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2017, 7–21. Weixler, Antonius. »Make Control Great Again. Die narrative Konstruktion ›eingeweihten Wissens‹ in Verschwörungserzählungen«. Postfaktisches Erzählen? Post-Truth – Fake News – Narration. Hg. Antonius Weixler et al., Berlin/Boston: De Gruyter 2021, 119– 148. Wirth, Uwe. Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Frankfurt a. M.: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, 2013.

II. Umbrüche national erinnern

Dorna Safaian

1979 oder eine Revolution ohne Ende. Über die Bilder des Umbruchs in der iranischen Staatspropaganda

1.

Einleitung

Am 16. Januar 1979 erklärte der Schah von Persien Mohammad Reza Pahlavi am Flughafen von Teheran, er sei müde, und er verlasse daher das Land, um sich zu erholen. Sobald es ihm wieder besser gehe, würde er zurückkehren (Milani 2012, 412). Selbstredend war das nur ein vorgeschobener Grund, in Wirklichkeit floh er vor der Revolution, die seit 1978 die Monarchie erschütterte. 14 Tage später landete am 1. Februar Ruhollah Khomeini dort, wo der Shah abgeflogen war. Khomeini führte den oppositionellen Klerus, der neben der linken und nationalkonstitutionalistischen Opposition (Abrahamian 1982, Kap. 10, 11) für den Sturz des Schahs mobilisierte und die Revolution früh dominierte. Nachdem er 1964 vom Schah verbannt worden war, lebte er erst in der Türkei, dann im Irak und zuletzt in Frankreich, von wo er nach Teheran zurückkehrte mit dem Ziel, die Revolution – wie sich zeigte – in einen ›islamischen Staat‹ (hokumat-e eslami) zu führen. ›Islamischer Staat‹ ist auch der Titel eines Buches von Khomeini aus dem Jahr 1970. Unter dem Shah war die Schrift verboten und auch von den Islamisten wurde hokumant-e eslami zur Revolutionszeit zurückgehalten (Keddie 2003, 240). Jahrelang und bis zur Übernahme der staatlichen Führung hatte Khomeini immer wieder erklärt, dass der Klerus keine direkte Macht in einer Regierung übernehmen wolle (Keddie 2003, 240). Doch am 11. Februar wurde im nationalen Radio die Machtübernahme durch die Revolutionäre verkündet, nachdem wenige Stunden zuvor der Oberste Militärrat der iranischen Armee seine Neutralität erklärt hatte (Zabih 2011, 210). Am 1. April 1979 rief Ayatollah Khomeini die islamische Republik Iran aus und wurde ihr Oberhaupt. Reza Pahlavi kehrte nicht wieder zurück, er starb 1980 in Kairo. Jedes Jahr wird in der islamischen Republik Iran an diese Ereignisse zwischen dem 1. und dem 11. Februar 1979 unter dem Titel dahe-ye fajr [zehn Tage der Morgenröte] erinnert, unter anderem mit offiziellen Aufmärschen und Reden. In diesem jährlichen Rhythmus war 2019 ein besonderes Datum, denn der Staat feierte in diesem Jahr nicht nur den ›Sieg der Revolution‹, sondern das 40-jährige

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Bestehen der Islamischen Republik und nahm das zum Anlass, auf verschiedene mediale Art und Weise an die Revolution zu erinnern oder genauer: die revolutionäre Idee zu erneuern. Besonders eindrücklich lässt sich dies an Videos und Bildern auf staatlichen Online-Kanälen erkennen. Diese Kanäle sind – ebenso wie die staatlich gesteuerten Zeitungen und Fernsehsender – Werkzeuge der iranischen Staatspropaganda. Sie sollen – um Thymian Bussemers PropagandaDefinition aufzunehmen – »handlungsrelevante Meinungen und Einstellungen« (2005, 30) erzeugen. Sie ordnen die »Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz« unter und arbeiten mit einem »überhöhten Selbst- und denunzierende[n] Fremdbild« (Bussemer 2005, 30). Ihr Ziel ist es, eine Identifikation mit der islamistischen Staatsideologie und eine Mitwirkung an ihren politischen Projekten zu erzeugen. Die Propaganda appelliert an Loyalität mit dem Staat, den sie mit religiösen Vorstellungen verknüpft. Im Falle Irans sind diese jährlichen Feiern deshalb von herausragender Bedeutung, weil die iranische Revolution in der Staatspropaganda als Quelle der Legitimation islamistischer Herrschaft eine zentrale Rolle spielt. Die Ereignisse der Jahre 1978 und 1979 werden in den medialen Kanälen des Staates dabei visuell dekontextualisiert und neu gedeutet, um im Licht der Revolution Feindbilder, aktuelle politische Maßnahmen und das islamistische Geschlechterbild als natürlich, zwangsläufig und fromm darzustellen. Offizielle Erinnerung im Iran ist stets Geschichtspolitik im Dienst gegenwärtiger Herrschaft. Was das konkret bedeutet, davon kann man sich auf der Homepage des Staatsoberhauptes der islamischen Republik, Seyyed Ali Khamenei, ein Bild machen. Zum 40-jährigen dahe-ye fajr wurden auf der Website khamenei.ir Plakate publiziert (und teilweise auch auf verknüpften Social-Media-Kanälen verbreitet), die Fotografien der Revolutionszeit nutzen oder auf sie referieren und diese zugleich aktualisieren und in neue Kontexte einbetten. Diese Plakate beschäftigen sich vor allem mit drei Themenbereichen: Anti-Amerikanismus, die Rolle der Frau und die ›Permanenz‹ der Revolution. Im vorliegenden Beitrag soll exemplarisch an einer Auswahl von Plakaten analysiert und in den jeweiligen politischen Kontext eingeordnet werden, was 2019 auf khamenei.ir unter den letzten beiden Themen visualisiert und propagiert wurde. Dabei soll gezeigt werden, wie Bilder und ikonische Szenen der Revolution 1979 zur Legitimation des staatlichen Menschenbildes in das ideologische Narrativ einer fortwährenden Revolution eingebettet werden.

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2.

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»Ich bin die Revolution«

Am 6. 11. 1397 im iranischen Kalender (26. Januar 2019), »am Vorabend des 40. Jahrestages des Sieges der islamischen Revolution«, wird auf der Seite khamenei.ir »eine Auswahl ausgewählter [sic] Werke des 5. Festivals der Kunst des Widerstands« (Khamenei 2019a; Übers. D.S.) veröffentlicht. Das Festival wird von der staatlichen ›Stiftung Chroniken des Sieges‹ (bonyad-e ravayat-e fath) organisiert und umfasst verschiedene Sparten, darunter auch ›Plakate und Außenwerbung‹, von denen Khameneis Webseite eine Auswahl vorstellt. Unter den 64 Plakaten – die, der Themenstellung des Festivals entsprechend, die islamische Republik verherrlichen – fällt eines durch den Gebrauch von historischen Revolutionsbildern auf (Abb.1). Es zeigt Menschenmassen, teils Kleriker in Formation, teils zivile Revolutionäre mit Transparenten um den Oberkörper, die wie aus dem schwarzen Hintergrund heraus in das revolutionäre Signalrot des Plakates hineinschreiten und – begleitet von den Friedenstauben – zu erhobenen Fäusten des Protests werden. In der Mitte des Plakates erkennt man eine dicht gedrängte Menschenmasse vor einer Moschee, vielleicht, es lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, zeigt die Szene eine Massendemonstration vor der SchahMoschee (heute Imam-Moschee) im Bazaar von Teheran im Januar 1979, kurz vor der Flucht des Schahs. Ganz oben auf dem Plakat türmen sich Menschentrauben auf Lastwägen. Szenen der Eroberung, wie sie auf vielen iranischen Revolutionsfotografien zu sehen sind. Die Vans sind beklebt mit Bildern von Ayatollah Khomeini. Im entfesselten Durcheinander der Körper gehen seine Konterfeis fast unter. Alles Öffentliche in diesem Plakat ist belagert, erobert: Vans genauso wie Straßen, Plätze und Gebäude. Die Fotografien sind mit einem starken Kontrasteffekt bearbeitet, die die Nuancen des Raumes ausgelöscht haben und das unruhige Flimmern der Masse verstärken. Aus der Masse herausgehoben sind nur zwei Personen: In der Mitte Khomeini, dessen Kopf in einer nachdenklichen Pose auf einem großen Banner zu erkennen ist. Darunter sein Nachfolger Khamenei an der Spitze eines Demonstrationszuges. Das Originalfoto (Abb. 2, Ausschnitt) könnte, folgt man defapress.ir, einer staatlichen Nachrichtenplattform, eine Demonstration in Maschhad um die Monate September oder Oktober 1978 zeigen. Man sieht, wie Khamenei marschiert und dabei eine zugewandte, zuhörende Haltung einnimmt. Laut defapress.ir wurde er in Maschhad von »Märtyrern« begleitet. Das heutige Staatsoberhaupt war also damals ›mit dabei‹, er war Teil der revolutionären Bewegung des Volkes. Er hat, so die Botschaft, im Kreis von Frommen und Opferbereiten gekämpft. Die Pointe dieses Plakates besteht darin, dass diese revolutionären Szenen in einen Schriftzug eingefasst sind, der sie in eine andere Zeit versetzt. Die Fäuste und Tauben bilden Buchstaben, die zusammen gelesen die Worte Man enqelabiam [Ich bin revolutionär] ergeben. Die Vergangenheit ist also jetzt, die Aufmärsche von damals

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sind gegenwärtig. Ein Revolutionär zu sein, ist nicht an das historische Ereignis geknüpft: der vor 40 Jahren revolutionär auftretende Khamenei ist es heute noch.

Abb. 1: Plakat aus dem »5. Festival der Kunst des Widerstands«.

3.

»Die fortdauernde Revolution«

Die islamische Republik Iran ist eine 12er-schiitische Theokratie. Sie basiert auf dem von Khomeini begründeten und in der Verfassung verankerten Staatskonzept velayat-e faqih [Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten], die nach der Revolution im Jahr 1979 installiert wurde. Nach Artikel 5 der Verfassung der islamischen Republik Iran wäre das Oberhaupt der Republik der 12. Imam der Schiiten (Islamic Parliament of Iran, o. J.). Solange dieser sich in der Verborgenheit befindet, führt ein schiitischer Rechtgelehrter (faqih) als Stellvertreter

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Abb. 2: Khamenei bei einer Demonstration 1978.

den Oberbefehl über die Streitkräfte und die Führung der muslimischen Gemeinschaft (Islamic Parliament of Iran, o. J.). In der Nachfolge Ruhollah Khomeinis ist das seit 1989 Seyyed Ali Khamenei. Beide werden auch als ›Revolutionsführer‹ (rahbar-e enqelab) bezeichnet. Bereits dieser Titel zeigt an, dass Revolution nicht als historisches Ereignis, sondern als fortwährender Prozess verstanden wird, der durch eine geistliche, durch Gott legitimierte Führung gesteuert wird. Am 19. 11. 1397 (8. Februar 2019) veröffentlichte khamenei.ir zum 40. Jubiläum der Revolution eine, so der Beitragstext, »Anerkennungstafel« (Khamenei 2019d; Übers. D.S.) unter dem Titel »Die fortdauernde Revolution« (enqelab-e mostamar; Übers. D.S.) (Abb. 3). Sie verdeutlicht, wie die Staatselite der islamischen Republik die Zeitlichkeit der Revolution auslegt und historisch einordnet. Das Bild zeigt Briefmarken auf einer Holztafel, d. h. Gebrauchsbilder, die auch als Medien politischer Selbstdarstellung und Herrschaftslegitimation zu lesen sind (Smolarski et al. 2019, Kap. 3). Ungeordnet und vergilbt, teilweise an der Oberfläche beschädigt, angerissen und an den Rändern zerfranst, liegen hier lose verstreute Marken, die Persönlichkeiten und Ereignisse der Geschichte zeigen: Napoleon Bonaparte, Joseph Stalin, Ahmed Ben Bella, Salvador Allende, auch der amerikanische Sezessionskrieg von 1861–1865 ist vertreten. Was sie verbindet, ist, dass sie mit historischen Umbrüchen, Revolutionen sowie Putschen assoziiert werden. Die angegebenen Datierungen konkretisieren das teilweise. Gegen Salvador Allende, dessen Marke als monqazi shod [abgelaufen] abgestempelt ist, wurde z. B. 1973 geputscht. Auch das Konterfei des Revolutionärs Joseph Stalins,

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Abb. 3: Plakat »Die fortdauernde Revolution« (enqelab-e mostamar).

versehen mit dem Datum 1962 – der Zeit der Kubakrise, einem Höhepunkt des Kalten Krieges –, ist als expired markiert. Die Botschaft dieser Darstellung ist jedenfalls eindeutig: Diese Personen und Ereignisse sind nicht mehr relevant, sie sind buchstäblich abgestempelt. Von diesem ungeordneten Stapel alter Briefmarken setzen sich oben im Bild zwei ab (Abb. 4, Ausschnitt). Im Gegensatz zu den anderen Marken sind sie von der Zeit kaum gezeichnet – nur der Rand des hinteren ist stärker vergilbt –, außerdem liegen sie vertikal, als wären sie bewusst aussortiert und angeordnet worden. Flankiert vom Allah-Emblem der Flagge der islamischen Republik Irans und der Jahreszahl 1357 (1979) sieht man auf der hinteren Marke Menschen vor dem borj-e shahyad [Schah-Denkmal], vor dem es in der Revolutionszeit zu Massendemonstrationen kam. Ein machtsymbolisch sensibler Ort: Denn der Turm wurde von Schah Reza Pahlavi für die 2500-Jahr-Feier der iranischen Monarchie

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1971 in Auftrag gegeben. Politisch ein Symbol für Irans »pre-Islamic imperial grandeur« (Milani 2012, 353), wurde er von den Islamisten nach 1979 zu borj-e azadi [Turm der Freiheit] umbenannt und damit zum Symbolort des historischen Umbruchs umgedeutet – wie auf dieser Briefmarke, wo aus seinem Zentrum Befreiungsstrahlen in den Farben der iranischen Flagge ausgehen. Die Briefmarke stellt diesen Machtwechsel szenisch dar: Die Menschengruppe rechts ist ein spiegelverkehrtes Bildzitat eines AP-Fotos vom 19. Januar 1979 (Abb. 5). Es zeigt eine Demonstrationsszene vor dem shahyad-Turm, wo gegen die Zivilregierung des Shahpour Bakhtiar protestiert wurde, die der Schah in der Hoffnung eingesetzt hatte, die Proteste zu beruhigen (Kurzman 2004, 144). Links steht eine Gruppe von jubelnden Männern. Einer hält eine Zeitung hoch, auf der man die ersten Buchstaben des Titels »Imam« lesen kann, ein geistlicher Titel Ruhollah Khomeinis. Vorne sitzen zwei Männer auf einem Fahrrad, der eine am Lenker, der andere auf dem Träger hält eine Zeitung hoch, auf der steht: »Der Shah ist gegangen« (shah raft). Auch das ist ein Bildzitat einer Fotografie (Abb. 6), deren Urheberschaft zwar nicht geklärt werden kann, dafür aber die ungefähre Datierung des Entstehungsdatums. Bei der Zeitung im Bild handelt es sich nämlich um die Tageszeitung Ettelaat vom 16. Januar 1979, jenem Tag, als Reza Pahlavi mit seiner Familie ins Exil nach Ägypten ging. Auf dem Plakat wird das Referenzfoto umgedeutet: Die Nachricht vom Abgang des Schahs wird im historischen Vorausgriff zum Sieg der Islamisten erklärt. Und statt vor einem Auto, fahren die Männer auf dem Fahrrad mit dem pathetischen Schwung der Flagge der Islamischen Republik im Rücken, gefilmt von einem Kameramann aus dem rechten Bildzitat, der die Wichtigkeit dieses Ereignisses dokumentiert. Die vordere Briefmarke aus dem Jahr 1397 (2019) zeigt Menschen mehrerer Generationen am selben Ort. Die Demonstrationsszene, die wir vor uns sehen, repräsentiert die iranische Gesellschaft 40 Jahre nach der Revolution – eine mobilisierte, aktivistische und dafür bemerkenswerterweise ruhige und friedliche Gesellschaft, ohne jeglichen revolutionären Habitus: kein Rufen, keine erhobene Faust, kaum offene Münder, keine Feinderwähnung. Nur die Repräsentanten der neuen Generation, ein Kind auf den Schultern eines Mannes und Jugendliche, schwenken – wie auf Fotos der offiziellen dahe-ye fajr-Paraden – begeistert die Fahne der Republik und zeigen zu sympathischen Peace-Zeichen Schilder mit der Aufschrift »40« und »Islamische Republik Iran«: alles eher affirmative als widerständige Gesten. Das erstaunt, schließlich lautet der Titel des Plakats »Die fortdauernde Revolution«. Auch das Zitat Khameneis links im Plakat lobt nicht 40 Jahre islamische Republik, sondern den angeblichen Exzeptionalismus der Revolution im Iran: »Die islamische Revolution ist die erste große Revolution der vergangenen Jahrhunderte, die es geschafft hat, ihren rechten [wörtlich: »geraden«, D.S.] Weg und die eingeschlagene Richtung für so lange Zeit einzuhalten; das ist ohne Vergleich« (Übers. D.S.). Die visuelle Ebene

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macht klar, was »rechter Weg« für die Gegenwart heißen soll: Revolution ist zelebrierte Systemtreue. Die revolutionäre Gesellschaft ist heute habituell nichtrevolutionär; sie feiert den Status Quo und geht in Begeisterung für die islamische Republik festlich, aber ruhig und geschlossen in die Zukunft – begleitet von technischem Erfolg, symbolisiert in der fajr-Satellitenrakete links im Bild; angeleitet von dem Wahlspruch »Unabhängigkeit, Freiheit« (esteqlal, azadi), den an der Spitze des linken Menschenzugs eine Frau voranträgt – eine Person aus dem Volk (mardom). Das ist insofern bemerkenswert, als auf den ›abgelaufenen‹ Briefmarken das Volk nicht repräsentiert ist. Jene als folgenlos dargestellten historischen Umbrüche sind überwiegend von ›oben‹, d. h. von einzelnen Männern dominiert: nach dem Algerienkrieg von Ahmed Ben Bella; von Napoleon nach der französischen Revolution; von Stalin nach der Oktoberrevolution. Für die Revolution im Iran präsentiert die Tafel ein gegenteiliges Bild. Als ihre Träger werden nicht politische Akteure bzw. schiitische Kleriker gezeigt – die faktischen Organisatoren der islamistischen Opposition zur Schah-Zeit –, sondern nur mardom, das Volk. Das erfolgreiche islamistische System sei, so die Botschaft, getragen von der Willensbekundung des Volkes im Jahr 1979 und damit, um einen Begriff Khameneis zu gebrauchen, eine »Volksherrschaft« (hokumat-e mardomi, Khamenei 2019c). Da die Legitimation politischer Prozesse im Iran nicht durch freie Wahlen erfolgt (Thaler et al. 2010, Kap. 3) und zudem religiös begründet ist, nutzt die staatliche Kommunikation solche Revolutionsbilder als ›Beweis‹ und immer wieder neu aktualisierte Legitimierung durch den islamistischen Volkswillen. Liest man Khameinis Rede zum 40. Jahrestag der Revolution vom 11. Februar 2019, kann man die visuelle Aktualisierung der Revolution in den breiteren politischen und ideologischen Kontext einordnen, in dem das »new revolutionary paradigm« (Thaler et al. 2010, 13) eine zentrale Rolle spielt, d. h. die Vorstellung eines anti-westlichen, durch die USA viktimisierten Iran, das wie in den Jahren 1978 und 1979 moqavamat [Widerstand] gegen zolm [Ungerechtigkeit] leisten und diesen revolutionären Befreiungskampf in andere Länder exportieren müsse (Thaler et al. 2010, 13–19). Schon im Titel von Khameinis Rede wird die Idee der Prozesshaftigkeit der Revolution angesprochen. Er lautet: »The ›Second Phase of the Revolution‹ Statement addressed to the Iranian nation«1 (Khamenei 2019e). Nach dem einleitenden Lob auf die historische Einzigartigkeit der »islamischen Revolution« spricht Khamenei in seiner Rede das Konzept dieser Phasen an: »Heartfelt salutations to the nation, the generation who initiated and continued [the movement] and the generation that currently steps 1 Hier und im Folgenden wird die englische Übersetzung der Rede von der Seite https:// www.khamenei.ir/ genutzt. Gleiches gilt unten für die Zitate aus der Verfassung der islamischen Republik Iran.

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into the magnificent and global phenomenon of the second forty years!« (Khameini 2019e). Die Idee, dass die Revolution in eine zweite, vierzigjährige Phase eintritt, wird in eine transgenerationale Narration eingebettet, die bei der nachwachsenden Generation Zustimmung und Mitwirkung an der islamistischen Herrschaft schaffen soll. Um diese Phasen-Theorie plausibel zu machen, vitalisiert Khamenei die Revolution, indem er sie mit einem »living and unwavering phenomenon« vergleicht und an den ersten »forty-year jihad« eine zweite Phase für die junge Generation anschließt, die er auffordert: »to start another part of the Great Jihad [selfless endeavor] for building a great Islamic Iran«. Das Projekt der zweiten Phase, das islamistische Herrschaftssystem zu optimieren, umfasst in Khameneis Rede die Bereiche Person (»self-development«), Gesellschaftsentwicklung (»society-processing«) und territoriale Expansion (»civilization-building«) und verlangt den jihad in sieben gesellschaftlichen Bereichen: darunter Wirtschaft (»Economy of Resistance«), Wissenschaft (»scientific Jihad«) und Kampf gegen den westlichen Lebensstil mit einem »comprehensive and intelligent jihad«. Darüber hinaus ruft er die Jugend dazu auf, sich feindlicher Propaganda zu widersetzen, die Pessimismus und Hoffnungslosigkeit verbreite: »This is your first and fundamental Jihad to make« (Khamenei 2019e). Auf der 1397erBriefmarke wird dieser Übergang von der ersten zur zweiten Phase als bereits vollzogen und geglückt inszeniert: Die zweite Generation, die 1979 selbst nicht erlebt hat, hat das transgenerationale jihadistische Gesellschaftsprojekt angenommen. In Zukunftsgewissheit und technisch gerüstet, geht sie an der Seite der älteren Generation in die »zweite Phase der Revolution«, um im Dienst der bestehenden Herrschaftsform zu leben und zu arbeiten.

Abb. 4: Ausschnitt des Plakats »Die fortdauernde Revolution« (enqelab-e mostamar).

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Abb. 5: AP Photo/Aristotle Saris: Massendemonstration vor dem shahyad-Turm am 19. Januar 1979.

Abb. 6: Wikimedia Commons: »Shah’s Exit from Iran«.

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4.

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Frauen als »Soldaten in der ersten Reihe«

Dass Frauen auf der Briefmarke der ›zweiten Phase‹ an vorderster Front stehen, ist bezeichnend. Viele Plakate, die zum 40-jährigen Bestehen der Islamischen Republik auf khamenei.ir publiziert werden, stellen Frauen dar. Ihre Rolle ist in der islamischen Republik staatlich definiert. In der Präambel der Verfassung findet man sie unter »Women in the Constitution« folgendermaßen beschrieben: The family is the fundamental unit of society and the principal nucleus for the growth and edification of the human being. […] Such a view of the family unit delivers women from being regarded as objects and tools for the promotion of consumerism and exploitation. Thereby, while she recovers her momentous and precious function of motherhood and of rearing human beings committed to Islamic ideals, she also assumes a pioneering social role as a fellow struggler of man in all vital areas of life, thus shouldering a more serious responsibility and enjoying a higher worth and nobility from the Islamic viewpoint. (Islamic Parliament of Iran, o. J.)

Mutter, Erzieherin, Unterstützerin ihres Ehemannes, so lässt sich dieses Frauenideal zusammenfassen. Wie dieses islamistische Frauenbild, das Artikel 21 der Verfassung konkretisiert, im praktischen Leben aussieht, wird auf Khameneis Internetseite und den verknüpften Social-Media-Kanälen unter dem Logo »Reyhaneh – Frau, Familie und Lebensweise aus Sicht des Revolutionsführers« (reyhaneh – zan, khanevadeh va sabk-e zendegi az negah rahbar-e enqelab) visualisiert. Auf der Instagram-Seite von reyhaneh sind Frauen auch privat verschleiert. Sie kümmern sich um die Küche, die Wäsche und die Kindererziehung im Zeichen des Koran (Abb. 7), preisen das Märtyrertum als Ideal und lauschen unterwürfig Khameneis Vorträgen. In Grafiken, Zeichnungen und Animationen wird ihre Lebenswelt häufig in einer kindlichen, rosa- und pastellfarbenen Atmosphäre dargestellt. In der revolutionären Staatsideologie sind Frauen zwar nicht von der Berufsausübung ausgeschlossen, aber: »the most important job a woman can have is motherhood, wifehood, and being at the center of tranquility and calm in the family«, so Khamenei (Khamenei 2019f). Da Frauen sich vor allem um den privaten Lebensbereich zu kümmern haben, ist es umso beachtenswerter, wenn anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Revolution die Frau als politische Akteurin auf Plakaten in Erscheinung tritt. Beispielhaft seien unter diesen Plakaten einige aus einer Serie herausgegriffen, die am 16. November 1397 (21. Januar 2019) in der Bildergalerie von khamenei.ir veröffentlicht wurde. Ihr Titel lautet: »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« (ba ramz-e ya zahra hamaseh afaridim), gemeint ist das Epos der – ›fortdauernden‹ – Revolution. Fatemeh Zahra ist eine weibliche Heiligenfigur, die in der islamischen Republik als offizielles Frauenideal propagiert wird. Mit den Worten »Oh Zahra« (ya zahra) wird sie bei religiösen

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Abb. 7: Screenshot der Instagram-Seite von reyhaneh, khameini_reyhaneh.

Ritualen oder auch spontan um Beistand angerufen. Sie ist die Tochter des Propheten Mohammed und Ehefrau von Ali ibn-Talib, den die Schiiten als rechtmäßigen Nachfolger des Propheten ansehen. Als Mutter der Imame und Märtyrer Hassan und Hossein wird sie in der islamischen Republik nicht nur als fromme Ehefrau, sondern auch als ideologische Projektionsfolie für die kämpferische und opferbereite Muslimin propagandistisch eingesetzt, zuletzt intensiv zur Zeit des Iran-Irak-Krieges (Shirazi 2010, 122–128). In der vorliegenden Plakatserie tritt der Schriftzug ya zahra [oh Zahra] als Leitmotiv auf jedem Plakat auf. Die Plakatserie beschäftigt sich mit der Funktion der Frau in zentralen Stationen der Geschichte der Islamischen Republik Iran, genauer: bei der Vorbereitung und Durchführung der Revolution, der Pflege und Unterstützung der

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in den Iran-Irak-Krieg eingezogenen Männer und der Trauer um die Märtyrer. Als Individuum tritt die Frau in keinem Plakat in Erscheinung. Weiblichkeit wird in der zarten Form und Aktivität von Händen erkennbar, die überwiegend dienende, pflegende und sorgende Tätigkeiten ausführen, z. B. derangierte Kassettenbänder des »Imam« aufspulen – einem wichtigen Mobilisierungsmedium der islamistischen Opposition (Sreberny-Mohammadi und Mohammadi 1994, 120–121); eine Kompresse für einen verletzten Soldaten befeuchten und einen mit der Nationalflagge und Rosenblättern im Schriftzug ya zahra bestreuten Sarg eines Märtyrers umarmen (Abb. 8). Nur ein Plakat schreibt Frauen eine öffentliche und ereignisprägende Rolle zu. Es ist das zweite in der Serie und zeigt eine Dunkelkammer in Rotlicht (Abb. 9). Aus der Vogelperspektive aufgenommen, sieht man auf ein Fotobecken im Zentrum des Bildes, das behutsam von zwei Frauenhänden gehalten wird. Auf den umliegenden Bildern erkennt man dichte Massen verschleierter Frauen zur Revolutionszeit; zumindest suggeriert der Kontext des Plakates diesen Entstehungskontext. Auf einer Fotografie ist der Eingang der Universität von Teheran sichtbar, einem Ort revolutionärer Proteste. Eine andere zeigt eine Frauenformation, die Transparente mit dem Bild Ruhollah Khomeinis halten. Khomeini ist die einzige Person auf diesem Plakat, die identifizierbar und als Einzelperson abgebildet ist. Die Frauen werden uniform im Kollektiv gezeigt, als »Soldaten in der ersten Reihe der Revolution«, wie es im Khameini-Zitat auf dem Plakat heißt. Das gilt auch für die Fotografien in dem Fotobecken. Dort liegen Fotopapiere in Entwicklerflüssigkeit, auf denen gerade Abbildungen sichtbar werden. Es sind zwei Bilder von verschleierten, demonstrierenden Frauen, die Transparente mit dem Konterfei Khomeinis hochhalten. Wundersam, wie ein sich lüftendes Geheimnis, erscheint auf der ersten Fotografie der Ruf ya zahra im Entwicklungsbad der Revolution. Dass die Revolution den Glauben der Frauen sichtbar gemacht hat, ist eine Interpretation des Umbruchs, die folgendes Zitat des ›Revolutionsführers‹ Khamenei nahelegt: Unsere Revolution hat alle falschen Vorstellungen über die iranische Muslimin entkräftet und wir haben gesehen, dass unsere Frauen die Soldaten in der ersten Reihe der Revolution waren. Wären die Frauen nicht mit der Revolution einig gewesen und hätten sie die Revolution weder akzeptiert noch an sie geglaubt, wäre die Revolution mit Sicherheit nicht Wirklichkeit geworden. Wären sie nicht gewesen, hätte die Hälfte der Revolutionäre auf den Plätzen gefehlt. (Übers. D.S.)

Die Revolution habe folglich das eigentliche, wahre Bild der iranischen Frau an die Oberfläche gebracht. Und ihr richtiges Bild sei Fatemeh Zahra, laut Khamenei »the primary woman of all females« (Khamenei 2019b), die im revolutionären Umbruch als treibende Kraft und Beistand des weiblichen Protests erscheint. Hinter der Realität, so die Botschaft dieses Bildes, wirkte der Wille und die Fürsprache der

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Abb. 8: Drei Plakate der Serie »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« (ba ramz-e ya zahra hamaseh afaridim).

Abb. 9: Plakat aus der Serie »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« (ba ramz-e ya zahra hamaseh afaridim).

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Heiligen für die islamistische Opposition in der Revolution. Die Revolution wird auf dieses Weise entpolitisiert und zum Ereignis der Heilsgeschichte erklärt. Dass Bilder von Revolutionärinnen zum 40. Jahrestag hervorgekehrt werden, muss zwar als visuelle Affirmation des islamistischen Frauenbildes, aber auch vor dem Hintergrund politischer Herausforderungen der Machthaber der islamischen Republik gelesen werden. Khamenei stellt die Relevanz der Revolution für die Gegenwart explizit her, wenn er sagt: If women take part in a movement with awareness and insight, that movement will take off quickly. In the great wave of Islamic Awakening women play an unparalleled role, and it is necessary for them to continue this role. It is women who prepare and encourage their husbands and children into the most dangerous areas. We have clearly witnessed this significance of the role women played during the time we were fighting taghut (tyrannical monarchy) in Iran and after the victory of the Islamic Revolution. (Khamenei 2018a)

Dieses Bild der pro-islamistischen – hier als passiv-unterstützend beschriebenen – Frau und Revolutionärin, wurde in den letzten Jahren immer wieder erschüttert, etwa durch die Ausbreitung feministischer Einstellungen in der iranischen Bevölkerung (Kurzman 2008), durch digitale Protestaktionen, in denen Selfie-Videos mit Entschleierungsaktionen oder politischen Statements von iranischen Frauen online verbreitet wurden (Tahmasebi-Birgani 2017), oder etwa auch die Protestwelle, die das islamistische Staatssystem seit 2018 offen in Frage stellt und zu deren Symbol zwischenzeitlich das ikonische Bild einer Frau wurde, die in Teheran ihren hijab als Friedensfahne schwenkte. Mit der genannten Plakatserie und mit zahlreichen weiteren Bild-, Text- und Videobeiträgen reagiert khamenei.ir auf diesen zunehmenden Kontrollverlust des Staates in der Geschlechterpolitik. Die Staatspropaganda markiert feministische Forderungen in einem – für die Machtrhetorik der islamischen Republik – typischen kulturrelativistischen Argumentationsmuster (Afshari 2001) als »westlich« und stellt sie »islamischen« Standards gegenüber. Die Verschleierung abzulehnen, führt Khamenei zum Beispiel auf »dim-witted and superficial propaganda campaigns of materialistic people« westlichen Ursprungs zurück: »The corrupt western world tried to impose its wrong and misguided redefinition of women on the women of the world – which was degrading to women. They tried to convince the world that in order to develop a personality, women have to look attractive to men.« (Khamenei 2018b) Er kulturalisiert damit die islamistische Geschlechterpolitik und stigmatisiert feministische Forderungen als kulturfremd. Dabei implizieren seine Reden, dass es unabhängige iranische Forderungen nach Gleichberechtigung im Sinne der allgemeinen Menschenrechtserklärung nicht gäbe – wo solche Forderungen aufkommen, sind sie in den Beiträgen von khamenei.ir Propaganda der Feinde. Demgegenüber erschaffen digitale Plakate wie »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« eine identitäre

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Idealwelt, in der es nur Frauen gibt, die die islamistische Realität gewollt, ja buchstäblich selbst ›entwickelt‹ haben. Sie sind fromm, kollektivistisch und prokhomeinisch. Frauen anderer Oppositionsgruppen oder jene, die an der Massendemonstration am 8. März 1979 in Teheran (Abb. 10) teilgenommen haben, um gegen Khomeinis Ankündigung protestieren, den hijab forcieren zu wollen (Keddie 2000, 410) – sie alle gibt es in dieser Bildwelt nicht. Um diesem staatlichen Revolutionsbild Glaubwürdigkeit zu verleihen, arbeiten die Plakate zum 40-jährigen Revolutionsjubiläum meist mit Fotografien, teilweise als Bildreferenz. Fotografien sollen dafür bürgen, dass die Bildaussage historisch ›stimmt‹. Darüber geht der dokumentarische Anspruch dieser Plakate aber nicht hinaus – es sind keine Bildquellen angegeben, auch keine Erklärungen zu den Revolutionsszenen, denn um historische Aufarbeitung geht es ihnen nicht.

Abb. 10: Hengameh Golestan. Frauenmarsch im März 1979, Teheran.

5.

Fazit

Die Bilder der Revolution in den analysierten Plakaten zum 40. Jahrestag des historischen Umbruchs im Jahr 1979 sind dekontextualisiert und müssen dies auch sein, denn nur so können sie für aktuelle Zwecke jeweils neu eingeordnet werden. So war es zum Jahrestag insbesondere zentral, die Loyalität zweier wichtiger sozialer Gruppen für die islamische Republik zu gewinnen, nämlich die der postrevolutionären Generation und die der Frauen. Der Appell an diese Gruppen wird

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über die Konstruktion einer Kontinuität des revolutionären Umbruchs hergestellt; womit ihm auch Dringlichkeit verliehen wird. Die Revolution wird dabei nicht als Ereignis, sondern als fortdauernder historischer Prozess visualisiert, der die Adaption entsprechender Handlungslogiken notwendig mache: islamistischen Geschlechterrollen zu folgen, staatliche Projekte zu affirmieren und an ihnen mitzuwirken – nicht Aufbegehren, sondern Folgsamkeit sind, so kann man diese Plakate verstehen, Zeichen revolutionärer Gesinnung heute. In dieser Umwertung des Bildes von ›Revolutionär-Sein‹ spielen historische Fotografien und ikonische Szenen eine zentrale Rolle: Sie werden als Zeugnisse eines von der Heilsgeschichte getragenen islamistischen Volkswillens eingesetzt, der sich seit 1979 in verschiedenen Formen entfalte. Sie dienen als dokumentarische Folie, vor der das staatliche Menschenbild als (heils-)geschichtlich notwendig legitimiert wird.

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Abb. 7: Screenshot der Instagram-Seite von reyhaneh, khamenei_reyhaneh. https://www.in stagram.com/khamenei_reyhaneh/ (27. Dezember 2019). Abb. 8: Drei Plakate der Serie »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« (ba ramz-e ya zahra hamaseh afaridim), kahmeini.ir, 16. 11. 1397 (21. Januar 2019). http://fa rsi.khamenei.ir/photo-album?id=41570 (6. November 2019). Abb. 9: Plakat aus der Serie »Mit der Losung oh Zahra haben wir ein Epos geschaffen« (ba ramz-e ya zahra hamaseh afaridim), kahmeini.ir, 16. 11. 1397 (21. Januar 2019). http://fa rsi.khamenei.ir/photo-album?id=41570 (6. November 2019). Abb. 10: Hengameh Golestan. Frauenmarsch im März 1979, Teheran.

Volker Wehdeking

Mauerfall und Visual Turn. Bildikonen im Narrativ der Friedlichen Revolution in der Post-DDR-Prosa

Die erzählten Bilder in Romanen sind beim Thema der Friedlichen Revolution 1989, anders als etwa die Mauertanz-Fotos oder die Mauer-Graffiti, immer Auslöser von auf die Psyche wirkenden Bildmomenten im Lektüreprozess (Graf 2004, 57–64).1 Seltener verdichten sich solche optischen Eindrücke, wie etwa die Kamera-Aufnahmen vom Mauertanz, zu unmittelbar einleuchtenden Symbolen, wie in diesem Fall dem Signum der Befreiung aus der geschlossenen Gesellschaft. Der Trend zur Intermedialität und zum visual turn im Narrativ nimmt mit den Neuen Medien noch zu. In der mémoire collective verfestigen sich die von den Massenmedien in Zeitungen und Fernsehbildern gelieferten, empirischen Mauerfall-Bilder zu Klischees. In erzählten Erinnerungen an den Umbruch schreiben die Autor*innen gegen solche, nach dreißig Jahren blasser werdenden Bilder in ihren privaten, im kommunikativen Gedächtnis originellen, Perspektiven an, damit die Montagsmärsche, die Flucht über Prag und Ungarn und der Mauerfall im kulturellen Gedächtnis frisch bleiben. Im Folgenden soll anhand von exemplarischen Prosa-Texten den erinnerten Bildikonen nachgegangen werden. Nachdem in den zwei Dekaden nach dem Fall der Mauer die meisten wichtigen Beiträge aus der Post-DDR-Prosa und -Lyrik entstanden sind, ist es im letzten Jahrzehnt merkwürdig still um die Erinnerung an 1989 geworden. Die beiden, bereits jetzt schon sicher zum Kanon der bedeutenden Wenderomane gehörenden Titel, Uwe Tellkamps Der Turm (2008) und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) blieben durch ihre Verfilmungen (durch Christian Schwochow, 2011, und Matti Geschonnek, 2017) auch in dieser letzten Dekade präsent. Beide waren, ihrer quasi historiographischen Bedeutung entsprechend, Familien- und Generationenromane. Aber erst im Jahre 2020 traten das Jahr des Mauerfalls und dessen Medienbilder noch 1 Besonders bei Themen des kulturellen Gedächtnisses spielen das »private Fantasiekonstrukt« bei der »Intim«-Lektüre und die Gehirnvorgänge im Rezipieren von Bildmomenten beim Lesen eine Rolle. Grafs »Modi« ergänzen die Rezeptionstheorie der Konstanzer Schule der 1970er Jahre (Iser, Jauss, Striedter). Man könnte bei Graf vom »Kopf-Kino« sprechen. Vgl. auch Wehdeking 2013, 143–264.

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einmal vor die Augen des ästhetisch maßgebenden Feuilletons, die im Frühjahr 2020 wochenlang auf der Spiegel-Bestenliste rangierenden, auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis nominierten Romane von Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder und Lutz Seiler, Stern 111. Und da fällt auf, dass es in beiden PostDDR-Erinnerungen fürs kulturelle Gedächtnis um auffallend individuelle, zuweilen skurrile Helden geht, einen ins Zwielicht geratenen Antiquar aus Dresden, der dem Mauerfall betont unpolitisch den Rücken kehrt, und einen im underground Berlins im Epochenumbruch anarchisch lebenden Jüngling, der in einer Souterrainkneipe am Prenzlauer Berg kellnert. Auch hier kommen die zentralen, kollektiven Medienbilder des Tanzes auf der Mauer und der Parade der Trabis nach der Maueröffnung durch die Engführung an der Bornholmer Straße von Ost nach West nicht in den Blick. Das kommunikative Gedächtnis beider zur Post-DDR-Thematik profilierten Autoren will in diesen Jubiläumstexten nach drei Dekaden mit Bildern zum visual turn beim Erinnern an 1989 nicht so recht ins kulturelle Archiv passen. Im Rückblick auf die drei Dekaden des Mauerfall-Themas und seiner Bilder tauchen nur in den ersten zwei Jahrzehnten die später zum Klischee gewordenen Bilder aus Ungarn (etwa in Ingo Schulzes Adam und Evelyn, 2008), der Prager Botschaft und dem Mauertanz auf. Ausgerechnet ein niederländischer Autor, der zeitweise in Berlin lebt, Cees Nooteboom, mit seinem Roman Allerseelen (1999) feiert explizit den Mauertanz in vielen Bildern seines Protagonisten, einem Fotografen. Bei Monika Maron (in Stille Zeile sechs, 1991), und Thomas Brussig, von Helden wie wir, 1995, über Am kürzeren Ende der Sonnenallee, 1999, bis zum umfangreichen Roman Wie es leuchtet, 2004 und bei Ingo Schulze in Adam und Evelyn (2008) gibt es Narrative zu jenen Bildikonen. Die meisten Autor*innen versuchen bereits in den ersten zwei Dekaden nach 1989 gegen die Medienbilder der Journalist*innen und der mémoire collective zum Thema anzuschreiben. So versuche ich in der Durchmusterung der drei Dekaden nach den beiden Grundmustern des Diktatur- vs. Identitätsnarrativs anhand der Bildikonen und erzählten Bildmomente des visual turn an den genannten Texten exemplarisch die gefundenen Imagines fürs kulturelle Gedächtnis herauszuarbeiten. Das Identitäts-Narrativ in der Post-DDR-Prosa bemüht sich um den DDR-Alltag, um die große Bedeutung des Familienzusammenhalts und seine naturgemäß weniger einprägsamen Bilder, meist eher auf dem Lande als in der Großstadt. Das Diktatur-Narrativ nimmt das eingesperrte Lebensgefühl hinter der Mauer, die versuchte Dekonstruktion der Mauer durch (vergebliche) Fluchtversuche, die Montagsmärsche und die Allgegenwart der Stasi in einem erstarrten real-sozialistischen System in den Blick.

Mauerfall und Visual Turn. Bildikonen im Narrativ der Friedlichen Revolution

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1.

Mauerfall, Tanz auf der Mauer, Befreiung am Schlagbaum an der Grenze im Trabi. Bildklischees und Narrative Ikonen in der Post-DDR-Prosa im ersten Jahrzehnt

1.1.

Die Typologie der Bilder zur Friedlichen Revolution

Sie schlägt wieder, die Uhr der ›Versöhnungskirche‹ in Berlin im Eingangsbereich der Diakonie2 – nach 58 Jahren und im dreißigsten Jahr des Mauerfalls, nachdem sie am 13. August 1961 durch den fatalen Mauerbau eingemauert und zum Stillstand verurteilt wurde. Solche suggestiven, wegen ihrer unmittelbar einleuchtenden Symbolik sogleich zu Ikonen der Teilung und Wiedervereinigung avancierten Bilder gibt es auch zuhauf in der Post-DDR-Erzählprosa, der ich mich angesichts der aktuell vorherrschenden Neigung zum visual turn in der Analyse von Bildmomenten der letzten dreißig Jahre solcher Texte in dieser Untersuchung zuwende, allen voran natürlich dem Tanz auf der Mauer. Unsere wegen ihrer gedrängten Botschaft immer noch und in den Neuen Medien zunehmende Vorliebe für Bilder spiegelt sich in meinem Ansatz. Bevor ich mich einer am Kanon der wichtigen Prosatexte zu Wende und Mauerfall orientierten Durchmusterung darin auftauchender wichtiger, vielleicht ikonischer Bilder zur Friedlichen Revolution zuwende, versuche ich, das Narrativ des Mauerfalls visuell durch eine Typologie der Bilder in diesen Erzählprosatexten einzugrenzen. Juliane Brauer zeichnet im Band Die andere deutsche Erinnerung in den drei Jahrzehnten eine Entwicklung der Narrative der drei DDR-Generationen nach (Führer 2016). Ich möchte diese These an entsprechenden Bildern überprüfen. Ich gehe also aus von einer Konfrontation im ersten Jahrzehnt zwischen faktualen und erzählten Bildern in der West- und OstLiteratur, dann in der zweiten Dekade von einer Konsolidierung von Empfindungen gewonnener Freiheit und verlorener Gleichheits-Utopie der jüngsten DDR-Generation zwischen Diktatur- und Identitätsnarrativ, und in den letzten zehn Jahren von einer gewissen Melancholie dieser dritten, jüngsten Generation von Post-DDR-Autor*innen, die sich – angesichts der Brüche durch die PostWendejahre in der eigenen Familie, wo sich so Vieles nach 1989 änderte – als »leichte Verweigerung« des euphorisierten »Freudentaumel[s]« der bundesrepublikanischen »Retro-Show«-Gedächtnisriten3 manifestiert (Brauer 2016, 91– 92).

2 Die Uhr der damals eingemauerten Berliner Versöhnungskirche schlägt wieder seit dem 28. August 2019, einst im Todesstreifen der am 13. August 1961 errichteten Mauer zum Stillstand verurteilt. 3 Gemeint sind, nach Christa Wolf, die Autorinnen Jana Hensel und Julia Schoch.

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Da gibt es zunächst im Diktatur-Narrativ die retrospektiven Bilder von der Mauer als überwundenem Todesstreifen und Gefängnis. Da diese Mauer an der Nahtstelle des Kalten Krieges verlief, wird die darin liegende Gefahr eines sogar denkbaren Atomkriegs auf deutschem Boden in der DDR-Lyrik noch weit vor der Erstarrung des Systems in den 1980er Jahren als »damokleischer Schatten« (Kunert 1987) und nicht zugehen wollende »Wunde unter dem Dreckverband« in einem »zerrissenen Land« (Biermann 1978) drastisch visualisiert. Die unvorhergesehene Maueröffnung am 9. November wird als befreiender Strom der Menge an der engen Öffnung der Bornholmer Straße gezeichnet. Die vorgängige Fluchtbewegung über Ungarn und die deutschen Botschaften wird als Loch im leicht zu überwindenden Stacheldraht erzählt. Dann folgte der Tanz auf der Mauer am Brandenburger Tor, das häufigste und bekannteste Medienbild. Viele dieser Bilder im Diktatur-Gedächtnis an die DDR finden sich in brillanter Verdichtung bei Durs Grünbein in seinem Anthologie-Beitrag Der Weg nach Bornholm im Sammelband Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989 (2009). Es war alles auf einmal gekommen in den letzten Monaten. Erst hatte es diese quälenden Kommunalwahlen gegeben mit einem lächerlichen Rekordergebnis von beinah 99 Prozent Zustimmung zur Politik der einzig herrschenden Partei, was dem Begriff Demokratie einen fast nordkoreanischen Glanz verlieh. Dann hatten die Ungarn den Eisernen Vorhang geöffnet (der in ihrem Fall nur eine Art Hühnerstalldrahtzaun war, leicht zu zerschneiden), worauf sofort Frischluft hereindrang, die bis in die äußersten Ecken des Ostblocks zu spüren war – für die einen als Schauder, für die anderen als Sog. […] Die Mauer war denn auch der reinste, betongewordene Selbstwiderspruch, […]. Das Symptom, das sich dahinter verbarg, eine tiefreichende Identitätsspaltung, […]. So attraktiv war die Idee vom Sozialismus, daß nur Gefängnis-Architektur sie vor dem Verschwinden bewahren konnte. Einmal war er auf zwei Gedichtzeilen gestoßen (bei Robert Frost), die ihm das ganze Paradox des Mauerbaus zu bedenken gaben. Before I built a wall I’d ask to know / What I was walling in or walling out … [Zur Erfahrung der »Stehfolter« nach einer Protestdemo vor dem November sieht sich Grünbeins alter ego unter den Mitverhafteten um, V.W.]: Es gab Schläge in die Kniekehlen, wenn einer im Stehen einnickte. Die Mädchen sahen wie Punk-Gespenster aus mit ihrer vom Heulen verlaufenen Wimperntusche. (Grünbein 2009, 34–37)

Heiner Müller hat für diese Ambivalenz der Mauerfunktion den aus der Sicht der Führungsgremien und der Wirtschaft der DDR mit Blick auf den drohenden Exodus der Facharbeiter treffenden Terminus »Weglaufsperre« geprägt (2009, 346). Die Leitthese zur historischen Entwicklung der in der Post-DDR-Literatur evozierten Bilder ist Folgende: In den letzten dreißig Jahren hat die sehr diversifizierte deutsche Gegenwartsliteraturentwicklung mit ihren Themen und Strukturen nicht nur die Ungleichzeitigkeiten der Diskurse in der West- wie in

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der Ostsozialisation und beides sowohl in den Hochliteratur- wie den Unterhaltungstendenzen gezeigt. Sondern in der Gegenwartsliteratur zeigt sich die auffällige Tendenz vorwiegend (aber nicht allein) in den ›alten Bundesländern‹, in der Rezeption dominierende Portalfilme zu den historischen Großereignissen als Auslöser von Literaturdiskursen und leitmotivisch produktiv für die nachfolgende literarische Auseinandersetzung wahrzunehmen. Wie ambitionierte Romane von Monika Maron (Stille Zeile sechs, 1991, Animal triste, 1996, Endmoränen, 2002), Ingo Schulze (Simple Storys, 1998, Neue Leben, 2005, Adam und Evelyn, 2008), Thomas Brussig (2004), Uwe Tellkamp (2008), Eugen Ruge (2011) sowie zuletzt Thorsten Palzhoff mit Nebentage (2018) zeigen, beschäftigt uns die »andere deutsche Erinnerung« mit ständig veränderten Bildern und soziopolitischen Akzentuierungen weiter. Ähnlich belegen dies Filme wie zuletzt Das Leben der anderen (2006), Christian Petzolds Barbara (2012) und Henckel von Donnersmarcks Werk ohne Autor (2018).4 Einen Generationswechsel markierend, verwendet Christoph Hein in einer kurzen Erzählung (Moses Tod, 1994) das biblische Bild vom Wechsel in ein Gelobtes Land ohne »Himmel« darüber, dafür mit einem materiellen »Himmel auf Erden« als einen Utopieverlust (Hein 1994, 120–124), während sein Sohn Jakob Hein in seinem Pop-Roman Mein erstes T-Shirt (2001) das heuchlerische Flaggen zum ersten Mai mal mit, mal ohne herausgeschnittenem Fahnen-Zentrum (mit Hammer und Sichel) nach 1989 verwendet. Manche spürten heute »genau dieses Loch in ihren Herzen« (Hein 2001, 56–57), den verlorenen Staat. Dass derzeit fast ein Drittel der mitteldeutschen Wähler 2019 den Populismus bevorzugten, gibt Jakob Hein rückblickend recht. Die Erinnerungskultur der Jubiläen, vor allem das aktuelle dreißigste Jahr (weil danach auch lange keine kulturnationalen Jubiläen zu Mauerfall-Literatur mehr sinnvoll zu erwarten sind) erklärt das Erscheinen der neuen, wichtigen Romane von Ingo Schulze und Lutz Seiler, mit deren Verfilmung man rechnen kann.5

1.2.

1989/90 bis 2000: Vom Rausch der Befreiung zum Cultural Clash – Bilder vom Utopieverlust und von Anpassungsschwierigkeiten

Während bei Monika Maron die Überwindung des Bildes vom »Antifaschistischen Schutzwall« und der Gefahr durch Todesschützen an der Mauer gefeiert wurde, zeichnet die Erzählprosa seit 1995 in beiden jüngeren Generationen auch Aspekte einer Verlusterfahrung, exemplarisch etwa in Christoph Heins kurzer 4 Nach der Biografie über den Maler Gerhard Richter (Schreiber 2005). 5 Zur Zeitstimmung vor und nach der Wahl 2019 vgl.: Moritz von Uslar 2020. Zur Jubiläumskultur: Speitkamp 2016.

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Erzählung Moses Tod das Bild eines Wechsels in ein ›gelobtes Land‹, konkret eines Verlustes der Utopie vom »real existierenden Sozialismus«. Nach einer Initialperiode (1989–1995) von satirischen Romanen der jüngeren Generation, vor allem Thomas Brussig und Jens Sparschuh, und unter der mittleren Generation (der um 1940 Geborenen), Wolfgang Hilbig, Monika Maron und Brigitte Burmeister, mit ihrer Kritik am MfS und an der Ankunftsgeneration, kam es nun zu einem regelrechten Clash zwischen zunehmender ›Ostalgie‹ in den neuen Bundesländern und der Erwartung kultureller Reintegration in den alten. Die offensichtliche ›Ostalgie‹ in den Filmen Sonnenallee, Good Bye, Lenin! und, in schroffem Gegensatz dazu, Das Leben der Anderen, gehören sicherlich zu diesen trendauslösenden, in West und Ost geteilten Film- und Literaturdiskursen. Das damalige, einschneidende Schlüsselereignis für Deutschland und Europa ist nicht vom Bewusstsein eines Schubs der beschleunigten Geschichte, einem Aufbruch zur Berliner Republik nach 1989/90 zu trennen, von dem Aleida Assmann, bezogen auf ganz Osteuropa spricht (1999, 62–63). Das mit der Wende auch ein Umbau des kollektiven Gedächtnisses einher geht, wurde zunächst im Umbenennen von Städten wie Leningrad zu St. Petersburg sowie im Verschrotten von Denkmälern der kommunistischen Gründerväter greifbar – wobei der aus Jubiläumsgründen, dem 200. Geburtstag des Sozialphilosophen 2018 wieder aktuelle, monumentale Porträtkopf des Karl-Marx-Denkmals in Chemnitz in den Medien fast 30 Jahre nach dem Mauerfall einen neuerlichen Akzentwechsel im Kulturellen Gedächtnis zu signalisieren scheint.6 Deutlich wird, dass sich nicht nur die deutsche Kulturnation nach dem Mauerfall neu und historisch beschleunigt in dem definierte, »was wir gemeinsam erinnern und vergessen. […] [D]as gilt, wie wir wissen, für Gemeinwesen nicht weniger als für Individuen, und es schlägt sich nieder in einem Umschreiben von Geschichtsbüchern« sowie in der Relevanz erinnerter Bilder und ›gefühlter Geschichte‹ im Kulturellen Gedächtnis, wie Aleida Assmann feststellt (1999, 62–63).7 Im Westen, in den sogenannten ›alten Bundesländern‹, setzte mit einiger Verspätung (1995–2000) und mit Ausnahme von Günter Grass’ umstrittenem Fontane-Roman Ein weites Feld (1995) die auch in den Romanen und in fiktionaler Kurzprosa spürbare Erwartung ›kultureller Reintegration‹ mit Blick auf die seit der Aufklärung und der Weimarer Klassik relevante, gemeinsame Kulturnation ein. Den Beginn machte die mittlere, um 1940 geborene Generation um Monika Maron, Wolfgang Hilbig und Brigitte Burmeister mit den Romanen 6 Der vom Bildhauer Lew Kerbel 1971 geschaffene Marx-Kopf blieb nach 1990 auf Wahl des Stadtrats stehen, obwohl viele Bürger den »Nischl« loswerden wollten. 7 Nach Assmann besteht der Unterschied des memorialen Bildes zur Schrift und zum Narrativ darin, dass wirkmächtige Bilder ihre entscheidende Distinktion als »eindrücklich oder blass« besitzen und nennt als Beispiele die in Vielem magische und unergründliche Mona Lisa als Magna Mater (1999, 222 und 229).

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Stille Zeile sechs (1991), »Ich« (1993) und Unter dem Namen Norma (1994). Maron berührte in einer Vorgeschichte zum Mauerfall – erwachsen aus der langjährigen, bitteren Zensurerfahrung in der DDR um das Romandebüt zu Flugasche (1981)8 –, die leidige Erstarrung des Systems. Die Zensur erfuhr sie mit ihrem nur im Westen erscheinenden Bitterfeld-Roman. In einem im Hamburger ZeitMagazin abgedruckten Briefwechsel mit dem in München lebenden Joseph von Westphalen kritisierte sie das in der mittleren DDR-Generation noch tabuisierte Perestroika- und Glasnost-Reformgebot Michail Gorbatschows (Maron und von Westfalen 1988).9 Das griffige Bild von Hans Christian Andersens Märchen in Des Kaisers neue Kleider (1837): »Der Kaiser ist ja nackt« (Maron und von Westfahlen 1988, Brief vom 19. Februar 1988) prägte sie in ihrem Briefwechsel im Blick auf den »Vormundstaat« DDR (vgl. Henrich 1989). Für die Ankunfts- und mittlere Generation der DDR-Funktionäre, die in der Belletristik keine aufstörenden Bilder wünschten, gilt in dieser Märchenparabel, dass der Kaiser, der sich durch Betrüger ein nur scheinbar gewebtes Oberkleid aufschwatzen lässt, das nur von würdigen und klugen Personen erblickt werden kann, in einem Festumzug in den neuen Kleidern nackt auftritt, bis ein Kind und zuletzt das ganze Volk ausrufen: »Der Kaiser ist ja nackt«, während der gesamte Hofstaat aus Opportunismus die Farce mitmacht und die Parade fortgesetzt wird. Hilbigs Porträt des alternativen sozialistischen Untergrunds am Prenzlauer Berg und in Meuselwitz in der öden Landschaft des Braunkohletagebaus in seinem Roman »Ich« (1993) stand ebenso im Zeichen des französischen Poststrukturalismus, wie die Satiren der Romane der eine Generation jüngeren Autoren. Der Zimmerspringbrunnen von Jens Sparschuh (1995), und Helden wie wir (1995) von Thomas Brussig spiegeln als schwarze Satiren in meisterhafter ästhetischer Verfremdung den für ganz Europa bedeutsamen historischen Umbruch. Bei Brussig wird die Mauer von seinem Pikaro-Helden mit dem unmöglichen Namen Klaus Uhltzscht (in Allusion auf Eule) durch einen Akt des Exhibitionismus und ein Riesenglied an den verdutzten Grenzposten vorbei geöffnet: So, schrie ich laut genug, daß mich das hinter mir versammelte Volk hören konnte, […], ›loslaufen müßt ihr selber!‹ […] der Weg war frei für einen der glücklichsten Augenblicke deutscher Geschichte; seltene Momente unschuldigen Glücks, Sie kennen die Bilder: Sektparties am Brandenburger Tor, Ritt auf der Mauerkrone, Happenings mit Hammer und Meißel. Alle freuten sich […]. (Brussig 1995, 318–319)

8 Bereits 1989 erschien der Roman in 3. Aufl. 9 In einem »P. S.« zum Brief mit dem Titel »Der Kaiser ist ja nackt« vom 19. Februar 1988 spricht Monika Maron selbst vom Bezug zur Perestroika: »Dabei könnte der Kaiser Kleider haben, er will sie nur nicht, die Moskauer Modelle in den Farben Glasnost und Perestroika.«

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In Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnen macht der Protagonist Hinrich Lobek als Vertreter einer West-Firma für Luxusprodukte damit Karriere, dass er in einem selbstkonstruierten Modell namens »Atlantis« auf einer Kupferplatte den Umriss der untergegangenen DDR vom Ostberliner Fernsehturm sprudeln lässt. Die Ostalgie beginnt 1995 mit diesem Bild. In der Tat sind für Jahre und Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer die Fotos vom Mauertanz und von den arbeitenden ›Mauerspechten‹ zum Klischee der friedlichen Revolution geworden. Gemeinsamer Theorieansatz jener frühen, hier genannten Texte von Hilbig, Brussig und Sparschuh ist der französische Poststrukturalismus deshalb, weil er eine von den beiden jüngeren Generationen wahrgenommene Simulation und Derealisierung der psychologischen und soziopolitischen Zustände des Stillstands bei zunehmender Überwachung durch die Stasi im ›Sozialismus von oben‹ darstellen ließ (Quèval 2014, 48–53). Thomas Brussig hat der Euphorie des ersten Moments zurückgewonnener demokratischer Freiheiten, darunter der Meinungs- und Reisefreiheit, einen dicken Roman gewidmet, um die Stimmung des Wie es leuchtet (2004) zu konservieren. Er trug damit zum Diktatur-Narrativ bei. Zuvor wollte man in den Neuen Bundesländern in den 1990er Jahren erst einmal die Generationendebatte und Identitätsüberprüfung unter sich führen. Noch 2004 formuliert ein zu DDRZeiten 1983 in Jena zeitweise verhafteter Dissident und Lyriker, Lutz Rathenow, zum größten in der Mauer verkörperten Schwachpunkt des sozialistischen Gegenentwurfs zur Bundesrepublik diesen utopischen Aspekt: Der Bau der Mauer 1961 beendete die Legitimität der DDR aus dem eigenen Anspruch heraus. Mit der Mauer verzichtete sie darauf, DAS sozialistische Modell für ganz Deutschland zu liefern. Der Staat DDR hat bei jedem Menschen zu jeder Zeit bestimmt, wo er sich aufhalten durfte, wer wann ins Land kommen durfte und wer nicht. Die Abgrenzung aus DDR-Zeiten und die sozialen Probleme heute ergeben besonders in einigen ostdeutschen Provinzen eine gefährliche Mischung – die schwierigste Nachwirkung der Mauer. Berlin ist dagegen eher ein Laboratorium für nebeneinander existierende Vergangenheiten – polnische, türkische, DDRige, russische, orientalische –, die sich eine Zukunft suchen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann die Berliner Städte-Vereinigung getrost als Muster der europäischen Einigung gesehen werden. […] Die DDR scheiterte als Utopie und gerät so endgültig zu einer. Sie ist nicht mehr zu widerlegen, nur noch zu deuten. […] wird zur Glaubensangelegenheit und zum medialen Selbstbedienungsangebot. Und damit zur einzigen Sozialismusvision – von einem realen Land ausgehend – die an Strahlkraft im Laufe der Zeit möglicherweise gewinnen könnte. (Rathenow 2004, 91 und 126)

Die Mauerbilder in den Medien und jene der ersten Aufarbeitungen der beiden jüngeren Autor*innen-Generationen gehen am stärksten in das Kulturelle Gedächtnis ein. Und über kein herausragend affektives Mauerbild der deutschen Literatur ist so viel geschrieben, aber auch abschwächend (als Reflex eines

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Traumas) psychologisiert worden, wie über Monika Marons Angriff ihrer Protagonistin Rosalind Polkowski, einer Historikerin, auf den prominenten Altkommunisten und autoritären Vertreter der Aufbaugeneration, einem aus kleinen Verhältnissen und ohne Studium aufgestiegenen Professor und Gesinnungsüberwacher an der Ost-Berliner Universität mit dem sprechenden Namen »Herbert Beerenbaum«. Als der wieder einmal von der seit 1961 bestehenden Mauer als »antifaschistischem Schutzwall« schwärmt, reagiert Rosalind, die IchErzählerin, über diese Redeweise empört, weist auf die Mauertoten hin und liefert folgendes wirkungsstarkes Bild: Da haben Sie das Blut lieber selbst zum Fließen gebracht und eine Mauer gebaut, an der Sie den Leuten die nötigen Öffnungen in die Körper schießen konnten, sagte ich. Zwei oder drei Sekunden war es so still, als hielten wir alle drei den Atem an. Dann sagte Viktor Sensmann: Ja, Frau Polkowski, auch mit Ansichten wie der Ihren hatten wir damals an der Universität zu kämpfen. […] Ich glaube auch, daß es eine notwendige Entscheidung war. Ich schmiß meinen Bleistift zwischen das Meißener Geschirr mit dem Weinlaubdekor und schrie. (Maron 1991, 107–109)

Der befreiende Schrei der Protagonistin und der Bleistift als Waffe der Schriftstellerin, geworfen gegen das auf Beerenbaums Namen zielende »Weinlaubdekor«, umrahmen ein herausragend affektives Bild zu den ins Kulturelle Gedächtnis eingegangenen Perspektiven auf die Mauer und ihre Öffnung durch Montagsmärsche und die Flucht der gegen Überwachungsstaat und Kasernierung revoltierenden DDR-Bürger. In Marons Roman erleidet der weiter unbelehrbare Beerenbaum im Streit mit der Jüngeren einen Herzanfall, an dem er schließlich im Krankenhaus stirbt. Der Generationen-Antagonismus – die rebellische Heldin des Romans kehrt zum befreiten Habitus des Bildungsbürgertums zurück – wirkt fort und die Aufarbeitung des biografischen Manuskripts der Aufbaugeneration bleibt ihr am Ende aufgegeben. Das ›deutsche Jahrhundert‹ (Jäckel 1996) erscheint in diesen Stationen von Monika Marons Erinnerungsarbeit wie in einem Brennglas gebündelt. Der von einem Schrei begleitete Dialog über das Image der Mauer in beiden Deutschland geht in die Kulturelle Erinnerung ein; die Erinnerung an Mauertote, »Schutzwall« oder »Weglaufsperre« – diese soziokulturelle Sicht trennte die Perspektiven in West und Ost fundamental.10 So kam es zunächst zu einem regelrechten Clash der beiden deutschen Literaturen in ihrer Ungleichzeitigkeit zwischen Diktatur-Narrativ und Identitäts-Narrativ. Westdeutsche Leser*innen nahmen eher das DiktaturNarrativ wahr, mitteldeutsche Leser Narrative der Identität. Es dauerte bis zum Pop-Roman der Ostmoderne eines Brussig und Jakob Hein (Am kürzeren Ende der Sonnenallee, 1999, Mein erstes T-Shirt, 2001), bis die bei Brigitte Burmeister

10 Grundlegend zum aktuellen kulturellen Gedächtnis vgl. Gansel 2010, 19–35.

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und Martin Walser, Klaus Schlesinger und Peter Schneider zutage tretenden Unterschiede samt dem nach 1995 zunehmend ostalgischen Blick den klärenden Generationenbeiträgen von Monika Maron (Stille Zeile sechs, 1991, Pawels Briefe, 1999, Endmoränen, 2002), Helga Schütz (Grenze zum gestrigen Tag, 2000), Brussigs und Ingo Schulzes Wendeerinnerungen (Wie es leuchtet, 2004, Neue Leben, 2005, Adam und Evelyn, 2008) in längeren Romanen wichen. Bereits in Monika Marons längerem Liebesroman Animal triste (1996) nimmt sie Abstand von dem Mauerbild. Die Ich-Erzählerin zeichnet als Paläontologin am Bild des zwölf Meter hohen Dinosaurier-Skeletts in ihrem Ostberliner Naturkundemuseum die gerade überwundene Teilung in einem eindrucksvollen Bild, indem sie die vierzig Jahre DDR zeitlich in die Perspektive des 150 Millionen Jahre alten Brachiosaurus einordnet: Sie sieht diese vierzig Jahre »als todgeweihte Mutation«, »deren Überleben weltgeschichtlich nicht einmal die Zeit einnehmen würde, die der Brachiosaurus brauchte, um einen seiner Füße vom Boden zu heben« (Maron 1996, 32). Ähnlich wie Maron vertieft Angela Krauß (1950 in Chemnitz geboren) in ihrer langen Erzählung Die Überfliegerin (1995) die Maueröffnung als Chance zur subjektiven Selbstbefreiung mit komischen und surrealen Zwischentönen, und drastischen Bildern. Nach Schilderung des anfänglichen Eingekerkertseins im grauen Leipziger Zimmer der Hauptfigur wird nach einem Amerikaflug die Befreiung als Farbenvielfalt greifbar. Nach Dunkelheit und Enge kommt im zweiten, amerikanischen Abschnitt (von drei Teilen) die Helligkeit und Weite durch bunte Kleidung und »unerschrockenes Fliegen« (Krauß 1995, 112) zum Ausdruck: »Alles Flüssige in meinem Inneren wogte und schwappte hin und her vor Heiterkeit, kichernd vor Erlösung« (Krauß 1995, 88). Die Ablösung vom Obrigkeitsstaat wird zum individuellen Emanzipationsprozess. In einem kalifornischen Secondhandshop löst sich die Desorientierung der Heldin nach dem Mauerfall: »Hier, mitten in Amerika, versank ich bereitwillig in einem Haufen von Kleidern aus zweiter Hand, der mir deutlich machte, daß die Welt wirklich unendlich ist« (Krauß 1995, 85). Die Kinder ihrer amerikanischen Freundin wissen, dass sich DDR-Bürger durch Deformation auszeichnen: »zusammengesunkener Körper« und »große Köpfe«, da Konfliktbewältigung ausschließlich im Kopf versucht wurde und es nicht zu Handlungen kam. »Außerirdische! Rief der Junge mit der Cornflakestüte begeistert« (Krauß 1995, 70). Die von den DDRBürgern durch die neuen Verhältnisse geforderte, totale Umorientierung nach dem Mauerfall spiegelt sich bei der Protagonistin in einer elementaren Desorientierung am Erzählanfang in einem heruntergekommenen Zimmer in der Nähe der Leipziger Bahnhofsgleise, als sie die alten Tapeten abreißt und das alte Sofa, aus dem schon die Sprungfedern herausragen, umwirft. Der Sog der neuen Verhältnisse bedrückt sie: »Es hat lange gedauert, bis ich begriff: Alle um mich herum handeln längst. Sie überholen mich alle« (Krauß, 11). Nimmt man das

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Zimmer der Protagonistin für die tiefenpsychologische Spiegelung des ErzählerIchs, so sind die minutiös geschilderten Schichten der alten Tapete der Zustand, in dem sie depressiv die DDR 1994 nachempfindet: In einer hochsommerlichen Nacht reiße ich die Papiere von den Wänden, die holzfreien, geglätteten, die satinierten und geprägten, die holzhaltigen der ersten Verarbeitungsstufe, wunderbare Papiere aus Hadern und Lumpen, einer zähen Masse, wie sie in den Mischtrommeln der Papierfabriken von Heidenau und Merseburg, Bitterfeld und Rosenthal zielstrebig um die eigene Achse schlingerte; sie lassen sich an einer kleinen Unregelmäßigkeit mit zwei Fingern fassen und herunterziehen. Der Mond steht über dem Bahnhofsgelände und bescheint die Gerätewelt. (Krauß 1995, 11)

Diese bilderreiche, ästhetisch anspruchsvolle Erzählung gehört sicher zum Kanon der Post-DDR-Narrative. Wie Monika Maron in Animal triste träumt sich die Erzählerin zur Ich-Erneuerung heraus aus dem grauen und beengten Osten in das als farbsatt empfundene Amerika.

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Die ersten Bilder zur Selbstbefreiung in den Montagsmärschen

In Erich Loests in konventionellem Realismus geschriebenem Familien- und Generationenroman Nikolaikirche (1995) werden die wichtigsten gesellschaftlichen Instanzen (etwa nach dem Vorbild des Holocaust-Films und dessen großer Breitenwirkung), in der Darstellung der Zeit vor dem Mauerfall in einer Familie zusammengeführt. Loest, geboren 1926 in Mittweida, saß über sieben Jahre wegen eines Protests zum Ungarn-Aufstand im Zuchthaus Bautzen ein; er wohnte seit 1981 mit einem Ausreisevisum in der Bundesrepublik. Dann, nach dem Mauerfall zog er nach Leipzig. Das DDR-Unrechtsregime schilderte er überzeugend im Roman Durch die Erde ein Riss (1981). In Nikolaikirche gelang es, die literarisch zunächst eher dämonisierte Staatssicherheitsthematik zugunsten eines menschlich dargestellten MfS-Generals am Ende des Romans glaubhaft in das Porträt der Montagsmärsche einzubringen. Mit Rückblenden, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen, schildert Loest die Familie Bacher, rund um den Volkspolizist-General Albert Bacher und seine Tochter, die zentrale Protagonistin Astrid. Die junge Architektin steigert sich immer mehr in eine Verweigerungshaltung gegen das System und die Vorgaben der Stadtplanung im Frühjahr 1988 in Leipzig hinein. Die Partei schließt sie aus, sie verliert ihre Stelle, ihr Ehemann flüchtet in den Alkohol und sie muss in die Nervenklinik. Nur ihr Bruder Alexander scheint von allem unberührt, bis er als Hauptmann der Stasi seine eigene Mutter überwachen soll. Das Familiendrama wird in alternierenden Kapiteln in Szenen des anschwellenden Protests, ausgehend von der Nikolaikirche, eingebettet. Die Familie schließt sich dem Kir-

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chenprotest an. In einer eindrucksvollen Schlusssequenz in der abgedunkelten Stasi-Zentrale resigniert der Stasi-General, von der DDR-Führung im Stich gelassen. Er verschanzt sich dort in Todesangst und kann kaum glauben, dass die zornigen Bürger der Montagsmärsche es dabei belassen, Kerzen vor dem verhassten Gebäude aufzustellen. Bei aller ästhetischen Beschränkung auf einen in der Handlung kolportagehaften, eingängigen Realismus gelingt Loest ein psychologisch vielschichtiges Porträt des DDR-Staats vor seinem Ende zu Zeiten der Montagsmärsche: Der General hatte die Hände in die Jacketttaschen gestopft, er stand kerzensteil, ein kleiner Mann […], als blicke er in die Gewehrläufe eines Erschießungspelotons. Der Strom bog unter den Baumkronen heraus, untergehakt die erst Reihe. Der General stellte sich vor, zwanzig IM hätten sich in die zweite geschmuggelt, […] doch jetzt brannten unten Hunderte von Kerzen. Wenn sie jetzt stürmten – aber der Druck von hinten schob sie, auf einmal waren andere vorn mit langen Schritten und zerrten den Strom auseinander, vielleicht nun doch besonnene Genossen am Werk. Unten zogen Mädchengruppen, […]. Hüte, Mützen, Ehepaare. Dreißig in der Breite, aber sie bildeten ja keine exakten Reihen. […] Durch die geschlossenen Fenster war ihr Schlurfen zu hören. Schweigsam waren sie wie Lemminge. […] In den Abgrund marschierten sie, warfen sich über die Felskante, sollten sie. […] Die Kerzen am Fuße der Mauer warfen ihren Schein gegen die Simse und die Balkonbrüstung. (Loest 1995, 514–515)

Die Verfilmung als TV-Zweiteiler noch im gleichen Jahr durch Frank Beyer, einem der begabtesten Regisseure aus den Babelsberger DEFA-Zeiten, dem der Autor Erich Loest beim Drehbuch assistierte, verschaffte dem Stoff ein breites Publikum. Der nüchterne, intime Kamerastil mit Video-Kamera vermochte es, »die Stimmung von Freudlosigkeit, von Desorientierung und Apathie« unter den Bürgern eines bröckelnden Systems so einzufangen, dass eine »ergreifend kühle, historische Rekonstruktion« gelang, die im Film auf die Pointe »Kerzen und Gebete« als Stasi- und Mauerüberwindung durch die Montagsmärsche hinausläuft (Simon-Zülch 1995).11 Im Sinne von visual history und kollektiver Refiguration könnte man die faktualen Leipziger Kerzen der Montagsmärsche und ihre literarische Konfiguration bei Loest als Erweiterung des positiven Narrativs zur Wiedervereinigung im kollektiven Freudentaumel auf der Mauer betrachten.12Am Ende des 20. Jahrhunderts, zehn Jahre nach dem Mauerfall, erscheinen Romane, die in differenzierten, dennoch griffigen Bildern zur Öffnung der Grenze und zum Mauertanz die politischen Akzentuierungen der in Ost und West geteilten Perspektiven der Post-DDR-Literatur auf dieses Jahrhundertereignis verdeutlichen. Aus europäischer Perspektive erzeugt der Mauerfall (hier

11 Frank Beyer verfilmte auch Christoph Heins Der Tangospieler, DEFA 1991. Zur TV-Verfilmung: Simon-Zülch, Stuttgarter Zeitung, 30. 10. 1995. 12 Dies als Beispiel einer »Remediation«, vgl. Erll 2007.

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beim Niederländer Nooteboom) notwendigerweise eine andere kollektive Erinnerung als jene im nationalen Gedächtnis. Voller uneingeschränkter Freude über den Mauerfall, den Tanz und die Euphorie berichtet Cees Nooteboom im selben Jahr wie Grass in einem elegischen Liebesroman, Allerseelen (1999), aus der Sicht des Reisenden, der vor einem Jahrzehnt Frau und Kind in einem tragischen Unfall verlor und nun um eine neue Liebe kämpft, aus Berlin, wo er mit der Filmkamera durch die Großstadt streift. Er sieht das Brandenburger Tor als »Spülkasten der Geschichte« (Nooteboom 1999, 156), auch ein griffiges Bild fürs Kulturelle Gedächtnis, durch das Truppen aus verschiedensten Geschichtsphasen zogen, durch ein Siegestor, das er schon so oft im Film sah. Nun erlebt er die »Euphorie«, spürt, wie er »mitgesogen« wird und erlebt, »wie junge Menschen auf der Mauer tanzten, die damals noch stand«. Er war dabei gewesen, als sich dieses Tor erneut geöffnet hatte, wieder eine Euphorie, […] Abend war es, der erste Abend, die Tanzenden wurden von Wasserwerfern bespritzt, aber es kümmerte sie nicht, die weißen Wasserschleier wurden von Scheinwerfern beschienen, er hatte auf die wirbelnden Gestalten der Tanzenden geschaut, auf die durch nichts zu vergällende Freude. (Nooteboom 1999, 157)

Günter Grass beschreibt in Mein Jahrhundert (1999) auf vier knappen Seiten seine mehr als verhaltene Freude mit einer satirischen Anekdote aus zweiter Hand. Sie ist gespeist aus einem Abend von Leipziger Freunden, bei dem er seine Skepsis über die Wiedervereinigung, bekannt seit seiner Polemik zu Ein Schnäppchen namens DDR (1990), vor allem gegen die Treuhand und basierend auf dem Wunsche, die Betonung des Holocaust in einer »alternativen Geschichtsschreibung« zu leisten, auf andere Weise bekundet. Die erste Reaktion auf die Öffnung der Mauer ist für den Ich-Erzähler Grass bei einer Autofahrt von Berlin »ins Lauenburgische« im Autoradio das verspätet wahrgenommene Ereignis, und er quittiert es an der Seite seiner Frau Ute mit Ausrufen »wie zigtausend andere, wahrscheinlich« mit »Wahnsinn!« vor »Freude und Schreck«, um sich dann am Steuer in »vor- und rückläufige« Gedanken zu verlieren (Grass 1999, 332). Dann erzählt er von einem Ostberliner »Bekannten« aus dem Archiv der Akademie der Künste und dessen Erlebnis der Maueröffnung von der »anderen Seite der Mauer«. Man redet nach dem Jogging in Friedrichshain über Winterreifen für den Wartburg des Freundes »bei Korn und Bier« und hat das Fernsehen »fast auf Null« gedreht, da: fiel meinem Bekannten mit kurzem Blick in Richtung tonlose Mattscheibe auf, daß dort offenbar ein Film lief, nach dessen Handlung junge Leute auf die Mauer kletterten, rittlings auf deren oberen Wulst saßen und die Grenzpolizei diesem Vergnügen tatenlos zuschaute. Auf solche Mißachtung des Schutzwalls aufmerksam gemacht, sagte der Bekannte […]: »Typisch Westen!«. Dann kommentierten beide die laufende Ge-

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schmacklosigkeit – »Bestimmt ein Kalter-Kriegs-Film« –- und waren bald wieder bei […] fehlenden Winterreifen. (Grass 1999, 333–334)

Als man endlich den Ton der »Glotze« voll aufdreht, kommt die Rede sofort auf »die neue Zeitrechnung«, im »Bewußtsein der […] mauerlosen Zeit« und das »richtige Geld«: Nur noch den restlichen Korn gekippt, dann weg und hin zur Invalidenstraße, wo sich bereits die Autos – mehr Trabant als Wartburg – stauten, denn alle wollten zum Grenzübergang hin, der wunderbar offenstand. Und wer genau hinhörte, dem kam zu Ohren, daß jeder, fast jeder, der zu Fuß oder im Trabi in den Westen wollte, »Wahnsinn!« rief oder flüsterte, wie ich kurz vor Behlendorf […], mich dann aber auf Gedankenflucht begeben hatte. (Grass 19996, 334)

Hier wird der Clash zwischen Diktatur- und Identitätsnarrativ implizit angesprochen. Grass’ Bekannter spricht aus östlicher Identitätssicht von »Mißachtung des Schutzwalls« und typisch westdeutschem »Kalter-Kriegs-Film«, während der erzählende Grass aus westlicher Sicht »Wahnsinn« ruft, die Warteschlange der Trabis als Signum der Freude und Befreiung im Blick. Thomas Brussig will in seinem umfangreichen Roman Wie es leuchtet (2004) in einem Erzählverfahren der Gesellschaftspräsentation mit Szenen aus beiden Deutschland die Erinnerung an die erste Euphorie der Befreiung (ähnlich wie Fotos vor der Vernichtung durch die Oderüberflutung) bewahren. Dennoch wirkt sein kürzerer voraufgehender Text durch das Humorgedächtnis darin und dessen Verfilmung, die Erzählung Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) unter ursprünglicher Zusammenarbeit von Leander Haußmann (Drehbuch und Film) entstanden, im kulturellen Gedächtnis weiter als ein Festhalten »reiche[r] Erinnerungen« (Brussig 1999, 157).13 Der Film ist Teil der Ostalgiewelle um 2000. Für den Mentalitätswandel im ersten Jahrzehnt nach 2000 sind solche Autobiographien wie Jana Hensels Zonenkinder (2002, von ihr abwechselnd als »Bericht«, »Essay« oder »Roman« bezeichnet), Jakob Heins gänzlich anders erzählter Pop-Roman Mein erstes T-Shirt (2001) oder Clemens Meyers eher melancholischer Rückblick auf die gewaltbereite Jugend seines Helden in Als wir träumten (2006), wichtig als verschiedene Aspekte einer Identitätserfahrung in den letzten Jahren der DDR. Bei den genannten Autor*innen fällt die Auflösung des Systems bei ihrer rückblickenden Schilderung in die Jahre der Adoleszenz. Hein erinnert in unbeschwerter Tonlage, wo Meyer und Hensel zum Teil einen melancholischen

13 Der Dank an das in gemeinsamer Arbeit am Drehbuch entstandene Werk findet sich im Vorspann, 4. Der Film von 1999 mit Teresa Weißbach als Miriam wurde vielfach gelobt, u. a. auch von epd film ,16 (1999), H. 10, 34–35. Vgl. Wehdeking 2007, Kap. 3: »Thomas Brussig: Sonnenallee und Wie es leuchtet; vom Drehbuch zur Erzählprosa, zweierlei Zeitpanorama und Satire«, 41–53.

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Umgang mit dem SED-Erbe erkennen lassen. Bei allen drei Autor*innen14 wird die nun deutliche Distanz zur eine Dekade zurückliegenden ›Ostalgie‹-Welle thematisiert, wobei Hein eher dem Pop-Roman Einflüsse abgewinnt, während Meyer die nach dem Mauerfall einsetzende Ziellosigkeit und sich in destruktiver Gewalt und Drogen auslebende Leere im Lebensgefühl einer Jugend-Gang jenseits politischer Konnotate beschreibt. Hensel mischt Ostalgie mit Zuversicht bei ihrer weiteren, durch die Erfahrung vielschichtig geprägten Entwicklung in DDR und Bundesrepublik zu gleichen Hälften. Erst später, in Achtung Zone, zeigt sie zunehmende Skepsis für die eigene kulturelle Reintegration in der Kulturnation. Bei Clemens Meyer verstärkt die in der Kritik hochanerkannte, späte Filmadaption von Als wir träumten (2006) durch Andreas Dresen (2015) die Wirkung eines Leser- und Filmpublikumseinblicks in das Coming-of-Age in der Großstadt in einer geschlossenen Gesellschaft. Jana Hensel schlägt in Achtung Zone vor, die enorme Anpassungsleistung in den Familien verlange auch dort ein kritisches Gespräch zwischen den Generationen, wo es um Mitarbeiter der Staatssicherheit und IMs in der eigenen Familie ging, da es dieses Gespräch bislang »kaum gegeben« habe: Wir Nachgeborenen hängen an solchen Erzählungen wie an einem seidenen Faden. Was sollen wir glauben und was nicht? Obendrein verweigern immer noch viele derer, die uns Antworten geben könnten, das Gespräch. Wer aber soll, wer kann den Anfang machen? Die Kinder? Oder die Eltern? […] Vielleicht entsteht ja deshalb diese Melancholie, die mir an den ›Kindern‹ meiner Generation und an mir selbst oft aufgefallen ist. […] Es ist dünnes Eis, das uns trägt. Es ist das Gefühl, schon einmal gestorben zu sein. (Hensel 2009, 180)

Solche Bilder (wie der ›Gang über dünnes Eis‹) sind zwar im Mentalitätswandel der DDR-Autor*innen nicht im engeren Sinne mit dem Mauer-Thema und visual turn verknüpfte Gefühlslagen, gehören jedoch als Nachhall der geschlossenen Gesellschaft nach dem Mauerfall in vielen DDR-Biographien zum Thema des nicht bewältigten Umbruchs von 1989. Das bislang im Gespräch zu wenig aufgearbeitete Identitätsnarrativ im Familienalltag zwischen den Generationen kann auch nicht darauf rechnen, Bildikonen zu zeitigen, wie so vieles im DDRAlltag, behält jedoch seine Relevanz auch heute, gut dreißig Jahre nach dem befreienden Mauerfall. Das hier von Hensel gemeinte Eis scheint immer noch dünn und als Bild treffend. Uwe Kolbe spricht über die Ost-Prägungen und ihren Nachhall, von dem er sich befreien möchte, in eindrucksvollen Bildern, auch in der Prosa seiner Betrachtungen in Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe (2011) und in den späteren Gedichten in dem Band Lietzenlieder (2012) (Kolbe 2011, 33–71). 14 Jana Hensel ist 1976, Jakob Hein 1971, beide in Leipzig, und Clemens Meyer 1977 in Halle/ Saale geboren.

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Die späten Rückblicksromane von Uwe Tellkamp, Der Turm (2008), und Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011), wurden beide preisgekrönt und international vielbeachtet. Der für die poetische Dichte seines Romans vergleichsweise junge Dresdener Autor, der 40-jährige Arzt Uwe Tellkamp, hat über die bildungsbürgerlichen Generationenerfahrungen in der späten DDR (und deren letzte sieben Jahre) in postideologischer und kulturnationaler Erinnerung geschrieben, die sogar bis zu Goethes Weimar und Wilhelm Meister[s] Turmgesellschaft Durchblicke auf den Humanismus der Klassik und die lange Tradition der Kulturnation erlauben. Das 976-Seiten-Opus präsentiert aus der Sicht des Helden mit dem der Romantik entlehnten Namen Christian Hoffmann (in Anspielung auf E. T. A. Hoffmann) einen vielfigurigen Roman der Gesellschaftspräsentation und ein minutiöses Porträt Dresdens vor dem Mauerfall. Entstanden ist ein Mikrokosmos der DDR, in dem sich die riesige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus ablesen lässt. Die ›Geschichte aus einem versunkenen Land‹, so der Untertitel, versammelt alles, was zum materiellen wie ideellen Bankrott der DDR beigetragen hat, vom Wohnraummangel über die schwierige Versorgungslage bei den Konsumgütern bis hin zu gefälschten Landkarten, von einzelnen Markenartikeln wie Orwo-Film über katastrophale Zustände in der medizinischen Versorgung und im Rechtssystem bis zum Verhältnis der DDR-Bürger zu ihren russischen ›Freunden‹. (Geier 2008, 1–3)

Es geht um die »sorgfältige Rekonstruktion einer Lebenswelt« in der Erziehungsdiktatur, Einblicke »in Schule, Verlag, Gesundheitswesen, Militär und Wirtschaft« (Geier 2008, 2). Der während seiner NVA-Zeit beinahe von einem Panzer überrollte Protagonist erlebt Erpressungen des MfS in seiner Familie und muss zusehen, wie Polizisten seine Mutter am Dresdner Hauptbahnhof verprügeln. Er greift nach dem Unfalltod eines Mitsoldaten einen Vorgesetzten an. Tellkamp verwendet im Lektor Meno Rohde eine zweite Erzählinstanz zur Verbürgung von Authentizität und lässt seinen Helden zunächst Schikanen des Systems erleben, bis dieser schließlich selbst ins Gefängnis gerät, vor dem ihn die Familie lange schützen konnte. Man entzieht ihm die Zulassung zum Medizinstudium, er kommt in die Militärstrafanstalt Schwedt und zur Strafarbeit in ein Chemiewerk. Christian erkennt, dass er als Systemgegner bestraft wird und summiert, wobei dies Bild existentieller Einsamkeit statt Solidarität aus dem symbolgesättigten Roman fürs Kulturelle Gedächtnis und die mémoire collective (Halbwachs) bleibt, wie folgt: Die Idee, daß er nun im Innersten des Systems angekommen sein mußte, ließ Christian eine lange Zeit in der noch längeren Dunkelheit der Zelle nicht los. Er war in der DDR, die hatte befestigte Grenzen und eine Mauer. Er war bei der Nationalen Volksarmee, die hatte Kasernenmauern und Kontrolldurchlässe. Er war Insasse der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, hinter einer Mauer und Stacheldraht. Und […] hockte […] im

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U-Boot, hinter Mauern ohne Fenster. Jetzt also war er ganz da, jetzt mußte er angekommen sein. […] Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand. (Telkamp 2008, 827)

Tellkamps Protagonist nimmt hier das durch NVA- und Stasi-Repression als kaserniertes Dasein hinter der Mauer empfundene Leben in den Blick, das Leben in einer dunklen Zelle, wie es der Autor 2008 erinnert. Die Familie der Weimar bewundernden Türmer schließt sich am Ende teilweise der Bürgerbewegung an, Christian wird durch Lernbesessenheit und Liebe zur klassischen Musik zum schulischen Außenseiter. Er hat den »Kompass«, wie auch der Autor und Lieblingsonkel Meno, »unbeirrbar auf Weimar gerichtet«. Die »Musennester« sind beider Fluchträume, »je toter, desto besser«, eine Schattenwelt des Elbflorenz, in der sie durch ihre Zeitflucht indirekt zu den Problemen ihres erstarrten Systems, konnotiert in der verfallenden Stadt, beitragen. Dass der Roman nur eine Minorität in der DDR-Gesellschaft beschreibt, mindert seine Leistung für das Archiv des Kulturellen Gedächtnisses nicht, denn die Perspektive des »Typischen«, wie sie die sozialistische Ästhetik anmahnte, muss er nicht einhalten. Tellkamps Turm gilt (eine besondere Auszeichnung unter Mit-Autoren und Konkurrenten der Zunft) als der Wenderoman par excellence, etwa bei Thomas Brussig (2015, 321–322), auch wenn er in der Handlung nur zum Jahr der Wende und dem Mauerfall hinführt. Der »Wende«-Terminus bleibt nach der ersten Dekade nach dem Mauerfall literaturwissenschaftlich umstritten, weil Egon Krenz den schillernden Begriff zuerst prägte. Bereits der populäre Terminus »Wendeliteratur« (mit der implizit bis etwa 2000 anhaltenden Erwartung des großen ›Wenderomans‹) weist auf das Moment der Diskontinuität nach jener friedlichen und ›sanften‹ Revolution (wie Martin Walser es formulierte), je nach Blickpunkt auch Implosion, Umbruch, oder abgetriebene Revolution (vgl. Brüns 2006, 9–30, 21 und 28). Von dieser neuen Warte aus, wie sie sich anders situiert auch in Brussigs Wie es leuchtet (2004) und der Erzählprosa Ingo Schulzes nach zwei Dekaden (»Handy«, Adam und Evelyn, 2008) im Bild der Austreibung aus dem Paradies zeigt, vor allem aber bei Eugen Ruge, erscheint ein Rückblick auf die Nachwendeprosa im neuen Millennium nicht mehr so stark in ungleichzeitige Aporien und Heterotopien zu führen. Eugen Ruges Familien-, Zeit- und Gesellschaftsroman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) gehört, als Bestseller mehrfach preisgekrönt15, als ästhe-

15 Noch 2011 erhielt Ruge für seinen Generationenroman den Deutschen Buchpreis, aber bereits vor Erscheinen 2009 den Alfred-Döblin-Preis. 2011 folgte noch der Aspekte-Literaturpreis. Die Begründung der Jury für den Deutschen Buchpreis lautete: »Eugen Ruge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Ein-

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tisch anspruchsvoller Roman über die drei DDR-Generationen seit der »Ankunftsliteratur« bereits jetzt absehbar zum Kanon. Der multiperspektivische Blick auf die Vorgeschichte einer Kommunistenfamilie im Widerstand gegen das NS-System und, nach der Emigration der Umnitzer-Familie, die Schilderung der vierzig Jahre DDR bis zum parallelen Niedergang der Familie, führt das politischideologische Denken der Familienmitglieder, deren Zusammenhalt sich mit dem Mauerfall auflöst, immer parallel zum psychologischen Unglück solchen Lebens. Alle bleiben ohne gegenseitiges Verständnis und, gemessen an der intellektuellen akademischen Erwartungshaltung dieser DDR-Führungsschicht, in dürftigen Kulissen eines immer Opfer verlangenden Lebensstandards. Der Titel mit der melancholischen Lichtmetaphorik wird im Text auf mehreren symbolischen Ebenen eingeholt. Markus’ Großvater Kurt Umnitzer, geb. 1921, ist anerkannter Professor für russische Geschichte in der HumboldtAkademie und vier Generationen versammeln sich zum erzählerischen Höhepunkt des Geburtstages seines Vaters, des 90-jährigen Wilhelm, der einst für den Geheimdienst arbeitete. Das Fest fällt fast mit dem Mauerfall zusammen. Teile der DDR-Elite sind anwesend. Während Wilhelm Powileit mit hoher Greisenstimme unbelehrbar die Parteihymne im stalinistischen Geist zum Besten gibt, entsteht das zentrale Bild dieses Großromans fürs Kulturelle Gedächtnis: es ist ein Dingsymbol und ein griffiges Bild. Denn der von Wilhelm dilettantisch zusammengenagelte Ausziehtisch mit allen Geschenken kracht in zwei Hälften zusammen. Dies Ende fungiert als Coup de théatre und Symbol in einer schwarzen Komödie, die die Brüchigkeit der privaten Beziehungen und des Systems veranschaulicht. Der Tisch kracht mit einem »grausigen Geräusch«, das die Kante beim Zusammenprall mit dem Schädel eines Stasi-Obersten macht, in zwei Hälften auseinander, voll mit Blumenvasen und Geschenken hoher Parteifunktionäre. »Sie sah ihn noch vor sich stehen, die zerbrochene Brille in seinen Händen. Zitternd. Die großen Augen schwammen hilflos in seinem Gesicht« (Ruge 2011, 389–390). Die symbolträchtige Feier durchzieht sechs der 20 Kapitel des Romans als fatale Pointe. Zudem hinterlässt Kurt Umnitzer sogar eine Notiz über die »Hinrichtung« des Parteigenossen Rhode in »einem blauen Trabbi im Wald mit beschlagenen Scheiben« (Ruge 2011, 421) und Wilhelms Ehefrau vergiftet ihren dementen Mann mit einem Tee, um ihre letzten Jahre von dem autoritären Funktionär ungestört im Pflegeheim zu leben. Eugen Ruges Roman wird wegen seiner Leitmotivtechnik und der Verfallsgeschichte einer Familie bereits mit den Buddenbrooks von Thomas Mann verglichen (vgl. Kegel 2011, Knipphals 2011, Kumpfmüller 2011, Magenau 2011, Fugmann 2011). Im Bildgedächtnis bleibt zelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen. Zugleich zeichnet sich sein Roman durch […] Unterhaltsamkeit und […] Komik aus.«

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auch die lange, vergebliche Suche von Vater und Sohn Umnitzer nach einem »Broiler« beim Durchwandern eines ganzen Berliner Viertels. Mit der Suche nach dem Wende- oder Berlinroman war es spätestens um 2000 vorbei. Die Verweise auf Ereignisgeschichte wichen dem Erzählen von Geschichten aus privater Perspektive. In experimentell und expressionistisch wirkenden Berlin-Romanen von Inka Parei (geb. 1967), Die Schattenboxerin (1999), Norman Ohlers Mitte (2001) und Yade Karas deutsch-türkischem Selam Berlin (2003) zeigen sich neue Ansätze der jüngeren, nicht ostgeprägten Autorinnen. Die kulturelle Reintegration im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Kulturnation mit jahrhundertelanger Geschichte lässt sich bei aller Identitätsbeharrung von Post-DDR-Autor*innen in den Autobiographien seit 2000 als vorausgesetzter Bildungshintergrund in Ost und West gemeinsam feststellen, erst recht in den jüngsten Familienromanen, wenn es um Medienbezüge, internationale Erzählmodelle, Intertextualität, Intermedialität und gegenseitige Adaptionen geht.16 Der 1964 geborene Kieler Autor Jan Groh legte 2001 einen zunächst nur in einem »Books on Demand« Verlag publizierbaren, daher kaum wahrgenommenen Wenderoman mit experimentellen Stilisierungen vor.17 Der zunächst mit dem Titel Colón, dann 2010 unter dem Titel Ostbrot. Eine Irrfahrt im Wendeherbst publizierte Roman beschreibt eine Ostberliner Hochzeit kurz vor der Maueröffnung, bei der der westdeutsche Held eine junge Frau aus der Dissidentenszene der DDR herausheiraten soll und für eine kurze Zeit als dazu gezwungener IM fungiert. Hochzeit und Flucht beider gelingt durch die Maueröffnung. Das in einem mündliche Rede nachahmenden, oft nur Satzpartikel als Inneren Monolog präsentierenden Stil erzählte, in Barcelona beginnende Narrativ um den zeitweisen IM »Colón« Ludger Braun zitiert die Bildklischees der sich anbahnenden Maueröffnung (seit Mauerbau) in einem den Filmschnitt nachahmenden Verfahren:

16 So reklamiert z. B. Thomas Brussig für seine Erzählperspektive ›von unten‹ Günter Grass, Philip Roth und John Irving. Die Adaptionen fürs Theater von Tellkamps Der Turm unternahmen 2010 Armin Petras und John von Düffel, uraufgeführt jeweils in Dresden (Wolfgang Engel, 24. September 2010) und Wiesbaden (T. Gersch, 20. November 2010). Eine wichtige Filmtransformation unternahmen im Jahre 2011 die Produzenten Nico Hofmann und Benjamin Benedict mit der Firma TeamWorx in einem TV-Zweiteiler für die ARD/Degeto und den MDR. Der Regisseur Christian Schwochow, mit den Darstellern Jan Josef Liefers und Claudia Michelsen u. a., versuchte mit gedeckten Farben den Alltags-Grauschleier der DDR wiederzugeben. Drehbuch: Thomas Kirchner, 172 Min. Laufzeit. Die DVD der Universum Film GmbH kam 2012 heraus. 17 Neuauflage unter dem Titel Ostbrot. Eine Irrfahrt im Wendeherbst. www.prospero-verlag.de /groh_jan_69 html. Stand 14. Mai 2015. Erst Arne Born macht (nach einer anerkennenden Rezension von Marko Martin 2002) auf dessen Bedeutung als wichtiger Wenderoman aufmerksam (2019, 535–552).

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Ludger warf sich auf sein Sofa und vor den Fernseher. […] War der achtundzwanzigste Geburtstag der Mauer. Ein Rückblick. Bilder. Ein Sprecher zählte paar hundert Tote an der innerdeutschen Grenz, rekapitulierte die Historie. Ein Soldat warf sein Gewehr weg, sprang über Stacheldraht. Menschen plumpsten in Sprungtücher. Photos von einem Reglosen, neben ihm ein Soldat mit MP. Schnitt. Menschenmenge. Ein Fenster in schwarzweiß. Winken. Bemühungen um die Menschen, hieß es. Willy Brandt und Willi Stoph in Erfurt. Rufe: Willieh, Willieh. […] Begeisterter Empfang. Ausgangspunkt der neuen Deutschlandpolitik. Dann Besuchsverkehr. Milliardenkredite. Gorbi. Bilder vom Tage schließlich. Der andifaschistsche Schußwall, sagte Honeckermännchen, Bruderstaaden, gemeinsame Verteidigung, für alle Sozialistschen […]. Der Klassenfeind und die Nodwendichkeit. Punkt. Schnitt. […] Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin. Bilder. Seit Anfang Mai baute Ungarn seine Grenzbefestigungen zu Österreich ab. […] Nochmal Schnitt. In Moskau fand ein Heavy-Metal-Friedensfestival statt. Zweihunderttausend Teilnehmer, Musik und Licht und Nebel. (Groh 2001, 28)

Die hier als zur Serie von Klischees in Medienbildern vom Mauerfall verfestigte mémoire collective erweist sich bereits um die Jahrtausendwende als eine Reihe von verblassenden Bildern. Das faktuale Bild der Journalist*innen in den Printund TV-Medien stellen an die Autor*innen-Kreativität in den fiktionalen Narrativen die Aufgabe, vom empirischen Mauerfall-Bildklischee fortzukommen. Es gilt, von solchen ›Bildoberflächen‹ zum originellen Blick auf die Umbruchsikonen im visual turn ihrer Erzählprosa-Bilder und den ungewöhnlichen, jedoch umso frischer bleibenden Bildern der Remediation zu finden.

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2000 bis 2020: Verlust der Utopie und in der letzten Dekade auslaufende Bildintensität in der Post-DDR-Prosa

Monika Maron spielt im Bild ihres Romantitels von den Endmoränen (2002) auch über die Landschaft der verbliebenen Gletscherrückstände in einem Dorf Basekow (dem Penkun der Autorin) nahe der Oder und polnischen Grenze auf die symbolisch mit den enttäuschten Versprechungen der DDR-Tauwetterperioden verbundenen Erinnerungen an. Die Ich-Erzählerin, eine dort Konzentration suchende, aber oft vereinsamte Schriftstellerin Johanna, schreibt an einer Biografie der Gräfin Lichtenau und erholt sich vom Berliner Leben mit ihrem Mann und Kleistforscher Achim, der sich gerne in seine Forschung vergräbt, so dass sie nur seinen »Rücken« zu sehen bekommt und am Sinn der Ehe zu zweifeln beginnt. Ihr rousseauistischer Sinn für Natureinsamkeit hilft bei der Schreibkonzentration und am Ende kommt sie mit guten Vorsätzen und neuer Liebesabsicht nach einem kurzen One-Night-Erlebnis mit dem russischen Kunsthändler Igor wieder nach Berlin zurück. Was ihr seit dem Mauerfall fehlt, sind die Zeiten kodierten Schreibens in Richtung einer Systemveränderung im Widerstand. Im oberen Stockwerk ihrer Datsche sitzt die Autorin beim Schreiben »wie

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auf einem Schiff inmitten der sanften Hügel des Eiszeitmeeres« und hält »Ausschau nach Land«, oder einem neuen Lebenssinn. Maron spürt früh in den Bildern der Gewalt-Gruppen im Oderdorf die heraufziehende Tendenz zu ganz anderen Montagsmärschen. An das bleibende Bild der Montagsdemonstrationen erinnert ein 2018 erschienener Roman von Thorsten Palzhoff: Nebentage.18 Palzhoff erzählt das Erlebnis der nach dem Fall der Mauer andauernden Montagsmärsche, als wäre sein jugendlicher Protagonist dabei gewesen. Seine Perspektive der »Field Memory«19 lebt aus der mittlerweile historiographisch gewachsenen Bedeutung der Montagsmärsche als ostdeutsche Selbstbefreiung, wie sie dreißig Jahre danach auch in der bundesdeutschen Sicht Geltung beanspruchen kann: Erzählt wird die Geschichte von Tobias Voss, der als Felix Fehling in Bonn geboren, nach der Wende ins postrevolutionäre Leipzig gerät, eine neue Identität annimmt und mit der jungen Nica durch jene historischen Wochen streift. Mehr Familien-, Kriminal- und Leipzigroman denn Wenderoman […], nicht zuletzt ein ausgezeichnetes Formbewusstsein und eine ›domestiziert expressive Sprache‹ voller wunderbarer Wortneuschöpfungen. (Cammann 2018)20

An einem Rosenmontag im Leipzig des Frühjahrs 1990 folgt der homodiegetische Erzähler Felix, nun Tobias genannt, seiner neuen Ost-Freundin Nica von den sich sammelnden Montagsdemonstrant*innen hinter der Oper zum Obelisken des Mendebrunnens. Felix hat Nica gerade erst kennengelernt, beeindruckt durch das blasse Gesicht eines Mädchens in seinem Alter. Das Mädchen ist einen halben Kopf größer als er, der ihre »neugierigen blauen Augen« wahrnimmt und die im Regenguss »nassen, pechschwarzen Strähnen« auf dem Weg zur Montagsdemonstration. Felix bewundert ihren Mut, wundert sich aber auch: die Mauer war doch schon offen, die Revolution beendet? Als ich hier und da in der Menge Schilder und zusammengerollte Banner sah und mir dämmerte, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, wurde mir vor Aufregung ganz übel – […] Wie schwindlig mir auf einmal war. Die Langsamkeit, das dichte Geschiebe, die Stimmen von allen Seiten – eine einzige Überreizung meiner Sinne […]. Ich war so benommen, dass ich abrupt stehen blieb und wie eine Marionette vornüber sackte. Ich hörte Nicas heiseren Ruf. War ich das, dem sie unter die Arme griff ? […] »Atmen«, sagte sie, und da erst fiel mir auf, dass ich wie ein Hund hechelte. […] vor uns ein weiter Platz – so riesig und von einer so

18 Der Roman wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur gefördert. 19 Diese Form der Erinnerung, die field memory, als gäbe der Erzähler unmittelbar auf der erzählten Zeitebene seine damaligen, jugendlichen Eindrücke wieder, kann auch ›Kinderblick‹ genannt werden, vgl. Gansel 2010, 24. 20 Jutta Person: »Doppelgänger«, Die Süddeutsche,13. März 2018, bewundert die »Zweideutigkeiten und Grautöne«, aber auch die bildintensiven Zeichnungen des Antihelden im Gefängnis und die »Sogkraft« der »schwarzen Tragikomik des Romans«.

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gewaltigen Menschenmasse erfüllt, dass ich beinahe den nächsten Anfall […] erlitt. Menschen, überall Menschen. (Palzhoff 2018, 104) Nica, noch immer um mich besorgt, drehte sich oft zu mir um. Überall Stimmen: An schräg aufgebockten Auslageflächen wurde in Ost- und Westdialekten um den Preis für emaillierten, gedruckten, genähten DDR-Ramsch gefeilscht. […] Und ich stellte mir vor, wie in der aufgeheizten Menge ein aus den Lautsprechern gellender Aufruf, ein Pistolenschuss das Chaos eines Umsturzes entfesseln würde. Ich atmete tief durch, löste gewaltsam den Blick von der Masse und sah, wie sich über der Szenerie – dort, wohin die Spitze des Obelisken wies – die strahlend helle Sichel des Mondes durch die aufreißende Wolkendecke pflügte. (Palzhoff 2018, 105–107)

Diese ›Bilderschau‹ in subjektiver Perspektive erlaubt ein ›Hineinsteigen‹ der Figur in das historische Bild. So leistet die field memory aus der Sicht von Palzhoffs 18-jährigem Protagonisten eine frisch bleibende kulturelle Erinnerung und neue Aufmerksamkeit für die aktuell geltende Einordnung der ostdeutschen Selbstbefreiung als der für die Friedliche Revolution entscheidenden Voraussetzung. Als der 18-jährige Felix die Revolution 1989 noch im Fernseher in Dortmund sah, und fasziniert den Demonstranten zusah, kommt des Autors Einstellung zum Geschehen und dem Verdienst der kirchlichen Bewegung und der Montagsmärsche bei aller Rollenprosa deutlich zutage, ähnlich, wie er seinen Roman nicht als »Wenderoman« verstanden wissen will (Cammann 2018): »Sie hatten sich mit einem neuen Leben beschenkt, einem Neubeginn, einem Zurücksetzen des in den Sand gesetzten Entwurfs« (Palzhoff 2018, 91). In ihrem Aufsatzband, der zehn Jahre von 1999 bis 2009 umfasst, erlaubt Monika Marons Rückblick auf das friedliche Revolutionsjahr von 1989/90 eine distanzierte, für ein Fazit geeignete, Perspektive auf das 20 Jahre zurückliegende Geschehen: Die Bundesrepublik Deutschland feiert in diesem Jahr ihr sechzigjähriges Bestehen. Ein Drittel dieser Jahre ist schon unsere gemeinsame Zeit. Und trotzdem erweckt es oft den Eindruck, das deutsche Original, auch in der Literatur, ist bundesdeutsch, der Osten eine seltsame Abart. Es ist an der Zeit, die Literatur, die in der DDR entstanden ist oder sie als Erfahrungsmaterial verwendet, an ihrer literarischen Qualität zu messen, statt sie nach ihrem geographischen Standort oder ihrem politischen Standort zu klassifizieren. Die DDR war das Ergebnis der gemeinsamen deutschen Geschichte, und die Literatur, die in ihr geschrieben wurde, ist deutsche Literatur, gute oder schlechte, wahrhaftige und verlogene. […] Vielleicht wird manches überleben, aber das entscheiden nicht wir. (Maron 2010, 206)

Mit diesem Anmahnen eines auch ästhetisch geleisteten Einmündens von gelungenen Romanen ins kulturelle Archiv und den Kanon einer gemeinsamen Kulturnation mit langer Geschichte lässt Monika Maron implizit erkennen, dass sie ihre Romane seit Flugasche und noch in der geschlossenen Gesellschaft geschrieben, in dieser Reihe bleibender Narrative vermutet.

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Ihr versöhnlicher Rückblick klammert aus, dass gerade ihre ersten Romane, Flugasche (1981) und Die Überläuferin (1986), von der Publikation in der DDR in einem fast zehnjährigen Zensurvorgang seit den frühen 1970er Jahren ausgeschlossen wurden (Braun und Walenski 2012). Das Zusammenwirken an ihrem eklatanten Zensur-Verfahren, von ihrem Greifen-Verlag, der Hauptverwaltung Verlage, des MfS, von hohen Parteifunktionären und dem für Autor*innen und Filmemacher repressiven Staat (nach einer kurzen Tauwetterperiode nach der Wahl Honeckers 1971 und der Zurücknahme schriftstellerischer Freiräume), deutlich durch die Biermann-Ausbürgerung 1976 als Anfang des kulturellen Exodus, führte bei ihr zu einem immer wieder neu akzentuierten Zensurvorgang. Erst in Stille Zeile sechs (1991) konnte sich die Autorin Luft machen. Im Portalfilm Das Leben der Anderen (2006) erfahren drei Kulturschaffende (der kaltgestellte Regisseur Jerska, die Schauspielerin Christa-Maria Wieland und der Autor Georg Dreyman), was Unterdrückung und Zensur durch Stasi und Minister bedeuten, bis zum fatalen Ausgang. Christian Schwochows Filmadaption von Der Turm lieferte 2012 jede Menge Bilder für das ›Identitäts-Narrativ‹ aus Post-DDR-Sicht im wiedererstarkten Selbstbewusstsein der heute dort lebenden Bürger eine Generation später.21 Das Zusammenspiel von der Leser-Erwartung an zunehmenden visuellen Realismus und von Bildern in den Medien, in Filmen und Fernsehsendungen, Videospielen und Social Media, sowie YouTube, schlägt heute und zunehmend bereits nach 1990 auch auf die sprachlichen und narrativen Bilder in unserer Erinnerung an die Maueröffnung, die Prager Botschaftsflüchtlinge und den Tanz der Euphorie auf der Mauer durch. Deren Endlosloop und Verschleifung zu einem kompakten Fluss von visuellen und affektiven Klischees in der mémoire collective spiegelt sich in der Erinnerung des 18-jährigen Pikaros Felix an die Maueröffnung in Thorsten Palzhoffs Rekapitulation der Revolutionsbilder: Es folgte eine Sondersendung [zu den Montagsmärschen im Fernsehen, V.W.], deren Anmoderation mit den verwackelten Bildern einer Massendemonstration unterlegt war. […] Was wir sahen, war ein zusammenfassender Rückblick auf Ereignisse, die ich bislang nur am Rande wahrgenommen hatte: Flüchtlinge in den Botschaften von Warschau und Prag: Menschen, die sich mitten im Pulk in die Arme fielen; eine Kolonne von Trabbis fuhr unter Applaus durch die Menge; die rittlings der Berliner Grenzmauer aufsitzenden Enthusiasten. Ich kannte die Bilder, hatte mich aber nie sonderlich für ihre Geschichte interessiert. (Palzhoff 2018, 83)

Bei diesen offensichtlich bereits zu Bild-Klischees der Euphorie nach dem Mauerfall verschliffenen Erinnerungen des Protagonisten bestätigt sich das von 21 Zur Terminologie »Diktatur-Narrativ« vs. »Identitäts-Narrativ« vgl. Brauer 2016. Auch die Autobiografie romancée von Guntram Vesper (geb. 1941), Frohburg, enthält mit 1002 Seiten Umfang minutiös DDR-Bilder von 1949–1957.

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Aleida Assmann und früh schon durch Maurice Halbwachs beobachtete, kulturelle und kollektive Gedächtnis als in wenigen Bildern abgelagertes, nach aktuellen sozialen Relevanz-Rahmen (und nicht spontan) heraufgerufenes ›Novembergefühl‹ (vgl. Führer und Brauer 2016, 11–26 und 77–95).22 Erzählliteratur und deren zentrale Bilder zu soziopolitischen Phänomenen wie dem Mauerfall unterliegen dem historischen Kontext, aus dem sie geschrieben werden. Da ist, dreißig Jahre danach, das anfangs brauchbare Differenzierungsraster von Diktatur-Narrativ und Identitäts-Narrativ spätestens im letzten Jahrzehnt einer bundesdeutschen Synthese zugunsten eines Integrationsnarrativs gewichen, da man nun von den Auswirkungen wirtschaftlichen Aufholens und der dadurch gestützten kulturellen Integration der Neuen Bundesländer ausgehen kann. Beunruhigend bleibt das Erstarken einer neuen rechtslastigen Protestpartei. Das in den Montagsdemonstrationen erworbene Selbstbefreiungs-Image der PostDDR-Bürger führt zur relativen Indifferenz gegenüber der nun zum Klischee verblassten Mauertanzeuphorie als Bildikone des ersten Jahrzehnts und der späten narrativen Relevanz der Montagsmärsche bei Thorsten Palzhoff, der den Montagsdemos Bilder entlockt, die trotz retrospektiver Erzählsicht die Intensität der Field Memory seines jungen Protagonisten vorweisen, einer postrevolutionären Sicht der frühen 1990er Jahre.23 Arne Born beobachtet in seiner aktuellen Literaturgeschichte (2019) der ersten Dekade nach dem Mauerfall, dass der Endlos-Loop der TV-Bilder zum Geschehen originelle und neue Bilder in der Fiktion bedingt, um die »epochalen Vorgänge künstlerisch zu gestalten« (Born 2019, 569). Nach den mit epischer Distanz gelungenen Großromanen von Tellkamp und Ruge im auslaufenden zweiten Jahrzehnt, teilhabend an beiden Narrativen ( jenem jeweils von Diktatur und Identität) folgen im dritten Jahrzehnt eher wieder Identitäts-Narrative, diesmal stärker auf die Montagsmärsche fokussiert. Ein Wenderoman ohne Wende in Brussigs Roman Das gibt’s in keinem Russenfilm (2015) belegt das Auslaufen des Interesses am Mauerfall. In Thomas Brussigs neuer Satire gibt es weder Mauerfall noch Wiedervereinigung. Den DDR-Bürgern ist im 21. Jahrhundert das Pendeln erlaubt. 22 Von Maurice Halbwachs stammt die Theorie des Kollektiven Gedächtnisses nach der sozialen Relevanz gegenwärtiger Perspektiven des/der Erinnernden: M. H. Les cadres sociaux de la mémoire [1925], dt. Das Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen, Stuttgart 1966; La mémoire collective [1950], dt. Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. Man kann nicht vergessen, was man seither über das Erinnerte gelernt hat, und wissen, was man damals wusste. Die Gefühle von einst lassen sich erst recht nicht spontan und intakt heraufbeschwören, nur den damaligen Umständen entlang rekonstruieren. 23 Arne Born beobachtet zu den Medien-Klischees der Wende: »Ohnehin sind die Fernsehbilder von den genannten Ereignissen durch vielfache Wiederholungen im kollektiven Gedächtnis so fest verankert, dass die Literatur einen eigenen Weg finden muss, die epochalen Vorgänge künstlerisch zu gestalten« (2019, 569).

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Die bleibenden Bilder zur ›Heldenstadt Leipzig‹ entstammen vielmehr dem 2014 wiedergezeigten TV-Film Frank Beyers von 1995 nach Erich Loests populärem Roman Nikolaikirche (1995) mit einem Starcast, der ein Millionenpublikum erreichte (Barbara Auer, Ulrich Mühe, Otto Sander, Ulrich Mathes, Ulrich Tukur und Peter Sodann). Das Staunen des menschlich agierenden Generals des MfS über die nie erwartete Wirkung von »Kerzen und Gebeten« auf dem Weg zum Mauerfall bleibt haften. Vielleicht ist der Sog der Freiheit in dichten Bildern der Insel Hiddensee in Lutz Seilers Kruso (2014), ein Roman mit lyrisch anspruchsvoller Sprache, der ebenfalls (wie Tellkamp und Ruge) den Deutschen Buchpreis erhielt, deshalb in den Bildern des Wendejahrs so suggestiv, weil die Befreiungsschübe aus dem untergehenden System DDR, in Tschechien, Ungarn und schließlich der Maueröffnung, sehr indirekt in einem uralten Radio verkündet werden. Das Radio, von den Mitarbeitern im Betriebsferienheim auf der nördlichsten Klippe der Insel liebevoll »Viola« genannt, wirkt in seiner indirekten medialen Spiegelung ebenso effektiv wie die zum Klischee gewordenen, nun verblassten Bilder vom Mauertanz: Ein schimmeliger Geruch entströmte dem Radiokasten. Es genügte, eine der silbrigen Röhren in ihre alte Stellung zu biegen. Viola kam zu sich – sie funktionierte. »20 Uhr, Deutschlandfunk, die Nachrichten.« […] Eine Weile wusste Ed nicht, ob er begriff. Aber die Stimme Violas war ihm vertraut, und sie half ihm, wieder ruhig zu atmen. Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen. (Seiler 2014, 434)

Originelle und innovative Perspektiven auf den Mauerfall, um unter dem Anreiz des 30-jährigen Jubiläums den großen historischen Moment künstlerisch zu gestalten, gelingen Lutz Seiler und Ingo Schulze mit ihren eingangs exponierten, aktuellen Rückblicken auf 1989 in Stern 111 und Die rechtschaffenen Mörder. Ingo Schulzes Biografie eines Dresdener Antiquars im tödlichen Liebesdreieck mit dem Erzähler und Lutz Seiler in einem untypischen, anarchischen underground-Berlin im Umbruch am Prenzlauer Berg stellen betont nicht-typische Einzelfälle für ihre Romane in den Mittelpunkt. Die Mauer wird in den vielen Bildern einer Bücherhöhle als Schatzkammer in Dresden vermieden. Das Thema und seine Bebilderung im visual turn sind der Verlust der Bücherwerte in Rettungsversuchen des Antiquars beim Währungstausch zur neuen D-Mark 1990 und als späte Folge das gewaltsame Ende an einem Steilhang in der Sächsischen Schweiz. In eindringlichen Bildern der Büchervernichtung in der Oderflut als weiterem Schicksalsschlag (nach Trennung von der Ehefrau wegen deren Kooperation bei der Stasiüberwachung) und dem folgenden Image-Verlust bei der Geliebten und den intellektuellen Freunden durch einen allmählichen Rechtsruck der Hauptfigur hat Schulze den Niedergang bildlich herausgehoben. Bei Seiler ist die optisch reizvolle Odyssee der Eltern an den Pazifik als Generationentrennung und die Selbstfindung des Ich-Erzählers Carl und seiner Anarchie-

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Jahre im Umbruch im dunklen Berliner underground angelegt.24 Die Mauer wird kein einziges Mal in den Blick genommen. So erfüllen beide gelungenen Romane die Leser-Erwartung, mit ihrem überraschenden fiktionalen Plot und unerwarteten Bildern, und ermöglichen einen frischen Blick auf die Friedliche Revolution.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Biermann, Wolf. Preussischer Ikarus. Lieder, Balladen, Gedichte, Prosa. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1978. Braun, Volker. Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1996. Brussig, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1999. Brussig, Thomas. Helden wie wir. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1995. Brussig, Thomas. Wie es leuchtet. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2004. Brussig, Thomas. Das gibt’s in keinem Russenfilm. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2015. Deckert, Renatus (Hg.). Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. Frankfurt a. M. Suhrkamp Verlag, 2009. Donnersmarck, Florian Henckel von. Das Leben der Anderen. Filmbuch. Frankfurt a. M. Suhrkamp Verlag, 2006. Grass, Günter. Mein Jahrhundert. Göttingen: Steidl, 1999. Groh, Jan. Colón. Roman. Münster: Edition Octopus, 2001. Grünbein, Durs. »Der Weg nach Bornholm«. Die Nacht, in der die Mauer fiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2009, 34–47. Hein, Christoph. Exekution eines Kalbes. Berlin und Weimar: Aufbau, 1994. 120–124. Hein, Jakob. Mein erstes T-Shirt. München: Piper Verlag, 2001. Hensel, Jana. Zonenkinder, Hamburg: Rowohlt, 2006. Hensel, Jana: Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten. München: Piper Verlag, 2009. Hensel, Kerstin. Tanz am Kanal. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1994. Hilbig, Wolfgang. »Ich«. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1993. Krauß, Angela. Die Überfliegerin. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1995. Kunert, Günter. Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München: Carl Hanser Verlag, 1997. Kunert, Günter. Gedichte. Stuttgart Reclam Verlag, 1987. Loest, Erich. Nikolaikirche. Roman. Leipzig: Linden-Verlag, 1995. Maron, Monika. Animal triste. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1996.

24 Mit Aleida Assmanns Kriterien stellt sich die Darstellung Seilers von Carls »Jugend« als gelungener Versuch dar, anhand dieses »sensible[n] Zeitraum[s] der Persönlichkeitsentwicklung« und der Selbstfindung im Kontrast zur Elterngeneration Identität zu gewinnen (vgl. Assmann 2006, 33–34).

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Maron, Monika. Endmoränen. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2002. Maron, Monika. Stille Zeile sechs. Frankfurt a. M: S. Fischer Verlag, 1991. Maron, Monika, und Westphalen, Joseph von ›Trotzdem herzliche Grüße‹. Ein deutschdeutscher Briefwechsel. Frankfurt a. M: S. Fischer Verlag, 1988. Maron, Monika. Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989–2009. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2010. Meyer, Clemens. Als wir träumten. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2006. Nooteboom, Cees. Allerseelen. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999. Palzhoff, Thorsten. Nebentage. Frankfurt a. M.:S. Fischer Verlag, 2018. Rathenow, Lutz. Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage. Weilerswist: Landpresse, 2004. Ruge, Eugen. In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. Reinbek: Rowohlt Verlag 2011. Schoch, Julia. Mit der Geschwindigkeit des Sommers. München: Piper Verlag, 2009. Schulze, Ingo. Die rechtschaffenen Mörder. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2020. Seiler, Lutz. Kruso. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014. Seiler, Lutz. Stern 111. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2020. Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2008. Vesper, Guntram. Frohburg. Roman. Frankfurt a. M.: TB München, 2017.

Sekundärliteratur (Auswahl) Assmann, Aleida. »Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften«. Gedächtnis – Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung. Hg. Hanno Lowey und Bernhard Moltmann. Frankfurt a. M. und New York: Campus, 1996. Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck, 1999. Assmann, Aleida. Generationenidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wiener Vorlesungen 117. Wien: Picus Verlag 2006. Bach, Susanne. Wende-Genrationen / Generationen-Wende. Literarische Lebenswelten vor dem Horizont der Wiedervereinigung. Mit Autoreninterviews. Heidelberg: Winter, 2017. Born, Arne. Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000. Fremdheit zwischen Ost und West. Hannover: Wehrhahn, 2019. Brauer, Juliane. »(K) Eine Frage der Gefühle? Die Erinnerungen an die DDR aus emotionshistorischer Perspektive«. Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Hg. Carolin Führer. Göttingen: V&R unipress, 2016. 77–96. Braun, Matthias, und Tanja Walenski. »Monika Marons Roman Flugasche und die DDR. Eine unerledigte Geschichte«. Wirkendes Wort 62.2 (2012): 255–277. Brockmann, Stephen. Literature and German Reunification. Cambridge: Cambridge University Press, 1999. Brüns, Elke. Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. München: Fink, 2006. Cammann, Alexander. »Im Osten neu geboren. […] Thorsten Palzhoffs Nebentage. […] Ein Spaziergang mit dem Autor durch die Stadt«. Die Zeit 12 (16. 3. 2018).

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Volker Wehdeking

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Anette Horn / Mikhaila Crous

Bild-Text-Erinnerung: Johannesburg nach der Apartheid. David Goldblatts und Ivan Vladislavic´’ Projekt TJ/Double Negative

1.

Einleitende Überlegungen »As is well known, the visible in the contemporary sprawl of Johannesburg consists typically of walls. Walls and security fencing, concealing the interior, hiding the life of the city from view.« (Helgesson 2015, 51)

Johannesburg ist eine Weltstadt, die gleichzeitig äußerst offen und geschlossen wirkt. Mauern prägen die urbane Landschaft dieser Metropole und verursachen somit, dass vieles ungesehen und versteckt bleibt. Johannesburg ist in dieser Hinsicht nicht einzigartig. »Mauern« so Wolfrum (2005, 385), »sind in der Weltgeschichte immer schon errichtet worden. […] Die Berliner Mauer war die erste Mauer in der Weltgeschichte, die mitten durch ein Land und rings um den Teil einer Stadt ging.« Ähnlich wie die Berliner Mauer wirken die Mauern in Johannesburg trennend. Die realen Mauern in Johannesburg sind aber nicht die einzigen Trennlinien, sondern auch Gesetze und Folgen der Apartheidsregierung prägen immer noch das Gesellschaftsbild. Im folgenden Beitrag wird das Gesellschaftbild der Stadt Johannesbug anhand von einem Beispiel, TJ/Double Negative (2010), unter der Trias von »Umbruch«, »Bild« und »Erinnerung« untersucht. Im gemeinsamen Projekt des Fotografen David Goldblatt und des Autoren Ivan Vladislavic´ handelt es sich um Goldblatts Korpus von 300 Bildern, der in über mehr als 60 Jahren in Johannesburg enstanden ist, und Vladislavic´s Roman, Double Negative, der in einem Dialog zum Bildband steht. Eine Kontextbeschreibung soll den Rahmen zur Besprechung bieten.

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2.

Anette Horn / Mikhaila Crous

Kontext: Entangled eGoli

Sarah Nuttall (vgl. 2009, 1) hat für eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der südafrikanischen Post-Apartheid-Zeit den Begriff entanglement etabliert. Im Kapitel »Surface and Underneath« in ihrer Monografie Entanglement: Literary and Cultural Reflections on Post-apartheid erläutert sie den Begriff entanglement, indem sie von Johannesburg als einer Stadt mit einem sichtbaren Leben an der Oberfläche und einem unsichtbaren unter/jenseits der Sichtbarkeit spricht (vgl. Nuttall 2009, 14). Sie ergänzt: Johannesburg, that is, is a city of surfaces, capitalist brashness – and one which carries with it, too, a subliminal memory of life below the surface, of suffering, alienation, rebellion, insurrection – […] Existing beneath the surface, the orders of visibility of the metropolis signal that there can be no surface without an underground (Mbembe & Nuttall 2008). Mine dumps – man-made hills of gold dust, relics of the old gold mines on which Johannesburg was founded, heaving earth to the surface, the debris of wealth extraction, form the ubiquitous landscape of the city. Beneath it, marking the legacy of its origins, is a catacomb of tunnels left by gold mining. (Nuttall 2009, 83–84)

Johannesburg ist eine Stadt, die ganz wesentlich von solchen Formen des entanglement geprägt ist, da vieles offensichtlich ist, ebenso vieles aber auch unsichtbar bleibt, ganz im Sinne Nuttalls. Die alten Minen bleiben etwa als Teil der Johannesburger Landschaft sichtbar, aber was genau unter der Erde passiert ist, ist weniger deutlich zu erkennen. Die Minen hängen mit der Entdeckung von Gold 1886 zusammen, die wiederum ausschlaggebend für die Weiterentwicklung der Stadt war, wie Hyslop (2008, 121) schreibt: Johannesburg was modern and metropolitan from the first. It burst into existence in 1886 as a mining camp, with no other purpose than the production of gold. This initial focus on a single commodity gave it an extraordinarily turbulent character. Four years later the town nearly collapsed because of difficulties in extracting gold from the ore.

Die Entdeckungsgeschichte der Stadt ist bis heute im Stadtbild sichtbar bzw. »entangled«. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Johannesburg als eGoli bekannt, ein Begriff aus dem isiZulu, der ins Deutsche als »Ort des Goldes« übersetzt werden kann. Johannesburg als »dynamo within the national economy [… that] has a commanding position in the national social imagination« (Harrison et. al 2014, 3), ist beispielhaft für repräsentative Bilder, die in der (südafrikanischen) Gesellschaft in Erinnerung bleiben. Im Folgenden soll in der Interpretation von TJ/Double Negative, einem gemeinsamen Projekt von David Goldblatt und Ivan Vladislavic´, gezeigt werden, wie das Duo das südafrikanische Milieu einer Großstadt festhält. Die doppelte Repräsentation einer Großstadt in zwei unterschiedlichen Gattungen, Roman und Fotoband, markiert bereits auf der generischen Ebene ein entanglement, da

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in diesem Projekt in der Beziehung zwischen Text und Bild die Frage nach der Erinnerung an die südafrikanische Stadt Johannesburg selbstreflexiv gestellt wird. Das Bild, das man sich von einer Gesellschaft machen kann und das hier entworfen wird, wird von Golblatt und Vladislavic´ als Zusammenwirken von Sichtbarem und Unsichtbarem kreiert. Im Ergebnis wird in dem Projekt Johannesburg durch zwei Medien mit je unterschiedlicher medialer bzw. narrativer Perspektive gezeigt.

3.

TJ/Double Negative – Eine Städtebeschreibung

In dem gemeinsamen intermedialen Projekt TJ/Double Negative zwischen dem renommierten Fotografen, David Goldblatt, der die Geschichte Johannesburgs von 1948 bis 2010 kritisch dokumentierte, und dem eine Generation jüngeren Schriftsteller, Ivan Vladislavic´, der eine postmoderne und postkoloniale Sicht auf Südafrika in den letzten Jahren der Apartheid und danach repräsentiert, schaffen die beiden ein Bild einer Gesellschaft im Umbruch. Sie werfen somit einen Blick auf die gesellschaftliche Realität Südafrikas vor, während und nach dem Umbruch, der 1994 mit der ersten demokratischen Wahl in Südafrika stattfand. Das Projekt ist daher für eine Analyse des Zusammenhangs von Bild, Text und Erinnerung in Hinsicht auf Südafrika repräsentativ. Vladislavic´’ Roman ist in drei Teile gegliedert, die die Zeit vor, während und nach dem Umbruch reflektiert. Der erste Teil spielt in den letzten Jahren der Apartheid in Johannesburg und handelt von einem Studenten, Neville Lister, der sein Studium abgebrochen hat und nun ohne rechtes Ziel vor sich hin jobbt, bis sein Vater ihm den Fotografen, Saul Auerbach, vorstellt, der seinem Leben eine andere Richtung geben soll. Er verkörpert somit die Rolle des poeta vates, der anhand seiner Bilder durch die Geschichte der Apartheid führt, ähnlich wie der Gelehrte, Erich Auerbach, auf den sein Name direkt anspielt, der sein monumentales Werk Mimesis im Exil wegen der Hitler-Diktatur in Istanbul schrieb und damit auch im Zeichen der europäischen Kultur gegen die Barbarei der Nazis anschrieb. Der Untertitel von Mimesis lautet »Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur«, worin man einen Bezug zu Auerbachs Fotos sehen kann. Durch die Namensgleichheit des Romanprotagonisten werden damit grundlegende Fragen der Fotografie mit aufgerufen: Wie lässt sich die Wirklichkeit in Bildern festhalten, da sie ja nur die Oberfläche der Wirklichkeit wiedergeben? Was verbirgt die Fotografie? Und wie stößt sie vom Schein zum Sein vor? Vom fiktiven Auerbach heißt es im Roman zudem, dass er ein Künstler sei und Stunden warte, bis er den richtigen Moment für seine Fotos gefunden habe. Damit wird ihm die Fähigkeit zugesprochen, die Wirklichkeit adäquat

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darzustellen oder doch zumindest die Wahrheit über das Dargestellte in einem imaginativen Akt erahnen zu lassen. Neville Lister soll bei ihm in die Lehre gehen, was er jedoch nur widerwillig tut. Im zweiten Teil kommt der Wehrdienstverweigerer, Lister, zurück nach Hause und arbeitet fortan als Werbefotograf. Er gerät in die Wirrungen des Umbruchs der Truth and Reconciliation Commission, doch hält er sich den politischen Aktivitäten seiner ehemaligen Freunde fern. Im letzten Teil des Romans wird von der Zeit nach der Apartheid erzählt und damit von jener Zeit, in der sich das Gesellschaftsbild abzeichnet, das eingangs skizziert wurde. Der Abschnitt handelt vom Alltag eines weißen Fotografen, der sich in seiner Privatsphäre hinter hohen Mauern abschottet. Die Utopie der Regenbogennation, die Nelson Mandela und Desmond Tutu vorschwebte, hat sich also nicht verwirklicht oder sie scheint nur in kurzen Augenblicken auf. Dennoch ist es produktiv, von entanglement zu sprechen, denn es gab schon immer Momente der Verstrickung, aber auch der Begegnung zwischen »schwarz« und »weiß« und »arm« und »reich«. Die Trennlinien verlaufen aber nun eher nach der Klassen- statt nach Rassenzugehörigkeit, obwohl die Mehrheit der Schwarzen immer noch arm ist und Südafrika zu den ungleichesten Gesellschaften gehört, was den Einkommensunterschied betrifft. Während Goldblatt in allen wichtigen Kunstmuseen der Welt ausgestellt wurde, gilt Vladislavic´ als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Postapartheidliteratur. Seine Romane und Erzählungen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Saul Auerbach, eine der Hauptfiguren im ersten Teil des Romans Double Negative, die bestimmte Eigenschaften mit dem Fotografen, David Goldblatt, teilt, sagt über seinen Arbeitsprozess: The subject draws me, I don’t have words for it really, something strikes a chord, rings a bell. Sometimes it’s as if I’ve found a thing I’ve already seen and remembered, or imagined before, which may not be that different. Perhaps I recognize something in the world as a ›picture‹ when it captures what I’ve already thought or felt. (DN, 41)

Dieser kreative Prozess ist dem Erinnerungsprozess analog, denn es ist der plötzliche Moment, der ein tiefes Gefühl wachruft, den der Künstler im Bild oder Text einfängt oder repräsentiert: I’m not trying to demonstrate a proposition or substantiate a claim. I’m just looking for what chimes. Let’s say there’s a disequilibrium in me, my scales are out of kilter, and something out there, along these streets, can right the balance. The photograph – or is it the photographing? – restores order. (DN, 42)

Auerbach leugnet jedoch, dass dies ein therapeutischer Prozess sei. Es ist ein kreativer Prozess, der sich nicht voraussehen und daher auch nicht lernen lässt. Man kann das Handwerk lernen, aber nicht die Kunst oder das Spezifische, das

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eine Fotografie des Fotografen ausmacht. Er sagt, wenn er es erklären könnte, könne jede/r seine Fotos machen. Das Gleiche trifft auf den Autor, Ivan Vladisvlavic´, zu. Auch er hat einen bestimmten Stil, der sich zwar beschreiben lässt, aber nicht erlernen. In einem Interview mit Bronwyn Law-Viljoen vergleicht Vladisvlavic´ seinen Roman Double Negative, der den Fotoband von David Goldblatt über Johannesburg TJ, das alte Autokennzeichen für Johannesburg unter der Apartheid, als die Provinz noch Transvaal hieß, begleitet, mit Sebalds Verwendung von Fotos in seinen Romanen, etwa in Schwindel, Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992) oder Austerlitz (2001). Auch bei Sebald gebe es keine unmittelbar erkennbare Verbindung zwischen Bild, Text und Erinnerung, sondern sie wird durch Assoziationen von den Lesern hergestellt. Es geht nicht um die Realität, sondern um die Unmöglichkeit, sie adäquat durch Medien wie die Sprache oder die Fotografie zu repräsentieren. Obwohl Goldblatt Untertitel für seine Fotos benutzt, will Vladisvlavic´ seinen Roman nicht als einen Kommentar zu Goldblatts Fotos verstanden wissen. So sagt er auch, dass er die Fotos, die in Goldblatts Band eingehen sollten, nur am Anfang des gemeinsamen Projekts gesehen hätte, und dass manche Fotos, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hätten, später gar nicht im publizierten Fotoband erschienen sind (vgl. Bronwyn Law-Viljoen 2011, 342). Dies trifft auf jeden Fall auf seine eingehende Beschreibung im Roman der Entstehung eines Fotos von Veronica Setshedi zu, die er so realistisch schildert, dass man meint, man müsste es in Goldblatts Band wiederfinden, doch sucht man es vergebens. Vladisvlavic´ spielt sogar mit dem Erwartungshorizont seiner Leser, wenn er meint, dass sie das Bild auf dem Umschlag des Fotobandes oder auf Google suchen sollten, obwohl es dort nicht erscheint. Es ist somit erfunden, oder man müsste es in den anderen Fotobänden Goldblatts suchen. Der Erzähler lockt die Leser somit auf eine falsche Fährte, ein postmodernes Verfahren. Er ließe sich als unreliable narrator bezeichnen. Goldblatt gibt im Interview auch zu, dass er von Vladisvlavic´’ Roman überrascht war, weil er so anders war als ein vorangegangenes Projekt mit Nadine Gordimer, in dem es offenbar eine engere Beziehung zwischen Bild und Text gab. Dieses Verfahren lässt sich mit Walter Benjamins Begriff der Geschichte vergleichen (vgl. Benjamin [1942] 1980, 605–653). Es handelt sich nicht um eine systematische Ordnung von Fakten, sondern die vergangenen Ereignisse enthalten ein Versprechen auf Erlösung. Bei Benjamin geht es um das Messianische oder das mystische Nu. Dies ließe sich mit Auerbachs Umschreibung seines Arbeitsprozesses verbinden, obwohl er hier von etwas spricht, was stimmig ist (»chimes«) und eine neue Ordnung schafft. In Benjamins Schrift Über den Begriff der Geschichte heißt es:

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Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in den Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und den unseren. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. (1980a, Bd. I,2, 693–694)

Damit stellt sich Benjamin (1980a, Bd. I,2, 695) die Frage nach dem wahren Bild der Vergangenheit: es »huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten« (1980a, Bd. I,2, 695). Das heißt aber, dass die Geschichte des Romans keinen Anspruch auf Objektivität erhebt, wie etwa ein faktualer Diskurs, in dem jedes Teil seinen festen Platz hat, sondern eine Geschichte im Sinne von Erzählung darstellt. Sie schafft jedoch eine Ordnung und verweist auf eine historische Realität. Dies ließe sich mit Sebalds Verwendung von Bild, Text und Erinnerung vergleichen, in der er auf die unaussprechliche Realität des Holocaust verweist. Mit Michel de Certeau lässt sich in diesem Zusammenhang noch eine weitere Erinnerungstheorie anführen. Obwohl de Certeau die Erinnerung auf die Praxis des Alltags bezieht, definiert er die Erinnerung als mobil, denn sie blitze an unerwarteten Orten auf, d. h. sie habe keinen festen Platz, denn sie könne durch einen momentaren Anlass ausgelöst werden, wie z. B. einen Geruch oder einen Klang. So erhält sie ihre Form durch äußere Umstände (einen Geruch oder eine Melodie), auch wenn sie deren Inhalt bereitstellt (eine vergangene und vergessene Erfahrung oder eine Emotion). Dennoch will de Certeau die Erinnerung nicht als Speicher wie das Gedächtnis verstanden wissen, denn ihre Mobilisierung durch die Umstände ist untrennbar mit ihrer Veränderung verknüpft. Durch ihre Fähigkeit, sich zu verändern und verändert zu werden, erhält sie eine eingreifende Kraft. Sie geht aus dem Anderen (den Umständen) hervor und verliert wieder ihre Form – denn sie ist trotz allem nicht mehr als eine Erinnerung. De Certeau spricht von einer doppelten Veränderung, sowohl derjenigen der Erinnerung, die in Kraft tritt, wenn sie etwas beeinflusst, als auch derjenigen des Objekts, das erst erinnert wird, wenn es verschwunden ist (vgl. De Certeau 1984, 86–87). Nach de Certeau befindet sich die Erinnerung in einem Zustand des Verfalls, wenn sie nicht mehr zu dieser Veränderung fähig ist. It constructs itself from events that are independent of it, and it is linked to the expectation that something alien to the present will or must occur. Far from being the reliquary or trash can of the past, it sustains itself by believing in the existence of possibilities and by vigilantly awaiting them, constantly on the watch for their appearance. (De Certeau 1984, 87)

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Sie ist darin mit der Hoffnung, die einen Sinn für Möglichkeiten offen hält, eng verwandt. Sie reagiert mehr als dass sie aufzeichnet, bis zu dem Augenblick, wo sie ihre mobile Zerbrechlichkeit verliert und, unfähig zu neuen Veränderungen, nur noch ihre ursprünglichen Reaktionen wiederholt. Damit lässt sich aber auch eine Verbindung zu Benjamins Begriff der Geschichte ziehen, bei dem die Geschichte einen heimlichen Index mit sich führt, der auf Zukünftiges verweist. Diese Mobilität und Unvorhersehbarkeit der Erinnerung im alltäglichen Sinn lässt sich gut am Beispiel von Vladisvlavic´’ Roman aufzeigen, indem Neville Lister und sein Vater ein Spiel erfinden, bei dem er erraten muss, ob sie bereits am Ziel ihrer Reise angekommen seien. Lister liegt als Kind auf dem Rücksitz des Autos und registriert anhand der Bewegungen des Autos über Eisenbahnlinien, Unebenheiten in der Straße sowie Gerüchen, wo sie sich gerade befinden. Als er eines Freitagabends, nachdem sie Fish and Chips gekauft haben, nach einigen Umwegen das Zuhause an den bekannten Essensgerüchen erkennt, beklagt er seine Unfähigkeit, sich zu verirren. Er ist zu Hause angekommen und das Spiel des Erinnerns und Registrierens ist zu Ende, oder hat zumindest seinen Sinn verloren. Sein Körper, sein Geist und seine Fantasie sind somit zu einer komplexen Gedächtnis- und Kartographiermaschine geworden, die jedoch mit dem Ankommen zu Hause und damit auch im Erwachsenwerden aufhört (DN, 204). Die Erinnerung ist nicht mehr zerbrechlich im Sinne von de Certeau und auch zu keiner Veränderung mehr fähig und zerfällt somit. Es ist ein privates Spiel, das die Erzählinstanz im Roman hier beschreibt, im Gegensatz zu Auerbachs historischer und politischer Erinnerung, obwohl auch diese ein subjektives Element enthält, wie im Konzept des »richtigen Augenblicks« angedeutet wird. Als Saul Auerbach, Neville Lister und Brookes, ein Journalist, der wahllos Fotos macht, auf einem Koppie, einem Hügel über der Stadt, stehen, gibt Auerbach einen historischen Überblick über das Stadtviertel, Bezuidenhout Valley oder Bez, wie die Johannesburger es nennen, doch meint er, dass diese Vogelperspektive die Dinge nicht vereinfache, sondern eher komplizierter mache. Er besteht darauf, dass er kein Erzähler der Leben »da unten« sei, sondern, wie bereits erwähnt, den besonderen Moment suche, der eine Art Epiphanie in ihm auslöse. Auerbach gibt vor, dass er entweder etwas Wichtiges einfange oder eben etwas Unwichtiges. Damit nimmt er dem kreativen Prozess aber auch das Pathos, das oft mit dem Künstlerischen assoziiert wird, wie es etwa im romantischen Begriff des Originalgenies proto- und stereotypisch Kunstgeschichte geschrieben hat. Er sei hingegen eher ein Suchender oder eine Art Jäger des besonderen Augenblicks oder des richtigen Lichts. Nach dieser Episode gehen die Romanfiguren hinunter ins Stadtviertel und Auerbach wählt scheinbar zufällig ein Haus mit einem Außenzimmer aus, in dem die Bedienstete, Veronica Setshedi, mit ihren Zwillingen lebt. Damit wird aber eine typische Situation unter der Apartheid aufgerufen, wo die Häuser der

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Weißen ein Außenzimmer besaßen, das meist schlecht gebaut, klein und spärlich möbliert war, z. B. mit einem Bett aus einem Eisengestell und einem Gaskocher. Oftmals kam eine ganze Familie in diesen Zimmern unter. Nun ist das Besondere der Beschreibung des Zimmers und ihrer Bewohnerin im Roman, dass sie Drillinge bekommen hatte, und dass eines der Drillinge wegen des Rauches vom Feuer erstickt ist. Auerbach sieht dies als ein Symbol für die Apartheid, weil bei einer weißen Mutter mit Drillingen sich das Fernsehen für sie interessieren würde, ebenso wie die Hersteller von Babysachen, um sich öffentlichkeitswirksam um die trauernde Mutter zu kümmern und so für sich zu werben. Durch diesen alltäglichen Vorfall aus dem Leben einer Bediensteten wird für Auerbach ein Schlaglicht auf die Unmenschlichkeit des Apartheid-Regimes geworfen. Auerbach fasst diese Szenerie in die Beschreibung eines sehr eindrücklichen Bildes. In diesem Bild wiederum ist kaum erkennbar eine Fotografie zu sehen, das Veronica Setshedi hält und auf dem die Drillinge zu sehen sind, während sie im Bild nur die Zwillinge auf dem Arm hält. In diesem, erst auf den zweiten Blick oder beim genaueren Hinsehen zu entdeckende Detail, ist das, mit Roland Barthes, punctum dieses Bildes zu erkennen. Die erste Bildebene oder das studium zeigt schlichtweg eine arme schwarze Frau und Mutter mit Zwillingen und könnte so als Kritik der Apartheid (miss)verstanden werden. Doch das Foto erzählt auch eine private Geschichte, die jedoch erst durch eine aufmerksame Betrachtung des Bildes erschließbar wird. Es gibt eine Geschichte hinter der Geschichte. Damit zeigt sich, wie Auerbach als Fotograf unter die Oberfläche der Apartheidgesellschaft schaut. Bezeichnend ist auch, dass er Veronica Setshedi mehrmals besucht hat, um etwas über ihre Geschichte zu erfahren. Damit zollt er ihr seinen Respekt als Fotograf und sie fühlt sich als Subjekt anerkannt. Das ist auch der Grund, warum sie in diesen Eingriff in ihre Privatsphäre einwilligt. Der plötzliche Augenblick, in dem alles ein Bild ergibt, ist also vorsichtig geplant. Diese Bildinterpretation ist jedoch ironisch, da sie binnenliterarisch und selbstreflexiv bleibt, denn, obwohl Vladisvlavic´ dieses Bild wiederholt in seinem Roman erwähnt, erscheint es im dazugehörigen Bildband von Goldblatt gar nicht. Damit meidet Vladisvlavic´ eine Einfühlungsästhetik, die im Zusammenhang mit dem Postkolonialismus problematisch ist. Somit erscheint jedoch auch der Anspruch auf Realität oder Mimesis, auf die ja im Namen Auerbachs angespielt wird, der Fotografie und des Romans fragwürdig. Stattdessen ließe sich dieses Spiel mit dem Erwartungshorizont der Leser als postmodern identifizieren. Die Erinnerung ist damit tatsächlich unzuverlässig, denn es gibt keinen Beleg für sie, obwohl Fotos natürlich auch retuschiert werden können, wie das berühmteste historische Beispiel des Bildes von Stalin, Lenin und Trotzky zeigt, in dem Trotzky einfach ausgelöscht wurde, da er nicht ins Konzept des politischen Diskurses des Leninismus und Stalinismus passte. Aber auch im Film gibt

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es die Schüfftan-Methode1, nach der ein Bild in einen Film eingeblendet werden kann, sodass der Eindruck eines ungeschnittenen Films entsteht. Die Authentizität der Erinnerung ist damit nicht einfach durch ein Foto zu verbürgen. Dieses Zitat der Unzuverlässigkeit der Sprache und Fotografie äußert sich in Listers Vorstellung, dass ein Buch von Auerbach nur leere Seiten enthalte. Damit wird aber der Anspruch auf Wirklichkeit und Wahrheit, die verisimilitude, sowohl der Fotografie als auch der Literatur in Frage gestellt. Die Betrachter eines Bildes wie die Leser eines Romans können willkürlich ihre eigenen Vorstellungen in die Fotos und die Romane projizieren. Im Roman wird dies als Analogie zum Wunsch eines Kindes, sich in der Stadt zu verlieren, beschrieben. Damit endet der erste Teil des Romans, der in den letzten Jahren der Apartheid spielt und den Titel »Available Light« trägt. Auerbach soll Lister lehren, seinem Leben einen Sinn zu geben, denn er hat sein Studium an der University of the Witwatersrand, die noch vorwiegend weiß war, obwohl liberale Studierende und Dozenten gegen die Apartheid protestierten, abgebrochen und malt nun weiße Linien auf den Asphalt von Parkplätzen. Sein Vater ist mit dieser Beschäftigung jedoch unzufrieden, denn er meint, dass sein Sohn künstlerisch begabt sei und seine Zeit bloß vergeude. Im zweiten Teil des Romans, der den Titel »Dead Letters« trägt, kehrt Lister nach zehn Jahren in London, wo er dem Wehrdienst der Apartheid-Regierung entging, zurück. Es ist die Zeit der TRC (Truth and Reconciliation Commission). Er hat begonnen, selbst zu fotografieren, doch geht es mehr um Werbung als um die politischen und künstlerischen Bilder von Auerbach. Lister ist jedoch auch skeptisch gegenüber dem Versuch, die Wahrheit zu sagen, der ja in der TRC anklingt, weil Menschen Fiktionen bevorzugten: »Good, reliable fictions, that’s what the doctor ordered.« (DN, 83). Es erscheint paradox, dass die fiktionalen Erzählungen zuverlässiger und wahrhaftiger wirken können, weil das Wahre oft das Unwahrscheinliche ist, wie sich in der Episode von Veronica Setshedi zeigte. Fotos können, so suggeriert der Roman, die Erinnerung auslöschen (DN, 87), gerade weil sie vorgeben, eine akkurate Wiedergabe der Realität zu sein. Dies enthält eine sublime Kritik an Auerbachs Fotografiekonzept, auch wenn sich dies ironisch im Hinblick auf das gemeinsame Projekt zwischen ihm und Lister lesen lässt. Auerbach, wie vorher angedeutet, erhebt ja nicht diesen Anspruch auf Realität, obwohl die Bilder mit ihren Unterschriften doch eine Geschichte Südafrikas unter und nach der Apartheid enthalten. Vielmehr zeigen sie die Konti1 Christoph Hein (1985, 226–227) beschreibt das Verfahren wie folgt: »Das ursprüngliche Bild wird auf einen in der Mitte gebrochenen Spiegel geworfen und erneut aufgenommen. Und je nachdem, in welchem Winkel die Spiegel zueinander stehen, kann man nun Teile des Bildes verschwinden lassen oder neue, nicht dazugehörige Bilder einspiegeln. Man kann somit nach Gutdünken Filmdokumente verändern und Mißliebiges gegen Beliebiges austauschen. Dem Betrachter bietet sich stets ein unverletzt scheinendes, originales Bild.«

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nuitäten und Diskontinuitäten zwischen dem alten und neuen Südafrika auf. Auerbach gibt zudem an, dass er seine Modelle immer um Erlaubnis gebeten habe, ein Foto von ihnen zu machen und dass die meisten zugesagt hätten, weil dies für sie eine Form der Anerkennung sei. Diese Bilder lösen bei den Betrachtern ein Gefühl des Unbehagens aus, das durchaus beabsichtigt ist. Sie sind so unbequem wie die Realität, auf die sie in einem komplexen Prozess verweisen. An einer weiteren Stelle des Romans wird eine weitere prägnante Metapher für die Erinnerung aufgerufen. Lister vermisst die Briefe seiner Mutter, die sie ihm nach London geschickt hatte, in die sie Ausschnitte aus Zeitungen oder ein Rezept zwischen die Blätter gelegt hatte. Die Erinnerung erscheint in diesem Sprachbild als ein Palimpsest, in dem verschiedene Schichten übereinander gelagert sind und die sowohl öffentlich (die Zeitungsartikel) sind als auch etwas zutiefst Persönliches haben (die Rezepte, die an die Kindheit erinnern). Seine Mutter teilt ihm somit etwas auf der Oberfläche und etwas, das zwischen den Zeilen steht, und an Zuhause erinnern soll, mit. Sie setzt diese Gewohnheit auf seinen Wunsch hin auch dann fort, als sie wieder beide in derselben Stadt leben, weil diese Briefe mit ihren scheinbar willkürlich in die schriftliche Mitteilung eingefügten Fragmenten des Alltäglichen dem Empfänger wie ein Geschenk erscheinen. Sie folgen keinem narrativen Gesetz, sondern eher dem Zufälligen. Damit aber sind diese Briefe der Erinnerung analog, wie Benjamin sie beschrieben hat. Lister bewahrt seine Erinnerungen in einer Pralinenschachtel auf, die den vieldeutigen Namen »Black Magic« trägt. Einerseits ist dies eine südafrikanische Pralinenmarke, doch verweist sie auch auf den Zauber der Dunkelkammer, durch die die Negative, auf die der Titel des Romans anspielt, entwickelt und dadurch erkennbar werden. Es ist ein chemischer Prozess, durch den die Fotografen erst erfahren, welches Bild sie geschossen haben und das sie dann editieren können. So könnte man auch die Fotografen als Zauberer bezeichnen, denn sie schneiden das Bild zurecht, um etwas Bestimmtes in den Fokus zu rücken. Der Name »Black Magic« enthält im südafrikanischen Kontext jedoch auch einen Verweis auf muthi, der schwarzen Magie und Zauberei, mit der die sangomas oder witchdoctors das Leben der Schwarzen beeinflussen oder eine (un)erwünschte Richtung geben. In der Zeit nach der Apartheid sind die Aktivisten zu erfolgreichen Geschäftsleuten geworden, auch wenn ihre Anstrengungen nun der Bildung im neuen Südafrika gelten. So schreiben sie z. B. die alten Schulbücher um, die vorher die Sicht der Regierung, die sogenannte Bantu Education, widerspiegelten, und gegen die schon die Schüler im Aufstand von Soweto im Jahr 1976 rebellierten. Vor allem die Geschichtsschreibung war aus der Sicht der Afrikaaner Nationalisten, der herrschenden Partei, verfasst.

Bild-Text-Erinnerung: Johannesburg nach der Apartheid

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Lister trifft im weiteren Verlauf des Romans auf die Frau von Dr. Pinheiro, die in dem Haus neben dem, das Auerbach fotografiert hat, lebt. Obwohl Dr. Pinheiro Arzt war, durfte er aus Mangel der richtigen Papiere nicht in Südafrika praktizieren. Da sein Englisch nicht gut genug war, fand er eine Stelle bei der Post, die an sich für arme Weiße, sogenannte »poor whites«, reserviert war. Frau Pinheiro hilft ihm die Briefe zu entziffern, obwohl er entlassen worden wäre, wenn das bekannt geworden wäre. Manche dieser Briefe, die Pinheiro zu verarbeiten hatte, waren unzustellbar, weil sie entweder eine Adresse enthielten, die es gar nicht gab oder die zu vage war (neben einem Bahnhof im irgendwo z. B.). Dies kann als ein Zeichen der erfolglosen Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsteilen verstanden werden. Eigentlich ist es der Zweck der Post, alle Briefe und Pakete ihrem Ziel zuzuführen, doch was geschieht mit den unzustellbaren Briefen? Im Roman liegen sie im Haus von Frau Pinheiro, die selbst auch verschwunden oder umgezogen ist, als Lister sie wieder aufsuchen will, d. h. die Briefe liegen dort quasi als tote Buchstaben. So wird Frau Pinheiro zu einer Hüterin verborgener und verlorener Schätze, die es offiziell gar nicht gibt. Sie ist damit eine Figur aus dem Totenreich der Erinnerungen, die einen Index der Zukunft mitführen, dass diese Briefe ihre Empfänger doch noch erreichen werden und somit die Hoffnung auf Kommunikation zwischen Sender und Empfänger der Briefe realisiert wird. Dies scheint überhaupt eine Methode von Vladisvlavic´ zu sein, dass das Leben aus der Schrift und dem Bild entspringt, ähnlich wie in den selbstreflexiven Bildern Eschers, die einen trompe l′oeil Effekt erzielen. Die Figuren fallen gleichsam aus den Fotos heraus und werden lebendig, wie Vladisvlavic´ es in einer einprägsamen Metapher beschreibt. Das Leben imitiert die Kunst und nicht umgekehrt. In diesem Sinne entsteht ein schillernder, vielschichtiger Text, in dem sich die fiktionalen und die realen Figuren mischen, wobei diese Widerspiegelungsästhetik komplexen narrativen Gesetzen folgt. Dieser Kunstgriff trägt zur Irritation von Vladisvlavic´’ Erzählkunst bei. Er will nicht belehren, sondern uns dafür sensibilisieren, wie wir die Realität durch die Sprache wahrnehmen. Er scheint Mallarmés Maxime zu bestätigen, dass die Sprache zu ändern auch die Welt zu verändern bedeutet. Er tut dies jedoch, ohne dass er das Unrecht der Apartheid leugnet. Der dritte Teil des Romans, der in der Gegenwart des Erzählers, Neville Lister, spielt, trägt den Titel »Small Talk«. Hier wird das neue Südafrika sichtbar, und wie das Stadtbild, vor allem das der vorwiegend weißen Stadtviertel, durch Mauern geprägt ist, wie wir es in der Einleitung beschrieben haben. Dies hängt mit der erschreckend hohen Kriminalitätsrate in Südafrika zusammen. Dass dies bereits eine Realität unter der Apartheid war, machen Fotos von Goldblatt deutlich, in denen auch die tsotsis, die Kleinkriminellen, zu sehen sind. Die Kleinkriminalität war eine nicht unbedeutsame Art, als Schwarzer unter der

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Apartheid zu überleben, obwohl es selbstverständlich immer auch ein Risiko barg, im Gefängnis zu landen, auch wenn die Gangs vor allem in den schwarzen Townships operierten, wo die Polizei nicht so genau hinschaute, da das Leben der Schwarzen für die Weißen nicht zählte. Mit dem Ende der Apartheid können die Gangs nun aber auch in die ehemals weißen Vorstädte kommen, was die eingangs besprochenen Mauern und elektrischen Zäune erklärt.

4.

Resümee

Während wir im ersten Teil dieser Untersuchung auf die Mauern als prägendes Merkmal der Gesellschaft nach der Apartheid eingingen, haben wir anschließend ein gemeinsames Projekt zwischen David Goldblatt und Ivan Vladisvlavic´ untersucht, in dem der Zusammenhang von Bild, Text und Erinnerung in der Zeit des Umbruchs, untergliedert in ein Vorher, Nachher und ein Dazwischen, thematisiert wird. Der Umbruch markiert somit eine Diskontinuität in der Geschichte, doch gibt es auch eine Kontinuität, wie vor allem Goldblatts Bilder zeigen. Im Südafrika nach der Apartheid ist ein Blick zurück durch die Bilder Goldblatts gewährleistet, da sie Erinnerungen an die Apartheid wachrufen, besonders bei einer älteren Generation, die aber auch die Erinnerungen an vergangenes Unrecht wachhalten. In dem intermedialen Projekt sind die Bilder der Gesellschaft zudem mediatisiert und die Beziehung zwischen Bild, Text und Erinnerung gewinnt hierdurch an Komplexität. In diesem Zusammenhang sind die von Sarah Nuttall geprägten Konzepte des entanglement der surface und der underneath-Welt für die Postapartheid äußerst produktiv, da sie ein einfaches »schwarz/weiß« und »arm/reich«-Schema in Frage stellen, indem es die Verstrickung und die Zugewandtheit und damit auch die Humanität in der Gesellschaft sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart demonstriert. Die Vergangenheit ist nicht ein für allemal abgeschlossen, sondern taucht in Erinnerungen wieder auf und entwickelt somit ein Potential für zukünftige gesellschaftliche Veränderungen.

Literaturverzeichnis Auerbach, Erich. Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen und Basel: Francke Verlag, 1946. Benjamin, Walter. »Über den Begriff der Geschichte«. Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Abhandlungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 605–653. De Certeau, Michel. The Practice of Everyday Life. (Übers. Von Steven F. Rendall). Berkeley u. a.: University of California Press, 1984.

Bild-Text-Erinnerung: Johannesburg nach der Apartheid

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Goldblatt, David. TJ Johannesburg Photographs 1948–2010. Cape Town: Umuzi, 2010. Harrison, Philip, Grame Gotz, Alison Todes und Chris Wray. »Materialities, subjectivities and spatial transformation in Johannesburg«. Changing Space, Changing City: Johannesburg after apartheid – Open Access selection. Johannesburg: Wits University Press, 2014. 2–39. Hein, Christoph. Horns Ende. Berlin und Weimar: Aufbau, 1985. Helgesson, Stefan. »Johannesburg Sighted: TJ/Double Negative and the Temporality of the Image/Text«. Safundi: The Journal of South African and American Studies 16.1 (2015): 51–63. Hyslop, Jonathan. »Gandhi, Mandela, and the African Modern«. Johannesburg: The Elusive Metropolis. Hg. Sarah Nutall und Achille Mbembe. Johannesburg: Wits University Press, 2008. 119–136. Kürten, Jochen. »Peter Schneider: ›Der Mauerspringer‹«. Deutsche Welle, 06. Oktober 2018. URL: https://p.dw.com/p/2yxnv. (21. 11. 2019). Law-Viljoen, Bronwyn. TJ/Double Negative (2010). »Interview with David Goldblatt and Ivan Vladisvlavic´«. Marginal Spaces. Reading Ivan Vladisvlavic´. Hg. Gerald Gaylard. Johannesburg: Wits University Press: 2011, 340–357. Nuttall, Sarah. Entanglement: Literary and Cultural Reflections on Post-apartheid. Johannesburg: Wits University Press, 2009. Sebald, W.G. Austerlitz. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003. Sebald, W.G. Die Ausgewanderten. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992. Sebald, W.G. Schwindel, Gefühle. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1990. Vladisvlavic´, Ivan. Double Negative. A Novel. Cape Town: Umuzi, 2010. Wolfrum, Edgar. »Die Mauer«. Deutsche Erinnerungsorte: Eine Auswahl. Hg. Etienne François und Hagen Schulze. München: C.H. Beck, 2005. 385–401.

Jan Borkowski

Metaphern für 1989. Mauerfall und Wiedervereinigung in der Lyrik

1.

Einleitung

Am 9. November 1989 wurde die innerdeutsche Grenze geöffnet. Der Mauerfall und die damit in Zusammenhang stehenden Ereignisse, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Ländern Osteuropas, bilden eine Phase großer historischer Umbrüche. Das muss wohl nicht eigens betont werden. Mauerfall und Wiedervereinigung wurden nicht nur in der medialen Berichterstattung in Zeitung, Rundfunk und Fernsehen thematisiert, sondern auch in Kunst und Literatur. Mit Blick auf die Literatur sind insbesondere auch Gedichte zu nennen, die in großer Zahl und häufig in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den historischen Ereignissen verfasst wurden.1 Entsprechende Anthologien erschienen bereits relativ früh, zum Beispiel Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie (Chiarloni und Pankoke 1991) und Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 (Conrady 1993). Anscheinend ist gerade Lyrik besonders gut geeignet, historische Umbrüche aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft sprachkünstlerisch zu thematisieren. In einem Forschungsbeitrag wird am Beispiel der Nachkriegslyrik nach 1945 und der Lyrik über 1989 und die Folgen festgestellt: In der Literatur gehört ihr [der Lyrik] oft die Unmittelbarkeit einer Zeitzeugenschaft, in der sich lyrische Botschaft, Traditionsbewältigung und subjektive Befindlichkeit aktuell und dokumentarisch verbinden. (Erhart 1997, 145)

Weitere Beispiele aus der Literaturgeschichte ließen sich leicht finden, etwa Gedichte aus der Zeit der ›Befreiungskriege‹ (Jürgensen 2018). Die Terroranschläge vom 11. September 2011 waren ebenfalls Anlass zahlreicher Gedichte (Trilcke 2008). 1 Die wohl ausführlichste Studie zur Lyrik dieser Zeit ist Owen 2001. Zu nennen sind ferner Ryan 1997; Wehdeking 2000; Grub 2003, Bd. 1, 427–457; Korte 2004. In der umfangreichen Darstellung Born 2019 wird davon abgesehen, die Lyrik über Mauerfall und Wiedervereinigung zu behandeln.

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Es ist daher unzutreffend, wenn man in einer maßgeblichen Darstellung der DDR-Literatur über die Lyrik in der Zeit des Mauerfalls nachlesen kann: »[E]s gab […] in der Regel keine Zeit für Lyrik, einfach weil man Wichtigeres zu schreiben und überhaupt zu tun hatte.« (Emmerich 1996, 510). Dagegen wurde zu Recht geltend gemacht, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung »provoked a reaction from every German poet of significance – as well as from some whose natural genre was not verse« (Hutchinson 2002, 97).2 Wenn in nicht geringer Zahl und in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen Gedichte über Mauerfall und Wiedervereinigung geschrieben wurden, dann hat das seinen Grund darin, dass Gedichte aufgrund ihrer Kürze und des verhältnismäßig geringen publizistischen Aufwandes, den sie erfordern, zeitnah veröffentlicht werden können, z. B. in Zeitungen, Zeitschriften oder Anthologien (dazu Hutchinson 2002, 97; Waszak 2003, 105). Neben solchen publikationstechnischen Gründen kann auf typisch literarische Darstellungstechniken verwiesen werden, die ihrerseits dazu beitragen, dass sich gerade Gedichte dafür eignen, auf Situationen historischen Umbruchs zu reagieren. In einem Forschungsbeitrag wird die »Anschaulichkeit« solcher Gedichte hervorgehoben, welche »sich aus der komprimierten Form ergibt, und von der einerseits eine synthetische Erfassung der Zustände, andererseits eine besonders intensive Wirkung auf den Leser erwartet wird« (Waszak 2003, 105). Gedichte, so die Vorstellung, veranschaulichen in effektiver und effektvoller Weise komplexe Sachverhalte wie historische Umbrüche. Bei der Anschaulichkeit von Gedichten denkt man vermutlich zunächst an Formen ›bildlichen‹ Sprechens, genauer an Tropen wie Metapher und Metonymie, Synekdoche und Symbol. Daneben gibt es weitere Strategien der Visualisierung: Wenn etwas Abstraktes konkret geschildert wird, etwas Allgemeines an einem einzelnen Fall, etwas Vertrautes und Bekanntes als fremd und neu, dann kann man sicherlich von einer ›anschaulichen‹ Schreibweise im rhetorischen Sinne sprechen, die vielleicht auch in den Köpfen der Leser*innen visuelle Vorstellungen, also ›Bilder‹, entstehen lässt.3 Um eine ›bildliche‹ Darstellungstechnik und ihre Leistungen soll es im Folgenden gehen: um die Metaphern, die in Gedichten über 1989 verwendet werden, und um die Funktionen, welche die Metaphern haben. Die erste These ist schlicht: Metaphern sind eine wichtige Darstellungstechnik in Gedichten über die Revolution in der DDR und die Zeit danach. Die zweite, damit verbundene These besagt: Mit den Metaphern werden geschichtliche Ereignisse dargestellt. Es handelt sich mithin um Metaphern für Geschichte. Die dritte These schließlich 2 Eine umfassende Darstellung und bibliographische Erschließung der Literatur dieser Jahre leistet das Handbuch Grub 2003. 3 Zur Anschaulichkeit, allerdings bei Erzähltexten, liegt mit Köppe und Singer 2018 ein aktueller Sammelband vor.

Metaphern für 1989. Mauerfall und Wiedervereinigung in der Lyrik

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lautet: Die Metaphern sind kein bloßer Redeschmuck, kein fakultativer ornatus der Lyrik, sondern sie haben konkrete Funktionen, die sich angeben lassen. Sie dienen der Deutung und Bewertung des historischen Geschehens, sie evozieren Emotionen. Diese drei Thesen sollen an ausgewählten Gedichten belegt werden. Die Grundlage der Untersuchung bilden rund 300 Gedichte aus den Jahren 1989 bis 1993, die sich überwiegend als Zeitgedichte klassifizieren und allgemeiner der politischen Lyrik zuordnen lassen (Lamping 2008, 75–79). In Anbetracht der Fülle an Gedichten kann hier nur exemplarisch vorgegangen werden. Es bietet sich an, zum einen ausgewählte Gedichte ausführlicher zu behandeln und zum anderen weitere Ergebnisse der Untersuchung summarisch vorzustellen. In einem ersten Schritt wird daher auf Volker Brauns Das Eigentum und Durs Grünbeins 12/11/89 detaillierter eingegangen (2.). Bei Brauns Gedicht steht die Metapher der Liebesbeziehung im Zentrum, bei Grünbeins Gedicht die Metapher der Uhr. In einem zweiten Schritt wird eine repräsentative Auswahl weiterer Metaphern für Geschichte angeführt, die sich in den Gedichten findet: Jahreszeiten, Körper und Lebensalter, Gewässer, Gebäude und Glücksspiel (3.).4 Die Befunde in diesen beiden Abschnitten ermöglichen eine kulturgeschichtliche und sprachkritische Einordnung, die zu zwei weiteren Thesen führt (4.). Die Metaphern für Geschichte, die in den Gedichten verwendet werden, stehen, wie sich zum einen zeigen lässt, in einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition. Sprachliche Konvention und literarische Tradition scheinen in diesem Fall ein stabiles erinnerungskulturelles Reservoir an Metaphern bereitzustellen, das in der Wahrnehmung der Autor*innen geeignet war, in spezifischer Weise auf die Situation um 1989 angewendet zu werden. Die Leistung der Metaphern scheint, wie sich zum anderen vermuten lässt, insbesondere darin zu liegen, eine Bewertung der Geschehnisse anzubieten und eine bestimmte emotionale Einstellung zu evozieren. Abschließend kann daher auf dieser Grundlage, zumindest ausblickhaft, etwas zur pragmatischen Dimension der Gedichte und ihrer Metaphorik gesagt werden (5.). Zwei einschränkende Bemerkungen seien vorausgeschickt. Die erste betrifft die Auseinandersetzung mit den Gedichten. Es geht im Folgenden um eine aspektbezogene Interpretation der Texte. Vieles von dem, was man an den Texten beobachten kann, muss unberücksichtigt bleiben, so literaturwissenschaftlich interessant es fraglos ist. Es kann dann unberücksichtigt bleiben, wenn es dem nicht widerspricht, was gezeigt werden soll. Die andere Einschränkung betrifft die hochkomplexe theoretische Frage, was eine Metapher ist. Dazu kann und muss hier nichts gesagt werden. Im Rahmen einer Textanalyse eine Metapher zu 4 Als Heuristik für die Systematik und Klassifikation der Metaphern dient die maßgebliche Arbeit Demandt 1978.

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identifizieren und den Befund angemessen einzuordnen, ist selbst dann möglich, wenn man sie nicht zugleich linguistisch und kognitionswissenschaftlich erklärt – etwa substitutionstheoretisch oder interaktionstheoretisch.5

2.

Volker Brauns Das Eigentum und Durs Grünbeins 12/11/89

Volker Brauns Das Eigentum galt bereits kurz nach seiner Veröffentlichung als Inbegriff der Lyrik über 1989. Das Gedicht erschien zuerst am 4./5. August 1990 im Neuen Deutschland und am 10. August in der Zeit. Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle. (Braun 1992, 84)6

Die Sprechinstanz gibt sich als Bürger*in der DDR zu erkennen (»mein Land geht in den Westen«). Mit den herrschenden Verhältnissen war sie nicht einverstanden (»Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.«). Die Wiedervereinigung, wie sie sich in der Gegenwart von Autor und Publikum abzeichnet, lehnt sie aber gleichfalls ab. Kurz zur Erinnerung: Am 18. März 1990 hatten die ersten freien und demokratischen Wahlen in der DDR stattgefunden, am 5. Mai in Bonn die Zwei-plus-vier-Gespräche begonnen, am 1. Juli war die Währungsunion in Kraft getreten. In einer Sondersitzung sollte am 23. August die Volkskammer für den 3. Oktober den Beitritt der DDR zur BRD beschließen, am 31. August der Einigungsvertrag ratifiziert werden. Die Sprechinstanz befindet sich mit ihrer Position in der Minderheit und ist Anfeindungen ausgesetzt (»Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.«). Jedenfalls scheint es so gut wie sicher, dass sich die Gegenseite, also die maßgeblichen politischen Akteure beider Staaten und ein Teil der Bevölkerung, durchsetzen wird (»Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.«). Was die Sprechinstanz stattdessen bevorzugen würde, bleibt Andeu5 Rolf 2005 behandelt nicht weniger als 25 Metaphertheorien. Eine instruktive Anthologie wichtiger Forschungsbeiträge ist Haverkamp 1996. Eine gute Einführung bietet Kohl 2007. 6 Brauns Gedicht wurde häufig untersucht. Exemplarisch sei verwiesen auf Kormann 1999, 253–279; Hinck 2000, 127–128; Braun 2008, 88–89.

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tung. Mit Blick auf die zeitgenössischen Debatten liegt allerdings nahe, dass sie einen von der BRD unabhängigen und von der bisherigen DDR unterschiedenen sozialistischen Staat befürwortet, wie ihn zum Beispiel manche Schriftsteller*innen und Intellektuelle bei der Großdemonstration in Berlin am 4. November 1989 gefordert hatten; einen Staat, in dem das »mein« in »mein Land« und »mein Eigentum« auf »alle« bezogen ist, also allen gehört. Auffällig ist vor allem, wie die Sprechinstanz ihr Verhältnis zu ihrem Land modelliert und damit das Gedicht strukturiert. Das Land wird mit einer fortgesetzten anthropomorphen Metapher personifiziert, die Geschehnisse metaphorisch beschrieben. Sprechinstanz und Land erscheinen als Liebende. Darauf deuten Formulierungen wie »sich weg[werfen]«, »Zierde«, »Begierde«, »entrissen« und »missen« hin, die den semantischen Rahmen einer zwischenmenschlichen Beziehung aufrufen und dabei prototypisch wohl den der Liebesbeziehung. In diesen Rahmen können ferner Formulierungen wie »den Tritt versetz[en]« und »niemals besaß« eingeordnet werden – wobei die Formulierung, wonach man die geliebte Person ›besitzt‹, zu der Zeit natürlich nicht mehr gebräuchlich war, aber als dichtungssprachlich noch erkannt werden konnte. Vor diesem Hintergrund fasst die Sprechinstanz die Geschehnisse auf. Die Revolution besteht darin, dass die Sprechinstanz die geliebte Person verstoßen hat. Die Wiedervereinigung ergibt sich daraus, dass die geliebte Person sich mit der BRD einen neuen Partner gesucht hat, mit dem sie dauerhaft zusammenleben will. Die Metaphorik aus dem Bereich intimer zwischenmenschlicher Beziehungen dient in diesem Fall der Erkenntnis eines Sachverhaltes, vor allem aber seiner klar negativen Bewertung, die lebensweltlich stark emotional besetzt ist. Die Trennung von einer geliebten Person, zumal in Anbetracht ihres Fehlverhaltens vor und nach der Trennung, ist gemäß Welt- und Alltagswissen mit starken negativen Emotionen wie Wut, Trauer und Enttäuschung verbunden. Durs Grünbeins 12/11/89, eines der Sieben Telegramme aus dem Band Schädelbasislektion, entwirft eine andere Perspektive auf die Geschehnisse und verwendet dabei eine andere Metapher für Geschichte: Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt. Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels Schmalland Vorbei wie das stählerne Schweigen … Heil Stalin. Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt. Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders. Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser abgesackt. Revolutionsschrott en masse, die Massen genasführt Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt ein Gebet: Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs, bitt für uns. (Grünbein 1991, 61) 7 7 Als Forschungsbeiträge, denen das in diesem Aufsatz zu Grünbeins Gedicht Gesagte einige

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Im Gedicht wird die Situation drei Tage nach dem Mauerfall beschrieben. Die Zeit des Wartens, der Langeweile und des Schweigens ist vorbei. Das alles wird mit erkennbar wenig Sympathie geschildert, mithin negativ perspektiviert. Die Wartenden waren wehleidig, der realexistierende Sozialismus wird als »Hegels Schmalland« verspottet, das Schweigen über bestimmte Sachverhalte hinter dem Eisernen Vorhang war »stählern[…]«, was an Intransigenz und Brutalität denken lässt. Sarkastisch ruft die Sprechinstanz, die nun nicht mehr schweigen muss, in ihrem zu sich selbst gekommenen Gedicht den sozialistischen Eliten ein »Heil Stalin« hinterher und macht ihnen damit ihren Totalitarismus zum Vorwurf, der trotz aller antifaschistischen Rhetorik einige Ähnlichkeiten mit dem ›Nationalsozialismus‹ aufwies. Jetzt sind von dem System, das seine quasi-religiös überhöhten weltanschaulichen Ziele gewaltsam durchsetzte, nur noch Reste geblieben als »Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt.«. Auch auf manche, die jetzt den Ton angeben wollen, erstreckt sich die Kritik: Die Revolution hat »Revolutionsschrott en masse« hervorgebracht; »bankrotte[…] Rotten« haben »die Massen genasführt«. Diesen Akteur*innen, wohl denen, die nach wie vor am Sozialismus festhalten, legt die Sprechinstanz in ebenfalls sarkastischer Manier ein unsinniges Bittgebet in den Mund, um sie und ihre politische Religion zu entlarven: »Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs, bitt für uns.« Über die formale Beschaffenheit des Gedichtes ließe sich ein ganzer Aufsatz schreiben, nicht zuletzt über die Metaphorik. Worauf es mit Blick auf das Thema insbesondere ankommt, ist der fünfte Vers, der genau in der Mitte des Gedichtes steht und von zentraler Bedeutung ist: »Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders.« Die Erfahrung des tiefgreifenden und rapiden historischen Wandels wird mit einer Metapher für Geschichte, der Uhr, zum Ausdruck gebracht, ein abstrakter Sachverhalt mithin veranschaulicht und zugleich gedeutet. Im realexistierenden Sozialismus gab es die eine Zeit, die von oben vorgegeben wurde. Die Gesellschaft wurde darauf ausgerichtet, sich in einem in der geschichtlichen Zeit ablaufenden Prozess dem Ziel einer kommunistischen Gesellschaft anzunähern. Dem musste jeder Einzelne folgen. Die individuelle Lebenszeit, die individuelle Uhr, war von der Verlaufsvorstellung des Sozialismus bestimmt. Das ist jetzt anders. An die Stelle von totalitärer Einheitlichkeit und Stagnation ist in der Wahrnehmung der Sprechinstanz eine allmählich einsetzende und dann wohl immense Beschleunigung der Lebenszeit jedes Einzelnen getreten. Die Metapher der Uhr, die mit anderen Darstellungstechniken zusammenwirkt, zeigt den historischen Wandel also als Pluralisierung und Beschleunigung historischer Zeit, bezogen auf die Wahrnehmung und Erfahrung

Anregungen verdankt, seien genannt: Erhart 1997, 145–147; Lampart 2003, 144–146; Reißer 2010, 184–185.

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der Akteure. Sie dient der Erkenntnis, der Verdeutlichung und Veranschaulichung.

3.

Weitere Metaphern für Umbruchsgeschichte(n)

Die Befunde im vorangehenden Abschnitt lassen sich leicht vermehren. Das gilt zum einen für die beiden Metaphern für Geschichte: die Uhr in Grünbeins Gedicht und die Liebesbeziehung in Brauns Gedicht. Exemplarisch seien drei weitere Belege aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen genannt. Jürgen Rennert spricht im Lied vom fröhlichen Inzest (1990) polemisch von den »starken Brüdern« aus dem Westen und der »Schwester« DDR, die für ihre inzestuöse Aufnahme Demütigungen und den Verlust alles dessen, was sie besaß, in Kauf nehmen muss: »Sie wird erst aufgerissen / Bevor sie unter kommt.« (Conrady 1993, 55). In Kay Hoffs Zweitehe ist die satirisch betrachtete Wiedervereinigung eine schmucklose standesamtliche Hochzeit eines desillusionierten Paares. Das vermutlich westliche Ich sagt unter anderem: […] Komm. Wir ändern nichts mehr. Die Zeit hat anderes im Sinn als zu heilen, und Narben vergißt erst der Tod. (Conrady 1993, 98)

Keine Spur also von Euphorie oder ›Vergangenheitsbewältigung‹. Günter Grass porträtiert in Späte Sonnenblumen die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung in sarkastischer Manier als Zeit der Scheidung: »Geschieden sind wie Mann und Frau / nach kurzer Ehe Land und Leute.« (Grass 1993, 11). Die Metaphorik dient bei solchen Verwendungen der kritischen Bewertung der Wiedervereinigung, sie sei polemisch, satirisch oder sarkastisch. Zum anderen weisen die Gedichte über 1989 und die Folgen verschiedene weitere Metaphern für Geschichte auf. Ein erstes Beispiel ist die JahreszeitenMetaphorik. In Günter Kunerts November, geschrieben im Jahr der Wiedervereinigung, ist die Zeit nach der Revolution nicht etwa ein Frühling, in dem etwas Neues beginnt, sondern ein Herbst – nicht der Herbst der Ernte, sondern der unwirtlichen, toten Natur. Ostentativ wendet sich die Sprechinstanz mit »Ekel« von den Geschehnissen ab und verdammt den »Monat / der Revolution der Selbstmörder« (Kunert 1990, 28). Eine in irgendeiner Weise positiv geartete Zukunft ist mithin nicht zu erwarten. Nach dem Herbst kommt der Winter. Einen anderen Aspekt, aber gleichfalls mithilfe der Jahreszeiten-Metaphorik, nimmt May Ayim in deutschland im herbst in den Blick. Das längere Gedicht von 1992 schlägt einen Bogen von den Pogromen 1938 zu rechtsradikalen Gewalttaten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung: »in diesem und jenem ort /

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[haben] zuerst häuser / dann menschen / gebrannt« (Ayim 2005, 69). Es wird zwar nicht explizit gesagt, aber das zeitgenössische Publikum dürfte keine Schwierigkeiten gehabt haben, die Verse auf die Gewalttaten zu beziehen, die in Hoyerswerda und Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen verübt wurden. Das Gedicht endet mit den Versen: »deutschland im herbst / mir graut vor dem winter« (Ayim 2005, 70). Der Blick in Gegenwart und Zukunft ist, verstärkt durch die Metapher, gleichfalls pessimistisch. Zudem wird, deutlicher als in dem Gedicht von Kunert, die von der Jahreszeiten-Metaphorik implizierte Verlaufsvorstellung aktualisiert und ferner das Merkmal der zyklischen Wiederkehr einbezogen. In Verbindung mit anderen Versen des Gedichtes besteht eine mögliche Implikatur der Metaphorik darin, dass nach dem ›Herbst‹ der Wiedervereinigung etwas kommen kann, das eine Parallele aufweist mit dem, was in dem ›Winter‹ der weiteren Jahre der NS-Herrschaft nach 1938 geschah. Die Jahreszeiten-Metaphorik unterstreicht damit die im Gedicht vollzogenen Sprechakte der Anklage und Mahnung und legt eine Warnung bezüglich der Zukunft nahe. Günter Grass verwendet, um einen dritten Beleg anzuführen, in Das Unsere (1993) die Metapher vom »Novemberland«, die zugleich als Titel einer ganzen Sammlung von Gedichten dient, in denen er die Ereignisse um die deutsche Wiedervereinigung thematisiert und kritisch perspektiviert (Grass 1993, 7). Ein zweites Beispiel ist die Metaphorik aus dem Bereich von Körper und Lebensalter. In Mors ex nihilo (1994) von Bert Papenfuß kommentiert die Sprechinstanz das Ende der DDR umgangssprachlich mit den Worten: »wenn ein staat ins gras beißt, singen die dichter / wenn er zu langsam stirbt, zündeln sie die lichter« (Arnold und Korte 1999, 372). Erhabener und pathetischer geht es bei Uwe Grüning in Fahrt zum Palast der Republik (1990) zu: Ich bin tapfer, ich weiß, daß die Epoche zu Tode stürzt und vielleicht mit ihr der Äon. (Conrady 1993, 48)

Dem aus BRD und DDR hervorgegangenen Staat wird in Thomas Kielingers Wiegenlied von 1991 eine unruhige Kindheit prophezeit: Ruhen wirst du Kind ungleicher Eltern Deutschland nicht sanft in deiner Wiege (Conrady 1993, 101)

Die organologischen Metaphern vom sterbenden Staat oder der sterbenden Epoche sowie von der Kindheit des wiedervereinigten Deutschlands evozieren

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Verlaufsvorstellungen, ähnlich wie die Jahreszeiten-Metaphorik. Tod präsupponiert Geburt und Leben, Kindheit aktiviert den semantischen Rahmen des Lebensalters. Zum einen wird dem historischen Prozess Kohärenz verliehen und zum anderen den im historischen Prozess wichtigen Größen (Land, Staat) oder Ordnungskategorien (Epoche). Die Metaphorik unterstützt jeweils das, was ausgesagt werden soll. Bei Grüning ist es die Tragik des Geschehens, wie die Sprechinstanz es wahrnimmt; eine Sprechinstanz, die DDR-Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft pessimistisch betrachtet. In Kielingers Rollengedicht tritt eine Sprechinstanz auf, die von Unfreiheit, Überwachung und Unterdrückung in der DDR berichtet; von einem ›Erbe‹ mithin, welches der ›Elternteil‹ DDR dem wiedervereinten Deutschland mitgibt und es in seinen Anfangsjahren damit zusätzlich belastet. Ein drittes Beispiel ist die Gewässermetapher. Grünbein verwendet sie in einem Vers des oben vorgestellten Gedichtes: »Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser abgesackt.«. Die Geschichte der DDR erscheint als Fluss, der in das Meer mündet und damit an sein Ende gekommen ist. Brackwasser ist bekanntlich ein Gemisch von Salzwasser und Süßwasser im Mündungsgebiet von Flüssen. In Annerose Kirchners Zwischen den Ufern (1989/1990) kommt die Metapher ebenfalls vor: Zwischen den Ufern verliert sich der eigene Lebenslauf, und niemand fragt, wo dich das Zeitliche segnen wird. Schwimm gegen die steigende Flut. Nur einmal trägt dich das Wasser. (Conrady 1993, 38)

Das erinnert an Shakespeares Julius Caesar, wo Brutus zu Cassius sagt: »There is a tide in the affairs of men, / Which, taken at the flood, leads on to fortune; / Omitted, all the voyage of their life / Is bound in shallows and in miseries.« (IV,3; 166). Die Liste ließe sich fortsetzen. Es gibt zum Beispiel die Gebäude-Metapher, wie in Yaak Karsunkes ziemlich frei. nach brecht (1992), wo das Ende der DDR als Einsturz eines Hauses dargestellt wird, dessen Baufälligkeit die überzeugten Sozialisten bis über den Einsturz hinaus nicht wahrhaben wollten. Vielmehr […] priesen [sie] noch aus der tiefe das schützende dach dessen trümmer sie schließlich erschlugen. (Karsunke 1992, 67)

Es gibt die Glücksspiel-Metapher. In Steffen Menschings Rot hat verloren wird die Zeit nach der Wiedervereinigung mit der Metapher des Glücksspiels karikiert: »Jetzt setzt man / Auf schwarz.« (Mensching 1995, 43).

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4.

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Kulturgeschichtliche und sprachkritische Einordnung

Anstatt die Zahl der Beispiele und Belege zu vermehren, sollen die Befunde nun kulturgeschichtlich und sprachkritisch eingeordnet werden. Zunächst zur kulturgeschichtlichen Einordnung: Die Metaphern haben, so verschieden sie sind, eines gemeinsam. Es sind keine neuen, einzigartigen, kühnen Metaphern. Die gab es natürlich auch, zum Beispiel in Grünbeins 12/11/89, wenn dort vom »stählerne[n] Schweigen«, »Letzter Monstranzen Glanz« oder »Kopffüßler[n]« die Rede ist. Es sind vielmehr, so die These, Metaphern mit einer langen Tradition, wie mit dem Shakespeare-Beispiel bereits angedeutet. Zur Metaphorik aus dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie in Brauns Gedicht, lässt sich ein Beleg aus der Frühen Neuzeit anführen. Die Verwüstung Magdeburgs durch kaiserliche Truppen unter den Generälen Tilly und Pappenheim am 20. Mai 1631 wurde von den Siegern als Hochzeit verspottet. Der Chronist des Theatrum europaeum schilderte, was geschah, nachdem die Stadt erobert, geplündert und durch einen Brand zerstört worden war: Darauff ist es an ein Fressen und Sauffen gegangen / welches drey ganze Tag nach einander geweret / und also die Magdeburgische Hochzeit wie sie vom Tylli genennet / celebriert worden. (Abelinus 1633, 344)

Verschiedene zeitgenössische Flugblätter bedienten sich ebenfalls dieser traditionellen Metaphorik, die Berührungspunkte aufweist mit der Körper-Metapher, die Verwendung findet, um Gemeinwesen oder Staaten zu beschreiben. Die Metapher aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen kommt bereits in biblischen Schriften vor. Im Markus-Evangelium charakterisiert Jesus sich als Bräutigam und seine Jünger als Hochzeitsgäste (vgl. Mk 2,19). Im MatthäusEvangelium wird das Kommen des Himmelreiches als Hochzeit beschrieben, etwa im Gleichnis von der königlichen Hochzeit (Mt 22, 1–14) oder im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25, 1–13). Diese Tradition reicht, wie angedeutet, bis in die Zeit der Antike zurück, wie der Althistoriker Alexander Demandt in einer Monographie ausführlich gezeigt hat, aus der die folgenden Belege ausnahmslos stammen (Demandt 1978).8 Zunächst zur Metapher der Uhr in Grünbeins Gedicht. Sie ist seit der Antike bekannt, in der man zwar keine mechanischen Uhrwerke besaß, dafür aber Sonnen-, Wasser- und Sanduhren. Da Wasser und Sand durch die Uhr rinnen und damit die Kammer eines Gefäßes füllen, kann mit Blick auf historische Prozesse davon die Rede sein, dass ›die Zeit erfüllt‹ oder das Lebensgefäß eines histori-

8 Da anhand des Inhaltsverzeichnisses die jeweiligen Kapitel und Unterkapitel leicht aufgefunden werden können, wird im Folgenden darauf verzichtet, in jedem Fall die entsprechenden Textstellen bei Demandt anzugeben.

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schen Akteurs ›vollgelaufen‹ ist (Demandt 1978, 160). In Homers Ilias sagt Agamemnon zu Menelaos: »Aber du selbst bereitest mir bitteren Schmerz, Menelaos, / Wenn du stirbst und so bald das Maß des Lebens erfüllest.« (Ilias, IV 170). Die Bibel kennt die Metaphorik gleichermaßen. Im Galater-Brief heißt es an einer Stelle: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn« (Gal 4,4). Gleiches gilt für die Metaphorik aus dem Bereich der Jahreszeiten. In der Bibel wird der Zeitpunkt, zu dem eine göttliche Strafe geschieht, metaphorisch als Ernte bezeichnet, ein Ereignis mithin in den Rahmen einer zur Jahreszeit des Herbstes gehörenden Tätigkeit gestellt. Den bevorstehenden Untergang Babels beschreibt Jeremia mit den Worten: »Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Die Tochter Babel ist wie eine Tenne, wenn man sie feststampft; bald ist die Zeit der Ernte da.« (Jer 51,33). Ähnliche Beispiele lassen sich im Neuen Testament finden, etwa wenn Johannes der Täufer über den Messias sagt: »Er hat die Worfschaufel in seiner Hand und wird die Spreu vom Weizen trennen und seinen Weizen in die Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer.« (Mt 3,12). Gleiches gilt schließlich für die Körper- und Lebensalter-Metaphorik. Herodot berichtet in seinen Historien, wie die Athener in den Perserkriegen das Orakel in Delphi befragen. In der ersten Antwort wird der Stadt Unheil vorhergesagt und die Polis metaphorisch als Körper aufgefasst: »Nicht entgeht der Leib, nicht das Haupt dem grausen Verderben, / Nicht bleiben unten die Füße, die Hände nicht, nichts in der Mitte, / Unverletzt […]« (Herodot VII 140,2). In Ciceros Der Staat erläutert Scipio den Zuhörer*innen die Geschichte Roms, indem er sie metaphorisch als Abfolge von Lebensaltern darstellt: »Leichter aber werde ich erreichen, was ich mir vorgesetzt, wenn ich euch unser Gemeinwesen bei der Geburt, im Wachsen, in der Reife und schon in Festigkeit und Stärke zeige« (Cicero, rep. II 3). In den Gedichten über Mauerfall und Wiedervereinigung werden also die alten Metaphern für Geschichte verwendet. Ob das ein Resultat der sprachlichen Konvention und der literarischen Tradition ist, die hier in historisch spezifischer Weise auf die Situation angewendet wird, und wie sich die entsprechenden Zusammenhänge literatur- und kulturgeschichtlich modellieren und erklären lassen, wären relevante weiterführende Fragen, die eine eigene Untersuchung erforderlich machen würden. Als theoretischer Rahmen erwiese sich dabei das Modell als vielversprechend, das die kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bereitstellt. Metaphorik gehört zu den literarischen Verfahren der »Verdichtung«, die einen »Schnittpunkt« zwischen Literatur und kulturellem Gedächtnis bilden (Erll 2005, 144). Die Metaphern für Geschichte in den untersuchten Gedichten würden damit zu den Darstellungstechniken gehören, welche daran mitwirken, dass literarische Texte »Medien des kollektiven Gedächtnisses« sind (Erll 2005, 143). Sie würden im Zusammenhang mit den Funktionen beschreibbar werden, durch welche Literatur als Medium der Speicherung und

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Zirkulation dienen kann, einen medialen Rahmen für Erinnerung bereitstellt und dazu beiträgt, kulturelles Gedächtnis zu bilden und zu reflektieren (Erll 2005, 155–166).9 Damit zur sprachkritischen Einordnung. Es soll hier nicht darum gehen, über die Grenzen der Sprache zu reflektieren oder den Sprachgebrauch in den Gedichten zu kritisieren. Es erweist sich aber als durchaus sachdienlich, die Frage aufzuwerfen, welchen potenziellen Erkenntniswert die identifizierten Metaphern mit Blick auf die historischen Sachverhalte haben. Gemeint ist damit nicht die Tatsache, dass jede metaphorische Sprachverwendung partiell ist, sondern die kognitive Funktion der Metaphern. Demandt formuliert eine skeptische Position: »Man kann Geschichte erforschen und erzählen, kann ihre Gegenstände zergliedern und beschreiben, aber abbilden kann man weder diese noch jene.« (Demandt 1978, 453). Die Möglichkeit metaphorischen Sprechens scheint mit Blick auf Geschichte nicht über jeden Zweifel erhaben. Lassen sich friedliche Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung zutreffend metaphorisch beschreiben? Wird man der Komplexität der Geschehnisse gerecht, wenn man von einer gescheiterten Liebesgeschichte spricht, wie in Brauns Gedicht, oder wenn man die Zeit der Wiedervereinigung als Herbst charakterisiert, wie Kunert, Ayim oder Grass es auf unterschiedliche Weise tun? Was die Bewertung der Geschehnisse angeht und das Evozieren einer bestimmten emotionalen Einstellung, sind diese Metaphern, pragmatisch gesehen, sicherlich sehr effektvoll. Aber lässt sich mit solchen Metaphern eine angemessene Deutung der Ereignisse geben? Hier stößt die Metaphorik womöglich an Grenzen – was übrigens seinerseits eine Metapher ist. Das wird in einem Gedicht reflektiert, in Heinz Czechowskis Die überstandene Wende, das bereits im November 1989 geschrieben wurde. Was hinter uns liegt, Wissen wir. Was vor uns liegt, Wird uns unbekannt bleiben, Bis wir es Hinter uns haben. (Czechowski 1993, 148)

Das Gedicht greift im Titel einen Ausdruck auf, welcher das politische Sprechen in der Zeit stark prägte, und kommentiert ihn indirekt. Egon Krenz, der vom 18. Oktober bis zum 6. Dezember 1989 als Nachfolger Erich Honeckers SEDGeneralsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR war, benutzte den Ausdruck ›Wende‹ in seiner Antrittsrede. Der Ausdruck wurde vielfach aufgegriffen (zur Wort- und Begriffsgeschichte Reimann 2008, 22–27). Bis heute bezeichnen manche die Ereignisse von 1989 als ›Wende‹.

9 Zur umfangreichen und differenzierten Forschung der letzten Jahre in diesem Bereich vgl. exemplarisch Erll et al. 2003, Erll und Nünning 2004 und Erll et al. 2010.

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Es handelt sich erneut um eine Metapher für den historischen Prozess. Geschichte ist ein Weg oder zumindest eine gerichtete Bewegung im Raum. Die ›Wende‹ wäre demnach ein Ereignis auf dem Weg, bei welchem die Richtung geändert wird. Auch diese Metapher ist seit der Antike bekannt. Thukydides charakterisiert in Der Peloponnesische Krieg den Verlauf, welchen ein Krieg und damit ein für Geschichte prototypischer Ereigniszusammenhang nimmt, als Weg: »Denn ein Krieg verläuft ja nicht nach einem festen Schema, sondern von sich selbst aus vielfach findet er seine Mittel und Wege den jeweiligen Umständen entsprechend« (Thukydides, I 122, 1). In der Aeneis lässt Vergil Jupiter den Römern ihre Geschichte als Weg ohne Ende verheißen: »Diesen setze ich weder eine Grenze ihrer Macht noch bestimmte Zeiten: Eine Herrschaft ohne Ende habe ich ihnen vergönnt.« (Vergil, Aen. I 278–279). Cicero betrachtet es als »die Hauptsache der Staatsklugheit«, »die Abläufe und Wendungen der öffentlichen Angelegenheiten zu sehen« (Cicero, rep. II 45). Die Metapher kann, je nach Verwendungszusammenhang und Aussageabsicht, Unterschiedliches besagen. Sie ist mehr- oder sogar vieldeutig, wie viele Metaphern für Geschichte. Das hat mit den zugrunde liegenden Vorstellungen davon zu tun, wie Geschichte verläuft und wie die Entwicklung bewertet wird, auf welche man den Ausdruck anwendet. Bedeutet die ›Wende‹ eine notwendige Korrektur oder eine Fehlentwicklung? In welche Richtung, um im Bild zu bleiben, soll man sich wenden? Geht es darum, einen zurückliegenden Punkt wiederzugewinnen oder ein in der Zukunft liegendes Ziel zu erreichen? Unabhängig davon, was genau die Sprachbenutzer mit dieser Metapher verbinden, in der Regel darf man unterstellen, dass sie eine klare Vorstellung davon haben, wohin der Weg der Geschichte gehen soll. Das Gedicht nun legt eine andere Haltung nahe. Die Sprechinstanz, die stellvertretend für eine Gruppe, ein ›Wir‹ spricht, macht das in nicht mehr als zwanzig Wörtern lakonisch deutlich. Ja, ›wir‹ wissen, was hinter uns liegt. Aber was vor uns liegt, das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Dazu muss es erst geschehen sein. Mit Hegel gesprochen: »[D]ie Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (Hegel 2013, 19). Deswegen ist Vorsicht geboten. Das Gedicht regt zum Nachdenken an, zur Reflexion über das, was solche Metaphern bedeuten und implizieren. Die Akteur*innen sollen nicht zu rasch meinen, sie wüssten, was jetzt erforderlich ist. Hatte man sich nicht vierzig Jahre lang im Vollbesitz des Wissens gewähnt, wohin der Weg der Geschichte führt? Hatte man nicht gemeint, es gebe nur den einen, marxistisch-leninistischen Weg? Und warum sollte man jetzt meinen, man wisse, gleich ob in Ost oder West, wohin man sich ›wenden‹ soll? Geschichte ist zur Zukunft hin offen. Sie ist nicht zielgerichtet und geschlossen. An ihrem Ende steht keine der totalitären Verheißungen des 20. Jahrhunderts, wie man heute nach verschiedenen ›Wenden‹ sagen kann. Ein korrespondierendes Bewusstsein der historischen Akteur*innen davon, dass Ge-

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schichte zur Zukunft hin offen ist, entwickelte sich in der von Reinhart Koselleck identifizierten ›Sattelzeit‹ zwischen 1770 und 1830 (Koselleck 1972; 1979). Das Gedicht von Czechowski greift also eine Metapher für Geschichte auf, die dem politisch-publizistischen Diskurs der Zeit entstammt und zugleich eine lange Geschichte hat, und stellt sie auf den Prüfstand, indem es die ›verblasste‹, konventionalisierte Metapher von der Wende beim Wort nimmt. Wenn Geschichte ein Weg ist, auf dem man ›Wenden‹ vornehmen kann, dann weiß man erst am Ende des Weges, wohin das führt, nicht bereits dann, wenn der Weg noch vor einem liegt. Das Gedicht dient also der Reflexion, Kommentierung und sogar Subvertierung einer Metapher für Geschichte, mit welcher der Verlauf der Ereignisse im Herbst 1989 beschrieben und gedeutet wurde.

5.

Ausblick

Die aspektbezogene Untersuchung von Gedichten aus den Jahren 1989 bis 1993 zeigt, dass Metaphern eine zentrale Darstellungstechnik sind, die verwendet wird, um die historischen Ereignisse zu beschreiben. Es sind Metaphern für Geschichte. Ihre Funktion besteht darin, die Ereignisse zu deuten, zu bewerten und Emotionen hervorzurufen. Die Metaphern stehen in einer langen Tradition und stoßen an Grenzen. Es gab sie bereits in antiken und biblischen Schriften. Sie sind pragmatisch reich, aber kognitiv zum Teil unzureichend. Der Kollektivsingular Geschichte und einzelne Ereignisse und Prozesse, wie Mauerfall und Wiedervereinigung, lassen sich in kognitiver Hinsicht wohl in der Regel nicht hinreichend gehaltvoll mit einzelnen Metaphern deuten.10 Abschließend ein kurzer Ausblick. Literaturwissenschaft sollte nach Meinung des Verfassers die Frage nicht außer Acht lassen, wie die Texte in ihrer Zeit rezipiert wurden und wirkten. Dazu noch einmal zu Brauns Das Eigentum. Das Gedicht wurde in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, in Radiosendungen vorgetragen, in Zeitungsartikeln und Leserbriefen diskutiert (Schlenstedt 1992). Zur Wirkung des Gedichtes dürfte die Metaphorik beigetragen haben. Sie eröffnete die Möglichkeit, konkret und anschaulich, eindrücklich und verbunden mit einem emotionalen Wirkungspotenzial eine Deutung der Geschehnisse und der eigenen Rolle dabei vorzunehmen sowie Kritik zu üben. Das geschieht aus der subjektiven Perspektive des Betroffenen, der persönlich daran Anteil nimmt, seine Gedanken und Gefühle stellvertretend für andere artikuliert. In diesem Sinne scheint das Gedicht zumindest von einem 10 Zeitgedichte und Geschichtslyrik erfüllen unbeschadet dieser Aussage über die Metaphorik in den untersuchten Gedichten wichtige kognitive Funktionen. Den Wahrheitsanspruch der Geschichtslyrik rekonstruiert zum Beispiel Lamping 2013.

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Teil des zeitgenössischen Publikums wahrgenommen worden zu sein. In einem Aufsatz über Brauns Gedicht wird aus verschiedenen Briefen von Leser*innen an den Autor zitiert, die sich entsprechend geäußert haben sollen. Dazu nur zwei Beispiele. Braun habe, so ein Leserbrief, »etwas ›verdichtet‹ […], was auch andere, Ihnen Unbekannte denken und fühlen« (Schlenstedt 1992, 126). Aus einem anderen Leserbrief geht hervor, dass das Gedicht »genau die Gefühle und Gedanken [trifft], die uns nicht in Ruhe lassen« (Schlenstedt 1992, 126). Die Funktion des Gedichtes für das Publikum bestand demnach unter anderem darin, dass sie sich über ihre Überzeugungen und Einstellungen klarer wurden, in ihnen bestärkt werden konnten oder neue Einsichten erlangten. Der Autor des Aufsatzes bilanziert auf dieser Grundlage: »Bestätigung und Dank zeigen, daß viele den Autor als ihren Sprecher empfanden und das Gedicht dabei auch als Lebenshilfe nahmen – als Formulierung eines von ihnen undeutlich Gefühlten, als Bekundung, die ihnen das Wissen gab, mit ihren Sorgen nicht allein zu sein.« (Schlenstedt 1992, 127). Die Erkenntnisse, die das Gedicht zum Ausdruck brachte oder ermöglichte, konnten mithin eine lebenspraktische Funktion erfüllen, indem sie auf die eigene Person und Situation angewandt wurden. In diesem Zusammenhang verweist der Autor auf Rezeptionszeugnisse, aus denen hervorgeht, dass das Gedicht geeignet war, Zeitgenossen Brauns zum »Nachdenken []« über die eigene Rolle in der DDR und in der Zeit des Umbruchs anzuregen (Schlenstedt 1992, 127). Es lässt sich vermuten: In der gegebenen Situation konnten solche Funktionen für manche Leser*innen wohl nur von einem solchen Gedicht erfüllt werden, oder zumindest von diesem besonders gut – vielleicht gerade wegen seiner Metapher für Geschichte, mit der ein historischer Umbruch eindrücklich veranschaulicht werden konnte.

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Vanessa Ossa

9/11 als Narrativ und Bild – vom Sagbaren zum Unsichtbaren

1.

Einleitung

Die Anschläge vom 11. September 2001 wurden vielfach als eine globale Zäsur beschrieben. Insbesondere die Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Centers wurden nicht nur live von einem Millionenpublikum am Fernsehbildschirm rezipiert, sie prägten auch die Berichterstattung der folgenden Wochen (Chéroux 2011). Damit fokussierte sich die mediale Aufmerksamkeit auf wenige Teilmomente der insgesamt zeitlich recht komprimierten Ereignisfolge von rund 100 Minuten, in der vier Flugzeuge gewaltsam entführt und zum Absturz gebracht wurden. Der folgende Artikel soll zeigen, wie fiktionale Verarbeitungen des ›War on Terror‹ immer wieder auf den Moment der Anschläge als historische Referenz zurückkommen, auch wenn sie darüber hinaus auch weniger visuell signifikante Aspekte des als ›9/11‹ erinnerten historischen Umbruchsmoments – wie beispielsweise das Trauma durch eine bis zum Anschlag unerkannt gebliebene terroristischen Gefahr – ebenfalls zur Darstellung bringen.1 In der Unmittelbarkeit der Live-Berichterstattung hat sich gezeigt, wie sich nach anfänglicher Sprachlosigkeit allmählich ein Vokabular und eine Bildsprache herausbildeten, in denen die Anschläge als das historische Ereignis ›9/11‹ beschreib- und erinnerbar wurden (Holland 2009; Jackson 2005). Das passende Narrativ wurde dabei schnell festgelegt: die Anschläge kamen buchstäblich aus heiterem Himmel, sie wurden von skrupellosen und blutrünstigen Verbrechern begangen, stellten einen Angriff auf die Freiheit schlechthin dar und konnten nicht anders als mit einer militärischen Gegenoffensive beantwortet werden (Didion und Rich 2003; Jackson 2005). Es wurde vielfach kommentiert, wie bemerkenswert geschlossen die amerikanische Öffentlichkeit unmittelbar nach den 1 Die hier vorgestellten Argumente wurden im Teilprojekt »Mediale Reflexionen. Bedrohungskommunikation und die US-amerikanische Ordnung nach den Anschlägen vom 11. September 2001« des Sonderforschungsbereich 923 Bedrohte Ordnungen an der Eberhard Karls Universität in Tübingen entwickelt und werden in meiner Dissertation Sleeping Threats: The Sleeper Agent in Post-9/11 Media in voller Länge dargelegt.

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Anschlägen auftrat (Didion and Rich 2003; Butler 2004). Die mediale Berichterstattung fokussierte sich vornehmlich auf die trauernden Hinterbliebenen und die heldenhaften Ersthelfer,2 von denen viele ebenfalls ihr Leben verloren hatten (Didion and Rich 2003; Faludi 2008; Spigel 2004). Auch wenn in dieser Erzählung rhetorisch immer wieder auf Elemente aus der Vergangenheit zurückgegriffen wurde, zum Beispiel durch Verweise auf Pearl Harbor als bisher einzigen anderen Angriff auf amerikanischen Boden, waren die Einzigartigkeit, die Unvorhersehbarkeit und die historische Bedeutung der Anschläge ein zentrales Element des öffentlichen Diskurses um 9/11 (Grusin 2004; Jackson 2005). Einen besonderen Stellenwert erhielten die Passagiere des Fluges 93 von United Airlines, der am 11. September 2001 in einem Feld in der Nähe von Pennsylvania zum Absturz gebracht wurde. Die Passagiere dieses Flugs setzten sich ihren Entführern zur Wehr und auch wenn ungeklärt ist, wodurch die Maschine letztlich zum Absturz kam, stellt ihr Schicksal doch einen kleinen heroischen Moment inmitten des tragischen Geschehens der Anschläge dar (Faludi 2008). Doch wenn wir 9/11 als Zäsur oder Umbruch betrachten, müssen wir auch fragen, was sich nach den Anschlägen verändert hat. Zunächst einmal sind eine Reihe von politischen und (para-)militärischen Maßnahmen zu nennen, die zumeist unter dem Label ›War on Terror‹ zusammengefasst werden. Die Phase nach dem Ende des Kalten Kriegs, in der die Welt für kurze Zeit nicht in zwei offensichtliche Fronten geteilt war, ging zu Ende (Zˇizˇek 2002). Von nun an hieß es aus amerikanischer Perspektive, ›wir gegen den Terror‹, und die Ursache dieses ›Terrors‹ war klar im Nahen Osten zu verorten. Die sogenannten ›Schurkenstaaten‹ sowie die Mitgliederstaaten der ›Achse des Bösen‹ standen alsbald im Zentrum der politischen Rhetorik (Edgerton et al. 2007; Jackson 2005). Zum Komplex des ›War on Terror‹ gehören jedoch auch zahlreiche innenpolitische Maßnahmen. Den größten politischen Einschnitt stellt hier wahrscheinlich der US PATRIOT Act dar, durch den Einschränkungen der zivilen Bürgerrechte im Namen der Terrorbekämpfung veranlasst wurden. Insbesondere äußerte sich dies in einer Ausweiterung von Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen sowie einer Verschärfung der Grenz- und Einwanderungspolitik (Forest 2006; Smith und Hung 2010).

2 Ich verzichte hier bewusst auf das genderneutrale ›Ersthelfer_innen‹, da die Berichterstattung über trauernde Witwen und unerschrockene Ersthelfer deutlich auf Genderstereotype zurückgriff, sodass die helfenden Personen deutlich männlich konnotiert waren (vgl. Faludi 2008). Ebenso spreche ich von der Figur des ›Schläfers,‹ der ›Freund-Feind-Unterscheidung‹ oder den ›Superhelden-Geschichten‹, in diesen Fällen handelt es sich um Konzepte, die aus einer männlich konnotierten Vorstellung von Heldenhaftigkeit und kriegerischem Konflikt hervorgegangen sind. Für empirische Gruppen bestehend aus Personen oder Figuren, die mehrere Geschlechter enthalten, verwende ich das genderneutrale Plural.

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Interessanterweise ist es in Bezug auf die Maßnahmen in den USA sehr viel schwieriger, ein klares Narrativ auszumachen, in dem auch die potentiellen Aggressoren eindeutig zu identifizieren sind. Ein eindeutiges Label der Bedrohung im eigenen Land als ›islamistisch‹ oder gar ›orientalisch‹ erwies sich als politisch problematisch, da es einerseits die ohnehin angespannte innenpolitische Lage verschärfte und andererseits auch nicht ins Bild des weltoffenen und toleranten Westens passte, das die USA als Kontrastfolie zu den ›barbarischen Terroristen‹ entwerfen wollten (Alsultany 2012; Furedi 2007; Jackson 2005). Während die militärischen Aktionen in Afghanistan (und später im Irak) politisch als Jagd nach den Schuldigen (bzw. deren Komplizen) begründet wurden, richteten sich die Maßnahmen auf US-amerikanischem Boden gegen eine unbestimmte zukünftige Gefahr. So wurde beispielsweise in einer von der CIA erstellten Auflistung potentieller Bedrohungsszenarien von einem universellen Gegner (»universal adversary«) anstelle einer konkreten Gefahrenquelle gesprochen (Furedi 2007, xiv). Bereits kurz nach den Anschlägen vom 11. September wurden diese als Beginn einer Eskalationsspirale terroristischer Gewalt antizipiert (Derrida und Habermas 2006). Die Antrax-Angriffe in den Wochen nach 9/11 schienen diese Theorie nur zu bestätigen (Grusin 2010; Jackson 2005, 96). Eine neu eingerichtete öffentliche ›Terror Skala‹ markierte das aktuelle Level des Gefahrenpotentials, ließ jedoch offen, wovon oder von wem diese Gefahr ausgehen könnte (Massumi 2005). Ausgehend von dem durch 9/11 verursachten Schockzustand, der suggerierte, dass plötzlich jeder nur vorstellbare Schrecken Wirklichkeit werden könne (Grusin 2004), wurden die Gegner im ›War on Terror‹ zur potentiellen Leerstelle (Furedi 2007). Personifiziert ist diese Leerstelle in der Figur des ›Schläfers‹, einer Person, die sich bereits lange vor dem eigentlichen Anschlag im Land versteckt und unentdeckt eine Tat von höchster Gewalt und Sichtbarkeit vorbereitet (Koch 2010; Vogl 2009). Die Terrorismusforschung fokussiert sich vielfach auf die Wirkung des eigentlichen terroristischen Akts. Dieser wird als angsteinflößende Botschaft an die Zivilbevölkerung, als Versuch der politischen Einflussnahme oder gar als Form der Kommunikation angesehen (Tuman 2009). Dem eigentlichen Anschlag geht jedoch eine Phase der Ungewissheit voraus, in der die Gefahr im Unbekannten, noch nicht Verwirklichten liegt. Aleida Assman beschreibt die zeitliche Dynamik des Terrorismus als Warten »bis der andere Schuh herunterfällt« (Assmann 2011)3, Michael C. Frank fasst dies als inhärente »future-orientedness« des Terrorismus zusammen (Frank 2017). 3 Das Idiom »until the other shoe drops« wurde zuvor prominent in Art Spiegelmanns grafischer Aufarbeitung der Ereignisse des 11. Septembers 2001 In the Shadow of No Towers (2004, 1) verwendet, um das angespannte Warten auf einen weiteren Terroranschlag zu veranschaulichen.

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An dieser Stelle ergibt sich ein epistemisches Problem in der Terrorismusforschung, das sich in der fiktionalen Reflektion der Ereignisse des 11. Septembers in ein Darstellungsproblem überträgt, denn im Kontrast zu der hohen Visualisierbarkeit der Bilder des 11. September zeichnet sich die unbestimmte Gefahr durch die versteckte Bedrohung im Inneren ja gerade dadurch aus, dass sie erst in dem finalen Akt als Gewaltausbruch sichtbar wird. Die Erkenntnis, unterwandert gewesen zu sein, kommt grundsätzlich zu spät. In dieser strukturellen Unsichtbarkeit liegt das Potential zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung in der Terrorismusbekämpfung begründet, denn in Abwesenheit ausreichender Erkenntnisse über tatsächliche terroristische Aktivitäten werden spekulative Präventivmaßnahmen zu wirklichkeitskonstituierenden performativen Akten: Wir fühlen uns bedroht, also sind wir auch bedroht (Zulaika 2010). Die Reflektion der Anschläge wurde recht schnell in fiktionalen Erzählformaten aufgenommen. Besonders schnell reagierte unter anderem die Comicindustrie, die schon im Herbst 2001 und Frühjahr 2002 mehrere Anthologien zu 9/11 herausbrachte (Dony 2007; Jenkins 2006). Verschiedene Fernsehformate wie South Park (Comedy Central 1997–heute) oder The West Wing (NBC 1990– 2006) integrierten die Anschläge ebenfalls noch 2001 und generell war eine ausgesprochene Popularität von Spionage- und Terrorismusgeschichten im USFernsehen nach 9/11 zu beobachten (Spigel 2004; Takacs 2012; Tasker 2012). Im Hollywoodkino dagegen zeichneten sich die Anschläge zunächst negativ ab, indem Filme verschoben oder korrigiert wurden. In diversen Filmen wurden die intakten Türme des World Trade Centers herausgeschnitten oder -retuschiert (McSweeney 2015) und Filme mit Terrorgeschichten oder Flugzeugentführungen wurden verschoben oder gestrichen (Damico 2010; Pollard 2011). Es wurden außerdem zunächst kaum Filme mit arabischen und/oder muslimischen Antagonist*innen im Kino gezeigt (Last 2003). Erst 2006 kamen mit United 93 (Greengrass 2006) und World Trade Center (Stone 2006) die ersten Verfilmungen der Anschläge ins Kino. Im Folgenden sollen drei Beispiele fiktionaler Texte analysiert werden, die sowohl ikonisch auf das Ereignis 9/11 verweisen als auch die Problematik eines versteckten, unkenntlichen Feindes reflektieren. Als erste Kinoadaption der Anschläge sorgte United 93 von Paul Greengrass für einiges Aufsehen. Weitestgehend den bereits bekannten Fakten über die Ereignisse des 11. September 2001 folgend, erzählt der Film die Geschichte der vierten Flugzeugentführung, die in einem Absturz der gekaperten Maschine in einem Feld in der Nähe von Shanksville in Pennsylvania endete. Das zweite Beispiel, die Science-Fiction-Serie Battlestar Galactica (Sci Fi 2003–2010), wurde bereits zum Zeitpunkt ihrer Fernsehausstrahlung als politische Allegorie auf den ›War on Terror‹ diskutiert und geht sehr viel deutlicher als United 93 auf die Möglichkeit einer getarnten Bedrohung im Inneren ein. Die Serie beginnt mit einem fatalen Anschlag der

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Zylonen, einem Volk von Maschinenwesen, der die Atmosphäre mehrerer Planeten radioaktiv verseucht und die Bewohner*innen von zwölf Kolonien zu einem Leben im Weltall verdammt. In der Hoffnung, eine neue Heimat zu finden, machen sich die Überlebenden auf den Weg, den sagenumwobenen Planeten ›Erde‹ zu finden. Es stellt sich jedoch schon bald heraus, dass sich an Bord der Raumschiffe bereits humanoide Maschinen befinden und die Gruppe der Überlebenden von feindlichen Elementen unterwandert ist. Im dritten Beispiel, der Comicgeschichte Secret Invasion (Bendis 2008) des Comicverlags Marvel, findet ebenfalls ein zerstörerischer Angriff von außerirdischen Wesen aus dem Weltall statt. Auch dieser Angriff wurde von zuvor eingeschleusten versteckten Agent*innen vorbereitet. Alle drei Beispiele ähneln sich also, indem Sie einen zerstörerischen Angriff aus der Luft auf urbane Infrastruktur zeigen und gleichzeitig die Problematik versteckter Gefahren im Inneren der eigenen Gesellschaft thematisieren.

2.

United 93

Im April und August 2006 kamen mit United 93 von Regisseur Paul Greengrass und World Trade Center von Oliver Stone die ersten abendfüllenden fiktionalen Spielfilme in die US-amerikanischen Kinos, die sich direkt auf die Ereignisse des 11. Septembers 2001 bezogen. Während sich World Trade Center vornehmlich mit den Rettungsarbeiten während und nach den Anschlägen beschäftigt, stellt Greengrass die Entführung des Fluges 93 von United Airlines sowie den Verlauf der Anschläge aus der Perspektive der Mitarbeiter der Federal Aviation Administration, der Flugüberwachung, und des Militärs detailliert nach. Obwohl 9/11 zuvor mehrfach in anderen Medien thematisiert wurde, entbrannte eine Debatte um die Pietät der Darstellung der Anschläge (Jordan 2008). Insbesondere die Entscheidung, den Film mit den vier Entführern beginnen zu lassen, wurde teils heftig kritisiert (La Salle 2006). Die Darstellung der Ereignisse in United 93 bleibt eng an den bekannten Fakten, die unter anderem im 9/11 Commission Report (National Commission on Terrorist Attacks 2004) dokumentiert sind. Der Rückgriff auf archivierte Telefonanrufe der Passagiere des Flugs 93, die Einbindung von Laienschauspieler, die am 11. September tatsächlich als Teil der Flugsicherheit oder des Militärs zugegen waren, sowie ein dokumentarisch anmutender Inszenierungsstil, erzeugen den Anschein von historischer Authentizität und inszenieren ihn geradezu als ein Dokument des ›kulturellen Gedächtnisses‹ (Jordan 2008; McSweeney 2015). Dabei ist auffällig, wie mühelos sich die Dramaturgie der Anschläge in einen 90minütigen Suspense-Thriller verwandeln lässt. Die Verfilmung der Ereignisse

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zeigt im Umkehrschluss die hohe Medientauglichkeit der Anschläge selbst.4 Der mediale Höhepunkt der Anschläge, der live im Fernsehen gezeigte Einschlag des United Airlines Flugs 175 in den Südturm des World Trade Centers, ist in United 93 zunächst aus der Perspektive der Mitarbeiter*innen der Flugsicherheit zu sehen, die ein tieffliegendes Flugzeug über der New Yorker Skyline sichten. In der nächsten Einstellung verändern sich die Qualität und Farbgebung des Bildes und der gewählte Ausschnitt zeigt nur noch das Flugzeug über New York. Das Kinopublikum sieht nun die bereits bekannten Original-Fernsehbilder der Anschläge. Nach einem kurzen Zwischenschnitt, der die Reaktionen des Militärpersonals zeigt, wird Archivmaterial der CNN-Berichterstattung eingeblendet (Greengrass 2006, 00:43:00–00:43:20). Diese vier Einstellungen verbinden die Darstellung der Ereignisse als ›live‹ in der Filmhandlung mit der Erinnerung des Publikums an die bekannten Fernsehbilder und damit an die eigene medial vermittelte Zeugenschaft der Ereignisse. Susan Faludi zeigt in ihrem Buch The Terror Dream (2008), dass die Geschichte der Passagiere des Flugs 93 im öffentlichen Mediendiskurs unmittelbar als männlich dominierte Heldengeschichte erzählt wurde. Ohne vollständige Informationen über die Vorgänge im Flugzeug zu haben, wurden die tatkräftigen und körperlich fitten Männer an Bord des Flugzeugs zu Helden des Widerstands erklärt, während die Beteiligung der Passagierinnen und Flugbegleiterinnen, für die es durchaus Indizien gibt, weitestgehend ignoriert wurde. Der Film folgt in seiner Inszenierung dieser bereits vorgeformten kulturellen Erinnerung an die Ereignisse und verlässt sich auch in der Darstellung der Täter auf bestehendes historisches Wissen. Es war beispielsweise weitestgehend bekannt, dass der Pilot und Anführer der vier Entführer, Ziad Jarrah, eine deutschsprachige Freundin hatte. Wenn also einer der vier Männer vor dem Boarding an einem Münztelefon ein deutsches »Ich liebe Dich« in den Hörer spricht, wird Jarrah dadurch eindeutig identifizierbar, ohne dass tatsächliche Kommunikation zwischen den Entführern oder eine direkte Ansprache notwendig ist. Im Verlauf des Films erschließt sich dem Publikum das Verhalten der Antagonisten einzig aus einer distanzierten Beobachterperspektive. Bis ungefähr zur 55. Minute des Films sprechen die Entführer außer gemurmelten Gebetsgesängen so gut wie kein Wort Englisch und die arabischen Dialogpassagen werden nur teilweise untertitelt. Dadurch werden mögliche Erklärungen oder Motivationen der Täter, die über religiösen Fanatismus hinausgehen, von vornherein ausgeblendet.

4 Selbst die Führung durch die 9/11-Gedenkstädte in New York unterstreicht die Bedeutung der Anschläge mit dem Hinweis, dass sie ungefähr die Länge eines abendfüllenden Spielfilms haben und nahezu auf der ganzen Welt live im Fernsehen übertragen wurden (eigene Aufzeichnungen, Tour Oktober 2017).

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Der muslimische Glaube der Täter wird im Verlauf des Films vielfach mit gewalttätigen Handlungen verknüpft. Bereits die ersten Szenen zeigen, wie die Entführer in ihrem Hotelzimmer während ihrer Vorbereitung inmitten von religiösen Ritualen und Gebetsgesängen ein Messer in ihrer Kleidung verstecken. Die Szene wird unterbrochen durch Bilder eines frühmorgendlichen Manhattan aus der Vogelperspektive, die den unterlegten arabischen Gebetsgesängen die verhältnismäßige Ruhe vor den Anschlägen gegenüberstellen und damit das ›Nichtwissen‹ der New Yorker am Morgen des 11. Septembers illustrieren. Und auch während der Entführung werden die unübersetzten Gebetstexte, die für das westliche Publikum durch die wiederholte Phrase ›Allahu Akbar‹ als solche identifizierbar werden, immer wieder von Gewaltausbrüchen im Passagierraum oder Cockpit begleitet. Dennoch werden die Entführer insgesamt nicht als übermächtige Gegner dargestellt, sie fuchteln unüberlegt mit ihren Messern, geraten in Panik und wirken – im Gegensatz zu den zwar ebenfalls panischen, aber dennoch organisierten Flugzeugpassagieren – geradezu hysterisch. In einem Punkt werden die Täter jedoch sehr wohl als überlegen und furchteinflößend dargestellt: in ihrer Fähigkeit, sich zu verbergen. Hier sind besonders die Szenen am Flughafen in Newark aufschlussreich. Die Kamera zeigt Mitarbeiter*innen der Flughafenpolizei, die unwissentlich an den Attentätern vorbeigehen, sie passieren unentdeckt Sicherheitschecks und fügen sich in die Gruppe der Wartenden ein. Dabei verliert die Kamera die Attentäter immer wieder in der Menge. In einer Totalen sind sie zu sehen, in der nächsten Einstellung wieder nicht. Sie verschwinden in der Unschärfe oder wenn sich die Körper anderer Personen zwischen sie und das Kameraauge schieben. Ihre Fähigkeit, in größeren Gruppen zu verschwinden, wird hier mit filmischen Mitteln in Szene gesetzt. Inszenatorisch zeigt sich die Anpassungsfähigkeit der Männer noch einmal nach ungefähr 55 Minuten, wenn Jarrah zum ersten Mal Englisch spricht. Nachdem die Entführer zuvor fast ausschließlich in nur teilweise untertiteltem Arabisch (oder Deutsch) gesprochen haben, antwortet Jarrah auf die Frage der Flugbegleiterin, ob er etwas trinken möchte, in klarem und verständlichem Englisch. Der Umschwung in Sprache, Haltung und Tonfall geschieht so unmittelbar, dass die Szene die Leichtigkeit illustriert, mit der sich der Libanese in einer westlichen Gesellschaft anpassen kann. Auch in der hier beschriebenen Darstellung der Täter folgt der Film weitestgehend einem zuvor etablierten ›War on Terror Narrative‹. Richard Jackson findet in seiner Analyse der politischen Kommunikation nach 9/11 sowohl das Bild des religiösen Fanatikers als auch die rhetorische Gegenüberstellung westlicher Zivilisation gegen orientalistische Barbarei (2005). Die überlegene Fähigkeit, unentdeckt zu bleiben, passt dagegen zu der oben beschriebenen omnipräsenten Warnung gegen eine unbestimmte Bedrohung auf US-amerikanischem Boden (Jackson 2005). Ähnlich wie der terroristische Anschlag selbst stets

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eine Warnung für die Zukunft enthält, erhalten die Szenen im Flughafen eine doppelte zeitliche Perspektive: Dadurch, dass wir als Publikum bereits wissen, was geschehen wird, während die Personen im Film sich noch in einem unschuldigen Prä-9/11 Zustand befinden, bekommen diese Szenen den doppelten Status einer Nacherzählung vergangener Ereignisse und einer gleichzeitigen Warnung, in Zukunft achtsamer nach potenziellen Gefahren Ausschau zu halten.

3.

Battlestar Galactica

Die Science-Fiction-Serie Battlestar Galactica kam 2003 ins US-amerikanische Fernsehen und thematisiert die Anschläge des 11. Septembers sowie ihre politischen Folgen weitaus subtiler in der Form einer allegorischen Weltraumsaga. Die Pilotfolge, die 2003 zunächst als Miniserie ausgestrahlt wurde, zeigt mehrere koordinierte Luftangriffe, woraufhin die Bewohner*innen von gleich zwölf Kolonien flüchten und sich auf die Suche nach einem neuen Heimatplaneten machen. Nach dem initialen Angriff der Zylonen spielt ein Großteil der Serie auf verschiedenen Raumschiffen, die zeitweise den einzigen Lebensraum der Überlebenden darstellen. An Bord der Raumschiffe findet eine Neuordnung der politischen Strukturen statt, die durch eine starke Militärpräsenz sowie alsbald durch Angst vor versteckten Zylonen unter den Überlebenden geprägt ist. Bezüge zu 9/11, beziehungsweise zum politischen Klima des War on Terror finden sich in der Plötzlichkeit des Luftangriffs, in der Militarisierung des zivilen Lebens sowie in den vielseitigen Erzählsträngen zu terroristischen Übergriffen und Radikalisierungsprozessen innerhalb der Zivilbevölkerung. Ein besonders deutlicher, visueller Bezug findet sich den Szenen, in denen die Überlebenden an Bord der Raumschiffe Fotografien von vermissten oder verstorbenen Personen an einer Wand anbringen. Die Bilder dieser Wand ähneln den Bildern der Gedenkstädte, die direkt nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in der Christ Church in unmittelbarer Nähe zum früheren World Trade Center errichtet wurde (vgl. beispielsweise TIME Magazine Vol. 158, No. 13 2001). Zu erkennen ist demnach eine strukturelle und visuelle Analogie der ausgeübten Kulturpraktik des Gedenkens zwischen den fiktiven Figuren der Serie und der Trauerpraktik der Angehörigen der Vermissten und Verstorbenen der Anschläge von 9/11. In diesem Fall, anders als beim Film United 93, vermischt sich also nicht das Erleben der Figuren mit dem Erinnern des Publikums an vergangene (medial) erlebte Ereignisse, sondern das Erinnern der fiktiven Figuren reflektiert die Kulturpraktik des Erinnerns im Allgemeinen und die Erinnerung an 9/11 im Speziellen. Bereits in der Pilotfolge stellt sich heraus, dass die Zylonen zwölf humanoide Modelle entwickelt haben, die in der Lage sind, sich unentdeckt an Bord der Raumschiffe aufzuhalten. Im Verlauf der Folge lernt das Publikum zunächst vier

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dieser Modelle kennen und kann sie zukünftig als versteckte Agent*innen der Zylonen identifizieren. Die Gewissheit, dass es sich insgesamt um zwölf Modelle handelt, lässt jedoch sowohl die Protagonist*innen der Serie als auch das Publikum jeder neuen Figur mit einem gewissen Mistrauen entgegentreten. Die Ungewissheit über die Identität der Zylonen wird dadurch vergrößert, dass sich unter den ersten vier bekannten Modellen eine Protagonistin befindet, die sich ihres Daseins als Maschine selbst nicht bewusst ist. Hier greift die Serie die Angstfantasie fremdbestimmter Schläferfiguren aus der Zeit des Kalten Kriegs auf (vgl. dazu Andriopoulos 2011; Melley 2008). Der Prototyp dieser Figur ist sicherlich der bekannteste ferngesteuerte Schläferagent: der Manchurian Candidate Sergeant Raymond Shaw aus dem gleichnamigen Roman von Richard Condon (1959) und der Verfilmung von John Frankenheimer (1962). Die Idee der Fernsteuerung und Einflussnahme geht auf die US-amerikanische Angstfantasie zurück, dass kommunistische Regime in der Lage seien, Gedankenkontrolle auszuüben. Diese Phantasmen wurden von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Verhaltenspsychologie, aber auch von Medienängsten über die suggestive Kraft medial vermittelter Information untermauert (Andriopoulos 2011). Die Vorstellung von fremdbestimmten, indoktrinierten Agent*innen ist jedoch nicht auf den Kalten Krieg begrenzt und lässt sich bis hin zu der aktuellen Rhetorik im Umgang mit islamistischen Terroristen verfolgen (Melley 2011). Die ferngesteuerte Protagonistin mit ihren Selbstzweifeln und ihrer Unsicherheit ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie die Serie eine eindeutige Aufteilung zwischen guten Überlebenden und bösen Zylonen untergräbt. Immer wieder finden sich Handlungsstränge, in denen die Beweggründe hinter terroristischen Handlungen hinterfragt werden. So sehen sich die Held*innen der Serie beispielsweise in den zehn Episoden der Webserie The Resistance (die zwischen der zweiten und dritten Staffel online verfügbar war) selbst einer Besatzungsmacht ausgesetzt, der sie mit organisiertem Widerstand begegnen. Die Zylonen als Besatzungsmacht sind hier unschwer als Allegorie auf die amerikanischen Truppen im Irak zu erkennen, während die Held*innen die Position der besetzen Bevölkerung einnehmen (Rasmussen 2013; Takacs 2012). Aber auch an Bord der Schiffe reagieren einige Zivilist*innen auf die immer erdrückendere Militärgewalt mit bewaffnetem Widerstand (vgl. beispielsweise in Folge 2.13 »Epiphanies«). Dazu kommt, dass eine der politischen Führungspersonen der Serie das Diktum ›des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer‹ verkörpert: Der spätere Vizepräsident Tom Zarek hat es lediglich an Bord eines Gefängnistransporters in die Flotte der Überlebenden geschafft. Verurteilt wurde er, weil er für die Rechte der politisch benachteiligten Arbeiterklasse der Kolonien eingetreten ist, und von dieser Gruppe wird er auch immer noch als Freiheitskämpfer gefeiert. Zarek erhält politischen Aufwind, als seine Anhänger

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durch den gesteigerten Bedarf an handwerklichen Fähigkeiten und Körperkraft in der gesellschaftlichen Ordnung der Flotte aufsteigen. Die größte Ambivalenz der Serie im Umgang mit dem Thema Terrorismus zeigt sich jedoch im Verhältnis zwischen den Überlebenden und den Zylonen. Werden die Maschinenwesen zunächst als fremde, unmenschliche Schwarmintelligenz dargestellt ohne individualisierte Identitäten, ohne Kultur oder Geschichte, so relativiert sich dieser Eindruck im Verlaufe der Serienhandlung. Mit der Zeit beginnen die verschiedenen Modelle unterschiedliche Interessen zu verfolgen und einige gehen sogar eine Allianz mit den Überlebenden ein. Dies wird eindrücklich visualisiert, wenn die Zylonen – nachdem sie die Fähigkeit zur Regeneration verloren haben und sterblich geworden sind – ebenfalls Fotografien ihrer Vermissten und Verstorbenen an der zuvor erwähnten Gedenkwand anbringen (Folge 4.16 »Deadlock«). Im Gegensatz zu United 93 bietet das Science-Fiction-Setting von Battlestar Galactica Spielraum für eine Allianz zwischen den verfeindeten Parteien. Diese mündet schließlich in der gemeinsamen Besiedelung des Planeten Erde, sodass schlussendlich sowohl die Überlebenden als auch die Zylonen als Teil der Erdbevölkerung dargestellt werden.

4.

Secret Invasion

Bereits 2006 wurde die über mehrere Comichefte und -serien erzählte Geschichte Civil War (Millar 2006–2007) aus dem Verlagshaus Marvel intensiv als Kommentar auf die Anschläge vom 11. September 2001 und des darauffolgenden War on Terror diskutiert. In diesen Comics wird mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ein zentrales Thema des US-amerikanischen Diskurses nach 9/11 aufgegriffen, das insbesondere im Zusammenhang mit den neu eingeführten Sicherheitsmaßnahmen des USA PATIOT Acts kontrovers diskutiert wurde. In der Frage, wie viele Einschränkungen der Freiheit vertretbar oder gar im Namen der Sicherheit notwendig seien, beschäftigte sich die amerikanische Gesellschaft vor allem mit sich selbst und auch in diesen Comics dreht sich die Handlung vornehmlich um die Auseinandersetzungen der Superheld*innen untereinander. Im Gegensatz dazu geht es in Secret Invasion – einer Comicgeschichte, die in Struktur und Länge Civil War sehr ähnlich ist und 2008 als weiteres größeres Erzählevent von Marvel herausgebracht wurde – zwar auch um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, jedoch in Bezug auf fremde und vielleicht sogar versteckte Elemente in der Gesellschaft. Im Zentrum der Geschichte stehen zunächst, ähnlich wie bei Battlestar Galactica, mehrere koordinierte Angriffe aus dem Weltall. Diesmal sind es jedoch keine Maschinenwesen, sondern die außerirdischen Skrull, welche die Held*innen der Erde angreifen. Darüber hinaus steht die Invasion selbst nicht am Beginn der Geschichte, sondern wird durch die

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Entdeckung, dass eine Person im Kreis der Held*innen auf der Erde vor einiger Zeit durch einen Skrull ausgetauscht wurde, vorbereitet. Die Skrull besitzen die Fähigkeit, ihre äußere Gestalt zu verändern und verwandeln sich erst nach ihrem Tod zurück in ihre ursprüngliche Form. Dies macht sie zu perfekten Schläferagent*innen. Dazu kommt, dass, ähnlich wie die Zylonen, auch die Skrull Fremdkontrolle und Gehirnwäsche anwenden, sodass die einmal platzierten Schläferagent*innen teilweise selbst nicht wissen, ob sie zu den Skrull gehören oder nicht. Diese Erkenntnis löst bei den Held*innen der Erde (und bei den Leser*innen) große Unsicherheit darüber aus, wer nun ein Skrull ist und wer nicht. Das aus dieser Ausgangssituation resultierende Misstrauen über Identitäten und Allianzen ist eines der zentralen Themen der Comicserie. Deutliche Verweise auf 9/11 finden sich zunächst in den Bildern der Invasion: eine Straßenschlucht mit Blick auf einen Wolkenkratzer, an dessen Spitze eine Explosion stattfindet, oder angsterfüllte Menschen, die von einem anderen Wolkenkratzer springen (Brandon 2008; Reed 2008b, 4). Ein weiterer Bezug findet sich in der Art und Weise, in der die Invasion als der Beginn einer neuen Zeitrechnung, als ein historischer Umbruch inszeniert wird – beispielsweise wenn einer der Skrull formuliert: »The history you speak of – it begins, for your world, today« (Carey 2008, 12). Im Gegensatz dazu wird die letztlich doch abgewehrte Invasion im Nachhinein nicht als einzigartig, sondern als Teil einer Reihe von historischen Ereignissen eingeordnet, in der wir auch 9/11 wiederfinden können: No matter what Manhattan gets thrown at it… / Fistfights between super powers. / Terrorist attacks. / Alien Invasions. // She’s always been good at recovering. (Reed 2008a, 15)

Trotz dieser klaren Verweise auf 9/11 zeichnet sich in Bezug auf die FreundFeind-Unterscheidung jedoch erneut kein klar binäres Szenario aus Gut und Böse ab. Im Gegenteil, die Skrull können das bereits vorhandene Klima des Misstrauens auf der Erde gezielt als Schwachstelle nutzen. Hier argumentiert Secret Invasion also anders als United 93, wo die Personen im Flughafen sich durch ihre Ahnungslosigkeit vom Publikum unterscheiden, und warnt vor unnötiger Paranoia. Secret Invasion enthält zahlreiche Figuren, welche nicht eindeutig der Seite der Skrull oder der Erde zuzuordnen sind. Auf der Erde leben schon seit einiger Zeit friedliche Skrull, was im Verlaufe der Comicgeschichte weitere Skrull dazu bewegt, die Bevölkerung der Erde zu verteidigen. Es gibt jedoch auch einige Menschen, die sich auf die Seite der Skrull schlagen. Die Ambivalenz in der jeweiligen Gruppenzuordnung wird durch die Darstellung verschiedener ›hybrider Figuren‹ unterstrichen. Besonders deutlich wird dies in mehreren Panels, in denen Text, Bild und Farbigkeit verwendet werden, um innere Widersprüche der Figuren

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darzustellen. So wird beispielsweise der innere Konflikt eines Skrull, der aufgrund von Gedankenkontrolle glaubt, tatsächlich auf die Erde zu gehören, in mehreren Textboxen dargestellt, die in ihrer Farbigkeit zwischen dem Grün der Skrull und dem Rot-Blau des von ihm verkörperten Helden wechseln. Letztendlich wird die Ambivalenz aufgelöst, indem der Skrull entscheidet, auf der Seite der Erde zu kämpfen. Das Thema der Ambivalenz wird in Secret Invasion besonders an der Figur des Skrull S’Reg deutlich. S’Reg wurde als Schläfer auf die Erde geschickt, entschließt sich jedoch beeindruckt durch die Held*innen, die ihm dort begegnen, fortan gegen die Skrull zu kämpfen. Da niemand von seinem Sinneswandel weiß, muss er jedoch seine Identität als Skrull und Schläferagent verbergen und seine menschliche Tarnidentität aufrechterhalten. Für die Leser*innen wird diese doppelte Identität durch grün eingefärbte Gedankenblasen in Verbindung mit seinem menschlichen Erscheinungsbild markiert. In den letzten Momenten der Schlacht gegen die Skrull ist es S’Reg, der den letzten Angreifer zur Strecke bringt und damit seine neue Wahlheimat verteidigt. Doch nur wenige Augenblicke später wird er selbst als Skrull erkannt und umgehend erschossen. Auch wenn der Haupterzählstrang der Serie die Unterwanderung und Invasion von religiös motivierten Angreifer*innen zeigt und damit vor den Gefahren durch versteckte Feinde im Inneren warnt,5 wird die Comicserie durch den Mord an S’Reg ebenso zum Kommentar auf die durch überhöhte Sicherheitsmaßnahmen ausgeübte Gewalt gegen das Fremde und Unbekannte in der eignen Gesellschaft.

5.

Fazit

Alle drei Beispiele nehmen auf 9/11 als Teil einer nationalen Erinnerungskultur Bezug: United 93 durch die Integration der originalen Fernsehaufnahmen der Ereignisse, Battlestar Galactica durch den Verweis auf die Praktik des Erinnerns an die Opfer der Anschläge in Form einer Gedenkstätte und Secret Invasion durch die Inszenierung von 9/11 als Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Beispiele unterscheiden sich jedoch deutlich im Umgang mit einer versteckten Bedrohung durch Fremde in der eigenen Gesellschaft. Während United 93 die Attentäter als klar fremde Bedrohung inszeniert, dessen Gefährlichkeit durch die Unauffälligkeit der Täter verstärkt wird, betonen die Science-Fiction-Geschichten Battlestar Galactica und Secret Invasion die Gemeinsamkeiten der verfeindeten Gruppen und hinterfragen absolute Abgrenzungsmechanismen. Secret 5 Der Medienwissenschaftler Dyfrig Jones sieht darin ein eindeutig orientalistisch konnotiertes Feindbild, das Secret Invasion als reaktionären Text auszeichne (Jones 2014).

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Invasion identifiziert sogar eine übersteigerte Paranoia gegenüber einer unsichtbaren Gefahr als eigentliche Schwachstelle einer Gesellschaft. Für die Unterschiede der drei Beispiele spielen auch die Medialität von Kinofilm, Fernsehserie und Comic eine Rolle. Medialität meint hier nicht nur die unterschiedliche Modalität von audio-visuellen und text-bildlichen Darstellungen, sondern auch Aspekte der Produktion, Distribution und Rezeption der jeweiligen Medien, wie beispielsweise Darstellungskonventionen, kulturelles Prestige oder Distributions-Rhythmen. Medien in dem Verständnis von MarieLaure Ryan (2003) unterscheiden sich nicht nur durch die unterschiedliche Art wie Botschaften durch sie vermittelt, präsentiert und erlebt werden, sie können ihr Publikum auch unterschiedlich adressieren, unterschiedliche Sinne ansprechen, sich in ihrer räumlich-zeitlichen Anordnung unterscheiden, technisch und materiell verschieden sein oder einen unterschiedlichen kulturellen Stellenwert haben. Für die Darstellung der versteckten Bedrohung in den oben genannten Beispielen sind nun verschiedene Aspekte der Medialität ausschlaggebend. Anders als der Film United 93, der die Fähigkeit der Entführer, in der Menge zu verschwinden, in wenigen Bildern illustriert, setzt die Serie Battlestar Galactica auf eine komplexe narrative Struktur aus Wissen, Nichtwissen und Falschinformation, um das Thema der versteckten Feinde und dem damit einhergehenden Kontrollverlust zu behandeln. Entscheidend ist hier die serielle Struktur der Erzählung und die damit einhergehende fortgesetzte Auseinandersetzung des Publikums mit den Figuren der Serie, die schließlich sogar in der Auflösung der Trennung zwischen Freund und Feind mündet. Das dritte Beispiel Secret Invasion teilt die serielle Erzählweise von Battlestar Galactica und dennoch funktioniert die Darstellung der versteckten Bedrohung deutlich anders. Einer der entscheidenden Unterschiede zwischen dem Superhelden-Comic und der Fernsehserie liegt in der bereits vorhandenen Vertrautheit mit den auftretenden Figuren. Anders als bei Battlestar Galactica sind sich die Leser*innen zunächst sicher, dass es sich bei Captain America, Spider-Man & Co. um Held*innen handelt. Die Allianzen und Motive der Figuren stehen hier nicht von vornherein in Frage. Daher bedient sich diese Science-Fiction-Geschichte der fantastischen Mittel des Formwandelns und der Gedankenkontrolle, um auch bereits vertraute Figuren unter Verdacht zu stellen. Gleichzeitig plädiert die Serie für die Legitimität einer geheimen Identität – einer Form von Privatheit – die vor invasiven Überwachungsmethoden geschützt werden muss. Immer wieder demonstrieren die als hybrid dargestellten Figuren, dass es letztlich keine Rolle spielt, in welche Gruppierung sie hineingeboren wurden, solange sie sich aktiv entscheiden, die eine oder die andere Seite zu unterstützen.

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Carolin Führer

Nationalisierung von Umbrüchen in All-Age-Literatur und -Medien. Zur Mimesis der Bilder im Erinnern an 1968, 1989 und Nine Eleven

1.

Einleitung

In der Kinder- und Jugendliteraturforschung, die sich schon lange auch der Bildkultur und deren Rezeption zuwendet, ist mit Blick auf die Medialität von Vergangenheit bisher relativ wenig gesagt worden. Im Bereich der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur liegt der Akzent vor allem auf der Narrativität der textmedialen Gedächtniserzeugung (u. a. Glasenapp und Wilkending 2005), weniger scheinen jedoch die Konvergenzen zwischen Bild und Erinnerung – oder gar deren bildmediale »Präfiguration« (Erll 2011, 186) – in den Blick genommen zu werden.1 Dies mag auch an der wirkmächtigen Konzentration auf den Nationalsozialismus und speziell den Holocaust in zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendmedien liegen, der im Kontext der Frage nach Zumutbarkeiten lange durch einen Mangel an Bildbezügen charakterisiert war. Inzwischen scheint dieser durch die weite Verbreitung medialer Darstellungen und Dokumentationen »[…] im ›kulturellen Wissen‹ von Kindern grundlegend […]« präsent zu sein (Gansel 2013, 32), weshalb eine allein auf Information und Aufklärung abzielende Darstellungsform in diesem Segment immer seltener anzutreffen ist. Jugendliterarische Texte wie Lena Goreliks »Mehr schwarz als Lila« greifen daher Bilder von Gedächtnisorten als Reflexionsmedien unserer Erinnerungspraktiken auf und stellen die grundsätzliche Medialität des Erinnerns explizit aus, auch vor dem Hintergrund zunehmend mangelnder primärer Zeugenschaft. Für die Umbrüche der jüngeren Zeitgeschichte sind die Bildrhetoriken und -diskurse um die Daten 1968, 1989 und 11. September 2001 entscheidender Teil der politischen und medialen Kommunikation geworden und damit auch der historischen Wirklichkeit. In der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wird Bildern die Funktion von »Traditions- und Mythomotoren« zugeschrieben (zu1 Mit Präfiguration bezeichnet Astrid Erll den Teil der Mimesis des kollektiven Gedächtnisses, der durch die Prämediation den Bezug zur historischen Wirklichkeit herstellt (Erll 2011, 186).

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Carolin Führer

letzt Assmann 2016), mit Blick auf die genannten Umbrüche scheinen historische Bilder auch gesellschaftliche Funktionen für eine nationale Kommunikation zu übernehmen. Der Beitrag wird nun darstellen wie sich deren Ästhetisierung und Remediatisierung in fiktionalen Erinnerungsmedien mit breiter Rezipient*innenadressierung darstellt und durchleuchten, inwiefern diese historischen Sinnstiftungs-, Narrativisierungs- und Interpretationsangebote auch visual turns im historischen Bewusstsein adressieren. In Folge werden daher neben einigen theoretischen Reflexionen (Abschnitt 2) exemplarisch an ausgewählten zeithistorischen All-Age-Medien Konfigurationen von historischen Bildern und Umbruchsfiktionen untersucht (Abschnitt 3). Diese Dynamiken von Erinnerung und Bild perspektivieren insbesondere den jeweiligen nationalen Rahmen zeithistorischer Umbruchserzählungen.

2.

Bildtheoretische Kontextualisierungen zum Zusammenhang von Umbruch, Bild und Erinnerung

Der Fokus des Bandes auf die Doppelcodierung von bild- und zeithistorischem Umbruch erscheint meines Erachtens aus mindestens zwei Gründen vielversprechend für die Erhellung nationalen Erinnerns. Erstens: Bilder können nicht isoliert behandelt werden, sondern sind stets Ergebnis persönlicher und gesellschaftlicher Symbolisierung. Die bildmediale Dokumentation (und Kommentierung) der jüngsten Vergangenheit hat (implizit) weltweit Imaginationen von Geschichte wesentlich geformt und beeinflusst. Der Historiker Gerhard Paul beschreibt diesen Prozess als »visual production« (Paul 2006, 12) und stellt die Dynamik der Rezeption von (historischen) Bildern heraus. Zentrales Prinzip aller visuellen Kommunikation ist hierbei die assoziative Eigenlogik, die sich von der rational-argumentativen Vorgehensweise des Textes unterscheidet, obwohl Text und Bild durchaus in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen (Müller 2013, 22). Der Soziologe Harald Welzer hat in seinen empirischen Studien gezeigt, dass Geschichte ohne Bilder kaum zu denken sei und dies vor allem damit begründet, dass das Gedächtnis stark ästhetisch organisiert sei. Bilder, so Welzer, fungierten als »Medien absichtsloser Vergangenheitsvermittlung« mit starker Prägekraft für das Geschichtsbewusstsein. »Das Gedächtnis braucht die Bilder, an die sich die Geschichte als eine erinnerte und erzählbare knüpft.« Zwar gebe es »Bilder ohne Geschichte, aber keine Geschichte ohne Bilder« (Welzer 1995, 8). Diesen Aspekt will ich zunächst als Visualität des Umbruchs beschreiben, indem gesellschaftliche Umbrüche durch Bilder erst sichtbar werden und erinnert werden können. Sabine Moller geht hier sogar soweit Spielfilme als Blaupausen unseres Geschichtsbewusstseins

Nationalisierung von Umbrüchen in All-Age-Literatur und -Medien

233

zu identifizieren (Moller 2018). Dies erklärt auch, warum Literatur nicht einfach als Steinbruch statischer Geschichtsbilder verstanden werden darf. Bilder erzeugen das »[…] Bedürfnis nach immer mehr Bildern, der gesellschaftliche Wandel wird so ersetzt durch den Wandel der Bilder« (Sachs-Hombach 2013, 308). Dies führt zum zweiten Aspekt: Umbruchsbilder sind nicht nur Medien der historischen Erinnerung, sondern sie erschaffen auch selbst historische Realitäten. Da besonders im 20. und 21. Jahrhunderts Menschen von Myriaden von Bildern umgeben sind, die alle Segmente des Alltags durchdringen, ist relevant, wie aus der alltäglichen Bilderflut solche Bilder herausragen, die in der medialen Kommunikation und gesellschaftlichen Wahrnehmung einen politischen Status erlangen. Die politische Macht dieser Bilder geht in den hier verhandelten historischen Beispielen zumeist mit einer kollektiven Refiguration (Erll 2011, 186) einher, die Umbrüche erst weiter vorantreibt: Die Bilder entwickeln im historischen Umbruch generative Kräfte (vgl. Paul 2014, 22). Die brennenden Twin Towers in New York nach 9/11, die Springer-Hochhäuser, das Kerzenmeer der Montagsdemonstrationen in Leipzig oder die tanzenden Menschen auf Berliner Mauer, u. a. sind Bilder, die durch ihre bildhafte Darstellung von konkreten gesellschaftlich-politischen Situationen selbst den Wandlungs- und Umbruchsprozess transformieren und historische Wirkmacht entfalten: Dies kann in Form einer Instrumentalisierung im Kampf gegen die Terroristen sein, als Versinnbildlichung des Kampfes gegen ein Meinungsmonopol und zentraler Faktor der Mobilisierung einer Opposition (hier der APO), als Zeichen der Neuschreibung der Geschichte (das mögliche Ende der gewaltvollen Niederschlagung von Widerständen in den Ostblockstaaten) etc. Roland Barthes erklärt solche Vorgänge wie folgt: Das denotierte Bild naturalisiert die symbolische Botschaft, es lässt den (vor allem in der Werbung) sehr differenzierten semantischen Trick der Konnotation unschuldig erscheinen. […] Das Fehlen eines Codes desintellektualisiert die Botschaft, weil dadurch die Zeichen der Kultur als natürlich erscheinen. […] Hier liegt vermutlich ein wichtiges historisches Paradox: Je mehr die Technik die Verbreitung der Information (und insbesondere der Bilder) entwickelt, um so mehr Mittel steuert sie bei, den konstruierten Sinn unter der Maske eines gegebenen Sinns zu verschleiern. (Barthes 1990, 40)

Es sind also Bilder des Umbruchs, die die Prozesshaftigkeit und Komplexität solcher Wandlungsprozesse zum einen symbolisch verdichten und gleichzeitig durch ihre unmittelbare Rezipierbarkeit faktualisieren und vorantreiben, obwohl sie zum anderen die historische Situation einer bestimmten (ideologischen) Umbruchssemantik unterziehen. Zuweilen nehmen sie dann im Geschichtsbewusstsein den Status von »Ikonen« an (Paul 2011) und werden global bei der

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Thematisierung historischer Umbrüche beständig (digital) zitiert, reinszeniert oder gar in anderen Umbruchskontexten reinterpretiert. Inwieweit sich diese ambivalente Wirkung der Bilder in das kulturelle Gedächtnis der All-Age-Literatur und -Medien einschreibt und welche unterschiedlichen Ausformungen und Repräsentationsresonanzen sich für die jeweiligen Stufen2 der Mimesis des kollektiven Gedächtnisses auf nationaler Ebene ausmachen lassen, wird in Folge konkretisiert.

3.

Zur Mimesis der Bilder in zeithistorischen Umbruchserzählungen3

Literarische Gedächtnisnarrative vermitteln zwischen präexistenten Erinnerungskulturen einerseits und ihrer möglichen Neuperspektivierung und Veränderung andererseits. Wir haben es bei diesem Vermittlungsprozess mit einer Austauschbewegung (»exchange« in der Terminologie des New Historicism, Erll 2011, 185) zu tun; mit Blick auf die Umbrüche soll die Frage gestellt werden, auf welchen Ebenen faktuale historische Bilder, erinnerungskulturelle Kontexte und mediale Gedächtnisnarrative interdependent wirken und Repräsentationsresonanzen ausweisen.

3.1

Subjektivierte Bild-Remediation

Während in den meisten zeithistorischen Umbrüchen Kunst und Literatur auf die (im weitesten Sinne) politischen Veränderungen reagieren, ging mit Blick auf die unter dem Begriff »68er-Bewegung« und Folgen (z. B. der RAF-Terror) subsumierten Umwälzungen der sowohl westlichen als auch östlichen Gesellschaften die Veränderung vom kulturellen Feld aus. Bei dem Beispiel »1968« handelt es sich zudem um das vielleicht erste wirkliche transmediale Umbruchsphänomen, denn die Dynamik der 68er-Bewegung speiste sich wesentlich aus dem Zusammenspiel der verschiedensten Formate des politischen und künstlerischen Ausdrucks, die von der Popmusik über Teach-Ins und Neuentwürfen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bis hin zu den Auseinandersetzungen in den »klassischen« Medien, wie etwa der Kampagne der außer2 Erll unterscheidet Mimesis I, II und III: erinnerungskulturelle Präfiguration, Konfiguration fiktionaler Gedächtnisnarrative und kollektive Refiguration (Erll 2011, 186). 3 Die folgenden Beispiele sind von mir bereits im Beitrag »Zur Macht der Bilder in zeithistorischen Umbruchserzählungen«. Kulturelles Gedächtnis Reloaded? (Re) Inszenierungen von Erinnerung in Kinder- und Jugendmedien. Hg. Gabriele Glasenapp, Ingrid Tomkowiak und Andre Kagelmann. (i.E.) referiert worden.

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parlamentarischen Opposition (APO) gegen Axel Springer und die Gegen»Kampagne« des Springer-Konzerns, reichen (Schildt und Siegfried 2009). Zur Kampagne gegen Springer findet sich eine über mehrere Seiten andauernde fiktionale (Re-) Konfiguration (34 Panels) in der grafischen Adoleszenzerzählung Drei Wege von Julia Zejn. Die Graphic Novel von 2018 präsentiert eine generationenübergreifende Geschichte von drei jungen Frauen, die im Abstand von je 50 Jahren sowohl entscheidende Etappen der deutschen Geschichte und Gegenwart (1918, 1968, 2018) als auch zentrale Wandlungen der Lebensverhältnisse im Alltag in den jeweiligen Handlungszeiten beschreibt. Die grafische Fiktion zu den Protesten gegen den Springerverlag ist eingebettet in die Storyworld um Marlies, einer Arbeitertochter, die gern anstelle der von den Eltern für sie vorgesehenen Heirat eine Buchhändlerlehre aufnehmen möchte. Sie verliebt sich in einen linken Studenten, der sich im SDS engagiert, und gelangt so mitten in die politischen Konflikte, die im untenstehenden Panel (Abb.1) visualisiert sind. Die Zeichnerin wählt für ihre Darstellungen einen direkten Zugang zum subjektiven Figurenerleben von Marlies, auch wenn in diesem konkreten Panel keine subjektive Darstellung im engeren Sinne einer internen Fokalisierung vorliegt. Dennoch eröffnet dieses Panel eine Sequenz, in der Segmente intersubjektiver Darstellung, in diesem Fall die Protestierenden vor dem Springerhochhaus, dazu dienen, konkrete Vorstellung vom Innenleben Marlies’ zu bekommen (zu spezifischen Strategien subjektiver Darstellung vgl. Thon 2016, 237– 238).

Abb. 1 a und b: Subjektivierung der Springer-Ikonisierung (Zejn, 3 Wege 2018, 120–121)

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Carolin Führer

Marlies fungiert als homodiegetische Erzählerin der Sequenz, da sie Teil der Protestierenden vor dem Springerhochhaus ist. Das Arrangement der Panels stellt die Monoperspektivität des erinnerungskulturellen Kontexts zu keinem Zeitpunkt in Frage, obwohl es sich um eine universalistische Sicht auf die 68erGeschichte (Studenten als Opfer, Springer und Polizei als »Täter«) handelt. Gerahmt wird die Graphic Novel lediglich von folgendem Eingangskommentar: »[…] Die historischen Ereignisse sind recherchiert. Die auftretenden Personen, ihre biografischen Zusammenhänge und viele der Schauplätze sind jedoch frei erfunden« (Zejn 2018, 3). Die bildmediale Präfiguration ist also Programm, das konventionelle kinder- und jugendliterarische Verfahren der Verdichtung von Historie (bzw. hier von historischen Fotografien) zur Story wird metareflexiv beglaubigt. Es hängt also von der Bereitschaft der Rezipierenden ab, ob sie die Erzählung um die Figur Marlies aufgrund der beschriebenen narrativen Verfahren und der Bildinhalte eher als Faktualitäts- oder Fiktionspakt konzeptualisieren (Martínez 2016). Diese Erzählstrategie passt möglicherweise auch zu medialen Narrativen über die 68er-Bewegung, die einerseits stark als weltweite Protestkultur wahrgenommen wurde und andererseits in ihrer nationalen Ausprägung Spezifika auswies, die bis heute durchaus einer ambivalenten Deutungen unterliegen.4

3.2

Überzeichnung und Durchbrechung nationaler zeithistorischer Bildappelle

In grafischen Erzählungen sind jedoch ebenso bildmediale Refigurationen vertreten, die die Differenz zu den (möglichweise als verfälschend angesehenen) Massenmedien bzw. deren mediale Präfiguration explizit thematisieren. Dieses Phänomen betrifft in besonderer Weise den durch den 11. September 2001 markierten Umbruch. Hier liegt ein besonderer Fall der bildmedialen Erzeugung fiktionaler Gedächtnisnarrative vor, den der Philosoph und Medientheoretiker Baudrillard (2002) wie folgt beschrieben hat: Von all diesen Ereignissen behalten wir vor allem die Sicht der Bilder zurück. […] Neben den anderen Waffen, die die Terroristen dem System entwendet hatten, haben sie auch die Echtzeit der Bilder, ihre augenblickliche weltweite Verbreiterung ausgebeutet. […] Die Rolle des Bildes ist höchst ambivalent. Denn es verstärkt das Ereignis, nimmt es aber gleichzeitig als Geisel. […] Es sorgt für eine unendliche Vervielfältigung, bewirkt

4 Der durch den Siegeszug des Fernsehens ausgelöste Strukturwandel in der öffentlichen Kommunikation und der Bedeutungsgewinn visueller Repräsentationen war eine entscheidende Rahmenbedingung für die synchrone Erfahrung der globalen, medial wirksamen Protestinszenierungen um 1968 (vgl. Fahlenbrach 2002).

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gleichzeitig aber auch Zerstreuung und Neutralisierung […]. Das Bild konsumiert das Ereignis, das heißt es absorbiert es und bietet es dann zum Konsum dar. Gewiss, es verschafft ihm auf diese Weise einen noch nie dagewesenen Einfluss, doch nur mehr als Bild-Ereignis. […] Am Anfang war das Bild, und erst dann kam der Schauder des Realen. Gleichsam eine zusätzliche Fiktion, eine Fiktion, welche die Fiktion übertrifft. Diese terroristische Gewalt bedeutet also weder eine Rückkehr der Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte. Diese terroristische Gewalt ist nicht ›real‹. In gewissem Sinne ist sie schlimmer als das: Sie ist symbolisch. […] Nur symbolische Gewalt vermag Singularität zu erzeugen. (Baudrillard 2002, 29–30)

Die Textkonfiguration ist hier also vor die besondere Herausforderung gestellt, dass der loop der Bilder in der medialen Berichterstattung zu 9/11 die Fakten so selektiert, dass die Aufgabe der exemplarischen Konstruktion und temporalkausalen Neuanordnung, die der narrativen Darstellungsform zufällt, bereits in der Visualisierung der faktualen Geschichte vorliegt. Ein Übergang vom Paradigmatischen zum Syntagmatischen, mit Erll die eigentliche Konfigurationstätigkeit (2011,186) des literarischen Werkes »in das Reich des Als ob« (Ricouer, 104) existiert quasi schon. In der Jugendliteratur führt das bisweilen zu einer expliziten Überschreibung dieser Geschichte, die bereits als visuelle Erzählung vorliegt. In Catherine Brutons Der Nine Eleven Junge entsteht dadurch so etwas wie ein Post-Postmodernismus: »Also sagst du mir jetzt, was so Besonderes an dieser Elfter-September-Geschichte daran [sic, CF] ist?«, fragt Priti. Sie zupft noch immer an ihren Socken. Ich würde es lieber sein lassen, aber ich atme tief durch und tue es trotzdem. »Diese Männer lenkten Flugzeuge in zwei Hochhäuser in Amerika, und die stürzten ein. Dabei wurden haufenweise Menschen getötet.« Schließlich füge ich hinzu: »Darunter auch mein Dad.« Ich stelle mir vor, wie ich mit meinem Bleistift Cartoonflugzeuge in Cartoonhochhäuser fliegen lasse. Cartoonflammen und Sprechblasen voller AAAAAAAAAHs. […] »Und du glaubst, dein Dad gehörte zu denen, die dabei gestorben sind?« Im Kopf zeichne ich Cartoonflammen, die aus den Hochhäusern schießen. Strichmännchen springen hinaus und stürzen in die Tiefe. (Bruton 2011, 17–18)

Die postmoderne Spezifik im Jugendroman von Bruton liegt darin, dass die Verdichtung der Geschichte zu einer emotionalen Story – der Vater des Protagonisten ist durch die Terroranschläge vom 9. September ums Leben gekommen – von der Romanfigur Priti als relationale Erschreibung von Geschichte in Frage gestellt und damit als eklektizistische Zusammenführung von Elementen der Erinnerungskultur zu einer fiktiven Geschichte, die von den Kontexten der außertextuellen Wirklichkeit gelöst ist, metareflexiv vorgeführt wird. Das PostPostmoderne liegt darin, dass darüber hinaus die Narrativität der faktualen Bilder vom Protagonisten übermalt wird durch eine betont artifizielle, comicartige zeichnerische Wiederholung der bildgewordenen Realität. Diese doppelte

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metadiskursive Durchbrechung und die Thematisierung der Unmöglichkeit, die eigentlichen Bilder von 9/11 wiederzugeben, kann auch als literarischer Ausdruck dessen verstanden werden, dass die Authentifizierungsfunktion und Instrumentalisierung der Bilder […] nur noch durch den selbstreflexiven Bruch mit diesen Visualisierungsregeln erreicht werden kann. Das einzig Authentische ist es dann zu zeigen, wie schwierig das Ringen um Authentizität ist (Huck 2012, 261).

Die gebrochene Multiperspektivität und damit verbundene Partizipationsnotwendigkeit der Rezipierenden an dem dynamischen Erzähltext übernimmt so möglicherweise authentifizierende (und perspektivierende) Funktionen, die traditionell durch verlässliche Erzählinstanzen und ein fixiertes Verhältnis von discours und histoire gewährleistet werden (vgl. Martínez 2020). Eine andere Form, mit der Symbolizität der medialen Refigurationen von 9/11 umzugehen, ist die Ausstellung ihrer visuellen Historizität. Art Spiegelman demonstriert dies in der storyworld seiner Graphic Novel Im Schatten keiner Türme, in der er sich autobiografisch und gesellschaftspolitisch mit den nationalen Folgen bzw. dem Schatten der nicht mehr vorhandenen Türme auseinandersetzt. Spiegelman stellt die historische Dynamik und Sprengkraft dieser »Offenbarung« (Spiegelman 2004, 4) auf der Textebene gleichzeitig als existenzielle Bedrohung (»aber noch immer sieht er diesen glühenden Turm, wenn er die Augen schließt«, Spiegelman 2004, 4) sowie als Verunsicherung (»er hat nicht wirklich gesehen, wie das erste Flugzeug in den Turm gekracht ist, ein paar Blocks südlich seiner Wohnung in Soho«, Spiegelman 2004, 2) der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit dar. Auf der Bildoberfläche präsentiert Spiegelmann eine stilistisch wechselnde Bildlandschaft (hyperrealistisch, apokalyptisch, etc.), die von Variationen der beiden Türme auf nahezu allen Seiten leitmotivisch durchgeistert wird. Dabei ergänzt er die konventionelle hyperrealistische Ästhetik der Türme um emblemhaft glühende Gerippe und ein Leuchten, das den Schattenbildern seines Covers gegenübersteht. Auf dem Cover glänzen die Türme und die Umwelt erscheint nur noch als matt grundierter Schatten: Ein Ausdruck der tiefen Verwerfungen, die im individuellen und kollektiven nationalen Gedächtnis durch diesen Akt visueller Historizität entstanden sind. So haben die Folgen, die für die amerikanische Gesellschaft und die globale Gemeinschaft mit diesem visuellen Einschnitt einhergegangen sind, nur wenig mit der offiziellen politischen Rhetorik und nationalen Bildpolitik um Nine Eleven zu tun. Medial geformte Übergänge in eine kollektive Refiguration, die Erll als dritte Ebene der Mimesis des kollektiven Gedächtnisses beschreibt, finden hier scheinbar nicht statt, weil die Anreicherung über eine Interpretationsgemeinschaft zur nationalen Ikonisierung entfällt (Erll 2011, 186–188).

Nationalisierung von Umbrüchen in All-Age-Literatur und -Medien

239

Abb. 2a und b: Infragestellungen des historischen Bildappells von 9/11 (Spiegelman, Cover und 4)

3.3

Bildrhetorische Konsolidierungen

Deutlich wird diese Neudimensionierung von Erinnerung und Bild im Fall von 9/11 im Vergleich zum nationalen Umbruch 1989/90. Zum ikonischen Bild der deutschen Teilung wird die Mauer. Diese Deutungen und Diskursivierungen vom Ende der deutschen Teilung prägten Literatur und Film nach 1989/90 und sie prägten Kollektivvorstellungen vom historischen Sinn dieser Mauer, sie deuteten (und deuten) sie vor der Folie der Gegenwart. Im kinder- und jugendliterarischen Bildgedächtnis etablierten sich dafür bisher die Pole Diktatur und Komik: Als ein Beispiel für viele andere Werke zum diktatorischen Narrativ sei hier auf das Cover von Dorit Linkes Jenseits der blauen Grenze (2014) hingewiesen. Der Stacheldraht als Visualisierung diktatorischer Verhältnisse wird auch von der

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Holocaust-Literatur besetzt und weckt starke Assoziationen des Eingesperrtseins, der Ausgrenzung usw.

Abb. 3: Bildgrammatik zur deutschen Teilung im Diktaturgedächtnis (Linke 2014; Mönch et al. 2014; Schwartz 2009)

Varianten des Diktaturgedächtnisses sind die Mauer mit ihren Überwachungstürmen, die meist narrativ in der histoire als Trennwand zwischen Familien etabliert wird – in der Graphic Novel Treibsand (Mönch et al. 2014) zwischen Ingrid und ihrem Bruder Jens, der ihre Fluchtpläne verrät; im Comic drüben! (Schwartz 2009) zwischen den Eltern der Erzählfigur, als die Mutter einen Ausreiseantrag stellen will und der Vater noch zögert. Diese diktaturgeschichtliche Linie bietet die Möglichkeit einer nationalen gesamtdeutschen Identitätserzählung, in der sich die alte BRD als freiheitlicher Staat als Nachfolger der gesamten deutschen Nation legitimiert. Demgegenüber etablieren sich in der jugendliterarischen Erinnerungskultur zu Mauer und deutscher Teilung Darstellungen, die die Geschichte ins Komische wenden und Absurditäten parodistisch vergrößern; Tendenzen, die bereits in den 1990ern mit Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) einen frühen popkulturellen Höhepunkt finden. Brussig erfindet eine groteske Szenerie des Lebens an der Mauer: Das war noch nie passiert – ein Stromausfall im Grenzgebiet. […] Zu dem Stromausfall kam es genau in dem Augenblick, als der Grenzer die komplizierte japanische Hi-FiAnlage an das ostdeutsche Stromnetz anschloß. Es gab einen Kurzen – und das Licht im gesamten Wohngebiet und im Todesstreifen erlosch. Es wurde zappenduster. Der Grenzer, geübt in Verschwörungstheorien, durchschaute blitzartig, daß die japanische Hi-Fi-Anlage eine Art Trojanisches Pferd war, daß sie einzig und allein dazu dem Zoll in die Hände gespielt worden war, um einen Stromausfall zu verursachen. Und deshalb löste der Grenzer sofort Großalarm aus. »Grenzalarm!« schrie er und schoß die Leuchtmunition in den Himmel […] Das brennende Magnesium der Leuchtkugeln spendete ein gleißendes Licht und warf harte Schatten, die sich gleich mehrfach auf der Mauer abzeichneten. Und da die Leuchtkugeln stiegen und fielen, bewegten und verzerrten sich auch die Schatten […] in ihrer Hektik wirkten sie wie Terroristen. […] Dann sah Micha, wie der Liebesbrief aus dem Todesstreifen über die Mauer flog. Der Brief brannte lichterloh. Eine niedergehende Leuchtkugel war auf den Brief gefallen und

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hatte ihn entzündet, worauf der Brief in seinem eigenen Hitzestrom emporgerissen wurde und als Asche seiner selbst wieder auf die kürzere Seite der Sonnenallee zurückflog. (Brussig 1999, 144–145)

Die Typisierung des trotteligen Grenzers sowie der ebenso erfindungsreichen wie lebenspraktischen und politisch naiven Jugendlichen überformt das realhistorische Leben an der Mauer und erweitert die erinnerungskulturelle Refiguration der Mauer zur Karikatur. Die humoristische Verdichtung der Bild- und Erzählperspektive zum Witz stellt die Abstrusitäten der Teilung zur Schau.5 Das interessante an derartigen Inszenierungen ist die Zurschaustellung der Nebensächlichkeit des Politischen oder deren Mehrfachkodierung, die gleichzeitig immer auch eine Mehrfachadressierung ist. So wird z. B. auch in Mawils Kinderland die Berliner Mauer mit einer Off-Sprechblase verbunden, die den Text »Du kleines Dummerchen!« enthält (Mawil 2014). Die Off-Blase ermöglicht zunächst eine Fokussierung auf den Bildinhalt: Wohnhäuser, zwischen die eine Betonmauer gezogen ist, ein Polizist, der Wache hält und deutlich erkennbar im Hintergrund: ein Wachturm. Die Komisierung findet hier aber nicht nur durch eine erzählerische, sondern auch über eine mediale Diskursivierung Ausdruck. Was auf der Bildebene das Diktaturnarrativ bedient, wird durch die Textebene eine historische Deutung, die die Absurdität der Teilung einer Stadt durch eine Mauer betont. Vermittelt durch die Off-Sprechblase wird der Deutungsraum über die Ebene des Figurenverhaltens um Mimi hinaus erweitert: nicht Mimi ist das Dummerchen, weil sie sich nah an die innerdeutsche Grenze gewagt hat, sondern die politische Elite, die Besatzungsmächte oder gar das deutsche Volk sind die »Dummerchen«, weil sie die Dummheit der Teilung begangen oder zumindest mitgetragen haben (ausführlicher dazu Führer 2016). Auch diese Rhetorik bietet die Möglichkeit einer nationalen gesamtdeutschen Perspektivierung, die die alte BRD konsequent als notwendige Lösung in der historischen Situation erscheinen lässt. Die Beispiele zu den zäsuralen zeithistorischen Umbrüchen 1968, 1989/90 und 9/11 können andeuten, welche Sinnzuschreibungen und -ablösungen, Ikonisierungen und Imagetransfers eines sich dynamisch entwickelnden historischen Bildgedächtnisses in zeitgenössischen Erinnerungsmedien möglich sind und wie diese von bildrhetorischen, affektiven und nationalsymbolischen Entwicklungen (mit-) bestimmt werden.

5 Diese Tendenz zeigt sich auch stark in anderen Texten der All-Age-Literatur wie Mein erstes T-Shirt (Hein 2001), Schneckenmühle (Schmidt 2013), Boxhagener Platz oder Revolution und Filzläuse (Schulz 2004; 2008) sowie in der grafischen Erzählweise des preisgekrönten Comics Kinderland (Mawil 2014).

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4.

Carolin Führer

Fazit: »Eine Erinnerung ist eine Bild-Erinnerung ist eine nationale Erinnerung?«

Anhand der bisherigen Überlegungen wird deutlich, dass (nationale) Repräsentationsresonanzen nur dann funktionieren, wenn Bilder, die eine ikonische Qualität aufweisen, in neue Kontexte – soziokulturelle, mediale, zeitliche oder örtliche – eingebettet werden (vgl. auch Assmann 2016, 30). In deren kontinuierlicher Interaktion mit dem Bild liegt das erinnerungskulturelle Potenzial als (nationale) Ikone. Die Repräsentation und Kontextualisierung von zeithistorischen Bildern in der Erinnerungskultur offenbaren jedoch auch deutlich das Metaphorisierungs- und Ideologisierungspotential der Bilder durch die literarische Diskursivierung. Die semantische Anomalie der (historischen) Bilder führt zu einer eigentümlich ambivalenten und instrumentalisierbaren Wirksamkeit dieser Bilder, die in einigen zeithistorischen Umbruchserzählungen in eine nationale Appellstruktur umgewandelt wird, die wie keine andere dazu geeignet scheint, die Chimäre von deren historischer Wahrheit zu nähren (im Sinne einer Abbildbarkeit in den Beispielen von Zejn; Linke; Schwartz; Mönch et al.). Es gibt demgegenüber aber auch Narrationen in All-Age-Texten und Comics, die diese Appellstruktur (im Sinne nationaler Vereinnahmungen) unterlaufen und die Vagheit der Bildkommunikation diskursiv ausstellen (z. B. Bruton; Spiegelman) oder deren Appellcharakter übersteigern (vgl. zum Beispiel Werke von Brussig und Mawil). In einer digitalisierten und damit grenzüberschreitenden Welt wird durch stetiges Austauschen, Verbreiten, Neuordnen und Speichern von Bildern immer auch der nationale Erinnerungscharakter von historischen Bildern verändert. Ein grundsätzlicher »appetite for recyling« (Huyssen 2003, 95) löst erinnerungskulturelle Bilder dabei immer mehr von einem historischen Sinngehalt, betont jedoch ihre reziproke Beziehung mit nationalen und antinationalen Narrativen.

Primärliteratur Brussig, Thomas. Am kürzeren Ende der Sonnenallee. Berlin: Volk und Welt, 1999. Bruton, Catherine. Der Nine Eleven Junge. [amerikan. EA 2011]. Köln: Bastei Lübbe, 2011. Hein, Jakob. Mein erstes T-Shirt. München: Piper, 2001. Linke, Dorit. Jenseits der blauen Grenze. Bamberg: Magellan, 2014. Mawil. Kinderland. Berlin: Reprodukt, 2014. Mönch, Max, Alexander Lahl und Kitty Kahane. Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Berlin: Metrolit, 2014. Schmidt, Jochen. Schneckenmühle. München: C.H. Beck, 2013.

Nationalisierung von Umbrüchen in All-Age-Literatur und -Medien

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Schulz, Torsten. Boxhagener Platz. Roman. Berlin: Ullstein, 2004. Schulz, Torsten. Revolution und Filzläuse. Erzählungen. Berlin: Ullstein Verlag, 2008. Schwartz, Simon. drüben! Berlin: Avant, 2009. Spiegelman, Art. Im Schatten keiner Türme [amerikan. EA 2004]. Zürich: Atrium, 2004. Zejn, Julia. Drei Wege. Berlin: Avant, 2018.

Sekundärliteratur Assmann, Aleida. »The Digital Archive and the Future of Memory«. (Post)Fotografisches Archivieren. Wandel – Macht – Geschichte (Das fotografische Dispositiv). Hg. Victoria von Flemming, Daniel Berndt und Yvonne Bialek. Kromsdorf: Jonas Verlag, 2016. 26– 39. Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck, 1999. Barthes, Roland. »Rhetorik des Bildes«. Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn [franz. EA 1964]. Hg. Ders. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, 28–46. Baudrillard, Jean. Der Geist des Terrorismus [franz. EA 2001]. Wien: Passagen Verlag, 2002. Benner, Julia (Hg.). Die gelesene Revolution. Kinder- und Jugendmedien in revolutionären Kontexten. München: Kopaed, 2019 (kjl&m 19.1). Dettmar Ute, und Mareile Oetken. Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg: Winter, 2010. Dettmar, Ute, Gabriele von Glasenapp, Emer O’Sullivan, Caroline Roeder und Ingrid Tomkowiak. Jahrbuch für Kinder und Jugendliteraturforschung, 1968. DOI: http://www.gkjf.de /jahrbuch-2018-open-access/ (1. August 2021). Erll, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2011. Fahlenbrach, Kathrin. Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation und kollektive Identitäten in Protestbewegungen. Wiesbaden: VS Verlag 2002. Führer, Carolin. »Emotionen in DDR- Geschichtscomics und Graphic Novels. Didaktische Überlegungen zur Analyse von Zeichensprache und Gefühlen in Comics über die DDR«. Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Hg. Dies. Göttingen: V&R unipress, 2016. 311–326. Gansel, Carsten. »›Einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen.‹ Der Nationalsozialismus als Gegenstand in der Literatur für Kinder und Jugendliche«. Zwischen Schweigen und Schreiben. Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer. Hg. Norman Ächtler und Monika RoxHelmer. Frankfurt a. M.: Lang, 2013. 15–37. Glasenapp, Gabriele von, und Gisela Wilkending. Geschichte und Geschichten. Die Kinderund Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien). Frankfurt a. M.: Lang, 2005. Huck, Christian: »Authentizität im Dokumentarfilm. Das Prinzip des falschen Umkehrschlusses als Erzählstrategie zur Beglaubigung massenmedialen Wissens«. Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Hg. Antonius Weixler. Berlin und Boston: De Gruyter, 2012. 239–264.

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Carolin Führer

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III. Umbrüche transnational erinnern

Özkan Ezli

Bruch statt Umbruch in der Geschichte der Migration in der Bundesrepublik. Debatte und Analyse der Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte

1.

Einleitung

Am 30. Oktober 2011 jährte sich zum 50. Mal der Beginn der Einwanderung der türkischen Arbeiter in die Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Anlass fuhr am 26. Oktober 2011 ein Sonderzug mit Migranten der ersten Generation und deutschen Politikern vom Istanbuler Bahnhof Sirkeci zum Hauptbahnhof nach München. Genau am Sonntag, den 30. Oktober, traf dieser Zug am Münchener Hauptbahnhof ein.1 In der zeitnah entstandenen, bekannten und erfolgreichen Familienkomödie Almanya. Willkommen in Deutschland der S¸amadereliSchwestern spielt die Ankunft des Gastarbeiters Hüseyin 1964 in der Bundesrepublik ebenfalls eine besondere Rolle.2 Zu Anfang des Films lässt der Protagonist, ein türkischer Gastarbeiter der ersten Stunde, bei der Registrierung am Bahnhof dem Portugiesen Armando Rodriguez de Sá den Vortritt, der daraufhin als der einmillionste Gastarbeiter in die Geschichte der Migration in die Bundesrepublik eingeht.3 Im Film wird nun die Ankunft des einundeinmillionsten Gastarbeiters, nämlich von Hüseyin, und später von seiner Familie in der deutschen Gesellschaft von 1964 bis heute erzählt. Beides, die Jubiläumsfeier und der auf der Berlinale mit dem Applaus des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff gefeierte Film der S¸amdereli Geschwister, bildet einen Höhepunkt einer Integrationspolitik, die mit Johannes Raus Berliner Rede von 2000 ihren Anfang

1 Siehe hierzu: »Sonderzug aus Istanbul erinnert an 50 Jahre Migration«. Bildzeitung, 26. November 2011. Siehe auch: »Sonderzug aus Istanbul. Vor 50 Jahren begann die Einwanderung türkischer Gastarbeiter nach Deutschland«. TAZ, 27. Oktober 2011. 2 S¸amdereli, Yasemin. Almanya. Willkommen in Deutschland. Condorde Filmverleih Gesellschaft, 2010. 3 Tatsächlich ist das Bild, das am 11. September 1964 am Bahnhof Köln-Deutz gemacht wurde und auf den wir den portugiesischen Gastarbeiter Armanda Rodriguez de Sá mit einem Moped sehen, zum Ikonenbild der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik geworden. Siehe hierzu: Chin, Rita. The Guest Worker Question in Postwar Germany. New York: Cambridge 2007, 31.

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Özkan Ezli

genommen hatte. Rau war der erste Bundespräsident, der in dieser mittlerweile legendären Rede die Bundesrepublik als ein Einwanderungsland bezeichnete. Nach der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bauen Individuen und Kulturen ihr Gedächtnis »interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken« (Assmann 2018, 19). In der Aktualisierung von Geschichte treten in der Regel zwei Formen des Gedächtnisses in Interaktion, nämlich das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis. Grob unterschieden steht ersteres im Zentrum eines kollektiven und identitätssichernden Gedächtnisses und letzteres für eine historische Wissenschaft, die fremd gewordenes, neutrales und abstraktes Sachwissen sammelt (vgl. Assmann 2018, 137). Daraus schlussfolgernd begreift Assmann das Funktionsgedächtnis als »das bewohnte Gedächtnis«: Es ist mit einem Träger verbunden, schlägt eine Brücke von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft, verfährt selektiv, indem es etwas Spezifisches erinnert und anderes vergisst und es vermittelt schließlich Werte, »aus denen sich ein Identitätsprofil und Handlungsnormen ergeben« (Assmann 2018, 134). Das Speichergedächtnis, in dem alles an Information und Wissen wichtig ist, begreift Assmann hingegen als »das unbewohnte Gedächtnis«: Es agiert losgelöst von einem Träger, separiert streng Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft und bestimmt schließlich die Wahrheit »und suspendiert dabei Werte und Normen« (Assmann 2018, 134). Wenn ersteres Gedächtnis durch Individuen und Kollektive gestützt, durch Rituale oder szenische Alltagsinteraktionen aktiviert wird, bedarf letzteres als Stütze Institutionen wie Museen, Schulen, Universitäten und Bibliotheken, um kulturelles Wissen bewahren, konservieren und verbreiten zu können. Die Erneuerungskraft und Reaktionsfähigkeit von Individuen und Kulturen auf neue gesellschaftliche Realitäten ist danach in hohem Maße davon abhängig, ob eine »hohe Durchlässigkeit der Grenze zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis« besteht (Assmann 2018, 141). Denn mit dem Speichergedächtnis kann gegen ein Vergessen und Ablehnen der Vergangenheit im Alltagsgedächtnis Widerstand geleistet werden. Und umgekehrt kann das Funktionsgedächtnis loses historisches Material aus dem Speichergedächtnis zu einer neuen Form von kultureller Identifikation binden. Das gegenseitige Ausschließen dieser Erinnerungsformen würde nach Assmann hier wie dort hochproblematische Potentiale hervorkehren, indem »die Historiographie wertlos« für den Alltag erklärt und das Gedächtnis einen mythischen Charakter bekommen würde, die jede Form kultureller Neuerfindung ausschließen würde. In der Verschränkung von Funktions- und Speichergedächtnis stecke für beide Seiten ein »heilsames Korrektiv« (Assmann 2018, 142). Mit Aleida Assmann gesprochen, ist zwischen Raus Rede 2000, den Feierlichkeiten und dem Spielfilm Almanya. Willkommen in Deutschland 2011 ein

Bruch statt Umbruch in der Geschichte der Migration in der Bundesrepublik

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interaktives Gedächtnis aufgebaut worden, das durch »Kommunikation in Sprache und Bildern« erfolgte. Ein Bild des Ankommens nach 50 Jahren haben auch die bekannten Karikaturisten Greser & Lenz mit ihrer Zeichnung 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte vorgelegt, die am 6. November 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt wurde. Darauf ist ein türkischstämmiger Wirt beim Service in seinem Wirtshaus »Üzrüms Alpenglück« in den bayrischen Alpen mit seinen bayrischen Kunden zu sehen. Knapp drei Jahre später beginnt diese Gedächtnisarbeit, von der Jubiläumsfeier über die fiktiv-filmische Reflexion bis zur Karikatur grundlegend zur Disposition gestellt zu werden. Denn als die Karikatur von Greser & Lenz 2014 als Material in ein Gemeinschaftskundebuch für die 10. Klasse an Gymnasien aufgenommen wird, sozusagen vom Funktionsgedächtnis zum Speichergedächtnis wechselt, löst dieses Bild eine große Debatte um Integration, Beleidigung und Rassismus aus. Der Wechsel und die Verbindung von identitätsbildendem Funktionsgedächtnis und sachlich-abstraktem Speichergedächtnis hat hier nicht eine neue Form der Gestaltung mit sich gebracht, sondern im Gegenteil mit dem Vorwurf des Rassismus eine radikale Trennung des Erinnerns der Geschichte der Migration in der Bundesrepublik. Die Analyse der Debatte um die Karikatur, die Analyse der Zeichnung selbst und ihre aufgabentechnische Einbindung in ein Schulbuch wird im vorliegenden Beitrag zeigen, dass die Bundesrepublik in ihrer politischen Rhetorik zwar ein Einwanderungsland geworden ist, aber nicht in der Verschränkung von Funktions- und Speichergedächtnis.

2.

Die Debatte um die Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte zwischen Integration und Rassismus Den Präsidenten der türkischen Republik als einen Hund zu zeichnen, seinen Namen darüber zu schreiben und diesen an eine Hundehütte anzuketten, ist ein unglaublicher Fall. Wenn diese Karikatur in einer Zeitung erschienen wäre, hätte ich es ja noch verstanden, aber dass sie in einem Schulbuch abgedruckt wurde, zeugt von Niedertracht und böser Absicht.4

Die Empörung des türkischstämmigen gelernten Gas-Wasser-Installateurs Nuri Ay aus Friedrichshafen am Bodensee auf die Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte folgt, nachdem ihm seine beiden Töchter sie 4 Vom Autor übersetzt aus: »Almanya’dan Erdogˇan’a büyük saygısızlık«. Milliyet, 1. November 2014. URL: https://www.milliyet.com.tr/siyaset/almanyada-erdogana-buyuk-saygisizlik-1963 369 (1. August 2021). Siehe auch: »Almanya’dan Erdogˇan’a büyük hakaret«. Gazetevatan, 1. November 2014. URL: http://www.gazetevatan.com/almanya-dan-erdogan-a-buyuk-hakare t-692833-gundem/ (1. August 2021).

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Özkan Ezli

Abb. 1: Karikatur: 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte]

in ihrem Gemeinschaftskunde-Schulbuch 10. Klasse für Gymnasien zeigen.5 Im Baden-Württembergischen Schulbuch ist die Karikatur Teil des Kapitels »Einwanderung nach Deutschland« und Bestandteil der Aufgabenstellung »Wie weit soll Integration gehen?«. Zur Frage der Integration bezieht Nuri Ay gegenüber der türkischen Tageszeitung Aks¸am auch Stellung und konstatiert, dass sie in der Karikatur nur ein »Ablenkungsmanöver« sei. Denn wenn man genau hinsehe, handele es sich bei dieser Karikatur um eine beispiellose Erniedrigung (»büyük bir as¸agˇılama«) nicht nur des türkischen Präsidenten, sondern der ganzen türkischstämmigen Bevölkerung in der Bundesrepublik. Und so habe nicht nur er die Zeichnung im Schulbuch empfunden, sondern auch viele seiner Freund*innen »fühlten sich von der Karikatur beleidigt«, nachdem Ay sie auf seiner Facebook-Seite postete.6 Er wandte sich an türkische Zeitungen, die ihn interviewten, und das Interview wurde darauf wiederum in vielen anderen türkischen Zeitungen abgedruckt.7 Auch türkische Fernsehsender nahmen sich Anfang November des Themas an und am 4. November 2014 reagierte das türkische Außenministerium auf die Karikatur im Schulbuch. Es verurteilte sie aufs Schärfste und konstatierte ihre Aufnahme in ein Schulbuch als ein weiteres Indiz für einen zunehmenden Rassismus (ırkcılık) in der Bundesrepublik. Die türkische Regierung verlangte von der deutschen eine Entschuldigung und die Entfernung der Karikatur aus dem Schulbuch und forderte, dass eine solche rassistische Beleidigung, die in einer meinungsfreien Demokratie nichts verloren 5 Ganter, Patrick. »Erdogˇan-Karikatur: Viel Ärger um ein paar Striche«. Südkurier, 6. November 2014. 6 Ebd. 7 Das Interview mit Nuri Ay wurde am 1. und am 2. November in vielen türkischen Zeitungen wie in der Milliyet, Hürriyet, Sözcü, Takvim und TGRT abgedruckt.

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habe, sich nicht mehr wiederholen dürfe.8 Die türkische Journalistin Elmas Topcu zitiert in ihrem regierungskritischen Artikel9 gar Funktionäre der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi), die türkische Regierung habe mit ihrer Reaktion auf die Karikatur der deutschen Regierung eine Lektion in Demokratie erteilt (»demokrasi dersi verdi«).10 Winfried Kretschmann, der damalige und aktuelle BadenWürttembergische Ministerpräsident reagierte auf diesen Sturm der Entrüstung seitens der türkischen Regierung mit den Worten, dass es ihm »unerfindlich [ist], wie man sich darüber so echauffieren kann. […] Eine Karikatur ist eine Karikatur und sie karikiert, darum heißt sie so und so sollte man Karikaturen auch bewerten«.11 Dieser Sturm der Entrüstung sei von Erdogˇan ein Manöver, um von seiner repressiven und diskriminierenden Politik gegenüber Kritiker*innen und gegenüber Aleviten im eigenen Land abzulenken. Darum wisse die BadenWürttembergische Landesregierung und »das mißfällt uns außerordentlich«, so Kretschmann weiter.12 Doch tatsächlich beschränkte sich das Beleidigtsein keineswegs allein auf die türkische Regierung; wie Ay protestierten türkischstämmige Demonstranten am Folgetag vor den Kultusministerien in Stuttgart und Berlin mit der Plakataufschrift: »Jetzt reicht’s! Hetze und Rassismus unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit! Und jetzt auch in Lehrbüchern.«13 Weitere Kreise zog die Debatte um die Karikatur von Greser & Lenz, als die Hagener Bundestagsabgeordnete Cemile Giousouf (CDU) und ihr CDU-Bundestagskollege Oliver Wittke die Zeichnung für ein Schulbuch als »völlig inak8 Siehe hierzu: »Almanya’ya karikatür notası«. Sözcü, 3. November 2014. URL: https://www.so zcu.com.tr/2014/gundem/almanyaya-karikatur-notasi-638459/ (1. August 2021). 9 Siehe hierzu: Topcu, Elmas. »Karikatür krizi’nde Almanya’dan tokat gibi yanıt: Erdogˇan önce kendine baksın« (In der Karikaturkrise gibt es von Deutschland eine Antwort wie eine Ohrfeige: Erdogˇan solle erstmal auf sich selbst schauen). Diken, 4. November 2014. URL: http://www.diken.com.tr/bir-karikatur-krizi-daha-erdogan-karikaturu-nedeniyle-almanyabuyukelcisi-disislerine-cagirildi/ (1. August 2021). 10 Topcu, Elmas. »Karikatür krizi’nde Almanya’dan tokat gibi yanıt: Erdogˇan önce kendine baksın« (In der Karikaturkrise gibt es von Deutschland eine Antwort wie eine Ohrfeige: Erdogˇan solle erstmal auf sich selbst schauen). Diken, 4. November 2014. URL: http://www.diken.com.t r/bir-karikatur-krizi-daha-erdogan-karikaturu-nedeniyle-almanya-buyukelcisi-disislerine-cagi rildi/ (1. August 2021). 11 Topcu, Elmas. »Karikatür krizi’nde Almanya’dan tokat gibi yanıt: Erdogˇan önce kendine baksın« (In der Karikaturkrise gibt es von Deutschland eine Antwort wie eine Ohrfeige: Erdogˇan solle erstmal auf sich selbst schauen). Diken, 4. November 2014. URL: http:// www.diken.com.tr/bir-karikatur-krizi-daha-erdogan-karikaturu-nedeniyle-almanya-buyuk elcisi-disislerine-cagirildi/ (1. August 2021). 12 »Ärger über Karikatur. ›Erdogan hat in Deutschland nichts zu melden‹«. Die Welt, 4. November 2014. URL: https://www.welt.de/politik/ausland/article133997561/Erdogan-hat-in-D eutschland-nichts-zu-melden.html (1. August 2021). 13 »Karikaturen-Streit mit der Türkei. Demonstranten ziehen vors Stuttgarter Kulturministerium«. Stuttgarter Zeitung, 5. November 2014. URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhal t.karikaturen-streit-mit-der-tuerkei-veraergerte-demonstranten-ziehen-vors-stuttgarter-kul tusministerium.b14cdcf4-6f2e-449b-a4e4-a01e40ef48c9.html (1. August 2021).

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zeptabel« bezeichneten: Die Pressefreiheit ist »ein hohes Gut – das muss auch jeder aushalten. Ein Schulbuch ist etwas anderes: In unserer vielfältigen Gesellschaft sollte auf eine kultursensible Aufbereitung des Lehrmaterials geachtet werden«, so Giousouf in der Westfalenpost.14 Der damalige CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet kritisierte Giousouf scharf und konstatierte, dass die Pressefreiheit nicht zur Disposition steht.15 Für die Zeichner Greser & Lenz ist die Karikatur alles andere als eine Beleidigung gewesen. Im Gegenteil zeige die Karikatur »ein Beispiel gelungener Integration« und stehe im »Geiste der Toleranz und der Versöhnung«. Zudem sei der Name »Erdogan« ein verbreiteter türkischer Name.16 Auch der Herausgeber des Schulbuchbandes, Wolfgang Mattes, hat aufgrund der losgetretenen Debatte eine Erklärung zur Aufnahme der Karikatur in das Schulbuch abgegeben. Die Karikatur von Greser & Lenz wurde für das Thema Integration und Einwanderung ausgewählt, »weil sie auf besonders originelle Art den Prozess des fünfzigjährigen Zusammenlebens türkischer und deutscher Mitbürger aufs Korn nimmt und weil sie eher als integrationsverstärkend interpretiert werden kann als umgekehrt«. Weiter führt Mattes in seiner Erklärung aus, dass die Zeichnung zeige, »wie normal der Umgang zwischen deutschen und türkischen Bürgern mittlerweile geworden ist«. Allein die bayerischen Traditionalist*innen auf diesem Bild müssten es erdulden, wegen einer falsch aufgetragenen Bestellung vom türkischen Wirt angeschnauzt zu werden. »Verdeutlicht man sich die Normalität dieser Szenerie, kann man zweifellos Wirkungsabsicht auch dahingehend interpretieren«, so Mattes weiter in seiner Erklärung. Mattes geht am Ende seiner Erklärung sogar darüber hinaus und konstatiert, »dass das gesamte Buch und speziell das Kapitel, aus dem die Karikatur stamme, ›einen wirksamen Beitrag zur Achtung von Demokratie und Menschenrechten leistet‹« (Allgöwer, 2014). Den Aspekt und den Umstand der Erduldung des Verhaltens des türkischen Wirts hat auch, anders als die anderen türkischen Zeitungen, die türkische Internetzeitung Diken (dt., Stachel) hervorgehoben. Nach ihrer Interpretation dürfte sich nicht 14 Stubbe, Jens et al. »Giousoufs Kritik an Erdogan-Karikatur polarisiert Hagen«. Westfalenpost, 7. November 2014. URL: https://www.wp.de/staedte/hagen/giousoufs-kritik-an-erdogan-kari katur-polarisiert-in-hagen-id10011915.html (1. August 2021). 15 »›Erdogan verunglimpft‹. Türkei kritisiert Karikatur in deutschem Schulbuch«. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. November 2014. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei-kriti siert-erdogan-karikatur-in-deutschem-schulbuch-13247171.html (1. August 2021). 16 »Hund & Humor. Streit um Erdogan-Karikatur«. Deutsche Welle, 4. November 2014. URL: https://www.dw.com/de/hund-humor-streit-um-erdogan-karikatur/a-18037345 (1. August 2021). Siehe hierzu auch: »Karikaturen-Streit mit der Türkei. Demonstranten ziehen vors Stuttgarter Kulturministerium«. Stuttgarter Zeitung, 5. November 2014. URL: https://www. stuttgarter-zeitung.de/inhalt.karikaturen-streit-mit-der-tuerkei-veraergerte-demonstranten -ziehen-vors-stuttgarter-kultusministerium.b14cdcf4-6f2e-449b-a4e4-a01e40ef 48c9.html (1. August 2021).

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die türkische Regierung, sondern es müsste sich eigentlich die CSU über diese Zeichnung ärgern und sich beleidigt fühlen, denn in dieser Karikatur hat ein türkischstämmiger Migrant nach einer 50-jährigen Migrationsgeschichte bayerische Tradition und bayerisches Land mit seiner türkischen Kultur einfach besetzt und habe auch noch in diesem typisch deutschen Ambiente (›tipik alman‹) das Sagen (Topcu, 2014).17 Doch von der CDU, so schließt der Artikel von Elmas Topcu, kam kein Laut der Entrüstung. Diken war auch die einzige Zeitung, die in ihrem Artikel ihren Leser*innen neben der Beschreibung des ganzen Bildes alle Textpassagen ins Deutsche übersetzte. Passagen, die der Friedrichshafener Nuri Ay sehr wohl hätte sehen und ohne Übersetzung verstehen können. Denn wie er selbst in einem Interview mit dem Südkurier festhält, seien er und seine Familie in Deutschland gut integriert. Dass er aber all dies nicht sehen und verstehen wollte oder konnte, als seine Töchter ihm die Karikatur im Schulbuch zeigten, macht allein seine Beschreibung des Bildes deutlich, die mit den Worten einsetzt, »den Präsidenten der türkischen Republik als einen Hund zu zeichnen, […]«. Tatsächlich ähnelt der Hund in keinster Weise dem türkischen Präsidenten, sprich der Name des Hundes korreliert nicht mit dem Tier, das hier dargestellt wird.18 Im Zentrum des Bildes stehen tatsächlich der türkisch aussehende Wirt und die in bayerischer Tracht verkleideten Deutschen. Mit Aleida Assmanns Zugang gesprochen, müsste hier eigentlich das Funktionsgedächtnis greifen und Nuri Ay müsste sich mit dem Wirt identifizieren können, da er ja genauso gut integriert ist. Dass aber genau dieses Zentrum und die Mitte des Bildes nicht gesehen werden und an die Stelle des Sehens ein intensiver Affekt, Beleidigungsund Rassismusvorwürfe treten, und auf der anderen Seite im Gegenteil von gelungener Integration die Rede ist, hat mit einem Bruch in der Geschichte der Migration, mit einem Bruch zwischen Funktions- und Speichergedächtnis zu tun, die mit der Analyse der Karikatur im Schulbuch in der folgenden kulturwissenschaftlichen Analyse zur Disposition steht. Dass diesem Clash der Wahrnehmungen ein Bruch in der Geschichte unterliegt, zeigt auf eindrückliche Weise, dass niemand wirklich das Verhältnis der Legende der Karikatur »50 Jahre

17 Siehe hierzu: Topcu, Elmas. »Karikatür krizi’nde Almanya’dan tokat gibi yanıt: Erdogˇan önce kendine baksın« (In der Karikaturkrise gibt es von Deutschland eine Antwort wie eine Ohrfeige: Erdogˇan solle erstmal auf sich selbst schauen). Diken, 4. November 2014. URL: http://www.diken.com.tr/bir-karikatur-krizi-daha-erdogan-karikaturu-nedeniyle-almanyabuyukelcisi-disislerine-cagirildi/ (1. August 2021). 18 Anders verhält es sich mit der Karikatur des türkischen Zeichners Musa Kart, der 2004 Erdog˘an als Katze karikierte, die sich in ein Wollknäuel verheddert hat. Kart wurde darauf von Erdog˘an verklagt. Zeitgleich zur Karikaturdebatte in Deutschland wurde diese Klage vom türkischen Gericht abgewiesen. In Karts’ Karikatur ist Erdog˘an in der Katze unverkennbar zu erkennen. Einige Artikel zur Karikaturdebatte in Deutschland haben die Karikatur von Greser & Lenz mit der Karikatur Karts verglichen.

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Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte« zum Bild in Betracht gezogen hat, niemand sozusagen die Historizität des Visuellen beschrieben hat. Dabei ist Ähnlichkeit »eine Grundbedingung der Karikatur«, wie der bekannte Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris in seinem Buch Die ästhetische Illusion von 1977 festhält. Und er führt weiter aus, dass es erst die »Ähnlichkeit zwischen einem Menschen und seinem Bild« sei, die die »spezifische Eigenart der Karikatur« ausmache, »nämlich die erkennbare Ähnlichkeit in entstellter Wiedergabe« (Kris 1977, 157). Vierzig Jahre später konstatiert der Kunsthistoriker Oliver Zybok ebenfalls, dass das Hauptcharakteristikum einer Karikatur der »Wiedererkennungswert« sei. Die Karikatur resultiert aus einer sicheren Beherrschung der Mimesis und ihre Komik liegt nicht zuletzt in der Beobachtung der Geschicklichkeit, mit der der Künstler eine Ähnlichkeit der Vorgabe erfasst, um ästhetische Konventionen zu durchbrechen. (Zybok 2017, 157)

Dabei zeigt sich in der Geschichte der Karikatur, die, beginnend im 18. Jahrhundert, im 19. eine erste Hochphase erlebt, dass die Karikatur mit deformierten Portraits entweder der allgemeinen Erheiterung dient oder aber wie bereits beim bekannten Karikaturisten Philipon im 19. Jahrhundert als Kritik für eine »ernsthaft vollzogene Auseinandersetzung« steht (Zybok 2017, 311). Der Romancier John Updike attestiert beispielsweise den Karikaturen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom bekannten amerikanischen Zeichner David Levine, dass sie »Zeugnis« in »verwirrenden Zeiten« ablegen. Levines Zeichnungen, die vor allem im New York Review of Books veröffentlicht wurden, böten »uns nicht nur das Vergnügen der Erkenntnis«. Vielmehr trösten sie nach Updike »in einer Zeit voller Erbitterung und möglicher Verzweiflung […] durch eine Kunst der Satire«. Diese integriere, so Updike weiter, »die jüngsten Erscheinungen des öffentlichen Lebens wie jene historischen Geister, die uns immer wieder in unserem Unbehagen verfolgen« (Levine 1970, 7). Im Zentrum dieser Kritik steht die ironische Darstellung eines Widerspruchs zwischen Ideal und Wirklichkeit. Dabei handelt es sich nach Schmid »um Widersprüche zwischen Interessen […], die nicht miteinander vereinbar sind oder um [solche] zwischen Positionen, die nicht konvergieren wollen und dennoch koexistieren müssen […]«. Die Ironie schafft, so Schmid weiter, Situationen, »in denen Widersprüche zornig aufeinander losgehen, […] eine veränderte Situation zu schaffen, in der die Widersprüche zwar bestehen bleiben, das Subjekt jedoch nicht mehr von ihnen bedroht wird« (Zybok 2017, 328). Den zweischneidigen Charakter der Karikatur beschreibt neben Zybok und Schmid auch Kris in Die ästhetische Illusion. Wenn die Karikatur oder der Witz gelingen, Lust erzeugen, können sie im Sinne Freuds die sozialste Leistung erbringen und hochintegrativ wirken. Doch die andere Seite der Lust ist hier die

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Unlust, wenn der Witz »mißverstanden« wird, wenn der Rezipient hinter der Verkleidung eine Aggression erkennt, und, nach Kris’ psychoanalytischem Zugang, das »Über-Ich« von ihm verlangt, den Witz abzuweisen (Kris 1977, 154). Entsprechend darf man sich das Gelingen der komischen Leistung als von zwei Faktoren abhängig vorstellen. Die Ansprüche des Trieblebens werden durch seinen Inhalt befriedigt, die Einwände des Über-Ich durch die Art der Verkleidung. Ist das Ich auf diese Weise fähig, die Spannung zwischen beiden zu bewältigen, kann Lust aus Unlust entstehen. (Kris 1977, 158)

Die äußerst widersprüchliche Wahrnehmung der Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte wird weder einer ironischen Haltung noch wird die Debatte um die Zeichnung den beiden Faktoren des Gelingens gerecht. Denn weder sind Inhalt – 50 Jahre Türken in Deutschland – noch Verkleidung – Türke als Bayer und Bayern als Türken – Themen der Auseinandersetzung. Dabei ist besonders bei Karikaturen die Bestimmung des Verhältnisses von Bild und Text als ein redundantes, interdependentes oder illustratives zentral. Sprich, das Bild von Greser & Lenz ist ohne die Geschichte der Türken in der Bundesrepublik nicht zu lesen und zu deuten. Daher ist im Folgenden die Frage zu diskutieren, um welche Auseinandersetzung es in der Karikaturdebatte eigentlich geht, und warum Inhalt und Verkleidung der Karikatur nicht Thema der deutschen Einwanderungsgesellschaft sein können, wie es der Titel der Karikatur suggeriert? Warum gelingt die Verschränkung der beiden Seiten nicht, die Bindung von Schrift und Bild? Warum ist sehr schnell von Beleidigung auf der einen und Integration auf der anderen Seite die Rede?

3.

Die Historizität des Visuellen in Greser & Lenz’ Karikatur 50 Jahre Türken in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte

Das Bild ist im Unterschied zur Schrift nach Aleida Assmann ein signifikant anderer Vergangenheitsspeicher. Wenn die Schrift als Träger und Vermittler von Geschichte mit Transparenz verbunden war, gilt dies für Bilder und Symbole nicht. Ihre Unmittelbarkeit ist von einer Intransparenz, einer »irreduziblen Ambivalenz« bestimmt. »Wurde die Schrift als unmittelbare Emanation des Geistes interpretiert, so wird das Bild als unmittelbarer Niederschlag eines Affekts bzw. des Unbewussten gedeutet.« (Assmann 2018, 220). Bilder stehen letztlich »der Einprägungskraft des Gedächtnisses näher und der Interpretationskraft des Verstandes ferner« (Assmann 2018, 227). An der Stelle der Kontinuitätsstruktur von Texten und der Schrift steht bei den Bildern vielmehr eine der Kontiguität, der Berührung und Angrenzung, letztlich eine assoziative Logik. Tatsächlich ist genau letztere in der Karikatur von Greser & Lenz signifikant,

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besonders, wenn wir es im Lichte vergangener Bilder und Vorstellungen von Türken in Deutschland in Betracht ziehen. Doch zunächst zur Karikatur von Greser & Lenz. Evident ist zunächst der Ort der Karikatur. Wir befinden uns irgendwo in den Alpen. Diese Verortung wird durch den Schriftzug der Wirtschaft mit »Üzrüms Alpenglück« bestärkt. Auf dem Wirtshausschild findet sich noch ein sichelförmiger Mond und daneben anstelle des Sterns aus der türkischen Nationalfahne ein Blumenkopf. Die Vokalharmonie im Vornamen des Wirts Üzrüm und der sichelförmige Mond weisen klar auf eine türkische Provenienz.19 Diese ergeben aber ohne das »Alpenglück« und ohne den Blumenkopf in diesem Bild keinen Sinn. Denn das Genitiv-S bei Üzrüm zeigt, dass die Alpen und der Wirt zusammengehören. Zudem verweist das Glück darauf, dass der Wirt am Ziel seines Lebens, respektive seiner Migration, angekommen ist. Eine ähnliche Bindungslogik finden wir beim Zusammenkommen des sichelförmigen Mondes, der für den Orient oder die türkische Fahne steht, mit einem Blumenkopf, der die Natur und die bayrischen Alpen in diesem Zusammenhang repräsentiert. Der Blumenkopf bindet das türkische und zugleich orientalische Symbol an die deutschsprachige Gegend. Diese Form der Hybridisierung und zugleich neuartige Verortung nationaler Identitätsmarker wird mit der Alltagsszene unter dem Wirtshausschild noch intensiviert. Wir sehen genau in der Mitte der Karikatur einen Kunden in traditionell bayerischer Tracht, sein Kopf ist rot angelaufen und rechts neben ihm, aber noch zur Mitte des Bildes zugehörig, den Wirt, der sich in einer bayerisch frotzelnden Art bei seinem Kunden darüber beschwert, wie er bloß seine Bestellung falsch aufgeben konnte. Zudem sind Kunde und Wirt sich phänotypisch ähnlich, beide haben einen markanten Schnurrbart und die bayerische Tracht des einen holt der Wirt mit seiner bayerisch ansetzenden Schimpftirade mit »Himmiherrgottsakramentwasgucktsdu?« nach. Während der erste Teil dieses Wortes eindeutig bayerisch ist, verweist der zweite Teil des Wortes mit »wasguckstdu« auf ein Kanakendeutsch, das spätestens mit Kaya Yanars gleichnamiger Comedysendung auf Sat 1 von 2001 bis 2005 als idiomatischer Marker für einen türkischen Hintergrund gilt.20 Während in Yanars Comedysendung die »Kanaken« (Zweite Generation der Türken in Deutschland) wie etwa Hakan, der Türsteher, als von den Deutschen getrennte Stereotypen dargestellt und karikiert werden, gehören sie in Greser & Lenz’ Karikatur zusammen. So greift letztere Bindungslogik selbst 19 Tatsächlich ist die Vokalharmonie für agglutinierende Sprachen wie Türkisch oder Ungarisch charakteristisch. Sie gilt als Lautgesetz im Besonderen für Turksprachen wie Kasachisch, Kirgisisch, Türkisch oder Aserbaidschanisch. Siehe hierzu: Ersen-Rasch, Margerete I. Türkische Grammatik für Anfänger und Fortgeschrittene. Ismaning: Max Hueber Verlag, 1998. 1–2. 20 Siehe hierzu: Best of »Was guckst Du!?« Reg. Kaya Yanar. WVG Medien GmbH, 2004.

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beim Frustausdruck des Wirts. Dieser wird mit der darauffolgenden Aussage »Hassu bestellt Brotzeit mit scharf!« intensiviert und als eine untrennbare identifikatorische Einheit somit festgehalten. Die Bindung von »Brotzeit« und »scharf« zeigt eine Kopplung der Differenz und Hybridisierung, die in der Geschichte der Migration und ihren Folgen äußerst rar ist. In den 1990er Jahren, in der Zeit, in der viele Türken Imbissbuden und Restaurants in Deutschland eröffneten, tauchten unter einer multikulturellen Diktion Verbindungen wie »Currywurst und Dönerkebap« auf. Exemplarisch hierfür steht beispielsweise Cem Özdemirs Sachbuch Currywurst und Döner zur deutschen Ausländerpolitik von 1999. Und tatsächlich wird die Brotzeit auch in Fatih Akins Film Auf der anderen Seite von 2006 als urtümlich deutsches Kulturgut im Zusammenhang einer deutsch-türkischen lesbischen Liebesszene in die Migrationsgeschichte eingebaut. Dass man aber orientalische Produkte sehr wohl noch genießen kann, auch wenn die Brotzeit hier zu scharf ist, beweist die dritte Person im Bild links vom ersten Kunden. Dieser ist ein ebenfalls markant schnauzbärtiger Kunde, der genüsslich eine Wasserpfeife raucht und lediglich Beobachter der Auseinandersetzung zwischen dem Wirt und seinem Kollegen ist. Die Verschränkung von Orient und Okzident wird in der Karikatur von Greser & Lenz aber noch weitergetrieben. Denn neben dem Wirt erblicken wir ein Plakat mit der Programmankündigung für den Abend: »Heute Hüttenzauber mit Bauchtanz«. Während der Bauchtanz in den 1980er und 1990er Jahren als ein ausschließlich orientalisches oder türkisches Kulturgut galt, ist er hier mittlerweile auch schon Teil des deutschen Kulturguts geworden. Und ganz links im Bild sehen wir die Alpen, die im Grenzgebiet zwischen Bayern und Österreich liegen, darunter einen ebenfalls in bayerischer Tracht gekleideten Hirten, der seine Ziegen mit einem Hirtenstock ausführt. Auch hier ist der Konnex von türkisch und deutsch angrenzend und hybrid gebunden, denn in den 1980er Jahren etablierte sich zum einen die Vorstellung in der Bundesrepublik, dass die meisten Türken, die nach Deutschland migriert sind, aus Dörfern gekommen sind, dort mitunter auch Hirten waren. Dass wir in dieser Gegend nicht Kühe, sondern Ziegen sehen, ist hier ebenfalls der transkulturell hybriden Kernstruktur der Karikatur geschuldet. Doch den stärksten Verweis auf die Geschichte der türkischen Migration nach Deutschland und ihren Folgen erzeugt das Verhalten des türkischstämmigen Wirts selbst, das im Zentrum dieser Karikatur steht. Als Anfang der 1980er Jahre der Anteil der ausländischen Bevölkerung bei 4,5 Millionen lag und mit der Familienzusammenführungsphase zwischen 1973 und 1978 der arbeitende Anteil der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik von früher 90 % auf ganze 55 % Prozent schrumpfte, die »Türkenproblem«-Debatten sich häuften, wurden demgegenüber in Filmen, Texten und auch in der Integrationsarbeit positive Vorstellungen von Multikulturalität entwickelt, etwa mittels ausländischen, insbesondere türkischen Figuren, die als äußerst warmherzig und freundlich por-

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traitiert wurden. Beispielsweise als die erste Ausländerbeauftragte der Stadt Berlin, Barbara John, für die türkischen Ausländer im Informationsblatt des Berliner Senats im November 1982 wirbt, macht sie dies mit den Worten, dass sie sehr nett und gastfreundlich seien und dass man sie zu Hause in ihren Wohnungen besuchen sollte.21 Sechs Jahre später erscheint der Film Yasemin von Hark Bohm, der zu einem Lieblingsfilm der Pädagog*innen wird und oft im Deutschunterricht zur Erklärung der Ausländerprobleme in den 1980er Jahren eingesetzt wird. Der türkische Vater betreibt darin einen türkischen Lebensmittelladen und ist in der ersten Hälfe des Films ein über alle Maßen freundlicher und warmherziger Verkäufer. Diese Figur des türkischen Ausländers, der ein Opfer der Umstände ist, verschwindet im Laufe der Geschichte der Migration und wird in den 2000er Jahren von Ladeninhabern ersetzt, die nicht mehr freundlich, sondern entweder an der Wirtschaftlichkeit ihres Geschäfts orientiert sind oder gegenüber deutschen Kunden sogar provozierend und unfreundlich auftreten, wie in dem Grimme-Preisträgerfilm Meine verrückte türkische Hochzeit von 2005 (siehe hierzu Ezli 2013, 203–208). Das heißt, die Karikatur von Greser & Lenz beinhaltet eine Geschichte des Wandels der Migration in der Bundesrepublik, eine Historizität des Visuellen. Sie stellt sie mit einer neuartigen Form von Hybridität dar, die auf einer Geschichte der Interaktion aufbaut. Sie reicht von Vorstellungen, Verortungen, über verwendete Sprache, den Einsatz kultureller Marker, bis zum emotionalen und körperlichen Befinden der Beteiligten und spiegelt ein Alltagsgeschehen wider, das eigentlich im Sinne von Aleida Assmann die Grundlage neuer kollektiver Identitätsbestimmungen bieten könnte. Doch am rechten Rand des Bildes wird diese engmaschige hybride Struktur der Karikatur konterkariert. Dort sehen wir nämlich unter dem Wort »scharf« einen an einer Hundehütte angeketteten Hund, dessen Name Erdogˇan ist. Wenn alle Dinge und Namen in dieser Karikatur in einem hybriden Zugehörigkeits- und Besitzverhältnis stehen, trifft dies für den Namen des Hundes nicht zu. Er steht – außer der manifesten Hundekette – allein und ohne Bindung und wirkt wie ein nicht dazugehöriges Element in der auf sprachliche, symbolische und praxeologische Verschränkung zielenden Logik dieser Karikatur. Und dies aus mehreren Gründen. Zwar haben die Karikaturisten recht, dass Erdogˇan ein verbreiteter türkischer Name ist. Jedoch ist er dies nicht als Vorname, sondern als Nachname. Dass Hunde nach letzterem benannt werden, ist sehr ungewöhnlich. Tatsächlich hätte die Verwendung eines klassischen türkischen Vornamens wie Hakan, Özgür oder Fikret den Hund dann wiederum auch Teil der äußerst hybriden Konstellation des Bildes werden lassen. Denn in der Geschichte der Migration gibt es von türkischer Seite das bekannte 21 Siehe hierzu: »Miteinander – nicht gegeneinander«. Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Hg. Deniz Göktürk et al., Konstanz: Konstanz University Press, 2011. 364–365.

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Stereotyp, dass Deutsche Hundebesitzer sind und Türken nicht.22 Sie gehören für viele Türken wie auch für Araber in den unbewohnten Teil der Gesellschaft. Dieses mögliche Faktum im Bild, der Hund mit seinem türkischen Vornamen, hätte so den Wirt als einen endgültig integrierten ausgewiesen. Dass aber dieses Bild nicht den Weg zu einem Umbruchsnarrativ, zu einem neuen Funktionsgedächtnis vollziehen konnte, zu einem neuen »bewohnten Gedächtnis«, die die 50-Jahr-Jubiläumsfeiern und -filme wie Auf der anderen Seite oder Almanya. Willkommen in Deutschland anbahnten, hat sicher mit der Politik des türkischen Präsidenten zu tun, sicher aber auch mit dem Verhältnis vom Funktionsgedächtnis zum Speichergedächtnis zur türkischen Migration nach Deutschland und ihren Folgen. Äußerst eindrücklich macht dies abschließend die folgende Analyse des Kapitels zur Einwanderung und Integration im Gemeinschaftskundebuch für Gymnasien, in deren Kontext die Karikatur aufgenommen wurde.

4.

Fazit und Schluss

Im vertiefenden Unterkapitel »Wie weit soll Integration gehen?« des ersten Schulbuchkapitels »Einwanderung nach Deutschland. Schwierigkeiten und Chancen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen« im Gemeinschaftskundeschulbuch für Gymnasien der 10. Klassen in Baden-Württemberg findet sich auf Seite 23 die Karikatur von Greser & Lenz rechts oben in einem Kasten (Mattes et al. 2012, 12–39). Links davon lesen wir einen Fließtext, der in die Leitfrage des Unterkapitels einführt. Dort heißt es, dass es »unumstritten ist, dass das Erlernen der deutschen Sprache die wichtigste Voraussetzung für Integration bildet« (Mattes et al. 2012, 23). Was aber darüber hinaus noch zur Integration gehöre, sei umstritten. Am Ende dieser Einführung wird auf zwei Texte in der unteren Mitte der Seite verwiesen, mit denen sich die Schüler beschäftigen sollen. Auf der linken Hälfte der Seite finden wir in einem Kasten den Text mit dem Titel »Multikulturelle Gesellschaft«, daneben auf der rechten Hälfte ebenfalls in einem gesonderten Kasten einen Text mit dem Titel »Deutsche Leitkultur«. Im ersten Text wird das Argument entfaltet, dass Parallelgesellschaften nichts Negatives seien, sondern zur Entwicklung einer Einwanderungsgesellschaft wie in den USA gehören. »Es genügt«, schließt der kurze Artikel mit den Sätzen, »dass Migranten die geltenden Gesetze respektieren, bei Rot an der Ampel halten und einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Alles Übrige ist Privatsache und geht niemanden etwas an.« (Mattes et al. 2012, 23). Im Text im rechten Kasten wird gegensätzlich argumentiert, dass nämlich die Verhinderung von Parallelgesell22 Siehe hier für viele: Banker Bilo. Ertem Egˇilmez. Türkiye: Ulus Video, 1980.

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schaften »eine Querschnittsaufgabe für alle Politikbereiche« sein muss. Integration heißt nach diesem Artikel ein Zusammenleben auf der Werteordnung des Grundgesetzes und der deutschen Leitkultur, »die von christlich-jüdischen Wurzeln und von Christentum, Humanismus und Aufklärung geprägt ist«. Dies sei der Maßstab für eine gelingende Integration, die aus innerer Überzeugung erfolgen müsse. Dabei sei die Einbürgerung als »Abschluss gelungener Integration zu sehen« (Mattes et al. 2012, 23). Nachdem sich die Schüler*innen mit diesen beiden Texten gedanklich beschäftigt haben, folgt als nächste Aufgabenstellung ein Rollenspiel, das visuell zwischen Einführungstext, Karikatur und den beiden Texten zur »Multikulturellen Gesellschaft« und zur »Deutschen Leitkultur« platziert ist. Das Rollenspiel in der Klasse soll folgendermaßen umgesetzt werden. In der Beschreibung dazu heißt es, dass in der Klasse zwei Gruppen gebildet werden sollen. Eine Gruppe der »Einheimischen« und eine Gruppe der »Migranten«. Diese beiden Gruppen sollen zunächst »unabhängig voneinander« arbeiten und können sich dabei »in weitere Untergruppen aufteilen«. Als weiterführende Aufgabenstellung wird verlangt, dass die Schüler*innen sich in ihre Rolle hineinversetzen sollen und aus dieser Perspektive »Erwartungen an die jeweils andere Gruppe stellen sollen«. Dabei sollen möglichst Aspekte wie Sprache, Religion, Beruf, Familie und Politik berücksichtigt werden. Als eine Hilfe bietet die Aufgabe in einem Kasten rechts von der Beschreibung des Rollenspiels, genau unter der Karikatur, Satzanfänge an, mit denen die Schüler*innen innerhalb ihrer eigenen Einheimischen- oder Migrantengruppe die Interaktion beginnen sollen. Dort finden wir Satzanfänge wie, »wir erwarten von Migranten / von Deutschen, dass … / Wir sind bereit, Folgendes zu akzeptieren / uns in folgenden Punkten anzupassen … / Nicht tolerieren können wir / nicht aufgeben können wir …«, die die Schüler*innen komplettieren sollen. Nach dem Rollenspiel wird als letzte Aufgabe am Ende der Seite in diesem Vertiefungsbereich zu Fragen der Integration von den Schüler*innen verlangt, dass die Gruppen erstens ihre Ergebnisse des Rollenspiels präsentieren und die Vorstellungen von Integration vergleichen: »Gibt es Vorstellungen, bei denen sich beide Gruppen einig sind? Gibt es unüberbrückbare Differenzen?« (Mattes et al. 2012, 23).Und die abschließende Aufgabe in diesem Vertiefungsbereich zur Integration fragt nach den Vorstellungen von Integration, die sich in beiden Texten zur »Multikulturellen Gesellschaft« und zur »Deutschen Leitkultur« finden. »Stellt sie dar und diskutiert über die Auswirkungen dieser Modelle auf das Zusammenleben in der Gesellschaft und die Aufgaben von Integrationspolitik« (Mattes et al. 2012, 23). An keiner Stelle wird in diesem Vertiefungsbereich auf die Karikatur eingegangen, die widersprüchlicher zur Aufgabenstellung nicht stehen könnte. Denn eines ist bei der Karikatur überhaupt nicht möglich, nämlich die Trennung des Einheimischen vom Migranten. Wenn die Karikatur

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eindeutig das Gewordensein der deutschen Einwanderungsgesellschaft mit seiner äußerst hybriden Struktur und seiner visuellen Historizität deutlich macht, suggeriert der Vertiefungsbereich erstens, die Bundesrepublik sei erst seit gestern ein Einwanderungsland und zweitens, dass Einheimische und Migranten aufgrund verschiedener Kulturen, Gewohnheiten und Gesetzen sehr leicht und sehr gut voneinander zu trennen sind. Wenn es überhaupt eine Debatte über die Karikatur von Greser & Lenz hätte geben müssen, dann eine Debatte über die Aufgabenstellungen, die keine Bindung zur Karikatur aufbauen, im Gegenteil die Darstellung der Integration in diesem Bild konterkarieren. Der Skandal und das Problem ist nicht der Hund in diesem Schulbuch, das ist in Wirklichkeit ein Nebenschauplatz, sondern zum einen vielmehr, dass das Speichergedächtnis in Form eines Schulbuchs überhaupt kein Verhältnis zum Funktionsgedächtnis aufbauen kann. Und zum anderen, dass überhaupt kein Verhältnis zwischen einem gewordenen Funktionsgedächtnis, dem Gewordensein der deutschen Einwanderungsgesellschaft, und einem entstehenden Speichergedächtnis besteht, dass Migration nun auch Thema an Schulen sein muss. So kann trotz aller gut gemeinten, neu entstehenden Curricula keine Kultur einer Einwanderungsgesellschaft entstehen, wenn kein belastbares Verhältnis zwischen Funktions- und Speichergedächtnis geschaffen wird. Daher hätte das Fehlen dieses Verhältnisses zwischen der Wirklichkeit einer Einwanderungsgesellschaft und den Aufgabenstellungen im Schulbuch der Anstoß zu einer Debatte sein müssen. Doch bis dieses Fehlen der eigentliche Grund von Empörung werden kann, sind noch viele Wege zwischen Gedächtnis, Geschichte und Alltag der Migration und den Institutionen zu gehen. Und letztendlich ist die fehlende Verschränkung von Funktions- und Speichergedächtnis hier mitunter die Grundlage, warum die Affektpolitik eines Recep Tayyib Erdogˇans in der Bundesrepublik greifen kann.

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Bettina Henzler

Geschichte im Blick des Kindes. Zur filmischen Darstellung von zeithistorischen Umbrüchen

»Für mich ist die Entwicklung von Anna ein wenig die Entwicklung des Landes von einer sehr erstarrten Gesellschaft vor 1968 zu einer offeneren Gesellschaft.«1 (Julie Gavras 2006)

Geschichtliche Umbrüche werden in Filmen nicht selten über Kinderfiguren erzählt. Denn Kinder sind selbst Figuren des Übergangs. In Kindheitserinnerungen stehen sie für die Vergangenheit und als Menschen in Entwicklung verweisen sie auf die Zukunft. Kinder verkörpern, wie Vivian Sobchack es formuliert, »the subject of experience and history still to be enacted and inscribed.« (Sobchack 1986, 1) Der kindliche Blick auf historische Ereignisse erlaubt es, diese anders zu erzählen als über kausale Verkettungen wesentlicher Ereignisse, Schlüsselbiografien oder exemplarische Handlungsträger, wie sie in der Geschichtsschreibung vorherrschen und den narrativen Logiken konventioneller Filme innewohnen. Gerade in sozialen und politischen Krisen, wenn stabile Bezugsrahmen verloren gehen und die Welt aus den Fugen gerät, wenn Erwachsene handlungsunfähig oder moralisch diskreditiert werden, treten Kinder als Protagonist*innen auf den Plan. In Kinderfiguren wird das handlungsfähige Subjekt befragt. Als diejenigen, die Umbrüche erleiden, die sie nicht verantworten oder beeinflussen können, stehen sie für krisenhafte Erfahrungen ein. Im Folgenden werde ich dieses Erzählpotential von Kinderfiguren am Beispiel von La faute à Fidel! ([Fidel ist schuld!] Reg. Julie Gavras. Frankreich, 2006) untersuchen, der sich der 1968er Bewegung in Frankreich widmet. La faute à Fidel ist die Verfilmung des Buches Tutta Colpa di Fidel von Domitilla Calamai, der aus Perspektive der neunjährigen Anna von der Politisierung ihrer aus konservativ-bürgerlichen Verhältnissen stammenden Eltern erzählt. Indem Gavras den in Italien angesiedelten Roman auf das Paris der 1970er Jahre überträgt, bezieht sie auch eigene Kindheitserfahrungen als Tochter des politisch enga-

1 »Pour moi l’évolution d’Anna c’est un peu l’évolution du pays, on part d’une société très figée avant 68, à une société plus ouverte.« (Blancaud, Seassaud 2006, o. S.).

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gierten Filmemachers Costa Gavras ein.2 Die Perspektive des Kindes verweist aber nicht nur auf diese autobiographischen Bezüge, sie dient vielmehr dazu – wie ich zeigen werde –, die gesellschaftliche Transformation im Zuge der 1968er Bewegung mit Blick auf das alltägliche Leben als eine Veränderung der Lebensgewohnheiten zu erzählen.

1.

Die Kindheitsperspektive in Geschichtsfilmen

Gilles Deleuze hat als einer der ersten thematisiert, dass der kindliche Blick im Film ein anderes Schauen vermittelt. In Zeit-Bild verwies er auf die Funktion von Kinderfiguren in den Filmen des italienischen Neorealismus, die das Geschehen nicht handelnd beeinflussen können, es dafür aber umso besser »sehen und verstehen« (Deleuze 2015, 14). Diese Kinderfiguren zugeschriebene Haltung ist laut Deleuze charakteristisch für die filmische Ästhetik der Moderne, die sich von kausalen Handlungslogiken und der Überdeterminierung der Bildlichkeit löst, um auf die Schrecken der Kriegs- und Nachkriegsrealitäten zu reagieren. Deleuzes eher beiläufige Bemerkungen wurden vielfach aufgegriffen, um die Funktion kindlicher Perspektiven in Geschichtsfilmen zu erörtern und auszudifferenzieren. David Martin-Jones verweist darauf, dass Kinderfiguren nicht nur im europäischen Kino, sondern grundsätzlich in geschichtlichen Umbruchsituationen hervortreten. Am Beispiel südamerikanischer Filme, die in Kindheitserinnerungen die Militärdiktaturen aufarbeiten, stellt er eine doppelte Perspektivierung fest. Die Position des Kindes, das etwas im Moment erlebt, das es nicht versteht, überlagert sich mit der sinnstiftenden Erzählung und Reflexion der Ereignisse durch den sich erinnernden Erwachsenen, der die geschichtliche Entwicklung kennt (Martin-Jones 2008; siehe auch Stewen 2011, 118–119). Kelleher und Lury verweisen darüber hinaus insbesondere auf die Artikulation des Unsagbaren, des historischen Traumas, das sich in der Präsenz und der Perspektive von Kinderfiguren geltend macht (Lury 2010, 143; Kelleher 1998, 30). In ihrer differenzierten Analyse von Kriegsfilmen weist Lury nach, dass die Perspektive von Kinderfiguren ein nichtlineares fragmentarisches, von märchenhaften Elementen durchsetztes Erzählen legitimiert und das Unfassbare als körperliche Erfahrung vermittelt. Umgekehrt betonen Violle und von Treskow in Hinblick auf die Kin2 Costa Gavras wanderte aus politischen Gründen von Griechenland nach Frankreich aus, wo er ein erfolreicher Regisseur politisch engagierter Filme wurde. Er drehte unter anderem Missing (1982) über den Militärputsch des Generals Pinochet gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende, auf den sich auch La faute à Fidel bezieht. Julie Gavras verweist selbst auf die einscheidende Erfahrung, die Missing für sie bedeutete. (Blancaud und Seassaud 2006, o. S.). Siehe auch die Biografie von Costa-Gavras in: Koebner 2008, 153–156.

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derfiguren des italienischen Kinos auch die Möglichkeit, komplexe Ereignisse zu vereinfachen oder mit einer gewissen Leichtigkeit, einer spielerischen Distanz zu erschließen (Violle und von Treskow 2016, 16–18; vgl. auch Henzler 2018). Die Unterschiedlichkeit dieser Positionen verweist auf die Vielgestaltigkeit von Geschichtsfilmen, denen doch meist eines gemeinsam ist: die kindliche Perspektive legitimiert ein anderes Erzählen. Ich werde im Folgenden am Beispiel von La faute à Fidel einen bisher wenig beachteten, aber umso grundlegenderen Aspekt dieser Erzählperspektive ausführen: die Verschränkung der körperlichen Situierung des Kindes im Raum mit seiner Positionierung zur Geschichte. Der Filmkritiker Béla Balász hat 1924 den kindlichen Blick mit der filmischen Großaufnahme in Verbindung gebracht. Denn beide – so seine These – bedingen eine Verschiebung der Perspektive: Die Kinder kennen die geheimen Winkel des Zimmers besser als die Erwachsenen, weil sie noch unter Tisch und Diwan kriechen können. Sie kennen die kleinen Momente des Lebens besser, weil sie noch Zeit haben, bei ihnen zu verweilen. Die Kinder sehen die Welt in Großaufnahmen. (Balász 2001, 78)

Diese phänomenologisch begründete Verschiebung des Blickwinkels gilt in La faute à Fidel auch für die narrative Perspektive: Wie in anderen Geschichtsfilmen entspricht hier die räumliche Verschiebung des Blicks auch einer Dezentrierung der Narration (vgl. Wiegand 2016). Dies bringt einerseits eine Distanzierung vom historisch relevanten Geschehen mit sich und andererseits eine intime Nähe, insofern über Kinder Geschichte im Alltag und ›am eigenen Leib‹ erfahren wird.

2.

Die Positionierung der Kinderfigur Anna in der Erinnerung an 1968 in La faute à Fidel

La faute à Fidel ist nach dem Mai 1968 angesiedelt, der als Höhepunkt der französischen Studentenrevolte in die Geschichtsbücher eingegangen ist. In Frankreich gingen die Studentenunruhen mit Arbeiterstreiks Hand in Hand, die das ganze Land vorübergehend in einen Ausnahmezustand versetzten und kurzzeitig die konservative Regierung unter General Charles de Gaulle ins Wanken brachten. Wie in anderen europäischen Ländern ging es dabei um die Herausbildung einer Neuen Linken, die für einen grundlegenden Wandel des politischen und gesellschaftlichen Systems eintrat, sich gegen den autoritären Staat richtete und – jenseits des Kapitalismus US-amerikanischer Prägung und des sowjetischen Kommunismus – eine Verbindung von sozialer Teilhabe, Demokratisierung und individueller Selbstbestimmung anstrebte. Es handelte sich dabei um die erste globale Bewegung, die »nicht nur die westliche, kapitalistische Welt, sondern auch die Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Dritte Welt in La-

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teinamerika, Afrika und Asien« erfasste (Klimke 2008, 22). Die streikenden Studierenden solidarisierten sich mit den kommunistischen Befreiungsbewegungen der kolonisierten Länder, wie Kuba, Vietnam, Nordafrika, Südamerika. Zugleich war es ein Generationenkonflikt, der mit dem Aufkommen neuer Jugendkulturen infolge der Konsum- und Mediengesellschaft aufbrach: Entscheidend ist dabei, dass spätestens seit Mitte der 1960er Jahre eine internationale Sprache des Dissenses, die ihren Ausdruck in einem Gemisch von kulturellen und politischen Formen fand, all diese nationalen Differenzen überbrücken konnte. […] Eine internationale, oftmals bereits kommerzialisierte Jugendkultur erschütterte soziale Konventionen, generierte neue kulturelle Ausdrucksformen und alternative Öffentlichkeiten, und ließ dadurch den Eindruck eines fundamentalen kulturellen Wandels entstehen. (Klimke 2008, 25)

Diese komplexe Konstellation einer globalen politischen Bewegung, die als Generationenkonflikt in die Familien hineinreicht, erinnert und perspektiviert der Film La faute à Fidel radikal subjektiv durch ein Mädchen, dessen großbürgerliche Lebensverhältnisse durch die Politisierung ihrer Eltern brüchig werden. Die historischen Veränderungen werden in ihren Auswirkungen auf den Alltag des Kindes inszeniert. La faute à Fidel beginnt mit einem Hochzeitsfest im Garten einer großbürgerlichen Villa. Schon die ersten Einstellungen versetzen uns in die Perspektive des Mädchens Anna (Nina Kervel-Bey). Auf die Aufnahme von Kinderhänden, die versuchen, Orangen mit Messer und Gabel zu zerteilen, folgt ein Anschluss an Anna, die vor einer perfekt zerteilten Orange sitzt und ihren Blick kritisch schweifen läßt (Abb. 1–4). Auf die Frage eines der Kinder, warum ein weiteres dabeisitzendes Mädchen nicht mitmache, stellt sie diese als die spanische Cousine Pilar vor, die nicht französisch spreche. Gegenüber der hinzutretenden Tante (Marie Kremer) urteilt sie: »J’essaye de leur faire apprendre à couper leur fruit comme il faut, mais ils sont pas très doués« [Ich versuche ihnen beizubringen, ihre Frucht richtig zu zerteilen, aber sie sind nicht sehr begabt]. Kurz darauf folgt die Kamera der einen Brautschleier auf dem Kopf tragenden Anna, die beschwingt zwischen den auf dem Rasen verteilten Gästen des Hochzeitsfestes herumschweift. Der Ort der Handlung wird auf Augenhöhe des Kindes erschlossen. Die Erwachsenen geraten nur flüchtig vor, neben und hinter Anna ins Blickfeld, ihre Köpfe sind in den näheren Aufnahmen abgeschnitten, oder evozieren in Untersicht aufgenommen den kindlichen Blick. Das Breitwandformat betont die räumliche Anordnung einer kleinen Figur in einer (unübersichtlichen) Umgebung größerer Menschen.

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Auf den ersten Blick zeigt sich hier ganz im Sinne von Balász eine visuelle Fokussierung auf scheinbar belanglose Details, die Anna wahrnimmt: eine Orange, die mit Messer und Gabel geschält wird; eine Tasse, aus der mit elegant abgespreizten Fingern getrunken wird; der Brautschleier, der auf den Boden gefallen ist (Abb. 5–10). Zugleich ist eine übergreifende Erzählstrategie erkennbar, die das Kind in einem sozialen Umfeld verortet und als Beobachterin und Kommentierende etabliert. Die Positionierung der Kamera auf Augenhöhe und im Blickwinkel des Kindes bedingt eine Beschränkung des Blickfeldes und eine räumliche Dezentrierung in Hinblick auf die Erwachsenen. Diese für Kinderfiguren in Filmen charakteristische Mise en scène wird hier als narrative Strategie zur Vermittlung historisch-politischer Kontexte eingeführt. Diese deuten sich am Ende der Eingangsszene an, wenn Anna ihre Eltern im Gespräch mit Verwandten aus Spanien beobachtet. Eine Einstellung, die den Vater (Stefano Accorsi) mit Tante (Mar Sodupe) und Cousine (Raphaëlle Molinier) im Vordergrund und Anna zuschauend im Hintergrund zeigt, betont deren Rolle als heimliche Beobachterin (Abb. 11). Später blickt sie aus dem Fenster des Herrenhauses auf die Mutter (Julie Depardieu) im Gespräch mit den Verwandten (Abb. 12–13). In beiden Fällen befragt Anna den jeweils anderen Elternteil zu der Situation, beide antworten jedoch ausweichend. Es deutet sich an, dass die spanischen Verwandten von gravierenden Ereignissen betroffen sind: Der Onkel ist tot, Tante und Cousine sind auf der Flucht, weitere Umstände bleiben unklar. Die Zuschauer*innen erfahren nicht mehr als Anna und können sich allenfalls vor dem Hintergrund eines Vorwissens über die spanische Geschichte zusammenreimen, dass es sich hier um Verfolgte des faschistischen Regimes unter dem Diktator Francisco Franco (1936–1975) handelt. Annas Reaktion darauf, dass die Verwandten bis auf Weiteres bei ihnen wohnen werden, ist – vor dem Hintergrund der zögernden und lückenhaften Erklärungen der Eltern – zwar nachvollziehbar, aber unangemessen. Statt Mitgefühl mit den Verwandten zu haben, reagiert sie

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mit Abwehr. Sie möchte nicht, dass die für sie Fremden in ihre Privatsphäre eindringen.

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Die Perspektive des Kindes ist damit von Anfang an in mehrfacher Hinsicht als eingeschränkt und dezentriert markiert. Anna fehlt nicht nur räumlich, sondern auch in Hinblick auf die Ereignisse in der Familie und die geschichtlich-politischen Kontexte der Überblick, sie nimmt diese nur aus der Distanz wahr, als Beobachtende und Fragende. Anna ist eine unwissende und voreingenommene Betrachterin, die überdies durch ihr soziales Umfeld schon habituell geprägt ist. Der soziologische Begriff des Habitus bezeichnet Schemata des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, Lebensstile und Wertehorizonte, die Menschen über ihr soziales Umfeld verinnerlichen und die ihren Geschmack, ihre Gewohnheiten und Verhaltensweisen bedingen (Schwingel 2000, 57–58 ; Bourdieu 1974, 123). Habitus bezeichnet die körperliche Prägung durch die soziale Schicht, aus der jemand kommt und durch die man sich von anderen sozialen Schichten unterscheidet. Bereits die ersten Einstellungen, die wiedergeben, wie sie die Essmanieren der anderen Kinder taxiert, charakterisieren Anna dementsprechend als Vertreterin eines großbürgerlichen Habitus. Das Essen hat – in Filmen, wie innerhalb von Kulturen – häufig eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Der Esstisch ist der Schauplatz, um den sich die Familie versammelt und an dem sie ihre Konflikte austrägt. Gerade in Frankreich wird die Esskultur als wesentliches Element der kulturellen Tradition verstanden, aber auch der sozialen Distinktion. Bourdieu verweist in Die feinen Unterschiede auf die tiefsitzende Prägung der Essgewohnheiten durch »die Welt, in die man hineingeboren wird« (Bourdieu 1987, 141): Im Geschmack für bestimmte Speisen dürfte wohl das von Kleinauf gelernte, das am längsten dem Fernsein oder gar Zerfall der angestammten Welt widersteht und die Sehnsucht an sie wach hält, am stärksten und nachhaltigsten Niederschlag finden […]. (Bordieu 1987, 141)

In Bezug auf die Essgewohnheiten im Frankreich der Nachkriegszeit stellt er eine mit der Hierarchie gesellschaftlicher Schichten korrelierende, zunehmende Distanzierung von den grundlegenden körperlichen und sozialen Funktionen des Essens fest. In den materiell besser gestellten Schichten gewinnt demnach statt der Notwendigkeit die Form des Essens an Bedeutung: Den Formen gemäß, stilvoll speisen ist ein Mittel der Würdigung ebenso der Gäste wie der Dame des Hauses […]. Was in derartigen Formen und Formalismen weiterhin ungehemmt zum Tragen kommt, das ist ein umfassendes Verhältnis zur ›tierischen‹ Natur, zum Vulgären und zu den grundlegenden Bedürfnissen: negiert wird das Essen in seiner ursprünglichen, wesentlich gemeinschaftlichen Funktion und Bedeutung, um es derart zu einer gesellschaftlichen Zeremonie zu stilisieren […]. (Bourdieu 1987, 316)

In La faute à Fidel wird dementsprechend schon in den ersten Einstellungen das Essen nicht als Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses oder eines Gemeinschaftssinns eingeführt, sondern als historischer Ausdruck eines Lebens-

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stils, der andere ausgrenzt. Der Blick von Anna kontrolliert die anderen Kinder, die ihrer Meinung nach die Orange nicht richtig mit Messer und Gabel zerteilen können, was ihre Tante mit einem ironischen »dis-donc, t’as des manières de grande dame« [Du benimmst Dich ja wie eine große Dame, 1:49] kommentiert. Das formvollendete Essen ist hier Ausdruck sozialer Distinktion. Anna fühlt sich den Kindern überlegen, welche die Tischmanieren nicht beherrschen. Schon die erste Einstellung etabliert somit eine Perspektive, die räumlich und sozial situiert ist.

3.

Die Erzählperspektive als räumliche und soziale Situierung

Das Zusammenspiel der optischen Perspektive mit der sozialen und narrativen Situierung der Kinderfigur ist grundlegend für den gesamten Film. In jeder Szene tritt Anna in Erscheinung, die Aktivitäten der Erwachsenen werden ausschließlich in der Auswirkung auf ihr Leben und vermittelt über ihre Wahrnehmung erzählt. Ihre Geschichte bleibt dementsprechend lückenhaft. Wir erfahren weder die genauen Umstände des Todes des spanischen Onkels noch die Gründe, warum die französische Tante, die zu Anfang heiratet, im großbürgerlichen Elternhaus ihres Ehemanns verzweifelt, oder worin das politische Engagement des Vaters, der sich regelmäßig mit chilenischen Exilanten trifft, genau besteht. Stattdessen lernen wir erst nach und nach mit dem Kind die sozialen und historischen Zusammenhänge kennen, und können abhängig von unserem Wissen über die historischen Kontexte das Geschehen einordnen und ›zusammensetzen‹. Die in der Hochzeitsszene eingeführte Familienkonstellation fungiert exemplarisch für die internationalen und familiären Zusammenhänge in der Studentenbewegung: Der Vater stammt aus einem spanischen Adelsgeschlecht, seine Eltern gehören zur Machtelite des faschistischen Regimes unter Franco, gegen das die Schwester mit ihrem Mann unter Einsatz ihres Lebens Widerstand leistet. Die Familie der Mutter gehört zum französischen Großbürgertum, der katholischen Machtelite, welche die konservative Regierung von General de Gaulle unterstützt. Beide brechen im Verlauf des Films mit den politischen Werten ihrer Familien. Der Vater unterstützt die chilenische Regierung unter Allende, ein Hoffnungsträger der Europäischen Linken, der von 1970–1973 auf demokratischem Weg versuchte, in Chile eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Die Mutter engagiert sich in der Frauenbewegung für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Abtreibung. Die Perspektive des Kindes ermöglicht es, diese komplexe Konstellation in Bruchstücken und Fragmenten zu erinnern, sie zu verdichten und zu vereinfachen, ohne eine umfassende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung zu behaupten. Die Unwissenheit des Kindes dient als Vorwand für die »Rekon-

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struktion« eines komplexen historischen Geschehens. Wie es Violle und von Treskow in Bezug auf die Erzählperspektive in Kindheitsfilmen formuliert haben, fesselt die »travail archaeologique« [archäologische Arbeit] die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen, welche wie die kindliche Hauptfigur wissen möchten, was hinter dem Tun der Erwachsenen steckt (Violle und von Treskow 2016, 18). Die räumliche Situierung des Kindes, die immer wieder durch Rahmungen im Bild oder Blicke aus der Distanz betont wird, verweist auf diese dramaturgische Funktion des ›unwissenden‹ Kindes als (heimliche) Beobachterin der in die geschichtlichen Ereignisse verwickelten Erwachsenen. Darüber hinaus geht in La faute à Fidel mit dem Blick aus der Distanz auch eine Kommentierung des historischen Geschehens und der ideologischen Haltungen der Erwachsenen einher. Dieser Zusammenhang wird beispielsweise in einer Szene deutlich, in der Anna und ihre Schulfreundin durch die Tür der Küche ihre Tante und Cousine beim Abendessen beobachten. Die räumliche Distanz versinnbildlicht hier die distanzierte Haltung der beiden Mädchen, ihre von Vorturteilen geprägte Wahrnehmung der »Fremden«, die sich im Wortwechsel offenbart: Elles sont communistes. – C’est quoi? – Filomena dit qu’ils sont rouges et barbues. Mais moi, je crois, que ce sont des gens qui ne craignent pas le seigneur et qui déménagent tout le temps. [Sie sind Kommunisten. – Was ist das? – Filomena sagt, die sind rot und bärtig. Aber ich glaube, das sind Leute, die sich vor Gott nicht fürchten und ständig umziehen. 13:07]

Dieser witzig zugespitzte Kommentar ist charakteristisch dafür, wie Anna heterogene Elemente, Äußerungen anderer und eigene Beobachtungen kombiniert, um sich einen Reim auf das Geschehen zu machen. Sie wiederholt Vorurteile und Erklärungen, die sie von Erwachsenen aufgeschnappt hat, in diesem Fall von ihrem kubanisches Kindermädchen Filomena, die Kommunisten nach der Bezeichnung der kubanischen Guerilla unter Fidel Castro als »Barbudos« [Bärtige] bezeichnet. Die Redeweisen der Erwachsenen verbindet Anna mit ihren eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, wobei Ursache und Wirkungsverhältnisse verkehrt werden: Aus der Flucht von Tante und Cousine schlussfolgert sie, dass Kommunisten ständig umziehen. Diese ›verfälschenden‹ Deutungen charakterisieren nicht nur die Figur Anna und ihre Situation (die vom Verhalten der Erwachsenen betroffen ist), sondern bringen auch zugrundeliegende historische ideologische Konflikte auf den Punkt: hier zwischen Kommunismus und Katholizismus. Die Verweigerung der Tante, ihre Cousine, wie im französischen Großbürgertum üblich, auf eine katholische Privatschule zu schicken, führt sie treffend auf die mangelnde Gottesfürchtigkeit der Kommunisten zurück. Die ›beschränkte‹ Perspektive des Kindes im Film hat also eine kommentierende Funktion, sie dient als ironische Brechung und Befragung der historischen Welt-

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und Fremdbilder, der ideologischen Haltungen der Erwachsenen. Oder, in Bezug auf die Figurenzeichnung formuliert: Anna offenbart in ihren Kommentaren eine sehr genaue Auffassung davon, wie die politische Haltung der 68er-Eltern ihr alltägliches Leben beeinflusst und Veränderung bedingt, gegen die sie sich heftig zur Wehr setzt. So ertrotzt sie sich beispielsweise, gegen den Willen der Eltern, die sie zu einer staatlich-laizistische Schule schicken möchten, weiterhin auf die liebgewonnene von Nonnen geführte Privatschule zu gehen. Wie in der Eingangszene entspricht auch im weiteren Verlauf des Films die körperliche Situierung des Kindes im Raum nicht nur der dramaturgischen und kommentierenden Funktion ihrer Perspektive. Sie definiert auch eine soziale Positionierung, in der sich die innerfamiliäre Konstellation der historischen Konfliktlinien zeigt. Annas großbürgerlicher Habitus zeigt sich dementsprechend in dem Lebensstil, mit dem sie sich identifiziert, und in den Gewohnheiten, an denen sie festhalten möchte. Die Beurteilung der Essmanieren anderer Kinder und die Identifikation mit Kleidung und Gesten der erwachsenen Gäste des Hochzeitsfests, die Ablehnung von »bärtigen« Kommunisten oder von Frauen, die wie »Zigeuner« gekleidet sind, der Widerstand dagegen, in eine kleinere Wohnung zu ziehen oder die katholischen Schule zu verlassen – all dies ist Ausdruck des großbürgerlichen Habitus, den ihre Eltern überwinden möchten. Im Beharren auf dem Gewohnten gerät sie in Konflikt mit ihren Eltern und vertritt die Seite der Großeltern, gegen die sich diese auflehnen. Sie fungiert gewissermaßen als Spiegel oder Richterin der Vergangenheit, vor dem/der sich die Eltern in doppelter Hinsicht verantworten und ihr Verhalten erklären müssen: als Eltern, die manches in der Erziehung falsch machen und als ›Kinder‹, die sich gegen die Werte ihrer eigenen Eltern auflehnen. Mit dieser Erzählstrategie durchbricht La faute à Fidel ein besonders im Geschichtsfilm verbreitetes Kindheitsbild des ›unschuldigen Opfers‹. Kinderfiguren vertreten in Filmen vielfach die Opfer geschichtlicher Ereignisse, und tragen – da sich jede*r mit ihnen identifizieren kann – zur kollektiven Identitätsstiftung bei (Martin 2019, 42; Lury 2010, 107; Stewen 2011, 151). Nicht selten fungieren Kinder auch als Mittlerfiguren, die sich unbefangen und aufgeschlossen gegenüber dem Fremden zeigen und besonders befähigt sind, in andere Lebensweisen hineinzuwachsen (vgl. Henzler 2017). In ihnen verkörpert sich das utopische Versprechen einer Versöhnung verschiedener sozialer oder kultureller Welten, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Überwindung historischer oder sozialer Verwerfungen (Violle und von Treskow 2016, 21). Wie bereits oben erwähnt, wird dem unwissenden Kind häufig, wenn nicht ein ›unschuldiger‹, so doch ein vorurteilsloser oder unvoreingenommer Blick zugeschrieben, der andere Menschen oder historische Ereignisse jenseits moralischer, narrativer oder bildlicher Konventionen erschließt (Martin 2019, 136) und der erlaubt, die Grenzen des Sagbaren und Erzählbaren zu erkunden (Lury 2010, 124; Kelleher 1998, 39).

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In La faute à Fidel stellt das Kind dagegen die normierenden und ausgrenzenden Dimensionen sozialer Ordnungen nicht infrage, sondern vertritt diese selbst. Anna ist kein Motor gesellschaftlicher Erneuerung, sondern vielmehr diejenige, die an der gewohnten sozialen Ordnung festhält. Sie ist auch nicht stumme Zeugin der Ereignisse, sondern vielmehr eine sprechende, die sich wortgewandt den Erwachsenen widersetzt, sie herausfordert und provoziert. Ihre Worte sind ein Brennglas für das, was diese sagen und verschweigen. Gavras verweist selbst darauf, dass es sie gereizt habe, die gerade für die Generationenkonflikte der Studentenbewegung zentrale Figur des aufbegehrenden Jugendlichen umzudrehen: C’était un vrai plaisir d’écriture, car il y a un aspect jouissif à prendre une petite réactionnaire et à la confronter à des parents qui font le cheminement inverse. D’habitude, au cinéma, on voit des adolescents qui veulent s’émanciper face à des parents plus conservateurs. Oui, Anna est un peu chiante, et c’est assez volontaire! [Es war ein echtes Vergnügen, eine kleine Reaktionäre mit Eltern zu konfrontieren, die in die entgegengesetzte Richtung streben. Normalerweise, sieht man im Kino, wie sich Jugendliche von den Eltern emanzipieren, die konservativer sind. Anna, geht einem ein bißchen auf die Nerven – das war so gewollt!] (Gavras 2017, 2)

Das »reaktionäre Kind« ermöglicht es in La faute à Fidel, ein differenzierteres Bild von Kindern verschiedenen Alters zu entwerfen, die – wie auch Erwachsene – ganz unterschiedliche, auch egoistische Verhaltensweisen an den Tag legen. So ist in La faute à Fidel der jüngere Bruder unbefangener, er lässt sich flexibler auf die Veränderungen ein, während Anna, die schon in den großbügerlichen Habitus hineingewachsen ist, an dem festhält, was sie gewohnt ist. Darin äußern sich die Bedürfnisse eines Kindes nach Stabilität und Geborgenheit, seine besondere Verletzlichkeit und Abhängigkeit, sein Verhaftetsein im Alltag. Anna ist zunächst einmal eine glaubhafte Fürsprecherin ihrer selbst. Darüber hinausgehend wird der soziale Wandel über ein Kind erzählt, das sich, sein Weltbild und seine Lebensgewohnheiten verändern muss. Indem Anna dazulernt, erschließen sich auch den Zuschauer*innen nach und nach die Beweggründe der Eltern und die gesellschaftspolitischen Ideen, die hinter ihrem Engagement stehen.

4.

Die Mise en scène des historischen Umbruchs

Der Film vermittelt den gesellschaftlichen Wandel im Zuge der 1968er Bewegung in Frankreich als einen Wandel im Lebensalltag, der in alltäglichen Situationen an wiederkehrenden Orten vorgeführt wird. Dazu gehören die Schule, in der Anna von Nonnen unterrichtet wird und ihre Klassenkameradinnen trifft; das Essen in der Küche, das von den wechselnden Kindermädchen, die in ihren

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Herkunftsländern politisch verfolgt sind, zubereitet wird; die Begegnung mit den Gästen ihrer Eltern im Wohnzimmer; das Schlafzimmer der Eltern als Ort des Familienfrühstücks und so weiter. In der Variation der gleichen Situationen vermitteln sich die Auswirkungen des politischen Engagements auf den Alltag der Kinder wie auch die allmähliche Veränderung von Anna. Diese vollzieht sich nicht nur als ein Lernprozess, im Zuge dessen Anna das Verhalten der Eltern zunehmend besser versteht, sondern auch als eine Veränderung der habituell geprägten Sinneswahrnehmung und Körpererfahrung. Ich werde dies im Folgenden an zwei Motiven aufzeigen, die schon in der Eingangsszene als verknüpft mit der (körperlichen) Erfahrung von Gemeinschaft etabliert wurden: die Bewegung in Räumen und das gemeinsame Essen. Wenn die Kamera in der Eingangsszene Annas unbefangenem Herumschweifen zwischen den Hochzeitsgästen folgt, dann demonstriert sie nicht nur eine Verschiebung der Perspektive, sondern vermittelt auch die Sicherheit und Geläufigkeit, mit der Anna sich im Umfeld der großbürgerlichen Familie bewegt. Im Verlauf des Films wird die Bewegung von Anna durch ihre unvertrauten räumlichen Anordnungen dagegen zum Ausdruck ihrer Verunsicherung. Auf der Handlungsebene zeigt sich dies am deutlichsten durch den Umzug der Familie in eine kleinere Wohnung, da der Vater für sein politisches Engagement die Arbeit als Rechtsanwalt aufgibt. Für Anna bedeutet dies ein Verzicht auf Privilegien. Sie muss das Zimmer jetzt mit ihrem kleinen Bruder und die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit fremden Menschen teilen. Nach den spanischen Verwandten, die bald wieder ausziehen, sind dies Frauen, welche die Mutter für ihr Buch über Abtreibung interviewt, und Männer, die – teilweise auch in Abwesenheit der Eltern – im Wohnzimmer politische Versammlungen abhalten. Annas Fremdheitserfahrung wird schon in der ersten Szene in dieser neuen Wohnung als eine Verunsicherung der räumlichen Wahrnehmung vermittelt. Die ersten Einstellungen zeigen im Dunkeln nackte Füße am Boden, eine Hand, die sich eine Wand entlang tastet, dann Anna vor mehreren Türen, die sie öffnet, ohne den Ort zu finden, den sie sucht, bis sie am Ende eines langen Ganges auf den Vater trifft, der sie ins Wohnzimmer holt und seinen Besuchern vorstellt.3 Der als körperliche Erfahrung vermittelte Verlust der gewohnten Umgebung wird hier zusammengeführt mit dem Eindringen von Fremden in die Wohnung der Familie, die dem von Kindermädchen Filomena heraufbeschworenen Feindbild der »Bärtigen« entsprechen. Das eingeschränkte Blickfeld wird zum Ausdruck 3 Die Szene antwortet gewissermaßen auf eine frühere Nachtszene in der alten Wohnung, in der Anna nachts aufsteht, um auf die Toilette zu gehen: Hier erscheinen in gleicher Reihenfolge Füße, tastende Hände und eine Tür, die Anna öffnet, allerdings sind die Einstellungen distanzierter, sie zeigen Beine und Arm, und die Tür öffnet sich nur einmal zum gesuchten Ort. So wird im Kontrast zur oben genannten Szene betont, dass Anna sich hier auch im Dunkeln zurechtfindet.

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der Verunsicherung. Im Off liegt nicht mehr die vermeintlich vertraute Umgebung, die Anna Schutz gewährt, sondern das Unvertraute, das von ihr als Bedrohung empfunden wird. Dies zeigt sich besonders deutlich in der einzigen bedrohlichen Szene des Films, in der Anna und ihr Bruder von ihren Eltern auf eine Demonstration gegen das Franco-Regime mitgenommen werden. Möglicherweise erinnert der Film hier an Demonstrationen gegen das Regime, die 1975 in Paris stattfanden und auf den Champs-Elysee in Straßenschlachten und Plünderungen ausarteten. Die Beschränkung des Blickfeldes erlaubt es, eine dramatische Situation mit zahlreichen Komparsen ›ökonomisch‹ zu erzählen. Die Aufnahmen auf Augenhöhe des Kindes wirken bedrohlich, gerade weil nicht allzuviel von den Ereignissen selbst zu sehen ist und weil sich das Kind – im Unterschied zu den bisher besprochenen Szenen – nicht frei bewegen kann. Anna ist umstellt von fremden Erwachsenen, deren Köpfe nicht zu sehen sind (Abb. 14–17). Die bedrückende Enge der Demonstration wird zunächst in einer komischen Situation aufgehoben, wenn Anna einen neben ihr stehenden Mann boxt, dieser sich daraufhin zu ihr herunterbeugt und sich freundlich entschuldigt. Bedrohlicher wirken dagegen die im Gegenschuss gezeigten paramilitärisch vermummten und in geschlossener Reihe auftretenden Polizisten, die mit Geschossen und Tränengas gegen die Demonstranten vorgehen. Die zunehmende Vernebelung verstärkt zusätzlich zum engen Bildkader den Eindruck, den Überblick und die Kontrolle zu verlieren. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, als die Demonstranten vor den vormarschierenden Polizisten fliehen und Anna die Eltern kurzzeitig verliert (die Hände lösen sich), bevor ihr Vater sie einfängt und in einen Hausflur zieht.

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In dieser Szene erreicht der Konflikt zwischen dem politischen Engagement der Eltern und dem Bedürfnis der Kinder nach Sicherheit und Geborgenheit den Höhepunkt. Die dahinter stehende Öffnung der Kleinfamilie zum Kollektiv politischer Aktivisten wird in La faute à Fidel unter anderem über den Begriff des »esprit du groupe« [Gruppengeist] verhandelt. Als der Vater zur Enttäuschung der Kinder verkündet, dass sie anstelle des gemeinsamen Sonntagsfrühstücks im Bett der Eltern auf eine Demonstration gehen werden, begründet er dies damit, dass sie lernen sollen, was Gruppengeist sei. Nach der traumatischen Erfahrung der Demonstration arbeitet sich Anna an diesem Begriff ab. Sie probiert ihn in den unterschiedlichsten Situationen aus und deckt dadurch die ideologischen Widersprüche ihrer Eltern auf. Als die Lehrerin beispielsweise im Unterricht fragt, welche Zivilisation älter sei, die römische oder griechische, zeigt Anna, wider besseren Wissens, mit der Mehrheit auf, die für die Römer votiert.4 Später erklärt sie den Eltern empört, dass sie nie wieder Gruppengeist zeigen werde. Auf die Antwort des Vaters, sie verwechsele wohl Gruppengeist mit Herdenmentalität, reagiert Anna mit der Frage: »Comment tu sais, toi, quand c’est mouton, quand esprit de groupe – tu te trompes jamais?« [Woher weißt Du, wann es Schaf und wann es Gruppengeist ist? Täuschst Du Dich nie?, 52:22] Als in einer anderen Szene Vater und Mutter in einigen heftigen Streit geraten, weil diese sich an der Unterschriftenaktion »Manifeste des 343« beteiligt hat, obwohl sie selbst nie abgetrieben hat, fragt Anna diesmal: »c’est ça, c’est l’esprit de groupe?« [ ist das der Gruppengeist, 1:16:49]? woraufhin die Mutter ihr zustimmt und kurz darauf schließlich erklärt, was Abtreibung ist und warum sie sich für das Recht abzutreiben einsetzt.5 Am Begriff des Gruppengeistes vermittelt sich ein Lernprozess, in dessen Verlauf Anna das Engagement der Mutter für die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen und das Engagement des Vaters für den Kommunismus zu verstehen und zu akzeptieren beginnt. Dies zeigt sich am Ende darin, dass sie auch den neuen Freunden der Eltern aufgeschlossener gegenüber tritt und sich anders durch die elterliche Wohnung bewegt. Auf einer Wahlparty für Allende im Wohnzimmer ihrer Eltern spielt Anna mit der Cousine und dem Bruder zwischen den stehenden Erwachsenen Verstecken. Die Beschänkung des Blickfeldes ist hier nicht mehr Ausdruck der Verunsicherung, sondern öffnet ein den Kindern eigenen Spielraum (Abb. 18). Es vermittelt sich die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, 4 In einem Gespräch mit dem Großvater hat Anna zuvor erfahren, dass die griechische Zivilisation älter ist. 5 Das »Manifeste des 343« wurde 1971 vom Nouvel Observateur initiert, von Simone de Beauvoir geschrieben und von teils prominenten Frauen unterschrieben. Im Unterschied zu Westdeutschland (BRD) erfolgte in Frankreich daraufhin bereits 1974 eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Die Abfolge der Ereignisse, Demonstration und Unterschriftenaktion, entsprechen im Film nicht den historischen Ereignissen.

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mit der sich die Kinder zwischen den mittlerweile vertraut gewordenen Fremden bewegen: das linke Kollektiv hat die großbürgerliche Familie ersetzt. Anna ist hier nicht mehr allein in ihrer arroganten Identifikation mit dem bürgerlichen Habitus, sondern sie teilt den Raum mit anderen Kindern, vor allem mit der Cousine, die sie zu Anfang noch befremdet beäugt und ausgegrenzt hat.

(Abb. 18)

Diese Veränderung des Habitus wird in La faute à Fidel auch über das Motiv des Essens erzählt. Ich bin eingangs bereits darauf eingegangen, dass in der Eingangsszene nicht die gemeinschaftsstiftende Dimension des Essens, sondern vielmehr die soziale Distinktion durch Essmanieren dargestellt wird. Auch im weiteren Verlauf des Films ist Annas Ablehnung des Fremden verbunden mit ihren Essgewohntheiten. So weigert sie sich, das von den neuen Kindermädchen, die auf die antikommunistische Filomena folgen, bereitete fremdartige, griechische und vietnamiesische Essen zu essen. Diese Abwehr des (kulturell) Fremden wird in einer Szene gebrochen, die auch visuell spiegelverkehrt zu der Eingangsszene angelegt ist. Anna konfrontiert darin die bärtigen Männer, die sie des Nachts im Wohnzimmer ihrer Eltern antrifft, mit den aufgeschnappten Vorurteilen gegenüber »Barbudos« und Kommunisten. Die Situation beginnt mit der Detailaufnahme ihrer Hände neben einer perfekt mit Messer und Gabel geschälten Orange. Diesmal ist es nicht ihr Blick, der die anderen taxiert, sondern die verwunderten Augen der um den Tisch gruppierten Männer ruhen auf ihr (Abb. 19–21). Anna schleudert ihnen die Frage entgegen, ob sie »barbudos« seien. Auf die Rückfrage, was sie davon wisse, antwortet sie: »ce sont des communistes qui veulent la guerre nucléaire. Et ma grand-mère, elle, elle dit, qu’ils veulent prendre notre argent et nos maisons« [das sind Kommunisten, die den Nuklearkrieg wollen. Und meine Großmutter, die sagt, dass sie uns unser Geld und unsere Häuser wegnehmen wollen, (58:26)]. Daraufhin erklärt ihr einer der Männer den Kommunismus als Prinzip des Teilens. Er zerteilt dafür eine

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Orange mit der Hand und reicht Anna ein Stück (Abb. 22–24). Sie zögert, bevor sie dieses annimmt und probiert. In diesem Moment wird nicht nur ihr kapitalistisches Weltbild infragegestellt, sondern auch ihre Essgewohnheiten. Das Essen ist hier nicht mehr »gesellschaftliche Zeremonie«, sondern es stiftet eine Gemeinschaft: Es wird nicht mit Messer und Gabel, sondern mit den Händen geteilt und aus den Händen anderer entgegengenommen. Das Essen der Orange wird zum Sinnbild für den Wandel des Habitus, der mit einer Öffnung zum Fremden einhergeht.

(Abb. 19)

(Abb. 20)

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(Abb. 21)

(Abb. 22)

(Abb. 23)

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(Abb. 24)

Das verständnislose Kind, das von der Vergangenheit ihrer Familie nichts weiß und die Solidarität mit den Verwandten aus Angst vor dem Verlust der eigenen Privilegien verweigert, durchläuft somit einen Lernprozess, an dessen Ende sie sich Fremden öffnet und Verständnis für die Eltern aufbringt: für das Engagement der Mutter, die ein Interviewband mit Frauen, die abgetrieben haben, veröffentlicht, und für die Enttäuschung des Vaters, dessen politischer Kampf angesichts des Militärputschs in Chile scheitert. In der letzten Szene des Films geht sie auf eine neue Schule und läßt damit (auf eigenen Wunsch) die katholische Erziehung hinter sich. Die letzte Einstellung zeigt den Pausenhof in Aufsicht, Anna reiht sich in einen Kreis Mädchen ein, die einander an der Hand halten. Haben die ersten Aufnahmen in der Privatschule in den geraden Linien der Schulbänke die Strenge, Hierarchie und das Konkurrenzdenken betont, so tritt hier im planparallel aufgenommenen Kreis der »Gruppengeist« in Erscheinung. Bildlich vermittelt sich Annas neu gewonnene Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und die Gemeinschaft mit anderen zu suchen (Abb. 25–26).

(Abb. 25)

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(Abb. 26)

Mit diesem Schlussbild wird nahegelegt, dass die Revolution – als grundlegende Veränderung des gesellschaftlichen Systems – zwar gescheitert ist, aber ihr Geist in den nachkommenden Generationen weiterlebt. Die Figur des Kindes steht damit auch in La faute à Fidel für die grundlegende Veränderung der Lebensverhältnisse im Zuge der 1968er Bewegung. Dieser Umbruch wird nicht nur – wie meine Analyse gezeigt hat – als ein zunehmendes Verstehen der Eltern, als fiktiven Akteuren der geschichtlichen Ereignisse – inszeniert. Vielmehr wird er als eine Veränderung der individuellen Gewohnheiten und Körpererfahrungen dargestellt: Diese Veränderung zeigt sich in der Selbstverständlichkeit, mit der Anna sich nun durch unbekannte Räume bewegt und dem Fremden begegnet, kurz: im Wandel des Habitus als der individuellen Verkörperung sozialer Strukturen.

5.

Fazit

Wie andere Geschichtsfilme setzt La faute à Fidel die Figur Kindes ein, um Geschichte aus subjektiver Perspektive zu erzählen und so das anzusprechen, was in der offiziellen Erinnerungskultur kaum thematisierbar ist. Gavras erklärt dementsprechend ihren Wunsch, ein Kind als Hauptfigur einzusetzen, wie folgt: »En France […] c’est très difficile de parler de cette époque.« [In Frankreich […] ist es sehr schwierig über diese Epoche zu sprechen.] (Lavoie 2017, 2) Die Beschränkung auf den Blick von Anna bedingt dabei eine räumliche und narrative Dezentrierung, welche der Außenseiterposition eines Kindes entspricht, das die historischen Ereignisse, die es betreffen, nicht überblickt. Die geschichtlichen Ereignisse, in die das fiktionale Handeln der Eltern verwoben ist, werden aus verschobenem Blickwinkel wahrnehmbar: in ihren Auswirkungen auf den Alltag.

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Diese Strategie des Erzählens deckt sich im Fall von La faute à Fidel mit Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft, die ebenfalls das ›Scheitern‹ der politischen Revolution und die langfristige Veränderung der soziokulturellen Verhältnisse hervorhebt: Die rebellierenden Gegeneliten der 1960er Jahre stellten den geopolitischen Realitäten des Kalten Krieges somit eine eigene, transnationale Schicksals- und Wertegemeinschaft gegenüber, die eine wichtige Rolle als Wegbereiter soziokultureller Veränderungen in ihren eigenen Ländern spielen sollte. Denn es waren zumeist die Jahre und Jahrzehnte nach 1968, in denen die durch die Protestbewegungen popularisierte, alltagskulturelle Liberalisierung in vielen Ländern eine breite gesellschaftliche Basis erreichte und Neudefinitionen von Öffentlichkeit, demokratischer Partizipation und individuellen Freiheitsrechten nach sich zog. (Klimke 2008, 27)

Wie Lury dargelegt hat, motivieren Kinderfiguren häufig den Bruch mit den Konventionen filmischen Erzählens. Über ihre Blicke wird etwas vermittelt, das sich der Sinnstiftung entzieht, wobei sich auch die leibliche Erfahrung, das in die Körper eingeschriebene Trauma, geltend macht (Lury 2010, 125–144, vgl. auch Henzler 2020b). La faute à Fidel ist weniger radikal, da sich hier die vom Kind nicht verstandenen Kontexte nach und nach erschließen. Fremdheit ist nicht existenziell, sondern wird durch das Kennenlernen des Anderen überwunden. Wenngleich der Film in den Grenzen des konventionellen Erzählens verbleibt, gelingt ihm dennoch ein origineller Blick auf die Verschränkung von Kindheit, Umbruchs-Geschichte und deren Erinnnerung. Einerseits tritt das Kind hier nicht als »stumme« Zeugin der Vergangenheit, sondern als freche Kommentatorin in Erscheinung, die nicht nur die politisch-historischen Haltungen der Erwachsenen befragt, sondern vor allem auch die eigenen Bedürfnisse unverblümt artikuliert und damit zum Sprachrohr der Erinnerung einer Generation wird, welche die historische Politisierung der Eltern miterlebt hat. Andererseits wird die körperliche Erfahrung selbst als sozialhistorisch überformt vermittelt. Das Kind fungiert nicht als Gegenfigur zu den erstarrten historischen Habitualisierungen der Erwachsenen, sondern erweist sich selbst als bereits von ihrem Umfeld in ihren Gewohnheiten geprägt. Dies erlaubt eine differenziertere Erinnerung an 1968 und macht den historischen Umbruch auch als eine Wandlung der Lebensweisen nachvollziehbar.

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Monika Wolting

Der Krieg um den Berg Karabach in Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012)

Am 27. April 2016 berichtet Die Zeit von heftigen Kämpfen zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen, die entlang der gesamten Waffenstillstandslinie um Berg Karabach erneut begannen (Smolnik und Halbach 2016). Der Beitrag von Franziska Smolnik und Uwe Halbach wird mit einem Foto ergänzt, auf dem armenische Soldaten während der Kämpfe in Berg-Karabach am 3. April 2016 gezeigt werden. Die Aufnahme zeigt den Moment, in dem zwei Soldaten eine Rakete in die aserbaidschanische Richtung abfeuern. Die Autoren berichten weiter von über 90 Todesopfern, darunter auch Zivilisten, und Dutzenden Kriegsvermissten auf beiden Seiten, die auf die jüngste Eskalation zurückgehen. Das veröffentlichte Bild inszeniert militärische Macht und brutale Gewalt, die in einer Wohngegend, wo Zivillisten zu vermuten sind, ausgeübt wird. Der Text bestätigt den so gewonnenen Eindruck von Stärke der Angreifer mit der Feststellung, dass im Verhältnis zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsgröße die Armenier und Aserbaidschaner um den Berg-Karabach weltweit einen der höchsten Militarisierungsgrade aufweisen. Eskalationen dieser Art wie militärische Konflikte oder Bürgerkriege werden zunächst journalistisch in Form von Bild und Bericht eingefangen. Im nächsten Schritt greifen auch literarische Texte gegenwärtige Vorgänge, Ereignisse und Themen auf und stellen sie in der Öffentlichkeit zur Diskussion, um zu verhindern, dass sie aus dem ›lebendigen Gedächtnis‹ entfernt werden. Es wird in dem Beitrag davon ausgegangen, dass das System Kultur und seine künstlerischen Hervorbringungen wie literarische Texte, künstlerische Objekte oder Fotos als besondere Orte von Störungen (vgl. Schüttpelz 2002; Kümmel 2005, 230) gelten können und zudem als bevorzugte Medien solcher Störungen benannt werden können, da sie bei aller gewollten Nähe zur Realität in ihrer Darstellung als subjektiv gelten (vgl. Koch et al. 2011). In den nachfolgenden Überlegungen soll nun ein spezielles Problem im Zentrum stehen: Es geht um Fragen nach der literarischen und medialen Diskursivierung, Inszenierung und Funktionalisierung von ›lebensweltlichen Störungen‹, die durch die Einflussnahme des Krieges – hier: um den Berg Karabach – in der Gesellschaft präsent geworden sind. Im

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Abb. 1: Armenische Soldaten während der Kämpfe in Berg Karabach am 3. April.

Mittelpunkt steht also die Rolle der Künste bei der ›Verarbeitung‹ von existentiellen, individuellen Krisensituationen der dort lebenden Menschen wie auch der Kriegsgeflüchteten. Um das Thema des dort stattfindenden Krieges etwas näher zu erläutern, wird im Weiteren ein kurzer Abriss über die Ereignisse, die zu dem Konflikt geführt haben sollen, gegeben. Die territoriale Zuordnung Aserbaidschans als Teil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geht auf einen Bürgerkrieg und die anschließende Eroberung des Territoriums durch Bolschewiki im Jahre 1920 zurück. Am 18. Oktober 1991 wurde Aserbaidschan mithilfe von Befreiungsbewegungen wie der Volksfront Aserbaidschans von der Sowjetunion unabhängig. Das durch die militärischen Auseinandersetzungen entstandene Chaos führte in den ersten Jahren der Unabhängigkeit zu massiven gesellschaftspolitischen Problemen und Migrationsbewegungen. Bei den Migrantengruppen handelte es sich um Armenier, Aserbaidschaner, Russen, Georgier und Juden (vgl. Rau 2009). Die obigen Ausführungen machen deutlich, wie kompliziert und auch historisch undurchsichtig solche Konflikte sind. Folglich tritt an die Stelle, wo das kulturelle Gedächtnis (institutionalisiertes Gedächtnis) nach Eindeutigkeiten sucht, die Literatur, die das Individuelle in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Um diesen Vorgang zu erörtern, wird in einem ersten Schritt der Fokus der Analyse auf die literarische Imagination des Krieges gelegt. Der deutschsprachige Roman von Olga Grjasnowa Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) wird hierbei als Beispiel herangezogen. In einem zweiten Schritt wird auf die Bilder

Der Krieg um den Berg Karabach in Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt

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internationaler Künstler eingegangen, die in dem Blog von Maxim Mirovich veröffentlicht wurden, und an diesem Beispiel die fotografische Inszenierung des Krieges untersucht. Diese Überlegungen führen schlussendlich zu einer vergleichenden Analyse beider Formate. Dabei wird das Augenmerk stets auf die Verarbeitung der individuellen Schicksale der Menschen gerichtet.

1.

Künstlerische Inszenierungen des Krieges

Die Anfänge des Krieges um Berg Karabach fanden ihre literarische Darstellung unter anderem im Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt von 2012 der aus Aserbaidschan stammenden deutschen Autorin Olga Grjasnowa. Im Text wird in einigen Passagen eine literarische Vision des Konflikts zwischen den Armeniern, Aserbaidschanern und Russen an der südlichen Peripherie der UdSSR, der in den 1980er Jahren erneut an Gewaltpotenzial zugenommen hatte, geschildert. Der Roman eröffnet einen lokalhistorischen Blick auf ethnische Konflikte und den Separatismus in umstrittenen Randlagen des Imperiums zu einer Zeit, als ein Kampf um die Reform oder Zerstörung der Sowjetunion tobte und sich anschließend Nationalstaaten formierten. Zu demselben Thema schreibt Maxim Mirovich auf seinem Blog maxim-nm.livejournal.com eine Chronik der ersten Tage des Krieges, den er mit zahlreichen Bildern dokumentiert. Am 17. Dezember 2016 veröffentlicht Mirovich den Beitrag unter dem Titel: »Война в Карабахе, как это было« [Krieg in Karabach, wie war es?].1 Der Blog-Eintrag entstand in Verbindung und als Reaktion auf die Inhaftierung von Alexander Lapshin, einem israelisch-russischen Blogger, der während seiner, nach Meinung der aserbaidschanischen Behörden, illegal unternommenen Reise zum Berg-Karabach, ins Gefängnis kam. Dem Blog wurden Fotos internationaler Künstler und Fotografen, z. B. des Londoner Fotografen Georges de Keerle, des iranischen investigativen Journalisten Kaveh Kazemi, des russischen Fotografen Igor Gavrilov oder des TIME-Fotografen Robert Nickelberg beigefügt. In diesem Beitrag wird es en détail darum gehen, die literarisch evozierten Bildimaginationen wie auch die Fotografien auf Mirovich Blog als Inszenierungen der Kriegsgeschehnisse zu untersuchen. Dabei werden diese Inszenierungen theoretisch mit der Kategorie der Störung verbunden. Künstlerische Werke eröffnen neue Diskussionsmöglichkeiten und verschaffen eine andere Öffentlichkeit für politisch oft unbequeme Themen und Inhalte. Die Vorstellungen, die ein Publikum bzw. eine breitere Öffentlichkeit von zeithistorischen Ereignissen bekommt, basieren neben schriftlicher Fixierung zu einem Großteil auf Bildern aus der bildenden Kunst, der Fotografie und des 1 Alle Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, von Monika Wolting.

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Films. Es handelt sich dabei um Bilder, die zum einen die Faktualität des Krieges einzufangen versuchen, zum anderen um solche, die den Krieg inszenieren und entsprechend nach ihrem Ausmaß der Inszenierung und Abstraktion zu befragen sind. Text wie auch Bild gehören zu medialen Produktionen, die eine subjektive Geschichte erzählen und immer einen Urheber haben, ob es der Erzähler oder der Fotograf (bzw. der Maler in vergangenen Zeiten) ist. Ihre Funktion ist es, eine Geschichte vom Gesehenen, Erlebten oder Gedachten zu erzählen und sie so ins ›lebendige Gedächtnis‹ zu rücken. Die Realität wird mediatisiert und in dieser Form an die Gesellschaft als Grundlage für Einstellungen und Verhaltensweisen weitergegeben. Das großangelegte, unordentliche und komplexe Ereignis eines Krieges entzieht sich prinzipiell einer ganzheitlichen Repräsentation. Es geht immer um eine ästhetisch plausible Reduktion eines Totalphänomens auf eine erzählbare oder darstellbare Sphäre von Kleingruppen an begrenzten Orten in einer real fassbaren Zeit. Der Akt der Begrenzung der Zeit und Einschränkung des Personals sowie der Handlung sind Bedingung dieser Erzählung (Wolting 2019). Aus diesem Grund lässt sich mit Gerhard Paul behaupten, dass die »medial vermittelten Bilder […] weniger Repräsentationen des Krieges als vielmehr Abstraktionen, Projektionen, Fiktionen sowie bewusste Inszenierungen und Manipulationen sind, hinter denen das wirkliche Gesicht des Krieges verschwindet« (2009).

2.

Literarische Inszenierung des Berg-Karabach-Krieges

Der Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt spielt auf der Gegenwartsebene in Deutschland (Frankfurt a. M.) und in Israel (Tel Aviv) und auf der Vergangenheitsebene in Baku der 1990er Jahre. Die Hauptprotagonistin Mascha ist mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling aus Aserbaidschan im Jahr 1996 nach Deutschland gekommen, zur Zeit der Romanhandlung studiert sie Fremdsprachen, arbeitet als Übersetzerin und bereitet sich auf eine Prüfung zur EU-Dolmetscherin vor. Den historischen Hintergrund des Textes bilden der Nahostkonflikt, die postsowjetischen Bürgerkriege und die schonungslose Auseinandersetzung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern um Bergkarabach. Grjasnowa spricht offen die Themen an, die sich aus dem unmittelbaren Erleben von Massakern und Pogromen ergeben. Von besonderer Wichtigkeit scheint für die Autorin die Darstellung der Kriegstraumata, die aus der Erfahrung neuer Bürgerkriege resultieren. Weitere zentrale Themen des Romans kreisen um Globalisierung, migrantische Identität, Heimatlosigkeit sowie das Fremdsein in Deutschland. Der Anfang der erzählten Geschichte im Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt wird durch eine massive Störung in Maschas Leben gekennzeichnet: Infolge

Der Krieg um den Berg Karabach in Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt

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eines komplizierten Beinbruchs stirbt Elias, Maschas Freud. Auf der Vergangenheitsebene, die in Form von Erinnerungen eingebaut ist, werden in den Roman die Geschichte der Herkunft Maschas, ihre Erlebnisse in Aserbaidschan und die allgemein zugänglichen historischen Rahmendaten der Abtrennung Aserbaidschans von der Sowjetunion und Armenien eingeflochten. Die ästhetische Form der Störung ist ein konstitutives Prinzip des Romans. Der Roman beginnt mit einer Äußerung der Ich-Erzählerin Maria Kogan (genannt Mascha): Ich wollte nicht, dass dieser Tag begann. Ich wollte liegenbleiben und weiterschlafen, aber durch die weit geöffneten Fenster drangen in unser Schlafzimmer das Lachen der Gemüseverkäufer und das Rattern der Straßenbahn. (Grjasnowa 2012, 9)

Der Einstieg in den Roman markiert bereits eine Verneinung, einen Widerstand, gegenüber dem Selbstverständlichen des Alltags. Die äußeren Umstände erweisen sich stärker als der Wille der Protagonistin und drängen in ihren privaten, geschlossenen Lebensraum ein. So ist dem Romananfang Maschas Verweigerung den äußeren Einflüssen gegenüber zu entnehmen. Man wird in diesem Fall von einer reservierten Haltung eines Menschen sprechen, dessen Erfahrungshintergrund auf negativen Erlebnissen beruht. Zu den verstörenden Momenten, die Mascha in ihrer Kindheit und frühen Jugend in Aserbaidschan zuteilwurden, schweigt die Protagonistin. Auch ihre Eltern verweigern sich, von den verstörenden Erlebnissen in Aserbaidschan zu erzählen: Der zweite Abend wurde melancholisch, meine Eltern saßen auf dem Sofa und erinnerten sich an das Glitzern der Meeresoberfläche in der Bucht von Baku, an die Ausflugsdampfer […]. Es waren fast nur schöne Erinnerungen, die sie aufgehoben hatten. Sie vergaßen absichtlich Korruption, die Nationale Front und die kilometerlangen Schlangen vor leeren Lebensmittelgeschäften und westlichen Botschaften. (Grjasnowa 2012, 54)

So lässt sich hier unter Bezug auf erinnerungstheoretische Fragestellungen behaupten: Es wird hauptsächlich das erinnert, was dem eigenen Selbst, der eigenen Identität Stärke verleiht; das Traumatische, Verstörende wird nicht erinnert, es wird vergessen beziehungsweise verdrängt. Die Figuren des Romans verweigern sich Erinnerungen an Geschehnissen, die ihr Leben in Baku vernichtet haben. Mascha konstatiert einen erzwungenen Prozess des Vergessens, der für sie bereits in Baku eingesetzt hatte: »Flüchtlinge aus Bergkarabach kampierten in Decken gewickelt in Parks, einige waren verstümmelt. […] Ich spielte indessen mit Puppen und übte Vergessen« (Grjasnowa 2012, 49). Mascha hat die traumatischen Erlebnisse nicht vergessen, aber sie erinnert sie nicht gern, denn für den Prozess des Erinnerns ist die Aufgabe grundlegend, dass Menschen versuchen, vergangene Erlebnisse in ein sinnstiftendes Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart zu bringen, weil es nur auf diesem Wege möglich wird, das Ich zu stärken. Ulrich

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Beck stellt fest, dass der Umgang mit den »globalen Unsicherheiten und den damit verbundenen Affekten, Ängsten und Schockerlebnissen« zu »einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation« geworden ist (Bauerkämper 2012). Dieses Verschweigen der existenziellen Geschehnisse, die einen beträchtlichen Einfluss auf den Lebensweg der Protagonistin ausübten, führt mehrmals zu Konflikten mit ihrem Lebenspartner Elias. Elias fordert Mascha des Öfteren dazu auf, ihm ihre Geschichte zu erzählen: »›Wieso sagst du mir nicht endlich, was mit dir passiert ist? Ihr seid doch 1996 ausgewandert, als es nicht mehr sein musste.‹ ›Nicht mehr sein musste. Was weißt du schon […]. Du hörst dich an wie das Auslandsamt‹« (Grjasnowa 2012, 41). Mascha hatte es vermieden, ihre Identität auf dem Flüchtlingsschicksal, auf den Bürgerkriegserlebnissen, auf der nationalen und religiösen Herkunft aufzubauen: »Ich wollte nicht, dass ein Genozid nötig ist, um mich zu verstehen« (Grjasnowa 2012, 150). An ihre Geschichte, die sie nach einem heftigen Streit mit Elias dann doch bereit ist zu erzählen, tastet sie sich sehr vorsichtig heran. An dieser Stelle ist es interessant, die discours-Ebene des Erzählens etwas genauer zu untersuchen. Für die erste Eröffnung ihres Schicksals vor Elias benutzt Mascha die Märchenform. In diesem Märchen erzählt Mascha die Geschichte eines Mädchens, das sie einmal war. Damit erreicht sie den nötigen Abstand, um über traumatische Erfahrungen sprechen zu können. Olga Grjasnowa baut die Rede der Figur in der Form einer heterodiegetischen Erzählerin auf, die die intern fokalisierte Erzählperspektive eines Kindes annimmt. So kann für Mascha der Abstand zu den Erlebnissen des Mädchens gewährleistet werden und sie ist im Stande über verstörende Erfahrungen zu sprechen. Es gab ein Kind, und es gab einen Vater. Der Vater wollte das Kind in Sicherheit bringen. Bis zu Großmutters Wohnung mussten sie zehn Minuten laufen. Das Kind war noch keine sieben und spürte, dass sich in den letzten Tagen etwas verändert hatte, aber es hätte nicht sagen können, was. Daran dachte das Kind als eine Frau neben ihm aufschlug. Das Blut rann langsam bis zu den Kinderschuhen, und die Schuhspitzen des Kindes färbten sich rot. Das Blut war warm und die Frau war jünger, als ich es heute bin. Das Kind wischte sich die Haarsträhne aus dem Gesicht und Blut blieb an seiner Wange. Es hätte schlimmer kommen können, sagte die Großmutter am späten Abend, während sie die Blutkruste von den Kinderschuhen abwusch. (Grjasnowa 2012, 42–43)

An dieser Stelle wird dem Leser eine doppelte Inszenierung eines Ereignisses aus dem Krieg präsentiert. Denn die Geschichte wird durch eine neu in den Roman eingeführte Erzählinstanz dargeboten. Mascha versetzt sich in eine neue Rolle und entwirft eine Erzählung, in der die Erlebnisse von früher nicht kommentiert werden und nicht mit ihrem gegenwärtigen Wissen ergänzt werden. Es soll eine realitätsnahe und wahrhaftige Erzählung über das traumatische Ereignis eines Mädchens entstehen. Die äußere Form des Textes verhilft der Entstehung des Anscheins, dass es sich um ein nicht verfälschtes Dokument der Vergangenheit

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handelt. Es wird ein Bild inszeniert, in dem individuelle Erfahrungen und Empfindungen einer Protagonistin zum Vorschein kommen. In diesem Zusammenhang wäre auch ein anderer Zugang zur Form des Textes denkbar. Denn die Märchenform verdeutlicht auch, dass es sich um eine inszenierte Form der Realitätswiedergabe handelt, die symbolisch das Erlebte überformt. So könnte das Märchen auch eine Imaginationsfläche für das individuelle Trauma und die Unmöglichkeit des individuellen Erzählens sein. Aus dem Textkontext wird aber deutlich, dass Mascha nach einer Möglichkeit und Form ringt, Elias ihre individuellen Erlebnisse mitzuteilen. Die Zeit der 1990er Jahre in Baku ist aus Maschas Gedächtnis nicht gelöscht, sie kann auf die Bilder zurückgreifen und sie werden durch eine Situation, in der Mascha eine Gruppe Jugendlicher beobachtet, erneut ins Gedächtnis gerufen: Der Himmel war düster, an den Bahnsteigen warteten Pendler, völlig identische Schülergruppen stiegen ein und aus. […] Ich konnte mich nicht auf meine Karteikarten konzentrieren und beobachtete die Schüler. Die Jungs waren alle nach der SozialbauMode gekleidet. Die Mädchen nutzen Displays ihrer Mobiltelefone als Spiegel […] Ich war froh, dass meine Jugend zu Ende war. Offiziell gehörten wir zum Kontingent jüdischer Flüchtlinge […]. (Grjasnowa 2012, 44)

Es folgt eine längere Passage, in der sich Mascha an die politische Situation und die damit verbundenen Momente aus ihrem eigenen Leben erinnert. Olga Grjasnowa greift auch hier zu einer neuen Erzählform in diesem Roman, sie verankert das fiktionale Erzählen der Protagonistin Mascha in einem faktualen Netz von historischen Ereignissen der Unabhängigkeitsbewegung am südlichen Rande der Sowjetunion seit dem Ende der 1980er Jahre. Das Verfahren der Autorin ist nicht kompliziert, aber effektiv: Dem Unabhängigkeitsbestreben Aserbaidschans, das seit Anfang 1987 in Gang kommt, fügt sie fiktive Schilderungen meist verstörender Momente aus dem Leben von Mascha oder auch fiktive Geschichten aus dem Leben anderer fiktiver Figuren hinzu. Dieses Verfahren ähnelt dem Kalendarium im Mirovich-Blog. Auch hier werden kurze Texte zu geschichtlichen Ereignissen über Bilder, die einzelne Personen und Ereignisse zeigen, ergänzt. Die Fotos bekannter Fotografen erzählen ebenfalls individuelle Geschichten von Menschen, die im Krieg leben und handeln. Das ›Wie‹ generiert in diesem Fall das ›Was‹ des Erzählens. In Grjasnowas Text wird dies wie folgt realisiert: Am 20. Februar 1988 verkündete das Autonome Gebiet Bergkarabach seinen Austritt aus der damaligen Aserbaidschanischen Sowjetrepublik. Es kam zu ersten Zusammenstößen, die ersten Aserbaidschaner mussten fliehen. […]. Ich war mit meiner Mutter auf dem Weg zum Konservatorium, als die ersten Gerüchte Baku erreichten. […] ›Wenn du fundukh sagen kannst, bist du ein Muslim. Dann ist alles gut.‹ Meine Mutter erklärte mir, Aserbaidschaner und Armenier würden das Wort unterschiedlich aussprechen. […] Etwa 30 Menschen starben während des Pogroms. (Grjasnowa 2012, 48)

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Durch dieses Verfahren stellt die Autorin in literarischer Form die Geschichte des Unabhängigkeitskrieges, bzw., wenn es um die Sicht der Erzählerin geht, des Zerfalls der Sowjetunion und des Genozids an den Aserbaidschanern in Armenien und den Armeniern in Aserbaidschan dar. Die Erzählerin geht in diesem Teil chronologisch vor, gibt die Eckdaten der historischen Ereignisse an, benennt die jeweiligen Gegner und beschreibt die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung für die Bevölkerung. Die Autorin äußert in einem Gespräch die Notwendigkeit, die hinter diesem Vorgehen stand: »Die historischen Ereignisse mussten vor allem in diesem Buch besonders erläutert werden, da sie dem deutschen Leser mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit unbekannt sein könnten« (Grjasnowa 2017). Sie passt das ›Wie‹ des Erzählens dem Stoff an, den sie im Roman einzubinden beabsichtigt. Die faktualen Informationen werden in jene Erzählung Maschas eingebettet, in der sie über persönliche Verluste spricht, wie die lebensgefährliche Arbeit des Vaters als Beobachter in Karabach, in deren Folge sie zur Flucht getrieben wurden, oder den Tod ihres Großvaters: »Als [mein Großvater] mit der Tram zur Universität fuhr, wo er anorganische Chemie unterrichtete, wurde er für einen Armenier gehalten und zusammengeschlagen. Drei Tage später starb er an einem Herzinfarkt. Ich habe ihn an jenem Morgen in seinem Lieblingssessel gefunden« (Grjasnowa 2012, 47). Die im Roman dargestellten historischen Ereignisse, auch wenn sie den Anschein der Sachlichkeit erwecken, werden subjektiv, aus der Sicht der Ich-Erzählerin Mascha, dargestellt, die sich selbst als Opfer der historischen Entwicklungen sieht.

3.

Fotografische Kriegsberichterstattung

An dieser Stelle lassen sich Übereinstimmungen zwischen den literarischen Darstellungen mit den hier zur Rede stehenden Fotos ziehen, die die Kriegsberichterstattung geprägt haben. Igor Gavrilow hält mit seinem Fotoapparat eine Straßenszene fest, in der russische Soldaten und Kinder aus Baku zusammentreffen. Der Krieg wird auf dem Foto als ein asymmetrischer Krieg inszeniert, die Übermacht der russischen Truppen steht im scharfen Kontrast zu den friedlich erscheinenden Straßen in der Stadt und zu den Hauptakteuren, deren Gesichter ganz zu sehen sind: zu den Kindern. Kaveh Kazemi2 wie auch Olga Grjasnowa zeigen in ihren Werken das Leid der wehrlosen aserbaidschanischen und armenischen Bevölkerung und das Auf2 Kaveh Kazemi (persisch: (‫ ﮐﺎﻭﻩ ﮐﺎﮐﻤﻆ‬wurde im iranischen Teheran geboren. Seit der iranischen Revolution im Jahr 1978 arbeitet als Kriesenfotograf, er dokumentierte Kriege in Nordirland,

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Abb. 2: Мирные жители, погибшие в ходе конфликта… [im Krieg getötete Zivilisten …].

wachen nationaler Bestrebungen. Das obige Foto trägt den Titel: Im Krieg getötete Zivilisten. Der Fotograf Kaveh Kazemi nimmt den namenlosen, sinnlosen Tod in den Fokus seiner Kamera. Die weiteren Männer, die zu sehen sind, entziehen sich heroischen Inszenierungen des uniformierten, gut gerüsteten Soldaten, der sich im Kampf beweist. Stattdessen dominiert Untätigkeit das Bild, die Menschen befinden sich gleichsam »auf verlorenem Posten« (Wolting 2018). Die Erzählerin in Grjasnowas Roman reflektiert über die Geschehnisse in Baku, wie folgt: Der Hass war nichts Persönliches, er war strukturell. Die Menschen hatten keine Gesichter, keine Augen, keine Namen und keine Berufe mehr – sie wurden zu Aserbaidschanern, Armeniern, Georgiern und Russen. Menschen, die sich ein Leben lang gekannt hatten, vergaßen alles über den anderen. Nur die vermeintliche Nationalität blieb. (Grjasnowa 2012, 47)

An dieser Stelle analysiert Mascha die Gründe für den entfachten Bürgerkrieg, sie nimmt den einzelnen Menschen in Schutz, verleiht ihm einen Opferstatus. Den Ursprung des Genozids erkennt sie in der vorherrschenden Struktur der neuen Ordnung. Sie beschreibt den Krieg nicht als Befreiungs- und Unabhängigkeitsdem Libanon, Nicaragua, Jugoslawien, Afghanistan, Syrien, Aserbaidschan und Armenien. Seine Bilder sind unter anderem in Time, Newsweek, New York Times, Stern, Der Spiegel, Paris Match, L’Express, Figaro Magazine und Geo erschienen.

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bestrebung, sondern interpretiert ihn als einen Kampf um wirtschaftliche Interessen: »Der Kampf um die Macht und das Erdöl war längst im Gange. In Baku wurde die Nationale Front gegründet« (Grjasnowa 2012, 46). Der strukturelle Hass, der persönliche Motive und Gefühle explizit ablehnt, bietet den Akteuren die Möglichkeit, sich als moralisch handelnde Personen zu empfinden, weil sie sich im Rahmen der normativen Standards, die nach 1988 in dieser Region einsetzen, verhalten. Die Nationale Front, eigentlich Volksfront Aserbaidschans, wird hier in einem Zug mit dem Kampf um Macht und Erdöl, mit »Plünderungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Morde[n]« (Grjasnowa 2012, 47) genannt und nicht mit den Befreiungsbewegungen in Verbindung gebracht, durch die Aserbaidschan, Armenien oder eben Berg Karabach ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangten. Auch in den Fotos von Kaveh Kazemi dominiert der Opferstatus, sie zeigen das Leid der Zivilbevölkerung, vor seiner Kamera bleiben der kriegerische Gewaltakt und der Tod von Zivilisten nicht verborgen. Die Inszenierung des Kriegstodes auf dem Foto »Мирные жители, погибшие в ходе конфликта« [»im Krieg getötete Zivilisten«] entzieht sich überkommenen, heroischen Darstellungen des Sterbens. Seine Bilder zeigen den Krieg als einen Vorgang, der Leben vernichtet, Menschen zur Flucht zwingt, Landschaften und urbane Gegenden zerstört. Der Krieg um Berg Karabach auf seinen Bildern weist keine Züge einer Befreiung auf. Die Aufnahmen vermitteln keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Bevölkerung. Seine Aufnahmen aus Flüchtlingslagern zeigen traurige, frustrierte Menschen, weinende, hungrige Kinder, Frauen und Männer, die keiner Arbeit nachgehen, die keine Beschäftigung mehr haben, außer ihr eigenes Leben und das der Familienmitglieder zu schützen. Diese Fotos wirken verstörend, weil sie ein anderes Erinnern als das offizielle Geschichtsbild der Machthabenden ermöglichen. Ähnlich wie im Roman von Grjasnowa rücken hier Perspektiven in den Vordergrund, die weniger die großen Ereignisse als die alltäglichen Folgen des Krieges für die Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen. Olga Grjasnowa wie auch Kaveh Kazemi oder auch andere Kriegsfotografen, von denen hier nicht die Rede ist, tragen mit ihren Arbeiten bewusst zum individuellen, vielleicht auch kommunikativen Gedächtnis der Menschen über diesen Krieg bei.

Der Krieg um den Berg Karabach in Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt

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Abb. 3: Лагерь беженцев в городе Имишли [Flüchtlingslager in der Stadt Imishli].

4.

Literarische Darstellung historischer Ereignisse

Bei Grjasnowa handelt es sich konkret um das Schicksal der Kontingentflüchtlinge, denn Maschas Erzählung präsentiert die Sichtweise des geflüchteten Teils der Bevölkerung Aserbaidschans, der weder zu Aserbaidschanern noch zu Armeniern gezählt werden konnte. Ihr Mitleid gilt dem einzelnen Menschen ohne Rücksicht auf die Bevölkerungsgruppe, der er angehört. Sie nennt auch ganz explizit den Grund für die Flucht der Familie: »Aber unsere Auswanderung hatte nichts mit dem Judentum, sondern mit Bergkarabach zu tun« (Grjasnowa 2012, 44). Das meint: Mit den Machtbestrebungen in dieser kleinen Region, die 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, die sie kurz danach in einem Krieg in den Jahren 1992–1994 wieder verlor, indem Bergkarabach von Armenien besetzt wurde. 1994 konnte ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan erzielt werden. Trotz der Waffenstillstandslinie kam es in den folgenden Jahren, selbst noch 2008 und 2016, zu erneuten Auseinandersetzungen der jeweiligen Minderheiten in Armenien bzw. in Aserbaidschan, sowie zu Pogromen und Unruhen. Dein Vater war einer der ersten, die gehen mussten. Sie haben damals alle Russen aus dem Ministerium abgezogen und als unabhängige Beobachter in den Karabach geschickt. Ich wusste nicht einmal, ob er noch lebt. Nun. Angeblich waren die Russen neutral, aber die Aserbaidschaner dachten, dein Vater sympathisiert mit den Arme-

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niern, und die Armenier dachten, er ist für die Aserbaidschaner. (Grjasnowa 2012, 120–121)

Der Vater von Mascha wird als unabhängiger Beobachter nach Bergkarabach geschickt. Vermutlich handelt es sich hier um eine fiktionalisierte Darstellung der Arbeit der sogenannten »Minsker Gruppe«. Für die Familie bedeutete diese Wendung, dass sie bald Baku verlassen muss: »Wir konnten nicht in Aserbaidschan bleiben« (Grjasnowa 2012, 50), erinnert sich Mascha. Mascha begrüßt die Unabhängigkeitsbewegungen in dem Teil der Sowjetunion nicht, im Gegenteil, sie verurteilt sie als Genozid. Dieses Dilemma ist ein steter Bestandteil der ›neuen Kriege‹, die nun in den 1990er Jahren mit dem Fall des eisernen Vorhangs in Gang kamen (vgl. Münkler 2002). An dieser Stelle fungieren die Erfahrungen, Erlebnisse und das Wissen der Autorin als Präfiguration. Die Einbindung dieser in den fiktiven Lebenslauf der Protagonistin formt die literarische Konfiguration, denn Mascha erlebt den Krieg natürlich individuell, aber er besitzt Züge der real stattgefundenen und stattfindenden Kriege, der ›neuen Kriege‹. Die neue Kriegsform zeichnet sich über eine neue kriminelle Gewaltökonomie, neue Gewaltmotive, brutale Gewaltstrategien und durch zahlreiche private Gewaltakteure aus (Heupel und Zangl 2003). Die Gewalt dieser Kriege wird willkürlich eingesetzt, sie wird privatisiert und kommerzialisiert, zudem richtet sie sich häufig gegen die Zivilbevölkerung. Der Begriff der ›neuen Kriege‹ wird deshalb hier so verstanden, dass er auf den Bürgerkrieg bezogen wird, also auf eine Art der Kriege, bei denen Rebellen mit militärischer Gewalt gegen den bestehenden, legalen Staat vorgehen. Im Roman finden sich dazu folgende Ausführungen: Doch mit Sumgait hatte keiner gerechnet. […] In den nächsten Tagen verwüsteten mehrere Gangs die Stadt und verwandelten sie in eine Todeszone für Armenier: […] Wohnungen wurden verwüstet und ausgeraubt, die Bewohner erniedrigt, misshandelt, ermordet und vergewaltigt. Mehrere Menschen wurden mit Äxten so zugerichtet, dass ihre Körper später nicht identifiziert werden konnten. […] Die Mörder konnten oft nicht zwischen Aserbaidschanern und Armeniern unterscheiden […] ›Wenn du fundukh sagen kannst, bist du ein Muslim. Dann ist alles gut.‹ Meine Mutter erklärte mir, Aserbaidschaner und Armenier würden das Wort unterschiedlich aussprechen. […] Etwa 30 Menschen starben während des Pogroms. Fast alle 14.000 Einwohner armenischer Abstammung flohen aus Sumgait. In den nächsten Monaten und Jahren sollte noch mehr Gewalt, Vertreibungen, Vergewaltigungen und Pogrome auf beiden Seiten folgen. (Grjasnowa 2012, 46)

Um die Arbeitsweise der Autorin noch deutlicher darzustellen, scheint es sinnvoll, an dieser Stelle die historische Notiz zu den Ereignissen in Sumgait zu zitieren:

Der Krieg um den Berg Karabach in Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt

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Уже 22 февраля погибли два человека в столкновении между азербайджанцами и армянами близ Аскерана, а 27–29 февраля произошёл армянский погром в Сумгаите, ставший поворотным пунктом в развитии межнационального конфликта. После сумгаитской трагедии началось выдавливание азербайджанцев из Армении и армян из Азербайджана. Летом и осенью 1988 года участились случаи насилия в НКАО, нарастал взаимный поток беженцев. К началу 1989 г. Армению были вынуждены покинуть почти все азербайджанцы; в свою очередь, почти все армяне покинули сельские районы Азербайджана. [Bereits am 22. Februar starben zwei Menschen bei einem Kampf zwischen Aserbaidschanern und Armeniern in der Nähe von Askeran. Vom 27. bis 29. Februar fand in Sumgait ein armenischer Pogrom statt, der einen Wendepunkt in der Entwicklung des ethnischen Konflikts bedeutete. Nach der Tragödie von Sumgait begann die Verdrängung von Aserbaidschanern aus Armenien und Armeniern aus Aserbaidschan. Im Sommer und Herbst 1988 häuften sich die Fälle von Gewalt, der gegenseitige Flüchtlingsstrom nahm zu. Zu Beginn des Jahres 1989 waren fast alle Aserbaidschaner gezwungen, Armenien zu verlassen. Im Gegenzug verließen fast alle Armenier die ländlichen Gebiete Aserbaidschans.] In: (Карабахская война, news.bbcco.uk)

Grjasnowa nimmt historische Quellen und bindet sie in ihren Text ein, sie lässt ihre Erzählerin die Geschichte erzählen und mit dem eigenen Schicksal in Verbindung setzen. Zu erkennen ist in dem Roman somit ein literarisches Verfahren, das zeitgleich auch im Erinnerungsdiskurs der letzten Jahre zu beobachten ist, wenn nach dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis gefragt und dabei über die Gültigkeit historischer Fakten und Quellen ebenso nachgedacht wurde wie über historiografische Darstellungsformen. Genau dies tut Olga Grjasnowa in ihrem Roman. Erinnerung wird hier als identitätsstiftende Instanz verstanden. Dies geschieht zum Schutz des eigenen Selbst und zum Erhalt eines bejahenden, sinnstiftenden Verhältnisses zu der jeweiligen Gegenwart, in der das Subjekt lebt. Diese Erkenntnis wird bei Grjasnowa vor allem da virulent, wo es sich um traumatische Erlebnisse handelt. In den späten 1980er Jahren und verstärkt nach dem Pogrom von Sumgait tauchten die ersten Flüchtlinge auf – Armenier fliehen vor Aserbaidschanern, Aserbaidschaner verlassen Karabach, der gegenseitige Hass wächst. Von den Flüchtlingen des Krieges erzählen auch Fotos in dem Blog von Mirovich. Mascha erinnert sich in der oben zitierten Passage an Verwüstungen der Stadt durch Gangs, an Misshandlungen der Zivilbevölkerung, Morde, Pogrome und Massaker und an die in deren Folge entstandenen Flüchtlingsströme. Sie kommentiert die Situation als unübersichtlich, ohne klar konturierte Gegner und nennt neben der ethnischen Frage auch die wirtschaftlichen und machtpolitischen Faktoren. Auf diese Weise wird der in der offiziellen Geschichtsschreibung als Unabhängigkeitsbewegung dargestellte Prozess im Roman von

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Monika Wolting

Abb. 4: Foto von Georges DeKeerle.

Grjasnowa wie auch auf den Fotos des Blogs von Mirovich als ein von Genozid begleiteter ›neuer Krieg‹ entlarvt.

5.

Fazit: Wie lässt sich Vergangenheit erzählen?

An einer anderen Stelle des Romans findet die Ich-Erzählerin einen Karton mit von Elischa gesammeltem Material zu den Unruhen in Aserbaidschan. Um Mascha besser zu verstehen, ihre Vergangenheit, von der sie nie erzählen wollte, nachzuvollziehen, sammelt Elischa Dokumente, Zeitungsartikel, Buchkapitel, wissenschaftliche Aufsätze, Karten, diverse Fotos und handschriftliche Notizen, die vom Krieg erzählen. Erinnerungstheoretisch kann man hier von Gedächtnisstützen sprechen, die das Vergangene vergegenwärtigen und ›blinde Flecken‹ füllen. Elias benötigte diese Sammlung der Gedächtnisstützen, um Maschas Persönlichkeit besser zu verstehen, ihrer Identität näher zu kommen. Die Fotos zeigen Viehwaggons mit Flüchtlingen, ausgehungerte Kinder, abgebrannte Dörfer, abgefrorene Zehen, notdürftig mit Lappen abgebunden, Zelte, Wunden, Tote. Demonstranten, zerschossenen Busse, zerquetschte Autos. Rote Nelken auf Gräbern. Prozessionen mit offenen Särgen. (Grjasnowa 2012, 150)

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Mirovich veröffentlichte ein Foto, das Grjasnowa für ihre Arbeiten Pate hätte stehen können. Es zeigt Menschenmassen, die sich für eine Abschiedszeremonie für gefallene Soldaten auf den Straßen in Baku versammelt haben. Die Protagonistin macht keinen Unterschied zwischen dem Sachinhalt der Sammlung und ihren eigenen Erinnerungen: »Die meisten [Fotos] kannte ich aus meiner Grundschulzeit« (Grjasnowa 2012, 150). Das Material gibt Elias keine Antworten auf seine Fragen. Denn Elias schöpft hier nur aus Fremderfahrungen, aus sekundären Erfahrungen, ihm fehlen die Primärerfahrungen eines Menschen, der im Krieg gewesen ist. Die Autorin macht damit klar, dass die übermittelten Bilder und Inhalte des Krieges zu einem Verständnis für die emotionalen Zustände der Betroffen nicht beitragen können. Krieg, aus den Fenstern geworfene Menschen, verstümmelte Kinder, Flüchtlingsströme, ein zusammengeschlagener Großvater u. a. sind Bilder, die die Ich-Erzählerin in ihrer Märchenerzählung für den Freud schildert. In einem Gespräch spricht Olga Grjasnowa davon, dass sie für ihren Arbeitsvorgang auf Fotos aus dem Bürgerkrieg zurückgegriffen hat. Literarische Bilder wie auch Fotos, die von unabhängigen, investigativen Journalisten aufgenommen wurden, fungieren als Speicher des individuellen Gedächtnisses. Die nahen Aufnahmen, die direkten Beschreibungen rücken Individuen mit ihren erlebten Geschichten näher an den Betrachter und können unter Umständen Emotionen auslösen. Durch ihr Aufstörungspotenzial setzten sie einen memorativen Rezipientionsprozess in Gang.

Literaturverzeichnis Bauerkämper, Arnd. Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945. Paderborn: Schöningh, 2012. Beck, Ulrich. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. Grjasnowa, Olga. Der Russe ist einer, der Birken liebt. München: Hanser, 2012. Grjasnowa, Olga im Gespräch mit Monika Wolting (2017). Noch nicht veröffentlicht. Heupel, Monika, und Bernhard Zangl. Die empirische Realität des »neuen Krieges«. InIISArbeitspapiere 27 (2003). Koch, Lars, Christer Petersen und Joseph Vogl (Hg.) »Störfälle«. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2011). Kümmel, Albrecht. »Störung«. Grundbegriffe der Medientheorie. Hg. Alexander Roesler und Bernd Stiegler. Paderborn: Fink, 2005. 229–235. Mirovich, Maxim. »Война в Карабахе, как это было«. maxim-nm.livejournal.com, 17. 12. 2016. https://maxim-nm.livejournal.com/288780.html (01. 12. 2019). Münkler, Herfried. Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2002.

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Monika Wolting

Paul, Gerhard. »Kriegsbilder – Bilderkriege«. Aus Politik und Zeitgeschichte 31 (2009). http://www.bpb.de/apuz/31834/kriegsbilder-bilderkriege?p=all (05. 01. 2021). Rau, Johannes. Berg-Karabach in der Geschichte Aserbaidschans und die Aggression Armeniens gegen Aserbaidschan: geschichtliche Studien und Betrachtungen. Berlin: Köster, 2009. Schüttpelz, Erhard. »Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf«. Transkribieren – Medien/Lektüre. Hgg. Ludwig Jäger und Georg Stanizek. München: Fink, 2002. 233–280. Smolnik, Franziska, und Uwe Halbach. »Von wegen eingefrorener Konflikt«. Die Zeit (27. 04. 2016). https://bit.ly/3BfHdaX (zeit.de 01. 12. 2019). Wal de, Tom. Главы из русского издания книги »Черный сад« (Kapitel aus der russischen Ausgabe des Bandes »Black Garden« Карабахская война. http://news.bbc.co.uk/hi/ru ssian/in_depth/newsid_4673000/4673953.stm, (05. 01. 2021). Wolting, Monika. Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankrieges in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter, 2019. Wolting, Monika. »›Auf verlorenem Posten‹. Zur Lage der Bundeswehrsoldaten im Afghanistankrieg«. Fakten und Vorbehalte. Hg. Stephen Merten, Björn Hayer, Gabriela Scherer und Kathrin Heintz. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2018. 161–173. Wolting, Monika (2019): »Einleitung. Geschichte(n) erinnern – Formen ›historisch-fiktionalen Erzählens‹ in der deutschsprachigen und polnischen Gegenwartsliteratur nach 1989«. Neues Historisches Erzählen. Hg. Monika Wolting. Göttingen: V&R unipress, 2019. Карабахская война. Wikipedia Russland. https://bit.ly/2UjItJn (ru.wikipedia.org 02. 12. 2019).

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Armenische Soldaten während der Kämpfe in Berg-Karabach am 3. April. Vahram Baghdasaryan/AFP/Getty Images, im Beitrag: Smolnik, Halbach. Von wegen eingefrorener Konflikt, 2016. Abbildung 2: Мирные жители, погибшие в ходе конфликта … (im Krieg getötete Zivilisten …). Kaveh Kazemi. Abbildung 3: Лагерь беженцев в городе Имишли (Flüchtlingslager in der Stadt Imishli). Kaveh Kazemi. Abbildung 4: Foto von Georges DeKeerle.

Marina Ortrud M. Hertrampf

Der Arabische Frühling in Bildern: Bild-Narrative zwischen Dokumentation, (Re)Konstruktion und Fiktionalisierung

Wer erniedrigt wird, weigert sich früher oder später, auf Knien zu rutschen, und setzt sich unter Lebensgefahr für Freiheit und Würde ein. Diese Wahrheit ist allgemeingültig. Es ist eine große Freude, dass nun gerade die arabischen Völker die Welt daran erinnern. (Ben Jelloun 2011, 91)

2011 breiteten sich ausgehend von Tunesien massive Protestbewegungen über Ägypten auf insgesamt 15 weitere islamische Länder aus. Getragen wurden die landesspezifisch recht unterschiedlich ausgeprägten Protestwellen, die vereinfachend unter dem Begriff ›Arabischer Frühling‹ gefasst werden,1 vor allem von der bis dahin politisch kaum in Erscheinung getretenen, vornehmlich urbanen Jugend, die sämtliche Vernetzungs- und Verbreitungsmöglichkeiten von Social Media und populärkulturellen (Massen-)Medien zur Organisation und Dokumentation der Umbruchssituation nutzten. Der Arabische Frühling stellt damit nicht nur in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht einen Wendepunkt von nicht zu unterschätzender historischer Relevanz dar, sondern auch mit Blick auf die kulturelle Bedeutung von Bildern in islamisch geprägten Ländern. Das Dokumentieren und Archivieren der realen Ereignisse durch das Hochladen von abertausenden Amateurvideos und Handyfotos kann dabei als Bildprotest gelesen werden, der die offizielle staatliche Bildberichterstattung als geschichtsklitternde ideologische Konstruktion entlarvt. Parallel zum erstarkten Bewusstsein der Notwendigkeit populärjournalistischen Dokumentierens der Revolten gewann das grafische Erzählen als künstlerische Verlängerung dieses Bildprotests an Bedeutung, und hat seit 2011 eine ganz neue Szene grafischer Erzählformen (Graffiti, Wandmalereien, Erwachsenencomics) entstehen lassen. Anhand einiger ausgewählter Beispiele skizziert der Beitrag – mit Fokus auf Tunesien und Ägypten – die Bedeutung visueller Medien während der Proteste 1 Der Begriff ist nicht unumstritten (siehe hierzu weiter unten), hat sich aber im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend durchgesetzt und wird hier daher auch neben Termini wie ›Arabischer Umbruch‹ oder ›Arabisches Erwachen‹ (vgl. Al Dailami und Pabst 2014) verwendet.

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und arbeitet dabei heraus, wie einzelne Bild-Narrative zu Bildikonen avancierten. Während einige dieser Bild-Narrative über die virale Verbreitung im Internet und die Nutzung von Bildformeln zu globalen Bildikonen für ›den‹ Arabischen Frühling wurden und u. a. in journalistischen Graphic Novels2 und Cartoons westlicher Provenienz verarbeitet wurden, weisen andere vornehmlich regionale Strahlkraft auf, schrieben sich aber fest in das nationalkulturelle (Bild-)Gedächtnis ein und spielen bis heute eine wichtige Rolle für das kollektive Erinnern des Umbruchs.

1.

Der Arabische Frühling als (eurozentrische) Metapher einer transnationalen Umbruchphase

Als sich der junge Gemüsehändler Mohammed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Lebensbedingungen auf offener Straße selbst anzündete, war noch nicht klar, dass dieser vollkommen unpolitische Akt persönlicher Verzweiflung ausreichen würde, ein ganzes Land aufzurütteln und in einen beispiellosen Zustand sozio-politischen Aufruhrs zu versetzen. Die Selbstverbrennung wirkte wie der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass (der langjährig angestauten Unzufriedenheit) zum Überlaufen brachte. Unmittelbar darauf wurde ganz Tunesien von Protestbewegungen gegen das autokratisch-repressive Regime Ben Alis erfasst. Angesichts des zunehmenden Drucks der landesweiten Massenproteste und schließlich der Weigerung wichtiger Militärs, weiterhin gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen, sah sich der Diktator im Januar 2011 gezwungen, ins Exil nach Saudi-Arabien zu fliehen. Was sich in Tunesien zunächst als nationale Revolte3 entzündet hatte, sollte in kürzester Zeit die gesamte islamische Welt erschüttern. Die Welle des Protestes 2 Die Ereignisse des Arabischen Frühlings wurden vor allem in zwei journalistischen Sachcomics aus dem frankophonen Raum bearbeitet, die im Folgenden auch immer wieder als Beispiele herangezogen werden: BD Reporter. Du Printemps arabe aux coulisses de l’Élysée (ComicReporter. Vom Arabischen Frühling hinter die Kulissen des Élysée-Palasts) von Patrick Chappatte und Der Arabische Frühling von Jean-Pierre Filiu und Cyrille Pomès (angemerkt sei an dieser Stelle, dass der Originaltitel Le printemps des arabes – Der Frühling der Araber – die Vielfältigkeit der Massenunruhen in den unterschiedlichen betroffenen Ländern bereits im Titel hervorhebt). Für eine ausführliche Analyse und Interpretation dieser beiden herausragenden Beispiele des Comic(s) Journalism bzw. Graphic Journalism siehe Hertrampf 2016a und 2016b. Zum Spannungsverhältnis von Authentizität und fiktionaler bzw. politisch-interpretativer Überformung in dokumentarischen und journalistischen Graphic Novels und Comics allgemein siehe z. B. Adams 2008, Denkmayr 2008, Duncan 2016, Grünewald 2013, Hangartner 2013 und 2016, Hohmann und Erkal 2016, Liu 2015 und Nyberg 2006. 3 Gerade im westlichen Diskurs wird auch immer wieder von der ›Jasmin-Revolution‹ gesprochen (Jasmin ist die Nationalblume Tunesiens), was insofern problematisch ist, als dieser

Der Arabische Frühling in Bildern

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gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit ist insofern als ein transnationales Phänomen zu verstehen, das zunächst auch in Ägypten virulent wurde, wo sich Präsident Mubarak bald gezwungen sah zurückzutreten, und sich wenig später auch in Algerien, Bahrain, Dschibuti, im Irak und Jemen, in Jordanien, Kuwait, Libyen, Marokko, Mauretanien, im Oman und den Palästinensischen Gebieten, in Saudi-Arabien, im Sudan und in Syrien manifestierte.4 Tahar Ben Jelloun beschreibt die sukzessive ausbrechenden und sich im öffentlichen Stadtraum artikulierenden Proteste als autochthone Versuche der Selbstbefreiung aus der viel zu lange still erlittenen Unfreiheit: Bei den Ereignissen im arabischen Frühling handelt es sich um moralische und ethische Protestbewegungen. Sie lehnen radikal und ohne Zugeständnisse Autoritarismus, Korruption und den Diebstahl staatlicher Güter ab; sie erheben sich gegen Nepotismus, Günstlingswirtschaft, Erniedrigung und illegitime Machtübernahme, die die Grundlage der Herrschaft all dieser Staatsoberhäupter ist, deren Verhalten stark an die Methoden der Mafia erinnert. Die Protestierenden wollen eine saubere Moral in Gesellschaften einführen, die so sehr ausgeplündert und erniedrigt worden sind. (Ben Jelloun 2011, 23)

Der Begriff des Arabischen Frühlings insinuiert dabei allerdings fälschlicherweise eine homogene Auf- und Umbruchbewegung, die zu einem klar definierten Ziel hinführt. Wenngleich es bei den Revolten und Aufständen von unten tatsächlich immer um die Themen der politischen Partizipation, der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und die Transformation gesellschaftlicher Hierarchieverhältnisse sowie der Geschlechterverhältnisse5 ging, so verliefen nicht nur die Revolten in den unterschiedlichen Ländern ganz individuell, sondern auch die in Gang gesetzten politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse waren sowohl bezüglich ihrer strukturellen Reichweite und Nachhaltigkeit als auch hinsichtlich ihrer weiteren Entwicklungsrichtung alles andere als einheitlich: Während der Umbruch in Syrien in einem Bürgerkrieg endete, mündete die Begriff zur offiziellen Feier von Ben Alis Putsch gegen Habib Bourguiba 1987 verwendet wurde (vgl. Le Monde Afrique 2011). In Tunesien selbst wird der Umbruch meist als ›Révolution de la dignité‹ (Revolution der Würde) bezeichnet. Unter Rekurs auf Ingrid El Masry betont Mimoun Azizi (2018, 18) allerdings, dass der Begriff ›Revolution‹ insofern nicht wirklich passend ist, als sich dieser genaugenommen nur auf dauerhafte Transformationen gesellschaftlicher Strukturen und politischer Systeme bezieht. Wenngleich im Zuge der Revolten sowohl in Tunesien als auch in Ägypten erstmals in der arabischen Geschichte Despoten vom Volk gestürzt wurden, so folgte darauf keinesfalls ein strukturell umfassender Wandel des politischen Systems. Und selbst wenn sich in Tunesien tatsächlich Anfänge eines Demokratisierungsprozesses abzeichneten, so wurden diese Dynamiken durch hohe Jugendarbeitslosigkeit und Inflation ebenso behindert wie durch den Fortbestand von Korruption und Vetternwirtschaft und zunehmenden islamistischen Terror. 4 Für ausführliche Hintergrundinformationen zum Arabischen Frühling in den unterschiedlichen arabischen Ländern siehe z. B. Al Dailami und Pabst 2014, Azizi 2018, Ben Jelloun 2011, Bundeszentrale für politische Bildung 2011, Dabashi 2012, Filiu 2011 und Schneiders 2013. 5 Vgl. hierzu z. B. Filter, Fuch und Reich 2013.

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anfängliche Aufbruchsstimmung etwa in Ägypten in einem Zustand lähmender Stagnation, während sich in Tunesien weitreichende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen vollzogen, die bis in die Gegenwart fortwirken. Daher trifft auch das im europäischen Diskurs für den Arabischen Frühling häufig verwendete Bild von einem Dominoeffekt6, demzufolge die revolutionären Protestbewegungen in Tunesien in den Nachbarländern quasi nachgeahmt wurden, die Tatsachen nicht.7 Vielmehr entstand der ›Flächenbrand‹ dadurch, dass die Feuer des Zorns in den einzelnen Ländern aus jeweils ganz unterschiedlichen Gründen entflammten, sich ausbreiteten, aufeinandertrafen und in einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Interessen endeten.8 Es handelte sich also um eine äußerste heterogene und komplexe Umbruchphase des islamisch geprägten Raumes, die in den betroffenen Ländern auch ganz anders wahrgenommen, interpretiert und erinnert wurde und wird als in der Presse der westlichen Welt. In der westlichen Außenperspektive wurde der Arabische Umbruch zu einem medialen Großereignis, das das eurozentrische Bild des ›Orients‹ kurzfristig positiv veränderte.9 In Form einer »›aufgeklärten Islamophobie‹, die zwar offene Stereotypen meidet, aber durch selektive Wahrnehmung eine Beachtungsökonomie erzeugt, die unterschwellig eben doch nach wie vor von Stereotypen und Feindbildern angetrieben wird« (Hafez 2013b, 8), wurde das Stereotyp des islamischen Raumes als einer rückständigen, gewaltbereiten, frauenfeindlichen und intoleranten Kultur temporär durch ein geradezu euphorisch positives Bild überlagert. In diesem überaus populären Medienbild wurde ein nach europäischem Verständnis ›moderner Orient‹ konstruiert und die Proteste als Volksaufstand einer laizistischen und allein nach westlichen Werten strebenden Jugend präsentiert: Demjenigen, der die Entwicklung sowohl von Kairo aus als auch über die westlichen Medien verfolgte, konnte allerdings schon während der heißen Phase der Aufstände im Februar und März 2011 eine gewisse Differenz zwischen der Realität in der arabischen Welt und dem Medienbild in Deutschland auffallen. Die westliche Euphorie schien sich eher auf die nichtislamischen und vermeintlich sogar westlichen oder modernen Ent6 Vgl. hierzu z. B. Ruf 2013, 194. Chappatte verbildlicht die Metapher des Dominoeffektes in seiner Comic-Reportage auf unterhaltsame Weise, indem er den Sturz Mubaraks durch den Fall von Ben Alis Denkmal auf das Mubaraks zeigt (siehe Abb. 1). 7 Vgl. das zehnte Kapitel in Filius Studie La Révolution arabe, das mit »La renaissance n’est pas une partie de domino« [Die Renaissance ist kein Dominospiel] übertitelt ist. 8 Filius Interpretation des Arabischen Umbruchs als Flächenbrand, der sich aus unterschiedlichen Feuerherden speist, findet auch Niederschlag in dem von ihm und Cyrille Pomès gestalteten Sachcomic Der Arabische Frühling (2013, 8): Nach der Darstellung der Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi heißt es »Sein Opfer entflammt die gesamte arabische Welt.« 9 Siehe hierzu Hafez 2013a.

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wicklungen innerhalb der Revolution zu beziehen. Westliche Medien zeigten Menschen mit fröhlichen Protestplakaten – dass einige Meter weiter andere Gruppen im gemeinsamen Gebet verharrend protestierten, wurde selten beachtet. (Hafez 2013b, 11)

Letztlich ist auch der Begriff des Arabischen Frühlings Teil dieser temporären Positivierung des westlichen ›Orientbildes‹. Die Metapher des Frühlingserwachens an sich ist dabei Ausdruck eines traditionell eurozentrischen, ja m. E. neokolonialistischen Denkens, demnach sich die islamischen Gesellschaften in einem erstarrten, leblosen und in einem im weitesten Sinne mittelalterlich dunklen Zustand befinden und mit den 2011 einsetzenden politisch-gesellschaftlichen Revolten aus diesem ›Dornröschenschlaf‹ zu erwachen und nach politischer Teilhabe, gesellschaftlichem empowerment und einem auf den Grundwerten von Gleichberechtigung und Toleranz basierenden, demokratischfreiheitlichen System zu verlangen scheinen. Doch rasch wurde deutlich, dass das Erwachen eines neuen Bewusstseins und der Wunsch nach Veränderung nur wenig mit den westlichen Vorstellungen eines Demokratisierungsprozesses zu tun hatte, und schnell war aus der europäischen Außenperspektive vom Einsetzten des ›Arabischen‹ bzw. ›Islamistischen Winters‹10 die Rede. Die Medienberichterstattung fiel in die Negativmuster »bereits überwunden geglaubte[r] Stereotype, Vorurteile und Feindbilder zurück« (Brinkmann 2013) und verschlechterte sich vor dem Hintergrund der islamistischen Terrorattentate in Europa sogar noch massiv. Aus der Binnenperspektive hingegen stellt sich dies anders dar:11 Natürlich gibt es in den muslimisch geprägten Ländern auch solche Tendenzen, die für eine radikale Transformationspolitik eintreten und nach der Übernahme des demokratischen Systems im europäischen Sinne streben, doch diese sind – gegenüber einer Mehrheit der breiten Bevölkerung, die sich eine stärkere Rückbesinnung auf die islamischen Werte und Traditionen wünscht, – in der Minderheit. Auch die Mehrzahl der islamischen Intellektuellen, die wie Mohammed Abed Al-Jabri (2009), Abdelwahab Meddeb (2007) oder Fatima Mernissi (1991) bereits vor dem Arabischen Frühling weitreichende Erneuerungen forderten, lehnt die ›bloße‹ Übernahme westlicher Demokratie nicht zuletzt deshalb ab, weil dies einer Bankrotterklärung der islamischen Kultur und einer Art freiwilligen Kotaus vor der neokolonialen westlichen Hegemonialkultur gleichkäme und damit die zukunftsverstellende Ohnmachtserfahrung der arabischen gegenüber der der westlichen Welt im Sinne des Assmannschen traumatischen Opfergedächtnisses bestärken würde.12 Erneuerungen – und dies schließt wie auch 10 Vgl. hierzu z. B. Al Dailami und Pabst 2014, 5 und Tempel 2013. 11 Zur Innenperspektive siehe ausführlich Al Dailami 2014. 12 In Der lange Schatten der Vergangenheit unterscheidet Aleida Assmann 22014 zwischen dem Sieger- und Verlierergedächtnis sowie dem Opfer- und Tätergedächtnis. Mit Blick auf

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immer geartete Demokratisierungsprozesse mit ein – müssen aus der Binnenperspektive also in einer kulturell modifizierten Form erfolgen, die sich mit dem traditionell verankerten islamischen Werte- und Rechtssystem vereinbaren lässt. Vor diesem Hintergrund kann die Erinnerungskultur des sogenannten Arabischen Frühlings nicht zuletzt aufgrund seines ›ungeraden‹ Verlaufs als endgültige Emanzipation von Postkolonialismus und eurozentrischem Orientalismus verstanden werden. Dieser Aspekt wird in Chappattes Comic-Reportage über den Tunesischen Aufbruch bereits zu Beginn zum Ausdruck gebracht (siehe Abb. 1).13 Die Ankündigung, es handle sich um eine »orientalische Geschichte« ist ambig, verweist sie doch nicht allein auf die geographische Verortung des Dargestellten. Vielmehr spiegelt sich hierin Chappattes Sinn für subtilen Humor: Der conte oriental ist ein europäisches Genre des 18. Jahrhunderts, das von der (kolonialistischen) Begeisterung für Exotismus und Orientalismus geprägt ist. Diesem von stereotyper Fremdperspektive geprägten Darstellungsmodus entsprechend, ist das erste Panel gestaltet: Der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi und der Provinzgouverneur werden hier wie in den klassischen europäischen Illustrationen zu Tausendundeine Nacht mit Turban, Pluderhose, orientalischen Schnabelschuhen und Krummschwert dargestellt. Mit dieser historisierenden Darstellungsform wird zugleich auf die in Europa weit verbreitete Vorstellung der Rückständigkeit der arabischen Welt angespielt. Das nächste Panel bricht nicht nur mit diesem Heterostereotyp, sondern zugleich auch mit der im ersten Panel ausgelösten Annahme, es handle sich um eine fiktionale Geschichte. Besonders nachhaltig wirkt diese Brechung dadurch, dass Chappatte hier die für seine Comic-Reportagen typische Collage-Technik verwendet: Statt eines gezeichneten Panels reproduziert er das durch die Medien bekannt ge-

das arabische kulturelle Gedächtnis hat Al Dailami 2014, 144–147 gezeigt, dass besonders die Form des Opfergedächtnisses wirksam ist. Die von Assmann konstatierte »schreckliche[] Asymmetrie von überrumpelnder Macht und ausgelieferter Ohnmacht« (22014, 74) kann nur durch Ausflucht, Vermeidung und Ideologisierung abgemildert werden: Der erstarkende Wunsch nach einer Renaissance der islamischen Werte und Traditionen sowie die zunehmende Islamisierung lassen sich aus diesem Blickwinkel als Verarbeitungs- und Überwindungsmechanismen verstehen. 13 Chappattes Comic-Reportage über den Arabischen Frühling beginnt mit einem grüngründigen spread, der eine Art Exposition darstellt und in äußerst kondensierter Form in das Thema einführt. Die Farbwahl ist dabei Teil der impliziten Botschaft, denn nach der islamischen Farbsymbolik ist Grün nicht nur die Farbe des Propheten, sondern gilt – wie im christlich-europäischen Kontext – als Farbe von Erfolg und Glück, Hoffnung und Frieden. Auf der linken Seite wird die demonstrierende Masse stilisiert in Brauntönen dargestellt, auf der rechten Seite werden in drei Panels Ausgangsereignis und politische Folge thematisiert.

Der Arabische Frühling in Bildern

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Abb. 1: Der Arabische Frühling als »orientalische Geschichte«. Ausschnitt aus Chappattes BD Reporter

wordene Foto von Bouazizis Selbstverbrennung (siehe hierzu weiter unten).14 Was sich in der gegenwärtigen arabischen Welt abspielt, so zeigt Chappatte den westlichen Lesern auf eindrückliche Weise, ist fern all der europäischen Märchenphantasien über den ›Orient‹. Es handelt sich vielmehr um einen Selbst14 Der in das Foto-Panel integrierte Kommentartext arbeitet trotz des tragischen Ereignisses mit einem dezenten Wortwitz, wenn es heißt, dass das Streichholz Bouazizis den Aufruhr des ganzen tunesischen Volkes entzündete.

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behauptungsprozess der vermeintlich ›Subalternen‹ aus sich selbst heraus, der eben gerade nicht (mehr) in Abhängigkeit des westlichen Diktats steht und daher auch seiner eigenen kulturellen Logik folgt. Aus dem zeitlich unmittelbaren Erleben heraus konstatierte Tahar Ben Jelloun hierzu: Diesmal haben die Araber ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und beschlossen, den Zug der Moderne zu besteigen, ohne sich hinter einem Alibi zu verstecken oder Schuldgefühle an den Rest der Welt zu verteilen. Was sie aus dieser neu entdeckten Würde machen, ist ihre Sache. Sie werden improvisieren und wahrscheinlich Fehler machen, doch sie wissen, dass sie nie wieder unter dem Joch eines aufgeklärten oder finsteren, lächerlichen oder grausamen Diktators leben werden. Wir sollten uns aber keinerlei Illusion hingeben: Die Regime in den verschiedenen arabischen Ländern werden alles tun, um diese Befreiungswelle aufzuhalten. (Ben Jelloun 2011, 12)

Wie wir heute aus der Retrospektive wissen, haben die Umbrüche zu recht unterschiedlichen Entwicklungen geführt, die aus westlicher Sicht – die Metapher des ›Arabischen Winters‹ verdeutlicht dies nur zu sehr – allesamt als verlorene Chance interpretiert wurden. Und doch markieren die Umbrüche eine deutliche historische Zäsur und teilen das arabische Geschichtsbewusstsein nicht zuletzt insofern in ein Davor und Danach ein, als die Ereignisse aus der post-orientalistischen Binnenperspektive einen markanten Einschnitt bedeuten, der – trotz aller Rückschritte – eine Basis für Veränderungs- und Erneuerungsprozesse geschaffen hat.15 Zugleich ermöglicht diese Grundlage die Ausbildung emanzipatorischer und kreativer agency sowie die Herausbildung eigenständiger Formen revolutionärer Ästhetiken.16

2.

Der Arabische Frühling als Bilderwachen

2.1.

Bildmedien als neue Formen des Massenprotestes

Alternativ zu dem Begriff des Arabischen Frühlings wurden immer wieder auch die Bezeichnungen ›Online-Revolution‹ oder ›Facebook-Revolution‹ verwendet.17 Auch wenn sich die Umbrüche gerade nicht in virtuellen Welten, sondern ganz real im öffentlichen Stadtraum ereigneten, so spiegeln diese Bezeichnungen die entscheidende Rolle, die die Neuen Medien spielten:18 So diente Facebook anfänglich vor allem der Mobilisierung der breiten Bevölkerung und der Orga-

15 16 17 18

El-Sharnouby 2016. Vgl. Dabashi 2009, XIV–XV. Siehe hierzu z. B. El Difraoui 2011, Gerlach 2011, Ghonim 2012 und Hofheinz 2013. Gerade mit Blick auf die Opfer, die im Zusammenhang mit den Revolten zu beklagen sind, wurden diese Begriffe nicht zu Unrecht kritisiert. Vgl. z. B. El Difraoui 2011 und Gerlach 2011.

Der Arabische Frühling in Bildern

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nisation von flash mobs. Eines der prominentesten Beispiele hierfür ist sicher das über Facebook verbreitete Selfie-Video der ägyptischen Aktivistin Asmaa Mahfouz, die am 18. Januar 2011 dazu aufrief, am 25. Januar 2011 auf dem Tahir-Platz zusammenzukommen und für die Absetzung von Hosni Mubarak zu demonstrieren.19 Mahfouz’ Bildprotest war zweifelsohne einer der Mitauslöser der legendär gewordenen »18 Tage« bis zum Rücktritt Mubaraks. Als Hashtag #Jan25 um die Welt gegangen, wurde diese Massenversammlung in Ägypten auch namensbildend für den Umbruch, der dort als ›Revolution des 25. Januar‹ bezeichnet wird. Neben unzähligen Blogs und Vlogs waren vor allem WhatsApp, Twitter, Flickr und YouTube die Dienste, über die Tausende von Fotos und Videos der Proteste ungefiltert und global verbreitet wurden. Insbesondere war es wohl gerade das vollkommen neuartige symbiotische Zusammenspiel von Fernsehen und Presse einerseits und Internet und Mobiltelefonen andererseits, das die Umstürze überhaupt erst möglich machte. Nicht zuletzt entzündete sich aber auch am staatlichen Umgang mit den visuellen Medien der Protest: In Ägypten etwa versuchte das Staatsfernsehen alles daran zu setzen, die Massenversammlungen dadurch ›unsichtbar‹ zu machen, dass keine aktuellen Bilder der Plätze, Demonstrationen und Kundgebungen gezeigt wurden; stattdessen wurden Archivbilder leerer Straßen und Plätze zur visuellen Deeskalation ausgestrahlt. Diese staatlich initiierte Produktion von fake news führte zu einem massiven Bildprotest, bei dem die visuelle Verzerrung der Realität von den Protestierenden gezielt durch das »citizen camera-witnessing« (Andén-Papadopoulos 2014) unterwandert wurde: die Medien dieses Bildprotests waren Smartphones und das Internet. Aktivisten riefen die Protestierenden dazu auf, die Ereignisse mit ihren Handys festzuhalten und die Bilder hochzuladen.20 Das Moisireen Kollektiv in Kairo errichtete auf dem Tahir-Platz ein Medienzelt, wo Bildzeugnisse gesammelt wurden. Darauf aufbauend wurde das Online-Bildarchiv »858. An archive of resistance« (2011–) begründet. Die Tatsache, dass die Ereignisse quasi synchron überall auf der Welt mitverfolgt werden konnten, führte zu einer Überlappung von Erleben, Bezeugen und Betrachten. Diese Möglichkeit medialer Teilhabe verleiht Massenprotesten an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit transnationalen, ja globalen Charakter und gewinnt räumlich (wie zeitlich distanzierte) Anhänger und Unterstützer der Proteste: 19 Schankweiler 2019, 7. 20 In den westlichen Medien waren unzählige Bilder im Umlauf, die Massen von Demonstrierenden zeigen, die alle ihre Handys in die Höhe recken, um die Ereignisse selbst zu dokumentieren. Weltberühmt wurde Mosa’ab Elshamys Foto von Demonstranten auf dem TahirPlatz in Kairo am 8. April 2011, bei dem im Bildzentrum ein kleiner Junge in rotem T-Shirt von den Schultern eines Erwachsenen aus konzentrierten Blickes ein Handy bedient.

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Die geteilten Bilder vermitteln eine geteilte Gegenwart der Gemeinschaft der Augenzeug*innen – jenen vor Ort und jenen an den Bildschirmen. Es ist diese Gleichzeitigkeit und die Vernetzung, die Bande zwischen den Ereignissen, den Zeug*innen und den Bildern knüpfen und eine Affektgemeinschaft konstituieren. (Schankweiler 2019, 125)

In diesem Sinne erlangten die ganz real stattfindenden Massenproteste also tatsächlich auch den Charakter von ›Online-Revolutionen‹. Hinsichtlich der Bedeutung der (Bild-)Medien stellt der Arabische Frühling das erste wirkliche transmediale Umbruchsphänomen der arabischen Welt dar, die durch ein paradoxes Verhältnis zum Bild, insbesondere zum Porträt, geprägt ist. Einerseits herrscht von dem traditionellen islamischen Bilderverbot herrührend eine ablehnende Skepsis gegenüber Bildern, andererseits wird der in der arabischen Welt weit verbreitete Personenkult um religiöse Märtyrer, nationale Helden und politische Diktatoren in Form eines in der westlichen Welt in dieser Prägnanz ungewöhnlichen Bilderkults betrieben.21 Im Kontext der Revolten avancierten nun aber gerade Bilder von gewöhnlichen Menschen, den Demonstranten und Aktivisten auf den Straßen und Plätzen, zu zentralen medialen Akteuren des Protests: In den Bildprotesten geht es auch um die Bilder selbst, um die Möglichkeit und das Recht überhaupt Bilder zu machen und diese in Umlauf zu bringen. Denn die Bildproteste sollen etwas sichtbar machen und an die Öffentlichkeit bringen, was zuvor nicht öffentlich sichtbar war. Zugespitzt könnte man formulieren: Wo es keine Bilder gibt, gibt es auch keinen Protest und keine öffentliche Diskussion. (Schankweiler 2019, 14)

Während der Umwälzungen des Arabischen Aufbruchs manifestierte sich der Bildprotest rasch auch dergestalt im öffentlichen Stadtraum, dass die quasi allgegenwärtigen, Häuserwände füllenden Plakate und die monumentalen Leuchtreklameschilder mit den Konterfeis der autokratischen Machthaber der jeweiligen Staaten besprayt, übermalt oder zerstört wurden.22 Dieser ›Bildersturm‹ mündete schließlich in einer ›Bildrevolution‹, bei der das Bild zunehmend auch in seiner ästhetisch-künstlerischen Dimension insofern gesellschaftlich-politische Funktion übernahm, als es die durch die Umbrüche veränderten Bedingungen nicht nur registrierte, sondern auch eine visuell dominierte Beschreibungssprache bereitstellte, mit der neue Sinnstiftungs-, Interpretations- und Fiktionalisierungsangebote entwickelt werden konnten. 21 Für eine historische und religiös-theologische Aufarbeitung des islamischen Bilderverbots einerseits und der tatsächlichen Bilderpraxis in der islamischen Welt andererseits, siehe die Studie von Naef 2007. 22 Mit Blick auf Tunis zeigt Chappatte in seiner Comic-Reportage die zerstörten überdimensionierten Werbebilder Ben Alis (2011, 8) sowie die Präsenz von Graffiti-Botschaften überall im Land (2011, 9, 17, 24, 26). Zu den visuellen Veränderungen des öffentlichen Stadtraums von Kairo und speziell zur Sabotage der Herrscherbilder siehe Dal 2014, 118–121.

Der Arabische Frühling in Bildern

2.2.

317

Von der Revolution in Bildern zur Revolution der Bilder: Graffito, Muralismo und Comic

Aus den spontanen Demonstrationen und Kundgebungen wurde – insbesondere in Kairo – bald eine protestgeladene Massenbewegung, die mit der dauerhaften Besetzung des Tahrir-Platzes mit Zelten zu einem performativen Akt des Protests wurde.23 Mit der Besetzung des öffentlichen Stadtraums entdeckten die Aktivisten in Mauern und Häuserfronten auch ganz neue ›Bildflächen‹, auf die der frei performte Protest in den Stadtraum selbst eingeschrieben werden kann. Bis dahin in der arabischen Welt weitgehend unübliche underground- und independent- Bildkunstformen, wie westliches Graffito und mexikanischer muralismo (Wandmalerei),24 verbreiteten sich als performative ästhetische Formen zivilgesellschaftlichen Ungehorsams und politischen Widerstandes:25 In Egypt graffiti as an art form was born by the revolution. During the past two years it has developed to become a sophisticated form of applied art, motoring political discussion and communication among citizens on a street level. Muralism is a new power factor. (Ettmueller 2014, 268)

Bestärkt und gefördert wurde die Entstehung dieser neuen engagierten Bildkunstform, die Mauern und Gebäudeflächen zu Medien eines unabhängigen Bild-Journalismus werden ließ,26 durch die 2012 von Ahmad al-Labbad begründete Revolutionary Artists’ Union, die die Mohamad Mahmoud Street in Kairo zur Galerie der anderen Art erhob, und ihr im Volksmund die Bezeichung sharei’ uyuun al-hurriyyah (Straße der Augen der Freiheit) einbrachte. Anders ist diese – heute nicht mehr existierende27 – Straßenkunstgalerie nicht nur, weil sie sich topographisch an einem ungewohnten Ort befand und die Graffitis und Fresken zwar primär von den Street-Art-Künstlern Ammar Abu Bakr, Alaa Awad, Hana al-Deghem und Mohamed Khaled gestaltet wurden, aber als Werke für alle als weiter- und übermalbare, dynamische Werke konzipiert waren, sondern auch, weil ihre konzeptionelle Idee einem Third Space im Sinne Homi

23 Explizit nahm die spätere Occupy-Wall-Street-Bewegung Bezug auf die Vorbildfunktion der Besetzung des Tahrir-Platzes. Vgl. hierzu Mörtenböck und Mooshammer 2012. 24 Der muralismo entstand in den 1920er Jahren nach der Mexikanischen Revolution und bezeichnet monumentale Wandbilder nationaler und sozialkritischer Inhalte im öffentlichen Stadtraum. 25 Zu Kunst im öffentlichen Raum als Ästhetik des Widerstands siehe z. B. Bogerts 2017. 26 Vgl. hierzu Bakr 2015. 27 Geblieben sind nach der Zerstörung 2012 nur mehr noch Fotodokumentationen der Graffitis, siehe z. B. Bakr 2015, Boraїe et al. 2012 und Grondahl 2013. Ob Übertünchung und Abriss von Teilen der bemalten Mauern in der Mohamad Mahmoud Street staatlich verordnet oder von den Eigentümern der jeweiligen Gebäude durchgeführt wurde, bleibt dabei unklar (siehe Awaad o. J.).

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Bhabhas zuzuordnen ist.28 Als performative Kunst sind Graffitis und murales immer als unabgeschlossen und damit dynamisch veränderbar zu verstehen, zu Third Space-Phänomenen werden diese insofern, als es sich um einen Appropriationsprozess europäischer bzw. lateinamerikanischer Bildkunsttraditionen handelt, diese aber mit altägyptischer Bildsprache und islamischen Symbolen in remediatisierter Form verbunden werden und etwas ganz Neues hervorbringen (siehe Abb. 2).29 Diese neue Bildsprache stellt zugleich eine Form dar, den Ägyptischen Frühling als lieu de mémoire30 fern aller staatlich ideologisierten Geschichtsdarstellung öffentlich zu erinnern: »[…] Egyptians reconstruct national symbols and how events of the revolution are memorialized not only preventing them from oblivion but transforming them into symbols of national identity.« (Nicoarea 2014, 261). Die Absicht, mit der Mohamad-MahmoudStreet-Art-Gallery eine mediale Grundlage zum Aufbau eines alternativen kollektiven (Bild-)Gedächtnisses der ›Revolution des 25. Januar‹ bereitzustellen,31 verdeutlichte sich insbesondere an dem als ›Mauer der Märtyrer‹ bezeichneten Abschnitt auf der Außenmauer der American University in Kairo, der Porträts von Opfern des Protests zeigte.32 Begonnen wurde mit der ›Märtyrer-Galerie‹ als einer Art Gedenkstätte nach der gewaltsamen Ermordung von 74 regime- und islamistenkritischen Al-Ahly Ultras Fans im Stadium von Port Said im Februar 2012. Ammar Abu Bakr und andere Graffiti-Künstler verarbeiteten Fotos der ›unbekannten Helden‹ und erhoben diese symbolisch zu Märtyrern im friedlichen Kampf für ein freies Ägypten. Die Opfer des Regimes als Malaika (Engel) und damit als Diener Gottes darzustellen, birgt dabei freilich erhebliches subversives Potential, das durch die Verknüpfung mit den stilisierten Lotusblumen, die nach dem altägyptischen 28 Bhabha zufolge kann sich ein dritter Raum überall dort auftun, wo Menschen mit unterschiedlichstem Wissen oder/und aus unterschiedlichen Kulturen zusammentreffen und über Bedeutungen und Inhalte diskutieren. Kerneigenschaft eines Dritten Raumes ist somit, dass ständig neue Inhalte und kulturelle Differenzen geschaffen werden. Auch diese neu verhandelten Bedeutungen im dritten Raum sind stets veränderbar und zeitlich begrenzt. »It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.« (Bhabha 1994, 37). 29 Für weitere Beispiele siehe z. B. Grondahl 2013, Khaled 2017, 33 und Nicoarea 2014, 252–261. Speziell zu hybriden Frauendarstellungen siehe Abaza 2014. 30 Pierre Noras Begriffskonzept des lieu de mémoire (Erinnerungsort) beschreibt Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses einer soziokulturellen Gruppe, die als historischsoziale Bezugspunkte symbolisch aufgeladen, identitätsstiftend wirken und prägend für die Erinnerungskultur sind. Unter ›Ort‹ versteht Nora dabei nicht zwangsläufig einen geographischen Raum (Nora 1984, vii). 31 Vgl. Findlay 2012, 181. 32 Vgl. Abaza 2012, Awaad o. J., Bakr 2015, Ettmueller 2014, 267.

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Abb. 2: ›Mauer der Märtyter‹

Totenbuch als Symbol für die Hoffnung auf Wiedergeburt gelten, nur noch verstärkt wird.33 Auch wenn diese gewaltlosen Kämpfer für Frieden und Freiheit ihr Leben lassen mussten, so wird ihr Geist in Zukunft weitergetragen werden, so die Botschaft der ›Mauer der Märtyrer‹. Während Graffitis und murales mit dem Arabischen Frühling als populärkulturelle visuelle Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Wandels quasi neu entstehen, wirkte der Arabische Umbruch mit Blick auf die neunte Kunst als Katalysator für die Ausdifferenzierung einer bereits bestehenden Comicszene. Trotz einer grundlegend ablehnenden Skepsis, die viele konservative bzw. islamistische Araber dem Medium als ›westlicher‹ Kunstform entgegenbringen, werden in den arabischen Ländern schon seit längerer Zeit Comics produziert. Überwiegend handelte es sich dabei allerdings um Funnies und Remakes USamerikanischer Superhelden-Comics à la Marvel und Co, die sich an ein kindliches bzw. jugendliches (meist männliches) Publikum richteten. Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich eine Entwicklung in Richtung eines unabhängigen Erwachsenencomics ab, die sich bis heute fortsetzt und durch den Arabischen Frühling eine ganz neue Stoßkraft erfuhr.34 Bei einem Großteil auch dieser neuen 33 Zur Bedeutung von Engeln im Islam siehe z. B. Schirrmacher 2005; zur Lotusblume als mythologisches Symbolmotiv der altägyptischen Kunst siehe z. B. Lurker 1998, 127. 34 Eine gewisse Pionierrolle nahmen zunächst die beiden großen Maghreb-Staaten Tunesien und Algerien ein, wo der Comic-Kunst sogar von staatlicher Seite eine institutionalisierte Plattform geboten wurde: Im Jahr 2000 wurde das Festival méditerranéen de BD et de l’image

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Comics handelt es sich um Funnies, wobei dies – wie etwa im Falle des algerischen Comicmachers Slim – nicht bedeutet, dass diese per se apolitisch sind. Slims Tout va Bian (2012) präsentiert die gesellschaftliche und politische Entwicklung Algeriens seit der Unabhängigkeit von Frankreich in humoristisch stark überzeichneter und selbstironischer Weise in einer Mischung aus Cartoon und Comic, die im Gesamteindruck an einfache Boulevardblätter erinnert. Der ›neue‹ arabischsprachige Comic des Arabischen Erwachens setzt zudem nicht nur ›normale‹ Menschen in Szene und verhandelt Alltagsthemen, sondern spricht insofern auch deren Sprache, als statt dem standardisierten Hocharabisch unterschiedliche dia- und soziolektale Varietäten verwendet werden, so dass der neue Comic auch unabhängig vom jeweils verhandelten Thema als populäres Medium revolutionären Ausdrucks betrachtet werden kann.35

3.

Der Arabische Frühling als Bildnarrativ des kulturellen Gedächtnisses

3.1.

Bildikonen des Arabischen Frühlings

Der Arabische Frühling stellte in mehrfacher Hinsicht ein Bilderwachen dar und war von einer für die arabische Welt bis dato beispiellosen Bilderflut gekennzeichnet. Online-Archive sammeln die zahllosen statischen und bewegten Bild-

de Tunis ins Leben gerufen und 2008 das Festival International des Bandes Dessinées d’Alger. Mit Beginn des Arabischen Erwachens gewinnt vor allem Ägypten als ›Emanzipations-Zentrum‹ des ›neuen‹ arabischen Comics an Bedeutung: So wurden in Kairo seit 2011 zahlreiche unabhängige und durch Crowd Funding finanzierte (Internet-)Comicmagazine begründet, unter denen das von Muhammad Shenawy begründete TokTok (http://www.toktokmag.com) das bekannteste ist. Auch wenn Comics noch immer Nischenprodukte darstellen, verstärkt sich die Präsenz der neunten Kunst seit den letzten Jahren nicht nur in Internet und sozialen Netzwerken: 2014 wurde die erste internationale Comicwoche in Zusammenarbeit von Goethe-Institut, Institut Français und der ägyptischen NGO Sefsafa Culture organisiert und im Folgejahr fand mit CairoComix das erste internationale Comicfestival Ägyptens statt (siehe Homepage des Festivals: http://www.cairocomix.com). Zur Comic-Szene im arabischen Raum siehe u. a. Comito / Moresi 2020, Hegasy 2012, Høigilt 2019a und Jonathan Guyers Blog Oum Cartoon (https://oumcartoon.tumblr.com). Das deutsche Umsonst-ComixHeft Moga Mobo 109 von Titus Ackermann gibt in Form eines Comic-Reiseberichtes einen kleinen Einblick in die libanesische und algerische Comicszene. 35 Ganz im Sinne von Dabashi als Form »[…] of revolutionary border-crossing in order to dodge power and speak a vernacular of revolt.« (Dabashi 2009, XVI). Damit wurde eine tragfähige Grundlage geschaffen, auf in Zukunft aufgebaut werden kann: »The Arab comic creators have already made stories that can serve as artistic and political inspiration for those who come after them and as useful documents for observers of Arab society and politics.« (Høigilt 2019a, 195).

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dokumente, doch welche Bilder des Umbruchs erinnern (noch heute) an diesen lieu de mémoire arabischer Zeitgeschichte? Susan Sontag stellt fest: Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild. (Sontag 2013, 29)

Es sind immer einzelne Bilder, die sich in das Bildgedächtnis einprägen und so die visuelle Geschichtserinnerung konstruieren bzw. rekonstruieren. Was für das individuelle Bilderinnern gilt, trifft auch auf das kollektive zu. Hierbei sind es allerdings Bilder zumeist gar nicht selbst (mit-)erlebter Ereignisse, die rein medial vermittelt werden. Geschichte machen einzelne Bilder36 nicht allein, weil sie temporär in allen Medien zu sehen sind, sondern auch weil sie sich mit der verrinnenden Zeit immer weiter von ihrem eigentlichen Kontext lösen, eine eigene Dynamik entwickeln, mit Assoziationen und Interpretationen verknüpft werden und so eine eigene Geschichtlichkeit aufbauen, die auch weit nach dem eigentlichen Ereignis immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird. In Tunesien ist es zweifelsohne das Bild von Mohammed Bouazizi, das zur wichtigsten Bildikone des Tunesischen und letztlich Arabischen Umbruchs wurde. Genaugenommen sind es zwei Bilder, ein Porträt des jungen Manns (vgl. Abb. 3) und das Bild, das ihn brennend von hinten zeigt, das weltweit durch alle Medien ging, in Tunesien aber eine nur temporäre Medienpräsenz zeigte. Schon unmittelbar nach der Selbstverbrennung wurde der einfache junge Straßenverkäufer zum Märtyrer erhoben und insofern öffentlich als Held gefeiert,37 als er – zumindest in der Binnenperspektive – zum Inbegriff, ja zum Gesicht des Umbruchs wurde.38 Die monumentalen murales und Plakate, die überall im Land an ihn erinnern, illustrieren den Rekonstruktions-, ja wenn nicht Fiktionalisierungsprozess des Porträts besonders gut: Es zeigt nicht den verzweifelten Mann, sondern einen selbstbewussten Mann, der in stolzer Siegerpose inszeniert ist. Wie auf dem 2013 im Stadtkern von Sidi Bouzid aufgezogenen monumentalen Plakat (Abb. 3) wird er dabei als Initiator weltweiter Protestbewegungen interpretiert und damit nicht nur zum nationalen Helden verklärt, sondern zu einem von globaler Strahlkraft. Etwas anders verhält es sich mit dem Bild, das heute zu einem der zentralen Bildikonen des Ägyptischen Frühlings zählt. Unter den zahllosen Videos, die im Verlauf des 25. Januar in Kairo gemacht und hochgeladen wurden, war eines

36 Vgl. Engel 2009, Knopp 1992 und Paul 2011. 37 Zum Aufbau des Helden- und Märtyrermythos siehe Chabert-Dalix 2012. 38 Die Tunesische Post gab bereits 2011 eine Sondermarke heraus, die das im kollektiven Bildgedächtnis gespeicherte Bild des lächelnden jungen Mannes und einen reich gefüllten Gemüsekarren zeigt.

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Abb. 3: Plakat in Sidi Bouzid

dabei, das besondere Furore machen sollte:39 Das Video, das sich binnen kürzester Zeit wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken verbreitete, zeigt an einer Stelle einen Mann auf der Kasr el-Aini Street nahe des Tahir-Platzes, der sich unerschrocken vor einen Wasserwerfer stellt, um diesem Einhalt zu gebieten. Hätten Internetuser in dieser Einstellung nicht gleich eine Parallele zur Bildikone des Tank Man auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz von 198940 gesehen und das extrahierte still mit Titeln wie »Cairo Tank Man«, »Egyptian Tank Man«, »Tian’anmen-like courage in Cairo« massenhaft weiterverbreitet, wäre diese Szene als eine unzähliger vergleichbarer weder breit wahrgenommen noch in das kulturelle Bildgedächtnis eingegangen. Nicht das Gezeigte an sich schreibt sich also in das kollektive Gedächtnis ein, sondern der paratextuell interpretierte Bildinhalt oder genauer: die Bildrhetorik, ein Mechanismus, der als typisches Phänomen digitaler Gesellschaften im Umgang mit Bildern betrachtet werden kann: Die David-gegen-Goliath-Bildformel, in der sich eine einzelne heldenhafte Person einer Übermacht entgegenstellt, ist äußerst stabil und gehört regelrecht zum Repertoire der Protestkulturen. Es ist charakteristisch für die digitalen Bildkulturen, dass diese ikonischen Bildformeln immer wieder aufgeführt und verkörpert werden und gleichsam zum Reenactment (das heißt so viel wie Wiederaufführung oder Nachstellung) animieren. Dieser Reenactment-Effekt scheint sich im Zeitalter der Sozialen Medien po39 Vgl. o. A. 2011. 40 Zur Bildikone des Tank Man siehe z. B. Drechsel 2011.

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tenziert zu haben. Er führt dazu, dass es immer weniger spezifische Einzelbilder sind, die wir wiedererkennen, vielmehr ist uns der Bildtypus selbst als Formel des Widerstands vertraut geworden. Die Tank-Man-Formel bezieht sich somit auf ein ganzes Cluster ähnlicher Bilder, die auf das gleiche Motiv rekurrieren, bei denen aber Akteur*innen, Orte oder Situationen wechseln können. (Schankweiler 2019, 27–28)

Die bewusste Einschreibung des ›Gadah (Mutiger Mann) von Kairo‹ in die transnationale Bildformel des Widerstands verweist dabei zugleich auch auf die historische Relevanz des Abgebildeten und verstärkt so die affektive Wirkung des Bildes. Wie schnell der ›Cairo Gadah‹ zu einer Ikone für den Ägyptischen Umbruch von transnationaler Reichweite wurde, zeigt der im Sommer desselben Jahres entstandene Cartoon »Egyptian Tank Man« des brasilianischen Cartoonisten Carlos Latuff (Abb. 4).

Abb. 4: Carlos Latuff, »Egyptian Tank Man«

Latuff verwendet das bekannte Bild als Folie, um die quasi universelle Übertragbarkeit der Tank-Man-Formel wissend, ergänzt er die Bildvorlage und weist den mutigen Demonstranten mit Schal und Jacke überdeutlich als durchaus national agierenden Aktivisten der ›25. Januar Revolution‹ aus.

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Weniger explizit und mit zeitlichem Abstand greift auch Mohammed Shenawy die Bildikone des ›Cairo Gadah‹ in einem Cartoon auf, das er 2014 in TokTok veröffentlichte (Abb. 5).

Abb. 5: Mohammed Shenawy, »Parking assistant«

Der Cartoon zeigt – freilich in überzeichnet humoristischer Weise – eine typische Alltagsszene eines ›Parkeinweisers‹, ein in Ägypten nicht unüblicher Gelegenheitsjob. Dabei gilt das ironische Augenzwinkern weniger dem Verkehrschaos auf Kairos vollkommen überfüllten Straßen, als dem Verweis auf die ›verlorene‹ Macht des Militärs. Die Militärpräsenz im aktuellen Ägypten ist nach wie vor enorm groß, doch die ergebene Ehrfurcht der Bevölkerung ihm gegenüber ist mit dem Arabischen Frühling verloren gegangen: Für den Parkeinweiser ist der Panzer ein Fahrzeug wie jedes andere.41 Der Gleichmut gegenüber militärischer Präsenz ist das nachhaltigste Ergebnis des Aufbegehrens der kleinen Leute. Der Einsatz der Bildformel des Panzermanns als Kompositionsfolie des Cartoons ruft dabei eine der zentralen Bildikonen des Ägyptischen Erwachens auf und kann so

41 Vgl. Høigilt 2019b.

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als subtiler Rückverweis auf den lieu de mémoire der jüngsten arabischen Geschichte verstanden werden.

3.2.

Comic und Graphic Novel als Erinnerungsmedien des Arabischen Frühlings

Die mediale Dauerpräsenz und Repetition von wenigen Einzelbildern bestimmter Ereignisse machen diese zu visuellen Ankern individueller wie kollektiver Erinnerungsprozesse. Dokufiktionale Comics und Graphic Novels können bei der Einschreibung konkreter Bilder in das Gedächtnis insofern als ganz besondere Erinnerungsmedien wirken, als die vielen inhaltlichen, zeitlichen und räumlichen Leerstellen zwischen den Panels es dem Rezipienten ermöglichen, diese mit eigenen Erinnerungsbildern zu ergänzen: […] comic narratives may combine with people’s memories to create vivid images of the heady days of the uprising, helping people remember the high spirits and the values of defiance, friendship and dignity that prevailes in public spaces. (Høigilt 2019a, 60)

Da dokufiktionale Comics und Graphic Novels Geschehen ja trotz allen Wirklichkeitsgehaltes stets fiktional be- und überarbeiten und dabei Fokussierungen und Interpretationen der Ereignisse vornehmen, konstruieren auch sie Geschichtsbilder – aber eben auf ihre Weise und diese unterscheidet sich aufgrund der meist systemkritischen Positionen sozio-politisch engagierter Comicmacher zumeist stark von den offiziellen Bild-Narrativen. Besonders deutlich tritt das subversive Potential von Comics und Graphic Novels als ›andere‹ Erinnerungsmedien des Arabischen Erwachens bei Werken hervor, die von Comicmachern aus den betroffenen Ländern selbst gestaltet wurden. Erfolgt Geschichtsschreibung hier doch in Form einer Geschichte auf einer alternativen, populären und per se revolutionären Weise. Mit Blick auf die ägyptische Comic-Szene sind vor allem zwei als Graphic Novels vermarktete Arbeiten des Zeichners Hanan al-Karagi zu nennen:42 Das zusammen mit dem Texter Muhammad Hisham Ubay gestaltete Album 18 Days (2011) und Ta’thir alJarda (»The grashopper effect«, 2014), in dem er mit dem renommierten Autor Khalid Ahmad Tawfiq die Ereignisse in Kairo aus der Retrospektive verarbeitet. Tatsächlich versteht sich Hanan al-Karagi als Comic-Reporter im eigenen Land: »I documented the revolution in drawings« (zit. in Høigilt 2019a, 60); seine Aufgabe sieht er in der eines unabhängigen künstlerischen Reporters, der just die Momente und Ereignisse dokumentiert, die in der offiziellen Berichterstattung (bewusst) ›unsichtbar‹ bleiben. Er betrachtet seine alternativen Bild-Narrative 42 Zur Analyse dieser beiden Werke siehe Høigilt 2019a, 61–65.

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dabei als »works of art, created in a moment of intense turmoil and hope, [they; MOH] may preserve essential truths that tend to get lost in the political fog that descends after the first heady days of mass mobilization.« (Høigilt 2019a, 60). Damit sind seine Alben ganz bewusst als grafische Medien des Erinnerns von unten konzipiert. Auch Chappattes BD Reporter und Der Arabische Frühling von Filiu und Pomès verstehen sich als Formen alternativer Berichterstattung, die darum bemüht ist, die Ereignisse des Arabischen Frühlings als Gegendiskurs zur offiziellen westlichen Berichterstattung darzustellen. Dabei rekurrieren auch sie auf die Bildikone Mohammed Bouazizi und unterstützen so dessen Einschreibung in das transnationale Erinnern als zentrales Bild-Narrativ des Arabischen Frühlings (siehe Abb. 1 und 6).

Abb. 6: Stilisierte Darstellung der Bildikone Mohammed Bouazizi. Ausschnitt aus Der Arabische Frühling

Während Chappatte mit der Einarbeitung des auf Schwarz-Weiß-Werte reduzierten Pressefotos des brennenden Bouazizi dessen weitere Verbreitung als Bildikone bestärkt, wird in Der Arabische Frühling mit der zeichnerisch stilisierten Darstellung von Porträt und brennendem Mann auf die Wiedererkennung längst in das Bildgedächtnis gespeicherter Medienbilder gesetzt.

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Abb. 7: Galerie des Erinnerns. Ausschnitt aus Der Arabische Frühling

Alternatives Darstellen und Erinnern des Arabischen Umbruchs ist eines der zentralen Anliegen von Der Arabische Frühling. Um dies zu erreichen, setzen die Comicmacher auf ein stark personalisiertes Darstellen, bei dem einzelne Ereignisse aus der Perspektive betroffener Personen oder Gruppen präsentiert werden. Der Flut an Medienbildern, die zumeist die anonyme Masse protestierender zeigen, wird so eine menschlichere Sichtweise entgegengesetzt. Mittels der Individualisierung werden die Ereignisse in ihrer Eindringlichkeit und mitunter grauenvollen Brutalität nachvollziehbar und wecken das Mitgefühl der Rezipienten. Auffällig ist dabei, dass neben den auch in Europa bekannt gewordenen Gesichtern (die der Diktatoren einerseits und die weniger anderer wie etwa Mohammed Bouazizis oder Tawakkol Karmans) vor allem Gesichter in der westlichen Welt unbekannt gebliebener Menschen in den Fokus rücken. Damit werden die Bild-Narrative der westlichen Außenperspektive um solche der arabischen Binnenperspektive ergänzt. Den Autoren ist es ferner ein Anliegen, die Gesichter all der mutigen und engagierten Menschen in Erinnerung zu bewahren, die sich für Demokratie und Gerechtigkeit einsetzten und dabei auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Interessant ist dabei, dass diese Ehrerweisung in Analogie zur Kairoer ›Mauer der Märtyrer‹ auf der letzten Seite des Albums als eine Galerie bekannter und unbekannter ›Helden für die Freiheit‹ gestaltet ist, und

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damit ein zentrales Bild-Narrativ der arabischen Binnenperspektive mitbedient (vgl. Abb. 7).

4.

Fazit

Bildmedien gewannen während des Arabischen Frühlings eine in der arabischen Welt bis dato beispiellose Bedeutung. Bilder wurden dabei zu zentralen Akteuren des Protestes: Das neu entdeckte Bedürfnis nach bürgerjournalistischem Bezeugen und Dokumentieren der Ereignisse und der daraus erwachsende Bildprotest als (auch visuelle) Gegendiskurs zu offiziellen Berichterstattungen führte insofern auch zu einer Bildrevolution, als sich eine ebenso politisch-kritische wie ›postkolonial‹ emanzipierte alternative Kunstszene herausbildete, die ihren Ausdruck in Graffitis, murales und (Online-)Comics findet und allen Anfeindungen, Sanktionen und Zensurmaßnahen zum Trotz unerschrocken und mutig an der Weiterentwicklung einer eigenständigen und innovativen arabischen BildSprache arbeitet. Indem sich einzelne Bilder durch die sozialen Netzwerke in globale Bildformeln des Protests einschrieben und binnen kürzester Zeit zu Ikonen avancierten, entwickelten sich Bild-Narrative des Arabischen Umbruchs, die durch mediale Präsenz und künstlerische Reproduktion Eingang in das (trans-)kulturelle kollektive Gedächtnis fanden. Damit wurden sie zu wesentlichen Stützen des visuellen Erinnerns des Arabischen Frühlings als wichtigem lieu de mémoire der jüngsten Geschichte der arabischen Welt.

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Wenn Umbruch zum Alltag wird. Veränderte Temporalität, Zeugenschaft und künstlerische Praxis im Kaschmirtal »The smallest unit of time in Kashmir is a siege. Chronicle of days and nights as prison cells« (Uzma Falak 2020a)

1.

Einleitung

Dieses Zitat, das Tage und Nächte, eine Vorstellung von Zeit also, mit Gefängniszellen gleichsetzt, ist der Titel eines Gedichts von Uzma Falak, einer aus Kaschmir stammenden Poetin, Filmemacherin und Ethnologin. Am 7. September 2019 sprach sie auf ihrer Facebook-Seite von »confinement in our prison homes.« Es war Falak’s erster Eintrag seit Anfang August 2019. »It is only when I left, I realized it had been 23 days of siege. [O]ur lives have been subjected to a brutal repetition … enforcing upon us, as has been the norm, a barbaric ›normalcy‹ …« (Falak, FB, 17. August 2019). Sie bezieht sich damit auf eine Erfahrung, die sie mit etwa acht Millionen Menschen im himalayischen Kaschmirtal teilt, über die der indische Staat ab der Nacht des 4. auf den 5. August 2019 eine wochenlange Ausgangs- und Kommunikationssperre verhängte und beinahe nahtlos von der Außenwelt abschnitt. Der Facebook-Eintrag verweist zudem auf die ›Normalität‹ von Ausgangssperren, die in der politisch umstrittenen Hochgebirgsregion seit nun bald 30 Jahren mit solch einer ›brutalen‹ Regelmäßigkeit angeordnet werden, manchmal tage-, manchmal auch wochenlang, dass sie eigentlich schon zu etwas ›Alltäglichem‹ geworden sind. Dieser Alltäglich-Machung, oder Normalisierung, setzt Falak schon in ihrem Gedichttitel sprachlich ein deutliches Zeichen entgegen. Sie bedient sich eines naturwissenschaftlichen Konzepts – »Die kleinste Zeiteinheit« –, um die empfundene Enormität der wiederkehrenden, oder zu jeder Sekunde präsenten Belagerungen Kaschmirs gedanklich und emotional fassbarer zu machen – eine temporäre Steigerung hierzu kann es nicht geben. Gleichzeitig aber deutet sich in der offensichtlichen Unmöglichkeit/Unverhältnismäßigkeit des Vergleichs sowie in der Tatsache, dass Falak als Superlativ einen Referenzrahmen gewählt hat, der sich dann verstärkt, wenn er gegen Null strebt, eine Weigerung an, den vermeintlichen Triumph des indischen Staats anzuerkennen.

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Schon Tage vor dem 5. August 2019 hatten vielerorts in Kaschmir Gerüchte jedoch vermuten lassen, dass eine mögliche Ausgangsperre nicht wie sonst üblich aus sicherheitspolitischen Begründungen, sondern als präventive Maßnahme in Planung war. Am Morgen dieses 5. August verabschiedete die indische Regierung unter der Führung der rechtsnationalistischen Partei BJP in einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung einen sogenannten Präsidialerlass, mit dessen Hilfe Artikel 370 der indischen Verfassung annulliert werden konnte. Dadurch war der Weg geebnet, dem indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir, der einzigen muslimische Mehrheitsregion auf indischem Territorium, seinen Teil-Autonomiestatus zu entziehen; laut indischer Regierung eine Entscheidung, um den dort lebenden Menschen zu helfen, »ein würdiges Leben zu führen, wie es die indische Verfassung verspricht«1, wobei immer wieder von einem »neuen Paradies in Kaschmir« und dem Beginn einer »neuen Ära« gesprochen wurde.2 Wir befassen uns in diesem Kapitel mit einer Umbruchsphase, die schon lange andauert, von Leid und Gewalt geprägt ist, und vor allem noch immer kein Ende erkennen lässt – dem geopolitischen Konflikt, der das Kaschmirtal und teilweise ebenfalls umliegende Regionen auf dem südasiatischen Subkontinent seit vielen Jahrzehnten prägt, und in dem die oben kurz beschriebenen Ereignissen einen traurigen Höhepunkt darstellen. In unserer Arbeit mit Künstler*innen, Journalist*innen und Kulturschaffenden aus Kaschmir untersuchen wir, wie sie diese andauernden Umbrüche oder Umbruchsversuche und damit zusammenhängendes Leid, anhaltende Unsicherheit und den Zerfall des Alltags (Zia 2018; Kaul 2015; Kak 2011) in ihren Werken verarbeiten. Viele von ihnen greifen dabei auch zurück auf ein größeres Repertoire kaschmirischer Erzähl- und Performanz-Traditionen, die sie für ihre künstlerisch-politischen Artikulationen nutzbar machen und damit dazu beitragen, Unsagbares erfahrbar und wahrnehmbar zu machen. Wir argumentieren, dass Kunst und Literatur die Umbruchszeit aus Sicht der Bevölkerung im Kaschmirtal zu dokumentieren und erfahrbar zu machen versuchen. Gleichzeitig zeichnet sich in diesen Arbeiten ab, dass der Umbruchsmoment als etwas Destabilisierendes in Kaschmir zum Alltag geworden ist, weil er sich in Variationen seit Jahren immer wieder wiederholt und sich dabei verfestigt hat. Während sich nämlich die Narrative der indischen Regierung zu den Ereignissen im August 2019 Begriffen wie ›Aufbruch‹ oder ›neue Ära‹ bedient, die einen positiven und zukunftsgerichteten Umbruch suggerieren, erscheint der Verlust des Autonomiestatus vielen Menschen, die im Kaschmirtal leben, nicht als singulärer Umbruchsmoment. Für sie ist es eine Verschärfung in einer Serie von gewaltsamen Interventionen des indischen Staates mit dem Ziel, die jahr-

1 »Article 370 abolished to protect human rights: Ram Madhav«. The Hindu, 31. August 2019. 2 Mahale, 31. August 2019.

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zehntelangen Bestrebungen nach politischer Selbstbestimmung der HimalayaGrenzregion zu unterdrücken. Nach einem kurzen historischen Abriss werden wir uns mit dem Verhältnis der Umbruchsrhetorik, den Auswirkungen der anhaltenden Militarisierung auf Lebenswelten der kaschmirischen Bevölkerung und der Wahrnehmung von Zeit in dortigen literarisch-poetischen Praktiken beschäftigen. Exemplarisch werden wir uns dazu mit Sprache und Form poetischer Arbeiten der Dichterin Uzma Falak auseinandersetzen und analysieren, wie ihre Gedichte das Empfinden von sich verändernder Temporalität widerspiegeln und es damit als kollektive Erfahrung artikulierbar machen. Wir beziehen uns dabei vor allem auf das oben schon erwähnte Gedicht The smallest unit of time in Kashmir is a siege (Falak 2020a) sowie weitere von ihr veröffentlichte Gedichte und öffentliche Statements, um diese veränderten Temporalitäten, die Umbruch als Alltag erscheinen lassen, aufzuzeigen.3 Gerade im Gedicht The smallest unit of time werden jedoch auch immer wieder Momente einer Art alternativen Zeitlichkeit sichtbar, die Falak der sie umgebenden Umwelt entnimmt oder selbst generiert.

2.

Kurzer historischer Überblick

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Kaschmirtal zur räumlichen Manifestation der traumatischen Teilung des südasiatischen Subkontinents und den damit verbundenen Erinnerungen extremer Massengewalt zwischen Hindus und Muslimen sowohl auf indischer als auch pakistanischer Seite. Die Gewalt, die im Zuge der Teilung Britisch-Indiens 1947 zum Tod von Hunderttausenden führte und zwanzig Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte, wirkt noch heute in den Nachfolgestaaten nach und hat sich in die kollektiven Erinnerungen eingeschrieben (vgl. Das 1997, 2007), die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden (Kakar 1996). Die Kaschmir-Region, um die Pakistan und Indien seit 1947 drei Kriege geführt haben, ist als einzige Region in Indien mit einer muslimischen Mehrheit eng mit diesem Trauma verbunden. In historiografischen Analysen des Konflikts wird meist nur das Ereignis der Teilung Britisch-Indiens betrachtet, um aber die Region und die verschiedenen lokalen Zugehörigkeiten und Identitäten besser verstehen zu können, müssen wir etwas weiter in der Geschichte zurückgehen. Im Jahr 1586 hatte der Mogulkaiser Akbar im Zuge der Ausweitung seines Reichs in Südasien der kaschmirischen Souveränität ein Ende gesetzt. Yousuf Shah Chak, der letzte unabhängige muslimische Herrscher des Tals, war, nachdem seine Armee dem Mogulkaiser zweimal widerstanden hatte, von Akbar ins Exile nach 3 Alle Gedicht-Fragmente in diesem Kapitel wurden mit dem Einverständnis von Uzma Falak abgedruckt.

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Bihar geschickt worden (Mrai 2014). Mit dem Niedergang der Moguldynastie unter Aurangzeb verschärfte sich in Kaschmir mit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine krisenhafte Entwicklung, die durch Überschwemmungen, Hungersnöte, soziale Unruhen, Pogromen zwischen Hindus, Schiiten und Sunniten und politische Morde gekennzeichnet war (Schofield 1996, Kaul 2003). In das entstandene Machtvakuum drangen 1753 afghanische Herrscher ein. Ab 1819 wurden diese durch Ranjit Singh, dem ersten Kaiser des aufstrebenden pandschabischen Sikhreiches, zurückgedrängt. Singhs Statthalter, der in Jammu residierende DograFürst Gulab Singh, ließ die kaschmirischen Muslime verfolgen. Die vorrückende britische Kolonialmacht bezwang nach jahrelangen Kämpfen die Armee von Ranjit Singh und entschied im Vertrag von Amritsar von 1846 zur Konsolidierung ihrer Stellung im Himalaya das Erbpachtrecht für Kaschmir und umliegende Regionen für einen symbolischen Betrag an Gulab Singh zu übertragen. Gleichzeitig erhob man ihn in den Rang eines Maharadschas des neugeschaffenen Hindu-Fürstenstaates Jammu-Kaschmir (vgl. Huttenback 2004; Zutshi 2004). Als ein Jahrhundert später das scheidende britische Kolonialregime den Regenten der rund 550 südasiatischen Fürstentümer die Entscheidungsbefugnis über deren nationalstaatliche Zugehörigkeit überließ, votierte Kaschmirs damaliger Maharadscha Hari Singh zunächst für die Unabhängigkeit seines zu über achtzig Prozent von Muslimen bevölkerten Staates. Bereits Jahre vor der südasiatischen Unabhängigkeit, in den 1930ern, hatte sich im Kaschmirtal und angrenzenden Tälern allerdings Widerstand gegen die Fremdherrschaft des Hindu-Maharadschas formiert, der sich in nachhaltigen Forderungen nach politischer Selbstbestimmung, a¯zadı¯ (wörtl. ›Freiheit‹), artikulierte und in verschiedenen Momenten zu Konfrontationen führte. Jüngere Archivrecherchen dokumentieren etwa, wie nach Protesten in der Provinz Jammu Truppen des Maharadschas zwischen August und Oktober 1947 eine Reihe von Massakern an der muslimischen Bevölkerung durchführten, bei denen mehr als 200000 Menschen getötet und über eine halbe Million aus dem Gebiet vertrieben wurden (Snedden 2007, 2012; Junaid 2019). Aufgrund der so drastisch verschärften Situation und infolge der dramatischen Ausschreitungen, die sich an die Teilung des Subkontinents anschlossen4, traf Maharadschas Singh daher im Oktober 1947 die Entscheidung, durch die Unterzeichnung des Document of Accession der Indischen Union beizutreten (vgl. Huttenback 2004; Zutshi 2004). Da der neue Nachbar Pakistan die größere Kaschmirregion mit Verweis auf die Logik der Teilung entlang religiös-ethnischer Grenzen ebenfalls beanspruchte, entbrannte kurz nach der Unabhängigwerdung, bereits im Oktober 1947, der erste 4 Man schätzt allein für die drei Monate nach der Unabhängigkeitserklärung Pakistans am 14. bzw. Indiens am 15. August 1947 die Zahl der Todesopfer auf rund eine Million, die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen auf zwölf bis zwanzig Millionen (Tincq 2007; Chaturvedi 2001, 151, Kreutzmann 2003, 6); etwa fünf Millionen Muslime flohen nach Pakistan, zwischen sieben und neun Millionen Hindus und Sikhs nach Indien (Tincq 2007).

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indisch-pakistanische Krieg. Nachdem der damalige indische Premierminister Jawarharlal Nehru, dessen Familie aus Kaschmir stammte, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Vermittlung eingeschaltet hatte, einigten sich Indien und Pakistan unter Aufsicht der Vereinten Nationen am 1. Januar 1949 auf einen Waffenstillstand sowie die De-facto-Zweiteilung Kaschmirs in das pakistanische »Azad«-Kaschmir, das die sogenannten »Northern Areas« umfasst, und den indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Eine Volksabstimmung über die zukünftige politische Zugehörigkeit der größeren Kaschmir-Region wurde der Bevölkerung versprochen, aber bis zum heutigen Tag nie durchgeführt (vgl. Snedden 2012; Zutshi 2004). Ende der 1980er Jahre wurde das Kaschmirtal, auch als Reaktion auf mehrfach von Seiten Delhi’s manipulierte Wahlen, Schauplatz eines bewaffneten Volksaufstandes, der mit pakistanischer Unterstützung zu weiten Teilen aus lokalen Freiheitskämpfern bestand, die großen Rückhalt aus der Allgemeinbevölkerung erfuhren (Kanjwal 2019; Junaid 2019; Snedden 2015). Im Zuge der sich ausweitenden Ausschreitungen flohen rund 150000 Kashmiri Pandits, die Hindu Minderheit in Kaschmir, teilweise auf Anraten der indischen Zentralregierung, aus dem Kaschmir-Tal nach Jammu und anderen Orten in Indien. In Folge begann der indische Staat bundesstaatsweit mit dem Aufbau einer militärischen Infrastruktur und verwandelte das Tal nach und nach in eine der am dichtesten militarisierten Regionen der Welt. Notstandsgesetze für sogenannte disturbed areas traten in Kraft; willkürliche Ausweiskontrollen, Hausdurchsuchungen, präventive Internierungen ohne Gerichtsverhandlung, Folter und Verschwindenlassen wurden zum Alltag für die Bevölkerung des Kaschmirtals (JKCCS 2011). Nach Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen hat die systemische Gewalt der Militarisierung zum Verschwinden von circa 8.000 Personen, über 70.000 Toten und 6.000 anonymen Massengräbern sowie zu vielen Fällen von Folter und sexueller Gewalt geführt (APDP und ITPK 2015). Am 5. August 2019 löste die kurzfristig organisierte Verfassungsänderung der indischen Regierung den Bundestaat dann de facto auf. Während dies geschah, befanden sich die Mehrheit der Mitglieder der kaschmirischen Regierung sowie der kaschmirischen Oppositionsparteien im Gefängnis oder unter Hausarrest. In den Tagen vor dem 5. August und bis zum Ende des Monats ließ die indische Regierung in Kaschmir zwischen 4000 und 6000 Personen inhaftiert.5 In Vorbereitung auf diesen Schritt wurden Ende Juli 2019 mehrere tausende hinduistische Pilger*innen, ausländische Reisende und etwa 200.000 indische Arbeiter*innen aufgefordert, das Tal schnellstmöglich zu verlassen.6 Mehrere zehn5 »About 4,000 people arrested in Kashmir since August 5: govt sources to AFP«. The Hindu, 18. August 2019. 6 »India orders tourists to leave Kashmir over ›terror threat‹«. BBC News, 3. August 2019.

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tausend Soldaten wurden zur Verstärkung des bereits stationierten Heeres eingeflogen. Neben kaschmirischen Politiker*innen griff die indische Armee überall im Kaschmirtal auch Anwälte, Geschäftsleute, Akademiker, Menschenrechtsverteidiger und Studenten auf,7 zudem mehrere hunderte Jugendliche und Kinder.8 Als die vorhandenen Gefängnisse in Kaschmir nicht mehr ausreichten, flog die Armee ihre Gefangenen, auch Minderjährige, ins indische Tiefland in zum Teil viele hunderte Kilometer entfernte Gefängnisse aus. Parallel dazu ermutigte Narendra Modi die indische Filmindustrie dazu, nach Kaschmir zu reisen, um dort die ›neue Realität‹ zu dokumentieren. Anfang August direkt hatten sich einige indische Produzenten an die Indian Motion Pictures Producers Association (IMPPA) gewandt, um die Registrierung möglicher Filmtitel, wie etwa 370 und Kashmir hamara hai (Kaschmir ist unser) zu klären.9 Mit der Zweiteilung des Bundesstaates in die Unionsterritorien Jammu-Kashmir und Ladakh und der Auflösungen vieler politischer und administrativer Institutionen des ehemaligen Bundesstaates wurde die Grenzregion Ende Oktober 2019 endgültig der direkten Kontrolle durch die indische Zentralregierung unterstellt.10

3.

Kunst als Zeugenschaft und Geschichtsschreibung in Kaschmir

Francoise Davoine und Jean-Max Gaudilliere argumentieren, dass Poesie wie auch Fiktion aus Kriegsgebieten weder in erster Linie als Kunst noch kulturelles Produkt verstanden werden sollte, sondern vielmehr als ein notwendiges Instrument der Historisierung zu interpretieren sei (Davoine und Gaudilliere 2004, 116). Gerade das Medium der Poesie spielte in Kaschmir bereits historisch eine besondere Rolle als eine Möglichkeit, gesellschaftspolitische Einschnitte und Umbrüche zu reflektierten und hinterfragen, aber auch weil es durch sie möglich wurde, ein Gefühl der Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart zu schaffen (vgl. Zutshi 2014). Abir Bazaz (2020) argumentiert etwa, dass bereits im mittelalterlichen Kaschmir die Zentralität der Poesie ein wichtiges Merkmal für das öffentliche Leben in Kaschmir, aber auch in anderen südasiatischen muslimischen Gesellschaften war und einen der wesentlichen Faktoren für den Aufstieg einer indo-muslimischen Moderne darstellte (Bazaz 2020, 20). Am Übergang von 7 Ghoshal und Pal, 12. September 2019. 8 Menon, 2. Oktober 2019; Yadav, 14. August 2019. 9 »›Article 370‹, ›Kashmir Hamara Hai‹: Bollywood film-makers rush to register movie titles«. The Economic Times, 8. August 2019. 10 In den Tagen und Wochen nach dem 5. August 2019 kam es in Kaschmir selbst und vielen dutzenden Städten in Südasien und weltweit zu hunderten Protesten gegen das Vorgehen des indischen Staates.

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einer hinduistischen zu einer muslimischen Gesellschaft gelang es dem bekannten kaschmirischen Mystiker und Dichter Sheikh Nooruddin Wali, oder auch Nund Rishi genannt (1378–1440), durch die Übersetzung des Korans in die Landessprache Koshur (»Koshur Qu’ran«), die Erfahrung des Islams dem Alltag der Menschen dort zu vermitteln (Bazaz 2020, 21). Über die mündliche Praxis seiner Poesie konnte Nooruddin Wali den Islam für ein alternatives religiöspolitisches Denken von einer kaschmirischen Perspektive zugänglich machen (Bazaz 2020, 20). In ihrer Arbeit zu historischen Imaginationen vom späten sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht die Historikerin Chitraleka Zutshi (2014) lebendige, historischen Traditionen in Kaschmir, die über kollektive Erinnerungen, Erzählpraktiken, Theateraufführungen und Poesie die Vorstellungen der Region Kaschmir und Ideen von Geschichte und Geschichtsschreibung beeinflusst haben. Zutshi rekonstruiert darüber hinaus die Produktion, Zirkulation und Rezeption dieser Traditionen innerhalb weiter Teile der ansässigen Bevölkerung, die auf vielfältigen Interaktionen textlicher, mündlicher und performativer Praktiken basierten und eine Gegenerzählung zu den großen staatlichen Narrativen zur Region darstellten. Suvir Kaul, der sich mit Gedichten in Koshur ab dem Beginn der Militarisierung der Region im Jahr 1990 auseinandersetzt, notiert wie in diesen Texten Gewalt, Verlust, Widerstand und Zerrüttung des Alltags in Kaschmir aufgearbeitet wurden. Für ihn bilden diese Gedichte, deren Form sich von der klassischen kaschmirischen Poesie abgewandt hat, eine Art Archiv von emotionalen und psychologischen Intensitäten, die offizielle Berichte über Kaschmir hinterfragen und viel über diejenigen erzählen, die politischen Repressionen und Gewalt ausgesetzt waren (Kaul 2017). Muzamil Jaleel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade Gedichte während der ersten Jahre der Militarisierung, in denen Zensur und Angst das Schreiben von Prosa gefährlich machten, eine der wenigen Möglichkeiten der Artikulation von traumatischen Erlebnissen und Protest waren (Jaleel 2002). Daniel argumentiert, dass das Gefühl in einer von Gewalt und Leiden geprägten Gegenwart gefangen zu sein – eine fortdauernde Präsenz der Gegenwart sozusagen – diese zu einem ›Aufbewahrungsort‹ der Vergangenheit reduzieren und den Eindruck einer stillstehenden Zeit erzeugen könne (Daniel 1997, 125–127). Durch die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen subjektiven Prozessen und öffentlichen Ereignissen bieten diese lyrischen Texte nicht nur Einblicke in einzelne Subjektivitäten, sondern auch in die Entstehung von Gemeinschaften, Gefühlen, kollektive Erfahrungen und politische Zugehörigkeiten (Kaul 2017, 144), oder wie die Erfahrung von Zeit eine andere Bedeutung bekommt und das historische Verständnis einer Neudefinierung unterzogen wird (Fassin und Rechtman 2009, 276).

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Eine weitere Generation von Künstler*innen und Kulturschaffenden formierte sich um die massiven Straßenproteste herum, die seit den Unruhen 2008 und 2010 unter dem Begriff »Kashmiri Intifada« eine neue Dimension des kaschmirischen Widerstands widerspiegeln und verstärkt auf den Volkscharakter der Artikulationen für politische Selbstbestimmung des Kaschmirtals hindeuten (Kak 2011; Staniland 2013; Kanjwal 2019). Diese Proteste entstehen und intensivieren sich meist als Reaktion auf oder im Zusammenhang mit Gewaltakten des indischen Staats, wie etwa die Tötung von Zivilist*innen, Nachrichten von Folter und Verschwindenlassen, die Blindmachung hunderter Protestierender durch den Einsatz von Schrotflinten im Jahr 2016 oder der gewaltsame Entzug des Autonomiestatus im August 2019 (APDP 2011; JKCCS 2017, 2019; Falak 2020b; Parrey 2019a, 2019b). Über verschiedene Technologien und Medien versuchen diese Künstler*innen, neue Formen von politischer Sprache und Gegenerzählungen zu den Narrativen des indischen Staats zu schaffen, dem es immer wieder gelingt, seine Gewalt über Gesetze zur Straffreiheit unsichtbar zu machen und sich so jeglicher Verantwortung zu entziehen (vgl. Kabir 2016; Kak 2011, 2017; Kramer 2019; MC Cash 2011; Kanjwal und Bhat 2018; Parrey 2010). Uzma Falak ist Teil dieser Generation.

4.

Veränderte Temporalität und Umbruch

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns mit der poetischen Arbeit von Uzma Falak beschäftigen und näher betrachten, wie sie sich mit den verschiedenen Temporalitäten auseinandersetzt, die im Zusammenhang mit der durch anhaltende Gewalt und Unsicherheit geprägten Situation in Kaschmir den dortigen Lebensalltag beeinflussen. Wir gehen dabei davon aus, dass der Umbruchsmoment als etwas Destabilisierendes in Kaschmir zum Alltag geworden ist, weil er sich in Variationen seit Jahren immer wieder wiederholt und sich dabei verfestigt hat. Wir folgen hier einer Lesart des Umbruchs, die sich vor allem mit der Brutalität gewaltsam herbeigeführter Transformationen beschäftigt (Holbraad et al. 2019). Aus Sicht der staatlichen Akteure Indiens schieben die brutalen Eingriffe in das Kaschmirtal eine politische Veränderung in chronologischer Zeit an und sollen bald zu einer utopischen Zukunft führen. Damit vertritt der indische Staat die »heroische Figuration« (Scott 2004, 96) einer modernen Nation, die die Opposition nicht nur verschwinden lässt, sondern sogar überwinden kann. Unsichtbar gemacht werden soll hier nicht nur die politische Opposition, sondern auch die Effekte der gewaltvollen Instrumente der Machtausübung auf die Bevölkerung. Immer wieder eingeschlossen und abgeschnitten von der Außenwelt, von sozialen Netzwerken, zeichnet sich ein Bild einer ganz anderen, zäheren Zeitlichkeit ab, die nicht vorwärtsgerichtet sein kann, sondern im Erleben

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ständiger Ausgangs- und Kommunikationssperren als verlangsamt, fragmentiert oder kleinsten, zirkulären Wiederholungen unterworfen empfunden wird. Uzma Falak, die in den 1990er Jahren in Kaschmir aufgewachsen ist, begann schon während der Schulzeit, Gedichte zu schreiben. Der offizielle Korpus ihrer poetischen Arbeit umfasst mehrere Dutzende längere Texte, aus der Zeit zwischen 2010/11 und 2020. Wiederkehrende Themen – oft in Bezug auf die politische Situation und den Alltag in Kaschmir – sind Zeugenschaft, kollektives Erinnern, Vergänglichkeit und Wahrnehmung von Zeit. Falak postete ihre Texte zunächst frei zugänglich im Internet auf Online-Blogs und sozialen Netzwerken, wie etwa Facebook und Twitter. Während der vergangenen Jahre veröffentlichte sie ihre Texte vermehrt auch in Anthologien und über Literaturjournale und Zeitungen11, von wo aus sie dann teilweise auch wieder ihre Wege in die sozialen Medien zurückfinden. In diesem Interview mit dem Forschungsjournal The Polis Project beschreibt Falak ihre poetische Arbeit als einen »attempt to create several layers of meaning, to enable a poetry of witness, poetry as witness and to foreground the testimonial force« (Falak 2019, 1–3). Spätestens seit dem Text Recorded Rotten Stereo Sounds, A Rape Survivor’s Testimonial (2017) experimentiert sie zunehmend bei der Gestaltung ihrer Gedichte und versucht nicht nur über intertextuelle und Bricollage-Elemente – »traveloguesque imagery, fragmentary memory scapes, ›eyewitness‹ testimonials, newspaper excerpts, extracts from a physics primer, inventory-like accounts« (Falak 2020b, 1) – sondern auch durch Einsatz und Verfremdung formaler literarischer Elemente sowie Anpassung der äußeren Form den Interaktionsraum ihrer Arbeiten zu erweitern. Dabei setzt sich Falak in ihren Gedichten, im Text als auch über die Visualität, immer wieder mit deren, wie sie es formuliert, »impossibility« auseinander, dem Gefühl der Unformulierbarkeit von Poesie im Angesicht von sich wiederholender und organisierter staatlicher Gewalt: »this is not a poem«, »last words that make a poem difficult« (Falak 2019, 1–3), »this is not a normal poem«, »this is not a nonviolent poem« (Falak 2018, 8).

11 Falaks literarische Arbeiten, Essays und Reportagen sind u. a. in Al Jazeera English, Warscapes, Himal Southasian, Cultural Anthropology, Anthropology and Humanism, The Economic and Political Weekly, The Electronic Intifada, The Palestinian Chronicle, Gossamer: An Anthology of Contemporary World Poetry, Of Occupation and Resistance: Writings from Kashmir erschienen. Ihr Film Till then the Roads Carry Her wurde u. a. an der Universität Kopenhagen, Universität Warschau, Karlstorkino Heidelberg, Tate Modern, CineDiaspora (New York), Asian Women’s Film Festival 2016 gezeigt. Derzeit ist sie DAAD-Doktorandenstipendiatin an der Universität Heidelberg, wo sie sich in ihrer Doktorarbeit auf die Aufzeichnung und Erforschung von Widerstandsliedern von Frauen aus Kaschmir konzentriert. Durch ihre Untersuchungen zu Erinnerung, Klang, Zeit und Widerstand versucht sie, alternative Narrativen und Geschichten von Frauen zu kartieren, die vom Staat systematisch unhörbar und abwesend gemacht wurden.

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Verschiedene von Falak’s Gedichten und Texten artikulieren in eindrücklich bildlicher Sprache wie sie ›Umbruch als Alltag‹ empfindet und verarbeitet; ein Alltag, in dem die Zeit nicht abfließt, und damit nicht linear oder zirkular erfahren werden kann, sondern zu einer fragmentierten oder stockenden Temporalität wird. Sie zitiert am 21. September 2019 eine neuere kaschmirische Redeweise auf ihrer Facebook Seite: »Qayamat gai, Qayamat cha gasaan, Qayamat Karekh [Doomsday day happened, is happening, they are doing doomsday]12. In Kashmir, the Doomsday transforms from a noun to verb. From a day to the everyday«. Der Satz setzt einerseits die aktuelle Situation in Beziehung zum Tag des Jüngsten Gerichts und fu¨ hrt gleichzeitig die Idee von einer sich ausdehnenden oder in einer Schleife feststeckenden Zeitwahrnehmung mit sich, in welcher eine abgeschlossene Einheit ›Tag‹ hin zum allgegenwärtigen ›Alltag‹ verschoben scheint. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Verweis auf das Einsickern der Erfahrung von anhaltender Gewalt und Unsicherheit in den Alltagssprachgebrauch, sichtbar in einer sprachlichen Reflexion der veränderten Zeitwahrnehmung – doomsday day happened, is happening, they are doing doomsday. Die Beschäftigung mit veränderten, sowie das Angebot von alternativen Temporalitäten im Zusammenhang mit der Art und Weise, wie der indische Staat in Kaschmir Kontrolle ausübt, finden sich seit einigen Jahren in Falak’s Arbeiten (vgl. Falak 2012, 2016, 2017, 2019, 2020a, 2020b; Kramer 2019). Mit Blick auf das Thema des Sammelbandes wollen wir im Folgenden ein Gedicht betrachten, das Falak während und nach der wochenlangen Abschottung des Kaschmirtals ab dem Entzug des Autonomiestatus im August 2019 verfasst hat.

5.

Von Erinnerung und Praxis der Zeugenschaft zur wieder ›fließenden‹ Zeit? [paradise prison song] [ journal of an nth siege] [the razor-wired passage of time] [letters from an anechoic chamber] [this number doesn’t exist] [inaudible] [notes on homes as prison wards] [chronicle of days and nights as prison cells] [repeat] [writing on the prison wall] [the smallest unit of time in Kashmir is a siege] [use normal in a sentence] [alleged] [] [Uzma Falak] (Uzma Falak 2020a)

12 Übersetzung von Uzma Falak (persönliches Telefonat vom 1. Februar 2021).

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Nachdem im Oktober 2019 Telefonnetze in Kaschmir nach und nach wieder freigegeben worden waren, beschrieben einige Freund*innen dort eine vorhaltende Empfindung: Jeder Tag seit dem 5. August fühle sich genauso an wie der vorangegangene; fast so, als stecke man fest in einem einzigen Tag. Dieses Gefühl von Stillstand, von Zeit, die nicht abfließt, findet sich auch, komplexer ausgearbeitet, in einem Gedicht, das Uzma Falak im Sommer 2020 über das Literaturjournal adimagazine13 veröffentlichte. Die wochenlange politische Ausgangsund Kommunikationssperre im Kaschmirtal war zu dem Zeitpunkt von der indischen Armee bereits mehr oder weniger nahtlos in eine Covid-19 bedingte Ausgangssperre überführt worden. Falak’s The smallest unit of time in Kashmir is a siege ist eine Chronik, die eine Mischung aus Momentaufnahmen, Augenzeugenbericht und retrospektiver Reflexion über die ersten Wochen der Ausgangssperre im Kaschmirtal nach dem 5. August 2019 darstellt. Die oben zitierten Satzfragmente in eckigen Klammern bilden den Anfangsteil des Gedichts. In ihnen spiegelt sich bereits das Thema wider, dem wir uns in diesem letzten Teil im Detail nähern wollen: die Auswirkungen des Zusammenspiels von anhaltender Gewalt, Verlust und dem Alltag der Menschen im Kaschmirtal, welche sich in einer veränderten Wahrnehmung von Zeitlichkeit niederschlagen. Uzma Falak spricht in diesem Zusammenhang von einer »temporality of loss« (Falak 2019, 1– 3), eine Zeitlichkeit, die durch die Erfahrung von Verlust gefühlt verlangsamt abläuft. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit der Krise, die daraus entsteht – einer zwangsläufigen Diskordanz zwischen einer ›Zeitlichkeit des Verlusts‹ in Kaschmir und der beschleunigten, linearen, offiziellen Zeitlichkeit in Indien – auseinander (Falak 2019). Bei dem hier besprochenen Gedicht – oder auch »prison calendar–journal« (Falak 2020a, 1) – ist Zeit formal und inhaltlich das konstitutive Element, wobei wir uns fast ausschließlich in einer bestimmten Form der Gegenwart befinden, Zukunft und Vergangenheit scheinen zunächst irrelevant zu sein, es zeichnet sich ein fast völliger Kollaps der Zeit ab. Das Gedicht setzt sich zudem rein von der visuellen Präsentationsform wohl am deutlichsten von Falak’s bisherigen poetischen Arbeiten ab. Bestehend aus vier schlichten Wochenkalenderblättern, die die Zeitspanne vom 1. bis zum 31. August 2019 umfassen, erschließt sich bereits über die visuelle Form eine erste Ebene des Gedichts. Die hellen, blaugrauen Wochenblätter mit jeweils sieben, durch dünne, weiße Längsstreifen abgeteilte Spalten muten selbst beinahe wie Miniaturgefängniszellen an. Am Kopf jeder Spalte verweisen fortlaufende Zahlen auf das jeweilige Datum; mit einem roten Kreuz daneben markiert Falak symbolisch je einen durchlebten Tag. Jedem Tag hat sie zwei, manchmal drei kurze Eintragungen zugeordnet, die sich grob in fünf Register einteilen lassen: 15 Titelfragmente in eckigen Klammern; persönliche 13 Siehe hierzu: https://adimagazine.com/about/ (7. Februar 2021).

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Einträge; Namen von Menschen, die im August 2019 im Zusammenhang mit der Ausgangssperre gestorben sind oder von der indischen Armee getötet wurden; 25 Auszüge aus einem Gefängnis-Manual des indischen Amts für polizeiliche Forschung und Entwicklung; und acht kleine Handzeichnungen. Um sie von voneinander abzugrenzen, benutzt Falak für die verschiedenen Textkategorien teilweise unterschiedliche Farben, Fonts und Schriftschnitte. Die 15 Satzelemente in eckigen Klammern am Anfang des Journals, die auch am Beginn dieses Abschnitts zu finden sind, können als eine fragmentarische Zusammenfassung unmittelbarer Eindrücke und Gedanken der ersten Tage unter der Ausgangssperre gelesen werden. Das Sichtbarmachen der vielen potentiell möglichen Titel des Gedichts, gibt trotz ihrer Kürze und Präzision, oder vielleicht gerade deswegen, einen Einblick in ein Spektrum von Gefühlen dieser ersten Tage: durch ein einzelnes, fast sarkastisches alleged, angeblich, ein kursives normal, durch eine Klammer, die einfach leer ist, wortlos, durch [Uzma Falak] in Klammer, durch den Satz [this number doesn’t exist], eine automatische Sprachansage, die wohl in den ersten Stunden und Tagen nach dem 5. August 2019 tausende von Malen gehört wurde bei zahllosen erfolglosen Versuchen, von außerhalb Kaschmirs zu Familie und Freund*innen dort durchzudringen. Die Fragmente vermitteln beim Lesen ebenfalls das Gefühl, am Entstehungsprozess des Gedichtes, und somit der Chronik, teilzuhaben. Ihr Auftauchen in eckigen Klammern, inklusive [Uzma Falak] selbst, deutet vielleicht zudem auf eine oben schon erwähnte Ambivalenz der Autorin hinsichtlich der eigenen Positionierung als Dichterin hin, die im Angesicht einer übermächtigen Staatsgewalt dennoch fortfährt, mit immer komplexeren stilistischen und konzeptionellen Formen die fortwährenden physischen und strukturellen Gewaltakte eines Staats und seiner ausführenden Organe zu bezeugen. Viele der einzelnen Titelfragmente beinhalten zeitliche Marker, die auf eine veränderte Zeitwahrnehmung oder Wiederholung hinweisen: »[repeat]«, so oft, dass man vergessen hat, wie oft, »[ journal of an nth siege]«. Neben dem Bild des Zuhauses, das für seine Bewohner*innen zum Gefängnis geworden ist, »[homes as prison wards]«, wo sich Zimmer in Zellen verwandeln »[writing on the prison wall]«, vermittelt Falak zudem die Idee, dass selbst der Fluss der Zeit der Gewalt unterworfen wurde, »[the razor-wired passage of time]«. Die Stahldrahtverzäunungen der militärischen Besatzungsinfrastruktur dehnen sich von der räumlichen Absperrung der Straßenzüge, Stadtviertel und Dorfeingänge im Kaschmirtal auch in die zeitliche Dimension aus. Im eigentlichen Titel des Gedichts, ebenfalls zwei der Titelfragmente, »[the smallest unit of time in Kashmir is a siege]« »[chronicle of days and nights as prison cells]«, greift Falak diese Verflechtung von Raum und Zeit wieder auf, geht aber zudem noch einen Schritt weiter. Sie spielt mit der Sinnhaftigkeit eines physikalisch-messbaren zeitlichen Referenzrahmens als hauptsächliche Instanz für Zeiterfahrung im Alltagsleben

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in Kaschmir und bietet diese mit Hinweis auf die Häufigkeit der wiederkehrenden Belagerung (»siege«) als den ›wahreren‹ Referenzrahmen an. Im zweiten Teil des Titels etabliert sie als Steigerung zum räumlichen Eingesperrtsein, wie die Zeit selbst zu einem Gefängnis wird. Während der wochenlangen Ausgangsund Kommunikationssperre wurden nicht nur vertraute Orte, sondern auch Tage und Nächte in Kaschmir als Gefängnis empfunden. Der Gedichttitel impliziert somit gleichzeitig die Vorstellung von eingesperrter und einsperrender Zeit, eine Dynamik, so argumentieren wir, die in ihrer Wechselwirkung das Gefühl von angehaltener Zeit, von nicht ›abfließender‹ Zeit generiert. Falak verwendet das Element der Titelfragmente jedoch auch noch zu etwas anderem. All diesen zeitlichen Formulierungen hat sie Wörter wie »letters«, »notes«, »journals«, »songs«, »writing« – wie etwa in »[writing on the prison wall]« – gegenübergestellt. Sie können einerseits als alltägliche Begriffe gelesen werden, die Falak nutzt, um anzudeuten, dass man sich symbolisch der Gefängniserfahrung und Gefängniszeit durch die Idee der Weiterführung von alltäglichen Handlungen, wie Briefe schreiben oder ein Tagebuch zu führen, entziehen kann. Andererseits handelt es sich bei den Begriffen auch um literarische Genres, die sie, sich in die Rolle einer Chronistin begebend, einer alternativen Zeitschiene unterordnet bzw. diese Ebene mit Hilfe der Begriffe und auch der Betitelung des Gedichts als eine Gegen-Chronik verdeutlicht und entwickelt. Ansätze dazu finden sich bereits in früheren Arbeiten von Falak (vgl. Falak 2017, 2018, 2020b). Beachtet man zudem, dass es gerade einige dieser genannten Medien sind, das Journal, die Chronik und das Archiv etwa, die eine bestimmte Art von Zeitlichkeit in einer Nation verankern, Debord spricht von einer ›unumkehrbaren Zeit‹, »›irreversible time‹ as the time of those who rule« (Debord, 1983, 131–132), so adressiert Falak mit der Liste ihrer möglichen Titel ganz direkt den indischen Staat und stellt seine Medien der Dokumentation und Geschichtsschreibung in Frage. Ein weiteres zentrales Element der 31 Kalendertage sind die Exzerpte aus dem indischen Gefängnis-Handbuch. Diese können als Metapher für den indischen Staat und seine militarisierte Bürokratie in Kaschmir gelesen werden. Wie im Gefängnis-Handbuch exemplifiziert, beruht diese auf einer rational-kalkulierbaren, präzisen Temporalität, die gleichfalls dem zeitlichen Einschnitt eines Umbruchs entgegensteht. In einem der Exzerpte heißt es etwa: »v. The duration of a sentence shall be calculated in calendar years, months, a fortnight, a week or days. The term ›year‹ means a year according to the British calendar, a ›month‹ means thirty days, a ›fortnight‹ means fourteen days and a ›week‹ means seven days.« Dieser scheinbar rational-emotionsfreien Zeiteinteilung gegenüber stehen Angst, Fassungslosigkeit und Wut in Bezug darauf, dass und wie der indische Staat die Autonomieabschaffung erzwungen hat. Das erste Exzerpt und gleichzeitig auch der erste Eintrag des Journals am 1. August 2019 liest sich wie die

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Vorbereitung auf die Abschottung der Bevölkerung in Kaschmir: »i. Entry to the prison will only be through a single point, that is the main gate, and all other entry points, if existing, will be closed permanently.« 24 weitere Ausschnitte des Handbuchs ziehen sich im Journal durch den gesamten Monat. Kalyan Nadiminti (2020) argumentiert in seiner Interpretation von Falak’s Gedicht, dass die Gefängnishandbuch-Exzerpte den Effekt hätten, die poetischen Worte von Falak zu fragmentieren und die Zeiteinheiten des Journals dadurch als ›Einheiten der Gewalt‹ herauszustellen. Diese Lesart wollen wir mit Blick auf die Gesamtform der Arbeit erweitern. Während die fast täglich wiederkehrenden Exzerpte auf einer dokumentarischen Ebene die Präsenz der indischen Staatsgewalt in Kaschmir und ihre Kontrollausübung über den dortigen Lockdown-Alltag bezeugen, ist es letzten Endes doch Falak, die die Auszüge ausgesucht und ihnen Plätze in ihrer lyrisch konstruierten Gefängnisstruktur zugewiesen hat. Zum Beispiel bestehen die Einträge vom 15. August 2019 aus einem Nachrichtenausschnitt der offiziellen Rede des indischen Premierminister Modi zum 73. Jahrestag der Unabhängigkeit. Es ist gleichzeitig der erste explizite Verweis im Gedicht auf die Abschaffung des Autonomiestatus in Kaschmir: The country can no longer wait for incremental progress but should strive for giant strides […] To revoke Article 370 […] The task that was not done in the last 70 years has been accomplished within 70 days. […] the period beyond 2019 is that of fulfillment of aspirations and dreams.14

Direkt darunter ergänzt Falak ein Exzerpt aus dem Gefängnis-Handbuch, in dem minutiös beschrieben wird, welchen Durchmesser Gitterstäbe in Türen, Fenstern und Ventilatoren haben sollen und wie viele Zentimeter die exakte Distanz zwischen zwei Gitterstäben beträgt. Zum einen enthält dieser Kalendertag ein Beispiel für das Narrativ des indischen Staates mit seiner auf die Zukunft gerichteten Zeitlichkeit, die (linear) nach vorne schreitet und einen (positiven) Umbruch suggeriert. Dies wird kontrastiert mit der Gefängniserfahrung des Alltags in Kaschmir und seiner extrem reglementierten Zeitlichkeit, die wie stehengeblieben zu sein scheint. Betrachtet man allerdings die bewusste Kopplung der euphorischen Rede zum indischen Unabhängigkeitstag mit dieser pedantisch-bürokratischen Handbuchrichtlinie, verlagert sich die Bedeutung der ›Einheiten der Gewalt‹ (Nadiminti 2020). Beide Instanzen sind zusammen in Falak’s Gefängnisjournal gelandet, in der Zelle des 15. August. Auch unter den persönlichen Einträgen gibt es immer wieder Verweise auf unterschiedliche Zeitlichkeiten. Falak stellt dabei etwa Verbindungen zu unmittelbaren Körperwahrnehmungen her. Einer der ersten Einträge in der Chronik

14 Prime Minister’s Office, 15. August 2019.

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vom 7. August 2019 beschreibt sehr bildhaft die gefühlte Transformation des eigenen Körpers zu einem temporal und räumlich empfundenen Gefängnis: Have you felt constricted by the space of your body – eyes, hands, fingernails, ribcage, limbs, skull; dwelling rooms, floor, ceiling, windows, latches, doorknobs condemned to a fixity? And by the space of a clock enclosing the repetitive movement of the secondhand, minute-hand, the hour-hand, such that rhythms of the body and architecture of the dwelling aid the regulation and incarceration of bodies, space, and time?

Diese eingeschränkte Beweglichkeit wird durch eine Internalisierung der von außen aufoktroyierten Zeitlichkeit ausgelöst. Das Gefühl des Eingeschlossenseins, des Feststeckens im eigenen Körper dehnt sich auf den umgebenden Raum aus; und von dort über die Metapher einer Uhr weiter auf die Zeit. Das Wechselspiel von Körper-, Raum- und Zeitwahrnehmung überlagert und verstärkt dabei die Wahrnehmungsveränderung. Die nächste Frage, die Falak über die Tage 19. bis 23. August 2019 zieht, hat eine noch größere zeitliche und räumliche Ausdehnung: Has your life been reduced to living from a curfew to a curfew and buying emergency stocks-ration, medicines, soap, milk; siege to a siege, massacre to a massacre, such that all your history looks the same, a memory superimposed, upon another, upon another such that you can no longer tell birth from death?

Hier geht die Chronik nicht nur über die Zeit der aktuellen Ausgangssperre von 2019 hinaus und verbindet sich mit der größeren politischen Situation im Kaschmirtal. In der Rückbindung zu zwei der Titelfragmente, »[repeat]« und »[ journal of an nth siege]«, ist dies vielleicht die deutlichste Aussage innerhalb der Chronik darüber, welche weitreichenden Folgen der von anhaltender Gewalt geprägte Alltag in Kaschmir auf die generelle Empfindung von Zeitlichkeit vieler Menschen dort und damit verbunden auf die eigene Verortung im Rhythmus von Leben und Tod, hat. Der Rückbezug auf die Vergangenheit ruft über das Medium Gedicht Emotionen in der Gegenwart hervor. Zeit wird hierbei als undifferenziert erfahren dargestellt, sie zirkuliert zwischen gewalttätigen Umbrüchen, etwa »siege to siege, massacre to masacre«, weshalb sie nicht abfließen kann und dadurch den Umbruchsmoment als/im Alltag stabilisiert. Falaks Chronik beinhaltet jedoch auch Einträge, die ein Entkommen oder sich Entziehen aus diesen zeitlichen Wahrnehmungsveränderungen anbieten. Dem schwindelnden Gefühl des Eintrags vom 18. August 2019 etwa, »[h]ave you felt like descending an endless staircase with no place to rest your feet?«, stellt sie, als symbolischen Anker, eine kurze Alltagsbeobachtung aus ihrem Stadtviertel zur Seite: »[9:11pm: sound of prayers from a nearby mosque]«. Weitere Hinweise auf den Versuch, sich der Gefängniszeit zu entziehen, finden sich in Einträgen wie »waxing crescent« (5. August 2019), »[1.10am: raining]«, (10. August 2019), »[sounds of singing from a wedding resonate across the deserted streets..]«

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(24. August 2019), »[Dream] Grandmother eats fruits from a loquat tree, i take her hand, we cross the road together. We walk into a room with roshandan […] troops walk down the street and a war breaks out …« (9. August 2019). Es sind Momente und Verweise auf Zeitdimensionen, die entweder nicht (direkt) vom Menschen beeinflusst werden können (Natur), außerhalb seiner Reichweite liegen (Traumzeit), oder die sich in ihrem zirkulären Muster der Alltagszeit überordnen, oder gar strukturierende Wirkung haben (Hochzeit, Gebet). Das vielleicht am weitesten ausgearbeitete Chronikelement einer Alternative zur sich permanent wiederholenden Zeitlichkeit der Ausgangssperre einerseits und zum scheinbar vorwärtsschreitenden, indischen Narrativ des Umbruchs andererseits, das sich auch visuell stark vom restlichen Layout des Gefängnisjournals abgrenzt, sind die kleinen, sorgsam angelegten Hand-Zeichnungen, die sich in acht der Tagesspalten direkt unter der Datumszahl befinden (5./6./ 10./ 16./ 17. /24./ 25./31. August). In blauschwarzen Buntstiftschraffuren auf Aquarellpapier dokumentiert Falak für den Monat August 2019 den Verlauf des abund wieder zunehmenden Mondes. Unter dem letzten Mond, am letzten Tag des Gefängnistagebuchs, ist eine kleine Zahl vermerkt, »744 hours«. Ein roter Schriftzug über den Monden bezeichnet jeweils, in Koshur, einen bestimmten Vokal. Die Monde lassen sich als Indikatoren einer Zeit interpretieren, die sich außerhalb der Gefängniszeit befindet und die zirkular statt linear, wie bei der Idee des Umbruchs, verläuft. Es ist eine Zeit, die nicht durch menschliche Einteilung gesetzt ist, sondern einem größeren Rhythmus oder Muster folgt, dem des Universums, woran sich wiederum Menschen in verschiedensten sozialen und religiösen Praktiken anlehnen. Die Zeichnung des Vollmonds am 16. August 2019 verweist etwa auf den wichtigsten muslimischen Feiertag Eid al Adha. Der Kalender-Eintrag dieses Tages besteht aus einer Frage: »Do you hear elegies echoing in the hollow of a stairwell in a prison?« Indem Falak die bürokratisch-technischen Ausführungen der Gefängnisorganisation und die klaustrophobisch wirkenden Beschreibungen der körperlichen Erfahrung des Eingeschlossenseins diesem Rhythmus der Gestirne gegenüberstellt, begibt sie sich in ihrem Text, im Malen und in Gedanken in eine alternative Zeitlichkeit. Und sie bietet Lesenden eine Möglichkeit an, das Gleiche zu tun. Das religiöse Klagelied, die Elegie, als ein (un)mögliches Geräusch aus dem Gefängnis, lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Brücke zwischen der gefühlt stillstehenden Zeit und der von Falak entworfenen alternativen Temporalität interpretieren. So wird das eingesperrte Lied einerseits sinnbildlich zum Symbol für die grausame Gleichgültigkeit, mit der der indische Staat zur strategischen Umsetzung seiner politischen Ziele acht Millionen seiner Bürger*innen wochenlang wegsperren kann. Andererseits ist die Elegie Zeugin dafür, dass Menschen selbst in den aussichtslosesten Situationen Wege finden, sich für Momente zu widersetzen, zu entziehen, in diesem Falle durch eine alternative Temporalität. In die mit roter Tinte über den Mond-

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zeichnungen notierten kaschmirischen Vokale könnte man die Konzentration auf etwas sehr Vertrautes, ein Heimatgefühl, Rhythmus der Muttersprache hineinlesen, eine Art Klagelaut, und gleichzeitig mentale Fokussierung, um im absurden Gefängnisalltag bei sich zu bleiben. Die Mondzeichnungen als zentrales visuelles Element von Falaks GefängnisJournal erinnern zudem an den Gedichtband Hand des Windes (Dast-i saba) des berühmten pakistanischen Dichters Faiz Ahmed Faiz, den er während eines mehrjährigen Gefängnisaufenthalts in den 1950ern verfasste. In einem darin enthaltenen Gedicht, Prison Nightfall (1952), scheint Faiz die pakistanische Regierung herauszufordern, ihre Überlegenheit zu demonstrieren: »If they’re so mighty, / let them snuff out the moon.« Ein Unterfangen, welches, so könnte man die wiederkehrenden Zeichungen in Falaks Gedicht verstehen, auch dem gewaltigen indischen Staat mit all seiner Kontrollmacht nicht gelingen würde. Wir leiten das Kapitelende mit den Worten ein, die Uzma Falak ihrem Gedicht vorangestellt hat: »*Dedicated to the 12 hours Raziya had to wait before she birthed a dead child and those 20 minutes Osaib struggled in the river before he drowned. And to every second waiting to be lived.« Falak bezeugt in dieser Widmung, stellvertretend für all die Menschen in Kaschmir, die als Konsequenz des Autonomieentzugs in Kaschmir gestorben sind oder getötet wurden, die Realität des Todes zweier Individuen, Raziya und Osaib, deren letzte 12 Stunden und 20 Minuten in der offiziellen Chronik des indischen Staats unsichtbar bleiben werden. Falak gelingt über ihr Gedicht dadurch eine Wiederherstellung der Singularität dieser Akte von Gewalt. Zusammen mit dem anschließenden Satz, »[a]nd to every second waiting to be lived«, der darauf hindeutet, dass die Chronistin Uzma Falak, selbst im Eingesperrtsein eine (Wieder)Aneignung jeder zukünftigen Sekunde des Lebens beansprucht, wird symbolisch eine Verbindung von Gegenwart mit Vergangenheit und mit Zukunft möglich gemacht, wodurch Falak der Zeit signalisiert, dass sie wieder weiterfließen kann.

6.

Anstelle einer Zusammenfassung

»Vergesst die Vergangenheit und geht vorwärts«15 ist, was die Menschen in Kaschmir vom indischen Staat und auch von Teilen der indischen Zivilgesellschaft immer wieder zu hören bekommen – nicht erst seit der indischen Verfassungsänderung und der Außerkraftsetzung der Autonomie der Kaschmirregion im August 2019, sondern seit mehreren Jahren. »Aber was bedeutet ›vorwärts gehen‹ in einer militärisch besetzten Region?« antwortet Uzma Falak, »wo schon reine Fortbewegung an sich behindert und 15 Yusuf, 11. März 2018.

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gefürchtet ist?« »Wo Menschen eine Zeitlichkeit des Verlustes verkörpern? Es ist die Weigerung, der staatlichen Vision des Fortschritts zu entsprechen, die Weigerung, eine staatliche Zeitlichkeit zu verkörpern, die den Kern des Widerstands der Menschen in Kaschmir ausmacht.« (Falak 2019, Übersetzung S.E. und K.P.). If time had a throat it would split it open to show how parched it was If time had lips they would be quivering, stammering wounded histories, Roll call of the witnesses: The Enshrouded One, Clear Evidence, Companion, Compassion, Successor, Gifted, Glorious, Guidance, Eternal, Just If time had feet they would forget how to march ahead callously across the delusional seasons They would instead keep walking backwards back back reversing its own forgetful stampede If time had a heart of the occupied it would forget to tick away, just like that (Exzerpt von Uzma Falak (2018), The Last Call: Audio Postcards from Kashmir)

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Borkowski, Jan, PD Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Arbeitsgebiete: Literaturgeschichte vom 17. bis zum 21. Jahrhundert (insbesondere Literatur 1770–1830 und 1880–1930), Literaturtheorie (insbesondere Theorie der Literaturgeschichte, Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, Wirkungen und Funktionen der Literatur), Methodik der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation. Crous, Mikhaila, M.A. (University of Stellenbosch/Universität Leipzig), Associate Lecturer (German Studies) an der University of the Witwatersrand, Johannesburg (South Africa). Arbeitsgebiete: Raum und Literatur, Gesellschaftskritische Literatur, Kriminalliteratur (Max Annas, Deon Meyer), Deutsch in Südafrika, Zugehörigkeit. Ewald, Sarah Lina, M.A. (Universität Heidelberg), Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Dokumentarfilmmacherin. Arbeitsgebiete: Anthropologie der Arbeit, Alltag und Zeit, Soziale Bewegungen im Himalaya, (orale) literarische Praktiken in Kaschmir, Theater, Film als Medium der Forschung und Wissensvermittlung. Ezli, Özkan, PD Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für sozialwissenschaftliche Erforschung des Islam im Europa des 20. und 21. Jahrhundert (Prof. Dr. Tezcan) der Universität Münster. Arbeitsgebiete: Migration in der globalen Gegenwart, Transkulturelle Studien (Literatur, Film, Debatten, Religion) zum 19., 20. und 21. Jahrhundert, Deutschtürkische Literatur und Film, Kultur- und Medientheorie, Theorien und Praktiken der Integration, Migration und Interkulturalität.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Führer, Carolin, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin für Deutsche Philologie/ Didaktik der deutschen Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Arbeitsgebiete: Erinnerungsforschung (Theorie, Empirie, Didaktik), literaturdidaktische Rezeptions- und Unterrichtsforschung, Fachdidaktische Professions- und Professionalisierungsforschung, Gegenstandssensible Literaturdidaktik (v. a. Kinder- und Jugendmedien, Gegenwartslyrik, Balladen). Henzler, Bettina, Dr., Filmwissenschaftlerin (ZeMKI Universität Bremen; Filmuniversität Potsdam Konrad Wolff) und Filmvermittlerin (Berlin). Arbeitsgebiete: Filmvermittlung und Ästhetische Bildung (Theorie, Geschichte, Didaktik), Filmwissenschaftliche Kindheitsforschung (www.film-und-kindheit. de), Französische Filmkultur (Theorie, Geschichte, Ästhetik), Neuer deutscher Film, Phänomenologie und Filmästhetik, Theorie und Ästhetik des Spiels. Hertrampf, Marina Ortrud M., Prof. Dr., Professorin für Romanische Literaturund Kulturwissenschaft (Schwerpunkt: Französischer und frankophoner Raum) an der Universität Passau. Arbeitsgebiete: Intermedialität (v. a. Comic und Graphic Novel), Raumtheorien, Dokufiktion, Religion und Literatur, Trans-/Interkulturalität, Identität/Alterität, Diaspora, Migration, Romani Studies und Literaturdidaktik. Spanische Literatur der Frühen Neuzeit. Französischsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Herz, Cornelius, Prof. Dr., Professor für Didaktik der deutschen Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Arbeitsgebiete: integrative Literatur- und Mediendidaktik, empirische Professionsforschung, Systematik und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur, digital literacy, digitale Narratologie, fachdidaktische Kulturwissenschaft. Horn, Anette, Prof. Dr., Professorin an der University of the Witwatersrand, Johannesburg (South Africa). Arbeitsgebiete: 18. Jahrhundert (Jean Paul, Kleist, Lenz), Gegenwartsliteratur (Uwe Timm, Monika Maron, Jürgen Fuchs), Südafrikanische Literatur (Nadine Gordimer, J.M. Coetzee, Bessie Head, Zoё Wicomb, Njabulo Ndebele). Kosmopolitanismus, DDR-Literatur, Nietzsche. Mayer, Johannes, Prof. Dr., Professor am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsgebiete: Inklusive Literaturdidaktik, Lehrer:innenbildung, gesprächsorientierte und theatrale Zugänge zu literarischen Texten, Kinder- und Jugendtheater, Begabungsförderung.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Opitz, Sophie-Charlotte, Dr., Direktorin der The Walther Collection in NeuUlm / New York City. Arbeitsgebiete: Konflikt- und Kriegsfotografie, mediale und (trans-)kulturelle Erinnerungsforschung, politische (Un-)Sichtbarkeiten, intermediale Chronotopoi, soziopolitische Dynamiken zwischen Bild und Gesellschaft, Medialität und Materialität visueller Kulturen und kultureller Gedächtnisse. Ossa, Vanessa, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Arbeitsgebiete: Medien nach 9/11, Terrorismusdarstellungen, Partizipationskultur, Fan Studies, Comicforschung, Geschichte des Comicfandoms, Transmediales Erzählen, Transmediale Figuren, Filmwissenschaft (Schwerpunkt: Deutscher Film, Deutschland als Medienstandort). Packard, Stephan, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaber für Kulturen und Theorien des Populären am Institut für Medienkultur und Theater, Universität zu Köln. Arbeitsgebiete: Mediensemiotik, Medienarchäologie, Qualitative Netzwerkforschung, Comicforschung, Zensur, Propaganda, Überwachung und andere Formen medialer Kontrolle, Transmedialität, Narratologie, Begriffe der Fiktion und der Virtualität. Polit, Karin, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin für Sozial- und Kulturanthropologie an der Eberhard Karls Universität, Tübingen. Arbeitsgebiete: Visuelle- und Medienethnologie, kritische Kulturerbeforschung, Anthropologie von künstlerischem Ausdruck im Kontext von Widerstand, Gewalterfahrungen und sozialen Bewegungen, Gender- Rituale und Himalayaforschung. Safaian, Dorna, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Medien- und Bildwissenschaft) im Sonderforschungsbereich »Helden – Heroisierungen – Heroismen« der Universität Freiburg. Arbeitsgebiete: Politische Ikonologie, Visuelle Kultur des Iran, religiöse Bildtheorien, Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, Visuelle Kultur von Protest und sozialen Bewegungen. Wehdeking, Volker, Prof. Dr.em., Emeritierter Professor für Literaturwissenschaft und Medien an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart. Arbeitsgebiete: Deutsche Gegenwartsliteratur im internationalen Kontext und im Medienverbund, Film der Gegenwart, Post-DDR-Literatur, Nachkriegsliteratur, Vergleich der Umbrüche 1945 und 1989.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Weixler, Antonius, Dr., Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Neueren deutschen Literaturgeschichte der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete: Narratologie, Authentizität, Literatur und Kunst der Historischen Avantgarden, Gegenwartsliteratur, Popkultur – Popmusik – Popliteratur. Wolting, Monika, Prof. Dr., Ordentliche Professorin am Germanistischen Institut der Universität Wrocław. Arbeitsgebiete: Kriegsforschung, Intellektuellenforschung, Engagierte Literatur, Ästhetik und Politik, Kulturpolitik, Realismusforschung. Theorie der Literatursemiotik, Narratologie, Feldtheorie von P. Bourdieu, Systemtheorie von Niklas Luhmann und der Konzeption der Transkulturalität.

Weitere Bände dieser Reihe Band 28: Carola Hähnel-Mesnard

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDRLiteratur

Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck 2022. 293 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-1345-4

Band 27.1 & 27.2: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft I

Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten 2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3

Schreiben, Text, Autorschaft II

Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen 2021. 420 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1339-3

Band 26: Eva Rünker

Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman

Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart 2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5

Band 25: Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)

Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe

Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics 2021. 471 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1193-1

Band 24: Britta C. Jung

Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse 2018. 310 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-0866-5