Gedächtnis und Erinnerung: Das »Pack« in Zürich 9783412216672, 9783412222543


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Gedächtnis und Erinnerung: Das »Pack« in Zürich
 9783412216672, 9783412222543

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Erik Petry

Gedächtnis und Erinnerung Das »Pack« in Zürich

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Basel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Kasimir Malewitsch: Drei weibliche Figuren 1928. Ort: Staatlich Russisches Museum in St. Petersburg © akg-images

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22254-3

Inhalt Einleitung ................................................................................................. 9 Relationships, Samurai und Kulturkontinuität – Eine didaktische Leseanleitung .............................................................. 14 1. Jüdisches Leben in Zürich ................................................................... 23 2. Das „Urpack“ ....................................................................................... 29 3.

Identität als Gruppenerfahrung ........................................................ 32 Selbst-Verständnis ................................................................................ 35 Kollektive ............................................................................................. 38 Jüdische Identität ................................................................................. 42 Pack-Lebensläufe ................................................................................. 45 Pack und Kadimah ............................................................................... 52

4. Antisemitismus als Gründungsmotiv des Packs? ............................ 56 Das Pack und der Antisemitismus ........................................................ 59 Der Fremde und der Andere ................................................................ 61 5. Packidentität ....................................................................................... 67 Schachclub Young Lasker..................................................................... 67 Vom Schachclub zum Pack .................................................................. 71 Hybridität, Liminalität und Grenzgänger ............................................ 79 Packidentität, jüdische Identität, schweizerische Identität? .................. 86 6. Oral History ......................................................................................... 88 Das Pack im Gespräch ......................................................................... 92 Teilnehmende Beobachtung und Oral History .................................... 96 7. Der Historiker als Beobachter – Selbstreflexionen .......................... 103 Relation-dependent Research .............................................................. 107 8. Gedächtnis und Erinnerung – Eine Einleitung ................................. 111 Drei Erinnerungsbeispiele.................................................................... 113

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|  Inhalt



9. Das Gedächtnis einer Gesellschaft ................................................... 120 Gedächtnis – der falsche Begriff........................................................... 123 Kulturelles Gedächtnis?........................................................................ 126 Kommunikatives Gedächtnis?.............................................................. 132 Das Master-Narrativ............................................................................. 134 Wie kommt das Wissen in eine Gesellschaft?....................................... 137

10. Gedächtnis eines Individuums .......................................................... 141 Kindheitserinnerungen ........................................................................ 142 Das Ende eines „Sommermärchens“ .................................................... 143 Was ist das Gedächtnis? ....................................................................... 149 Implizites und explizites Gedächtnis .................................................... 152 Das episodische Gedächtnis ................................................................. 154 Das Abrufen der Erinnerung................................................................ 160 False Memory ...................................................................................... 165 Kann das episodische Gedächtnis lügen? ............................................. 170 Josef Klehr und der Frankfurter Auschwitzprozess .............................. 175 11. Aktive Kulturkontinuität .................................................................... 179 Das absolute Gedächtnis ...................................................................... 180 Gedächtnis als Zukunftsplaner? ........................................................... 184 Kultur ................................................................................................... 187 Kontinuität........................................................................................... 190 Das Aktive in der Kulturkontinuität .................................................... 196 Vermittlung und Aktive Kulturkontinuität .......................................... 196 Gruppenzugehörigkeit und Gruppencharakteristika............................ 204 Die Schweizer – kampferprobt oder neutral? ....................................... 209 Epigenetik ............................................................................................ 214 Das Pack und die Aktive Kulturkontinuität ......................................... 217 Auf nach Polynesien: Vermittlung und Thick Description ................... 228 12. Jüdisches Erinnern, jüdisches Gedächtnis ........................................ 236 Jüdische Erinnerung undefinierbar?...................................................... 240 Historiografie als Erinnerungsträger?................................................... 245 Jüdische Religion = jüdische Erinnerung?............................................. 251 Jüdische Literatur.................................................................................. 253 Jüdische Kunst...................................................................................... 254 Jüdische Musik...................................................................................... 255 Martin Luther und die Juden................................................................ 258

Inhalt  |



Noch einmal: jüdische Musik ............................................................... 261 Ist „jüdisch“ undefinierbar?................................................................... 262 Jüdische Geschichte ............................................................................. 264 Jüdisches Denken ................................................................................. 267 Das Pack und Jüdische Erinnerung ...................................................... 270 Jüdische Kultur ist Aktive Kulturkontinuität ........................................ 275 Erinnerung und Thora .......................................................................... 280

13. Ausblick – Historiografie neu angeschaut ........................................ 283 Schlusswort............................................................................................... 289 Bibliografie ............................................................................................... 293

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Einleitung Wie kommt es, dass sich ein jüdischer Freundeskreis ausgerechnet „Das Pack“ nennt? Und warum kennt heute kaum noch jemand diese Gruppe, obwohl sie über Jahrzehnte sogar in der Gemeindepolitik der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) eine Rolle gespielt hat? Wie hat sich diese Gruppe gefunden? Was haben Autorallyes, Fußball, Kabarett und Wandern mit dem „Pack“ zu tun? Und wie kann man den Oral-History-Ansatz für diese sehr spezielle Gruppe fruchtbar machen? Muss man ihn neu definieren? Was bedeutete in diesem Zusammenhang „Relation-dependent Research“? Hat diese Gruppe ein Gedächtnis? Ein kollektives Gedächtnis? Was meint überhaupt in der heutigen Kulturwissenschaft der Begriff Gedächtnis? Wird er nicht inflationär angewendet, ohne auch nur im Geringsten definiert oder hinterfragt zu werden? Und gilt dies nicht noch in gesteigertem Maße für Begriffe wie „jüdische Erinnerung“ und „jüdisches Gedächtnis“? Dies sind nur einige der Fragen, die in der vorliegenden Untersuchung beantwortet werden, deren Kernpunkte die drei Begriffe Lebenswelt, Oral History und Erinnerung darstellen. Das Konzept der Lebenswelt, d. h. der Blick vom Individuum aus auf seine Lebenswelt, zieht sich durch die gesamte Untersuchung und korrespondiert mit meinem individualistischen Ansatz, wenn es um Fragen der Erinnerung geht. Gleichzeitig kollidiert dieser Ansatz mit dem Blick auf den jüdischen Freundeskreis, der sich selbst „Das Pack“ nannte, da hierbei eine Gruppe im Fokus steht. Auch wenn jede Person aus einer Gruppe zu einer Untersuchung herangezogen werden könnte, muss ich als Historiker doch zu Generalisierungen kommen und damit zu allgemeinen Schlüssen über die Gruppe, die sich zwar aus der Summe der Handlungen und Motive der Individuen ergeben, aber keine summarische Aufzählung sein können. Dass Lebenswelt sowie der Blick auf eine Gruppe und von einer Gruppe aus keinen Gegensatz bilden, zeigt die vorliegende Untersuchung. Der Ansatz der Oral History ist eine meiner Untersuchungsmethoden, allerdings in einer sehr speziellen Variante, da die Mitglieder des Packs zu Gesprächen nur bereit waren, wenn es weder Film- noch Tonaufnahmen gebe. Mit diesen Bedingungen war ich einverstanden und habe daraus eine neuen „Unter-Ansatz“ der Oral History entwickelt, den „Relation-dependent Research“, wie er in Kapitel 7 ausgeführt wird. Dass bei der Oral History Erinnerung und Gedächtnis eine wichtige Rolle spielen, muss nicht betont werden. Aus dieser Arbeit heraus habe ich den zweiten Teil der Untersuchung

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diesen Phänomenen gewidmet und daraus eine neue Erinnerungstheorie entwickelt, die ich „Aktive Kulturkontinuität“ nenne. Die Darstellung beginnt mit dem Blick auf das „Ur-Pack“, also die Keimzelle des späteren „Packs“, und das jüdisch-schweizerische Umfeld der Gruppe im Zürich der 1920er-Jahre. Die folgenden Kapitel befassen sich mit der Frage nach den Gründungsmotiven, der Identität der Gruppe als Gruppe sowie den Abgrenzungsproblemen bei Oral-History-Untersuchungen und bei der teilnehmenden Beobachtung. Hieraus leite ich den von mir Relation-dependent Research genannten Ansatz ab. Da ich von einem streng individualistischen Menschenbild ausgehe – dies meint, dass ich das Individuum als abgeschlossene Entität betrachte, die nur über den lebensweltlichen Ansatz verstanden sowie in Handlung und Handlungsmotiven dargelegt werden kann –, schaue ich Erinnerung und Gedächtnis als Phänomene des Individuums an und lehne alle Formen ab, die mit Begriffen wie kollektives Gedächtnis, kulturelles Gedächtnis oder auch kollektive Identität bezeichnet werden. In den Kapiteln 8 bis 11 habe ich dies detailliert ausgeführt und diesen Ansätzen mein eigenes Modell, die „Aktive Kulturkontinuität“, entgegengesetzt. Hiermit soll ein Beitrag zur Diskussion über Erinnerung und Erinnerungskultur geleistet werden, der sich zurzeit in der Geschichtswissenschaft, aber auch in gesellschaftlichen Diskursen abspielt. Mein eigener Ansatz speist sich zum einen aus einer kulturwissenschaftlichen Analyse dessen, was als übergreifendes Gedächtnis und übergreifend existierende Erinnerung behauptet wird, zum anderen aus den Erkenntnissen der Gehirnforschung, die bis auf die Werke von Hans J. Markowitsch und Harald Welzer zumeist nicht beachtet werden. Damit geht das Ausblenden des Individuums einher, was ich in historischen Analysen für fatal halte. Kapitel 12 führt die Erkenntnisse aus der Arbeit mit dem Pack, der Gehirnforschung und der Aktiven Kulturkontinuität zusammen, indem es „jüdische Erinnerung“ und „jüdisches Gedächtnis“ thematisiert. Beide Begriffe und die dahinter stehenden Konzepte haben selbstverständlichen Eingang in die Geisteswissenschaft gefunden, ohne dass die Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ in Verbindung mit „Erinnerung“ oder „Gedächtnis“ definiert, geschweige denn hinterfragt wird. Ob der vermeintlichen Eindeutigkeit erscheint dies obsolet. Daraus entwickelt sich im schlimmsten Fall eine Zuschreibung „typisch jüdischen Erinnerns“, die sich in Vorstellungen wie „Juden erinnern sich immer rückwärts“ niederschlägt. Anklänge an die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einer Rasse zugeschriebenen Eigenschaften lassen sich nicht leugnen. Dieses krasse Missverständnis der Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ wird dabei von der Rezeptionsgeschichte eines Werkes wie Yosef

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Hayim Yerushalmis „Zakhor“ oder der Vorstellung, die jüdische Religion sei eine rein auf die Vergangenheit reduzierte konservative Anschauung, noch verstärkt. Dieses Kapitel bringt eine Klärung in diesem Bereich und warnt damit vor einer unreflektierten Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ in Zusammenhang mit Erinnerung und Gedächtnis vor allem im historiografischen Bereich. Die vorliegende Untersuchung spiegelt mein eigenes Nachdenken über Geschichte, Geschichtswissenschaft und Jüdische Studien der letzten 21 Jahre wissenschaftlicher Arbeit. In diesen Text fließen daher viele Beispiele, Autoren und Denkmodelle ein, die mich auf diesem Weg beeinflusst haben. Dabei sind nicht alle Beispiele in ihrer Verknüpfung sofort einsichtig. Um den Zugang zu meiner Argumentationsführung zu erleichtern, habe ich daher dem Hauptteil eine didaktische Leseanleitung vorangestellt. Da ich die jeweilige Forschungs- und Quellenlage für meine Forschungs-, besser: meine Nachdenkungsarbeit in dieser Habilitationsschrift in den jeweiligen Kapiteln aufführe, da sie Teil des Erkenntnisprozesses sind, daher auch am relevanten Ort genannt werden müssen, werde ich mich in dieser Einleitung auf einige allgemeine Bemerkungen beschränken. Die von mir berührten fünf geschichtswissenschaftlichen Bereiche (jüdische Geschichte in der Schweiz, Identität, Lebenswelt, Oral History sowie die Erinnerungs, Gedächtnis- und Gehirnforschung), wenn ich dies holzschnittartig so benennen darf, haben alle in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt. Spätestens seit der Debatte über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, was zur Einsetzung einer Untersuchungskommission und einem 25bändigen Abschlussbericht führte, hat die Erforschung jüdischen Lebens in der Schweiz einen neuen Impuls erhalten, der nicht zuletzt auch von der Gründung universitärer Institute und den damit verbundenen Forschungsmöglichkeiten profitiert hat und noch profitiert. Der Begriff der Identität, auch einer kollektiven Identität, ist mit einem fast triumphalen Siegeszug Teil des kulturwissenschaftlichen Diskurses, Teil kulturwissenschaftlicher Selbstverständlichkeit geworden und ist es immer noch, trotz scharfen Widerspruchs z. B. von Lutz Niethammer. Aus den Arbeiten von Edmund Husserl, Alfred Schütz und Jürgen Habermas, um nur die wichtigsten zu nennen, ist in Basel – richtungsweisend sind die Arbeiten von Heiko Haumann – ein lebensweltlicher Ansatz entwickelt worden, der mit meinem eigenen Blick auf das Individuum korrespondiert. Die Methode der Oral History scheint hingegen seit einigen Jahren nicht weiterzukommen. Die hohen Erwartungen, die an sie vor allem im Bereich der Erforschung des Nationalsozialismus gestellt wurden, konnten nur zum Teil erfüllt werden. Trotzdem wird das Gespräch mit Zeitzeugen auch weiter ein wichtiger Bestandteil zeitgeschichtlicher Forschung sein, allerdings muss man sich um eine Neude-

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|  Einleitung

finition bemühen, wie ich es im vorliegenden Fall für die Arbeit mit dem Pack getan habe. Ein inzwischen fast unüberschaubarer Bereich ist die Erinnerungs-, Gedächtnis- und Gehirnforschung. Akademisch zuerst von Maurice Halbwachs und Aby Warburg, dann im deutschsprachigen Raum vor allem von Jan Assmann fruchtbar gemacht, stellt sich der kulturwissenschaftliche Teil dieses Bereichs heute als höchst ausdifferenziert dar, wie die Arbeiten z. B. von Harald Welzer und Aleida Assmann sowie die Forschungsresultate des Sonderforschungsbereichs (SFB) 434 „Erinnerungskulturen“ zeigen. Die Gehirnforschung aus naturwissenschaftlicher Sicht hat in den letzten Jahren ebenfalls große Fortschritte zu verzeichnen, was vor allem auch den rasant modernisierten Methoden der bildgebenden Verfahren und der Entwicklung in der GenForschung zu verdanken ist. Nur selten aber kommen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft zusammen, wie es in dem gemeinsam von Hans J. Markowitsch und Harald Welzer herausgegebenen Buch „Warum Menschen sich erinnern können“ der Fall ist. Da vor allem die Entwicklung meiner Theorie der Aktiven Kulturkontinuität auch auf den Ergebnissen der Gehirn- und Gen-Forschung beruht, habe ich beide Bereiche zusammengeführt, wobei es immer deutlich ist, dass ich aus der Perspektive des Historikers analysiere, nicht anmaßend aus der mir nicht zustehenden Position des Naturwissenschaftlers. Für alle fünf genannten Bereiche gibt es ausführliche Fachliteratur, deren wichtigste Titel ich in den entsprechenden Kapiteln nenne. Neben der gedruckten Fachliteratur muss aber vor allem auf die im naturwissenschaftlichen Bereich unverzichtbaren Publikationen verwiesen werden, die im Internet abrufbar sind, hierbei vor allem Zeitschriften wie „Science“ oder „Nature“. Ohne den schnellen Zugriff über das Internet hätte ich die neuesten Forschungsergebnisse nicht umgehend in die Arbeit einbauen können. Für die Arbeit über das Pack konnte ich zunächst auf das hektografierte Packbuch zurückgreifen. Dazu wurde mir die Einsicht in das Protokollbuch des Schachclubs „Young Lasker“ ermöglicht, das als Einzelstück in Privatbesitz ist. Einige wenige Briefe aus der Zeit der Produktion des Packbuchs rundeten diesen schriftlichen Quellenbestand ab. Die im Text ausführlich zitierten Lebenserinnerungen von Walter U.1, die in hektografierter Form vorliegen und sich in Familienbesitz befinden, sind nicht direkt eine Pack-Quelle, allerdings stellen sie ein wichtiges Selbstzeugnis dar, das in meiner Argumentation eine 1 Im Text habe ich die Namen der Packmitglieder nach Absprache mit den noch lebenden Packmitgliedern dahingehend anonymisiert, dass ich die Vornamen ausgeschrieben, die Familiennamen aber abgekürzt habe.

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zentrale Rolle spielen wird. Eine weitere Quelle war das „SSK-Buch“, das aber ebenfalls nicht veröffentlich, sondern als Privatdruck erschienen ist und sich im Besitz der Mitglieder des SSK (SSK steht für „Sektion snobistischer Kadimahner“) befindet. Die vorliegenden schriftlichen Zeugnisse über das Pack stellen aber nur einen Teil der Pack-Quellen dar, den Großteil machen die Oral-History-Interviews aus, die ich mit den Mitgliedern geführt habe. Die vorliegende Arbeit wäre ohne die Hilfe vieler Menschen in meinem näheren und weiteren Umfeld nicht möglich gewesen. Und auch nicht ohne materielle Hilfe – daher danke ich zunächst dem Schweizerischen Nationalfonds für die vierjährige Teil-Finanzierung des Projekts. Weiter danke ich Prof. Dr. Heiko Haumann für seine langjährige wissenschaftliche und menschliche Unterstützung. Im akademischen und privaten Bereich haben mich viele Personen mit ihren kritischen Beiträgen, ihrem fruchtbaren und stetigen Hinterfragen meiner geschichtswissenschaftlichen Arbeit motiviert, meine Thesen immer weiter zu verfeinern: Hierbei ist an erster Stelle PD Dr. Julia Richers zu nennen, weiter sind dies Prof. Dr. Alfred Bodenheimer, Dr. des. Simone Sattler, PD Dr. Carmen Scheide, Dr. Anatol Schenker, Dr. Simon Erlanger, Stefan Roepell, Elke Möller, Rochelle Rubinstein, Yoram Mayorek, Prof. Dr. Friedrich Lotter (†), Tamar Merlin, Kristin Bamberg, Anna K. Liesch, Dr. Jörn Happel, PD Dr. Peter Haber (s. A.), Dr. Jennifer Jermann und Familie Grütter. Ein besonderer Dank geht an Anja Huovinen. Und ich möchte mich bei meinen Eltern, Brigitte und Joachim Lindemann, sowie allen Mitgliedern der Petry-Werner-Benser-Familie bedanken: „If you find yourself in a hole, stop digging.“ Last but not least möchte ich mich bei dem Pack und den Familien für die gute Zusammenarbeit und das Vertrauen bedanken, das mir von allen entgegengebracht wurde. Stellvertretend seien hierfür Prof. Dr. René Levy, Juliette Braunschweig, Suzanne Dreifuss (s. A.), Vera Günzburg (s. A.) sowie Walter Ullmann (s. A.) und seine Söhne genannt.

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Relationships, Samurai und Kulturkontinuität – Eine didaktische Leseanleitung Meine Antwort auf die Standardfrage zu jedem Habilitationsprojekt „Über was arbeiten Sie?“ führt regelmäßig zu erstaunten Blicken. Im Bewusstsein, dass ich im Bereich Jüdische Geschichte forsche und lehre, scheint meine Kurzbeschreibung „Über das Pack!“ doch eher in den Bereich der despektierlichen Rede, wenn nicht mehr, als in den Bereich der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu gehören. Aber immerhin ist die Neugierde geweckt. „Über das … Pack??“ Ende 1999 übergab mir Heiko Haumann 124 hektografierte und spiralgebundene unveröffentlichte Seiten mit der fragenden Bemerkung, ob dies nicht etwas wäre, was ich als Habilitationsprojekt ausarbeiten möchte. Zwar hatte ich mich schon auf ein Thema aus dem Bereich Erster Weltkrieg/Psychohistorie/Geistesgeschichte eingestellt, nahm das Angebot aber gerne an, zumal ich das Habilitationsprojekt inhaltlich enger an die Schweizer Geschichte binden wollte, da ich seit dem Oktober 1998 am Institut für Jüdische Studien in Basel als Assistent und Verantwortlicher für den Bereich „Geschichte“ arbeitete. So begann ich in dem Buch, das 1994 hergestellt worden war, zu lesen. „Das Pack. Ein Zürcher Freundeskreis erzählt aus seiner jahrzehntelangen Geschichte“. Schnell war mir klar, dass es sich hierbei um eine grundlegende Quelle für eine lebensweltliche Forschung über eine jüdische Gruppe in der Schweiz handelte, die dazu die Möglichkeit einer Oral-History-Untersuchung bot. Den Namen „Das Pack“ hatte sich die Gruppe selbst gegeben in Anspielung auf Goebbels-Reden über das „internationale jüdische Pack“. Ich nahm also Kontakt auf zu dem in Lausanne arbeitenden Soziologieprofessor René Levy (Sohn eines Packmitglieds), der das „Packbuch“, wie ich die Textsammlung im weiteren Verlauf nennen werde, an Heiko Haumann geschickt hatte, und traf mich mehrmals mit ihm. René Levy ist es zu verdanken, dass die Gruppe Objekt wissenschaftlicher Untersuchung wurde und ich auf eine faszinierende geschichtswissenschaftliche Reise über Lebenswelten, Relations, Kulturkontinuität und jüdisches Erinnern ging. Die eigentliche wissenschaftliche Reise begann allerdings nicht erst mit dem Lesen des Packbuchs, denn Themen der deutschen Geschichte, die Psychohistorie und die jüdische Geschichte sind schon lange meine Wegbegleiter. Diese Wegbegleiter muss man kennen, um manche Sequenzen und Verknüpfungen der Untersuchung nicht verwirrend zu finden, und man muss sie vor allem kennen, um den inneren Zusammenhang sowie den sich aus den

Eine didaktische Leseanleitung  |

Wegbegleitern ergebenden Aufbau der Untersuchung zu sehen. Hierfür ist diese Leseanleitung gedacht, die man, um im Sprachduktus dieses Abschnitts zu bleiben, auch einen Reiseführer nennen könnte, der nötig ist für die anstehende intellektuelle Reise. Eine Bemerkung vorab ist noch nötig. In dieser Einleitung werde ich bereits mit Begriffen aus der Untersuchung arbeiten, sie aber nicht näher erläutern, da es für das Verständnis des Reiseführers nicht erforderlich ist. Ich erläutere mit dieser Einleitung den Weg meiner Untersuchung, inhaltlich gefüllt wird dies in den folgenden Kapiteln. Die Aufarbeitung der Geschichte des Packs bringt verschiedene Aspekte geschichtswissenschaftlichen Arbeitens zusammen. Zunächst steht die Gruppe selbst im Mittelpunkt. Es gilt, die Motive der Gründung, die Sinngebung, die eigentliche Geschichte sowie die Gründe für das Bestehen der Gruppe bis heute zu erforschen. Als schriftliches Quellenmaterial standen mir das Packbuch, ein Protokollbuch des Vorgängervereins, einige Briefe und die Lebenserinnerungen von Walter U. zur Verfügung. Um die Quellenlage für den lebensweltlichen Ansatz zu verbreitern, hatte ich mich, wie erwähnt, schon vor dem ersten Treffen mit den Packmitgliedern entschieden, Oral-History-Interviews durchzuführen. Wie in Kapitel 6 beschrieben wird, haben sich die Mitglieder allerdings geweigert, die Interviews aufzeichnen zu lassen. Daraus erwuchs die Idee der teilnehmenden Beobachtung. Ebenfalls in Kapitel 6 wird erläutert, wie diese Verfahren zur Anwendung kamen, aber auch stark modifiziert werden mussten, sodass ich dieses Vorgehen mit einer neuen Begrifflichkeit fassen musste: Relation-dependent Research (RdR). Zu Beginn des Projektes bin ich davon ausgegangen, dass ich über die Erforschung des Packs einen guten Einblick in das jüdische Leben Zürichs aus einer neuen Perspektive bekommen werde. Hierauf baute auch ein vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördertes Projekt auf, das ich von 2001 bis 2005 zusammen mit Peter Haber und Daniel Wildmann durchführte und in dem die Geschichte des Packs eines von drei Beispielen war.1 Es hatte sich aber schon im Laufe des SNF-Projekts gezeigt, dass dies nicht der Fall war, da die Packmitglieder zwar Teil des jüdischen Lebens in Zürich waren, aber nicht als repräsentativ gelten können; u. a. unterscheidet sich das Pack von anderen jüdischen Organisationen, Clubs, Vereinen erheblich, wie in den 1 Peter Haber erarbeitete ungarische Assimilationsstrategien anhand der Biografie des Turkologen Ármin Vámbéry, Daniel Wildmann forschte über die Geschichte der jüdischen Sportvereine im Deutschen Kaiserreich. Ergebnis dieses Projekts war folgende Publikation: Peter Haber, Erik Petry und Daniel Wildmann: Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa, Köln, Weimar, Wien 2006.

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Kapiteln 1–6 ausführlich dargestellt wird. Somit reduzierte sich das ursprüngliche Ziel einer größeren Untersuchung über das jüdische Leben in Zürich auf die Untersuchung des Packs. Doch je näher ich mich mit dem Pack beschäftigte, desto wichtiger wurde ein anderes Thema, das seit einigen Jahren die geschichtswissenschaftlichen Debatten mitbestimmt, nämlich die Frage nach der Erinnerung. Das klingt zunächst banal, da Oral-History-Untersuchungen immer mit Erinnerung zu tun haben. Nun kommt aber ein Punkt meiner Biografie ins Spiel. Seit ich im Familienkreis massiv mit Demenz- und Alzheimererkrankungen konfrontiert wurde und selbst eine Alzheimer-Patientin betreut habe, beschäftigte mich das Thema „Erinnerung“ intensiv. Hieraus entwickelte sich das wissenschaftliche Interesse an den Arbeiten über das „Gedächtnis“, hierbei vor allem ausgehend von Maurice Halbwachs’ „Das kollektive Gedächtnis“ und Jan Assmanns „Das kulturelle Gedächtnis“. Weiter sind die Arbeiten von Harald Welzer über das „kommunikative Gedächtnis“ und von Hans J. Markowitsch, der sich vor allem mit den biologischen Grundlagen beschäftigt, zu nennen. Die Texte von Hans J. Markowitsch ragen meines Erachtens aus der Masse der Publikationen heraus, die Schriften von Jan Assmann und Maurice Halbwachs hingegen riefen meinen Widerspruch hervor. Die Form eines in der Gesellschaft existierenden Gedächtnisses, pointiert gesagt, erschien und erscheint mir nicht haltbar und von falschen Voraussetzungen über Gedächtnis, Erinnerung und die Weitergabe von Wissen, ganz allgemein gesprochen, auszugehen. Im Text werde ich auf die verschiedenen Theorien kurz eingehen, diese aber nicht im Detail schildern. Hierfür sei auf eine inzwischen beachtliche Literaturliste über diese Theorien hingewiesen. Ich greife nur die von mir kritisierten Teile heraus, aber auch dies nicht zu ausführlich, und stelle diesen Modellen meine eigene Theorie detailliert entgegen. Einen Hinweis auf die Grundlage meiner Theorie, die ich „Aktive Kulturkontinuität“ genannt habe, gibt eine Filmszene aus dem 2003 in die Kinos gekommenen Film „The Last Samurai“. Die Geschichte des Films ist schnell erzählt: In den 1870er-Jahren öffnet sich Japan dem Westen, muss aber mit einer Rebellion der Samurai unter ihrem Anführer Katsumoto umgehen, die sich den alten Werten verpflichtet fühlen. Der Kaiser, hin und her gerissen zwischen dem Samurai-Kodex – Katsumoto war einmal sein Lehrer gewesen – und der Moderne, engagiert unter dem Einfluss seiner Berater eine Gruppe US-amerikanischer Offiziere, unter ihnen Captain Nathan Algren, um seine Armee zu modernisieren und für den Kampf gegen die Samurai auszubilden. Beim ersten Aufeinandertreffen der Armee und der Samurai erleidet die Armee eine vernichtende Niederlage, Algren wird gefangen genommen und

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muss den Winter im Dorf Katsumotos verbringen. Katsumoto erweist sich als hochgebildeter Mann, der zudem die englische Sprache beherrscht. Algren hingegen ist die japanische Kultur völlig fremd. Bei der zweiten Begegnung der beiden, die erste diente Katsumoto der Vorstellung, möchte Katsumoto wissen, was Algren in den „Indianerkriegen“ genau gemacht hat, was seine Rolle dort war. Folgender Dialog zwischen Katsumoto und Algren entwickelt sich. Katsumoto: „You fought against your Red Indians?“ Algren: „Yes.“ „Tell me of your role in this war.“ „Why?“ „I want to learn.“ „Read a book!“ „I would rather have a good conversation.“ Die hier geforderte individuelle Konversation betrachte ich in der Vermittlung von Kultur und beim allgemeinen Lernen als zentral. Oder wie es der deutsche Atomphysiker Werner Heisenberg in seinem Buch „Der Teil und das Ganze“, das im Untertitel „Gespräche im Umkreis der Atomphysik“ heißt, ausdrückt: „An ihnen [den Gesprächen, E. P.] soll deutlich gemacht werden, dass Wissenschaft im Gespräch entsteht.“2 Dies erinnert an klassische Motive wie die Platonische Akademie in Athen. Zwar ist es in der Altertumsforschung umstritten, wie genau sich die Lehre in den Akademien abgespielt hat, dass es aber Formen von Lehrgesprächen gab, ist gesichert. Das Motiv des Lehrgesprächs ist aber nicht nur aus Griechenland bekannt, sondern auch aus anderen Epochen und Kontexten, es sei nur die Kultur der rabbinischen Lehre genannt und das daraus von Franz Rosenzweig entwickelte Konzept des Jüdischen Lehrhauses. Allerdings ist der Blick auf die Platonische und weitere Akademien für das Verstehen der Aktiven Kulturkontinuität hilfreich, da Griechenland zur Zeit der Akademien schon über Bibliotheken verfügte, es aber die Akademie war, in der über das Gespräch versucht wurde, vor allem die Philosophie zu lehren und weiterzuentwickeln.3 Allerdings versuche ich in meiner Theorie die Weitergabe und Diskussion von und über Wissen aus dem Elitedenken der Akademien herauszunehmen und in einen Alltagskontext zu stellen. Diesen Alltagskontext reichere ich teilweise auch mit Beispielen aus meiner eigenen Lebenswelt an, z. B. im Einleitungskapitel zu „Gedächtnis und Erinnerung“. Meine Überzeugung ist, dass das Individuum zentral in den Vordergrund der geschichtswissenschaftlichen Arbeit gehört. Diese Forderung wird durch die lebensweltliche Forschung und die momentane Renaissance der Biografien 2 Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969, S. 9. 3 Vgl. hierzu u. a. Hans Krämer: Die Ältere Akademie, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 3, 2. Aufl., Basel 2004, S. 1–165.

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erfüllt. Meine Forderung ist aber nicht auf eine persönliche Vorliebe gegründet, sondern hat sich im Laufe der jahrelangen geschichtswissenschaftlichen Arbeit vor allem über die Lebenswelt entwickelt. Seit Ende der 1980er-Jahre arbeite ich zudem intensiv mit psychohistorischen Modellen, wobei mir hier weniger der Ansatz einer Psychoanalyse ganzer Gesellschaften, sondern Psychoanalyse als Kulturtheorie und Erklärungsansatz individueller Handlungen wichtig ist. Damit geht einher, dass Handlungen und Motive des Individuums nicht pathologisiert werden. Der Fokus auf das Individuum beinhaltet noch eine weitere Erkenntnis, die sich aus der Arbeit über Gedächtnis und Erinnerung ergeben hat. Beide, Gedächtnis und Erinnerung, sind höchst individuell; Versuche, diese auf Gesellschaften zu übertragen, halte ich für grundsätzlich falsch und werde dies im Text auch zeigen. Zwei Punkte werden im Text nicht näher behandelt, da sie eigene Untersuchungen erfordern, die den selbst gesetzten Rahmen der vorliegenden gesprengt hätten. Der erste ist die verständliche Forderung nach einer Theorie des Vergessens, denn wenn im Text schon eine Theorie des Erinnerns beschrieben wird, warum dann nicht auch eine Theorie des Vergessens erarbeiten oder zumindest die bestehenden Theorien des Vergessens im Text behandeln? In den Kapiteln über die Erinnerung und besonders bei Themen wie „false memory“, „flashbulb memory“ und dem absoluten Gedächtnis wird das Vergessen implizit mitbehandelt, allerdings nicht ins Zentrum gerückt, da mich im Zusammenhang der Untersuchung tatsächlich nur der Blickwinkel auf „Erinnerung des Gedächtnisses“, nicht aber auf das „Vergessen des Gedächtnisses“ interessiert. Der zweite Punkt ist die Frage, warum bei der Aktiven Kulturkontinuität nicht expliziter darauf eingegangen wird, ob und wie Erinnerung das Handeln beeinflusst. Dass dies der Fall ist, wird von mir nicht bestritten, im Gegenteil: Im Einleitungskapitel über Gedächtnis und Erinnerung wird anhand des Körpergedächtnisses darauf eingegangen. Der Körper „merkt“ sich eine Bewegung (einen Ausweichschritt im Judo) oder eine Erfahrung, die mit Schmerzen verbunden ist (Anfassen einer heißen Herdplatte). Dieses „Wissen“ kann er dann wieder abrufen, willkürlich, wenn der Mensch eine heiße Herdplatte sieht, oder auch unwillkürlich, wenn er in einem Judokampf „instinktiv richtig“ auf einen Angriff reagiert und diesen abwehrt. „Instinktiv“ meint hier die vom Körper gelernte Reaktion des Ausweichschritts. Ein anderes, allerdings nicht aus dem Alltagsleben gegriffenes Beispiel ist der Umgang eines Menschen mit Traumata. Hier wird auf massive Weise deutlich, wie die Erinnerung an ein Trauma das Handeln bestimmt, sei dies bewusst oder unbewusst. Dies ist das Thema

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der Psychoanalyse als Behandlungsmethode4, die das Erinnern des Traumas als Motiv der Handlung deutlich machen und überwinden möchte. Es ist dabei anzumerken, dass auch in der Traumaforschung der individuelle Zugang hervorgehoben wird, da das Klassifizieren eines Ereignisses als Trauma und der Umgang damit von Individuum zu Individuum sehr unterschiedlich ist. Im Rahmen der Aktiven Kulturkontinuität möchte ich betonen, dass es ein Handeln aus der Erinnerung heraus gibt, Erinnerung Handeln bestimmen kann, dass dies aber ein Handeln aus einer persönlichen Erinnerung heraus ist, d. h., ein persönlich erlittenes Trauma kann zu einer persönlichen Handlung führen. Handlungsbestimmende Erinnerung ist zwar nicht das zentrale Thema der vorliegenden Untersuchung, wäre jedoch Gegenstand einer notwendigen nachfolgenden Untersuchung im Rahmen der weiteren Analysen mit der Methode der Aktiven Kulturkontinuität. Der Aufbau und die Hinführung zur Aktiven Kulturtheorie folgen meinem eigenen Weg der gedanklichen Durchdringung des Themas „Erinnerung und Geschichte“. Da das explizite Folgen dieses Weges auf den ersten Blick verwirrend wirken kann, muss ich ihn näher erläutern. Die Kapitelaufteilung spiegelt diesen Ablauf zunächst technisch wider. In drei Kapiteln wird die Grundlage für die Entwicklung der Theorie der Aktiven Kulturkontinuität gelegt (Gedächtnis und Erinnerung; Das Gedächtnis einer Gesellschaft; Das Gedächtnis eines Individuums), anschließend diese Theorie im Kapitel „Aktive Kulturkontinuität“ detailliert ausgeführt. In allen vier Kapiteln arbeite ich immer wieder mit Beispielen für meine Thesen. Erste Quelle für diese Beispiele ist das Pack selbst, da die Arbeit über das Pack die Formulierung der Aktiven Kulturkontinuität ausgelöst hat. Aber der Weg zu dieser Theorie ist nicht nur vom Pack begleitet worden, wie anhand des Textes deutlich wird. Die gewählten Beispiele sind Zeugnisse für meinen geschichtswissenschaftlichen Weg; dabei habe ich bewusst immer wieder Beispiele aus sehr verschiedenen Bereichen der Geschichtswissenschaft gewählt, um eine breite Abstützung zu erreichen und meine Themen der letzten Jahre einzubauen. Einige dieser Beispiele möchte ich etwas näher erläutern. 4 In meiner eigenen Arbeit mache ich einen Unterschied zwischen Psychoanalytischer Kulturtheorie und der Psychoanalyse als Behandlungsmethode. Psychoanalyse als Kulturtheorie, wie sie in den Schriften Sigmund Freuds zu finden ist, z. B. in „Das Unbehagen in der Kultur“, was auch noch Thema im Text sein wird, erachte ich als sehr hilfreich bei der Arbeit über die Motive historischer Ereignisse, sei es im Bereich der Gesellschaft oder des Individuums. Die Psychoanalyse als Behandlungsmethode ist nicht mein Thema und wird daher auch nicht näher betrachtet.

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Ein immer wieder in meiner eigenen Forschung und Lehre auftauchendes Motiv ist die Sport- und Körpergeschichte, die erst seit einiger Zeit auch von der Geschichtswissenschaft als seriös und aussagekräftig entdeckt wird. Die Welt des Sports, aber auch die Erkenntnisse der Körpergeschichte bieten einen mikroskopisch feinen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen.5 Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Popularisierung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa. 1887 wird das erste Mal ein „Arierparagraf“, d. h. das Ausschließen von Juden per Gesetz, erwähnt, und zwar in einem Turnverein, genauer: im „1. Wiener Turnverein“. Dieser Arierparagraf „entstand“ nicht einfach aus dem Geist der Zeit heraus, sondern wurde von einer Person, Franz Xaver Kießling, entscheidend vorangetrieben.6 Einen wichtigen Hintergrund für meinen eigenen Erkenntnisweg bilden Themen der deutschen Geschichte. Bereits seit Ende der 1980er-Jahre arbeite ich mit der Methode der Psychohistorie zu verschiedenen Epochen und vor allem zum Bereich „Gescheiterte Revolutionen in Deutschland“. Die Erkenntnisse aus dieser Forschung sind eine Grundlage für meine Kritik an der bisherigen Erinnerungsforschung und werden daher in die vorliegende Untersuchung eingebaut. Hieraus ergibt sich auch das Einbeziehen der kulturwissenschaftlichen Schriften Sigmund Freuds, die ich für einen in der allgemeinen Geschichtswissenschaft unterschätzten Teil seiner Arbeit halte. Nachdem die Psychohistorie viele Jahre ein Schattendasein geführt hat, unternahm Peter Gay 1985 mit seinem Buch „Freud for Historians“ noch einmal den Versuch, aufzuzeigen, welche Möglichkeiten in einer „Zusammenarbeit“ zwischen Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse liegen. Gemeinsam ist allen Beispielen, dass sie zu einem Zeitpunkt meines wissenschaftlichen Arbeitens zentral waren. Man kann daher die Beispiele auch als Mosaiksteine ansehen, die einzeln betrachtet ein wenig verloren wirken, sich aber am Schluss zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dazu bilden einige Beispiele auch Themengruppen, wie die Fragen, die sich um Mauerbau, Mauerfall und Erinnerungskultur der DDR drehen. Eine weitere Themengruppe, die in meiner Forschung unter dem Motto „Geschichtslügen“ stand, sind die Beschäftigung mit den Thesen Fitz Fischers zur Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit dem Auschwitzprozess und mit Günter Grass’ biografischem Buch „Beim Häuten der Zwiebel“. Grass stellt in dieser Reihe das letzte, aber im Kontext seiner Biografie erschütterndste Beispiel dar. 5 Verwiesen sei nur auf die Arbeiten von Daniel Wildmann zur Körpergeschichte. 6 Vgl. hierzu u. a. Eric Fiedler: Makkabi chai, Makkabi lebt. Die jüdische Sportbewegung in Deutschland 1898–1998, Wien, München 1998, S. 10–14.

Eine didaktische Leseanleitung  |

Dass ich als weiteres Literaturbeispiel Texte des bereits 1927 verstorbenen japanischen Autors Ryunosuke Akutagawa gewählt habe, entspringt der Überzeugung, dass Akutagawas Kurzgeschichte „In a Grove“ ein seltenes Meisterwerk für den Bereich der Wahrnehmung darstellt, so wie es Jorge Luis Borges 1942 verfasste Erzählung „Funes el memorioso“ für das vollkommene Gedächtnis ist. Wie weitere Beispiele ausgewählt wurden, lässt sich bei der Definition des Begriffs „Kontinuität“ zeigen. Ich habe nach Autoren gesucht, die sich explizit mit dem Begriff der Kontinuität in der Geschichte beschäftigt haben und in der Geschichtswissenschaft einen gewissen Einfluss hatten. Meine Wahl fiel daher auf die Historiker Alfons Dopsch und Wilhelm Alff, die nach meinem Dafürhalten in herausragender Weise das Problem der Kontinuität analysiert haben. Von den Schriften Alffs und Dopschs habe ich in der Arbeit über Kontinuität sehr profitiert, wobei ich mit den Texten Wilhelm Alffs schon länger arbeite. Dass ich manchmal auch sehr „große“ Themen gewählt habe, wie Wertediskussion und Zehn Gebote, Weihnachten oder Nation, soll deutlich machen, dass die gedankliche Durchdringung des Themas zum einen auf Detaildichte beruht, zum anderen aber auch auf große Themen angewendet werden kann, selbst wenn dies auf den ersten Blick etwas hoch gegriffen erscheint. In meiner Analyse haben aber die Geschichten des Packs ebenso ihren Erkenntniswert wie die Diskussion über Religion oder Nation. Es muss aber der dahinter stehende Weg deutlich werden, denn nur so werden die Beispiele zu den schon erwähnten Mosaiksteinchen, die ein Bild formen. Es stand für mich nicht zur Diskussion, die angeführten Beispiele außerhalb des Packs nicht zu verwenden. Gerade die Vielzahl der Beispiele, die ein breites Spektrum von Epochen und Themen abdecken, soll helfen, den Weg zur Aktiven Kulturkontinuität nachvollziehbar zu machen. Hierzu gehören dann die Einbeziehung der Inquisition, der Reisläufer, aber auch das Lernen der Bedeutung der roten Ampel und die Analysen über den US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain. Das bisher Gesagte gilt auch für das 15.  Kapitel über die Analyse des Begriffs „Jüdische Erinnerung“. Die Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ hat mich bei sehr vielen Texten gestört, zumal sich das Typische einer „jüdischen Erinnerung“, was mit der Verwendung nicht nur suggeriert, sondern genannt oder stillschweigend vorausgesetzt wird, in der Arbeit mit dem Pack nicht gezeigt hat, was aber nicht daran liegt, dass das Pack nicht jüdisch wäre, sondern daran, dass hier, wie auch schon bei den Erinnerungstheorien, meiner Meinung nach „Kategorienfehler“ vorliegen. Der Begriff des „Kategorienfeh-

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lers“, wie ihn Gilbert Ryle 1965 kreiert hat, geht von der Anwendung einer falschen Kategorie auf ein Ereignis oder einen Fakt aus. Beispielsweise schaut man sich alle Mitglieder einer Sportmannschaft an und sucht dann objektivistisch nach dem „Teamgeist“. Ryles „category-mistake“ ist ein wichtiges Analyseinstrument für das Nachdenken über suggerierte oder stillschweigend vorausgesetzte Zuschreibungen. Die Arbeit mit dem Pack, die dabei neu gefundene Begrifflichkeit der Relation-dependent Research, die daran anschließenden Ausführungen zur Erinnerung sowie die Ausarbeitung der Aktiven Kulturkontinuität finden im Kapitel über das jüdische Erinnern einen Abschluss, allerdings keine Zusammenfassung, sondern die Anwendung der Erkenntnisse und Analysekategorien auf den scheinbar eindeutigen Begriff des jüdischen Erinnerns, der sich aber als etwas entpuppt, mit dem sehr viel suggeriert, aber nicht definitorisch exakt gearbeitet wird. So wird jüdisches Erinnern mit einer Vergangenheitsorientierung gleichgesetzt, die, wenn man sie näher anschaut, zu eher kruden denn erläuternden Vorstellungen kommen lässt. Dieses 15. Kapitel schlägt einen Bogen zum Beginn der Arbeit mit dem Pack. Heißt es doch in der Einleitung zum Packbuch: „Wäre es nicht schade, wenn all diese Erinnerungen an besondere Zeiten verloren gingen?“7 Ob das Packbuch diese Erinnerungen aufbewahrt, weiß ich nicht, dass sie aber weitererzählt werden und mir dann auch wieder begegnet sind, als eine Urenkelin eines Packmitglieds in einem Workshop der von mir mitgeleiteten Jugendausbildung („Likrat“) des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) davon berichtete, zeigt die Wirkmächtigkeit der Aktiven Kulturkontinuität. Aber diese Schlussfolgerung gehört an das Ende der Arbeit, und wir stehen erst am Anfang. Die Reise kann nun beginnen, die erste Wegmarke, das erste Mosaiksteinchen ist „Jüdisches Leben in Zürich“.

7 Packbuch, S. 3.

1. Jüdisches Leben in Zürich Um die Geschichte des „Packs“ einordnen zu können, soll am Anfang ein kurzer Abriss über die Geschichte der Juden in der Schweiz, im Besonderen aber in der Stadt Zürich, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stehen. Im Gefolge der römischen Legionen siedelten Juden im Gebiet der heutigen Schweiz (= Helvetien) seit dem 3. Jahrhundert.1 Neueste Funde in der nahe bei Basel gelegenen Römerstadt Augusta Raurica lassen sogar einen Siedlungsbeginn im 2.  Jahrhundert annehmen. Urkundlich erwähnt werden Juden das erste Mal 1213 in Basel, nachgewiesen sind jüdische Familien aber auch in einigen anderen Städten und Dörfern in der Schweiz. Für Zürich ist eine zeitgenaue Zuweisung nicht möglich. Zwar finden Juden seit ca. 1250 in Dokumenten Erwähnung, aber nicht als handelnde Personen, sondern es werden in sogenannten „Richtbriefen“ „jüdische Belange“ wie Geldverleih und Schächten genannt, woraus sich aber nicht schließen lässt, dass in der Stadt auch tatsächlich Juden gelebt hätten.2 Ein erstes Dokument, das Juden als handelnde Personen erwähnt, nämlich als Teil des Wirtschaftskreislaufs, stammt aus dem Jahr 1272 oder 1273.3 1 Zur Geschichte der Juden in der Schweiz vgl. Uri Kaufmann: Die Schweiz, in: Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps und Hiltrud Wallenborn (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Darmstadt 2001, S. 90–100; Augusta Wedler-Steinberg: Geschichte der Juden in der Schweiz, 2 Bände, Zürich 1970; Willy Guggenheim (Hrsg.): Juden in der Schweiz, Küsnacht, Zürich 1982; sowie Claude Kupfer und Ralph Weingarten: Zwischen Ausgrenzung und Integration. Geschichte und Gegenwart der Jüdinnen und Juden in der Schweiz, Zürich 1999. Zur Geschichte der Juden in der Stadt und im Kanton Zürich vgl. Annette Brunschwig, Ruth Heinrichs und Karin Huser: Geschichte der Juden im Kanton Zürich. Von den Anfängen bis in die heutige Zeit, Zürich 2005. 2 Zu beiden zitierten Begriffe sowie zu den Informationen Brunschwig/Heinrichs/ Huser, 2005, S. 34. 3 Vgl. Encyclopaedia Judaica, Second Edition, Jerusalem 2007 (im Folgenden „EJ 2“), Artikel „Zurich“, S. 688 und Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 43. Die EJ schreibt, dass es Juden überhaupt erst seit 1273 in Zürich gegeben habe, was eine durch die Quellen ebenso wenig gedeckte Behauptung ist wie die Annahme, es habe Juden in Zürich seit 1250 gegeben. Die Erwähnung von Juden in Rechtstexten des Mittelalters, vor allem des Frühen und Hohen Mittelalters, kann auch als exemplarische Funktion verstanden werden, d.  h., „Juden“ stehen dann für das Fremde oder beispielhaft für etwas Verbotenes. Klarheit schaffen hier nur eindeutige Quellen wie z. B. die Erwähnung jüdischer Kaufleute 1272/73.

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Die meisten Juden kamen aus dem Elsass und dem süddeutschen Raum in das Gebiet der Schweiz. Ihre Geschichte unterscheidet sich nur unwesentlich von den anderen jüdischen Gemeinden in West- und Mitteleuropa. Die jüdische Bevölkerung war in der Berufswahl stark eingeschränkt und daher vor allem im gestatteten, verachteten und gleichzeitig für die Wirtschaft existenziell notwendigen Geldhandel tätig. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts scheinen die Gemeinden relativ unbehelligt gelebt zu haben, mit Ausnahme der Berner Gemeinde, die 1294 von einem Ritualmordvorwurf erschüttert wurde, was zur Hinrichtung einiger Juden und zur Ausweisung der übrigen führte.4 In der Folge der Pestumzüge 1348/49 wurden auch die Juden in der Schweiz beschuldigt, die Pest durch Vergiftungen hervorgerufen zu haben, was zu Ausweisungen, Hinrichtungen oder Verbrennungen ganzer Gemeinden (so in Basel wie auch in Zürich 1349)5 führte. Die überlebenden Juden gründeten zwar nur kurze Zeit später wieder jüdische Gemeinden, doch da in verschiedenen Städten das kanonische Zinsverbot aufgehoben wurde, waren Juden als Geldverleiher im Handel nicht mehr nötig.6 In Verbindung mit erneuten Ritualmordvorwürfen wurden die Juden im Laufe des 15. Jahrhunderts erneut aus allen Städten und Dörfern ausgewiesen.7 Nur einigen wenigen jüdischen Ärzten schien es gestattet zu sein, in Schweizer Städten zu leben.8 Im 17.  Jahrhundert beginnt in der Grafschaft Baden die „moderne“ Geschichte der Juden in der Schweiz, denn es wurden Schutzbriefe ausgestellt, die Juden das Wohnrecht in den Gemeinden Endingen und Lengnau sowie Handelsrechte zugestanden. Diese zwei Surbtaler Gemeinden bildeten den Kern einer neuen jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz. Im Zuge der Umwälzungen der Französischen Revolution, die sich in der Schweiz in der Zeit der Helvetik (1798–1803) widerspiegelten, kam auch in der Schweiz die Diskussion über die Emanzipation der Juden in Gang, doch sollte es noch bis 1866 dauern, bis die Juden in der Schweiz die völlige Gleichberechtigung erhielten. Dass dabei massiver Druck aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich und den USA, die ihre jüdischen Staatsbürger, die in der Schweiz lebten, nicht den diskriminierenden Schweizer Gesetzen unterstellt sehen woll4 Vgl. EJ 2, Bd. 19, Artikel „Switzerland“, S. 342. 5 Vgl. Werner Meyer: Benötigt, geduldet, verachtet und verfolgt. Zur Geschichte der Juden in Basel zwischen 1200 und 1800, in : Heiko Haumann (Hrsg.), Acht Jahrhunderte Juden in Basel, Basel 2005, S. 26–28 sowie Brunschwig/Heinrichs/ Huser, 2005, S. 44–48. 6 Vgl. EJ 2, Bd. 19, Artikel „Switzerland“, S. 342. 7 Vgl. Kaufmann, 2001. 8 Vgl. EJ 2, Bd. 19, Artikel „Switzerland“, S. 342.

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ten, wie bisher angenommen die entscheidende Rolle spielte, kann nach den Arbeiten von Ruth Heinrichs in dieser Monokausalität nicht mehr aufrechterhalten werden.9 Mit der völligen Gleichberechtigung wuchs die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz rasch an. Lebten 1850 3.000 Juden in der Schweiz, so waren es 1914 bereits 20.000, die in dieser Zeit einen starken kulturellen und wirtschaftlichen Wandel erlebten und prägten, denn aus dem Landjudentum des 18.  Jahrhunderts entwickelte sich ein explizit städtisches Judentum. Schon 1910 lebte die Hälfte der Juden der Schweiz in Zürich, Basel oder Genf. Dazu kamen ein starker Assimilierungsprozess10 und ein mit der Urbanisierung einhergehender Wandel in der Berufsstruktur. Vor allem im Textilhandel und im Bereich der Warenhäuser wurden jüdische Unternehmer führend, während im Bereich der Exportindustrie, mit Ausnahme der Uhrenindustrie11, jüdische Unternehmer keine Rolle spielten. Das Anwachsen der jüdischen Gemeinschaft war auch einer starken Immigration zu verdanken, die sich hauptsächlich aus dem Elsass und dem süddeutschen Raum speiste. Die ersten ostjüdischen Einwanderer kamen bereits Ende der 1870er-Jahre nach Zürich. Ab den 1890er-Jahren gab es dann einen rapiden Anstieg der Einwanderung aus Osteuropa, was, wie in den anderen Ländern Mittel- und Westeuropas auch, zu heftigen Konflikten zwischen Ostjuden und Westjuden führte.12 Einen herben Rückschlag erlebten die Schweizer Juden im Jahre 1893, als nach einer Abstimmung das Schächtverbot in die Schweizer Bundesverfassung aufgenommen wurde.13 Die Auseinandersetzungen um diese Abstimmung, die 9 Vgl. den Beitrag von Ruth Heinrichs in: Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 198–214. 10 Zur Definition der Begriffe Akkulturation und Assimilation vgl. unten. 11 Zur Entwicklung der Uhrenindustrie vgl. die herausragende Dissertation von Stefanie Mahrer: Handwerk der Moderne. Jüdische Uhrmacher und Uhrenunternehmer im Neuenburger Jura 1800–1914, Wien 2012 sowie aufbau. Das Jüdische Monatsmagazin, „Pioniere der Zeit“, März 2007, darin die Beiträge von Jacques Picard, Leon Reich, Severin Wunderman und Andreas Mink. 12 Auf die Geschichte der Ostjuden in der Schweiz kann im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht näher eingegangen werden, es soll aber auf die zwei herausragenden Darstellungen zu diesem Punkt hingewiesen werden: Karin Huser Burgmann: Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich, Zürich 1998 und Patrick Kury: „Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!“ Ostjudenemigration nach Basel 1890–1930, Basel, Frankfurt/Main 1998. 13 Zu diesem Komplex vgl. Pascal Krauthammer: Schächtverbot in der Schweiz 1854–2000. Die Schächtfrage zwischen Tierschutz, Politik und Fremdenfeindlichkeit, Zürich 2000.

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Emotionen und die spürbare Ablehnung der christlichen Mehrheitsgesellschaft ließen schon am Ende des 19. Jahrhunderts ahnen, dass es mit einer gesetzlichen Erteilung der Gleichberechtigung nicht getan war,14 sondern dass neben der Assimilation, d. h. der Anpassung der Minderheit an die Werte und Kulturvorstellungen der Mehrheit, auch eine Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft zur Akkulturation, d. h. zur Aufnahme der Minderheit in den Gesellschaftsverband, bestehen musste.15 Diese Vorstellung kann übertragen werden, denn sie trifft nicht nur für die Schweiz zu, sondern für alle Mehrheitsgesellschaften, die eine mit ihnen lebende Minderheit, wie immer diese auch definiert sei, als selbstständige Gruppe betrachten und die Integration thematisieren. Die Stadt Zürich16 wurde aufgrund ihrer verkehrstechnisch günstigen Lage und eines rasanten Wirtschaftsbooms Ende des 19. Jahrhunderts schnell zum Mittelpunkt der deutschsprachigen Schweiz. Durch Migration, Einwanderung und Eingemeindung wuchs die Bevölkerung Zürichs am Ende des 19. Jahrhunderts auf 156.000 Einwohner. Die Stadt war nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität höchst attraktiv für Einwanderer und Migranten, auch ihre Behörden handelten liberaler als in anderen Städten. So lebten bis zum Ersten Weltkrieg in Zürich ca. 28 Prozent Ausländer. Die stärkste Gruppe der Ausländer waren dabei deutsche und italienische Staatsangehörige. Der Erste Weltkrieg als Höhepunkt des sich immer stärker entwickelnden Nationalismus änderte dies und ließ den Ausländeranteil bis 1933 kontinuierlich auf schließlich 14 Prozent fallen. Politisch bot Zürich ein sehr vielfältiges Bild. Verschiedenste politische Strömungen und Parteien agierten in der Limmatstadt, und nach der Veranke14 Gerade in den Auseinandersetzungen vom Herbst 2001 bis zum Frühjahr 2002 über das Aufheben des Schächtverbots kommt deutlich zum Ausdruck, wie fragil die Stellung der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz ist. Wobei es hier nicht um das Aberkennen der rechtlichen Gleichstellung geht, sondern um die Wahrnehmung und die daraus abgeleiteten Handlungen. 15 Diese Definition der Begriffe Assimilation und Akkulturation leitet sich aus der Ethnologie ab, widerspricht in seiner Trennung und Aufteilung aber gängigen Definitionen in der Geschichtswissenschaft. Da die gängigen Definitionen es jedoch sehr häufig an Trennschärfe vermissen lassen, wird in der vorliegenden Arbeit mit der oben genannten Definition gearbeitet. Zur detaillierten Erläuterung dieses Konzepts vgl. Erik Petry: Ländliche Kolonisation in Palästina. Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 4–8. 16 Vgl. zu diesem Abschnitt Huser Burgmann, 1998, S.  73–80 und EJ  2, Bd.  16, S. 688f.

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rung des Proporzwahlrechts erlangten die Linksparteien die Mehrheit, Zürich wurde nach dem Ersten Weltkrieg das „rote Zürich“. Doch mit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland 1933 erreichte der Nationalsozialismus auch die Schweiz, es kam zum sogenannten „Frontenfrühling“,17 der Zürich zu einem Zentrum des schweizerischen Nationalsozialismus machte. Entgegen der Entwicklung der Emanzipationsgesetzgebung für den Bundesstaat Schweiz wurde im Kanton Zürich der jüdischen Bevölkerung die vollständige Gleichstellung bereits 1862 zuteil.18 Noch in diesem Jahr wurde die erste jüdische Gemeinde in Zürich ins Leben gerufen, aus der dann die heutige Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) hervorging.19 Sie verschrieb sich liberal-reformerischen Ideen und einem säkularen Lebensstil, was dazu führte, dass sich 1895 die Israelitische Religionsgesellschaft (IRG), die sich religiös an der Neo-Orthodoxie in Frankfurt/Main orientierte, von der ICZ abspaltete. Der IRG schlossen sich viele ausländische und zunächst auch Zuwandererfamilien aus Osteuropa an. Doch weder in der ICZ noch in der IRG sahen sich die den osteuropäischen Traditionen anhängenden Juden schließlich ausreichend repräsentiert und gründeten daher eine dritte Gemeinde, die Agudas Achim (Vereinigung der Brüder), die sich zwar bereits 1912 als Splittergruppe formiert hatte, aber erst 1924 eine eigenständige Gemeinde wurde. Die jüdische Bevölkerung in Zürich wuchs, und die erste Synagoge wurde 1883 eingeweiht. Im Jahre 1921 lebten 7.000 Juden und Jüdinnen in Zürich. Es gab außer den drei Gemeinden noch insgesamt 24 jüdische Vereine oder Institutionen, die ihren Beitrag zum Bestand der jüdischen Kultur und des jüdischen Lebens in Zürich leisteten. Dies reichte von der Augustin-KellerLoge, die im Verlauf der Arbeit noch näher vorgestellt wird, über den Turnverein, diverse Jugendgruppen, u. a. die Kadimah, die ebenfalls noch ein Thema in

17 Der Ausdruck „Frontenfrühling“ oder auch „Fröntler“ leitet sich von der meist mit dem Ausdruck „Front“ verbundenen Namen der faschistischen Parteien ab. Vgl. hierzu Barbara Bonhage, Peter Gautschi, Jan Hodel und Gregor Spuhler: Hinschauen und nachgefragt. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen, Zürich 2006, S. 48–51 und Karin Huser: Vom Ersten Weltkrieg bis in die heutige Zeit, in: Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 353– 357. 18 Vgl. Ruth Heinrichs, Von der Helvetik (1798) bis zum Ersten Weltkrieg, in: Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 205–214. 19 Zur Geschichte der ICZ vgl. Alfred Bodenheimer (Hrsg.): „Nicht irgendein anonymer Verein …“ Eine Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Zürich 2012.

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der Untersuchung sein wird, und die Frauenvereine bis hin zur Zionistischen Ortsgruppe Zürich.20 Aber der Beginn der 1920er-Jahre sah nicht nur eine prosperierende jüdische Gemeinschaft, er sah auch die Diskussionen im Zürcher Stadtparlament über die Einbürgerungsfrage, die schließlich deutlich als ein Fanal gegen die Einbürgerung von Juden und Jüdinnen gesetzt wurde, indem diesen, wenn sie eingebürgert werden wollten, eine wesentlich längere Dauer des Wohnsitzes in Zürich abverlangt wurde als nicht jüdischen Ausländern.21 Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in nationalethnischer Absicht geprägte Wort von der „Überfremdung“ der Schweiz wurde wirkmächtig. Und auch wenn dies primär gegen die Ostjuden gerichtet war, ließ das Konzept der „Überfremdung“ doch auch die Schweizer Juden und Jüdinnen die zwiespältige Situation zwischen Dazugehören und Fremdsein deutlich spüren.22

20 Vgl. Kupfer/Weingarten, 1999, S. 79. 21 Vgl. hierzu Kury, 1998, S. 83f. 22 Vgl. hierzu Patrick Kury: Über Fremde reden. Der Überfremdungsdiskurs und die Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945, Zürich 2003.

2. Das „Urpack“ In dieser Atmosphäre fand sich im Jahre 1923 eine Gruppe von jüdischen Jugendlichen zusammen, um einen Schachklub zu gründen, den sie „Schachklub Young Lasker“ (SYL), nach dem jüdischen Schachweltmeister Emanuel Lasker (1868–1941), nannten. Das war der Beginn der Geschichte des Packs. Die Mitglieder des SYL kannten sich allerdings schon lange vor der Gründung des Klubs, hatten sich in den Gemeinden angefreundet (fünf waren in der IRG, vier in der ICZ), wohnten zum Teil in unmittelbarer Nähe zu einander (so Erich G. und Max D.), und einige gingen auch in die gleiche Schule. Es waren allerdings nicht rein jüdische, sondern Schulen mit christlichen und jüdischen Kindern, was, wie im Laufe der Untersuchung noch näher benannt werden wird, nicht immer ganz einfach für die jüdischen Kinder war. Ihnen wurde in der Schule ihr Judentum und die teilweise bestehende Ablehnung deutlich gemacht, z. B. indem das Schreibverbot am Schabbat, das vor allem die Kinder aus der IRG einhielten, nicht beachtet wurde. Die Schilderungen im Packbuch über subtile Ausgrenzungen lassen erahnen, dass den jüdischen Kindern schnell bewusst wurde, wie sie hier in der Position des Anderen, nicht unbedingt des Fremden waren,1 auch wenn sie es damals nicht so benannt haben. Hieraus erklärt sich, dass viele der jüdischen Kinder, selbst wenn sie in Klassen mit überwiegend christlichen Schülern gingen, vor allem mit jüdischen Kindern Kontakt hatten, sei es in der Schule, sei es aber vor allem auch außerhalb der Schule.2 Diese Kinder- und Jugendfreundschaft basierte, neben anderen Interessen, auch auf der Liebe zum Schachspiel und dem, was Erich G. „Vereinsmeierei“3 nannte. Nur zu verständlich, dass sich die Freunde zusammenfanden, um einen 1 Vgl. Gespräch mit Suzanne  D., 25.7.2002, die das Fremdsein nicht gelten lassen wollte, sehr wohl aber das Anderssein. Eine Untersuchung, welche jüdischen SchülerInnen mit welchen nicht jüdischen SchülerInnen Kontakt hatten, ist hier nicht zu leisten, ist möglicherweise gar nicht zu leisten, weil die Parameter, die eine solche Untersuchung bestimmen müssten, schlechterdings nicht zu bestimmen sind, da allein schon die Definition des Begriffes „Kontakt mit nicht jüdischen Schülern“ ins Uferlose führen würde. Nur eine Einzeluntersuchung einer Biografie könnte dies leisten. Die Kurzbiografien, wie sie im Packbuch erscheinen, erlauben es leider nur, sich auf wenige Eindrücke zu verlassen. Ich bin mir bewusst, dass eine Schlussfolgerung, wie sie im Text gezogen wird, nicht ohne Nachfragen im Raum stehen bleiben kann. 2 Vgl. Packbuch, S. 23. 3 Packbuch, S. 8.

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Klub zu gründen, in dem sie dem Schachspiel und der „Vereinsmeierei“ frönen konnten. Schaut man in die Mitgliederliste vom 4.3.1925,4 sind von siebzehn Mitgliedern neun des späteren Packs dabei. Aus diesem Klub, G. nannte es das „Urpack“,5 bildete sich dann im Laufe der Zeit, und dies heißt in diesem Falle mit dem Älterwerden der Jugendfreunde, das Pack, wobei sich ein genaues Gründungsdatum nicht festlegen lässt, was sich aus der prozesshaft-evolutionären Entwicklung des Packs fast logisch ergibt. Den Namen „Das Pack“ gibt es allerdings erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als es nach einer Feier auch auf der Straße so hoch herging, dass einer aus der Gruppe zur Ruhe mahnte, worauf Marcel Ba. auf eine Rede von Joseph Goebbels anspielend sagte: „Wir sind ja doch das internationale jüdische Pack.“6 Worauf die Gruppe den Namen als Selbstbezeichnung behielt, was an Theodor Herzls Entscheidung, seine zionistische Zeitung „Die Welt“ 1897 bewusst auf gelbem Papier zu drucken und sie ein „Judenblatt“ zu nennen,7 sowie an Robert Weltschs Artikel aus dem Jahr 1933 „Tragt ihn mit Stolz den gelben Fleck“ erinnert.8 Auch hier wurden jeweils aufoktroyierte Symbole der Erniedrigung zu Ehrenzeichen erhoben. Aus dem kleinen Kreis des Schachklubs wurde in den 1930er-Jahren schnell ein größerer Kreis, neue Freunde stießen hinzu, doch es blieb immer ein exklusiver Zirkel, dessen Exklusivität aber einzig und allein in der Freundschaft der Mitglieder bestand. Ende der 1920er-Jahre begannen die späteren Packmitglieder ihre Berufsausbildungen, einige verließen dafür Zürich, kehrten aber wieder zurück und leiteten in den 1930er-Jahren eine Konsolidierungsphase des Packs ein. Die Ehefrauen wurden mit in die Gruppe aufgenommen, was allerdings nicht hieß, dass immer alle Aktivitäten zusammen gemacht werden mussten. So fand mittwochs der Pack-Jass statt, an dem die Frauen nicht teilnahmen. Daher gründeten sie eine eigene „Abteilung“, den sogenannten Frauenstamm. Das Pack wurde Ende der 1930er-Jahre eine „feste Institution“, die aber keinen institutionellen Unterbau, keine Statuten oder Ähnliches hatte. Schwierig auch für das Pack, d. h. für das Bestehen der Gruppe, war die Zeit des

4 Vgl. Mitgliederliste des „Schachklubs Young Lasker“ (SYL), 4.3.1925. 5 Packbuch, S. 7. 6 Packbuch, S. 24. Bestätigt im Gespräch mit Walter U. am 3.8.2000. Marcel Ba. wurde später aus dem Pack ausgeschlossen. 7 Vgl. Die Welt, Nr. 1, 4.6.1897. 8 Robert Weltsch: Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck, in: Jüdische Rundschau, 4.4.1933.

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Zweiten Weltkriegs. Die Männer leisteten ihren Beitrag im Aktivdienst9, einige spätere Packfrauen meldeten sich zum Frauen-Hilfsdienst (FHD)10, und es war Walter S., der die beurlaubten Soldaten immer wieder ins Restaurant „Drei Könige“ einlud, zu danken, dass die Gruppe nicht zerfiel, sondern über den Krieg hinaus weiter bestand. Rallyefahrten (wobei nicht nur die schnellste Zeit das Ziel war, sondern das Beantworten von Fragen über die zu fahrende Strecke), der Jass-Abend, der Frauenstamm, diverse Theater- und Cabaretaufführungen und in den späteren Jahren Wochenendwander- oder Ausflugstouren sind einige der „äußeren“ Aktivitäten, die das Pack gemeinsam unternahm und mit denen es den Zusammenhalt der Gruppe über die Zeitläufte hinweg festigte. In den folgenden Abschnitten geht es nicht darum, jedes Detail aus der Geschichte des Packs und damit aus den Biografien der einzelnen Mitglieder nachzuerzählen; hierfür sei auf das Packbuch verwiesen. Vielmehr stellen das bisher über das Pack Gesagte und der bis heute bestehende Zusammenhalt die Fragen nach der Identität, nach Identitätsfindung und Identitätswahrnehmung, die sich im Pack gebildet haben könnte. Um diese Fragen zu beantworten, arbeitet die Untersuchung mit dem Konzept der Lebenswelten. Hierunter wird verstanden, dass der Mensch, die handelnde Person, im Mittelpunkt der Analyse steht. Von ihr aus wird auf die Bedingungen ihres Lebens geschaut, auf das soziale Umfeld und die damit verbundenen Werte und Ordnungen, auf die wirtschaftlichen Bedingungen und die daran gebundenen materiellen Existenzbedingungen, auf die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung, schließlich auf die Netzwerke.11

9 Aktivdienst bezeichnet den von den eidgenössischen oder kantonalen Zivilbehörden angeordneten Einsatz der Armee oder von Teilen davon zur Abwehr äußerer oder innerer Gefahr. 10 Der Frauenhilfsdienst, 1940 während des Zweiten Weltkriegs eingeführt, ermöglichte Frauen von 19 bis 60  Jahren, einen freiwilligen Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten. Die Angehörigen des Frauenhilfsdienstes, der dem Militär-Departement unterstand, waren uniformiert und wurden u.  a. im Sanitäts, Versorgungs- und Nachrichtendienst eingesetzt. 11 Das hier zugrunde gelegte Konzept der Lebenswelten baut auf den Pionierarbeiten Heiko Haumanns in diesem Bereich auf. Vgl. dazu besonders Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel, in: Klaus Hödl (Hrsg.), Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2002, und ders.: Geschichte, Lebenswelt, Sinn, in: Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Thilo Wesche (Hrsg.), Anfang und Grenze des Sinns. Für Emil Angehrn, Weilerswist 2006, S. 48–51.

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3. Identität als Gruppenerfahrung Ist Identität etwas Feststehendes, sozusagen „Angeborenes“, oder formt sie sich im Laufe des Lebens, lässt sie sich von außen formen, sogar umformen? Der Identitätssatz der Philosophie sagt: „A ist immer A“, daher stellt sich die Frage, ob eine Person immer die eigene Identität behält, also immer „A“ bleibt, oder ob sie sich weiterentwickelt, dabei aber immer „Ich“ bleibt. Doch auch dieses „Ich“ wäre dann noch zu definieren.1 Und wie verhält es sich mit Gruppen? Gibt es dort ein „Wir“, das gleich bleibt, aber Identitätsformungen, Identitätsänderungen zulässt? Kaum ein Konzept stand in den Geschichts- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren derart im Mittelpunkt wie die „Frage nach der Identität“ der historischen Subjekte. Fast schien und scheint es noch immer, dass nur die Beantwortung dieser Frage einen Erkenntnisgewinn gerade in den sozial, mikro- und alltagsgeschichtlichen Zugangsweisen verschaffen kann. Die Popularisierung des Konzepts „Identität“ wird in der Fachwissenschaft dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994) zugeschrieben,2 denn seine 1959 veröffentliche Aufsatzsammlung „Identity and the Life Cycle“3 steht am Anfang einer umfangreichen Beschäftigung mit Identität in verschiedensten Wissenschaftszweigen, die bis heute nicht abgeebbt ist, eher im Gegenteil. Erikson selbst war kein Theoretiker der Psychoanalyse, sondern zog seine Erkenntnisse aus der praktischen Arbeit mit seinen Patienten und Patientinnen. Im Aufsatz „Das Problem der Ich-Identität“ (1956) hat er seine Identitätsdefinition und die Entwicklungsstufen hin zu einer Identität dargelegt, bei denen er sich an den Theorien Sigmund Freuds orientierte. Ich-Identität meint für Erikson einen „spezifischen Zuwachs an Persönlichkeitsreife […] den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen 1 Zu diesen Diskussionen vgl. u.  a. den Artikel „Identität“ in: Nicolas Pethes und Jens Ruchatz (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, S. 267–272. In diesem Artikel werden die Unterschiede zwischen einem philosophischen und einem psychologisch-kulturwissenschaftlichen Ansatz deutlich, allerdings sind die Übergänge im Bereich der Identität des Individuums fließend. 2 Vgl. z. B. Encyclopedia of Religion and Society, hrsg. v. William H. Swatos, Hartford Institute for Religion Research, Walnut Creek 1998, Artikel „Identity“, http:// hirr.hartsem.edu/ency/identity.htm (Zugriff: 28.2.2009). 3 Die Aufsatzsammlung wurde auch ins Deutsche übersetzt: Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/Main 1966/1973.

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haben muß, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein.“4 Diese Definition, vor allem aber die im selben Aufsatz vorgestellten Entwicklungsstufen, die die psychosoziale Krise als wichtigen Teil der Identitätsentwicklung bezeichnen,5 zeigen seinen psychoanalytischen Ansatz, der in sich selbst geschlossen und eindeutig ist. Die Konjunktur des Begriffs Identität hat allerdings im Laufe der Jahre zu weiteren, höchst unterschiedlichen Definitionen geführt, was wiederum eine Beliebigkeit in der Begriffsverwendung erzeugt, die die Debatten über Identität erheblich erschwert. Dabei geht es nicht nur um eine Definition des Begriffs, sondern daraus ableitend vor allem darum, wie sich diese Identität herstellt. Julia Richers hat in einem 2009 erschienenen Aufsatz die neusten Strömungen und Begriffsbildungen wie „situative Ethnizität“ exzellent zusammengefasst.6 Besonderes Augenmerk legt sie auf die Erläuterung des im Aufsatz „Beyond Identity“ von Rogers Brubaker und Frederick Cooper beschriebenen Konzepts einer dualen Perspektive, das von der Binnenperspektive einer Person und ihren kategorialen Zugehörigkeiten zu verschiedenen Gruppen ausgeht.7 Dieses Konzept macht Richers unter anderem in ihrer Dissertation über das jüdische Budapest sehr fruchtbar.8 Der Gang der vorliegenden Untersuchung wird zeigen, warum ich mich trotzdem gegen das Konzept der „situativen Ethnizität“ und den Brubaker-Cooper’schen Ansatz entschieden habe Dass Identität und die Diskussion darüber kein Alleingut postmoderner Debatten im akademischen Elfenbeinturm sind, zeigt beispielhaft und augenzwinkernd ein Zitat des 1915 in Berlin geborenen Gerhard Granach, Sohn des vor allem in der Weimarer Republik berühmten Schauspielers Alexander Granach (1890–1945).9 Gerhard Granach stellte seiner 1997 erschienenen Auto4 Erik H. Erikson, Das Problem der Ich-Identität, in: ders., 1973, S. 123. Der Aufsatz wurde zuerst 1956 veröffentlicht. 5 Vgl. Erikson, 1973, S. 147–152. 6 Vgl. Julia Richers: Zeiten des Umbruchs und der Liminalität. Lebenswelten Budapester Juden im Vormärz, in: Petra Ernst und Gerald Lamprecht (Hrsg.), Konzeptionen des Jüdischen. Kollektive Entwürfe im Wandel, Innsbruck, Wien, Bozen 2009, S.  106–131. Den Begriff „Situative Ethnizität“ prägte in seiner Untersuchung Till von Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000. 7 Vgl. hierzu Rogers Brubaker: Ethnicity without Group, Cambridge 2004, S. 28–63. 8 Vgl. Julia Richers: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topgraphien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2009. 9 Alexander Granach hat sein Leben in einem erstmals 1945 in Stockholm veröffentlichten autobiografischen Roman mit dem Titel „Da geht ein Mensch“ geschildert.

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biografie folgendes Motto an den Anfang, das die Debatte über Identität zu relativieren scheint: „Ich weiß gar nicht, warum Menschen immer ihre Identität suchen müssen. Mir haben sie gesagt, wie ich heiße, das hat vollkommen gereicht“.10 1936 aber wanderte Gerhard Granach nach Palästina aus, entkam so noch rechtzeitig den Nazi-Schergen – und änderte in Palästina seinen Vornamen in Gad. War das eine Identitätsänderung? Die Relativierung ist nicht gelungen, die Frage nach der Identität bleibt. Auch Erikson selbst bietet ein Namensidentitätsbeispiel. Aus seinem eigentlichen Vornamen „Erich“ und dem angenommenen Nachnamen „Homburger“ – er war vom zweiten Ehemann, einem Karlsruher Kinderarzt, seiner dänischen Mutter adoptiert worden – machte er bei seiner Naturalisation in den USA 1939 kurzerhand „Erik H. Erikson“11. Während Granach mit seiner Namensänderung ohne Zweifel eine Anpassung an sein Einwanderungsland suchte, wollte Erikson mit der Namenswahl offensichtlich seine skandinavische Herkunft betonen, daher fiel die Wahl auf „Erik“ und nicht auf das anglisierte „Eric“. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werde ich nun zunächst meine Definition des Begriffs Identität erläutern, um daran anschließend den für mich sehr viel trennschärferen Begriff des „Selbst-Verständnisses“ einzuführen. Unter Identität verstehe ich zunächst ganz allgemein, dass sich Menschen ihrer selbst bewusst sind, was Formen der Reflexionsfähigkeit und des Zeitverständnisses 12 einschließt. 13 Dies wird als „personale 10 Gad Granach: Heimat los! Aus dem Leben eines jüdischen Emigranten, Augsburg 1997, S. 5, 179. 11 Detailliert dazu Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, S. 272–279. 12 Zum Problem des Zeitverständnisses sei auf das in Kapitel 13 behandelte „episodische Gedächtnis“ verwiesen. 13 Eine strikte Anwendung der Kriterien „Reflexionsfähigkeit“ und „Zeitverständnis“ als singuläre Parameter könnte allerdings zu Problemen bei der Identitätsdefinition führen, da dies bedeuten würde, dass Menschen ohne eine von den von außen zuerkannten Eigenschaften Reflexionsfähigkeit und Zeitverständnis als identitätslos gelten würden. Hierzu sei auf die Debatte hingewiesen, die sich mit der Frage nach Identitätsbildung und Behinderung beschäftigt. Dies ist ein kaum zehn Jahre alter Forschungsansatz, der deutlich vor Augen führt, dass Identität bisher in fast biologistischer Form von der Position der „Normalität“, die sich jede Gesellschaft aber selbst definiert, her gedacht wurde. Zur weiterführenden Lektüre sei auf drei Titel hingewiesen: Klaus Exner: Deformierte Identität behinderter Männer und deren emanzipatorische Überwindung, in: Birgit Warzecha, Geschlechterdifferenz in der Sonderpädagogik, Hamburg 1997, S. 67–87; Monika Julius: Identität und Selbstkonzept von Menschen mit geistiger Behinderung, in: Behindertenpädagogik, 39 (2), 2000, S. 175–194; Barbara Jeltsch-Schudel: Identität und Behinderung.

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Identität“14 bezeichnet und setzt voraus, dass die Menschen danach fragen, wer sie sind, und Strategien der Selbstfindung entwickeln, die in zukunftsgerichtete Imaginationen des Selbst münden können. Die eigene Sozialisation, die eigene Geschichte, wird dabei narrativ rekonstruiert, was aber die Vernetzung in Familie, Freundeskreis und anderen sozialen Beziehungen sowie die Stellung in der Gesellschaft einschließt. Die Wahrnehmung der Identität erschließt sich oft in einer Auseinandersetzung zwischen den eigenen Erwartungen und Bedürfnissen sowie den Ansprüchen der Umwelt.15 Dabei ist es fast eine Selbstverständlichkeit, dass Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung nicht übereinstimmen müssen, im Gegenteil, sogar stark differieren können.16 In der Beschreibung einer Identität müssen diese zwei Zugänge auseinandergehalten werden, allerdings dürfen weder der formierende Einfluss der Fremdwahrnehmung auf das Selbstbild noch die Möglichkeit der autosuggestiven Versuche einer Identitätsveränderung unterschätzt werden.

Selbst-Verständnis So weit die allgemeine Definition. Doch die vorliegende Untersuchung hat ihren Schwerpunkt in der lebensweltlichen Forschung, d. h., der Blick geht von der Person aus, richtet sich also von der Person auf die Umwelt. Daher muss ich für diese Untersuchung den Begriff der Identität noch stärker einschränken, da Biographische Reflexionen erwachsener Personen mit einer Seh, Hör- oder Körperbehinderung, Oberhausen 2008. 14 Vgl. u. a. Michael Quante (Hrsg.): Personale Identität, Paderborn 1999. 15 Für den Bereich der von außen an eine Person herangetragenen Ansprüche sei auf das Phänomen des „falschen Selbst“ hingewiesen. Dies meint ein schon im frühesten Kindesalter eingeübtes Verhalten der Anpassung an die vermeintlichen Forderungen und Vorstellungen der Eltern, was im Extremfall pathologisch werden kann. Vgl. Wolfgang Mertens: Psychoanalyse, 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Berlin, Köln, 1996, S. 198–201 (mit angehängter Literaturliste). 16 Ein Beispiel aus dem Pack kann dies erläutern. Bei Interviews mit Mitgliedern der ICZ und der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB), die nicht Mitglied im Pack waren und auch keine Verwandten beim Pack hatten, wurde mir häufig gesagt, man habe ein wenig vom Pack gewusst, dies sei aber eine elitäre, fast arrogante Gruppe gewesen. Diese Fremdwahrnehmung würde von den Packmitgliedern ganz sicher auf das Heftigste bestritten, sahen sie sich doch weder als elitär noch arrogant an, sondern als Freundeskreis, dem eben auch nur Freunde angehören konnten.

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ich ihn auf den individuellen Blick der Person reduzieren möchte. Hierfür verwende ich eine selbst definierte Unterkategorie, die diesen Blick auch sprachlich deutlich macht. Diese Unterkategorie bezeichne ich als „Selbst-Verständnis“, wobei die Verwendung des Präfixes „Selbst-“ einige Assoziationen weckt, die im Folgenden auch kurz angesprochen werden, woraus sich dann eine Definition des Selbst-Verständnisses erstellen lässt. Bei der Definition des Selbst-Verständnisses gehe ich zunächst von der psychoanalytischen Sichtweise des Selbst aus, d. h., ich fokussiere nicht auf das Ich, sondern auf die Vorstellung des Ich über sein Selbst. Dieses in Selbstrepräsentanz mündende psychoanalytische Konzept trifft aber nur bedingt zu, denn Selbst-Verständnis meint zwar, wie sich eine Person sieht und erlebt, aber nicht – und das gehört zur Selbstrepräsentanz elementar hinzu –, wie sie sich nach außen darstellt, denn dies kann sich vom Selbst-Verständnis stark unterscheiden. Im Zusammenhang mit der Realisierung des Ich, besser: der Selbstverwirklichung, wird die Selbsterkenntnis vorausgesetzt, aber auch dieses Konzept ist im Kern nicht Teil des Selbst-Verständnisses. Erkennen im Sinne des Erkennens des wahren Ich als eines hermeneutischen Prozesses kann zwar Teil des Selbst-Verstehens eines Individuums sein, muss es aber nicht. Selbsterkenntnis beinhaltet zudem die von außen an ein Individuum herangetragene Forderung, etwas zu erkennen, was von außen dann als Selbsterkenntnis akzeptiert wird. Mit dieser Kategorie wird aber das Verstehen der Handlungen eines Individuums nicht erleichtert, im Gegenteil. Um es an einem Beispiel festzumachen: Es ist für das Verstehen des Packs weit weniger interessant, dass Daniel G. am Ende seines Lebens die Selbsterkenntnis gewonnen hat, dass man zwar Schweizer sei, aber immer fremd bleibe. Viel wichtiger ist es, sein Selbst-Verständnis in den 1930er- und 1940er-Jahren zu kennen, um seine Handlungen und sein Denken in dieser Zeit zu verstehen. Es kann konstatiert werden, dass sich das Selbst in geerbten und erworbenen Rollen manifestiert, die es wiederum zu Handlungen befähigt, aber dies ist eindeutig Teil der Subjektkonstitution, nicht einer Fremdbestimmung. Im Bereich der Handlungen ist es z. B. bei Sigi R.,17 der in seinem ersten Beruf als kaufmännischer Angestellter in der Textilbranche höchst unglücklich war, eindeutig, dass er zwar seine Rolle in diesem Beruf spielte, aber in seinem Selbst-Verständnis immer etwas anderes war. Das Erkennen, dass die Textilbranche nicht sein Bereich war, kam relativ früh, die Umsetzung der Erkenntnis, also das Wechseln der Branche, dauerte hingegen eine längere Zeit. Sigi R.s Selbst-Verständnis in dieser Zeit hat sich nicht dem Beruf in der Textilbranche angepasst, es blieb 17 Vgl. hierzu den Abschnitt über Sigi R. weiter unten in diesem Kapitel.

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manifest, führte ihn schließlich zu einem ihn erfüllenden Beruf. Der Schritt des Berufswechsels muss dabei kein zwingender sein, er ist aber das nach außen Manifeste des Selbst-Verständnisses. Unter Selbst-Verständnis verstehe ich also ein selbstbestimmtes Verstehen der eigenen Person, das ich sehr viel allgemeiner und umfassender anschaue als z. B. die Selbstwahrnehmung, da mir dies etymologisch eher auf punktuelle Gefühls- und Verstehenslagen hinzudeuten scheint. Mit dem Begriff des Selbst-Verständnisses, dessen Schreibweise mit dem Bindestrich bewusst gewählt wurde, um beide Begriffe, „Selbst“ und „Verständnis“, auch visuell starkzumachen, ist für den lebensweltlichen Blick die zentrale Kategorie im Verstehen der Identität gefunden. Damit scheint in der Theorie nun eine gewisse Klärung für den Fortgang der Untersuchung erfolgt zu sein. Doch es muss noch ein weiterer Punkt bedacht werden, den der Psychologieprofessor C. George Boeree in einer Veröffentlichung über Erik Erikson wie folgt beschreibt: „The ways in which our lives intermesh are terribly complex and very frustrating to the theorist.“18 Dies weist nicht nur auf den „Praktiker“ Erikson zurück, sondern ganz allgemein auch auf den Umstand, dass sich Theoriebildung und Praxis sehr unterschiedlich zueinander verhalten können. Boeree will die Theoriebildung nicht gänzlich abschaffen, aber die Abgleichung mit der Praxis erscheint ihm mehr als notwendig. Auf diesen Praxisbezug, dieses Ableiten des Selbst-Verständnis-Begriffes aus der Praxis, in Anlehnung an Erikson, wird im Laufe der weiteren Untersuchung des Packs explizit Bezug genommen werden. Liegt in der allgemeinen Identitätsforschung möglicherweise nicht nur der Schlüssel zum Verstehen des Handelns eines Individuums, sondern auch zum Verstehen des Handelns einer Gesellschaft, stärker noch: einer Nation? Gerade der Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert stellt die Frage nach der Identität in verschärfter Form, bauen doch nationale Narrative stark auf einem Gemeinschaftserlebnis auf, das nicht nur das gemeinsame Erleben oder das Erinnern an von den Vorfahren erlebte Ereignisse umschließt, sondern daraus auch Rückschlüsse auf den „Nationalcharakter“, die „nationale Identität“ ermöglichen soll. Lutz Niethammer bezeichnet in seiner Kritik am Begriff der „kollektiven Identität“, die im Folgenden noch Thema sein wird, anekdotisch Gottfried Keller als Erfinder des Begriffs „nationale Identität“, da in der ersten Fassung seines Romans „Der grüne Heinrich“, erschienen 1854/55, der Titelheld einen Traum hat, in dem ihm sein Pferd erklärt, was es mit der nationalen 18 C. George Boeree: Personality Theories: Erik Erikson, Shippensburg University 1997/2006, www.ship.edu/%7Ecgboeree/perscontents.html, S. 7, (Zugriff: 4.6.2009).

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Identität auf sich habe, nämlich eine homogene Gesellschaft, bei der „Geheimnißvolles und Fremdartiges“19 weggefegt würde.20 Niethammer schreibt, diese Geschichte in „ihrer Heiterkeit ironischer Fiktionalität“ stamme aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, „als es den Anhängern des wirklichen Nationalismus nicht einmal im Schlaf eingefallen wäre, von nationaler Identität zu sprechen.“21 Auch wenn es eindrücklich ist, wie Keller die nationale Identität beschreibt, und noch eindrücklicher, wie Niethammer dies augenzwinkernd interpretiert, trifft es doch nicht ganz den historischen Kern, nämlich die Auseinandersetzung um Formen nationaler Identität. Dass dies nämlich schon am Ende des 18. Jahrhunderts diskutiert und nicht so ohne Weiteres als gegeben angenommen wurde, zeigt der 96. Vers mit dem Titel „Deutscher Nationalcharakter“ der von Goethe und Schiller 1797 herausgegebenen „Xenien“, in dem es heißt: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.“22

Kollektive Die Arbeiten Maurice Halbwachs’ (1877–1945)23 über das „kollektive Gedächtnis“ haben der „personalen Identität“ ein komplementäres Konzept zum Verstehen einer Gesellschaft an die Hand gegeben: die „kollektive Identität“, also das Konzept eines Gemeinschaftsbewusstseins einer Gruppe, die sich aus Individuen zusammensetzt, die aber, folgt man diesem Konzept, neben ihrer personalen Identität noch weitere Identitäten, nämlich kollektive Identitäten, „besitzen“ müssen. Die Frage nach der eigenen Identität innerhalb einer Gesellschaft beinhaltet also auch die Einstellung zu den kollektiven Identitäten, d. h. zu den sozialen Gruppen, mit der das Individuum in Kommunikation und Interaktion steht, und nicht zuletzt zu der Nation. Da aber Identität und damit das Selbst-Verständnis ein sehr persönlicher Vorgang ist, stellt sich die 19 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, Braunschweig 1854/55, S. 241. Zitiert nach der auf der Gottfried-Keller-Homepage abgedruckten Fassung, www.gottfriedkeller.ch/GH/GH_Parallel.htm (Zugriff: 4.6.2009). 20 Vgl. Niethammer, 2000, S. 66–70. Niethammer stützt sich auf einen Artikel von Rudolf Walter: Eine Republik für ein Pferd. Wohin keine Brücke führt: Vom Ideal einer einheitlichen nationalen Identität, in: Süddeutsche Zeitung, 2.3.1998. 21 Beide Zitate Niethammer, 2000, S. 66. 22 Erschienen im „Musenalmanach für das Jahr 1797“. 23 Zu Halbwachs und seinen Forschungen vgl. Kapitel 9 der vorliegenden Untersuchung.

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Frage, ob das Konzept einer kollektiven Identität überhaupt mit dem einer personalen Identität auf eine Stufe gestellt werden kann. Müssen bei der Bestimmung der personalen und der kollektiven Identitäten daher nicht unterschiedliche Parameter angelegt werden? Wie stark wirken kulturell-kommunikative Prozesse auf die Bildung beider Identitäten ein? Können Identitäten überhaupt über Gruppen bestimmt werden? Ist nicht jeder Lebenslauf, jede Biografie so individuell, dass sie sich einer Gruppenidentität entziehen, es sei denn, es sind „größte gemeinsame Nenner“, die unkritisch und undifferenziert benannt werden, so z. B. Schweizer, Deutsche, Buddhistin, Moslem oder der Gebrauch der gleichen Sprache?24 Schon diese kurze Aufzählung lässt Nachfragen aufkommen nach Identitäten, nach der Wahrnehmung, rückt aber auch ganz grundsätzlich die Existenz „kollektiver Identitäten“ in den Fokus des erkenntnisorientierten geisteswissenschaftlichen Nachdenkens und Forschens. Lutz Niethammer hat sich in seiner bereits erwähnten Publikation „Kollektive Identität“ ausführlich diesem Thema gewidmet, und schon der Untertitel verrät, was er davon hält: „Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur“. Sein Buch kann als Fundamentalkritik bezeichnet werden, die sich zwar auf akademisch-intelligente Weise der Geschichte des Begriffs nähert, aber schon am Anfang klar macht, dass es sich hierbei um ein „Plastikwort“25 handle, das ge- und missbraucht würde, wie es gerade passe.26 Und er geht noch weiter, nachdem er einen großen Teil der wissenschaftlichen Literatur, die „kollektive Identitäten“ im Titel führt, durchforstet hat: „Eine explizite und auch nur halbwegs tragfähige Theorie kollektiver [kursiv i. O.] Identität ist mir nicht begegnet. Meistens gibt es nicht einmal einen Ansatz dazu, sondern entweder wird das Stereotyp ohne nähere Definition als gleichsam ‚self-evident‘ unterstellt […] oder es wird in begründenden Sätzen und Referenzen […] in die Problematik individueller Identität, die eine Auseinandersetzung mit Kollektiven, aber nicht notwendigerweise mit kollektiven Identitäten impliziert, übersetzt.“27 Dieses Absprechen jeglicher wissenschaftlicher Fundierung des Begriffs „kollektive Identität“ setzt sich in der weiteren Untersuchung fort, die das Konzept vollends wissenschaftlich diskreditiert, und endet schließlich mit 24 So wurde in einer Podiumsdiskussion während der Tagung „Schmelztiegel – Sabre – Kibbuz: Hundert Jahre Zionistischer Weltkongreß“ in Bad Segeberg/Deutschland 1997 die Frage nach der israelischen Identität, nach dem, was alle Israelis verbindet, von einem Teilnehmer mit dem Satz, dies sei das Ivrit (also die moderne hebräische Sprache), beantwortet. 25 Niethammer, 2000, S. 33. 26 Vgl. Niethammer, 2000, S. 33–35. 27 Niethammer, 2000, S. 55.

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einem „bescheidenen Vorschlag“28. Niethammer möchte den Begriff „kollektive Identität“ vollends aus dem Sprachgebrauch streichen und ihn durch stärker differenziertes Denken und Darüber-Sprechen ersetzen; gleichzeitig plädiert er für ein neu definiertes Einsetzen des „Wir“ als Bezeichnung und Kriterium einer Gesellschaft.29 Niethammers Analyse muss am Anfang der Beschäftigung mit „kollektiver Identität“ stehen, denn die von ihm angesprochenen Desiderate in der Theoriebildung des Begriffs, bei gleichzeitigem inflationärem Verwenden, deuten darauf hin, dass es sich tatsächlich um ein die definitorische Trennschärfe vermissendes System handelt, das bei Bedarf zur Erklärung von Verhaltensweisen herangezogen werden kann, aber eigentlich nichts erklärt. Drei Dinge sind zu Niethammers Thesen noch zu bemerken, aus denen erkennbar wird, warum seine Untersuchung für die vorliegende Darstellung so prominent aufgenommen wurde. Zunächst ist es, mit Rückgriff auf Erikson, deutlich, dass sich eine Theorie kollektiver Identitäten nur aus einer Praxisbeobachtung ergeben kann und nicht aus einer prä-phänomenen Voraussetzung. Zweitens ist für den Verlauf der vorliegenden Arbeit wichtig, zu betonen, dass kollektive Identität und kollektives Gedächtnis nicht gleichgesetzt werden dürfen, da es sich um zwei unterschiedliche Teile eines Kollektivsystems handelt, bei dem ich davon ausgehe, dass kollektive Identitäten in einer bestimmten Weise, wie z. B. beim Pack, beobachtbar und damit real sind – dies wird in diesem und den nächsten Kapiteln ausgeführt –, dass aber ein kollektives Gedächtnis nicht existiert. Man muss vorgängig und exkursorisch aber auch schon die Frage stellen, ob, angelehnt an die Diskussion bei Brubaker und Cooper, nicht schon die Bezeichnung „Identität“ falsch ist. Könnte hierfür auch der Begriff des Selbst-Verständnisses eingesetzt werden? Der dritte Punkt bei Niethammer ist entscheidend. Zu Beginn des Abschnitts über die „Benutzung“ kollektiver Identität nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt Niethammer, er würde zwei Beschränkungen vornehmen, nämlich die „kollektive Identität in den Selbstverständigungsdiskursen der Dritten Welt und des Judentums“30. Im ersten Fall sei es die fehlende Sprachkompetenz und die Unüberschaubarkeit der einzelnen Kulturen, wie sie sich zumindest für ihn darstelle, beim Judentum aber liege die Sache anders: „Der jüdische Identitätsdiskurs ist eng mit den Komplexitäten dieser hochdifferenzierten transnationalen Gemeinschaft verwoben, nicht von den Problemen des jüdischen 28 Niethammer, 2000, S. 625. 29 Vgl. Niethammer, 2000, S. 625–632. 30 Niethammer, 2000, S. 460.

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Nationalismus in Palästina zu trennen und im Trauma der Shoa verwurzelt.“ Privat sollten „nicht-jüdische Deutsche und Juden“ offen miteinander umgehen, da dies zum Wachstum freundschaftlicher Beziehungen gehöre, andererseits glaubt Niethammer, „daß es unseren besonderen Beziehungen entspricht, wenn Leute wie ich sich mit öffentlicher Kritik und Ratschlägen gegenüber der Kultur und Politik mitlebender Juden zurückhalten und ihnen nicht unsere Wahrnehmungsweisen aufdrängen. Ich halte solche Selbstbeschränkung zwar nicht für ein Gebot deutscher Identität, wohl aber für eine historische Einsicht und eher für ein Gebot von Anstand und Klugheit.“31 Niethammers Entscheidung überrascht, schreibt er doch selbst, dass „kollektive Identität“ gerade im Bereich des Judentums sehr gut erforscht sei. Um seine These zu verifizieren, wäre ein Blick in die kollektive Identität des Judentums zwingend notwendig gewesen. Es ist weiterhin sehr befremdlich, dass er seinen Verzicht mit der deutschen Geschichte begründet, dabei von „nichtjüdischen Deutschen und Juden“ spricht, denn er spielt damit auf der Klaviatur des „Andersseins“ von Juden, die keine nationale Zuschreibung brauchen, zugespitzt gesagt: Deutsche und Juden, und gesteht Juden gleichzeitig eine kollektive Identität zu, die er sonst so vehement verneint. Dass er dabei indirekt auch von deutscher Identität spricht, geht fast unter, stellt aber die Frage, ob das nicht genau die kollektive Identität ist, die er so verneint. Die Untersuchung über das Pack, vor allem der Versuch, zu bestimmen, was eine Gruppenidentität, Niethammer würde hier von kollektiver Identität sprechen, ausmacht und daran eine Packidentität zu definieren und zu bestimmen, ist auch der harschen Auseinandersetzung über kollektive Identitäten geschuldet. Und es ist ein Versuch, Gruppenidentität im Judentum auch nach 1945 zu definieren und sich dabei ohne Zweifel einem schwierigen Thema zu nähern.32 Das Pack ist eine Schweizer Gruppe, daher könnte man davon ausgehen, dass hierfür andere Parameter gelten als für eine jüdische Gruppe, die in Deutschland situiert wäre. Wie die Untersuchung zeigen wird, unterscheiden sich die Parameter nicht grundlegend, aber das Pack selbst steht für eine jüdisch-schweizerische Gruppenidentität.

31 Alle Zitate und Informationen bei Niethammer, 2000, S. 461. 32 Niethammers Argumente der deutschen Geschichte treffen genauso auf mich zu, allerdings halte ich sie im wissenschaftlichen Verständnis für grundfalsch. Vgl. dazu auch Kapitel 13.

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Jüdische Identität Bevor im Folgenden in einem ersten Schritt über die Analyse individueller Biografien die Frage nach dem Pack-Selbst-Verständnis angeschaut werden soll, muss grundsätzlich der Begriff der „jüdischen Identität“ geklärt werden. Was eigentlich sehr klar sein sollte, weil man von vermeintlich feststehenden halachischen Konzepten ausgehen könnte („Jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist“), erweist sich bei näherem Hinsehen als äußerst schwierig, da hier „ist“ (halachische Definition) mit „sein“ (Selbst-Verständnis) verwechselt wird. Hinzu kommt, dass die Basis der vorliegenden Arbeit die Lebenswelt der Packmitglieder ist, also Definitionen auch aus der damaligen Zeit gesucht werden. Zwar sind Begriffe wie „Bindestrich-Identitäten“ im heutigen Diskurs analytisch wertvoll, doch sind sie im Selbstverständnis, im Erfahren der eigenen Lebenswelt für das Pack auch verwendbar? Es scheint so, dass Juden und Jüdinnen, wenn man bei dem Begriff der Bindestrich-Identitäten bleibt, eben nicht die Wahl hatten, sich als doppelte Identität zu definieren, sie mussten eine Entscheidung treffen, da dies die Mehrheitsgesellschaft verlangte, auch weil man zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch sehr am Vorwurf der doppelten Loyalität litt.33 Zwei Klassiker der Einführungsliteratur in das Judentum seien an dieser Stelle auf der Suche nach einer Definition jüdischer Identität befragt, nämlich die Untersuchungen von Arthur Hertzberg und Leo Trepp, die allerdings nicht explizit nach jüdischer Identität suchen, sondern eine Definition des Judentums, besser: des jüdisch Seins anbieten. Arthur Hertzberg schreibt in seinem 1961 erstmals publizierten Buch „Judaism“, dass es zwar zu allen Zeiten Auseinandersetzungen über die Definition von Judentum gegeben habe, daher auch entsprechende Ausschließungen von Gruppen, z. B. den Karäern, dass aber bis in das 19. Jahrhundert hinein das normative Judentum als eine definitionsmächtige Kraft gegolten habe,34 was im Übrigen die Auseinandersetzungen zwischen Chassidismus und Mitnaggedim nicht ausschließe, da es sich auch hier um normative Strukturen handle, die Judentum eindeutig definieren und damit für die einzelnen Mitglieder, aber auch die außenstehende Gesellschaft klar erkennbar machen. Seit dem 19. Jahrhundert, genauer: seit der Emanzipationszeit habe sich das religiöse Denken im Judentum verwestlicht, es sei zu großen Aufbrüchen gekom33 Dies betraf, nebenbei bemerkt, aber nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern in hohem Maße auch die katholische Bevölkerung in Deutschland ab 1871. 34 Vgl. Arthur Hertzberg: Judaism, durchgesehene Auflage, New York 1991, S. 22.

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men, die in sich die Schwierigkeit bargen und bergen, dass von da an eine klare Definition, was Judentum und wer jüdisch sei, nicht mehr möglich sei. Judentum sei dabei zu einer Denomination geworden, die sich in die Gesellschaft einfügen will,35 aber, und dies sei als Fortsetzung zu Hertzbergs Gedanken gesagt, von der Mehrheitsgesellschaft dazu nur halbherzig eingeladen und schließlich doch nicht zugelassen wurde. Leo Trepp stellt im Einleitungskapitel seiner Darstellung „Die Juden“, 1966 erstmals auf Englisch erschienen, nicht die Frage, „wer“ Jude sei, sondern er fragt: „Was ist denn ein Jude?“ Eine Antwort findet er nicht, vielmehr stellt er die These in den Raum, ein Jude sei wohl am ehesten jemand, „der sich selbst für einen Juden hält, weil er sich dem jüdischen Volk auf Gedeih und Verderb zugehörig fühlt.“36 Doch die Definition von „Volk“ und damit „jüdischem Volk“ ist so mannigfaltig wie ambivalent und letztendlich ungenau. Auch das Konzept der „Nation“ trifft nur teilweise zu, denn so, wie sich die Juden in Israel eine Nation nennen und dies sehr positiv auffassen, sind sie in den ehemaligen Ostblockstaaten zwar auch als Nation bezeichnet worden, doch war dies als Ausgrenzung gemeint. Und die jüdische Gemeinschaft in den USA betrachtet sich nach Trepps Analyse als religiöse Gemeinschaft, die Teil der amerikanischen Nation ist. Als Ausgangspunkt seiner Untersuchung über „Volk, Geschichte, Religion“ wählt er daher einen anderen Begriff, den der „Hausgemeinschaft“ (Bet Israel,37 eigentlich: Haus Israel), die er für die einzige zutreffende Bezeichnung hält. Eine Hausgemeinschaft zeichne sich durch eine eigentümliche Atmosphäre aus, die Bande sei derart stark ausgeprägt, dass sie auch diejenigen umfasse, die nicht mehr in dieser Hausgemeinschaft lebten, aber auch diejenigen einbeziehe, die erst später zu der Hausgemeinschaft hinzugestoßen seien. Jede Familie des Hauses bringe auf ihre Art die Sitten und Gebräuche zum Ausdruck, und selbst diejenigen Familienmitglieder, die diese Ausdrucksformen ablehnten, hätten diskursiv Teil an dem „Familiengeist“. Dieses „Haus Israel“ ist nach Trepp durch seine Hoffnungen und Prüfungen, Erfolge und das Füreinander-Einstehen, aber auch durch seine Traditionen verbunden.38 Auch wenn der Begriff der Tradition in der 35 Vgl. Hertzberg, 1991, S. 27. 36 Alle Zitate: Leo Trepp: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion, Reinbek 1987, S. 9. Das Buch ist zwölfmal überarbeitet und aktualisiert worden, die bis jetzt letzte erneuerte Ausgabe erschien 1998. 37 Der Begriff findet, wie auch Trepp schreibt, in den Büchern der Hebräischen Bibel sehr häufig Verwendung, wenn vom Volk Israel als Ganzes gesprochen wird. So z. B. 2 Mo 16/31 und 2 Mo 40/38. 38 Vgl. Trepp, 1987, S. 9f.

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Wissenschaft sehr vorsichtig gebraucht werden sollte, wie die Kulturanthropologie seit den Arbeiten Herman Bausingers eindringlich lehrt,39 bleibt das Fazit eines Zugehörigkeitsgefühls, das sich nicht nur auf die Familie, also die Jetzt-Zeit bezieht, sondern auch einen starken Bezug zur Vergangenheit herstellt. Dieser wird aber nicht geschichtskonstruierend verwendet, sondern eher geschichtsdeutend, als Hinweis auf vergangenes Geschehen, dem eine Bedeutung vor allem im Sinne des Erkennens der Rolle der eigenen Gruppe zugeschrieben wird. Trepps Konzept der Hausgemeinschaft ist für eine grundlegende Definition der jüdischen Identität überzeugend. Er verzichtet auf nationalistische und ethnische Komponenten, die immer auch einem Wandel der Innen- und Außenbetrachtung unterliegen können, er lässt auch die halachische Definition außen vor, da diese zwar eine deutliche Richtschnur gibt, aber doch nur „technischer“ Natur ist, zudem auch nicht frei von Ambivalenzen. Als Beispiel ist die väterliche Linie innerhalb des Judentums selbst zu nennen, denn wie soll mit einem Kind verfahren werden, dessen Vater jüdisch ist, dessen Mutter aber nicht (halachisch wäre das Kind demnach nicht jüdisch), das aber in den jüdischen Traditionen erzogen wird und sich selbst als einen Teil der jüdischen Gemeinschaft versteht. Die rein technische Antwort wäre, das Kind müsse zum Judentum übertreten, um Teil der jüdischen Gemeinschaft zu werden, im Konzept der Hausgemeinschaft wäre dieses Kind aber als Teil der jüdischen Gemeinschaft anerkannt. Arthur Herzberg würde mit seiner Kritik an der Verwestlichung des Judentums möglicherweise dem Hausgemeinschaftskonzept nicht zustimmen, aber für die Geschichte der Juden und Jüdinnen besonders ab dem 19. Jahrhundert muss eine über die halachische Form hinausgehende Definition gefunden werden, die auch den innerjüdischen Fragen und Erklärungsversuchen Rechnungen trägt. Und dabei geht es nicht um unsichtbare Bindungen (so Franz Kafka), gar ein „Geheimnisvolles Etwas“ (so Sigmund Freud),40 sondern den eher praktischen Versuch, die Zugehörigkeit zum Judentum als Identitätsstifterin zu interpretieren und zu analysieren. Richtungsweisend sind die im 19. Jahrhundert beginnenden innerjüdischen Debatten, ob eine Reform des Judentums notwendig sei, und wenn ja, welche Ausmaße diese haben solle oder könne. Diese Debatten, die schließlich in den

39 Vgl. grundlegend Hermann Bausinger: Volkskunde, Darmstadt 1971. 40 Vgl. hierzu Shulamit Volkov: Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 122.

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drei sehr groben Richtungen „orthodox“, „konservativ/modern-orthodox“ und „liberal“41 mündeten, sind ein Beispiel für diese Diskussionen. Schaut man am Ende dieses einführenden Teils über jüdische Identität spezifischer nach einer Definition einer jüdischen Identität in der Schweiz, stellt man schnell fest, dass sich die Untersuchungen sehr an Deutschland orientieren, die großen Narrative von dort in einem kulturwissenschaftlichen Transfer auf die Schweiz übertragen, bei der Frage nach einer spezifisch jüdisch-schweizerischen Identität aber im Diskurs über die verschiedenen Denominationen innerhalb des Judentums und der Frage nach den Mischehen stehen bleiben.42 Judentum erscheint somit als übernationaler, fast erratischer Block, der die jüdische Gemeinschaft auf der ganzen Welt eint, während bei der Frage nach einer schweizerischen Identität sofort auf alle möglichen Differenzen zu anderen Nationen hingewiesen wird. Doch das Bild eines erratischen Blocks entspricht nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dem Bild der Hausgemeinschaft, wie es Leo Trepp entworfen hat. Es entspricht viel eher dem Absprechen einer binnendifferenzierten Entwicklung schweizerisch-jüdischer Existenz. Anhand der Biografien des Packs soll nun versucht werden, einer möglichen schweizerisch-jüdischen (Bindestrich)Identität auf die Spur zu kommen und dabei zu zeigen, was am Pack jüdisch, was schweizerisch war und ob es eine Synthese, vielleicht sogar ein Selbst-Verständnis dessen gegeben hat.

Pack-Lebensläufe Um zunächst bei den individuellen Biografien, der personalen Identität, dem Selbst-Verständnis zu bleiben, werden vier Lebensläufe von Packmitgliedern vorgestellt, zwei Frauen und zwei Männer, für die alle zunächst einmal die 41 Die Bezeichnungen sind nur mit Vorsicht zu gebrauchen, da sie z. B. im angloamerikanischen Sprachraum andere Bedeutungen haben, d.  h. andere Gruppen sich als „conservative“ bezeichnen würden als im deutschsprachigen Raum. 42 Beispielhaft dazu Madeleine Dreyfus: Jüdische Identitäten in der Schweiz, in: Jüdische Lebenswelten Schweiz, herausgegeben vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Zürich 2004, S. 363–376. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprojekts  58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ lief 2007 bis 2010 auch ein Projekt über die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz unter dem Titel „Religionswandel und gesellschaftliche Orientierungen der Juden in der Schweiz“. Vgl. die Publikation dazu Jacques Picard, Daniel Gerson (Hrsg.): Schweizer Judentum im Wandel, Zürich 2014.

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Attribute „nicht ostjüdisch, Schweizer Staatsbürger/in, wohnhaft in Zürich“ zutreffen. Drei Biografien sind aus Selbstzeugnissen, eine aus den Beschreibungen der Freunde erstellt. Beginnen möchte ich mit Walter S., dem sogenannten „Keenig“ des Packs,43 der aufgrund seines frühen Todes nicht mehr selbst im Packbuch zu Wort kommt. Geboren 1911, gehörte er zwar nicht zu den Gründern des SYL, kam aber schon sehr bald in Kontakt mit den Schachfreunden. Er war der „klassische Typ“ des Intellektuellen, liebte die Literatur der 1920er-Jahre, besonders Erich Kästner hatte es ihm angetan, und war selbst ein begabter Dichter. In der Kadimah44 war er eine der Stützen, gründete auch das Vereinsblättchen „Der Kadimahner“. Beruflich war er in der Textilbranche tätig, die ihm, nach übereinstimmenden Aussagen im Packbuch, nicht lag. Vielleicht waren es diese beruflichen Sorgen, die zu seinem frühen Tod an Herzversagen 1954 führten. Walter S. wird im Packbuch von vielen erwähnt, seine Bedeutung und sein integrierendes Wesen hatten einen hohen Stellenwert im Pack. Seine wichtigste Rolle im Pack aber spielte er in der Kriegszeit. S., selbst nicht im Militär, war an jedem Stammabend im damaligen Vereinslokal, ermunterte die Aktivdienstler zu kommen und rief auch die „Drückeberger“ zum Stamm zusammen. Es ist für die Biografen keine Frage: Ohne Walter S.’ unermüdlichen Einsatz hätte das Pack möglicherweise den Krieg nicht unbeschadet überstanden. Walter S. wird vor allem darin dargestellt, wie er auf die anderen wirkte, welche Rolle er in ihrem Leben spielte, wie sie ihn wahrnahmen. Die zweite kurze Biografie handelt von Sigi R., der sein Leben selbst im Packbuch beschreibt.45 1913 in Zürich geboren, Mitglied der IRG, trat er schon früh dem SYL bei,46 dann der Kadimah, und schließlich wurde er auch im Pack aufgenommen. Nach der Schulzeit, die ihn durch verschiedene Bildungseinrichtungen geführt hatte, begann er 1929 eine Lehre in einer Herrenkonfektionsfirma, die einem Mitglied der IRG gehörte. R. war nicht sehr glücklich mit dieser Berufswahl, suchte Ablenkung bei sonntäglichen Bergtouren, für die er aber seinen Chef um freie Zeit bitten musste, denn im Sommer wurde am Sonntagmorgen in der Firma gearbeitet. Die Sorge, dass diese 43 Vgl. Packbuch, S. 43–45. „Keenig“ (König) war kein offizieller Titel im Pack, aber Walter S. war so etwas wie ein Leiter und bekam diesen Titel mehr als Auszeichnung denn als Funktionsbezeichnung. 44 Der Verein Kadimah wurde 1904 in Zürich gegründet. Er richtete sich an junge jüdische Männer, die sich stärker dem Judentum widmen wollten. Zur Kadimah vgl. Kapitel 4. 45 Vgl. Packbuch, S. 64–69. 46 Vgl. Mitgliederliste SYL, 4.3.1925.

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freie Zeit einmal zum Kündigungsgrund werden könnte, ließ ihn während der ganzen Zeit nicht los. 1935 wechselte er schließlich die Firma, blieb aber in der Textilbranche. Bereits 1933 hatte Sigi R. die Rekrutenschule absolviert und dabei ersten Kontakt mit den „Fröntlern“ gehabt. Mit der Mobilmachung 1939 rückte R. ein und war bis Ende des Krieges im Dienst. Die Nachkriegszeit erwies sich für ihn als schwierig, die Einordnung ins zivile Leben bereitete ihm große Mühe. Und obwohl er sich in der Konfektionsbranche nicht sehr wohl fühlte, blieb er noch weitere 18 Jahre der Branche erhalten. Wie er selbst schreibt, hatte er die „neuen Möglichkeiten“ nach dem Krieg, einen individuelleren Lebensstil, ein selbstbestimmteres Leben nicht „begriffen“.47 Erst spät wechselte er in die Bankenbranche und fand dort seine berufliche Erfüllung, auch wenn er als junger Mann lieber „Psychologie“ studiert hätte. Dies war zu jener Zeit aber ein brotloser Beruf, da es als Schande galt, sich „psychiatrisch“48 behandeln zu lassen. Im Alter belegte R. dann Vorlesungen über Psychologie an der Universität Zürich. Neben seiner Liebe zu den Bergen galt sein Interesse der Bühne. R. gehörte zu den Gründern des „Cabaret Lulow“, das in den 30er- und 40er-Jahren das jüdische Leben in Zürich satirisch darstellte. Das ihm eigene Schreibtalent stellte er auch im Pack mehrfach unter Beweis. Seine Rolle im Pack sieht R. durchaus kritisch. Er fühlt sich als Außenseiter, da er einer der wenigen sei, die aus der IRG stammten, während die meisten Packmitglieder in der ICZ waren. Seine wichtigste Kontaktperson zum Pack war Marcel G. II (1913–1959),49 dessen früher Tod R. ein wenig dem Pack entfremdet hat. Die dritte vorzustellende Person ist Juliette B. (geboren 1918), mit Mädchennamen D., die im Packbuch über ihr Leben schreibt.50 Ihre Familie stammte aus Endingen. Juliette D. lernte in Zürich den Beruf der Säuglingspflegerin und verließ mit ihren Eltern 1939 die Schweiz für einen Urlaub in den USA. Aufgrund der Weltlage hatte sich die Familie entschlossen, den Urlaub nicht, wie üblich, im Engadin zu verbringen, sondern sich für den „Ernstfall umzusehen“.51 Dieser Fall trat ein, und die Familie D. blieb bis 1947 47 Packbuch, S. 68. 48 „Psychologie“ und „psychiatrisch“ wird von R. so im Packbuch gebraucht. Packbuch, S. 69. 49 R.s Freund wurde Marcel G. „II“ genannt, weil es im Pack noch einen Marcel G. gab. 50 Vgl. Packbuch, S. 36–38. 51 Packbuch, S. 36.

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in den USA. Kurz nach der Rückkehr starb Vater D., und in der darauffolgenden Schiva-Woche52 lernte Juliette D. die Familie B. und deren Sohn Silvain kennen. Silvain B. sollte eigentlich bald wieder nach England zurückkehren, um dort sein Geschäft zu betreuen, während Juliette D.s. Abreise nach New York näher rückte. Doch Silvain B. und Juliette D. kamen sich nach der SchivaWoche näher, unternahmen einiges zusammen, und so begann das, was Juliette B. als Überschrift für ihren Artikel wählte: „Ein angelsächsisches Mischgericht“. Die 1948 abgehaltene Hochzeit wird im Packbuch einhellig als die schönste Packhochzeit geschildert, weswegen ihr auch eine ganze Bilderseite gewidmet ist. Im Jahre 1950 kamen die Zwillinge Johnny und Eric zur Welt. Weil sie so lange im Ausland gelebt hatten, stießen Juliette und Silvain B. erst relativ spät zum Pack, obwohl Silvain schon zu den ersten Mitgliedern im SYL gehört hatte.53 Der besondere Beitrag von Silvain und Juliette B. im Pack war die Organisation verschiedener Autorallyes zwischen 1966 und 1972. Hierbei waren nicht Schnelligkeit gefragt, sondern das Kennenlernen schöner und bisher dem Freundeskreis unbekannter Landschaften sowie über verschiedene „Quizfragen“, die es während der Fahrt zu lösen galt, die besonderen Merkmale dieser Landschaften und Orte herauszufinden. Die vierte Person in dieser Biografiesammlung ist Vera Gr. (geboren 1923), mit Mädchennamen Bn. Auch sie schreibt selbst über ihr Leben.54 Ihre Eltern stammten aus Ungarn, waren aber bereits 1909 in die Schweiz gekommen. Zu Beginn der 20er-Jahre gründete der Vater in Zürich eine Wäschefabrik, deren Leitung die Eltern stark in Anspruch nahm. Die Erkrankung der Mutter Bn. an Morbus Basedow55 zwang die Familie zu mehrfachen Umzügen und prägte die Kindheit von Vera Bn. Die Machtübernahme der Nazis in Deutschland und der Beginn des Zweiten Weltkriegs beeinflussten den weiteren Lebensweg auch von Vera Bn. stark. Zunächst nahm die Familie 1938 ein Flüchtlingskind auf, zu Beginn des Weltkriegs meldete sich Vater Bn., er hatte inzwischen die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten, freiwillig zum bewaffneten Hilfsdienst, und für Vera Bn. sollte angesichts der schwierigen Situation und der Erfahrungen jüdischer Emigranten aus Deutschland ein handwerklicher Beruf gesucht werden. Vera Bn. wurde Zuschneiderin. 52 „Schiva“ (hebr.: sieben) meint die siebentägige Zeit, in der Verwandte und Freunde des oder der Verstorbenen die Familie im Trauerhaus besuchen. 53 Vgl. Mitgliederliste SYL, 4.3.1925. 54 Vgl. Packbuch, S. 26–28. 55 Morbus Basedow oder auch Basedow-Krankheit ist eine nach ihrem Entdecker Carl Adolph von Basedow benannte Autoimmunkrankheit, die eine Vergrößerung und Überfunktion der Schilddrüse auslöst.

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Die zweite Generalmobilmachung am 11. Mai 194056, nachdem die Wehrmacht Holland, Belgien und Luxemburg überfallen und damit der Krieg gegen Frankreich begonnen hatte, sorgte für größte Ängste nicht nur unter Schweizer Juden. Eine Fluchtbewegung von der deutschen Schweiz in die welsche Schweiz setzte ein.57 Auch Vera Bn. und ihre Mutter flohen in die Romandie, was ihr bis heute noch ein wenig „peinlich“ ist. Sie kamen zurück, als die erste Gefahr gebannt schien. Vera Bn. arbeitete zunächst in der Fabrik ihres Vaters, ging dann aber ein Jahr nach Genf, um dort Französisch zu lernen, und kehrte anschließend wieder in die Fabrik ihres Vaters zurück. Das Leben in Zürich war nun bestimmt von den Einschränkungen, die der Krieg mit sich brachte. In Vera Bn.s Gedächtnis hat sich aber vor allem das Jahr 1943 eingeprägt, denn dieses markierte den Beginn der Deportationen, wovon auch die ungarischen Juden betroffen waren. Vera Bn.s Vater versuchte zu helfen und präsidierte ein in Zürich gegründetes Hilfskomitee zur Unterstützung der ungarischen Juden. Das Schicksalsjahr 1943 brachte für Vera Bn. zwar auch den Beginn einer sehr positiven Zeit, den in diesem Jahr verlobte sie sich mit Hugo Gr., doch noch kurz vor ihrer Hochzeit im Mai 1944 musste sie erfahren, dass die noch in Ungarn lebenden Familienangehörigen ihrer Eltern deportiert worden waren. Zunächst zeigt sich in den vier Biografien der für die wissenschaftliche Analyse markante Unterschied zwischen Selbst-Verständnis und Fremdbeschreibung. Die Persönlichkeit Walter  S.’ kommt aus den Beschreibungen seiner Freunde und seiner zwei Söhne deutlich heraus: Es ist das Bild eines intellektuellen Mannes, der mit seiner Herzensgüte und Integrität den anderen Vorbild und Ansporn war. Nicht von ungefähr war er der „Keenig“ des Packs. Auch seine „große Liebe“, die der Schreib- und Dichtkunst galt, wird erwähnt. Aber von Walter S. selbst erfährt man nur etwas in einem Vers am Ende des Kapitels. Und hier beschreibt er nicht sich selbst, sondern seine Idee über das Pack aus dem Jahre 1946: „Hier fanden sich junge jüdische Menschen zu einem Kreis zusammen, der uns allen unendlich viele schöne Stunden bescherte, Freundschaften fürs Leben werden liess und uns eine Mitte gibt, von der jeder weiss: Sie ist ein geistiges und vor allem ein seelisches Zuhause, ohne dass deswegen das ‚richtige‘ Zuhause zu Schaden käme.“58 Aber was hätte Wal56 Die erste Generalmobilmachung war Anfang September nach dem Überfall Hitlers auf Polen erfolgt. 57 Vgl. hierzu auch Packbuch, S. 108f. 58 Packbuch, S. 45. Dies hatte S. im Juli 1946 im „Kadimahner“, der von ihm mitbegründeten Zeitschrift der Kadimah, geschrieben.

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ter S. über sich selbst gesagt? Was hätte er als wichtig für sich selbst benannt? Wie hätte sein Selbst-Verständnis ausgesehen? Die drei weiteren Biografien zeigen die Entwicklung der Protagonisten aus der Eigenperspektive. Hier wird deutlich, was die Personen von sich als wichtig wahrnehmen, was für das Bilden ihres Selbst-Verständnisses wichtig gewesen ist. Für Sigi R. ist ohne Zweifel die Aktivdienstzeit ein zentraler Punkt, da sie nicht nur als eine bewegende und höchst angstvolle Zeit wahrgenommen wird, sondern auch für ihn persönlich einen Umbruch darstellte. Zwar hat es lange gedauert, „bis er diese Möglichkeiten begriffen hat“ (18 Jahre, wie er selbst schreibt), aber am Schluss findet er doch einen ihn erfüllenden Beruf und kann sich daneben mit seinen Hobbys, Bergsteigen und Cabaretdichtkunst, beschäftigen. Das Pack selbst scheint er eher ein wenig skeptisch zu betrachten, fühlt sich als Außenseiter, da er IRG-Mitglied war, obwohl dies eigentlich kein Argument gewesen sein kann, waren doch neben ihm auch noch Max Bh., Leo T., Max Gt., Jack G. und Erich G. aus der IRG. Auch den frühen Tod seines engsten Freundes Marcel G. II führt R. als Grund an, aber gerade die Freundschaft im Pack hätte ihn hier doch auffangen können. Aus seiner Biografie scheint eher durch, dass er diese Rolle des Außenseiters bewusst gesucht hat, allerdings nicht im destruktiven Sinne, denn am Stamm war er anwesend, auf die Packfahrten ging er mit, auch bei vielen anderen Anlässen taucht sein Name oder sein Bild auf, und besonders sein Einsatz für das Packbuch – er war Mitglied des Reaktionsausschusses und verfasste selbst drei Artikel – lassen darauf schließen, dass er sich doch als integrales Mitglied des Packs betrachtete und umgekehrt die Gruppe ihn als wichtigen Teil ansah. Leider konnte ich mit Sigi R. nur ganz kurz an einem Stammabend59 reden – Thema dort war, bezeichnenderweise, der Aktivdienst –, da er leider kurze Zeit später überraschend verstarb. Mit Juliette B. und Vera Gr. habe ich hingegen längere Gespräche geführt. Juliette B. ist seit einigen Jahren die nunmehr treibende Kraft im Pack. Sie hat die letzten Stammtreffen organisiert, auch das am 16. Juni 2002 in Zürich stattgefundene Treffen der alten „Packianer“ mit der zweiten und dritten Generation. Ihr Artikel im Packbuch ist ganz auf ihre Packgeschichte zugeschnitten. Sie macht nur wenige biografische Angaben zu der Zeit vor der Heirat mit Silvain B., konzentriert sich dann auf ihren Beitrag zum Pack, der in der Organisation der Autorallyes bestand, die eine Zeit lang ein wichtiger Bestandteil der Packunternehmungen waren. In vielen Gesprächen mit Juliette B. hat sich der Eindruck verfestigt, dass es ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb 59 Stammabend, 10.2.2001.

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der Gruppe gegeben hat, was „Packidentität“ zu nennen man versucht ist – eine Identität, die ein Mittelpunkt im Leben sein kann, aber nicht andere Identitäten ausschließt. Noch stärker zeigte sich dies im Gespräch mit Vera Gr. Wie auch schon im Packbuch beschrieben, ist das Verschwinden eines Teils ihrer Familie in der Schoa bis heute ein prägendes Erlebnis für sie, das sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Packmitgliedern, ihre Position als Schweizerin kritisch betrachten lässt. Sie habe, sagte sie im Gespräch, so ihre Mühe mit dem Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, könne sich daher auch nicht völlig als Schweizerin bekennen. Vera Gr. zeigte sich im Gespräch als äußerst individuelle Frau, die sich nicht den sozialen Verpflichtungen und Erwartungen unterordnen will, die lieber ein gutes Buch lese, als sich auf einem Gesellschaftsanlass zu langweilen. Aber wie passt diese Individualisierung dann zu ihrer Mitgliedschaft im Pack? War es eine lästige Pflichtübung für sie, ihrem Mann geschuldet, hat sie sich nur selten dort gezeigt? Nein, antwortete sie auf diese Fragen, das Pack sei etwas anderes.60 Die Bindung der Packianerinnen und Packianer untereinander nur „Zusammengehörigkeitsgefühl“ zu nennen, erscheint als zu schwach, ist doch ein Zusammengehörigkeitsgefühl auch sehr temporär möglich, die Pack-Bindung aber zeitlich manifest, exklusiv und nicht den Wechselfällen des Lebens und Zeitläuften unterworfen. Also gibt es eine Art Packidentität? Denn was sonst könnte die vier oben genannten und in ihren Lebensläufen und individuellen Prägungen so unterschiedlichen Personen und all die anderen Packmitglieder über so viele Jahre zusammenhalten? Wenn für den weiteren Gang der Untersuchung angenommen wird, dass eine solche Packidentität existiert, stellt sich die Frage, was diese Packidentität ausmacht. Dass man jüdisch ist? Also der Versuch einer Minderheit, die sich zwar völlig assimiliert hat, völlig akkulturiert erscheint, sich in einer vielleicht doch manchmal ablehnenden Gesellschaft etwas von ihrer jüdischen Identität zu erhalten und daraus auch Stärke zu ziehen? Brauchten sie dafür das Pack? Gab es nicht auch andere Vereine, die das Gleiche hätten leisten können? Beim Lesen des Packbuchs fällt auf, dass einige Packmänner und auch einige Packfrauen Mitglied in der Kadimah waren. Explizit genannt werden zehn Personen. Was war die Kadimah?

60 Gespräch mit Vera Gr. am 9.7.2002.

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Pack und Kadimah Der Verein Kadimah61 wurde 1904 auf Initiative einiger junger Männer gegründet, die sich wünschten, auch nach der Schulzeit noch in Kontakt miteinander zu bleiben, und die einen Rahmen schaffen wollten, damit jüdische junge Menschen in Zürich „passende Gesellschaft“62 fanden. Ein tiefer liegendes Motiv war offensichtlich das als „stagnierend“ empfundene jüdische Leben in Zürich um die Jahrhundertwende, eine Phase, die Ernst B. sogar eine aus jüdischer Sicht „dekadente Zeit“ nennt.63 Der damalige Gemeinderabbiner der ICZ, Dr. Martin Littmann,64 zeigte sich begeistert von der Vereinsidee und half aktiv bei der Gründung des Vereins, der auch vom Rabbinat und der Schulpflege der ICZ unterstützt wurde. Das Ziel der Kadimah wurde klar benannt: „Der Verein hat den Zweck, unter seinen Mitgliedern das Interesse am Judentum und an allgemeinen Bildungsfragen zu fördern und die Geselligkeit zu pflegen.“65 B. betont, dass in der Kadimah nicht auf die jeweilige Gemeindezugehörigkeit geschaut wurde, sondern dass es auch und gerade darum ging, junge Leute mit verschiedensten Interessen zusammenzubringen.66 Aber es bleibt der institutionalisierte Wunsch, das Interesse am Judentum zu fördern, was, wie das Beispiel von Walter U., zeigt, erfolgreich gewesen ist. U. hatte selbst keine religiöse Erziehung erhalten, sich dann erst in der Kadimah mit seinem Judentum auseinandergesetzt und das Fehlen einer religiösen Bildung dann als Manko empfunden.67 Mit 17 bzw. 18 Jahren 61 Die Informationen hierzu sind dem Buch SSK – Erinnerungen und Gedanken einer KADIMAH-Generation, Kapitel „Geschichte der Kadimah, S. 44–51, entnommen. Dieses Buch erschien als Privatdruck 1996 in Zürich und wurde mir dankenswerterweise vom Herausgeber, Dr. Ernst  B. (Bruder des Packmitglieds Robert B.), zur Verfügung gestellt. 62 Aus einem Brief von Alfred B., einem der Mitbegründer des Vereins, an Henri G., 2.1.1904, abgedruckt in: SSK, S. 45. 63 SSK, S. 45. 64 Martin (Meir) Littmann war von 1893–1936 Rabbiner der ICZ. Neben seinen Aufgaben als Gemeinderabbiner gab er zusammen mit David Strauss ab 1901 das „Israelitische Wochenblatt“ heraus. Vgl. Heinrichs in: Brunschwig/Heinrichs/ Huser, 2005, S. 252. Ruth Heinrichs fasst die bedeutende Rolle, die Littmann für die ICZ spielte, mit den Bezeichnungen „gleichermassen energischster Modernisierer und Vaterfigur der Gemeinde“ zusammen. Heinrichs in: Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 243. 65 „Zweckparagraph“ der Kadimah, abgedruckt in: SSK, S. 46. 66 Vgl. SSK, S. 46. 67 Vgl. Walter U.: Rückblick auf 85 Jahre. Eine Autobiographie (1992) (maschinenschriftlich, unveröffentlicht, 64  Seiten), S.  16–17. Die Autobiografie wurde mir

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konnte man als Aktiver in die Kadimah eintreten, mit der Heirat wurde man Passivmitglied,68 was deutlich zeigt, dass nur an eine temporäre Mitgliedschaft gedacht war, die, neben der Beschäftigung mit dem Judentum, vor allem den jungen unverheirateten Männern eine Möglichkeit geben sollte, sich kulturell zu engagieren. Folgt man den weiteren Ausführungen Ernst B.s. im SSK-Buch, dann war die Kadimah mit ihren gesellschaftlichen Anlässen erfolgreicher als bei der Vermittlung des „Wesens des Judentums“69, denn es gab immer wieder Appelle, genau diesen Zweck des Vereins stärker zu betonen. Trotz dieser Schwierigkeiten hat der Verein 60 Jahre bestanden. Ernst B. nennt in seiner Geschichte der Kadimah auch das Pack als einen wichtigen Teil der Kadimah, nicht nur wegen Walter S.’ Engagement für die Vereinszeitung „Der Kadimahner“, sondern auch, weil die späteren „Packianer“ in den 1940er-Jahren tragende Säulen des Vereins waren. Ganz Ähnliches findet sich in den Erinnerungen einiger Packmitglieder. So schreibt Sigi R., dass er schon vor seiner Mitgliedschaft im Pack Mitglied in der Kadimah gewesen sei. Die Kadimah habe sich um jüdische Kultur und „social life“ gekümmert. Und dort habe sich eine Gruppe dem mittäglichen Kartenspiel gewidmet, aus der dann das Pack hervorgegangen sei.70 Für Walter  U. verschmelzen in der Erinnerung Pack und Kadimah zu einem Ganzen, da er beide nach seiner Rückkehr aus den USA 1931 (er hatte dort einige Zeit zum Abschluss seiner Ausbildung verbracht) fast gleichzeitig kennengelernt hatte. Er leitete dann einige Zeit zusammen mit Max D. die Kadimah, wurde später auch Packmitglied.71 Robert  B. bemerkt, dass Zürich in den 1930er-Jahren durch die Emigration ein Zentrum deutscher Kultur geworden sei, wovon auch die jüdische Kultur beeinflusst worden sei. Dies habe die Kadimah erkannt und ihr Programm entsprechend angepasst. Den größten Erfolg konnten sie dabei im März 1937 feiern, denn es war ihnen gelungen, Thomas Mann für einen Vortrag über Antisemitismus

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von Raphael U., einem der Söhne von Walter U., zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm herzlich danke. Walter U.s Memoiren werden in den Kapiteln über die Aktive Kulturkontinuität wieder aufgegriffen und detailliert behandelt. Vgl. Walter U., Rückblick, S. 15. Aufruf aus dem Jahr 1910, abgedruckt in: SSK, S. 47. Vgl. Packbuch, S. 66. Vgl. Packbuch, S. 52–54.

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und eine Lesung aus seiner „vierbändigen Josephs-Geschichte“72 zu gewinnen.73 Erich G. schreibt: „Mit 18 [dies wäre dann etwa 1928/29 gewesen, E. P.] traten wir74 alle in die Kadimah und auch in den Vorstand ein.“75 Dort hätten sie einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens Zürichs mitbestimmt und auch als „Ehevermittlungsanstalt“ gegolten. Ersteres scheint für das jüdische Leben in Zürich zumindest teilweise zuzutreffen, folgt man der Autobiografie von Walter U.,76 das Zweite lässt sich bei den Pack-Eheleuten Fortune und Johnny K. zeigen, die sich in der Kadimah kennengelernt hatten.77 Zwar konnten Frauen nicht Mitglied in der Kadimah werden, wurden aber zu den kulturellen Veranstaltungen, vor allem zu den Bällen, eingeladen. Walter U. nennt das Schließen von neuen Freundschaften, „in manchen Fällen für’s Leben“78, explizit als Grund für diese Bälle. Die Idee, in der Kadimah auch eine Frauenabteilung, genannt „Aktiva B“, einzurichten, konnte sich nicht durchsetzen,79 schien auch bei den Männern nicht auf große Zustimmung gestoßen zu sein. U. nannte es „feministisches Gehabe“, und S. dichtete, dass den Vorschlag „der Geier holen sollte“.80 Beim Vergleich der Gründungsgeschichten sowie vor allem der Gründungsmitglieder der Kadimah und des Packs kam bei mir zunächst der Eindruck auf, das Pack sei aus der Kadimah hervorgegangen, hätte möglicherweise hier seine Anregungen erhalten und dann die Traditionen der Jugendorgani72 Vgl. Packbuch, S. 99. Eine kleine Korrektur: Der vierte Teil der Joseph-Geschichte („Joseph der Ernährer“) ist erst 1943 erschienen. 73 Der Vortrag findet sich auch in den Tagebüchern von Thomas Mann. Er berichtet an mehreren Stellen über das Schreiben des Vortrags, nennt aber weder die Organisatoren noch das genaue Thema; am 12.  März 1937 trägt er ein, er habe den Vortrag mit „3 Seiten über die Josephsgestalt“ abgeschlossen, am 13. März 1937 schließlich hält Thomas Mann diesen Vortrag in Zürich im Conservatorium „vor der Judenheit“, wie er schreibt. Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939, hrsg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt/Main 1980, S. 37–39, die Zitate S. 39. 74 Mit „wir“ meint Erich  G. den auf den vorherigen Seiten beschriebenen Freundeskreis, der weitgehend identisch ist mit dem SYL und einem Teil des späteren Packs. 75 Packbuch, S. 10. 76 Vgl. Walter U., Rückblick, S. 15–16. 77 Vgl. Packbuch, S. 39. 78 Walter U., Rückblick, S. 16. 79 Vgl. Packbuch, S. 53. 80 Beide Zitate Packbuch, S.  53. Es wird allerdings nicht ausgeführt, ob es noch andere Argumente gegen eine Frauenabteilung als die hier genannten, die doch sehr polemisch klingen, gegeben hat.

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sation Kadimah als Gruppe verheirateter Erwachsener im Pack weitergeführt. Die Kadimah hatte einen deutlich religiösen Anspruch, sie definierte jüdische Identität über jüdische Religion. Das Pack selbst wäre dann als eine Institution zu betrachten, die das Interesse am Judentum wachhalten und es mit verschiedensten Aktivitäten fördern sollte. Träfe dies zu, könnte das Pack auch als eine Gründung aus Enttäuschung über das stagnierende jüdische Leben in Zürich verstanden werden, wie es bei der Kadimah Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Das Packbuch unterstützt an gewissen Stellen die Deutung des Packs als Folgeorganisation aus der Kadimah – die Gespräche mit den Packmitgliedern über die Kadimah ergaben allerdings ein differierendes Bild. Sowohl Walter U. als auch Suzanne D. und Juliette B., alle drei auf die konkrete Nachfrage, bezeichneten die Kadimah als etwas „völlig anderes“ (U.)81 als das Pack, als eine Organisation, die eher neben der Entwicklung des Packs herlief, eine Art Parallelität bildete, weniger als ihr Vorgänger fungierte (D. und B.),82 wobei auch ehemalige Kadimah-Mitglieder nicht automatisch in das Pack aufgenommen wurden oder einen Anspruch auf Mitgliedschaft im Pack ableiteten, und nur eine solche Kontinuität, ein solcher Anspruch würde die These einer expliziten Vorläuferorganisation rechtfertigen.

81 Gespräch mit Walter U. am 3.8.2000. Auch in seinen Memoiren „Rückblick“ stellt U. diese Verbindung nicht her. 82 Gespräch mit Suzanne D. und Juliette B. am 25.7.2002.

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4. Antisemitismus als Gründungsmotiv des Packs? Bevor der Frage nach Antisemitismus als Gründungsmotiv für das Pack nachgegangen werden kann, soll am Anfang dieses Teils darüber nachgedacht werden, wie Antisemitismus zu definieren ist. Sehr lange hat in der Wissenschaft die Trennung von Antijudaismus und Antisemitismus die Definitionen präjudiziert. Antisemitismus ist, ganz allgemein gesagt, die Fortsetzung antiker und mittelalterlicher Judenfeindschaft, allerdings mit wichtigen Unterschieden in der Ideengeschichte. Seit das Christentum Staatsreligion im Römischen Reich geworden war (4.  Jahrhundert n. d. Z.), griffen Kirchenvertreter das Judentum immer wieder heftig an. Die Juden wurden als „verstockt“ bezeichnet, da sie Jesus nicht als den Messias anerkennen wollten, was für das Christentum immer ein „Stachel im Fleisch“ blieb, und des „Gottesmordes“ beschuldigt. Dazu kamen ab dem 6. Jahrhundert Konzilsbeschlüsse, die das Leben der Juden unter christlicher Herrschaft regelten mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung von der christlichen abzugrenzen; so z. B. durch das Verbot, gemeinsam zu essen, das Heiratsverbot, die Bestimmung, dass Juden über Christen keine zivile oder militärische Gewalt ausüben durften, eine Kennzeichnungspflicht („Judenhut“ oder „Judenfleck“) sowie das Ausschließen von allen handwerklichen Berufen und dem Landbesitzrecht, wodurch man die Juden in den Klein- und Geldhandel zwang.1 Allerdings wurde nicht die Vernichtung der Juden gefordert, denn sie waren in christlicher Vorstellung Teil des Heilsplans. So hatte Papst Gregor der Große (geb. um 540, geweiht 590, gest. 604) den Kurs der Kirche gegenüber den Juden klar festgelegt: Man solle sie dulden, erklärte er, dabei aber nicht das Missionsziel aus den Augen verlieren.2 Daher gab es bis zur Jahrtausendwende keine pogromartigen Übergriffe im ostfränkisch-deutschen Reich. Ein Resultat der schon im Frühmittelalter begonnenen Ausschließungspolitik, die von päpstlicher Seite nicht verboten wurde, waren Formen des Sozialneides ( Juden als unwillkommene Konkurrenten, aber willkommene Sündenböcke) und weitere haltlose Beschuldigungen, z. B. die des Ritualmords: Juden würden zu Pessach christliche Kinder schlachten, um mit dem Blut Mazzot zu backen. 1 Vgl. hierzu die sehr gute Quellensammlung von Julius H. Schoeps und Hiltrud Wallenborn: Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen. Band  1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, Darmstadt 2001, zu dem genannten Komplex vor allem S. 113–120. 2 Vgl. dazu Ernst Bammel: Gregor der Große und die Juden, in: ders., Judaica und Paulina, Tübingen 1997, S. 87–95.

Antisemitismus als Gründungsmotiv des Packs?  |

Und es kam auch zu direkten Angriffen auf die jüdische Bevölkerung, z. B. in der Zeit der Kreuzzüge ab 1096 oder der Pestwellen 1348/50. Nicht selten endeten derartige Angriffe mit Vertreibung oder Ermordung ganzer Gemeinden. Diese Phase der Judenfeindschaft wird in der Wissenschaft Antijudaismus genannt, da die Religion als exkludierendes Merkmal diente. In christlichen Augen war deshalb die Taufe eine Lösungsmöglichkeit der „Judenfrage“, wobei die Betonung auf „Möglichkeit“ liegt, denn sehr häufig schützte auch die Taufe nicht vor weiteren Verfolgungen, wie zum Beispiel ein Blick in die Geschichte der „Reconquista“ zeigt. Schon Mitte des 15. Jahrhunderts wurde in Spanien die Frage gestellt, ob denn getaufte Juden („Conversos“) auch wirklich als Christen gelten könnten oder ob nicht mehr als nur der Glaube die beiden Gruppen trennen würde. So wurde 1449 in Toledo ein Gesetz erlassen, das „SentenciaEstatuto“, das bei der Klärung der Frage, wer Jude und wer Christ sei, auf eine rassistische Komponente zugriff, indem es sich auf „das Blut“ als Bestimmungsfaktor berief,3 auch wenn im Text der Begriff Blut nicht verwendet wird, sondern „conversos of Jewish lineage“ oder „conversos descending from the Jewish line“, denen man aufgrund ihrer heimlichen Weiterführung der jüdischen Rituale keine öffentlichen Ämter geben dürfe und schon gar keine Position innerhalb der Kirche.4 Man kann hier also eine erste Form rassistischer Judenfeindschaft erkennen, die allerdings erst im 19. Jahrhundert ihre endgültige Form fand und in Gesellschaften außerhalb Spaniens mehrheitsfähig wurde. Motiviert auch durch den Nationalismus dieses 19. Jahrhunderts, der mit ethnischen und religiösen Elementen gespickt war, wurden, ausgehend von den Arbeiten über Artenvielfalt und Genetik, Forschungen vorangetrieben, die belegen sollten, dass die Aufteilung der Menschheit in „Rassen“ auch qualitativ zu verstehen war.5 Der hierfür benutzte Terminus „Semiten“ (im Vergleich zu den angeblich ungleich höher stehenden „Ariern“) bezeichnete eigentlich die 3 Vgl. hierzu die herausragende Untersuchung von Max Sebastián und Hering Torres: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 2006. 4 Zitiert aus der englischen Übersetzung von Kenneth Baxter Wolf, http://sites. google.com/site/canilup/toledo1449 (Zugriff: 26.7.2011). 5 Die Aufteilung der Menschheit in verschiedene Gruppen war auch schon in der griechisch-römischen Antike üblich, doch wurden z. B. aus Haut- und Haarfarbe keine qualitativen Unterschiede abgeleitet. Wie schon erwähnt, begann sich dies möglicherweise während der Reconquista zu ändern. Ab dem Ende des 18. und vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann die Theorien, die mit verschiedenen Rassen auch eine qualitative Unterscheidung vornahmen, wirkmächtig. Vgl. hierzu u. a. den Artikel „Race“ in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/race/ (Zugriff: 3.3.2009).

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Völker des nahöstlich-arabischen Raumes, wurde aber nur für Juden verwendet, und bereits in den 1880er-Jahren hatte sich der Ausdruck „Antisemitismus“ als Kampfbegriff durchgesetzt. Aus dem religiös begründeten Antijudaismus, der nicht mehr wirkmächtig schien, wurde der pseudowissenschaftliche Antisemitismus entwickelt, der Klischees sowie religiöse Diffamierungen in die Moderne transformierte und sie mit Parametern mischte (vor allem mit den angeblich „typisch jüdischen“ körperlichen Merkmalen sowie der Wahnvorstellung einer jüdischen Weltverschwörung), die zwar schon bekannt waren, nun aber noch einmal zugespitzt formuliert wurden. Den Vertretern des Antisemitismus „gelang“ es damit z. B., Juden in gleicher Weise den Kommunismus wie den Kapitalismus als „jüdisches Werk“ anzulasten. Juden wurden durch den Antisemitismus zu den Fremden gestempelt, egal, wie lange sie schon in den christlichen Gesellschaften gelebt hatten und wie eingegliedert sie waren. In den Vorstellungen der Antisemiten ist daher auch die Taufe keine Option mehr, da Juden einer „minderwertigen Rasse“ angehörten, aus der und deren charakteristischem Verhalten sie sich nicht lösen könnten. Diese „Weiterentwicklung“ der jahrhundertealten Judenfeindschaft machte es den Nationalsozialisten überhaupt erst möglich, Vernichtungsfantasien nicht nur auszusprechen – das taten bereits Autoren Ende des 19. Jahrhunderts wie der Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891) –, sondern mit einer zu einem großen Teil willfährigen nicht jüdischen Bevölkerung umzusetzen. Was wird in der vorliegenden Arbeit unter Antisemitismus verstanden? Antisemitismus ist die pauschale Übernahme von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber jüdischen Menschen und der jüdischen Religion aus der Vergangenheit als Fakt in die Gegenwart. Dies kann auf die Gesamtheit („Die Juden sind eben so“) oder als Charakterisierung Einzelner verwendet werden („Er/sie tut dies, weil er/sie jüdisch ist“). Antisemitismus kann sich in Wort, Bild und Gesten äußern. Sehr häufig muss ein antisemitischer Zusammenhang nicht explizit ausgesprochen werden, weil auch die versteckten Codes vom Adressaten sofort verstanden werden. So wird der Name „Rothschild“ synonym zu Geldbesitz und Geldgier gesehen. Die Kennzeichnung einer Person oder einer Handlung als jüdisch ist dabei grundsätzlich mit einer herabwürdigenden Absicht verbunden. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden immer noch vor allem die Stereotypen der Geldgierigkeit, Blutrünstigkeit und Weltverschwörungsabsicht mit jüdischen Menschen und mit der jüdischen Religion in Verbindung gebracht.6 6 Zu dem sogenannten „neuen Antisemitismus“ vgl. Erik Petry: Antisemitismus als das Perpetuum mobile der Gesellschaften am Anfang des 21.  Jahrhunderts?

Das Pack und der Antisemitismus  |

Das Pack und der Antisemitismus Mehr aber noch als das Motiv eines möglichen stagnierenden jüdischen Lebens könnte also in den 1930er-Jahren der erstarkende Antisemitismus Existenzgrund für eine Gruppe wie das Pack gewesen sein. Die Bedrohung aus Deutschland wurde schon ab 1933 als sehr real wahrgenommen, viele Beträge im Packbuch erwähnen dies. Ein Zusammenschluss, um sich gegen den Antisemitismus zu wehren, wäre also durchaus vorstellbar gewesen, vor allem wenn dies aus dem Bewusstsein einer Minderheit heraus geschieht, die sich selbst durch verstärktes Auf-sich-selbst-Beziehen, durch stärkeres „Zusammenrücken“ schützen muss. Kein Zweifel, der Antisemitismus wurde als existenzielle Anfeindung wahrgenommen. Die Diskussion im Zürcher Stadtrat zu Beginn der 1920erJahre über die Erteilung des Bürgerrechts an jüdische Einwanderer aus Osteuropa musste auch bei den Schweizer Juden Irritationen verursacht haben.7 Die 1930er-Jahre zeigten dann eine die jüdische Bevölkerung verunsichernde Ambivalenz: auf der einen Seite Unterstützung, auf der anderen Seite der „Frontenfrühling“ und ein immer stärkerer, auch öffentlich zur Schau gestellter Antisemitismus.8 In diesem seit den 1920er-Jahren bestehenden Spannungsverhältnis wuchsen die meisten Mitglieder des Packs in Zürich auf, wobei die Wahrnehmung des Antisemitismus höchst unterschiedlich war. Für die religiöseren Jungen z. B. war das Schreibverbot am Schabbat und dessen Ignorierung durch einige Lehrer ein wichtiger Punkt.9 Weiter wird über einige Begebenheiten berichtet, die man zwar als antisemitisch einstufte, aber auch nicht als zu bedrohlich wahrnahm, so z. B. Walter U.s fast schon skurriles Erlebnis mit einem Primarschullehrer, der alle Kinder, die keine Probleme mit den Zähnen hätten, bat, aufzustehen. Als sich U. erhob, bemerkte der Lehrer, es wäre nun klar, dass U. kein Schweizer sei, denn Schweizer hätten immer schlechte ZähGedanken über Traditionen, „Innovationen“ und Nivellierungen, in: Gabriella Gelardini (Hrsg.), Kontexte der Schrift. Band I: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft. Ekkehard W. Stegemann zum 60.  Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 196–209. 7 Vgl. Kapitel 1 „Jüdisches Leben in Zürich“. 8 So war zu Beginn der 1930er-Jahre vor allem die „Nationale Front“ aktiv und ging u. a. mit Flugblättern und Handzettelverteilungen gegen „jüdische Grosswarenhäuser“ vor. Vgl. dazu Artikel „Antisemitische Ausschreitungen“ in Neue Zürcher Zeitung, 21.12.1936 und „Silberner Sonntag“ in: Neue Zürcher Nachrichten, 17.12.1943. 9 Vgl. Packbuch, S. 7, 9.

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ne.10 Ähnliche Begebenheiten werden auch aus dem späteren Leben erzählt, so von der Zahnärztin Irma Dm., die ihr Firmenschild nach der Heirat mit dem Packmitglied Lony L. zu Dr. Irma L. änderte, worauf eine Patientin fragte, warum sie denn einen Juden geheiratet habe. Die Antwort, sie, Irma, sei selbst Jüdin, führte dazu, dass die Patientin die Praxis nicht mehr betrat.11 Es gibt aber auch Packmitglieder, die explizit erzählen, sie hätten in keiner Form Antisemitismus erlebt12, oder es hätte in einer Stadt (Bern) kaum Antisemitismus gegeben, in einer anderen dagegen schon13. Dabei sind es die aus anderen Städten nach Zürich Hinzugezogenen, die für Zürich Antisemitismus konstatieren. Dies ist aber wohl mehr der Selbstwahrnehmung in bekannter und in unbekannter Umgebung geschuldet, denn die unbekannte Umgebung wird eher als ablehnend empfunden, kleinere Zwischenfälle in der Fremde schneller als feindlich interpretiert als in der eigenen Umgebung. Bei allen Geschichten wird aber deutlich, dass die Packmitglieder den Antisemitismus in der Schweiz an der Bedrohung aus Deutschland in den 1930er-und 40er-Jahren messen und daher als weniger gefährlich, eher als eine Randerscheinung deuten. Die im Packbuch und bei den Gesprächen geschilderten Vorfälle sind nach der oben genannten Definition zweifelsohne als antisemitisch einzustufen, wurden aber von den Packmitgliedern damals nicht so empfunden. Warum war das so? Wollte man das nicht sehen? Nahm man es nicht ernst? Oder sind unsere heutigen Kriterien, unsere heutigen wissenschaftlichen Sensorien schon fast zu fein eingestellt, um solche Geschehnisse aus den 1920er-Jahren beurteilen und in einen Zeitkontext stellen zu können? In einem längeren Gespräch mit Suzanne D. fragte ich sie, wie sie diese Vorfälle heute beurteile, auch fast zehn Jahre nach dem Verfassen des Packbuchs. Als Antwort berichtete sie von einem Treffen mit ihren Schulkameradinnen, die ihr erzählt hätten, welche Lehrer ihr gegenüber ein antisemitisches Verhalten an den Tag gelegt hätten. Dies habe ihr sehr zu denken gegeben, denn ihr sei das damals einfach nicht aufgefallen.14 Offensichtlich wollte Suzanne D. diese Geschehnisse nicht als antisemitisch wahrnehmen, viel zu wohl fühlte sie sich in der Schule und in Basel, um eine solche Eintrübung überhaupt zuzulassen. Daniel G., einer der Gründer des SYL, sagte zum gleichen Komplex, dass er erst im Alter realisiert 10 11 12 13 14

Gespräch mit Walter U., 3.8.2000. Vgl. Packbuch, S. 92. Vgl. Packbuch, S. 61. Gespräch am Pack-Stamm, 10.2.2000 u. Packbuch, S. 19. Gespräch mit Suzanne D., 25.7.2002.

Der Fremde und der Andere  |

habe, wie sehr jüdisches Leben in der Schweiz immer noch als außenstehende Minderheit betrachtet würde, nicht immer und nicht absolut, aber latent und subtil. „Wir sind Schweizer, aber bleiben immer Fremde.“15 Mit dieser Aussage konfrontiert, änderte Suzanne D. sie dann für sich dahingehend, dass sie sagte, sie hätte sich bis heute nie als fremd gefühlt, aber als anders als die anderen nicht jüdischen Schweizer.

Der Fremde und der Andere Die hier von Daniel G. und Suzanne D. eingeführten Begriffe des „Fremden“ und des „Anderen“ bedürfen einer ausführlicheren Erläuterung, da die hinter diesen Begriffen stehenden Konzepte für das Verständnis der Identitätsbildung wichtig sind. Daniel G. bringt das Konzept des Nationalstaates mit dem Gefühl des Fremdseins zusammen. Zwar sieht er sich nicht außerhalb der nationalen Gemeinschaft, er lässt keinen Zweifel an seinem SchweizerSein, aber doch scheint ihm die Gemeinschaft der Schweizer das Gefühl zu geben, nicht dazuzugehören. Dieses Gefühl ist so dominant, dass er sich als fremd empfindet und dies auch auf die ganze Gemeinschaft der schweizerischen Juden ausdehnt. Den Begriff des „Fremden“ kulturwissenschaftlich zu fassen, ist ein schwieriges Unterfangen, da verschiedene konkurrierende Konzepte existieren. Fremd erscheint zunächst alles, was von außen kommt; der Fremde ist gleichgesetzt mit „Ausländer“, wobei dies auch in kleineren Definitionseinheiten funktioniert, d. h., der Fremde kann der Einwohner eines anderen Kantons, einer anderen Stadt, eines anderen Dorfes, sogar der Bewohner eines anderen Stadtviertels sein. „Ausländer“ ist also hier nicht im staatsbürgerschaftlichen Sinne zu verstehen. Georg Simmel hat in seiner 1908 veröffentlichten Untersuchung zur Soziologie16 in einem kurzen „Exkurs über den Fremden“ eine Definition geschaffen, die bis heute wirkmächtig rezipiert wird. Simmel bezeichnet darin den Fremden als einen Wandernden, aber nicht als nur temporär Bleibenden, sondern als denjenigen, „der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“17 Diese Gelöstheit beinhalte auch eine Form der Objektivität, mit 15 Gespräch mit Daniel und Züsy G., am 12.3.2001. 16 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908. 17 Simmel, 1908, S. 509.

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der der Fremde die neue Gruppe anschaue, sei er doch durch seine Fremdheit nicht an traditionelle Perspektiven gebunden. Diese Objektivität könne auch als „Freiheit“ bezeichnet werden, schreibt Simmel.18 Es ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bemerkenswert, dass Simmel einen Vorgang aus der „Geschichte der Wirtschaft“19 wählt, um seine Definition zu erläutern. Für ihn erscheint „der Fremde allenthalben als Händler bzw. der Händler als Fremder“.20 Konkret ist es die Geschichte der europäischen Juden, die Simmel als klassisches Beispiel hierfür ansieht.21 Simmel erweitert seine Definition noch um die Konzepte der Nähe und der Ferne: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden.“22 Damit wird für Simmel der Fremde ein „organisches Glied der Gruppe“23, wie er schreibt, aber es stellt sich die Frage, ob der Fremde immer ein Fremder bleiben muss oder ob aus einem Fremden auch ein Eigener, ein Dazugehörender werden kann. Simmel sieht zwar den Fremden, wie gezeigt, auch als Teil der Gruppe, aber „fremde Dazugehörigkeit“, um es einmal so zu nennen, muss nicht automatisch Akzeptanz durch die Gruppe, d. h. Zugehörigkeitssicherheit, heißen, wie Simmels Beispiel der europäischen Juden deutlich vor Augen führt. 18 Vgl. Simmel, 1908, S. 510. 19 Simmel, 1908, S. 509. Es könnte auch darüber nachgedacht werden, wieso Simmel jüdische Geschichte unter dem Begriff der Wirtschaftsgeschichte subsumiert. 20 Simmel, 1908, S. 510. 21 Vgl. Simmel, 1908, S. 510. 22 Simmel, 1908, S. 511. 23 Simmel, 1908, S. 512. Simmels Konzept des Fremden, der durch seine Anwesenheit schon ein organischer Teil einer Gruppe ist, erscheint allerdings diskussionswürdig, da es einen gewissen Fatalismus in sich trägt und eher wie eine Selbstverständlichkeit, fast wie eine Tautologie klingt. Auch wer von einer Gruppe als nicht dazugehörend betrachtet wird, ist durch seine physische Präsenz Teil der Gruppe, aber dies löst nicht die ursprünglich gestellte Frage nach dem Fremden, denn dahinter verbirgt sich die Suche nach der Wirkmächtigkeit dieses Konzepts und wann ein solches Konzept handlungsleitend wird. Simmels These erinnert ein wenig an eine der Antworten, die Dan Diner in einem 2002 in der „Zeit“ erschienenen Artikel auf die Frage gegeben hat, ob es ein Existenzrecht des Staates Israel gebe: „Sie ist ebenso einfach wie komplex: Israel habe ein unumstößliches Anrecht auf Existenz allein schon deshalb, weil es existiert.“ Dan Diner: Sprachlos am Zaun, in: Die Zeit, 25.7.2002.

Der Fremde und der Andere  |

Wann also wird aus einem fremd Dazugehörenden ein Eigener? Oder andersherum gefragt, warum wird aus einem fremd Dazugehörenden kein Eigener? Und könnte aus einem Eigenen auch ein fremd Dazugehörender werden? Um sich einer Antwort zu nähern, erscheint es daher sinnvoll, eine weitere Kategorie einzuführen, die nicht nur den Gegensatz zwischen „fremd“ und „eigen“ deutlich macht, sondern auch Entwicklungsmöglichkeiten oder unmöglichkeiten zeigt. Wolfgang Müller-Funk fasst fremd als eine Kategorie auf, deren Elemente nicht in den „eigenen symbolischen Haushalt“24 eingegliedert werden können. Die Vorstellung eines symbolischen Haushalts fügt sich ideengeschichtlich in das schon in Kapitel 3 erläuterte Konzept der „Hausgemeinschaft“ (Beit Israel) als Definition für das jüdische Volk ein. Simmels Definition des Fremden, der sich frei von der Traditionen der Gruppe, in die er kommt, zeigt, dem als Wandernder die Komponente der Unstetigkeit inhärent ist, und Müller-Funks Bild des symbolischen Haushalts muss noch eine weitere Komponente der Fremdendefinition an die Seite gestellt werden. Die Rede ist von der „Phantasmagorie der Reinheit“25 des Eigenen gegenüber dem Nicht-Reinen des Fremden. Diese vor allem in der Psychoanalyse verwendete Vorstellung führt die oberflächliche Definition des Fremden als „Ausländer“, „kulturell Fremden“ oder Wanderndem in tiefere Schichten. Die in den eigenen symbolischen Haushalt nicht einzugliedernden Elemente sind nicht das von außen Kommende, sondern es sind eigene Anteile, die einem selbst fremd sind. Die Psychoanalyse fasst also den Begriff des Fremden viel weiter, viel tiefer und führt als Schlussfolgerung aus der Reinheitsvorstellung des Eigenen die Funktion der präventiven Psychohygiene ein, worunter verstanden wird, dass Individuen gesund, man kann aber auch sagen: rein bleiben sollen. Hierbei wird das Eigene als grundsätzlich gut = rein, das Fremde als grundsätzlich böse = unrein betrachtet. Eigen und fremd sind dabei nicht ebenbürtige Konzepte. Dies kann als Widerspruch gegen Simmels Konzept der Nähe und Ferne verstanden werden. Das Fremde wäre demzufolge vielleicht Teil der Gruppe, aber nicht ebenbürtig. Die Konzepte der Reinheit und der präventiven Psychohygiene treffen aber nicht nur auf Individuen zu, sondern sind auch und gerade auf Grup-

24 Wolfgang Müller-Funk: Das Eigene und das Andere / der die das Fremde, in: kakanienrevisited, 15.9.2002, www.kakanien.ac.at, S. 3. 25 Robert Heim: Fremdenhaß und Reinheit – die Aktualität einer Illusion. Sozialpsychologische und psychoanalytische Überlegungen, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung, XLVI (8), 1992, S. 711.

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pen anwendbar, wie schon in den Arbeiten Sigmund Freuds deutlich wurde.26 Jede Gruppe definiert sich mit bestimmten Parametern, sie definiert aber auch entschieden, was fremd, d. h. unrein ist und wie darauf reagiert werden soll. Um bei dem Beispiel des Packs und Daniel G.s Selbstsicht zu bleiben, muss auf die größtmögliche Gruppe geschaut werden: die Schweizer und Schweizerinnen als nationale Gruppe. Obwohl die Schweiz nach ihrer föderativen Struktur und der Aufteilung in vier Sprachregionen prädestiniert wäre, übersteigerten Einheitsvorstellungen entgegenzutreten, scheint die vermeintliche fehlende Einheit sich nicht in Inklusionshandlungen gegenüber dem Fremden, sondern in einer deutlichen Exklusionsdebatte vor dem Hintergrund mannigfaltiger Selbstbestimmungsversuche widerzuspiegeln. So unterscheidet sich die Variante des schweizerischen Nationalismus in nuce nicht von den Nationalismusspielarten anderer europäischer Länder; im Ausschließen des Fremden wird das Eigene konsolidiert, wobei das hierfür generierte stark verzerrte Bild des Fremden letztendlich eine Projektion ist, die die bedrohlichen Anteile im Eigenen zurückhält. Die Repräsentation des Reinen, der Reinheit der eigene Gruppe wird dabei gerade in der Schweiz durch die vier Sprachregionen besonders erschwert, ist doch Sprache und die damit verbundene Vorstellung einer einheitlichen Kulturregion auf die Schweiz so nicht anwendbar. Dies führt die Gesellschaft in zum Teil sehr quälende Diskurse über Selbstfindung, die sich psychoanalytisch betrachtet als Diskurs über das Erreichen einer Reinheit darstellt.27 In diesen Diskurs sind immer wieder „fremde Gruppen“ eingebrochen, am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem Italiener und Deutsche, die zwar schweizerischen Sprachregionen zuteilbar waren, aber nicht weniger bedrohlich wirkten. Trotzdem wurden diese Gruppen sukzessive in einen Integrationsdiskurs eingebunden. Dass dies mit der jüdischen Bevölkerung nicht geschah, ist bereits in einigen Untersuchungen gezeigt worden.28 26 So z. B. in seinem Artikel „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ aus dem Jahre 1921. 27 Allerdings führt die Schweiz keine an die jeweiligen Sprachen geknüpften Debatten über eine Separation einzelner Kantone vom Bundesstaat; weder will sich der französischsprachige Teil Frankreich anschließen noch der italienischsprachige Teil Italien. Dies im Unterschied z. B. zu Belgien, wo es heftige Auseinandersetzungen zwischen Flamen (niederländischsprachiger Teil) und Wallonen (französischsprachiger Teil) gibt, oder auch zu den Sezessionsbestrebungen der französischsprachigen Provinz Quebec in Kanada. 28 Vgl. z. B. Urs Altermatt, Catherine Bosshart-Pfluger und Albert Tanner (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.– 20. Jahrhundert, Zürich 1998 und Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs:

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Dabei liefert Patrick Kurys „Über Fremde reden“ das pointierteste Beispiel und stützt indirekt Daniel  G.s Ansicht über das Fremdsein. Ein aktuelles Beispiel soll dies belegen. Eine junge Frau erklärt in einer Diskussion, sie sei eine Schweizerin, gehöre zur Schweizer Gesellschaft, Juden hingegen täten das nicht. Die Frau wurde in Italien geboren, die Eltern sind eingewandert, sie sieht sich heute als integralen Teil der Schweizer Gesellschaft. Juden seien das nicht, erklärt sie, diese hätten auch nach 200 Jahren in der Schweiz „das Schweizerische“ noch nicht „intus“. Auf die Frage nach dem Grund hierfür antwortet sie: „Das sind Fremde“.29 Suzanne D. hatte sich explizit gegen das Fremdsein ausgesprochen und gesagt, sie hätte sich nie fremd, aber anders als nicht jüdische Schweizer gefühlt. Was unterscheidet den Fremden vom Anderen? Diese Frage enthält gleichzeitig eine Kritik an Simmels „Exkurs über den Fremden“, arbeitet sein Konzept doch rein dichotomisch, stellt dem Fremden das Eigene gegenüber, verfehlt damit aber das „veränderte Eigene“, das aber nicht „verfremdet“ wurde. Das „Andere“ ist eine Perzeption realer Gesellschaftsverhältnisse, wie die Aussage von Suzanne D. zeigt. Wie sind „fremd“ und „anders“ zu definieren? Auf den ersten Blick erscheint die Bezeichnung „der Fremde“ sehr viel stärker, sehr viel ablehnender als die Bezeichnung „der Andere“. Allerdings haben die vorangehenden Abschnitte gezeigt, dass diese scharfe Trennung in der Wissenschaft so nicht zu halten ist beziehungsweise in vielen Ansätzen schlicht verwischt wird.30 So ist vom „kulturell Fremden“31 gegenüber dem Anderen die Rede, was aber die Frage nach dem stellt, was kulturell fremd wäre, wobei Wolfgang Müller-Funk von der „Stufenleiter des Fremden“32 spricht, der zufolge bestimmte Kulturen einer Gruppe näher, einer anderen wieder ferner sind. Anlehnend an diese Analyse scheint der Gebrauch von drei statt zwei Begriffen hilfreich zu sein: der Andere, der Fremde, der Ausländer. Aber gerade die beiden ersten Begriffe bleiben unklar, Übergänge sind möglich, auch ein Wechsel zwischen den Zuordnungen. Eine Person kann Teil der eigenen Gruppe sein, aber auch das Andere repräsentieren, ohne dadurch zum Fremden zu werden. Ein Fremder hingegen kann der Gruppe wie ein Teil des Integration und Ausschluss (Studien und Quellen  29), Berlin, Stuttgart, Wien 2003. 29 Vgl. Erik Petry: Neuer Antisemitismus? Antisemitismus in der Schweiz, in: 100  Jahre SIG, Sonderbeilage tachles – Das jüdische Wochenmagazin, Nr.  21, 19.5.2004, S. 93. 30 Vgl. z. B. Arno Grün: Der Fremde in uns, Stuttgart 2000, S. 20. 31 Vgl. Müller-Funk, 2002, S. 2. 32 Müller-Funk, 2002, S. 6.

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Eigenen vorkommen, ohne dadurch Teil der Gruppe zu werden. Um sich der hermeneutischen Differenz der Aussagen von Daniel G. und Suzanne D. zu nähern, bleibt nur der Rekurs auf das etymologische Verstehen der Ausdrücke „fremd“ und „anders“. Fremd steht hierbei für das ganz von außen Kommende, gleichzusetzen mit Ausländer. So gibt es die Wortkombination „Fremdenhass“, während es einen „Anderenhass“ als Wort und Konzept so nicht gibt; der Andere erscheint als weniger abgelehnt, er kann immer noch Teil der Gesellschaft sein, auch wenn er vielleicht am Rand oder in einer ganz eigenen Gruppe steht. Die Frage, ob Antisemitismus ein Gründungsmotiv für das Pack war, kann nach dem Dargelegten verneint werden. Das Pack war nicht eine weitere Selbsthilfeorganisation, war kein Abwehrverein. Die Gründung des Packs und das lange Existieren scheint anderen Motiven geschuldet zu sein; Packidentität scheint sich anders herzustellen, als man auf den ersten Blick vermuten könnte.

5. Packidentität In den nächsten Abschnitten wird anhand des vorhandenen Materials die Besonderheit einer Packidentität herausgearbeitet und die Gruppe in ihren lebensweltlichen Kontext in Zürich gestellt. Den Erinnerungen der Packmitglieder über ihre frühe Kindheit ist zu entnehmen, dass die meisten in Zürich aufgewachsenen Jungen nicht immer in besonders guten materiellen Verhältnissen gelebt haben, aber niemand nahm dies zum Anlass, darüber länger zu schreiben. Der Ausdruck „unbeschwerte Kindheit“ fällt einem beim Lesen der Texte ein. Aber diese Erinnerungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sind auch nicht auf die Kindheit fokussiert, sondern auf die Pack-Zeit, daher gehe ich diesem Punkt nicht weiter nach. Durch den Besuch der gleichen Schule, die unmittelbare Nachbarschaft, die gleiche Gemeindezugehörigkeit und gleiche Interessen – diese Bedingungen müssen nicht alle erfüllt sein, aber eine teilte immer jemand mit einem anderen aus der Gruppe – angeregt, fand sich eine Gruppe von Jungen, die einen Teil ihrer Freizeit zusammen verbrachten. Aus den Schilderungen von Erich G. geht hervor, dass diese Zeit zwar angefüllt war mit vielen Streichen und „Dummheiten“,1 aber dass alle auch eine traditionelle jüdische Bildung erhielten, d. h., sie besuchten Schiurim und Ivritkurse.2 Aus den – zugegeben sehr kurzen – Schilderungen könnte man schließen, dass diese Jungen eine Kindheit in einem Umfeld erlebten, das eine starke jüdische Komponente hatte.

Schachclub Young Lasker Am 3. September 1924 riefen Erich G., Max D. und Max Gt. den „Schachklub Young Lasker“ ins Leben. Das Gründen eines solchen „Jugendklubs“ oder auch von „Jugendbanden“, womit keineswegs gewalttätige Jugendgangs gemeint sind, ist an sich nichts besonders, sondern gehört zu den gängigen Versuchen Heranwachsender, sich Verlässlichkeit und Sicherheit in ihrer höchst eigenen Welt zu schaffen und auch ein wenig die Welt der Erwachsenen zu imitieren. So gründeten die späteren Packmitglieder auch noch andere Jugendklubs, Sil1 Packbuch, S. 10. 2 Vgl. Packbuch, S. 10. Ein Schiur meint ein Lehrgespräch, in dem ein bestimmtes Thema behandelt wird, meist verbunden mit dem Wochenabschnitt der Thora.

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vain B. z. B. einen Briefmarkenverein und Erich G. einen „Trottinettverein“3, der sogar Rennen veranstaltete.4 Jugendklubs dieser Art waren und sind auch noch heute meistens kurzlebig und reichen nur selten in die Erwachsenenwelt hinein. Im SYL stellt sich dies etwas anders dar. Um das Pack zu verstehen, muss daher der SYL näher angeschaut werden.5 Erich G.s Analyse, man hätte sich im SYL dem Schachspielen und der „Vereinsmeierei“ hingeben wollen,6 trifft zunächst völlig zu. Das Protokollbuch hält minutiös alle Zusammenkünfte, die Vorstandssitzungen und die Generalversammlungen fest. Erich G. schreibt über die Protokolle, dass sie „Gerichtsprotokollen gleichkommen“.7 Selbst die Sprache war ein Thema, denn es musste in einer Zusammenkunft festgehalten werden, dass im SYL schweizerdeutsch geredet werden dürfe.8 Dieser Punkt muss herausgestrichen werden, wurde doch im vorigen Kapitel festgehalten, wie wichtig die Sprache für die Gruppen- und Identitätsbildung ist. Leider gibt das Protokollbuch nicht an, warum die Sprache ein Thema geworden ist, waren doch alle Mitglieder des SYL des Schweizerdeutschen mächtig. Wollte man den Klub auf eine offiziellere Ebene heben, was mit dem Verwenden z. B. der hochdeutschen Sprache geschehen wäre? Oder war die Alternative zum Schweizerdeutschen gar nicht Hochdeutsch, sondern Hebräisch oder Jiddisch? Nun ist es müßig, alle Geschehnisse aufzulisten, die in diesem Buch abgehandelt werden, obwohl die Ernsthaftigkeit, mit der auch noch das kleinste Detail besprochen und im Protokoll festgehalten wird, äußerst eindrücklich ist. Aber es sind die Strukturen und Funktionsmechanismen des SYL, die einen Blick auf das spätere Pack eröffnen. Zwar stand im SYL selbstverständlich das Schachspielen an erster Stelle (man traf sich gewöhnlich zweimal die Woche, Mittwochabend und Samstagabend nach Schabbatausgang), 3 Als Trottinett werden in der Schweiz Tretroller bezeichnet. 4 Diese Informationen sind einem unveröffentlichten Teil von Erich G.s. Memoiren entnommen. Dieser vierseitige Auszug, den Erich G. an einem Packanlass als Rede gehalten hat, wurde mir von Juliette  B. zur Verfügung gestellt. Die Rede wurde Anfang bis höchstens Mitte der 1950er-Jahre verfasst, eine genauere Datierung ist nicht möglich. Im Folgenden als „Rede Erich G.“ zitiert. 5 Als Quelle liegt das zweite Protokollbuch (umfasst den Zeitraum 4.3.1925 bis 27.6.1926) vor, dem die folgenden Informationen entnommen sind. Das Buch wurde mir von Vera Gr. zur Verfügung gestellt, wofür ich ihr herzlich danke. Weitere Protokollbücher sind leider nicht mehr vorhanden. Auch die im Protokollbuch erwähnten Statuten sind leider nicht mehr auffindbar gewesen. 6 Vgl. Packbuch, S. 8. 7 Rede Erich G. 8 Vgl. Protokollbuch, Zusammenkunft am 16.9.1925.

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doch die akribischen Protokolle zeugen davon, dass es auch darum ging, als Freunde zusammenzukommen. Dies lässt sich daraus schließen, dass nicht einfach jeder schachspielende oder an Schach interessierte Junge aufgenommen wurde, sondern nur jemand, der von einem Mitglied empfohlen und von der ganzen Gruppe akzeptiert wurde: „Wir waren mit unseren 12 Jahren sehr exklusiv, es war sehr schwierig bei uns Mitglied zu werden“,9 schrieb Erich G. dazu. So kam es zu einigen Neuaufnahmen, aber auch zu strikten Ablehnungen.10 Dass dies nicht nur in einer rigiden Weise gehandhabt wurde, verdeutlichen die Notizen über Neuaufnahmen, Ausschlüsse und Wiederaufnahmen. Diese Verfahren wurden ernsthaft betrieben und zeigen doch den Hintergrund der freundschaftlichen Verbundenheit. Diese musste stimmen, sonst stimmte der SYL nicht mehr. Doch Sport war nicht nur als Schachsport ein wichtiger Teil der Jugend der SYLer. Dies beweist eine Notiz im Protokollbuch, in der es um das Fehlen bei Zusammenkünften ging, wofür es eigentlich keine Entschuldigung gab, Ausnahme: „Skifahren u. Fussballmatche“.11 Und weil die Freundschaft nicht nur beim Schachspiel gefördert werden sollte, unternahm der SYL auch Ausflüge in die Umgebung Zürichs, so z. B. am 10.5.1925 auf den Ütliberg.12 Schließlich wurde ein „humoristischer Schachabend“ geplant, der am 21.10.1925 stattfand. An diesem Abend wurde u. a. ein selbst verfasstes Gedicht vorgelesen, dann wurden Witze und Anekdoten erzählt, am Schluss führten einige Mitglieder Zauberkunststücke vor.13 Ein wichtiger Punkt im SYL war der Umgang mit der Religion und die Einbeziehung der jüdischen Feiertage in das „Vereinsleben“ des SYL. Zu Chanukka 1925 wollte auch der SYL ein Fest veranstalten, wählte sich dazu einen „Festpräsidenten“ (Hugo Gr.) und überließ ihm die Organisation.14 Am 12.12.1925 wurde diese Feier abgehalten, und Hugo Gr. hatte sich dazu ein umfangreiches Programm ausgedacht. Es soll hier zitiert werden, um einen Eindruck zu vermitteln, was und wie im SYL geplant wurde: „1. Begrüssungsrede des Fest-Präsidenten, 2a. Versteigerung des Lichtanzündens, 2b. Entzündung der Chanukkalichter. 2c. Moaus zur [‚mächtiger Felsen‘, ein zu Chanukka gesungenes Lied, hier wiedergegeben in der aschkenasischen Schreibweise, E. P.], 3. Gedicht, 4. Lotteriespiel, 5. Brief von J. G. [einem inzwischen nicht 9 Rede Erich G. 10 Vgl. z. B. Protokollbuch, Zusammenkunft am 1.4.1925 mit Meisterschaftsspielen. 11 Protokollbuch, Zusammenkunft am 12.3.1925. 12 Vgl. Protokollbuch, Ausflug auf den Ütliberg, 10.5.1925. 13 Vgl. Protokollbuch, Vorstandssitzung am 13.10.1925, Zusammenkunft am 21.10.1925. 14 Vgl. Protokollbuch, Zusammenkunft am 21.11.1925.

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mehr in Zürich lebenden Mitglied des SYL, E. P.], 6. Essen mit Musikbegleitung, Witze etc., 7. Theaterstück: Der S.Y.L., 8. Dialektgedicht, 9. Trauerrede, 10. Gramophonvortrag, 11. Tränderle [ein zu Chanukka übliches Spiel mit einem speziell beschrifteten Kreisel, auch Treidele genannt, E. P.].“15 Zwar klappte an dem Abend nicht alles wie geplant, unter anderem weil die Schauspieler für das Theaterstück leider ihren Text nicht gelernt hatten, aber der Eindruck einer akribischen Planung einer Chanukkafeier blieb, zu der die SYLer sicher auch durch andere Chanukkafeiern in den Gemeinden und jüdischen Organisationen angeregt wurden. Es ist hier also nicht die Originalität zu beachten – solche Feiern wurden nicht vom SYL erfunden –, aber Planung und Durchführung lagen eben doch ganz in den Händen der SYLer, die sich mit ihren Ideen in einen vorgegebenen Rahmen einbrachten. Zu einer Auseinandersetzung, die den Umgang mit der Religion und der Religionsausübung berührte und damit dieses Problemfeld beleuchtet, kam es im SYL, als auf einer Sitzung im Januar beantragt wurde, die samstäglichen Treffen vor Minchah (Nachmittagsgebet in der synagogalen Liturgie) zu legen.16 Der Antrag wurde zunächst vertagt, aber schließlich doch angenommen. Und während sonst der Protokollant, in dieser Periode war es Erich G., immer sehr sachlich und emotionslos berichtete, nannte er diesen Beschluss „kein glänzendes Blatt“,17 da einige der Mitglieder an Zusammenkünften vor Minchah nicht teilnehmen könnten. Auch Erich  G., selbst IRG-Mitglied, schien davon betroffen zu sein, was seinen schriftlichen Protest erklären würde. Die Angelegenheit war damit auch noch nicht erledigt, denn offensichtlich hatte es weitere Proteste der Betroffenen gegeben. Dies führte dazu, dass zunächst beschlossen wurde, die Zusammenkünfte alternierend vor und nach Minchah zu legen,18 zwei Monate später aber kehrte man zum alten Rhythmus zurück.19 Im Pack gab es diese Konflikte nicht mehr, alle Anlässe wurden so organisiert, dass auch die observanten Mitglieder teilnehmen konnten, ohne ein Schabbat- oder Festtagsgebot zu brechen. Wenn ein Protokollführer sein Amt niederlegte – im vorliegenden Protokollbuch geschah das zweimal –, wurde dies auf einer speziellen Seite berichtet, die mit einer grafischen Gestaltung versehen und auf der das Motto des SYL

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Protokollbuch, Chanukkafeier, 12.12.1925. Vgl. Protokollbuch, Zusammenkunft am 16.1.1926. Protokollbuch, Monatssitzung am 3.2.1926. Vgl. Protokollbuch, Ordentliche Generalversammlung am 7.3.1926. Vgl. Protokollbuch, Monatssitzung am 26.5.1926.

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vermerkt wurde: „S.Y.L sei einig“20 oder „SYL SEID EINIG.“21 Dies scheint wie eine Losung über dem SYL geschwebt zu haben und wirft die Frage auf, ob dies nicht die Adaption eines Zitats aus Friedrich Schillers Bühnendrama „Wilhelm Tell“ ist,22 den die SYLer möglicherweise aus der Schule kannten. Schiller ist als Standardlektüre deutscher Klassiker vor allem im Ostjudentum wichtig gewesen, hier allerdings geht es wohl weniger um Schiller als um Wilhelm Tell als Mythos der Schweiz. Es lässt sich nicht mehr eruieren, ob sich der SYL „offiziell“ aufgelöst hat und ob das Pack „offiziell“ als Gruppe gegründet wurde. Es kann angenommen werden, dass es fließende Übergänge waren, wozu auch die temporären Aufenthalte einiger SYLer und Packmitglieder außerhalb Zürichs beigetragen haben. Aus dem vorhandenen Material lässt sich über den SYL sagen, dass er zwar ein Jugendklub gewesen ist, der ein Ausleben der Leidenschaften „Vereinsmeierei“ und Schach ermöglichte – und insofern wäre er für die weitere Untersuchung nicht von größerem Belang –, aber im SYL findet sich auch schon die Grundstruktur des Packs. Sie wird jedoch nicht als feste Struktur übernommen, sondern in einer sehr speziellen Form des Zusammenseins gepflegt.

Vom Schachclub zum Pack Wie sehen diese Grundstrukturen aus, die das Pack vom SYL übernommen oder besser weiterentwickelt hat?23 Beim Pack, und hier ist zunächst ein Unterschied festzustellen, hatte das Jassen das Schachspiel abgelöst. Zu Beginn sonntags, mit der Gründung der ersten Familien aber schnell auf Mittwoch wechselnd, wurde dieser Jassabend ein Fixpunkt für die Männer des Packs. Auch der Sport spielte im Pack wieder eine große Rolle. So wurden Fußball20 Protokollbuch, Zusammenkunft am 26.8.1925. 21 Protokollbuch, Zusammenkunft am 3.3.1926. 22 Mein Hinweis auf diese Losung wurde von Juliette B. sofort mit dem Satz „Seid einig, einig, einig. Das ist Tell von Schiller“ beantwortet. Gespräch am 25.7.2002. Das Zitat stammt aus dem Vierten Aufzug, Zweite Szene. Es sind die letzten Worte des sterbenden Attinghausen an seine Mitstreiter Fürst und Stauffacher und lautet vollständig: „Drum haltet fest zusammen│fest und einig│Kein Ort der Freiheit sei dem andren fremd│Hochwachten stellet aus auf euren Bergen, │Daß sich der Bund zum Bunde rasch versammle│Seid einig - einig - einig.“ 23 Die nun angeführten Beispiele der Packaktivitäten werden an zahlreichen Stellen im Packbuch beschrieben und wurden in allen Gesprächen immer wieder bestätigt. Daher verzichte ich darauf, jede einzelne Aktivität mit einer Fußnote nachzuweisen.

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spiele gegen die Kadimah, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und Wanderungen, eher in den späteren Jahren des Packs, veranstaltet, aber vor allem gab es die Autorallyes, die von 1966 bis 1972 (beendet wurden sie wahrscheinlich aufgrund der ersten „Ölkrise“ in Europa 1972) mit großem Erfolg von Silvain und Juliette B. organisiert wurden. Zu den jüdischen Feiertagen traf man sich zu speziellen Packanlässe, die von vielen als wichtige Punkte auch im jüdischen Leben geschildert werden. Dazu kamen Theater- und Cabaretabende zu besonderen festlichen Gelegenheiten (Hochzeiten, Neuaufnahmen ins Pack, Bar Mizwah), von denen im Packbuch in fast euphorischen Tönen berichtet wird. Ebenso unternahm das Pack Ausflüge (meistens dann über das Wochenende, von Freitag bis Sonntag), die in den späteren Jahren für einige die einzige Gelegenheit waren, mit den andern zusammenzukommen. Obwohl die einzelnen Mitglieder des Packs unterschiedlichen Gemeinden in Zürich angehörten und einige von ihnen auch sehr säkular waren, brachte dies keine Probleme wie noch im SYL mit sich: Es wurde immer auf die religiöseren Mitglieder Rücksicht genommen, indem die Speisen stets koscher waren und es keine Veranstaltungen am Schabbat oder an anderen jüdischen Feiertagen gab, die zu Schwierigkeiten hätten führen können. Allerdings gab es im Pack, im Gegensatz zum SYL, nun auch Frauen, die sich eben noch nicht von frühester Kindheit her kannten, auch nicht alle aus Zürich stammten, sondern aus anderen Teilen der Schweiz, aus Süddeutschland und aus Ungarn. Dass den Ehemännern ihr Freundeskreis mehr bedeutete als eine einmal in der Woche stattfindende Stammtischversammlung, wurde den Frauen schnell klar, und sie reagierten. Sie entschieden, eine eigene Gruppe im Pack zu gründen, den „Frauenstamm“. Die Männer trafen sich weiter am Mittwochabend zum Jassen, die Frauen organisierten einmal im Monat einen Frauentreff bei wechselnden Gastgeberinnen. Juliette B. sagt im Gespräch, sie finde es bis heute erstaunlich, dass sich die doch aus so unterschiedlichen Ländern bzw. Regionen kommenden Frauen so gut verstanden und damit den Frauenstamm zu einem wichtigen Teil des Packs gemacht hätten. Worin liegt nun die Weiterentwicklung vom SYL zum Pack? Und könnte in den Antworten auf diese Fragen auch die Antwort auf die Frage liegen, warum das Pack bis heute existiert? Das Pack übernahm viele Aktivitäten des SYL, die im SYL zur Struktur gehörten, aber es goss dies nicht in eine statische Form, die anderen Vereinen und Organisationen immanent ist. Die Kadimah hatte ein klar definiertes Ziel, hatte Satzungen, hatte Regeln, die es einzuhalten galt, die dazu dienen sollten, den Zweck des Vereins zu erreichen. Das Pack hatte all dies nicht. Es ersetzte die Strukturvorgaben durch die Freiheit des Zusammenkommens der in Freundschaft verbundenen Mitglieder,

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zwang die Aktivitäten, einmal abgesehen von den regelmäßigen Jass-Abenden und dem monatlichen Frauenstamm, aber nicht in eine reglementierte Struktur und stand so gewissermaßen außerhalb der Organisationsstruktur von Vereinen. Beim Lesen des Protokollbuchs gewinnt man den Eindruck, als ob das „Urpack“ seinen Drang nach Vereinsmeierei im SYL und später in der Kadimah einfach schon abgearbeitet hatte. Für das Pack, für den Zusammenhalt dieser Gruppe, waren solche Strukturen, war „Vereinsmeierei“ nicht mehr notwendig. Das Pack hatte sich eine informelle Struktur geschaffen, die aus den formalen Strukturen des Vorgängervereins gewachsen, weil in ihm erlebt und geprägt worden war. Diese als Prägungen auch im psychoanalytischen Sinne zu verstehenden formalen Strukturen machten im Pack solche Strukturen überflüssig. Was es allerdings gab, waren ausschließende Regeln, denn wie schon im SYL konnte nicht jeder Mitglied im Pack werden. Zwar werden im Packbuch und auch bei den Gesprächen keine Kriterien für die Aufnahme genannt, aber es wurde doch deutlich, der Kreis sollte klein bleiben, auf die Urfreundesschar und die engsten Freunde beschränkt. Dies gelang, sodass das Pack nie mehr als 24 männliche Mitglieder umfasste.24 Was im SYL noch unter dem Motto „Seid einig“ fungierte, brauchte im Pack kein sprachliches oder grafisches Symbol, denn es war für alle Packmitglieder selbstverständlich, dass sie vielleicht nicht immer einig in allen Dingen waren, aber immer füreinander einstanden. So wird im Packbuch berichtet, wie Packfreunde in wirtschaftlichen Notlagen25 oder bei beruflichen Neuorientierungen26 einander geholfen haben. Aber auch bei Krankheiten war man füreinander da, besuchte sich regelmäßig, unterstützte sich. Explizit erzählt dies Lony L., der nach einem schweren Autounfall 1952 lange im Krankenhaus liegen musste und dort erfuhr, „was Freundschaft bedeuten kann.“27 Und auch beim Tod eines Ehepartners war das Pack da, half bei den Formalitäten und sorgte dafür, dass der oder die Hinterbliebene nach der Schiva-Woche nicht auf 24 Diese Zahl bedarf einer Erläuterung. Auf der „offiziellen“ Liste „Das Pack und seine Nachfahren“ finden sich 22 Ehepaare und ein Junggeselle, die fehlende Person ist der aus dem Pack ausgeschlossene Marcel  Ba., dessen Militärladen (vgl. dazu Artikel „Die Marketenderin mitten in der City“, Tages-Anzeiger, 7.4.2001) nach dem Zweiten Weltkrieg den Gedanken des Packs so sehr zuwiderlief, dass er aus dem Pack ausgeschlossen wurde. Vgl. Gespräch mit Daniel und Züsy G. am 12.03.2001 und verschiedene Gespräche mit Juliette B. 25 Vgl. u. a. Packbuch, S. 74. 26 Vgl. u. a. Packbuch, S. 20. 27 Packbuch, S. 88.

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sich allein gestellt blieb. Walter U. schreibt, nach dem Tod seiner Frau sei für ihn das Pack wie eine „Grossfamilie“28 geworden. Krankenbesuche und Hilfe für die Trauernden sind im Judentum wichtige Stützpfeiler, werden als Mitzwa (als gottgefällige Tat) angesehen. Daher könnten diese im Pack auch als etwas ganz Normales, sogar etwas Erwartetes angesehen werden. Doch die Intensität dieses Füreinander-Einstehens, die Dauerhaftigkeit heben es heraus, lassen auch in den Gesprächen spüren,29 dass hier eine spezielle Bindung zwischen den Packmitgliedern herrscht, eine tiefe und innige Freundschaft. Während in „zweckgerichteten“ Klubs und Vereinen die Mitglieder zusammenkommen, um den „Zweck“ des Klubs auszuüben, also z. B. Fußball zu spielen, Musik zu machen, Sammelgegenstände auszutauschen, ist ein solcher Hauptzweck im Pack nicht gegeben. Alle Aktivitäten entwickeln sich aus den Ideen und Wünschen der Mitglieder, daher können die Aktivitäten sehr verschieden sein und sich auch im Laufe der Zeit wandeln. So ist Fußball beispielsweise in den 1940er-Jahren noch ein Thema, wird dann von Autorallyes abgelöst, die schließlich mit zunehmendem Lebensalter der Packmitglieder durch Wochenendausflüge mit leichten Wanderungen ersetzt werden. Die angesprochene innige Freundschaft wirft die Frage auf, was unter Freundschaft zu verstehen ist. Karen Karbo zeigt in einem sehr erhellenden Artikel für „Psychology Today“,30 dass Freundschaft als wesentlicher Teil der Sinngebung im menschlichen Leben verstanden wird. Freundschaften schließe man, schreibt sie, mit Personen, denen man im Leben auf einer regulären Ebene begegne (also z. B. im Kindergarten, bei der Arbeit, in der Schule, in der Gemeinde, im Fitness-Studio). Um daraus aber eine Freundschaft werden zu lassen, müssten noch andere Bedingungen erfüllt sein: gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Offenheit, Nähe (womit nicht raum- oder körperliche Nähe gemeint ist, der englische Ausdruck „intimacy“ beschreibt es besser) und das Wissen, welche Grenzen man in der Freundschaft nicht überschreiten darf. Für eine lebenslange Freundschaft komme noch ein weiteres Kriterium hinzu, nämlich das Zusammenpassen der sozialen Identität, die sich auf ganz verschiedene Komponenten stützen könne, z. B. Religion, Ethnie, soziale 28 Vgl. Packbuch, S. 58. Das Besuchen der erkrankten Packmitglieder oder derjenigen, die nicht mehr so mobil sind, ist bis in die jüngste Zeit ein Motiv des Packs geblieben. 29 Gespräch mit Vera Gr. am 9.7.2002 und Gespräch mit Suzanne D. und Juliette B. am 25.7.2002. 30 Vgl. Karen Karbo: Friendship: The Laws of Attraction, in: Psychology Today, Nov./Dez. 2006.

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Position innerhalb der Gesellschaft. Darüber hinaus bedürfe es aber auch weiterer Arbeit an der Freundschaft. Karbo nennt die Faktoren Offenheit, Unterstützung, Interaktion und „being positive“. In einer eindrücklichen Studie, die die These der innigen Freundschaft und ihrer Handlungsmaximen noch weiter führt, haben sich W. Keith Campbell et al. mit dem Zusammenhang von Freundschaft und dem Syndrom des „self-serving bias“ (SSB) beschäftigt.31 SSB meint, dass man in einer zu zweit durchzuführenden Aufgabe für sich selbst den Erfolg reklamiert, die Niederlage aber dem Partner anlastet. Campbell und seine Mitarbeiter haben in einem aufwendigen Experiment gezeigt, dass Zweier-Teams, die man aufgrund gemeinsamer Vorlieben zusammengebracht hat, eher bereit sind, dem SSB anheimzufallen, während bei Freunden und Freundinnen, die sich für dieses Experiment gemeinsam melden konnten, SSB-Tendenzen nicht zu erkennen waren. Vier Gründe sind nach Campbell und seinen Mitarbeitern hierfür ausschlaggebend. Zunächst sei das soziale Setting des Tests, eine kooperativ zu lösende Aufgabe, dafür prädestiniert, Freundschaften als Vorteil zu sehen und entsprechend diese Gelegenheit zu einer Selbsterhöhung nicht zu nutzen. Weiterhin seien Freunde immer darum bemüht, die Freundschaftsbande zu erhalten, würden diese also nicht so leicht durch SSB aufs Spiel setzen. Daraus leitet Campbell die bei Freunden wechselseitige Erwartung ab, dass keine Selbsterhöhung auf Kosten des anderen stattfinde, was auf eine starke Bindung zwischen Freunden schließen lasse. Schließlich scheine die Freundschaft zwischen zwei Personen immer auch einen gegenseitigen positiven Einfluss auszuüben, was sich unter anderem an der Bereitschaft zeige, mehr Selbstverantwortung zu übernehmen. Ist Freundschaft also nicht nur ein leeres Wort? Es ist bei den angeführten Untersuchungen allerdings zu beachten, dass sie sich immer nur auf die Freundschaft zweier Personen beziehen. Zwar hat es beim Pack auch enge Freundschaften zwischen zwei Personen gegeben, aber der Hauptpunkt ist die Freundschaft aller Mitglieder untereinander als Basis der Gruppe. Welche Bedeutung das Pack für seine Mitglieder hatte, geht z. B. aus einem Umstand hervor, der interessanterweise nicht im Packbuch erwähnt wird, aber sehr viel über das Selbstverständnis und die Selbstverortung des Packs in der jüdischen Gemeinschaft in Zürich aussagt. Denn bis auf zwei Ausnahmen32 gehörte nie31 Vgl. W. Keith Campbell et al.: Among friends? An examination of friendship and the self-serving bias, in: British Journal of Social Psychology, 39, 2000, S. 229–239. 32 Für eine kurze Zeit waren Max Gt. und Saly L. Mitglieder der Loge, traten aber wieder aus.

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mand aus dem Pack der „B’nai B’rith Augustin Keller Loge“33 in Zürich an. Es gab – und gibt – bei der Loge keinen Rechtsanspruch auf einen Beitritt, aber es wird als Ehre angesehen, dort Mitglied zu sein, denn es ist nicht nur ein Ort philanthropischer Arbeit, sondern auch ein Treffen mit Gleichgesinnten, die sich in den verschiedensten Lebenssituationen untereinander helfen können. Die Antwort des Packs an die Loge, als diese einigen Packmitgliedern die Mitgliedschaft antrug, war eindeutig: „Wir brauchen die Loge nicht, wir haben doch das Pack.“34 In dieser Antwort stecken das Selbstverständnis und das Vertrauen auf das Pack, das sich über Jahre gebildet hat. Das Pack wollte sich damit nicht außerhalb der jüdischen Gemeinschaft stellen – wie aus dem bisher Gesagten deutlich hervorgeht, ist eher das Gegenteil der Fall –, aber es stellte sich außerhalb der gängigen Vereinsstrukturen. Dies meint nicht, dass sich die Packmitglieder nicht in anderen Organisationen, Strukturen und Vereinigungen engagierten. Die Mitgliedschaft im Pack schloss andere Mitgliedschaften nicht aus, aber man brauchte keine Vereinigung wie die Loge, da man, wenn man es etwas pointiert formulieren möchte, seine eigene Loge hatte. Es sei nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass gegenüber den Strukturen in der Kadimah und der Loge im späteren Pack Frauen nicht nur zugelassen, sondern im Laufe der Zeit ein integraler Bestandteil wurden. Dies mag ein weiterer Grund für den „Erfolg“, d. h. das lange Bestehen des Packs, sein. Die Mitgliedschaft in anderen Vereinigungen wird im Packbuch an einigen Stellen beschrieben. Bereits erwähnt wurde die Kadimah, in der einige Packmitglieder tätig waren. Während des Zweiten Weltkriegs engagierten sich auch Packmitglieder in der Betreuung der Flüchtlingslager.35 Ein anderes Betä33 Die B’nai B’rith wurde 1843 in den USA als Versuch einer neuen jüdischen Bruderschaft gegründet mit dem Ziel, philanthropisch und altruistisch zu wirken und „uniting persons of the Jewish faith in the work of promoting their highest interests and those of humanity.“ B’nai B’rith hat inzwischen Logen in 45 Ländern. Vgl. EJ 2, Bd. 4, Sp. 1144–1149. Die Augustin Keller Loge, benannt nach dem liberal-katholischen aargauischen Stände-, Regierungs- und Nationalrat Augustin Keller (1805–1883), der sich explizit für die Emanzipation der Surbtaler Juden einsetzte, wurde 1909 in Zürich gegründet. Sie schließt sich in ihren Zielen den Vorgaben der B’nai B’rith USA an, betont aber, dass bei ihr „Menschen der verschiedensten religiösen Richtungen“ zusammenkommen. Informationen entnommen der Homepage der Augustin Keller Loge, http://www.juden.ch/middle.htm. Vgl. auch Brunschwig/Heinrichs/Huser, 2005, S. 262f. (Artikel von Ruth Heinrichs). 34 Zitiert nach Vera Gr. im Gespräch am 9.7.2002. 35 Unter anderem erwähnt dies Hugo Gr. in seinem Artikel im Packbuch. Doch werden darüber nicht viele Worte verloren, es wird fast wie eine Selbstverständlichkeit

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tigungsfeld war die Arbeit in der ICZ. Schon ab 1939 arbeitete René Gr. als Sekretär der ICZ, nach dem Zweiten Weltkrieg sollten es noch weitere Packmitglieder sein, die sich in der Gemeindearbeit engagierten. So war z. B. Walter S. der Leiter der Schulpflege, während als Packmitglieder noch Max D. und Daniel G. im Vorstand der ICZ saßen.36 Das Wirken blieb aber nicht nur auf die lokale Gemeindepolitik beschränkt, zumindest in einem Fall. Robert B. wurde 1980 zum Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) gewählt und blieb dies bis 1988.37 Daniel G. schreibt, die Arbeit im ICZ-Vorstand sei eine bewusste Entscheidung des Packs gewesen, die auf einer Versammlung getroffen wurde. Auch die Frauen des Packs waren in dieser Zeit in verschiedenen Organisationen tätig, so im Vorstand des Israelitischen Frauenvereins.38 Daniel G.s Beschreibung der ICZ-Aktivitäten und auch Walter U.s. Äußerungen über den Beginn der Arbeit der Packmitglieder in der ICZ, den er eine „Revolution“39 nannte, könnten den Eindruck erwecken, das Pack sei hier als geschlossene Gruppe aufgetreten, als Einheit, die sich auch nach außen genauso verstand und bei den Wahlen zum Gemeindevorstand auch so auftrat. Konkrete Nachfragen zu diesem Punkt ergeben dann allerdings ein anderes Bild. Zwar hatte das Pack entschieden, sich im ICZ-Vorstand zu engagieren, aber die Mitglieder traten nie als geschlossener Block auf, noch stellten sie ihre Mitgliedschaft im Pack als einen sie verbindenden und motivierenden Punkt in den Vordergrund. Sie waren zwar Packmitglieder, engagierten sich aber in der ICZ (und auch in anderen Organisationen) als Einzelpersonen.40 Dies erklärt auch die geringe Aufmerksamkeit, die das Pack in der jüdischen Gemeinschaft Zürichs erfuhr,41 denn trotz des nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich sichtbaren Engagements wurden die Packmitglieder nicht per se als solche wahrgenommen. Das heutige Wissen über die Gruppe in Zürich ist sehr gering. Nachfragen bei Mitgliedern und Kennern der ICZ ergaben ein eher diffuses Bild, hingestellt. Vgl. Packbuch, S. 24. 36 Vgl. Packbuch, S. 95–97. 37 Vgl. Packbuch, S. 96 und Brigitte Halpern: „Ein engagiertes Leben“ – Nachruf auf Robert B., in: Tachles, 29.6.2001. 38 Vgl. Packbuch, S. 95. 39 Gespräch mit Walter U., 3.8.2000. 40 Gespräch mit Daniel und Züsy  G. am 12.3.2001 sowie mit Juliette  B. und Suzanne D. am 25.7.2002. 41 Aber das ist nicht nur in Zürich der Fall. Im bereits erwähnten Nachruf auf Robert B., der in Bern lebte, wird seine Packzugehörigkeit mit keinem Wort erwähnt. Vgl. Halpern, 2001.

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wenn nicht gar absolute Unkenntnis und Erstaunen über die Existenz einer solchen Gruppe. Diese Nachfragen sind keinem wissenschaftlich standardisierten Schema gefolgt, können also nicht als repräsentativ gelten. Hätte aber das Pack per se eine in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommene Rolle als Pack gespielt, ständen die Memoiren des Packs wohl nicht nur als Hektografie in der Bibliothek der ICZ. Selbstverständlich aber brachten die Einzelpersonen etwas in ihr Gemeinde-Engagement mit ein, was sie vielleicht aus dem Pack kannten. Daniel G. nennt dies eine „machbare, realistische Politik der Mitte“.42 Diese Aussage klingt sehr nach Understatement, und es war wohl eher so, dass die Packmitglieder ihre „Ideale“ mit in die Arbeit eingebracht haben, die sich mit den Begriffen Loyalität, Freundschaft, Unterstützung beschreiben lassen. Dass sie sich selbst als nur „kleines Rädchen“ betrachteten, das eigentlich nicht wichtig sei, steht dem nicht entgegen, sondern ist Ausdruck des eigenen Zurücknehmens gegenüber der Öffentlichkeit, das sich im Packbuch, aber auch in den Gesprächen immer wieder zeigt. Ein an dieser Stelle zu ziehendes erstes Fazit besagt, dass es für die Mitglieder des Packs nicht nur eine Packidentität, sondern in Anlehnung an die lebensweltliche Analyse auch ein Pack-Selbst-Verständnis gegeben hat und noch gibt, das sich aus den Besonderheiten dieser Gruppe und der Lebenswelt der Mitglieder zusammensetzt. Eine einmalige Konstellation (historisch, sozial und auch biografisch) ermöglichte es, dass sich diese Gruppe fand, war aber auch dafür verantwortlich, dass es gleichzeitig nie gelungen ist, einen Jugendstamm zu gründen, also die Kinder der Packmitglieder ebenfalls zu einer solchen Gruppe zu animieren. Die Gründe hierfür sahen die Packmitglieder eindeutig in den „anderen Zeiten“.43 Aber warum gibt es dann die Gruppe bis heute? Die Packmitglieder, mit denen ich im Rahmen dieser Untersuchung gesprochen habe, bekamen am Schluss alle die gleiche Frage gestellt, die im Übrigen die einzige Frage war, die allen unisono gestellt wurde: „Was hat Ihrer Meinung nach das Pack bis heute am Leben gehalten?“ Die Frage schien alle zu überraschen, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, dass es das Pack heute noch gibt. Vielleicht ist die bejahende Antwort von Juliette B. auf die Frage, ob es denn richtig sei, dass die Freiheit im Pack es z. B. von der Kadimah abgehoben habe, ein Teil der Antwort. Und wenn dazu die Antwort von Vera Gr. genommen wird, die auf die erste Frage mit „Die Freundschaft“ geantwortet 42 Packbuch, S. 96. 43 Gespräch mit Vera Gr. am 9.7.2002 und Suzanne D. am 25.7.2002.

Hybridität, Liminalität und Grenzgänger  |

hat, könnte als Fazit über dem Pack und als Antwort auf die Frage nach dem Bestehen bis heute gesagt werden: die Freundschaft und die Freiheit.

Hybridität, Liminalität und Grenzgänger Aber in welchem Zusammenhang steht dieses Pack-Selbst-Verständnis mit anderen Identitäten? Wenn Assimilation als aktiver, von der Minderheit zu leistender Prozess und Akkulturation als passiver, von der Mehrheit zu leistender Prozess gedeutet werden kann,44 stellt sich die Frage nach der Sinnbildung des Subjekts, nach der Sinnbildung der Kultur, nach der Konstruktion von Identität aus diesem Prozess heraus. Bedeuten erfolgreiche Assimilationsund Akkulturationsprozesse das Aufgehen der einen Kultur, und damit auch der einen Identität, in der anderen? „Siegt“ ein Identitätsbild über das andere? Lange Zeit wurde in der Geschichtsforschung über jüdische Geschichte in Europa, und dabei vor allem in Deutschland, von einer völligen Assimilation der Juden und Jüdinnen, und das meinte ein völliges Aufgehen in der deutschen Kultur, gesprochen. Aus jüdischer Identität sei deutsche Identität geworden. Dass dem nicht so war, wurde dann zwar erkannt, als sozialgeschichtliche Analysen und lebensweltliche Betrachtungen sich näher mit dem Leben der Juden und Jüdinnen in Deutschland beschäftigten und dies nicht nur aus der Perspektive der Antisemitismusforschung taten, sondern aus der Innenperspektive der Juden und Jüdinnen. Der daraufhin angebotene Terminus der „Symbiose“ konnte aber nicht weiterhelfen, da er ein Verschmelzen der Kulturen impliziert. Um der Komplexität des Vorgangs und der Differenzierung der Gesellschaft gerecht zu werden, wurde dann von etwas „Drittem“ gesprochen, von der Kreation einer „deutsch-jüdischen Subkultur“ im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Judentum löste sich nicht auf, wurde aber auch nicht auf die Konfession reduziert.45 Dieses Muster kann auf eine ähnliche Weise auch für das Schweizer Judentum angenommen werden. Diesem Pfad des „Dritten“, der „Subkultur“ folgt der Literaturwissenschaftler und herausragende Exponent der Postkolonialismusforschung Homi K. Bhabha, auch wenn er sich nicht speziell auf die jüdische Geschichte bezieht, mit seiner Theorie der Hybridität. Hybridität, hybride Identität, hybride Sub44 Eine ausführliche Begründung meiner Definition von Assimilation und Akkulturation findet sich in Kapitel 1. 45 Vgl. zu diesem Komplex Trude Maurer: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780–1933), Tübingen 1992, S. 167–179.

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jekte meint, dass es nicht die klare Bestimmung der Identität gibt als das eine oder andere, sondern dass es einen Prozess des Bildens von etwas Neuem gibt. Dabei handelt es sich hierbei nicht um eine neue Synthese, eher um das InsGespräch-Kommen der zwei (oder mehr) Identitäten,46 die das hybride Subjekt oft in einem Zustand des „in-betweenness“47 lassen. Ohne Zweifel erlebt sich das Mitglied der Minderheit häufig in einem Zustand des Zwischen-denWelten-Stehenden. Zahllos sind die Beispiele aus der jüdischen Geschichte hierfür. Als eines der prominentesten, das Eingang in die Literatur gefunden hat, sei nur Jakob Wassermanns „Mein Weg als Deutscher und Jude“48 genannt. Doch damit ist auch gleich ein Problem der Anwendung der Konzepte der Postkolonialismusforschung auf die jüdische Geschichte in Europa angesprochen. Homi Bhabha schreibt in der „Verortung der Kultur“: „Aus der liminalen49 Bewegung der Kultur der Nation […] entwickelt sich der Diskurs der Minoritäten.“50 Diese Minoritäten mischten sich ein, stellten eine „Zusatzfrage“, die nicht unbedingt einen Sachverhalt vervollständige, sondern eher für Verwirrung sorge. Die Minorität dringe damit in die Diskurse der Mehrheit ein, werde nicht zu etwas Supplementärem zum Mehrheitsdiskurs, aber auch nicht zu einer negierenden Kraft; die Minorität repräsentiere sich im erneuten Aushandeln der Referenzpunkte, der Zeitbildungen, der Traditionen und Begriffssetzungen der Mehrheitskultur,51 d. h. auch der Mehrheitsidentität. Diese Analyse trifft für die Postkolonialismusforschung und vor allem für die Sichtweisen der, vereinfacht gesagt, beiden Parteien innerhalb dieses Prozesses zu, den Kolonialisten und den Kolonialisierten, die nun in der Gesellschaft der Kolonisten das Aushandeln der Kultur einfordern. Völlig anders stellt sich die Situation dar, wenn sich zwei unterschiedlich große Gruppen innerhalb einer Gesellschaft als Teile der Mehrheitsgesellschaft definieren, diese Definition aber der kleineren Gruppe von der größeren nicht zugestanden wird. Die kleinere Gruppe wird im Extremfall dann nicht nur zu einer Minorität erklärt und als „die Anderen“ betrachtet, sondern sie wird, wie dies im Falle der jüdischen Gemeinschaft geschehen ist und 46 Homi K. Bhabha zitiert in: Jacqueline Lo: Dis/orientations: contemporary AsianAustralian theatre, http://asia-for-teachers.educ.utas.edu.au/CD/cdx/units/unit6/ module5/lernact3/orient.htm. 47 Stanford Presidential Lectures, Homi Bhabha, http://prelectur.stanford.edu/lecturers/bhabha. 48 Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921. 49 Zum Begriff der Liminalität siehe weiter unten. 50 Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 231. 51 Vgl. Bhabha, 2000, S. 231–232.

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geschieht, als „die Fremden“ definiert, was in der Definition von Wolfgang Müller-Funk ein erheblicher Unterschied ist, denn der Fremde ist derjenige, „der nicht als der Andere meiner selbst akzeptiert wird […].“52 Daher muss nach den hegemonialen Strukturen einer Gesellschaft gefragt werden und nach den Machtdiskursen, die mehrheitsfähig werden und damit eine Deutungshoheit beanspruchen können. Beispielhaft zurückkommend auf das Pack, stehen der Selbstdefinition als genuiner Teil der Schweizer Gesellschaft das Zurückweisen dieser Definition und die Beschreibung als „die Fremden“ gegenüber. Identität stellt sich daher als prozesshaftes Erreichen einer Selbstwahrnehmung dar, die aber nicht nur nicht von einem Außen geteilt werden muss, sondern sogar von diesem Außen explizit negiert werden kann. Inwieweit sich die Ablehnung von außen auf das Bilden einer Identität auswirken kann, ist bereits im Abschnitt über „Antisemitismus als Gründungsmotiv“ angesprochen worden. Dieser Widerspruch zwischen Selbst-Verständnis und Fremdzuschreibung, der sich in einem für die Identitätsbildung existenziell wichtigen Bereich abspielt, nämlich in der Grundfrage der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, muss bei der weiteren Analyse als Hintergrund mitgedacht werden. Die hier beschriebene unsichere Situierung der Juden und Jüdinnen in der Schweizer Gesellschaft öffnet den Blick für zwei weitere Konzepte in der Identitätsforschung, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Es handelt sich um das auf den französischen Ethnologen Arnold van Gennep (1873–1957) zurückgehende Konzept der „Liminalität“53 und das in eine ähnliche Richtung weisende „Grenzgängertum“.54 In seinem 1909 veröffentlichten Hauptwerk „Les Rites de Passage“ befasst sich van Gennep mit Übergangsriten, die eine Person von einer Situation (Status) in eine andere führen. Die zu verlassende Situation und die zu erreichende Situation sind klar definiert, dazwischen aber liegen die Übergänge, die van Gennep „liminale Phase“ nannte.55 Der schottische Kulturanthropologe Victor Turner (1920–1983) hat in den 1960er-Jahren van

52 Wolfgang Müller-Funk: Das unmögliche Dritte, in: Süddeutsche Zeitung, 17./18. Februar 2001. 53 Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen ab, limen = Schwelle. 54 Für beide Konzepte wird in den folgenden Fußnoten nur die grundlegende Literatur angegeben. Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche Bibliografie vorzulegen. 55 Vgl. Arnold van Gennep: Les Rites de Passage, Paris 1909. Das Buch ist auch auf Deutsch erschienen: ders.: Übergangsriten, Frankfurt/Main 2005.

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Genneps Theorie noch stärker auf die liminale Phase konzentriert.56 Dabei hat er eine wichtige Erweiterung vorgenommen, indem er van Genneps stark auf Rituale konzentrierte Theorie in die säkulare Gesellschaftsordnung überführt hat. Damit wurde Liminalität ein wichtiger Begriff in der Kulturwissenschaft, vor allem in den Postcolonial Studies. Liminalität bezeichnet nach Turner das Erleben einer Schwelle, eines Übergangs, wobei dieses Erleben, und das ist die für die Kulturwissenschaft zweite große Erweiterung Turners, nicht immer zur nächsten klar definierten Situation führen muss. Menschen können sozusagen in der Schwebe bleiben. Dieses Schweben kann sich zwischen Kulturen, sozialem Status und persönlicher Lebenssituation abspielen. Liminalität wird damit zu einer wichtigen Definitionsmetapher der globalisierten Moderne. Eine Gruppe, die sich in einer solchen Phase findet oder befindet, nennt Turner „Communitas“. Innerhalb der Communitas herrscht eine Egalität, eine hierarchische Struktur existiert nicht, allerdings ist eine solche Communitas selbst nur wieder eine liminale Phase, sie kann nicht fortgesetzt existieren.57 Die Metapher des Grenzgängers, der Grenzgängerin hingegen meint das ständige Überschreiten von Grenzen, das Leben in zwei Kulturen, was sich zum einen in einer konkreten Grenzsituation zeigen lässt: eine Person wohnt im Land A, arbeitete aber jeden Tag im Land B; zum anderen kann dies aber auch das Sich-Bewegen in zwei Kulturen innerhalb eine Gesellschaft meinen. Könnten nicht alle drei Modelle, die Hybridität, die Liminalität/Communitas wie auch das Grenzgängertum, einen Weg zum Verstehen des Packs öffnen? Ist die jüdische Bevölkerung nicht auf dem Weg zur vollständigen Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft stehen, besser: stecken geblieben? Leben die Packmitglieder nicht in einer Form der Liminalität, gar in einer Communitas? Und sind sie dabei nicht auch noch Grenzgänger und Grenzgängerinnen, die sich zwischen christlich-schweizerischer und jüdischer Kul-

56 Vgl. hierzu und zum Folgenden v.  a. Victor Turner: Betwixt and between. The liminal Period in Rites des Passage, in: Melford E. Spiro (Hrsg.), Symposium on New Approaches to the Study of Religion, Seattle 1964; ders.: The Ritual Process. Structure and Antistructure, London 1969. „The Ritual” ist auch auf Deutsch erschienen: ders.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/Main 2005. 57 Zwei ausgezeichnete Zusammenfassungen dieses Konzepts finden sich bei Till Förster: Victor Turners Ritualtheorie. Eine ethnologische Lektüre, in: Theologische Literaturzeitung, 128 (7–8), 2003, S. 704–716 sowie Peter J. Bräunlein: Victor W. Turner: Rituelle Prozesse und kulturelle Transformationen, in: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 91–100.

Hybridität, Liminalität und Grenzgänger  |

tur bewegen? Die Antwort lautet Nein, diese Modelle helfen beim Verstehen des Packs nicht weiter, was im Folgenden kurz erläutert wird. Das grundlegende Problem sehe ich darin, dass die verschiedenen Identitätsmodelle das Individuum als Ganzes aus dem Blick verloren haben. Die Aufsplitterung in verschiedene Identitäten scheint vor allem ein Wortspiel zu sein, denn wenn jeder Mensch viele Identitäten hat, ist dies keine trennscharfe Kategorie mehr, sondern die beliebige Anhäufung von Zuschreibungen. Daher muss auch das Konzept der hybriden Subjekte zurückgewiesen werden, denn Homi Bhabha kann nicht davon ausgegangen sein, dass es hybride und nicht hybride Subjekte gibt. Sind aber alle Subjekte hybrid, ist auch dieses Konzept eine Selbstverständlichkeit und trägt nur wenig zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bei. Hinzu kommt, dass die Begriffswahl der neueren Kulturwissenschaft hin und wieder mit den gewählten Bezeichnungen Vorstellungen transportiert, die nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Symbiose und Hybridität sind Beispiele hierfür, denn sie werden eher mit biologistisch-technischen Phänomenen assoziiert als mit Beschreibungen menschlichen Verhaltens. In der historisch-anthropologischen Arbeit, besonders aber in der Arbeit über Lebenswelten sollte auf eine dem Menschen als Individuum gerecht werdende Begriffswahl geachtet werden. Geschieht dies nicht, wird über die Sprache Distanz geschaffen, aber nicht wissenschaftliche Distanz zum Untersuchungsgegenstand, sondern selbsterhöhende Distanz der Forschenden, die den Individuen die Kennzeichnung des Menschseins absprechen könnte. Beim Konzept der Liminalität fragt man sich, ob dies als, notabene, Theorie einer westlichen Gesellschaft die Komplexität umfasst. Um dem auf die Spur zu kommen, muss man fragen, was denn eine nicht liminale Gesellschaft wäre. Eine festgeschriebene Gesellschaft? Ein erratischer Block, der sich nie bewegt? Und wie würde sich die Communitas hier einordnen? Dadurch, dass Turner sie eigentlich wieder als liminales Phänomen und streng egalitäre Gemeinschaft beschreibt, muss in Anbetracht der Packgeschichte der Begriff Communitas als nicht passend betrachtet werden. Auch das Bild des Grenzgängers scheint bei näherer Analyse ebenso wie Hybridität und Liminalität ein schwammiges Konzept zu sein, denn es fehlt ebenso wie bei den anderen Konzepten die Trennschärfe. Setzt man Grenzgänger als Definition nur bei Ländergrenzen überschreitenden Phänomenen ein, wird der Begriff statisch und von Willkür bestimmt, da Grenzänderungen gerade ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus häufig vorkamen und sich nicht an „Kulturgrenzen“ hielten. Wird Grenzgängertum als Instrument zur Kulturunterscheidung verwendet, kommt man, außer bei Metadefinitionen (z. B. christliche Kultur versus muslimische Kultur), ebenfalls in Erklärungsunschärfen. Wo setzt eine unterschied-

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liche Kultur ein? Ist das Leben in einem kleinen Dorf und die Arbeit in der Großstadt nicht auch schon ein Grenzgängerphänomen? Möglicherweise kann bei der Suche nach einer homogenen Gesellschaft, einer homogenen Kultur der Blick in die Religion weiterhelfen. Besonders von monotheistischen Religionen könnte erwartet werden, dass es eine homogene Struktur, eine festgeschriebene Handlung und damit eine festgeschriebene Gesellschaft gibt. Ohne Anspruch auf eine vollständige Debatte sollen an dieser Stelle zwei Belegstellen aufgeführt werden, die aus der jüdischen Religionstradition stammen. Das erste Zitat stammt aus dem Buch Ben Sira, das ein Teil der Apokryphenliteratur ist. Dieses Buch hat zwar keinen Eingang in den jüdischen Kanon gefunden, wurde aber trotzdem weit rezipiert und in späteren Schriften teilweise aufgenommen. Ben Sira 15:14: „Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen.“58 Die zweite Stelle stammt aus den Pirkei Awoth (Sprüche der Väter), 3:19: „Alles ist geschaut, und die Freiheit ist gegeben […].“59 Beide Stellen zeigen, dass selbst in einer scheinbar eindeutigen Situation – Gott bestimmt über den Menschen – Möglichkeiten gegeben werden, und hier ist es sogar die größte aller Möglichkeiten im menschlichen Handeln, nämlich die freie Entscheidung. Damit steht das Individuum aber nicht nur vor der Entscheidung, sich „gut“ oder „böse“ zu verhalten, sondern es eröffnet sich die ganze Bandbreite menschlicher Handlung. In der Debatte über die Liminalität und das Grenzgängertum spielt dieser Hinweis eine zentrale Rolle, denn es zeigt sich, dass das Handeln in Schwebezuständen so wie auch das eindeutig verortbare Handeln dem Menschen immanent ist. Und welche Gesellschaft, muss man in Fortsetzung des Diskurses über Liminalität fragen, befindet sich nicht ständig in einer Form der Liminalität? Dynamik und stetige Veränderung sind die kennzeichnenden Elemente von Gesellschaften. Die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft, die keiner Veränderung unterworfen ist, ist ein Herrschaftskonstrukt zur Kontrolle der Macht. Wenn es ein festgeschriebenes Bild gibt, kann alles, was diesem Bild nicht entspricht, auf die Seite getan, ausgeschlossen werden. Schon der Mensch selbst als physiologische Einheit, aber auch Fauna und Flora tragen das Element des Wandels – und des Vergehens – in sich. Gesellschaften sind daher eigentlich nur ein Spiegelbild physiologischen Daseins. Auch die Geschichte selbst zeigt, dass Wandel die Konstante darstellt, auch wenn der Eindruck auf58 Zitiert nach der Einheitsübersetzung. 59 Zitiert nach der Übersetzung von Marcus Lehmann, hier die Ausgabe Pirkei Awoth, Sprüche der Väter, Zweiter Band, Basel 1963.

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kommt, Wandel und die damit einhergehende Verunsicherung der Menschen sei ein modernes Phänomen. Hybridität, Liminalität und auch Grenzgängertum arbeiten mit der Vorstellung einer Dualität, die sie gegen die bisher angeblich herrschende Homogenität setzen bzw. gegen die Versuche, Homogenität zu erzeugen. Doch ist es gerade diese Dualität, die den Menschen, die die Kultur ausmacht und vor allem sich überhaupt weiterentwickeln lässt. Die Vorstellung einer „reinen Kultur“ ist ein imaginiertes, von Herrschaftsinteressen geleitetes Bild, das nicht der Realität entspricht. Wie könnte man so eine Kultur ohne jeden Gegenpol entwickeln? Wann wäre diese Entwicklung dann abgeschlossen? Sie muss zu einem Abschluss kommen, weil sie sonst wieder in die Gefahr der Entwicklung käme, in die Gefahr, ihre Mitglieder zu Grenzgängern zu machen. Es muss hier nicht explizit der Dialektik das Wort geredet werden, doch sollte man die Hegel’sche Erkenntnistheorie nicht allzu weit von sich weisen. Die Konzepte der Liminalität, Hybridität und des Grenzgängertums werden von ihren Verfechtern als neue Erkenntnis angeführt, die sich aber auch als exklusive Zuschreibung versteht, wie in den Postcolonial Studies deutlich wird. Dies möchte ich, nicht nur, aber besonders für das vorliegende Projekt, zurückweisen. Damit müssen die daran mit angeschlossenen Identitätskonzepte als wissenschaftlich trennscharfes Kriterium ebenfalls neu gedacht werden, und dies ganz besonders, wenn man aus einer lebensweltlichen Perspektive analysiert. Die vorgestellten Modelle und das Nachdenken über Identität repräsentieren den Blick von außen auf eine Person, aber auch den Blick von außen auf eine Gruppe. Wolfgang Mertens beschreibt dies zutreffend, wenn er die Psychoanalyse von den Methoden der Soziologie abgrenzt: „Wäre Psychoanalyse eine Form der Soziologie, würde sie Gefahr laufen, den Menschen unter sehr allgemeine soziale Gesetzmäßigkeiten zu subsumieren, die ihn z. B. zum Träger einer Rolle, zum Mitglied einer Schicht […] oder zum postmodernen Menschen mit einer Patchwork-Identität machen, wobei aber der einzelne mit seiner jeweils ganz unterschiedlichen Individualität kein Untersuchungsthema mehr wäre.“60 Der Ausdruck Patchwork-Identität trifft den Punkt sehr genau: Identität ist eine willkürlich zusammengestellte Ansammlung von Zuschreibungen, der Begriff Identität daher eher ein „Umbrella-Word“, also eine Begrifflichkeit, die über etwas gehalten wird, die vielleicht schützt, aber auch verdeckt, dem Blick entzieht, die gleichzeitig Beliebigkeit und Homogenität suggeriert. Für eine lebensweltliche Untersuchung ist dies nicht geeignet, da hier der Blick vom einzelnen Menschen ausgeht, nicht vom Individuum 60 Mertens, 1996, S. 12f.

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als Metapher für eine Gruppe. Jeder Blick vom Individuum aus ist ein singulärer, ein individueller Blick, keine universelle Gesellschaftsschau. Nur wenn der Blick von innen heraus, von der Person aus auf ihre Umwelt gerichtet wird, kann man beginnen, den Menschen zu verstehen. Um ein solches Verstehen auch von einer Gruppe zu erlangen, müssen qualitative Kriterien und Interpretationen angewendet werden, sonst entgleitet die Analyse in die indifferente Beliebigkeit.

Packidentität, jüdische Identität, schweizerische Identität? In der Anwendung des Konzepts des Selbst-Verständnisses stellt sich abschließend eine Frage, die an die Diskussionen über hybride Identitäten anschließt, nämlich wie stark das konstatierte Pack-Selbst-Verständnis in der Lebenswelt der Packmitglieder zu gewichten ist. Es ist also zu untersuchen, ob es nicht Einflüsse gibt, die stärker sind, die bestimmender sind für das Selbst-Verständnis als andere. Damit ist nicht unbedingt eine von außen aufoktroyierte Bestimmung gemeint (also z. B. der Antisemitismus als einziger Faktor, der Juden als Juden definiere), sondern das von innen heraus Erlebte, das nicht die anderen überlagert, aber als eine Basis dienen kann, vor allem die oft in pejorativer Absicht kommunizierten Fremdzuschreibungen, die nicht selten, wie die jüdische Geschichte zeigt, für die Außen-Gruppe handlungsbestimmend werden, aushalten zu können. Die Untersuchung über das Pack und das sich im Pack herstellende Selbst-Verständnis hat diese These, zumindest für das Pack, verifiziert. In der Lebenswelt der Packmitglieder war das Pack nicht nur eine gesellschaftliche Zusammenkunft, um dem Jassen zu frönen. Es war mehr. Hierzu sei zunächst noch einmal auf die schon zitierten Zeilen von Walter S. aus dem Jahre 1946 über das Pack hingewiesen. „Hier fanden sich junge jüdische Menschen zu einem Kreis zusammen, der uns allen unendlich viele schöne Stunden bescherte, Freundschaften fürs Leben werden liess und uns eine Mitte gibt, von der jeder weiss: Sie ist ein geistiges und vor allem ein seelisches Zuhause, ohne dass deswegen das ‚richtige‘ Zuhause zu Schaden käme.“61 Mitte, geistiges und seelisches Zuhause, Freundschaften – diese Selbst-Verständnis-Punkte, diese Vernetzungen im sozialen Umfeld, die im Pack auch eine Auseinandersetzung mit dem Innen und dem Außen beinhalteten, lassen das Pack als eine Basis für die Lebenswelt der Packmitglieder erscheinen, die sich im Laufe des Prozesses der Selbst-Bewusst-Werdung herauskristallisierte. 61 Packbuch, S. 45.

Packidentität, jüdische Identität, schweizerische Identität?  |

Hier fanden sie ihre Mitte, ihr geistiges und seelisches Zuhause, das ihnen aber nicht als eine Art „Meta-Zuhause“ ein anderes, das „richtige“ Zuhause, nicht mehr erlaubte. Im Gegenteil: Das Leben und Erleben anderer Situationen konnte möglicherweise nur aufgrund einer solchen Basis erlebt und, wie schon gesagt, ausgehalten werden. Das Pack-Selbst-Verständnis, gebildet in einem jüdischen Umfeld, war ein dezidiert jüdisches Selbst-Verständnis, das sich überzeugend mit dem Konzept der Hausgemeinschaft analysieren lässt. Das Pack hatte sich ein Haus geschaffen, ein jüdisches Haus, in dem alle Parteien miteinander, aber auch für sich leben konnten. Dieses Haus bot Schutz, die Geschichte des Hauses verband und verbindet sie, aber diese Hausgemeinschaft schloss andere Lebenswelten, man könnte sagen: andere Häuser, nicht automatisch aus. Für die Packmitglieder war das Leisten des Aktivdienstes keine Frage, aber sie taten es als jüdische Schweizer. Sie erlebten Formen des Antisemitismus, den sie wahrnahmen, der sie aber in den meisten Fällen nicht dazu führte, ihre Haltung zur Schweiz infrage zu stellen.62 Die Gründung des Staates Israel ließ zwar Hugo Gr. von der „Erfüllung eines uralten Traumes“63 sprechen und einige Packmitglieder auch nach Israel reisen64, aber dies führte nicht dazu, eine mögliche Auswanderung zu diskutieren. Hier war das Schweizersein ein zu gewichtiger Punkt, der sie aber gleichzeitig nicht daran hinderte, aktiv für Israel einzutreten und sich zum Beispiel im „Keren Hajessod“65 zu engagieren. Schweizersein ging für die Mitglieder des Packs mit Judesein zusammen, es gab hier kein ausschließendes Moment. Umgekehrt hing Jüdischsein nicht mit Schweizersein ursächlich zusammen. Die Identität als Mitglied des Packs hing ebenfalls nicht elementar am Schweizersein, war jedoch an das Jüdischsein gebunden, aber nicht als monokausale Basis. Jüdischsein in Verbindung mit der Freundschaft der Mitglieder und der Freiheit innerhalb des Packs machten dieses Selbst-Verständnis aus, das sich als ein einmaliger Zustand erweist. Es ließ und lässt sich nicht auf die nächste Generation übertragen.

62 Vgl. Packbuch. S. 12, 19, 27, 54, 65ff., 100f. 63 Packbuch, S. 25. 64 Vgl. z. B. Packbuch, S. 32. 65 Vgl. Packbuch, S.  25. Keren Hajessod ist die 1921 gegründete Gesellschaft zur Finanzierung jüdischer Einwanderung und landwirtschaftlicher Siedlungen in Palästina/Israel.

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6. Oral History Eine sehr allgemeine Definition der Oral History lautet, dies sei der Versuch, in Interviews von den Befragten etwas über Geschichte zu erfahren. „Wenn ich etwas über mich erfahren will, muss ich Sie fragen!“, sagte mir bei einem Gespräch Juliette B. Dieser Satz ist mehr als nur eine augenzwinkernde Bemerkung, hinterfragt er doch auf subtile Art die Methoden der Oral History und führt gleichzeitig zu einer genauen Sicht auf das, was in lebensweltlichen Analysen mit den Methoden der Oral History erforscht werden soll. Dieses Kapitel wird sich nicht mit der gesamten Geschichte der Oral History und den bis heute andauernden Methodendiskussionen befassen – hierfür sei auf die reichhaltige Literatur und die Websites hingewiesen1 –, sondern es werden vor allem Dinge angesprochen, die für das Verständnis der Arbeit mit dem Pack und für das Ausarbeiten der „Aktiven Kulturkontinuität“ wichtig sind. Geschichte, verstanden als das Erzählen über Geschichte und von Geschichten, ist Teil eines kommunikativen Prozesses, der sich ausgehend vom Dialog über das Gruppengespräch bis hin zu großen Narrativen innerhalb ganzer Gesellschaften zeigt. Es ist sicher nicht vermessen, zu behaupten, dass diese Kommunikation die Menschheitsentwicklung seit der frühesten Zeit begleitete. Dabei können dem Erzählen von Geschichte und Geschichten verschiedene Funktionen zukommen, z. B. als Lehrerzählung, als Unterhaltungserzählung, als Weitergabe von Wissen, als Präsentation des vermeintlichen Ablaufs 1 Vgl. z. B. die Websites der Canadian Oral History Association (http://oral-history. ncf.ca) und der amerikanischen Oral History Association (http://omega.dickinson.edu/organization/oha) sowie die „Tips on doing Oral History Interviews“ von Louis M. Starr, Columbia University (www.tntech.edu/history/oralhist.txt). Louis Starr gehört zusammen mit Allan Nevins zu den Gründervätern der Oral History in den USA; vgl. die Website des „UCLA Oral History Program“ (www.library. ucla.edu/libraries/special/ohp/ohpintro.html); David K. Dunaway und Willa K. Baum (Hrsg.): Oral History. An Interdisciplinary Anthology, 2. Auflage, Walnut Creek, Lanham, New York, Oxford 1996 (erste Auflage Nashville 1984; das Buch ist eine herausragende Sammlung von Artikeln über Oral History, die bis heute zu den wichtigsten und erkenntnisreichsten Veröffentlichungen in diesem Bereich zählt); Gregor Spuhler: Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History, Zürich 1994; Lutz Niethammer: Fragen an das deutsche Gedächtnis. Aufsätze zur Oral History Essen, 2007; Lutz Niethammer: Ego-Histoire? Und andere Erinnerungs-Versuche, Wien 2002; Lutz Niethammer und Werner Trapp (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt/Main 1985.

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der Vergangenheit oder auch als Erhalt der Rituale innerhalb einer Gruppe. Diese Weitergabe erfolgte mündlich, und konzentriert man sich bei der oben aufgeführten Liste auf das Weitergeben von Wissen über die Vergangenheit, kann man sagen, dass Geschichte mündlich stattfand. Die Entwicklung des Verschriftlichens als Teil des kommunikativen Prozesses bot auch der Geschichte eine zweite Form des Konservierens, Tradierens und der Lehre an. Wie Schriftlichkeit und Mündlichkeit in einen sich ergänzenden und voneinander abhängigen Dialog treten können, zeigt die Entwicklungsgeschichte der Thora. Die Thora (hebr.: Weisung) umfasst eigentlich nur die fünf Bücher Mose, wird aber auch als Begriff für die gesamte Hebräische Bibel benutzt. Die Thora enthält die Gebote, aber es gab die Notwendigkeit, diese Gebote auch neuen Gegebenheiten anzupassen und in der Thora nicht vollständig ausformulierte Gebote (z. B. das Gebot des Schächtens) näher zu erläutern. So wurde zwischen 70 und 135 n. d. Z., in der sogenannten JabnePeriode, die Lehre der zwei Torot (Plural von Thora) entwickelt, die Lehre von der schriftlichen Thora (hebr.: Tora she-bichtav) und der mündlichen Thora (hebr.: Tora she-be’al peh). Die mündliche Thora entwickelt und führt die schriftliche Thora fort bzw. erläutert die Gebote. Nur beide Torot zusammen ergeben die wirkliche Weisung. Ihren Niederschlag hat die mündliche Thora schließlich auch in verschriftlichter Form gefunden, nämlich in den Texten der Mischna und der Gemara.2 Der Anstoß zur Entwicklung der Oral History als eigener Quellenform begann rudimentär bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA, als Historiker und Bibliothekare Interviews mit Siedlern im Westen und Mittleren Westen sammelten. Diese Form der Quellensammlung setzte sich fort und erreichte in den 1930er-Jahren einen Höhepunkt, als Tausende von ehemaligen Sklaven und Einwanderern befragt wurden. Ab 1938 wurde über Oral History wissenschaftlich geschrieben,3 und einer der Väter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Oral History, der amerikanische Historiker und Journalist Allan Nevins (1890–1971), gründete bereits 1948 das „Columbia University Oral History Research Office“.4 1966 wurde dann die „Oral History Associ2 In der religiösen Deutung sind Mose am Sinai die mündliche wie auch die schriftliche Thora offenbart worden. 3 Vgl. Willa K. Baum: Form the Preface to the First Edition, in: Dunaway/Baum, 1996, S. 23. 4 Vgl. für die Anfänge der Oral History die Website des „UCLA Oral History Program“ (www.library.ucla.edu/libraries/special/ohp/ohpintro.html) und vor allem die folgenden zwei Artikel von Allan Nevins und Louis M. Starr: Allan Nevins,

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ation (OHA)“ ins Leben gerufen, die bis heute eine der wichtigsten Organisationen für die Arbeit mit und die weitere Forschung über Oral History ist.5 Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft hinkte dieser Entwicklung ein wenig hinterher. Bis in die 1970er-Jahre hinein hatte man sich vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit Prozessen und Strukturen befasst, auch um die in der klassischen Geschichtswissenschaft vorherrschende personenbezogene Analyse der politischen Geschichte, die sich als eine Geschichte der Mächtigen und Herrschenden darstellte, zu hinterfragen und mit Struktur- und Prozessanalysen neue Erkenntnisse über das Funktionieren von Gesellschaften zu bekommen.6 Struktur- und Prozessanalysen sind zweifellos ein wichtiges methodisches Mittel zum Verständnis historischer Ereignisse, die in ihrer Begrenztheit, worunter Raumbegrenzungen und Zeitbegrenzungen verstanden werden, und deutlichen Ausrichtung, worunter ich ein anzuschauendes Phänomen von der Initiation bis zum Ergebnis in einer räumlich-zeitlichen Begrenzung verstehe, eine solche Methode zulassen. Doch sind dabei den Wissenschaftlern, wie Gregor Spuhler zutreffend schreibt, „die Menschen […] abhanden gekommen.“7 Weniger pathetisch klingt es bei Gabriele Rosenthal, die den Sozialwissenschaften aufzeigt, dass sie die eigentlich wichtigste Frage der Sozialwissenschaften noch zu beantworten haben, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.8 Dieses Nachdenken über Individuum und Gesellschaft, dieses Nachdenken auch über neue Zugänge zur Geschichte hatte bereits in den 1980er-Jahren Lutz Niethammer zu der Forderung nach einer „demokratischen Geschichtsschreibung“ geführt, die dann zu dem Begriff der „Geschichte von unten“9 umgeformt wurde. Die Formulierung „Geschichte von unten“ legte fest, mit wem sich die Forschung befassen sollte. Es waren die sogenannten „kleinen Leute“, die sonst nicht ins Blickfeld der Geschichte kamen, die Unterschichten, die, wenn überhaupt, als gesichtslose Masse, als konturloses Kollektiv zwar als Bestandteil der Gesellschaften benannt, aber nicht näher angeschaut wurden. Dieses

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Oral History: How and Why it was born, in: Dunaway/Baum, 1996, S. 29–38 und Louis Starr: Oral History, in: Dunaway/Baum, 1996, S. 39–61. Vgl. die Website der OHA: http://omega.dickinson.edu/organization/oha. Vgl. hierzu als Einstiegstexte Kury, 1998 und Spuhler, 1994, S. 7–20. Spuhler, 1994, S. 8. Vgl. Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität, in: Berliner Geschichtswerk (Hrsg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 126. Beide Zitate Lutz Niethammer, zitiert nach Spuhler, 1994, S. 7.

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Näher-Anschauen, dieses Sich-dem-Forschungsgegenstand-stärker-Nähern,10 sollte nun unter dem Motto „Geschichte von unten“ geschehen. Für dieses Vorhaben bot sich die Oral History förmlich an, denn Interviews, Gespräche oder das Aufzeichnen erzählter Memoiren konnten mit allen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden. Allerdings schränkte die Oral History den Untersuchungszeitraum selbstverständlich ein. Es ist deutlich, dass der Paradigmenwechsel hin zur „Geschichte von unten“, zur Oral History, auch mit den Versuchen der deutschen Geschichtswissenschaft zu erklären ist, dem Phänomen des Nationalsozialismus näherzukommen, da man offensichtlich mit den „alten“ Methoden diese Zeit zwar detailliert beschreiben und analysieren, aber nicht verstehend und erklärend durchdringen konnte. Neben der Erforschung des Nationalsozialismus gingen die stärksten Impulse für die „Geschichte von unten“ von der Historiografie der Arbeiterbewegung und den Gender Studies aus, wobei sehr schnell die methodischen Probleme der Oral History zutage traten, denn neu an der Oral History war, dass man zwar auch, wie bei herkömmlichen Quellen, diese sozusagen befragte und Antworten erhielt, diese Antworten aber in einem Dialog, in einer Erzählsituation entwickelt wurden. Nach einem euphorischen Beginn mit vielen Oral History-Projekten mussten die „Oral Historians“ erkennen, dass die Methode einer stärkeren theoretisch-methodischen Unterfütterung bedurfte als angenommen, denn es wurde in den Gesprächen nicht nach einem Ereignis gefragt, sondern die Erinnerung an ein Ereignis abgefragt. Zwischen Ereignis und Erzählen darüber liegt immer eine gewisse Zeitspanne, die es denkbar erscheinen lässt, dass sich schon die ersten Erinnerungen an ein Ereignis vom Erleben des Ereignisses selbst unterscheiden, vielleicht sogar von den Befragten verändert werden, bewusst oder unbewusst. Jeder Versuch, chronologisch zu erinnern und zu erzählen, trägt etwas Prozesshaftes in sich. Dies wiederum wirkt zweifellos auf die Erinnerung ein. Patrick Kury merkt zu Recht an, dass es keine „Eins-zu-eins-Erinnerung“ gebe.11 Man könnte es auch das Fehlen einer authentischen Erinnerung nennen. Das Fehlen einer solchen Erinnerung führt dann dazu, über Erinnerung per se als historische Quellen nachzudenken.12

10 Vgl. Spuhler, 1994, S. 14. 11 Kury, 1998, S. 96. 12 Vgl. hierzu die Kapitel 9, 10 und 13 der vorliegenden Arbeit.

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Das Pack im Gespräch Zu dem Problem der nicht existierenden Eins-zu-eins-Erinnerung gesellt sich noch die Diskrepanz des Individuums und seiner Umgebung oder, wie es Gabriele Rosenthal nennt, die „dualistische Sackgasse von Subjekt und Gesellschaft“13. Wie könnte dies durch die Oral History aufgelöst werden? Für Rosenthal ist die Lösung nicht nur in Interviews mit Zeitzeugen zu suchen, sondern in einem Ansatz der Oral History, der zunächst von der Biografie ausgeht. Biografien sind soziale Konstrukte, die Wirklichkeiten abbilden, in die die Erfahrungs- und Erlebniswelten einfließen. Die biografischen Quellen lassen dann die Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte zu, wobei es hier nicht um ein Erzählen der Lebensgeschichte der befragten Person mit den Worten des Forschers geht, sondern um das Ausdeuten der Sinnkonstruktionen, das zum Teil auch über die Wahrnehmung und Intention der befragten Person hinausgeht. Um nun die dualistische Sackgasse aufzulösen, soll das Allgemeine am konkreten Einzelfall rekonstruiert werden. Für das vorliegende Forschungsprojekt könnte sogar von mehreren Stufen dieses Modells ausgegangen werden: Anhand einer Einzelbiografie kann das Pack als Ganzes angeschaut werden, das Pack selbst könnte wieder als Einzelbiografie betrachtet werden, womit der Versuch einer Rekonstruktion der Biografie der jüdischen Gemeinde in Zürich unternommen werden könnte. Ein dritter Schritt wäre dann die Rekonstruktion der Gesellschaft der Schweiz anhand eines Einzelteils, in diesem Fall der Jüdischen Gemeinschaft Zürich. Dem Ansatz von Gabriele Rosenthal folgend, bestand der Plan, eine Person aus dem Pack speziell herauszugreifen und an ihr oder ihm exemplarisch die Geschichte des Packs festzumachen. Doch die Antwort der Person, der ich dies angetragen hatte, zeigte schon einen Teil des Selbstverständnisses des Packs. Nein, lautete die Antwort, nicht sehr gern würde sie sich herausheben lassen, niemand solle herausragen, sie hätten doch als Gruppe existiert. Daraufhin habe ich den Plan fallengelassen und stattdessen versucht, das Pack als Biografie einer Gruppe darzustellen, die sich zwar aus Einzelpersonen und damit auch Einzelbiografien zusammensetzt, die aber ihren Zusammenhalt, ihren Sinn im Gemeinsamen sah und bis heute sieht. Die Gespräche wurden den Biografien der befragten Personen angepasst, d. h. es gab nicht einen standardisierten Fragebogen für alle Packmitglieder, sondern jedes Gespräch hatte eine sehr individuelle Komponente. Dazu waren es, wie bereits angedeutet, offene Gesprächsformen, was für mich beinhaltete, 13 Rosenthal, 1994, S. 125.

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dass ich zwar einen Fragenkatalog hatte, diesem auch weitestgehend gefolgt bin, allerdings Erzählungen nicht unterbrochen habe und bei besonders spannenden Punkten, die ich noch nicht als Frage aufgenommen hatte (entweder weil ich sie als nicht so bedeutend eingeschätzt hatte, dies aber von der befragten Person anders beurteilt wurde, oder weil es sich um etwas handelte, was im Packbuch nicht zur Sprache gekommen ist), auch intensiv nachgefragt habe. Allen befragten Personen habe ich am Ende des Gesprächs unisono die Frage gestellt, warum das Pack bis heute überlebt habe, als Gruppe, aber auch als Konzept. Eine Besonderheit bei der Erforschung der Geschichte des Packs ist, dass das „Urpack“/SYL von Jungen im Teenageralter gegründet wurde, dann ein Jungmännerclub war, zu dem die jeweiligen Ehefrauen dazustießen. Kern des Packs waren also die Männer, allerdings lebten zur Zeit der Gespräche nur noch drei, mit denen ich dann auch gesprochen habe. Um etwas mehr über die Wahrnehmung der Männer herauszubekommen, habe ich die jeweiligen Ehefrauen um eine Einschätzung gebeten, dies war allerdings kein zentraler Teil der Gespräche. Bei der Übernahme der Einschätzungen in die Auswertung muss bedacht werden, dass dies eine Transferwahrnehmung ist, also der Versuch zu beschreiben, wie eine andere Person etwas wahrgenommen hat. Transferwahrnehmungen können die Wahrnehmung einer anderen Person zum Teil sehr exakt wiedergeben, es bleibt aber immer der Fakt, dass es Aussagen nicht über sich selbst, sondern über eine andere Person sind. Vielleicht sieht diese andere Person bestimmte Dinge sogar klarer als die eigentlich betroffene Person, was vor allem im Bereich einer quantitativen Auswertung z. B. der Packaktivitäten der Fall sein könnte. Im Bereich der Selbstwahrnehmung allerdings bleibt diese Transferwahrnehmung immer eine sekundäre Quelle.14 Ein wichtiger Punkt für die Auswertung der Gespräche im vorliegenden Forschungsprojekt war die Übereinkunft, die Gespräche nicht auf Tonband aufzunehmen, da dies als „Verhörsituation“ empfunden wurde und zu Befangenheit hätte führen können. Daher habe ich während der Gespräche Notizen gemacht und im Anschluss an die Gespräche jeweils ein Gedächtnisprotokoll angefertigt. Dies macht die Auswertung der Gespräche sehr schwierig, da in diesem Falle quellenkritische Kriterien eigentlich nicht mehr angelegt werden können. Mein Interesse bei diesen Gesprächen lag aber auch weniger darin, ein bestimmtes Ereignis bis ins kleinste Detail zu erfragen, sondern vielmehr darin, das Erleben einer Gemeinschaft über einen sehr langen Zeitraum und damit das Selbst-Verständnis der Gruppe zu erkennen. Hierzu sei die ameri14 Vgl. hierzu die Biografie über Walter S. im Packbuch, S. 43–45.

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kanische Historikerin Barbara Tuchman zitiert, die sich dieser Schwierigkeit bei freien Interviews ebenfalls gewidmet hat und darin kein Problem sieht: „Taking notes of an interview, like taking notes on reading, is a crystallizing process which is part of the writer’s business. You are practicing the essential function of the historian – distinguishing the significant from the unsignificant – as you go along.“15 Zwei weitere Dinge sind zu beachten, die den Rahmen des Gesprächs sowie die Erinnerung und Wahrnehmung betreffen. Das aus dem Englischen übernommene Wort „Setting“ trifft hier den Kern. Zunächst muss das Setting der Gesprächssituation aus dem Blickwinkel des zu Befragenden analysiert werden, d. h., es ist danach zu fragen, in welcher Lebenssituation er sich heute befindet – dies impliziert seine ökonomischen und sozialen Verhältnisse –, wie stark die Ereignisse, über die er reden soll, ihn zu seiner heutigen Lebenssituation geführt haben und wie weit sie für sein heutiges Setting verantwortlich sind. Zweitens muss das Setting des Interviews betrachtet werden. Wo wird es geführt, also die Frage nach dem Ort, wie wird es geführt, wird es auf Band aufgenommen, vielleicht sogar gefilmt, hat der Befragte die Fragen schon vorab erhalten, ist es das erste Interview oder eines von mehreren, ist es ein Einzelgespräch oder mit mehreren Befragten gleichzeitig, was weiß der zu Befragende über das Forschungsprojekt, inwieweit ist er eingebunden in dieses Projekt? Hat er schon in andern Zusammenhängen über die Ereignisse berichtet,16 ist er also erfahren in Interviewsituationen? Kennt er den Interviewer bereits eine längere Zeit, arbeitet möglicherweise mit ihm zusammen am Projekt?17 Allein schon diese Auswahl an Fragen macht das größte Problem der OralHistory-Interviews bis heute deutlich, dass nämlich die Fragen bereits den Problemaufriss intendieren und die „richtigen“ Antworten suggerieren. Die scharfe Kritik, die an der Oral History geübt wurde und noch immer geübt wird, hat daher ihren Kern in dem Vorwurf, Historiker würden sich ihre Quellen durch 15 Barbara Tuchman: Distinguishing the Significant from the Insignificant, in: Dunaway/Baum, 1996, S.  97. Reprint des Originalartikels aus dem Jahr 1972 mit einem kurzen Vorwort der Herausgeberinnen. 16 Hier besteht immer die Gefahr der stereotypen Wiederholung des bereits Gesagten, was nur von einem gut vorbereiteten Interviewer durchbrochen werden kann, der zum einen die Lebensgeschichte kennt, zum anderen auch diese Wiederholungsmuster kennt und erkennt. 17 Eine der besten Zusammenfassungen dieser Fragen und daneben auch eine brillante Analyse der Oral History findet sich in einem Artikel von Linda Shopes, die seit über 30  Jahren an Oral-History-Projekten arbeitet: Linda Shopes: Making Sense of Oral History, in: History Matters: The U.S. Survey Course on the Web, Februar 2002, http://historymatters.gmu.edu/mse/oral/.

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Oral History selbst produzieren, indem sie durch suggestive Fragen die für ihre Thesen passenden Antworten erhielten. Diesem Vorwurf muss sich auch das vorliegende Forschungsprojekt stellen. Am Ende der Arbeit wird hierauf noch einmal eingegangen. Eine Erkenntnis aus den Debatten über diesen Vorwurf ist die Forderung, dass, da Oral-History-Interviews nicht in einem „sterilen“ Rahmen stattfänden, die Gesprächssituation, das „Setting“, neu angeschaut und damit auch in den Erkenntnisprozess stärker mit einbezogen werden müsste. Forscher und Erforschte sind an einem gemeinsamen Gespräch beteiligt,18 das sie beide gestalten. Aber es ist nicht nur diese Gesprächssituation, es sind die Vorgeschichte, das eigentliche Gespräch, die Nachbearbeitung und eventuell ein zweites Gespräch, die aus dem Gespräch einen längeren kommunikativen Prozess machen.19 Und im Verlaufe dieses kommunikativen Prozesses baut sich eine Beziehung zwischen Frager und Befragtem auf, das Ergebnis am Ende ist ein Produkt konkreter sozialer Interaktion.20 Der Aufbau einer solchen Beziehung, also eine soziale Interaktion, beginnt in Oral-History-Projekten sehr häufig schon bei der Kontaktaufnahme mit den zu Befragenden. „Ich glaub’ nicht, das ich was Wichtiges zu erzählen hab’“,21 ist wohl bei den meisten Oral-History-Projekten die erste Antwort, die die zu Befragenden auf das Ansinnen des Forschers geben. Es ist notwendig, die Personen davon zu überzeugen, dass sie nicht nur etwas zu erzählen haben, sondern dass es auch etwas Wichtiges ist. Dazu müssen den zu Befragenden die Gründe für das Interview dargelegt werden, die Gründe, warum gerade sie zu diesem Projekt beitragen können. Hier wird die als im geschichtlichen Sinne unwichtig empfundene Lebensgeschichte in den Rang einer Geschichte erhoben, was für viele Menschen etwas völlig Neues ist und sie meistens das erste Mal mit Forschern und Forscherinnen einer Universität in Verbindung bringt. Um genau dieses Gefälle aufzuheben und die zu Befragenden dazu zu bringen, von sich zu erzählen und nicht einem vermeintlichen universitären Anspruch genügen zu wollen, bedarf es einer Beziehung zwischen Frager und Befragten, wobei Beziehung hier vor allem Vertrauensbasis bedeutet. Könnte über eine 18 Vgl. Spuhler, 1994, S. 9. 19 Vgl. Kury, 1998, S. 93 20 Vgl. Martin Schaffner: Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie, 6, 1998, S. 62. 21 Karen Hagemann: „Ich glaub’ nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab’...“ Oral History und historische Frauenforschung, in: Herwart Vorländer (Hrsg.), Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, S. 29.

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solche „Beziehung“ ein neuer methodischer Ansatz für die Oral History definiert werden, der sich aus der Arbeit mit dem Pack ableiten ließe?

Teilnehmende Beobachtung und Oral History Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Methoden, um Daten für Untersuchungen zu erheben. Ein erster Unterschied liegt zwischen den quantitativen und den qualitativen Methoden der Datenerhebung. Von einer, grob gesagt, quantitativen Methode spricht man bei einer streng standardisierten, statistisch basierten Untersuchung, von qualitativer Methode bei eher offenen Verfahren, z. B. Beobachtungen und halbstandardisierten Interviews. Für das vorliegende Projekt wurde die qualitative Datenerhebung gewählt, wie im Laufe des Kapitels dargestellt und begründet wird. In dieser Methode spielt die Beobachtung eine wichtige Rolle. Jürgen Bortz und Nicola Döring definieren Beobachtung wie folgt: „Beobachtung im engeren Sinne nennen wir das Sammeln von Erfahrungen in einem nichtkommunikativen Prozess mit Hilfe sämtlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten. Im Vergleich zur Alltagsbeobachtung ist wissenschaftliche Beobachtung stärker zielgerichtet und methodisch kontrolliert […].“22 Bortz und Döring weisen auf die Vorteile der Beobachtung hin, die gerade dann zum Tragen kommen, wenn standardisierte Verfahren nicht zum Ziel führen oder das Untersuchungsergebnis verfälschen könnten. Trotzdem listen sie die Beobachtung als Methode auf, die zwar qualitativer Natur ist, aber auch quantitative Daten liefern kann. Beobachten hat sehr viel mit visueller Wahrnehmung und der Frage zu tun, was und wie wahrgenommen wird. Damit ist die Tatsache verbunden, dass jedes Beobachten bedeutet, dass die Beobachter eine Entscheidung treffen, was sie ins Zentrum ihrer Bobachtung stellen wollen.23 Damit sind verschiedene Beobachtungen möglich, z. B. offene oder verdeckte Beobachtung, Feldbeobachtung oder Beobachtung im Labor, unstrukturierte oder strukturierte Beobachtung sowie Fremdbeobachtung oder Selbstbeobachtung.24 Für die Feldbe22 Jürgen Bortz und Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation für Humanund Sozialwissenschaftler, 4., überarbeitete Auflage, Heidelberg, 2006, S. 262. 23 Vgl. Bortz/Döring, 2006, S. 262f. 24 Vgl. hierzu neben Bortz/Döring, 2006 u. a. Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung. Band 2: Methoden und Techniken, Weinheim 1995; Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung – Ein Handbuch, Hamburg 2000.

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obachtung oder auch Feldforschung25 sind die „teilnehmende Beobachtung“ und die „nicht teilnehmende Beobachtung“ die wichtigsten Instrumentarien. Die teilnehmende Beobachtung schreibt dem Beobachter eine aktive Rolle im Sozialfeld der zu beobachtenden Person zu, er nimmt also aktiv teil und beobachtet gleichzeitig. Handelt es sich nur um eine Beobachtung ohne aktive Rolle, spricht man von nicht teilnehmender Beobachtung. Die teilnehmende Beobachtung zeichnet sich durch einen sehr geringen Grad an Systematisierung aus, was dieser Beobachtungsform und der damit verbundenen Form des freien, ungeplanten Interviews den Vorwurf der Nichtwissenschaftlichkeit eingebracht hat. In einem vehementen Plädoyer spricht sich der österreichische Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler für die teilnehmende Beobachtung und das freie Interview, die er unter den Oberbegriff der „freien Feldforschung“ stellt, als die einzige Form aus, in der sich ein Forscher dem Handeln und den Motiven der Handelnden nähern, in ihre Lebenswelt eintauchen kann. Girtler lehnt seinen Lebensweltbegriff an Alfred Schütz an, um so überhaupt in der Lage zu sein, zu interpretieren, was mit den Daten rein quantitativer Methoden nicht möglich sei.26 Oder wie es sehr viel prosaischer bei einem der Vorreiter der Feldforschung, nämlich Bronislaw Malinowski, schon 1922 heißt: Um zu verstehen, sei es manchmal eben nötig „to put aside the camera, notebook and pencil and to join […] in what is going on“.27 Girtler nennt die teilnehmende Beobachtung schlicht die „Königsmethode der Sozialbzw. Kulturwissenschaft“.28 Dass die teilnehmende Beobachtung nicht nur als 25 Für den Bereich der Feldforschung vgl. die immer noch herausragende Aufsatzsammlung „Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse“, hrsg. von Utz Jeggle, Tübingen 1984, darin vor allem zwei Aufsätze von Utz Jeggle selbst: „Zur Geschichte der Feldforschung in der Volkskunde“ sowie „Verständigungsschwierigkeiten im Feld“. 26 Vgl. Roland Girtler: Die „teilnehmende unstrukturierte Beobachtung“ – ihr Vorteil bei der Erforschung des sozialen Handelns und des in ihr enthaltenen Sinns, in: Reiner Aster, Hans Merkensen und Michael Repp (Hrsg.), Teilnehmende Beobachtung. Werkstattberichte und methodologische Reflexionen, Frankfurt/ Main, New York 1989, S.  103–113. Verwiesen sei im Zusammenhang mit der Feldforschung auch auf folgende Veröffentlichungen Roland Girtlers: Methoden der Feldforschung, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Wien 2001 sowie: Die 10 Gebote der Feldforschung, Wien 2004. 27 Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea, London 1922, S. 20f. 28 Girtler, 1989, S. 104.

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unwissenschaftlich verpönt ist, sondern auch für die Feldforscher und Feldforscherinnen sehr schwierig sein kann, zeigen Lynne Hume und Jane Mulcock an selbst erlebten Situationen während ihrer wissenschaftlichen Arbeit im Feld.29 Im vorliegenden Forschungsprojekt kam die teilnehmende Beobachtung zur Anwendung. Dass es sich allerdings um eine Mischform handelt, wird im Verlauf des Kapitels deutlich werden. Aufgrund der teilnehmenden Beobachtung wurde in den Gesprächen mit den Packmitgliedern hauptsächlich die Methode des freien Interviews gewählt, die von der teilnehmenden Beobachtung ergänzt wird. Neben der Beobachtungsform und der Interviewtechnik, die sich im Laufe einer Oral-History-Arbeit auch verändern kann30 und auf die an anderer Stelle näher eingegangen werden soll, ist noch ein weiterer Faktor zu nennen, der Oral History von anderen Quellen unterscheidet: die nonverbale Kommunikation. Verbale Kommunikation wird als der Austausch über das Medium der Sprache definiert, nonverbale Kommunikation als der Austausch über Mimik, Gesten und andere visuelle Symbole. Paul Watzlawick hat den Kern einer jeden Kommunikation auf den Punkt gebracht: „Wir können nicht nicht kommunizieren. Kommunikation findet immer statt […].“ Und gemünzt auf die nonverbale Kommunikation heißt es bei Watzlawick weiter: „Unser Körper verrät uns.“31 Selbstverständlich findet auch zwischen Frager und Befragtem in einem Interview eine nonverbale Kommunikation statt. Diese kann mithilfe von Videoaufnahmen festgehalten werden, doch der Erkenntniswert für die historische Forschung32 scheint noch nicht erkannt worden zu sein, was, wie Karen Hagemann schreibt, daran liegen könnte, dass diese Kommunikation „schwer 29 Vgl. Lynne Hume und Jane Mulcock: Introduction: Awkward Spaces, Productive Places, in: dies. (Hrsg.), Anthropologists in the Field. Cases in Participant Observation, New York 2004, S. XI–XXVII. 30 Vgl. hierzu Gabriele Rosenthal: „... wenn alles in Scherben fällt...“. Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration, Opladen 1987 und dies.: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt/Main, New York 1995. 31 Watzlawick, zitiert in „Definition nonverbale Kommunikation“, www.nonverbalekommunikation.info/definition. 32 Utz Jeggle beschreibt schon 1984 die Wichtigkeit des Entschlüsselns der nonverbalen Kommunikation für die Volkskunde: „Der Kulturforscher will im Unterschied zum Linguisten nicht nur wissen, was der Mund sagt, sondern auch wie der Mundwinkel ein Fragezeichen setzt und das Auge die Aussage kommentiert.“ Utz Jeggle: Verständigungsschwierigkeiten im Feld, in: ders., 1984, S. 93.

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zu erfassen“33 sei. Dies erscheint angesichts der Fülle an Literatur und Arbeiten über nonverbale Kommunikation nicht stichhaltig. Ein praktisches Beispiel aus dem vorliegenden Projekt soll erläutern, wie nonverbale Kommunikation angewendet und interpretiert wurde. Im Gespräch mit Züsy und Daniel G. wurde auch die Geschichte von Marcel Ba. angeschnitten, aber mit Worten nur kurz behandelt. Die nonverbale Kommunikation, die sich durch eine abdrehende Bewegung des Kopfes und eine „wegwerfende“ Handbewegung bei Daniel G. zeigte, war jedoch eindeutig. Sie signalisierte ein Unbehagen bis hin zur Ablehnung – Unbehagen, weil Ba. einer aus dem Pack war, Ablehnung, weil man ihn ausschließen musste.34 Im Bereich nonverbale Kommunikation offenbart die Geschichtswissenschaft, die mit Oral-History-Methoden arbeitete, noch Nachholbedarf in der Hermeneutik. Im Gegensatz zur nonverbalen Kommunikation erscheint die verbale Kommunikation für die wissenschaftliche Analyse eindeutig. Es gibt einen definierten Zeichensatz, dessen Auswertung allen zugänglich ist, man muss „nur“ die Sprache verstehen. Doch gerade hier tun sich wieder Schwierigkeiten auf, denn auch die verbale Kommunikation kann mit versteckten Zeichen, kodierten Zeichen und elaborierten Zeichen arbeiten. Diese müssen aufgeschlüsselt werden, um die Sinngebung dahinter zu erkennen.35 Dies bezieht sich aber nicht nur auf einzelne Worte und Ausdrucksformen, sondern geht sehr viel tiefer in den lebensweltlichen Bereich hinein. Der Begriff des „Schabbat“ ist nicht nur die Bezeichnung für den wöchentlichen Feiertag des Judentums, dahinter steht ein ganzes Konzept, dessen sich die Forscherinnen und Forscher bewusst sein müssen, da sie ansonsten die Sinngebung des Begriffs Schabbat nicht erkennen können. Nonverbale Kommunikation muss ebenfalls aufgeschlüsselt werden, nur ist dies bisher ein Feld der Psychologie und hat sich nicht als Kategorie in der Oral-History-Forschung durchgesetzt. Es ist auch mit der besten methodischen Ausbildung oft schwer zu erkennen, was bestimmte Gesten, Handbewegungen meinen, was die ganz allgemeine Körpersprache eines Menschen meint, sieht man einmal von den allgemeinen Erkenntnissen ab.36 33 Hagemann, 1990, S. 39. 34 Gespräch mit Züsy und Daniel G. am 12.3.2001. 35 Die Missverständnisse zwischen Deutschen und Schweizern über die Sprache sind Legion und können hier als allgemeines Beispiel angeführt werden. So ist im schweizerdeutschen Dialekt eine „Pfanne“ das, was im Schriftdeutschen ein „Kochtopf“ ist. 36 So wird z.  B. der Griff an die Nase gemeinhin als Zeichen der Unsicherheit interpretiert. Um diese Zeichen entschlüsseln zu können, müsste die Geschichtswissenschaft Anleihen bei der Psychologie nehmen. Erste Ansätze sind bereits

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Es bedarf also einer noch genaueren Untersuchung der Kommunikation, um diese Zeichen entschlüsseln zu können. Gerade für den Bereich der Oral History erscheint dies aber vielversprechend. Die Ausbildung in der Ethnologie, der Geschichtswissenschaft, der Kulturwissenschaft, der Kulturanthropologie lässt die psychologische Dimension meist vermissen, was in Oral-History-Projekten besonders schmerzlich ist. Man muss nicht ein Anhänger der Psychohistorie sein, um zu erkennen, dass die Kenntnis der menschlichen Psyche und vor allem das Einbeziehen der menschlichen Psyche in die geisteswissenschaftlichen Analysen ein Desiderat ist, das aber nur mit einer sehr guten Ausbildung in diesem Bereich überwunden werden kann. Psychologische oder psychoanalytische „Halbbildung“ hilft hier nicht weiter.37 Ein Kritikpunkt an den Oral-History-Projekten ist die Frage, wie die Quellen zustande kommen. Forscher und Erforschte sind daran gleichermaßen beteiligt; es handelt sich um einen bereits beschriebenen Prozess sozialer Interaktion. Dies entbehrt nicht einer großen Problematik, denn es sind Willkür und Manipulation bis hin zu Fälschungen Tür und Tor geöffnet. Der Historiker könnte sich seine Quelle vollständig selbst gestalten, die Fragen entsprechend formulieren, die Interviewpartner entsprechend aussuchen und so das ganze Projekt auf das von ihm gewünschte Ergebnis hin ausrichten.38 Dass es diese Möglichkeit gibt, ist nicht von der Hand zu weisen, aber sie steckt im Prinzip in jeder historischen Forschungsarbeit. Denn auch jede schriftliche Quelle bietet die Möglichkeit zu Manipulationen durch gezieltes Auswählen der Quellenzitate, das Unterschlagen der den eigenen Thesen nicht genehmen Textstellen etc. Zwar erscheint die Gefahr der Manipulation in Oral-HistoryProjekten offensichtlicher, aber die Beteiligung der Forscher an diesem Prozess einer sozialen Interaktion kann auch als Chance verstanden werden, tiefer in eine Materie einzudringen und nachzufragen. Dieses Nachfragen dient nicht als Steuerungselement im Gespräch, d. h., es soll nicht eine der eigenen These entsprechende Aussage provozieren, sondern es soll auf der einen Seite die Wahrnehmung des Befragten herauszuheben, also das, was er für wichtig hält, auf der anderen Seite aber die Dinge ansprechen, die der Forscher für wichtig hält.39 gemacht in Forschungsarbeiten über die Gestik der Redner während der Phase des Faschismus in Europa. 37 Ich persönlich halte eine Zusatzausbildung in Psychologie und Psychoanalyse vor allem im Bereich der Geschichtswissenschaft für dringend erforderlich. 38 Worauf Schaffner in seinem Beispiel von 1844 bereits explizit hinweist. Vgl. Schaffner 1998, S. 65. 39 Vgl. in diesem Sinne Kury, 1998, S. 112.

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Um dem Vorwurf, die Quellen selbst „produziert“ zu haben, entgegenzutreten, muss der Forscher im Interview und in der anschließenden Auswertung deutlich machen, wo er sich in diesem Prozess befindet; er muss in der Lage sein, seine Position und seine Beteiligung an der „Quellenproduktion“ offenzulegen, sich damit auch gleichzeitig zu hinterfragen und als Beobachter und Analyst außerhalb des Projekts zu stellen. Dieser Aspekt wird im folgenden Kapitel noch ausführlich behandelt. Die Protokolle der freien Interviews bilden das schriftliche Quellenmaterial, das einer quellenkritischen Auswertung unterzogen werden muss. So schreibt Linda Shopes, stellvertretend für die Oral-History-Exponenten: „As with any source, historians must exercise critical judgement when using interviews […].“40 Dass zumindest am Anfang der Oral-History-Projekte, auch in Deutschland, die Faszination über das gewonnene Material den geforderten quellenkritischen Blick in den Hintergrund drängte, schließt dies nicht aus. Barbara Tuchman weist deshalb in einem bereits 1972 veröffentlichen Artikel darauf hin, dass man nicht das Sammeln von Daten mit Geschichtsschreibung verwechseln solle.41 Inwieweit ist diese kurze Einführung in teilnehmende Beobachtung und Oral History mit dem vorliegenden Projekt in Zusammenhang zu bringen? Im Mittelpunkt des Projekts stehen die Menschen, die das Pack gebildet haben, ihre Lebenswelten, ihre Biografien in den Jahren zwischen der Mitte der 1920er-Jahre bis heute. Das Pack offenbart dabei einige Besonderheiten, die dieses Projekt von anderen Oral-History-Arbeiten abheben. So lässt sich die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz nicht in eine Klassenstruktur einordnen, sondern in einer Parallelstruktur, die allerdings nicht als Parallelwelt missverstanden werden darf, die eher mit dem Begriff der Gesellschaftsschichten beschrieben werden kann. Es gibt Arbeiter, Angestellte, Beamte, Akademiker, Unternehmer, sie sind Teil der Schweizer Gesellschaft, scheinen aber doch auf eine schwer zu fassende Weise nicht dazuzugehören. Aber wie kann jemand nicht dazugehören, der so offensichtlich Teil der Gesellschaft ist? Dieses Phänomen tauchte in den Aussagen der Packmitglieder regelmäßig auf. Daher möchte ich den von Patrick Kury eingeführten Begriff der „Geschichte von nebenan“42 übernehmen. Juden und Jüdinnen in der Schweiz, in diesem Falle in Zürich, sind die Nachbarn, sind Teil der Gesellschaft, sie sind nebenan, im

40 Shopes, 2002, S. 5. 41 Tuchman (1972), in: Dunaway/Baum, 1996, S. 94–98. 42 Kury, 1998, S. 95.

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gleichen Haus, aber – um diese Metapher weiterzuführen – ins Wohnzimmer der Gesellschaft dürfen sie nicht oder nur zeitweise. Entgegen der häufig bei Oral-History-Projekten anzutreffenden Sprachund Schriftlosigkeit der zu untersuchenden Gruppe oder Person lag im Falle des Packs bereits eine Memoirensammlung in hektografierter Form vor, die 1994 veröffentlicht wurde. Auslöser war ein Treffen des Packs im Jahre 1990, auf dem Robert B. in einem Schiur den Wochenabschnitt der Thora über das Jubeljahr behandelte und dies mit der zweiten Generalmobilmachung in der Schweiz 1940 in Verbindung brachte. Der Blick zurück sei Anlass zur Dankbarkeit, die Zeit des Zweiten Weltkriegs persönlich unbeschadet überstanden zu haben. Der Grund für diesen Sammelband nach der Ansprache Robert B.s war das Bedürfnis der Gruppe, über die Vergangenheit nicht nur nachzudenken, sondern die Erfahrungen weiterzugeben an die Nachkommen, aber auch an andere Interessierte.43 Aber es konnte nicht einfach ein Memoirenbuch der Einzelnen sein, denn die einzelnen Biografien standen auch als Basis für das Pack, bildeten die Grundlage dafür, dass es diese Gruppe eine solch lange Zeit schon gab. Das Memoirenbuch sollte also das Leben der einzelnen Mitglieder der Nachwelt erzählen, vielleicht erklären, jedenfalls im Bewusstsein erhalten und zeigen, wie sie sich im Pack verorten, wie sie das Pack gestalten, wie sie das Pack sind. Dieses Bewusstsein, seine eigene Biografie für die Nachwelt erhalten zu wollen, und der Umstand, dies vor allem selbst zu tun, sind untypisch für den Beginn von Oral-History-Projekten. Nach der Lektüre des Buchs habe ich mit Mitgliedern des Packs Kontakt aufgenommen, um ihnen meine Projektidee zu erläutern und sie um ihr Einverständnis zu bitten, über das Pack arbeiten und Interviews mit ihnen machen zu dürfen. Hierbei zeigte sich nun die vorher beschriebene Notwendigkeit eines Beziehungsaufbaus, um ein solches Projekt mit den Mitgliedern überhaupt durchführen zu können, das sich als Form sozialer Interaktion bezeichnen lässt und mich in eine Rolle zwischen Oral Historian und einem teilnehmenden Beobachter brachte. Hiermit und mit der Frage nach den „Beziehungen“ zwischen Interviewer und Befragten sowie dem daraus entwickelten neuen methodischen Ansatz der Oral History beschäftigt sich das nächste Kapitel.

43 Vgl. Packbuch, S. 2ff.

7. Der Historiker als Beobachter – Selbstreflexionen In einer 2001 erschienen Publikation hat Joachim Schlör seine „Erkundungen im deutsch-jüdischen Feld“ mit dem Titel „What am I doing here?“1 überschrieben und in diesen Artikel auch einige sehr persönliche Bemerkungen zu seiner Arbeit einfließen lassen. Sein Text ist ein Lehrstück selbstreflexiver Auseinandersetzung über das eigene wissenschaftliche Thema. In dieser Spur der Reflexion möchte ich mich auf den nächsten Seiten ebenfalls bewegen.2 Aber mit Blick auf die vorliegende Untersuchung über das Pack möchte ich Schlörs Frage noch ergänzen, nämlich um: „Who will believe me and is it academic at all?“ Die Arbeit mit den Mitgliedern des Packs hat sich von anderen Projekten, die teilnehmende Beobachtung und Oral History einsetzen, unterschieden, auch wenn beide Methoden, wie in den vorhergehenden zwei Abschnitten beschrieben, als Grundlage meiner Feldforschung dienen können. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, ist eine detaillierte Beschreibung meines Vorgehens erforderlich. Nachdem ich das Packbuch gelesen hatte, nahm ich Ende 1999 mit Robert B. Kontakt auf, der mir als Ansprechperson empfohlen worden war, um mich mit ihm zu treffen und ihm mein Forschungsprojekt zu erläutern. Zu diesem Zeitpunkt war Robert B. aber schon schwer erkrankt und lehnte mein Ansinnen ab. Ich wandte mich dann an Juliette B., die bis heute meine Ansprechpartnerin für das Pack geblieben ist. Juliette B. war damals eine Art informelle Leiterin des Packs und ebnete mir den Weg, sodass ich am 10. Februar 2000 an einem Packabend teilnehmen konnte. Die Mitglieder des Packs 1 Joachim Schlör: What am I doing here? Erkundungen im deutsch-jüdischen Feld, in: Katharina Eisch und Marion Hamm (Hrsg.), Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse, Tübingen 2001, S. 89–109. 2 Dass es im Bereich der Selbstreflexion nur wenige Texte gibt, die diesen Anspruch auch wirklich erfüllen, zeigt exemplarisch der folgende Aufsatz: Arthur Mitzman: Historische Identität und die Identität des Historikers, in: Psyche, XLVI (9), 1992, S.  847–873. Die ansonsten immer sehr guten Aufsätze in der „Psyche“ und die Ankündigung, den Zusammenhang zwischen Identität der historischen Subjekte und der Identität des Historikers zu untersuchen, haben mich sehr neugierig auf den Aufsatz gemacht. Doch enttäuscht der Artikel in dieser Hinsicht völlig; er ist zwar eine schöne Sammlung unterschiedlicher Identitätszugänge und bringt ein interessantes Beispiel aus der Forschungspraxis Mitzmans (Briefwechsel des Schwiegersohns von Jules Michelet mit einem Jugendfreund), aber Reflexionen über den Zusammenhang mit seiner eigenen Identität bleibt Mitzman schuldig.

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trafen sich in dieser Zeit in unregelmäßigen Abständen zu einem Abendessen im Restaurant Shalom im Gemeindehaus der ICZ. Diese Packabende waren seit einiger Zeit die einzigen Veranstaltungen, die die Mitglieder noch zusammenführten. Die Gesundheit der meisten war zu sehr angegriffen, um größere Aktivitäten gemeinsam zu unternehmen. An diesem Abend habe ich mich vorgestellt und mein Projekt erläutert. Die Gruppe zeigte sich zunächst sehr skeptisch, da sie sich zum einen nicht als Objekt historischer Forschung sah, zum anderen wollten sie sich nicht in die Öffentlichkeit gestellt sehen. Die Gruppe wurde dann aber unter anderem von Suzanne  D. überzeugt, die mir schon zu dem ersten Treffen ein Buch über „Lebenswelt“ mitbrachte und sich im Laufe des Projekts immer stärker für den wissenschaftlich-theoretischen Hintergrund interessierte. Während des Abends habe ich einige sehr kurze Einzelgespräche führen können, unter anderem mit Sigi R., den ich gerne noch ausführlicher befragt hätte. Er ist leider kurz nach diesem Abend verstorben. Der Beschluss der Gruppe, an diesem Projekt mitzuarbeiten, wurde allerdings mit einer Bedingung verbunden: Man wollte unter keinen Umständen Tonbandoder Videoaufnahmen der Interviews haben, da die Mitglieder befürchteten, sich in einer „Verhörsituation“ wiederzufinden. Mit dieser Bedingung war ich einverstanden, auch wenn es klar war, dass dadurch eine Conditio sine qua non der modernen Oral History, nämlich das Aufzeichnen der Interviews, nicht mehr erfüllt werden konnte. Oft waren auch Gesprächsprotokolle nicht möglich, weil sich die Gespräche3 entweder beim Essen oder auch beim Autofahren abspielten. Wir schon erwähnt, war meine Gesprächsführung sehr situationsabhängig. Je weiter ich mich in die Geschichte des Packs eingearbeitet hatte, desto detaillierter konnte ich zwar nachfragen, aber ich habe den Erzählfluss meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nur selten unterbrochen. Im Anschluss an den Abend im Shalom habe ich zunächst mit Juliette B. und Suzanne D. weitere Gespräche geführt, die sich aber nicht explizit um das Pack drehten, sondern um mich als Historiker, um meine Herkunft, warum ich mich für das Thema jüdische Geschichte interessiere, was mein eigener religiöser Hintergrund sei und wie viel ich vom Judentum wisse. Ich möchte diese Phase als „vertrauensbildende Maßnahmen“ bezeichnen. Sie war nötig, da sich nach meiner ersten Vorstellung im Restaurant Shalom meine Biografie 2000/2001 für die Packmitglieder als zumindest überraschend darstellte: Ich wurde in Deutschland geboren, bin nicht jüdisch, habe mich aber schon in der Schulzeit für Geschichte und dabei auch für jüdische Geschichte begeis3 Ich werde im Lauf des Kapitels noch erklären, warum ich den Begriff „Interview“ durch „Gespräch“ ersetzt habe.

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tert. Meine Magisterarbeit wie auch meine Doktorarbeit beschäftigten sich mit Themen der jüdischen Geschichte. Dazu habe ich Ivrit gelernt, lange in Israel gelebt und bin mit der jüdischen Religion sehr vertraut. Ich arbeite zeitweise für den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und gehöre als einzige nicht jüdische Person zum Leitungsteam des Jugendprojekts „Likrat“. Dieses Projekt gibt es auch in Deutschland, und dort bin ich ebenfalls Mitglied des Leitungsteams. Von 1994 bis 1997 habe ich am Projekt „100 Jahre Erster Zionistenkongress“ der Universität Basel gearbeitet, seit dem 1. Oktober 1998 bin ich Assistent am Institut für Jüdische Studien und dort für den Bereich Geschichte zuständig. Damit verbunden sind immer wieder Workshops und Vorträge zum Thema des Nahostkonflikts; dabei habe ich zum Teil mehrfach für die jüdischen Gemeinden in Basel, Zürich (ICZ und Or Chadash), Bern, Baden, Biel und St. Gallen gearbeitet. Für Juliette B., Suzanne D. und die weiteren Packmitglieder, die ich bei den weiteren Treffen stets sehr ausführlich über das Projekt, mein wissenschaftliches Interesse und meinen persönlichen Hintergrund informiert habe, war meine Biografie zunächst schwer zu verstehen, was sich in sehr vielen Nachfragen äußerte. Im Laufe der Zeit lernten mich die Packmitglieder näher kennen und konnten dann auch meine Biografie und mein wissenschaftliches Interesse besser einordnen. Dieses langsame Kennenlernen hat nach meiner Ansicht entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen. Das aus dem Kennenlernen resultierende Vertrauen zeigte sich daran, dass die Packmitglieder mir mit großer Freude, ausführlich und ohne jedes Tabu über sich erzählten. Hierzu trafen wir uns entweder bei Ausflügen zu einem „Z’vieri“4 auf dem Zürich-Berg, zum Mittag- oder Nachtessen oder einfach zu einem Gespräch bei Kaffee und Kuchen in den Wohnungen der Packmitglieder. Die Gespräche fanden entweder mit nur einem Mitglied statt oder auch mit zweien. Ein Gespräch führte ich mit dem Ehepaar Daniel und Züsy G. Wie sehr den Packmitgliedern die Treffen mit mir ans Herzen gewachsen waren und wie wichtig sie selbst das Projekt einschätzten, zeigte sich bei meinem Gespräch mit Walter U. Zu dieser Zeit war Walter U. bereits im Altenheim „Sikna“ untergebracht und fast taub. Juliette B. und Suzanne D. haben mich vom Bahnhof Zürich (ich kam aus Basel) abgeholt, sind mit der Tram mit mir zur Sikna gefahren, haben in der Eingangshalle auf mich gewartet und sind nachher wieder mit mir zum Bahnhof gefahren. Bei solchen Gelegenheiten kam es immer wieder zu spontanen, dann aber intensiven Gesprächen über 4 Im Schweizerdeutsch für eine mit einer Zwischenmahlzeit verbundene Pause am Nachmittag.

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das Pack. Die direkte Zusammenarbeit mit den Packmitgliedern dauerte von 2001 bis 2007. Dabei entwickelte sich eine schöne Freundschaft zu Juliette B., Suzanne D. und Vera Gr., aber ich musste auch erleben, dass Packmitglieder ins Altenheim umziehen mussten, manchmal schwer erkrankten, wobei auch Demenzerkrankungen auftraten. Am Ende der Untersuchung habe ich also einige Gespräche im „Hugo Mendel Heim“ durchgeführt. Dies ging so weit, dass eine der Betreuerinnen Juliette B. fragte, ob ich denn ihr Enkel sei. Die von Vertrauen und Freude am Erzählen geprägten Treffen verloren schnell den Charakter der Situation „Wissenschaftler interviewt Zeitzeugen“. Daher möchte ich in diesem Zusammenhang auch nicht von Interviews, sondern von Gesprächen reden. Ich habe während des gesamten Projekts keine klassischen Interviews durchgeführt, vielmehr habe ich mich auf einen Austausch mit den Packmitgliedern eingelassen. In diesem Austausch spielte auch meine Person eine wichtige Rolle, denn sehr häufig wurden Erzählungen über das Pack mit Fragen an mein Erleben, an meine Jugend verknüpft, um dadurch Verbindungen einzelner Geschichten herzustellen. So wurden die Rallyefahrten ausgiebig diskutiert, und da ich selbst sehr gerne Auto fahre, gab es einen Anknüpfungspunkt, der sich dadurch fortsetzte, dass wir auch kleinere Ausflüge mit dem Auto unternahmen, in gewisser Weise diese Freude am Autofahren teilten. In diesen Gesprächen, in diesem Austausch wurden mir sehr viele Details über das Pack erzählt, die so weder im Packbuch noch in anderen Quellen auftauchen. Doch manchmal waren es gerade diese Details, die bestimmte Vorgänge zu erklären vermochten und mir einen tiefen Einblick in die Struktur des Packs und die Lebenswelt seiner Mitglieder erlaubten. Ohne diese Details hätte ich das „Funktionieren“ des Packs nicht verstanden. Aber diese Details waren nicht für die Veröffentlichung bestimmt, im Gegenteil, sie wurden mir nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit erzählt. Dass sie mir trotzdem erzählt wurden, erachte ich als weiteres Zeichen des Vertrauens der Packmitglieder. Doch wie ist mit solchen Informationen umzugehen? Soll man sie in Fußnoten andeuten? Soll man sie überhaupt verwenden? Kann man sie weglassen, aber trotzdem einen Sachverhalt glaubwürdig erklären? Diese Fragen deuten den größeren Problemzusammenhang an, der sich aus der kurzen Beschreibung der Arbeit mit dem Pack ergibt, denn es wird aus dem Gesagten deutlich, dass die Bedingungen einer Oral-History-Untersuchung, aber auch einer teilnehmenden Beobachtung nicht exakt erfüllt sind. Ich habe auch nicht den Alltag der Packmitglieder länger begleitet, wie das bei einer teilnehmenden Beobachtung eigentlich nötig gewesen wäre, ich habe die Packmitglieder nur im Umfeld des Packs begleitet. Dabei war ich maßgeblich an einer Zusam-

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menführung der Packmitglieder mit Kindern und Enkelkindern der anderen Packmitglieder beteiligt, die am 7. Januar 2007 in Zürich anlässlich der Buchvernissage einer Publikation, in der ein erster Artikel über das Pack veröffentlich wurde, stattfand.5 Viele der Nachkommen der Packmitglieder hatten sich zum Teil Jahrzehnte nicht gesehen, was dem Anlass neben dem wissenschaftlichen Rahmen auch einen sehr privaten Charakter gab. Den Entwurf für den 2007 veröffentlichten Text habe ich den Packmitgliedern Juliette B., Suzanne D. und Vera Gr. vorgelegt und sie um ein kritisches Lesen gebeten. Dies haben sie getan und mir eine große Zustimmung signalisiert, wenn es über einzelne Analysen auch unterschiedliche Meinungen gab. Diese Anregungen habe ich mit ihnen diskutiert und daraufhin im Text die Argumentation der jeweils strittigen These schärfer gefasst. Aber auch diese Absicherungen habe ich nicht schriftlich festgehalten, da sie wiederum in Gesprächen entwickelt wurden. Hierbei war es mir wichtig, den drei Packmitgliedern zu zeigen, wie ich zu meinen Erkenntnissen über ihre Gruppe gekommen bin, welche Schlüsse ich aus welchem Material gezogen habe. Diese Diskussionen hatten für mich einen wichtigen Stellenwert innerhalb meines eigenen Erkenntnisprozesses, da ich mich im Austausch vergewissern konnte, ob meine Thesen argumentativ passen und den Packmitgliedern einleuchten, auch wenn sie, wie bereits erwähnt, nicht immer meine Einschätzung teilten.

Relation-dependent Research Ich habe keine meiner Thesen und Erkenntnisse nach den Gesprächen umgestellt, womit ich zu der grundsätzlichen Feststellung über den Charakter der Untersuchung komme und zu dem Versuch, die drei Fragen „What am I doing here, who will believe me, and is it academic at all?“ zu beantworten. Es ist keine neue Erkenntnis, dass in einer Oral History am Ende nicht die Subjekte der Untersuchung die Geschichte schreiben, sondern der Autor, der das Gehörte umsetzt. Selbst wenn man als einzigen Text alle Interviews abdrucken würde, bliebe doch der Initiator der Untersuchung federführend im Vordergrund, denn er hat, um nur einige Bespiele zu nennen, die Vorarbeit geleistet, hat den historischen Kontext erarbeitet, die Zeitzeugen gesucht und ausgesucht, er hat die Fragen entwickelt und gestellt, er hat die Länge der Interviews festgelegt und entschieden, wann dieses Limit überschritten werden kann. 5 Haber/Petry/Wildmann, 2006.

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Damit kommt dem Autor des Textes eine wichtige Rolle zu, denn er schreibt die Geschichte und gestaltet sie auf diese Weise. In der vorliegenden Untersuchung kommt diese Rolle stärker als in anderen Oral-History-Untersuchungen zum Tragen. Zwar liegt schriftliches Material vor, z. B. das Packbuch, aber der eigentliche Austausch, die eigentlichen Gespräche sind zum größten Teil nicht festgehalten. Ich als Autor stehe also im Zentrum der Debatte darüber, inwieweit die Ergebnisse meiner Untersuchung glaubwürdig sind, inwieweit sie in die akademischen Diskussionen als seriöser Beitrag aufgenommen werden können. Es steht nichts weniger als meine akademische Glaubwürdigkeit zur Debatte, denn nur durch die Redlichkeit der wissenschaftlichen Analyse der Teile, die nicht in den Bereich der Gesprächsanalyse fallen, kann ich zeigen, dass auch die Gesprächsanalysen sich in diese Redlichkeit stellen, daher dem Text so weit Glauben geschenkt werden kann, um ihn in die Debatte aufzunehmen. Dies zu beurteilen obliegt aber nicht mir, sondern den Leserinnen und Lesern. Damit verbunden ist die abschließende Frage, ob eine solche Untersuchung, wie ich sie vorgelegt habe, überhaupt akademischen Ansprüchen genügt, d. h., ob ein geschichtswissenschaftliches Projekt nicht aufgezeichnete Oral-History-Gespräche so zentral aufnehmen soll, wie ich es getan habe. Die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der wissenschaftlichen Argumentation sowie die dezidierten Quellennachweise sind existenzieller Bestand jeder geschichtswissenschaftlichen Analyse. Die Nachvollziehbarkeit in manchen Teilen der Analyse über das Pack beruht auf Quellenmaterial, das ich nicht öffentlich zugänglich machen kann. Diese Quellen sind nicht nachprüfbar, sie entziehen sich jedem weiteren Beobachter. Dies ist ein Problem, und trotzdem möchte ich der Arbeit mit Oral-History-Quellen, wie ich sie verwendet habe, den wissenschaftlichen Anspruch nicht absprechen, im Gegenteil, ich möchte dezidiert ermuntern, solche Arbeiten voranzutreiben. Die Wissenschaftlichkeit zeigt sich in der vorliegenden Arbeit im Gesamteindruck, der höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen muss. Dass dabei nicht alle Quellen offengelegt werden können, ist kein Manko, es kann sogar für die Analyse ein großer Gewinn sein, wie ich in meiner Untersuchung deutlich erfahren habe. Das Vertrauen, das sich aus der langen Zusammenarbeit mit dem Pack entwickelt hat, gaben mir die Mitglieder der Gruppe zurück, indem sie mich mit wichtigen Informationen versorgten, die für das Verstehen der Gruppe essenziell waren. Diese Informationen sind selbstverständlich in die Analyse eingeflossen. Gemeinsam mit der Bedingung, dass die Arbeit ansonsten den Ansprüchen an eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung genügt, sind diese Teile einer Oral History nicht nur zulässig, sondern zwingend notwendig, denn es

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wäre fahrlässig und wissenschaftlich nicht redlich, solche Detailinformationen nicht zumindest in die Analyse einfließen zu lassen. Die Vertrautheit und Nähe, die in einer solch langen Zusammenarbeit an einem Projekt sich bilden kann, bringt es mit sich, dass Informationen weitergegeben werden, die nicht direkt abgedruckt werden können, da hiermit das erworbene Vertrauen wieder zerstört werden würde. Aus dieser Nähe kann sich neben der Weitergabe wichtiger Informationen aber auch eine problematische Distanzlosigkeit zu den Teilnehmern einer Untersuchung gesellen. Diese Gefahr ist besonders dann gegeben, wenn es schon vor der Untersuchung enge freundschaftliche oder verwandtschaftliche Bindungen gegeben hat.6 Als Vorteil meiner Untersuchung erwies sich, dass ich zwar mit den Gegebenheiten sehr vertraut war, aber in keiner verwandtschaftlichen Bindung zu den Packmitgliedern stand. Die Gefahr des Distanzverlustes ist gegeben, aber sie besteht auch bei allen anderen wissenschaftlichen Themen der Geschichtswissenschaft. Die Identifikation mit dem Thema ist nicht an den Kontakt mit Zeitzeugen geknüpft, daher ist der Blick auf eine notwendige wissenschaftliche Distanz immer zwingend gefordert. Die Vorstellung, dass eine geschichtswissenschaftliche Arbeit, die sich nur auf „nachprüfbare“ Quellen stützt, redlicher ist als eine Arbeit, die sich auf Oral-History-Quellen beruft, geht von einem normativen Bild über schriftliche Quellen aus, das impliziert, der Autor zitiere hier immer alles korrekt und in voller Länge, habe überhaupt Zugang zu allen Quellen und bringe diese in den Erkenntnisprozess mit ein. Es leuchtet unmittelbar ein, dass dieser Anspruch schon an der Menge der Quellen vor allem zu Themen der Geschichtswissenschaft spätestens ab der Frühen Neuzeit scheitern muss, zumal eine solche umfassende Omnipotenz einer schriftlichen Arbeit auch nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein kann. Historiografie nach meiner Auffassung wählt aus, stellt aus dem Blickwinkel des Autors dar, beantwortet Fragen und kommt auch zu Urteilen anhand vorher erläuterter Parameter über ein Ereignis. Weil mein Vorgehen nicht der klassischen Oral History entspricht, dazu die teilnehmende Beobachtung verwendet, dies aber auch nur in bestimmten Bereichen und über einen sehr langen Zeitraum, und da ich gleichzeitig 6 Diesen Konflikt hat bereits Utz Jeggle für die Volkskunde beschrieben und analysiert. Er plädiert, trotz seiner Sympathie für sehr persönliche Zugänge, für die strenge Wahrung der wissenschaftlichen Distanz in seinem Fach. Vgl. hierzu Utz Jeggle: Zur Geschichte der Feldforschung in der Volkskunde, in: ders., 1984, S. 43ff.

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als Historiker und nicht als Volkskundler/Kulturanthropologe7 schaue, muss eine neue Begrifflichkeit gesucht werden. Ich schlage für dieses Vorgehen den Begriff „Relation-dependent Research“8 (RdR) vor. Aus den Beziehungen, aus der Nähe kann, wie schon betont, ein Problem werden, gleichzeitig bringt diese Nähe aber den Vorteil, Detailinformationen zu erhalten, die in einem „normalen“ Oral-History Projekt so nicht zu erfragen gewesen wären. „Erfragen“ ist hier der passende Ausdruck, denn im RdR werden diese Informationen nicht erfragt, sondern aus freiem Entschluss erzählt, da sie oft heikel und zum Teil auch tabuisiert sind, daher also eine andere Vertrauensbasis brauchen, um überhaupt erzählt zu werden, als nur ein Interview. In einer RdR muss der Historiker eine enge Beziehung zu einer Gruppe aufbauen, er muss sozusagen Teil der Gruppe werden, ohne Teil der Gruppe zu sein, um aus einem Oral-History- ein RdR-Gespräch zu machen. Im Anschluss an die RdR obliegt dem Historiker die wissenschaftlich diffizile Aufgabe, die Informationen in einen Text zu überführen, in einer Analyse zu verarbeiten. Der wissenschaftliche Ertrag einer RdR allerdings ist unschätzbar groß und kann gerade im Bereich der zeitgenössischen Lebensweltforschung die Geschichtswissenschaft ein gehöriges Stück nach vorne bringen, wie die vorliegende Untersuchung über das Pack deutlich gezeigt hat. Aufgrund der erläuterten schwierigen Umstände, des geforderten hohen persönlichen Einsatzes und der notwendigen wissenschaftlichen Integrität ist mir völlig bewusst, dass RdR, ähnlich wie Oral History, leicht angreifbar ist und einem Teil der Kritik auch nur mit auf hohem wissenschaftlichen Niveau stehenden Arbeiten wird begegnen können. Doch erscheint RdR gerade im Bereich der Zeitzeugenarbeit als gangbarer Weg, neue Erkenntnisse über Lebenswelt und damit Handlungsmotive und Vorstellungen zu erfahren.

7 Während meiner Studienzeit an der Universität Göttingen habe ich auch einige Semester „Volkskunde“ studiert, daher habe ich hier die doppelte Bezeichnung „Volkskundler/Kulturanthropologe“ verwendet, die den früheren und den aktuellen Namen des Faches nennt. 8 Ich habe mich für die englische Bezeichnung entschieden, da auch der Begriff Oral History aus der englischen Sprache kommt, aber als Terminus technicus auch in die deutsche Wissenschaftssprache Eingang gefunden hat. Für die anregenden Diskussionen über die englische Terminologie danke ich Frau Dr. Jennifer Jermann sehr herzlich.

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8. Gedächtnis und Erinnerung – Eine Einleitung Wohl kaum ein Wesen auf dem Blauen Planeten ist ein so hochbegabter Generalist wie der Homo sapiens, der zu ganz erstaunlichen Leistungen fähig ist. Zwar gibt es im Vergleich zu ihm im Reich der Tiere jede Menge Spezies, die ihn in allem Möglichen übertreffen, aber wenn man sich die Leistungen in einem Leichtathletik-Zehnkampf, dazu die Fähigkeiten des Schwimmens und Bergsteigens betrachtet, ist der menschliche Körper als Generalist kaum zu schlagen. Man ist fast geneigt, von einem Wunderwerk der Evolution zu sprechen, wie es z. B. der „Stern“ in seiner Serie über den menschlichen Körper 2007 tut.1 Dazu tritt immer deutlicher ein bis vor einigen Jahren negierter Gesundheitsaspekt der körperlichen Bewegung hervor, nämlich die Möglichkeit, bei an Krebs erkrankten Patienten, aber auch nach Herzoperationen Bewegung als Therapie einzusetzen. Dass Bewegung im Ausdauerbereich das Herz-Kreislaufsystem unterstützt und damit auch Auswirkungen auf eine verbesserte Leistungsfähigkeit des Gehirns haben kann, ist seit vielen Jahren eine anerkannte These in der medizinischen Sportwissenschaft. Der Einsatz des Körpers als bewegendes Objekt in der Therapie gegen eine Schwersterkrankung des Körpers selbst aber ist neu und zeigt, dass auch hier noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.2 Doch was haben die körperlichen Leistungsfähigkeiten, sportliche Bewegung und Bewegung als Therapie mit Gedächtnis und Erinnerung zu tun? Sieht man einmal davon ab, dass es eine Form von Körpergedächtnis gibt, also eine Form, in der sich Bewegungen in den Körper einschreiben, und zwar auf eine derart beeindruckende Weise, dass diese wie automatisch abrufbar sind (sehr gut zu beobachten in Sportspielen), wohl nur sehr wenig. Eine dem Biologen, Verhaltensforscher und Nobelpreisgewinner Karl von Frisch zugeschriebene Bemerkung führt Körper, Gedächtnis und Erinnerung aber wieder näher zusammen: „Der Mensch ist nicht flink genug, um das flüchtige Wild zu jagen, doch er erlegt es mit seinen Geschossen. Er ist nicht angepasst an ein Leben in höheren Breiten, aber er macht sich warme Kleider und heizt seine Wohnungen. Er ist nicht angepasst für den Flug, aber er baut sich Flugzeuge und Luftschiffe. Der Geist hat die Vorherrschaft gewonnen und ist Herr geworden

1 Vgl. z. B. Stern, 5/2007. 2 Vgl. Peter Bier, „Wir können dem Krebs davonlaufen!“, in: Geo-Wissen, Nr. 39, Sport und Gesundheit, S. 146–151.

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über die körperlichen Anpassungen.“3 Und dieser „Geist“, den man auch den Intellekt nennen kann, denn etwas anderes hat Karl von Frisch nicht gemeint, vollbringt ebenfalls ganz erstaunliche Leistungen. Der Erfindungsgabe scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, die technischen Revolutionen, die Kommunikationsentwicklung, aber auch der geisteswissenschaftliche Bereich legen eine beeindruckende Leistungsbilanz vor, um einmal im ökonomischen Jargon zu bleiben. Der hierfür benötigte Intellekt schafft aber nicht nur Neues, sondern arbeitet auch mit Vergangenem, arbeitet mit bereits Gewesenem, mit bereits Geschriebenem. Unendlich scheint die Leistung des Gehirns zu sein, es „merkt“ sich eine Unmenge an „Daten“, die dann im intellektuellen Prozess eingebracht werden können. Gerade im geisteswissenschaftlichen Bereich gehört ein schnell zur Verfügung stehendes umfangreiches Wissen über Geschehnisse, aber auch über Autoren und ihre Werke, zum Standard, was dann in die Diskussion eingeflochten wird. „Bei Kant steht aber schon in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ …“ – so oder ähnlich erscheint die Diskussion, die „Gemerktes“ einbringt. Die Exaktheit der wiedergegebenen Textstellen ist verblüffend. Das menschliche Gehirn scheint also ein sehr verlässliches Instrument zu sein, dessen Fähigkeit, sich Dinge zu merken und wiederzugeben, in einem wissenschaftlichen Bereich wie der Geschichtswissenschaft, die sich mit „Vergangenem“ beschäftigt, von großem Nutzen sein kann. Wie schon im Kapitel über Oral History bemerkt, war das Wiedergeben von Erlebtem lange Zeit die wichtigste Quelle für die Geschichts- und Geschichtenerzähler und -erzählerinnen, erst mit der Etablierung der wissenschaftlichen Historiografie, der Quellenkunde und -kritik wurde das persönliche Zeugnis in den Hintergrund gedrängt. Nicht nur das, es wurde stark diskreditiert, als unwissenschaftlich abstempelt; der Satz, der natürliche Feind des Historikers sei der Zeitzeuge, wurde als Dogma aufgefasst. War denn auf geschriebene Texte so viel mehr Verlass, mag man sich z. B. angesichts der Debatten über gefälschte Urkunden des Mittelalters, die „Gesta Chuonradi II. imperatoris“ eines Wipo oder die „Thietmari Merseburgensis episcopi Chroniconeines“ des Thietmar von Merseburg fragen. Das geschriebene Wort übt eine große Faszination aus, es steht wortwörtlich da, kann zwar immer wieder befragt werden, neu- und umgedeutet, aber es bleibt in seinem Grundgehalt 3 Karl von Frisch, zitiert in: Stern, 5/2007, S. 99. Karl von Frisch (1886–1982) hat vor allem über das Verhalten und die physiologischen Eigenschaften von Bienen geforscht, dort einige erstaunliche Entdeckungen gemacht und wurde dafür 1973 mit dem Nobelpreis für Physiologie/Medizin belohnt.

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stehen. Es lässt sich bearbeiten, es lässt sich nachweisen, es hat ohne Zweifel sehr zur Idee beigetragen, die Leopold von Ranke wieder aufleben ließ, nämlich dass man als Historiker zeigen müsse, „wie es eigentlich gewesen“.4 Die schriftliche Quelle schien dafür das geeignete Instrument, „Ad fontes“ wurde also das Motto der Historiker und Ranke ihr hervorragendster Vertreter. Diese Phase der Geschichtswissenschaft hat, allgemein gesprochen, lange die Forschung dominiert, doch sind in den letzten Jahren mündliche Zeugnisse wieder wichtiger geworden. In der intensiven Arbeit mit Zeitzeugenaussagen kam aber sehr schnell die Frage auf, wie denn diese „Erinnerungen“ zu bewerten seien. Die Begriffe wurden differenzierter, Gedächtnis und Erinnerung hielten Einzug in die wissenschaftlichen Termini auch der Historiker. Eine Flut von Büchern beschäftigte und beschäftigt sich mit dem Thema. Man wollte genau wissen, wie dies in die historiografische Arbeit einzubringen sei. Kann man sich auf Erinnerungen verlassen? Wie funktioniert ein Gedächtnis, und was bedeuten diese Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft? Ein Mensch kann sich etwas merken, kann sich erinnern, aber ist das immer seine eigene Erinnerung? Immer „originalgetreu“? Und was ist mit Anlässen zum Erinnern oder Gedenken an bestimmte Ereignisse? Wird sich hier wirklich erinnert oder erinnert jemand an etwas? Drei Beispiele sollen dies näher erläutern und auch gleich in einem ersten Durchgang die Problematik aufzeigen, die in den folgenden Kapiteln der Hauptgegenstand sein wird.

Drei Erinnerungsbeispiele Das erste Beispiel führt in die Schweiz, genauer gesagt nach Bern. Es ist der 4. Juli 1954, Wankdorfstadion, Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen dem Außenseiter Deutschland und dem hohen Favoriten Ungarn. Das Spiel endet mit einem 3:2-Sieg des Außenseiters. Zwar gibt es bereits Fernsehübertragungen, doch die Mehrzahl der am Fußball interessierten Deutschen hört die Rundfunkreportage von Herbert Zimmermann. Dort fallen in 4 Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1539, Leipzig, Berlin 1824, Vorrede. Ranke lehnt sich hier an den antiken Geschichtsschreiber an, über den er promoviert hat, nämlich Thukydides, der in seiner „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ in der Einleitung (1,22,1–4) davon schreibt, dass er nicht mythische Geschichte schreiben wolle, um einen „Ohrenschmaus“ zu haben, sondern von dem „Vergangenen das Zuverlässige erkennen“ wolle. Thukydides, übersetzt von Egon Gottwein, www.gottwein.de/ Grie/thuk/thuk1022.php (Zugriff: 9.8.2007).

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der 84. Minute beim Stand von 2 : 2 die vielleicht berühmtesten Sätze aus dieser Reportage: „Und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball, er hat den Ball – verloren diesmal gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor!“ Obwohl diese Sätze der Kommentar der Rundfunkreportage waren, werden sie bis heute den Fernsehbildern unterlegt,5 sodass sich eine Einheit aus Radioreportage und Fernsehbild ergibt. Für die Fußballinteressierten verbinden sich Herbert Zimmermanns Sätze mit den Schwarz-Weiß-Bildern vom Endspiel. Es scheint sich eine „allgemeine Erinnerung“ festzuschreiben, die bis heute tradiert wird. Das zweite Beispiel bringt eine Zeitzeugin (geb. 1937) der WM 1954 und einen Fußballinteressierten (geb. 1961) zusammen. Die Zeitzeugin erinnert sich daran, dass sie das Endspiel am Radio verfolgt hat, sie kann sich nicht an die Worte Zimmermanns erinnern, „erkennt sie aber wieder“, wenn sie im Fernsehen gespielt werden. Sie erinnert sich daran, dass sie das Spiel in der Wohnung ihres Onkels in Kassel gehört hat. Der Fußballinteressierte hat den Kommentar Zimmermanns und die Bilder zum Endspiel in unzähligen Wiederholungen gesehen, sie sind Teil seines „Fußballgedächtnisses“ geworden. Zwar hat er sich intensiv mit der Geschichte des Fußballs auseinandergesetzt, in seinem engsten Freundes- und Familienkreis aber niemanden gefunden, der explizit den WM-Sieg 1954 als Schritt in die Normalität der Welt nach dem Ende der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnet hat, wie dies in Analysen über die Nachhaltigkeit dieses Sieges häufig gesagt wird.6 Aber er hat bei allen ganz zufällig Befragten gespürt, wie wichtig das Abschneiden der Nationalmannschaft war. Und dazu gehört dann doch wieder der WM-Sieg von 1954, der unter anderem auch verschiedene Begriffe in das Wörterbuch von Generationen deutscher Fußballer eingeschrieben hat, z. B. „Fritz-Walter-Wetter“ (was strömenden Regen meint). Die Frage stellt sich, was genau trägt die Zeitzeugin weiter, was genau gebe ich weiter? Ich selbst bin kein Zeuge des „dritten Tores“, weder war ich im Stadion noch sah ich es live im Fernsehen, noch hörte ich die Radioreportage. Alle Informationen erreichten mich lange nach dem Ereignis. Sie wur5 1954 konnten die Fernsehbilder zwar aufgezeichnet werden, die Tonspur mit dem Fernsehkommentar gilt jedoch als verschollen, daher wurde dem offiziellen FIFAFilm über die WM der Radiokommentar untergelegt. Vgl. hierzu und zu Herbert Zimmermann: Erik Eggers: Die Stimme von Bern, Augsburg 2004. 6 Vgl. hierzu u. a. Norbert Seitz: Was symbolisiert das „Wunder von Bern“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26/2004, http://www.bpb.de/apuz/28253/was-symbolisiert-das-wunder-von-bern (Zugriff: 17.7.2012).

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den mir erzählt (Mutter, die die Radioreportage gehört hat, beteiligter Spieler7), ich habe sie nachgelesen (Bücher über die Fußball-WM 1954), ich habe die Fotos und Filmbilder nachträglich gesehen und auch die komplette Radioreportage später gehört. Für das „dritte Tor“ bzw. für die ganze WM 1954 gibt es eine klare Erzähllinie (die ich später als Master-Narrativ bezeichnen und definieren werde), die sich an dem völlig überraschenden Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die ungarische Nationalmannschaft orientiert. Ein Außenseiter schafft durch eine große Anstrengung den Sieg gegen den Favoriten – eine Konstellation, die sich so im Sport unendlich oft wiederholt hat und wiederholt. Da ich selbst Fußball gespielt habe, habe ich ein solches Ereignis auf beiden Seiten erlebt, als siegreicher Außenseiter und als gestürzter Favorit. Wenn ich also vom „dritten Tor“ erzähle, wiederhole ich eine Erzählung, die sich für mich aus verschiedenen Quellen speist, reichere sie vielleicht an, z. B. durch das persönliche Erleben eines ähnlichen Ereignisses, d. h., ich war zwar nicht beim Ereignis dabei, weiß aber, wovon elementar die Rede ist, oder ich reduziere die Erzählung auf bestimmte Punkte. In dieser Situation bin ich ein Weiter-Erzähler eines Ereignisses, über das ich selbst gelernt habe und das ich mit meinem Weiter-Erzählen lehrend weitergebe Es existiert eine Verbindung zu diesem Ereignis, die auch während der WM 2006 in Deutschland zum Ausdruck kam, als sehr viele Fans, bis hin zum ZDF-Fußballexperten Jürgen Klopp (damals Trainer des FSV Mainz 05), mit einem Retro-Trikot 1954 erschienen.8 Für den Fußballinteressierten bedeutet diese Mannschaft eine „Erinnerung“; er kann, ist er in einem Fußballumfeld aufgewachsen, die Mannschaft auswendig aufsagen, auch wenn er keine „direkte Erinnerung“ daran hat; er kann daher über diese WM in der Schweiz reden, „als ob er dabei gewesen wäre.“ Dieses „als ob man dabei gewesen wäre“ scheint im Fußball öfter aufzutreten. So schreibt auch Neil Lennon, von 2000– 2007 Spieler und Kapitän bei Celtic Glasgow, über den Endspielsieg im Europapokal der Landesmeister 1967 von Celtic Glasgow über Inter Mailand in Lisabon: „I often feel as though I was in Portugal’s capital that memorable eve7 In meinen Jahren als Spieler beim VfL Kassel hatte ich das Vergnügen, einige Male mit Karl-Heinz „Gala“ Metzner (1923–1994), Mitglied der Weltmeistermannschaft 1954, über die WM in der Schweiz zu sprechen. Metzners hatte während seiner aktiven Zeit u. a. für den VfL Kassel gespielt und war nach seiner aktiven Karriere nicht nur in verschiedenen Funktionen für den Verein tätig, sondern auch danach noch ein häufiger Besucher der Spiele. 8 Es wäre eine eigene Untersuchung wert, seit wann und warum das Tragen von Trikots seitens der Fans, und speziell des Retro-Trikots 1954, sich entwickelt hat – abgesehen vom Einfluss der Merchandising-Industrie.

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ning in 1967 […].“9 Er führt dies auf die vielen Geschichten zurück, die ihm über dieses Finale erzählt wurden, und auch auf die emotionale Verbundenheit mit Celtic Glasgow.10 Beide Beispiele zeigen, dass persönliche Erinnerung, Erinnerung über Geschichten und eine von den Medien fabrizierte Erinnerung in diesen Diskurs gehören, ihn aber gleichzeitig ob der vielen Erinnerungen nichts weniger als verwirren. Ein drittes Beispiel soll die Problematik der Erinnerung in Verbindung mit emotionaler Nähe deutlich machen. In dem 2002 veröffentlichten Buch „Opa war kein Nazi“ untersuchen Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall die Verbindung von dem, was sie Familiengedächtnis nennen, und dem Nationalsozialismus. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass der Holocaust keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis habe. Das Familiengedächtnis sei aber Ort und Quelle des Geschichtsbewusstseins, das sich als etwas anderes darstelle als das Geschichtswissen, das durch Unterricht, in Gedenkstätten etc. vermittelt werde.11 „Ein solcherart vermitteltes Wissen [kursiv i. O.] ist aber etwas anderes als die selbstverständliche Gewissheit [kursiv i. O.], die man als Mitglied einer Erinnerungsgemeinschaft über deren eigene Vergangenheit hat.“12 Die Autoren schlussfolgern, dass selbst die Geständnisse der Großväter über ihre Verstrickung in der NS-Zeit innerhalb der Familie kaum gehört werden, und wenn sie wahrgenommen werden, dann in einer uminterpretierten Form, die aus Tätern sogar Retter machen kann.13 Die beeindruckende Studie lässt aber für das Thema Gedächtnis und Erinnerung einige Fragen offen, die in den nächsten Kapiteln beantwortet werden müssen. So kann man angesichts des sehr plakativen Titels schnell den Eindruck gewinnen, die befragte Enkel- und Enkelinnengeneration wäre zumindest empfänglich für die oder sogar schon mitten in der Neonazi-Szene. Nichts wäre wohl voreiliger, da hier sehr viel stärker die Familienbande zum Zug kommen als Geschichtsgewissheit. Die familiäre Verbundenheit überlagert nicht nur in Gesprächen über die Zeit des Nationalsozialismus das Familiengedächtnis im Vergleich zum Geschichtswissen, auch in anderen Fällen 9 Neil Lennon: Forword, in: Joseph M. Bradley (Hrsg.), Celtic Minded. Essays on Celtic Football, Culture and Identity, Glasgow 2006, S. 8. 10 Vgl. Lennon, 2006, S. 8. 11 Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, 4. Auflage, Frankfurt/ Main 2003, S. 210. 12 Welzer/Moller/Tschugnall, 2003, S. 210. 13 Vgl. Welzer/Moller/Tschugnall, 2003, S. 208.

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wirkt dies sich aus. Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: Hat nicht Richard von Weizsäcker als junger Anwalt seinen Vater vehement vor dem Kriegsverbrechertribunal verteidigt? Hält nicht die Familie des früheren bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß eisern zusammen, wenn es um Anschuldigungen gegen den Vater geht? Haben sich nicht die Söhne Adolf Eichmanns schützend vor ihren Vater gestellt? Muss daher hier nicht viel stärker auf die psychologische Struktur der Familie geschaut werden als auf Erinnerung? Damit relativieren sich die Aussagen über Familiengedächtnis und Nationalsozialismus erheblich, was allerdings der Forderung der Aufarbeitung der NS-Zeit auch innerhalb der Familien keinen Abbruch tut, im Gegenteil, die Erkenntnisse des Buches „Opa war kein Nazi“ sind ein Anfang, ein Fingerzeig. Ein zweiter wichtiger Punkt bei der Analyse eines Familiengedächtnisses ist die Annahme, die Ausführung des Holocaust wäre in deutschen nicht jüdischen Familien Teil des Familiengedächtnisses. Die Untersuchung zeigt aber eindrücklich, dass dies nicht der Fall ist, auch wenn es wünschenswert wäre, um damit Bewusstheit und Verstehen zu erleichtern. Der Holocaust ist in Deutschland, und nicht nur dort, nur Teil des Familiengedächtnisses jüdischer Familien, nicht jüdische Familien sehen sich hingegen mit einem Ereignis konfrontiert, dessen Urheberschaft ihnen zugeschrieben wird, die Anerkennung der Urheberschaft und der Ausführung ist aber nicht Teil des familiären Diskurses, sondern wird auf eine unpersönliche Ebene der Gesellschaft abgeschoben. Persönliche Schuld wird vor allem den „großen Tätern“, wie Hitler, Goebbels, Himmler oder Eichmann, zugeschoben, womit gleichzeitig die persönliche Entschuldung beginnt. Der Holocaust wird zum unpersönlichen Ereignis, bei dem nur die Opfer ein Gesicht bekommen, da die Gesichtszuordnung der Täter als ein zu starker Eingriff in die Familien wahrgenommen würde. Niemand scheint persönlich involviert gewesen zu sein, im Gegenteil, man schien grundsätzlich mit dem Regime nicht einverstanden gewesen zu sein. Dies betrifft vor allem die Auseinandersetzung mit denjenigen, die den Zweiten Weltkrieg überlebten und sich nach 1945 wieder in das Gesellschaftsund Familienleben eingliederten. Wer allerdings im Krieg starb, konnte als Nazi identifiziert werden, er war sozusagen weg und damit auch aus dem aktiven Gestalten des Familiengedächtnisses verschwunden. Daher ist die Frage nach der Einbindung des Holocaust im Familiengedächtnis nichtjüdischer deutscher Familien falsch gestellt. Dieses Geschehen fand dort keinen Platz und wird ihn auch nie finden. Zwar heißt dies nicht, dass im Familiengedächtnis nur positive Erinnerungen festgehalten werden, aber es ist kein Hort versuchter objektiver Darstellung, schon gar nicht

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in einem Umfeld wissenschaftlicher Betrachtung, was noch deutlicher wird bei der schon im Oral-History-Teil angesprochenen Frage nach dem Setting eines Interviews, aber auch einer ganzen Untersuchung. Etwas schärfer formuliert würde es lauten, dass eine solche Beschäftigung entweder nur im engsten Rahmen stattfindet (und vielleicht noch nicht einmal dort, weil man davon weiß, es aber nicht thematisieren muss – für wen auch?) oder seitens einiger weniger Personen im Zuge der medialen Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte erfolgt, so z. B. sehr eindrücklich bei Malte Ludin 2004 in der filmischen Dokumentation „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß“ über seinen Vater, einen treuen Anhänger Hitlers, oder bei der Großnichte Heinrich Himmlers, Katrin Himmler, mit ihrem 2005 in Frankfurt/Main erschienenen Buch „Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte“. Diese einleitenden Worte machen deutlich, dass Gedächtnis und Erinnerung nicht nur aktuelle, sondern vor allem im Bereich der Geschichtswissenschaft kontroverse und komplexe Themen sind. Man schaue sich dafür die verschiedenen Konzepte und Definitionen an, die in der Wissenschaft kursieren, bei denen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ gerne vermischt werden. Bezeichnend für diese Verwirrung ist der Titel der Einleitung des Lexikons „Gedächtnis und Erinnerung“, die Herausgeber nennen es „Zur Einführung – anstelle der Stichworte ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘“ und sagen, „dass eine integrale Theorie darüber, was ‚das‘ Gedächtnis ‚ist‘, sich kaum verfassen lässt.“14 In der exzellenten Einleitung legen die Herausgeber dar, wie divers die Forschungslandschaft ist, dass es daher auch keinen Anspruch einer Disziplin als „die Gedächtnisforschung [kursiv i. O.]“15 geben könne. Damit haben sie recht, dieses Gebiet wird von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen bearbeitet, die mit höchst unterschiedlichen Arbeitsmethoden, höchst unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und höchst unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen forschen. Trotzdem muss gefragt werden, wie die Erkenntnisse aus den verschiedenen Bereichen der Begriffsdefinitionen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung nutzbar gemacht werden können. Das Nachdenken über Erinnerung, das Arbeiten mit und über Erinnerung, die Befragung von Zeitzeugen, aber auch die quellenkritische Befragung anderer Zeitzeugendokumente (Ego-Dokumente, Autobiografien, Memoiren, Tagebücher) muss im Lichte der neuesten Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen angeschaut werden. Dies wird in den nächsten zwei Kapiteln geschehen, wobei die Theorien, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen nicht nur einer generellen kriti14 Pethes/Ruchatz, 2001, S. 5. 15 Pethes/Ruchatz, 2001, S. 9.

Drei Erinnerungsbeispiele  |

schen Betrachtung für die Geschichtswissenschaft unterzogen, sondern am Beispiel des Packs, soweit möglich, immer wieder überprüft und hinterfragt werden.

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9. Das Gedächtnis einer Gesellschaft Kann eine Gesellschaft als Ganzes ein Gedächtnis haben? Die Untersuchungen der Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866–1929) und Maurice Halbwachs (1877–1945) haben diese Frage eindeutig bejaht. Aby Warburgs Arbeiten vor allem in den 1920er-Jahren im Bereich der Kunstgeschichte beschäftigen sich mit der Wiederkehr antiker Bildmotive in künstlerischen Werken späterer Epochen, die er nicht als eine Aneignung antiker Vorbilder analysierte, sondern als das Weitertragen von Symbolen, die im Gedächtnis einer Kultur, einer Gesellschaft verhaftet blieben. Er nannte die sich aus diesen Überlegungen ergebende Theorie eines Bildgedächtnisses das „soziale Gedächtnis“.1 Aby Warburg ist in den Kulturwissenschaften etwas weniger bekannt geworden als Maurice Halbwachs, dessen Theorie eines kollektiven Gedächtnisses die Diskussion bis heute bestimmt. Sein Hauptwerk „La mémoire collective“ erschien posthum und nicht vollständig, was bei der Besprechung seiner Theorie ein wichtiger Punkt ist. Möglicherweise hätte er gewisse Unstimmigkeiten noch entfernen, bestimmte Ideen noch weiter ausführen können. Seine grundlegenden Gedanken werden aber auch aus diesem Buch und seinen vorherigen Veröffentlichungen, „Les cadres sociaux de la mémoire“ (1925) und „La topographie légendaire des évangiles en Terre Sainte“ (1941), deutlich. Für Halbwachs waren die Theorien, die das Gedächtnis als rein individuelle Erscheinung ansahen, nicht haltbar. Er setzte dagegen die Vorstellung, dass jede individuelle Erinnerung nicht nur ein kollektives Phänomen, sondern sozial bedingt sei. Damit verband er weiter gehende Schlussfolgerungen, die das Generationengedächtnis und den Bereich der kulturellen Überlieferung betrafen.2 Diese bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausformulierten Ideen von Warburg und Halbwachs, die zwar sehr unterschiedlich waren – Warburg ging von der materialen Dimension der Kultur aus, während Halbwachs die soziale Dimension der Kultur in den Vordergrund rückte –, aber doch die Erkenntnis gemeinsam hatten, „dass Kultur und Überlieferung Produkte menschlicher Tätigkeit sind“,3 begründeten eine bis heute andauernde intensive Beschäfti1 Vgl. zu Aby Warburg den Abschnitt bei Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2003, S.  161–164, der ausführlich die Warburg’schen Gedanken erläutert. 2 Auch zu Maurice Halbwachs’ Theorien vgl. Erll, 2003, S. 158–161. 3 Erll, 2003, S. 163.

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gung mit Formen von Erinnerungs- und Gedächtniskulturen. Es ist hier nicht der Ort, diese und die sich daran anschließenden Theorien in aller Breite und Tiefe darzustellen, dazu sei auf die umfangreiche Literatur verwiesen.4 Da aber vor allem die Erweiterungen des Halbwachs’schen Ansatzes von mir als zwar sehr ausdifferenziert, aber doch wenig hilfreich für die Geschichtswissenschaft wahrgenommen werden, mich aber gleichzeitig dazu angeregt haben, diesen Vorstellungen zumindest in Teilen eine andere Sichtweise entgegenzusetzen, sollen kurz die Erweiterungen und Verfeinerungen der jüngsten Forschung erläutert und eine grundlegende Kritik daran formuliert werden. Im deutschen Sprachraum kann die 1992 erschienene Untersuchung „Das kulturelle Gedächtnis“ des Ägyptologen Jan Assmann als Beginn der intensiven Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung gelten. Assmann ist dabei nicht bei einer Rezeption der Halbwachs-Thesen stehen geblieben, sondern hat daraus eine dreistufige Theorie entwickelt. Das kollektive Gedächtnis ist für ihn ein identitätsstiftendes soziales Netzwerk individueller Gedächtnisse einer Gruppe, es schafft daher Bindungen innerhalb der Gruppe.5 Dahinter stehen die „Erinnerungsbedürfnisse[n] einer klar definierten Wir-Identität“.6 Dieses kollektive Gedächtnis teilt Assmann dann in zwei Teile, in das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis bildet sich durch die Kommunikation der Menschen innerhalb einer Gruppe, es ist also die lebendige Erinnerung der Individuen; Harald Welzer nennt es das „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“.7 Denkt man sich dies in Zeiträumen, kann das kommunikative Gedächtnis auf ca. 40 Jahre angesetzt werden, denn nach dieser Zeit treten die Zeitzeugen eines Ereignisses aus dem aktiven (Berufs) Leben zurück, hegen nun aber den Wunsch, ihre Erinnerungen weiterzugeben. 4 Die Bücher zu diesen Themen sind Legion. Als kulturwissenschaftliche Standardwerke können heute die in der Bibliografie aufgelisteten Werke von Maurice Halbwachs, Aby Warburg, die als Klassiker bezeichnet werden dürfen, und die Schriften von Jan und Aleida Assmann, Pierre Nora, Harald Welzer, Yosef Hayim Yerushalmi, Hans-J. Markowitsch und Daniel Schacter gelten. 5 Vgl. Jan Assmann: Körper und Schrift als Gedächtnisspeicher. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, in: kakanienrevisited, www.kakanien.ac.at/ beitr/theorie/JAssmann.pdf, 31.1.2006, S.  3 sowie Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerung und kollektives Gedächtnis, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt/Main 1980, S. 115f. 6 Jan Assmann, 2006, S. 5. 7 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2005, S. 14 (vollständige Überarbeitung der Erstauflage von 2002).

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Das kulturelle Gedächtnis hingegen beinhaltet die Festschreibung von Gedächtnisbildern bestimmter Ereignisse. Wenn man es im übertragenen Sinne formulieren möchte, ist das kulturelle Gedächtnis das Archiv einer Gesellschaft, die hier ihre Ereignisse, aber auch das Gedächtnis an diese Ereignisse ablegt.8 Diese werden aber nicht nur abgelegt, sondern in Formen der Wiederholung als Selbstvergewisserung einer Gruppe gepflegt, d.  h. erinnert.9 Aleida Assmann hat dieses kulturelle Gedächtnis noch einmal in zwei Bereiche unterteilt, nämlich das Funktions- und das Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis beinhaltet demnach die Teile der Ereigniserinnerungen, die von den gegenwärtig Lebenden nutzbar gemacht, zu einem Erinnerungsbild zusammengebaut werden können. Das Speichergedächtnis hingegen enthält all die Ereigniserinnerungen, die in der Gegenwart nicht genutzt, die aber bei Bedarf nutzbar gemacht werden können, da sie im Moment keine, später aber vielleicht wieder eine Bedeutung bekommen.10 Die Erweiterungen durch Aleida Assmann mit einbeziehend, definiert Jan Assmann kulturelles Gedächtnis als eine der verschiedenen „Außendimension[en] des menschlichen Gedächtnisses“11, das er selbst als ein eigentlich individualneurophysiologisches „Innenphänomen“12 bezeichnet. Das kulturelle Gedächtnis sei daher eine flexible Erscheinung, die vor allem in der Aufsplittung in Funktions- und Speichergedächtnis dynamisch Veränderungen und Neuerungen auffangen, d. h. speichern oder auch wieder abgeben müsse.13 Aleida Assmann führt in ihrer 2006 erschienenen Darstellung „Der lange Schatten der Vergangenheit“ noch den Begriff des politischen, nationalen Gedächtnisses ein,14 den sie als Spezifizierung des kulturellen Gedächtnisses auffasst. So einleuchtend die Theorien des kollektiven Gedächtnisses und seiner Aufsplittung in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis auf den ersten Blick auch wirken, muss zunächst die Sinngebung des verwendeten Begriffs „Gedächtnis“ hinterfragt werden. Dies geschieht nicht zum ers8 Zu diesem Komplex vgl. vor allem Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 5. Auflage, München 2005, S. 48–56. 9 Vgl. dazu Assmann, zitiert in Welzer, 2005, S. 15. 10 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 130–145. 11 Jan Assmann, 2005, S. 19. 12 Jan Assmann, 2005, S. 19. 13 Vgl. Jan Assmann, 2006, S. 5 und Jan Assmann, 2005, S. 24. 14 Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 36ff.

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ten Mal, aber Jan Assmann hat sich explizit dagegen verwahrt, den Begriff des Gedächtnisses durch einen anderen zu ersetzen. Der vorgeschlagene Begriff der „Tradition“ erscheint ihm viel zu kurz gegriffen.15 Seine Bemerkung, er wolle „keinen Streit um Worte“16 ausfechten, zeigt, dass es nötig ist, die Definition des Begriffes Gedächtnis näher anzuschauen, denn es geht nicht um einen Wort-, sondern um einen Konzeptstreit.

Gedächtnis – der falsche Begriff Das schon zitierte Lexikon „Gedächtnis und Erinnerung“, eigentlich ein herausragend gutes Lexikon, umgeht eine genaue Bestimmung des Begriffes Gedächtnis, doch wird die damit intendierte fast beliebige Ausweitung und damit offensichtliche Unmöglichkeit einer Definition dem Gegenstand nicht gerecht. Kulturwissenschaftliche Historiografie erscheint zwar als ein weites Feld, dem viele Bereiche angehören können, doch zwischen einer multiperspektivischen Forschung und einer indifferenten Beliebigkeit besteht ein erheblicher Unterschied. Diametral zur schon angesprochenen These von Maurice Halbwachs definiere ich Gedächtnis als ein höchst individuelles Gut, das zwar von außen beeinflusst wird, sich aber einzig und allein im Selbst eines Individuums abspielt. Diese Vorstellung knüpft an George Berkeleys (1685–1753) Bearbeitung der Philosophie John Lockes (1632–1704) an, die er, wie es Hans Joachim Störig in seiner „Kleinen Weltgeschichte der Philosophie“ formulierte, um den Grundsatz erweiterte, „daß alles [kursiv i. O.], was wir wahrnehmen und erkennen, ob durch äußere oder innere Wahrnehmung, ob als primär oder sekundäre Eigenschaft, ob als einfache oder zusammengesetzte Idee, uns stets nur als Phänomen unseres Bewusstseins [kursiv i. O.], als Zustand unseres Geistes gegeben ist.“17 Berkeleys Denken gilt als Höhepunkt des Subjektivismus, d. h. der Hinwendung zum Subjekt. Diese meint, dass jede intellektuelle Wahrheit subjektiv sei, daher Allgemeingültigkeit nicht existieren könne. Das hiermit verknüpfte Hinterfragen jedweder als allgemeingültig behaupteten Sätze, aber auch die Konzentration auf das Individuum als alleinige reale Instanz zeigen sich in extremster Form im Solipsismus, der besagt, dass sich alles Geschehen nur im 15 Vgl. Jan Assmann, 2005, S. 24. 16 Jan Assmann, 2005, S. 24. 17 Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 13., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1985, S. 352.

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Individuum selbst abspiele, daher auch nur dieses Individuum existiere. Für den Gang der vorliegenden Untersuchung kann diese extreme Form aber vernachlässigt werden, der Subjektivismus hingegen ist relevant. Das Gedächtnis hat im Subjektivismus eine entscheidende Bedeutung, denn in das Gedächtnis schreiben sich die Dinge ein; es ist zwar offen nach außen, nimmt Reize von außen wahr, muss es auch, trotzdem hat es einen fast solipsistischen Status, es ist für sich, es ist individuell. Bei aller Nähe zu anderen, bei aller Kommunikation bleibt es autistisch, und damit bleibt auch das Individuum eine abgeschlossene Einheit.18 Diese Analyse wird im Kapitel über das individuelle Gedächtnis noch wichtig werden. Festzuhalten bleibt zunächst, dass mit der Anwendung des Begriffes Gedächtnis auf Gruppen eine höchst individuelle Erscheinung generalisierend angewendet wird, was zu erheblichen Schieflagen und Missverständnissen führt und dem zu Beschreibenden nicht gerecht wird. Das Wort „Gedächtnis“ wirkt auch deshalb deplatziert, weil es sprachhermeneutisch in einer anderen Kategorie angesiedelt ist als das kulturelle Phänomen, das Jan Assmann damit zu beschreiben vorgibt. Hierzu lieferte der englische Philosoph Gilbert Ryle (1900–1976) die gedankliche Blaupause. Er nannte eines seiner Analysewerkzeuge, um prinzipielle Denkfehler zu erkennen, „category-mistake“19, Kategorienfehler. Hiermit wollte er die Vermischung verschiedener Kategorien von Begriffen zeigen, die dafür sorgen, dass in der Philosophie eigentlich aneinander vorbeigeredet wird, wenn die Begriffe nicht klar definiert werden. Sein begriffsanalytisches Denken erläutert Ryle immer an sehr plastischen Beispielen. Den „category-mistake“ verdeutlicht er eindrücklich im folgenden Zitat: „A foreigner visiting Oxford or Cambridge for the first time is shown a number of colleges, libraries, playing fields, museums, scientific departments and administrative offices. He then asks ‚But where is the University? I have seen where the members of the Colleges live, where the Registrar works, where the scientists experiment and the rest. But I have not yet seen the University in which reside and work the members of your University.‘ It has then to be explained to him that the University is not another collateral institution, some ulterior counterpart to the colleges, laboratories and offices which he has seen. The University is just the way in which all that he has already seen is organized. 18 Die Vorstellung, das Individuum sei eine abgeschlossen Einheit, darf nicht mit der Vorstellung verwechselt werden, das Individuum sei völlig autonom, völlig unabhängig von anderen Individuen. Denn Abhängigkeit in gewisser Form widerspricht nicht dem Konzept der abgeschlossenen Einheit. 19 Gilbert Ryle: The Concept of Mind, New York 1965 (Erstveröffentlichung 1949), S. 16.

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When they are seen and when their coordination is understood, the University has been seen. His mistake lay in his innocent assumption that it was correct to speak of Christ Church, the Bodleian Library, the Ashmolean Museum and the University, to speak, that is, as if ‚the University‘ stood for an extra member of the class of which these other units are members. He was mistakenly allocating the University to the same category as that to which the other institutions belong.“20 Das Beispiel verdeutlicht anschaulich, was passiert, wenn ein Kategorienfehler begangen wird. Assmann wendet den Begriff des Gedächtnisses für ein Phänomen an, für das dieser Begriff nicht passt. Der Begriff des Gedächtnisses ist eine individuelle Kategorie, ihn auf eine Kulturerscheinung anzuwenden, muss hermeneutisch scheitern. Hinzu kommt, dass Assmann sein Konzept des kulturellen Gedächtnisses mit Belegen zu beweisen sucht, die der Kategorie „Kulturphänomen“ entsprechen, aber nicht dem Phänomen Gedächtnis. Für das Individuum passt der Begriff des Gedächtnisses, für eine Gesellschaft, eine Kulturerscheinung aber nicht. Auch wenn Assmann betont, Gesellschaften hätten kein Gedächtnis21, bleibt sein prinzipieller Fehler erhalten. Er wendet eine falsche Kategorie an, begeht also einen Kategorienfehler, und versucht diese falsche Kategorie mit unpassenden Belegen zu beweisen. Im Konzept des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses kommt das Individuum nur verkürzt vor. Zwar wird ihm ein individuelles Gedächtnis zugestanden, doch in Anlehnung an Halbwachs wird schon dieses als sozial geformt bezeichnet. Dadurch verliert das Individuum an Bedeutung für die Analyse einer Gruppe. Die Masse hingegen erscheint gesetzt als Trägerin und Weiterträgerin des kulturellen Gedächtnisses.22 Obwohl Jan Assmann 2006 selbst schreibt: „Weder die Gruppe noch gar die Kultur ‚hat‘ ein Gedächtnis“23, was das Konzept eines kulturellen Gedächtnisses eigentlich ad absurdum führt, betont er im gleichen Absatz, dass es ihm um die soziale und kulturelle Determiniertheit des Gedächtnisses gehe.24 Doch ist das dann noch „Gedächtnis“? Ist das nicht der Versuch, durch einen semantischen Trick eine Form des Gruppengedächtnisses zu etablieren? 20 Ryle, 1965, S. 16. 21 Vgl. Jan Assmann, 2006, S. 3. 22 Von der Bedeutung der Symbole und Zeichen als Darstellungen dieses Gedächtnisses kann zunächst abgesehen werden. Dies wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch behandelt. 23 Jan Assmann, 2006, S. 3. 24 Jan Assmann, 2006, S. 3.

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Die Grundfrage lautet also, was diese Theorien tatsächlich bedeuten, welche anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Vorstellungen hinter ihnen stehen. Damit diese Frage beantwortet werden kann, muss in einem historisch-philosophisch-soziologisch-anthropologischen Nach-Denkungsprozess zunächst analysiert werden, was denn eigentlich kommunikatives und kulturelles Gedächtnis meine, und diese Analyse muss, um ihre Folgerungen als Ausgangspunkt einer neuen kulturwissenschaftlichen Anschauung der „Gesellschaftsgedächtnisse“ verständlich zu machen, dabei immer wieder auf das Basiserleben und Basishandeln reduziert werden.

Kulturelles Gedächtnis? Geht man als Arbeitsthese davon aus, es existiere ein kulturelles Gedächtnis, stellt sich die Frage, was dies enthalte. Gibt es nur eins? Oder enthält es eine ungezählte Menge an Erlebnissen, Erfahrungen, Deutungen? Wenn dem so wäre, würde das Konzept keinen Sinn machen, denn dann wären Beliebigkeit, aufgrund der unüberschaubaren Zahl, und ungeordnete Interpretationswege, aufgrund der nicht möglichen Gewichtung, Kennzeichen eines kulturellen Gedächtnisses. Daher, und dies ist im Konzept vor allem bei Jan Assmann intendiert, scheint es nur ein singuläres kulturelles Gedächtnis zu geben, das zwar aus verschiedenen Quellen gespeist werden kann, aber auf eine singuläre Deutungshoheit ausgerichtet sein muss. Assmann geht bei der Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses von seinem Fachgebiet, der Ägyptologie, aus. Schon im Untertitel seines Werkes über das kulturelle Gedächtnis deutet sich dabei aber ein Problem an, das die Transformation in die Moderne schwierig macht und im Umkehrschluss dann auch für die Antike. Der Untertitel lautet: „Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“. Dabei entsteht das Bild einer homogenen Hochkultur, die sich in ihrer Entwicklung perfekt in das Konzept des kulturellen Gedächtnisses einreihen lässt. Das schlüssige Konzept scheint eine neue Dimension historisch-politischer Analysen zu eröffnen, die für die Fragen der Historikerinnen und Historiker an die Moderne endlich einen Lösungsweg zu bieten scheinen. Doch wendet man dieses Konzept auf ein willkürlich gewähltes Beispiel der Moderne an, wird deutlich, wo seine Schwächen liegen: Ein Historiker möchte heute das kulturelle Gedächtnis der Sowjetunion der Jahre 1917–1939 erforschen und dabei den Schwerpunkt auf die Regierungszeit Peters I. des Großen (1672–1725) legen. Ihm stehen für seine Untersuchung vor allem die Arbeiten von Historikern zur Verfügung.

Kulturelles Gedächtnis?  |

Es wird nicht lange dauern und „unser“ Historiker wird auf Michail Nikolajewitsch Pokrowski (1868–1932) treffen. Pokrowski galt bis zu Beginn der 1930er-Jahre als führender Sowjethistoriker mit klarer politischer Linie, die sich auch in seinen Tätigkeiten ausdrückte. So war er von 1918 an Stellvertretender Volkskommissar für Erziehung, ab 1921 Direktor des Institut der Roten Professoren, ab 1922 Direktor des Staatlichen Zentralarchivs in Moskau und ab 1925 Direktor der Gesellschaft Marxistischer Historiker. Alle diese Posten behielt er bis zu seinem Tod. Pokrowski hatte durch seine Arbeit als Historiker das Geschichtsbild der Bolschewiki entscheidend geprägt, er war von der These ausgegangen, dass es die Massen sind, die Geschichte machen, die Geschichte wurde bei ihm zu einem Klassenkampf. In das kulturelle Gedächtnis der 1920er-Jahre in der Sowjetunion wurde also Geschichte als gesellschaftskonzentriert, als massenkonzentriert eingeschrieben. Doch Anfang der 1930er-Jahre und dann besonders nach Pokrowskis Tod fielen seine Thesen in Ungnade. Stalin verfügte, diese „mechanistische Geschichtsschreibung“25 abzuschaffen, da sie „antimarxistisch“26 sei. Nun wurde Geschichte, und damit die Entwicklung des Russischen Reiches, wieder als das Werk großer Persönlichkeiten interpretiert, womit sich, nebenbei bemerkt, Stalin in eine Reihe mit Alexander Newski, Iwan dem Großen, Peter dem Großen und Lenin stellte. Im kulturellen Gedächtnis der 1930er-Jahre wurde also Geschichte als Werk großer Männer festgeschrieben. Zeichnet „unser“ Historiker aus diesem Material ein Bild des kulturellen Gedächtnisses der Sowjetunion und betrachtet dieses als normativ, reproduziert er die Leitlinien, besser: die Vorgaben kulturellen Handelns der Hochkultur. Eine solche Analyse stieße in der Fachwelt auf heftigen Widerstand, da sie als einseitig und einzig an den Regierungsstellen ausgerichtete Analyse kritisiert würde – zu Recht. Man würde nach zusätzlichen Quellen fragen, man würde reklamieren, dass es doch viele Strömungen in dieser Zeit gegeben habe und dass man aus den Texten z. B. Michail Pokrowskis kein kulturelles Gedächtnis ableiten könne. Zumal sich nach Stalins Tod im März 1953 die Sache wieder drehte. Noch 1953 wurde der Persönlichkeitskult scharf zurückgewiesen und gefordert, man solle sich auf die entscheidenden wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bei der Reichsgründung Russlands konzentrieren, so die geschichtswissenschaftliche Presse, und die Massen wieder als den

25 Bernd Feuchtner: Die Filmmusik von Sergej Prokofjew. Manuskript für den Südwestfunk Baden-Baden, www.feuchtner.de/radio/filmmusik_SP.html (Zugriff: 1.5.2008). 26 „Peter der Große in Ungnade“, in: Die Zeit, Nr. 42, 15.10.1953, S. 16.

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Motor der Geschichte betrachten, wie die Parteipresse diese These unterstützte.27 Ein zweites Beispiel: Am 13. August 1961 begann die DDR den Bau der sogenannten „Mauer“. Handelt es sich nun um einen Teil der innerdeutschen Grenze, die West- Berlin als Insel der BRD im Hoheitsgebiet der DDR isolierte, oder war es ein „antifaschistischer Schutzwall“, wie der offizielle Sprachgebrauch der DDR 1961 lautete? Und schafft ein solcher Sprachgebrauch28 ein Master-Narrativ?29 Es wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass Herrschaft, und dies bezieht sich auf jede Form von Herrschaft, also auch auf demokratische Systeme, die Deutungshoheit besitzt und dies bis hin zu extremsten Interpretationen nutzen kann. Die Frage ist aber, ob damit etwas geschaffen wird, was man dann als kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft bezeichnen kann. Lutz Niethammer sagt in einem Artikel über Erinnerungsgeschichte und kollektives Gedächtnis, in dem er den Umgang der DDR und der BRD mit der nationalsozialistischen Vergangenheit beschreibt, es habe in den beiden Staaten unterschiedliche Angebote für das kollektive Gedächtnis gegeben, was meint, dass der Zugang zur NS-Geschichte derart differierte, dass man fast meinen könnte, es habe sich auch schon vor 1933 um zwei unterschiedliche Staaten gehandelt. Die DDR sah sich als Nachfolgestaat der „besseren Deutschen“, suchte nach alternativen Identifikationsmöglichkeiten, während die BRD die ihr zugeschriebene Rolle als Nachfolgestaat der Täter zwar spät, aber schließlich doch annahm.30 So hätten sich, folgt man den Assmann’schen Theorien, zwei unterschiedliche kulturelle Gedächtnisse entwickelt. 1989 aber folgte der Zusammenbruch der DDR, aus beiden Staaten wurde ein Staat – gab es nun zwei kulturelle Gedächtnisse? Oder wären sich die Mehrheiten der 27 Vgl. zu diesem Wandel „Peter der Große in Ungnade“, in: Die Zeit, 15.10.1953, S. 16. 28 Die Sprache als Trägerin eines Geschichts- und Erinnerungskonzepts zeigt sich auch an einem Beispiel im Packbuch. Dort schreibt Robert  B. über seine Zeit im Jüdischen Wanderbund: „Ich wurde als einer der ‚Führer‘ bestimmt (das Wort war damals noch nicht verpönt, heute sagt man ‚Madrich [hebr.: Anführer, Leiter, E. P.]‘).“ Packbuch, S. 98. Vgl. Thorsten Eitz und Georg Stötzel: Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, 2 Bände, Hildesheim, Zürich, New York, 2007 und 2009. 29 Begriff und Konzept des Master-Narrativs werden im Laufe der Untersuchung noch näher erläutert. 30 Vgl. Lutz Niethammer: Erinnerungsangebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen im kollektiven Gedächtnis, in: Hanno Loewy (Hrsg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 21–34.

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beiden Gesellschaften einig gewesen über die Bewertung der nationalsozialistischen Vergangenheit, wenn man sie befragt hätte? Mit diesen Beispielen wird deutlich, dass sich die Idee eines kulturellen Gedächtnisses aus dem Blick auf eine hegemoniale Kultur, eine Hochkultur, besser: die Herrschaftskultur ableitet. Doch damit wird nicht eine Gesellschaft in ihrem Verständnis, vor allem in ihrem Selbstverständnis erschlossen. Fast das Gegenteil ist der Fall: Es wird konstruierte Herrschaftskultur als genuine Basis einer Gesellschaft beschrieben. Im oben geschilderten Beispiel könnte über das kulturelle Gedächtnis der Sowjetunion vor allem in Bezug auf Peter den Großen nur eine Aussage über einen historiografischen Herrschaftsdiskurs gemacht werden. Das strenge Festhalten am Konzept eines kulturellen Gedächtnisses wirkt kontraproduktiv für den Versuch, Lebenswelten, historische Phänomene und gesellschaftliche Entwicklungen zu erklären. Daher muss das Konzept eines kulturellen Gedächtnisses, wie es Jan Assmann vorstellt, als untauglich für einen lebensweltlich hermeneutischen Zugang zur Geschichte abgelehnt werden. Wie bereits angedeutet, hat Aleida Assmann das Konzept des kulturellen Gedächtnisses noch um das Phänomen eines „nationalen Gedächtnisses“ erweitert, das dann gegeben sei, wenn Geschichte im Dienst der Identitätsbildung stehe, wenn sie von Bürgern angeeignet und von Politikern beschworen werden könne. Dieses „nationale Gedächtnis“ sei eine institutionell verankerte und „von oben“ auf die Gesellschaft einwirkende einheitliche Konstruktion.31 Die Orientierung an der Hegemonialkultur, wie sie auch beim kulturellen Gedächtnis gezeigt wurde, ist augenfällig. Um ihre These zu untermauern, wählt Aleida Assmann eine Rede des französischen Religionswissenschaftlers Ernest Renan (1823–1892). „Qu’est-ce qu’une nation?“, hatte dieser 1882 gefragt und die Frage auch gleich beantwortet. Renan, so Assmann in ihrer Zusammenfassung, lehnte alle hergebrachten Vorstellungen, was eine Nation ausmache, ab. Weder Rasse, Sprache, Religion oder Geografie seien für eine Nation bestimmend, sondern dass es sich um eine demokratische Willensnation handle, die durch ein tägliches Plebiszit erneuert werden müsse. Doch Renan sei auch jedwede materielle Basis einer Nation als zu kurz greifend erschienen, „die Nation habe nicht nur einen ‚Körper‘, sondern auch eine ‚Seele‘.“32 Dies klingt in Renans Text selbst etwas anders, denn er schreibt, die

31 Vgl. Aleida Assmann, 2006, S. 37 32 Aleida Assmann, 2006, S. 38.

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Nationalität habe auch eine Gefühlsseite, sie sei Seele und Körper zugleich.33 Das ist aber etwas anderes als Seele und Körper zu haben, denn das Zusammenfallen beider überwindet das Bild von zwei getrennten Bereichen. Aleida Assmann hebt nun auf den Begriff der Seele ab und formt ihn um in einen Identitätsdiskurs, denn dies habe Renan eigentlich gemeint. Renan schreibt dazu, dass die Nation „eine Seele, ein geistiges Prinzip“ sei; zwei Dingen würden dieses Prinzip speisen, der „gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen“ und „der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.“34 Diese Konzentration auf die Seele stellt allerdings die Frage, wo der Körper sei und wo er herkomme, wenn sich die ganze Nationenbildung über die Seele definiere. Renan scheint den Körper als gegeben vorauszusetzen, daher braucht er auf die von ihm zurückgewiesenen Konditionen nicht eingehen. Wenn der Körper „natürlich“ vorhanden ist und nur die Seele der Entwicklung bedarf und zu einer Entwicklung fähig ist, braucht man sich nicht um den Körper zu kümmern. Ein wenig erinnert diese Haltung an die Ideen eines Achad Haam (1856– 1927), der sich in den 1880er- und 1890er-Jahren intensiv mit dem Zionismus auseinandersetzte und anstatt in einer Auswanderung nach Palästina und einer damit intendierten Staatsgründung in der Errichtung eines „geistigen Zentrums“ in Palästina die einzige Lösung zu erkennen glaubte.35 Doch mit dem Blick auf den Zionismus wird auch das Argument Renans ausgehebelt, denn gerade die Entwicklung hin zu einem jüdischen Staat konnte nicht nur über die Seele stattfinden, nicht nur über gemeinsame Erinnerungen einer Gruppe von Leuten, sondern sie fand statt vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Religion und einer gemeinsamen Sprache, die sich zwar in der Diaspora zu einer reinen Kultussprache entwickelt hatte, die aber am Ende des 19. Jahrhunderts wieder belebt und zu einem mächtigen verbindenden Element der zionistischen Bewegung und schließlich auch des Staates Israel wurde. Mit dem Blick auf die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Europa wird auch noch ein zweites Argument gegen Renans These geliefert. Wenn das gemein33 Ernest Renan, Was ist eine Nation?, 1882, abgedruckt: www.zeit.de/reden/die_ historische_rede/200109_historisch_renan (Zugriff 11.5.2008). 34 Renan, 1882. 35 Achad Haam verfasste einige Texte über seinen „Kulturzionismus“, der im weiteren Verlauf der Untersuchung noch eine Rolle spielen wird, vgl. Kapitel 14. Achad Haams bekannteste Schrift heißt: „Nicht dies ist der Weg“, die er in zwei Aufsätze geteilt 1889 in der hebräischsprachigen Zeitschrift „Ha-Melitz“ veröffentlichte. Auf Deutsch sind sie erschienen in Achad Haam: Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, Erster Band, Berlin 1923, S. 41–64.

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same Erleben, und hier betont Renan vor allem das gemeinsame Leiden, und der Wunsch zusammenzuleben eine Nation ausmachen, müssten Juden und Jüdinnen schon sehr früh, spätestens aber mit dem Einsatz jüdischer Soldaten z. B. im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und im Ersten Weltkrieg Teil der Nation geworden sein. Antisemitismus hätte also eigentlich gar nicht virulent werden dürfen, wenn Renans These, dass Sprache, Religion, Land und Rasse nicht zu einer Nationenbildung betragen würden, zuträfe. Gerade der Blick auf die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Europa lehrt genau das Gegenteil: Die europäischen Nationen definieren sich sehr wohl immer über einige dieser Konditionen, wobei unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen werden. Was aber bleibt, ist der Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der Nationsgemeinschaft. Dies heißt nicht, dass diese sofort und derart radikal aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden wie in Deutschland ab 1933, es heißt aber, dass das gemeinsame Erleben, das gemeinsame Leiden, und hier war die jüdische Bevölkerung genuin Teil der europäischen Gesellschaften, also die sich daraus vermeintlich entwickelnde Seele Juden und Jüdinnen ausschließt – und zwar, weil sie den – nach Renan unwichtigen – Bestimmungsfaktoren nicht entsprechen. Es kann Ernest Renan hier nicht vorgeworfen werden, dass er die Geschichte, die sich 50 Jahre später abspielen sollte, nicht kannte, es kann aber schon nachgefragt werden, wieso er die Zeitgeschichte so wenig beachtete, denn ein Blick nach Deutschland, dem er sehr nahestand – er hatte u. a. Semitistik und Deutsch studiert –, hätte ihm gezeigt, dass nach der Reichsgründung 1871 schon die kurze Zeit danach ausbrechende sogenannte Gründerkrise mit heftigen antisemitischen Ausfällen verbunden wurde, die in der Debatte über Heinrich von Treitschkes antisemitischen Text „Unsere Juden“ in den „Preußischen Jahrbüchern“ 1879 sowie dem sich daran anschließenden Berliner Antisemitismusstreit kulminierte und deutlich zeigte, dass auch die gemeinsame Erfahrung die jüdische Bevölkerung nicht in die Nation aufzunehmen half, denn es wurden in der Gründerkrise und im Berliner Antisemitismusstreit nicht einzelnen Juden Verfehlungen vorgeworfen, sondern es wurde pauschal einer Gruppe das Recht der Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestritten. Renans Thesen erweisen sich auf diesem Hintergrund als sehr brüchig und im besten Falle als beschönigend. Er fällt mit seiner Betonung der Seele zwar nicht „in den romantischen Nationsdiskurs deutscher Provenienz“36, wie Aleida Assmann schreibt, aber in euphemistisches Wunschdenken französischer Nationsromantiker. Es ist noch anzumerken, dass sich Renans Ideologiefreiheit und 36 Aleida Assmann, 2006, S. 38f.

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sein offener Blick auf die europäischen Gesellschaften beschränkte; sobald er in Kontakt mit islamischen Gesellschaften kam, schaute er auf diese Gesellschaften europazentriert von oben herab, sprach ihnen jede Entwicklungsmöglichkeit durch die Erkenntnisse der Wissenschaft – dies war sein Credo für Europa – ab und fabulierte von „geistiger Nichtigkeit der Rassen“ und der „GeistesBeschränktheit eines wahrhaft Gläubigen“.37 Das nationale Gedächtnis unterliegt hier der gleichen Kritik wie das kulturelle Gedächtnis, es wirkt statisch, es wirkt stark konstruiert, was in der Analyse des nationalen Gedächtnisses weniger ein Problem ist als der Umstand, dass die Vertreter dieses Konzepts das kulturelle Gedächtnis auf eine Weise absolut setzen, die eine tiefere Analyse historischer Phänomene nur noch schwer möglich macht, da diese stark von der Masse als Träger des kulturellen Gedächtnisses ausgehen. Es wird dem Individuum eine Selbsteinschätzung nicht mehr zugestanden, alles findet unter dem Verdikt einer herrschenden Kultur statt. Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, die Lebenswelt eines Individuums gerät so aus dem Blick. Gerade bei Jan Assmann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sein Konzept eines kulturellen Gedächtnisses schwebe omnipräsent und omnipotent über der Gesellschaft, und fast fühlt man sich dabei an Bilder aus der christlichen Tradition des über allem schwebenden „Heiligen Geistes“ erinnert.

Kommunikatives Gedächtnis? Das kommunikative Gedächtnis bildet sich durch die Kommunikation der Individuen miteinander. Meint dies, man tauscht sich über Ereignisse, die man gemeinsam erlebt hat, aus und behält sie so im Gedächtnis? Oder erzählt Person A Person B von seinen Erlebnissen, worauf Person B teilhat am kommunikativen Gedächtnis, am Prozess des Im-Gedächtnis-Behaltens? Im ersten Falle erzählen sich zwei Personen Erinnerungen an ein Ereignis.38 Sie haben beide an dem Ereignis teilgenommen, tauschen sich aus. Auch wenn Person A und Person B am selben Ort zur selben Zeit waren, und noch stärker, wenn beide an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten waren, haben sie das 37 Vgl. hierzu Birgit Schäbler: Religion, Rasse und Wissenschaft. Ernest Renan im Disput mit Jamal al-Din al-Afghani, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=274 (11.5.2008). 38 Dass diese Erinnerungen auch sehr verschieden sein und sich verändern können, wird im nächsten Kapitel erläutert.

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Ereignis aus ihrer ganz persönlichen Perspektive beobachtet.39 Sind die Erzählungen widersprüchlich? Ergänzen sie sich? Nun stehen eigentlich zwei Erzählungen im Raum, die Eingang in das kommunikative Gedächtnis finden sollen. Ändert A möglicherweise seine Erzählung, nachdem er die Version von B gehört hat? Und würde dies auch eine Änderung der Erinnerung bedeuten? Wo genau würden nun die Erzählungen im kommunikativen Gedächtnis sitzen? In den Gedächtnissen der Personen A und B? Es prallen hier zwei Erzählungen aufeinander, die ihre elementare Basis im individuellen Gedächtnis der Personen A und B haben. Dass sich Erzählungen über Ereignisse verändern, ist eine Binsenweisheit, die auch im Kapitel über das individuelle Gedächtnis behandelt werden wird. Die Frage ist aber vielmehr, ob sich Erinnerungen ändern oder nur die Erzählung eines Ereignisses, denn zu schnell wird davon gesprochen, dass sich die Erinnerung verändert habe, nicht einfach die Wiedergabe. Die beiden aufeinanderprallenden Erzählungen von Person A und Person B stehen also im Raum des kommunikativen Gedächtnisses. Wie geht es nun weiter? Kommen noch mehr Erzählungen von Zeugen des Ereignisses hinzu? Diese könnten entweder eine der Varianten stützen oder eine neue Sicht einbringen. Damit erhöht sich die Menge der Erzählungen über das Ereignis. Und wie verhält es sich mit einer weiteren Person C, die am geschilderten Ereignis nicht beteiligt war, aber beide Erzählungen hört? Trägt Person C nun ebenfalls zur Gestaltung des kommunikativen Gedächtnisses bei, indem sie die Erzählungen wiederum weitergibt? Aber welche wird sie weitergeben? Wählt sie aus? Kombiniert sie? Synthetisiert sie? Die verschiedenen Erzählungen über ein Ereignis sind so lange kein Problem, bis jemand versucht, dem Ranke’schen Diktum, wie es denn gewesen, zu folgen. Die Vorstellung einer großen, umfassenden Narration ist so alt wie das Erzählen über Ereignisse. In der Historiografie hat sich für diese Erzählungen in den letzten Jahren der Begriff des Master-Narrativs einbürgert. Um diesen Begriff exakt definieren zu können, muss zunächst noch einmal der Geschichts-Begriff angeschaut werden, um daraus die Definition des Master-Narrativs ableiten und vom Konzept des kulturellen Gedächtnisses abheben zu können. Geschichte40 umfasst zum einen die reinen Ereignisse, zum anderen daraus folgend alle Prozesse, in denen Menschen stehen, was auch 39 Was diese individuelle Beobachtung für den Erinnerungsprozess bedeutet, wird ebenfalls im nächsten Kapitel angesprochen. 40 Für diese Definition stütze ich mich grundlegend auf Winfried Schulze: Einführung in die Neuere Geschichte, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1996, S. 255f.

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die Möglichkeiten menschlichen Handelns einschließt. Dies kann als Ereignis-Handlungs-Ebene bezeichnet werden. Die zweite, konsekutive Ebene umfasst das Versprachlichen der Ereignis-Handlungs-Ebene; hierunter kann das Berichten von dem, was geschehen ist, verstanden werden, dann aber auch die wissenschaftliche Form der Geschichtsschreibung, die Historiografie. Das Master-Narrativ ist eine Mischform der zwei Unterebenen der Versprachlichungsebene, indem über ein Ereignis berichtet wird, also eigentlich dem entsprochen wird, was Leopold von Ranke gefordert hat, zu schauen, wie es denn wirklich gewesen. Rankes Anspruch kann nicht nur als reine Ereignisschilderung verstanden werden, denn sonst hätte er nicht „wie es gewesen“ gefragt, sondern „was geschehen sei“.

Das Master-Narrativ Ein Master-Narrativ gibt eine allgemein anerkannte Darstellung eines Ereignisses, es orientiert sich an Fakten und will selbst Orientierungswissen vermitteln. Dabei versucht es, dem Anspruch der Objektivität zu genügen, auch wenn dies in der Historiografie als überholte, weil unerfüllbare Forderung angesehen wird. Damit hat zumindest der wissenschaftliche Teil der Geschichtswissenschaft recht, er kann aber der Frage nach dem Ablauf eines Ereignisses nicht ausweichen. Diese Frage beantwortet ein Master-Narrativ. Das Master-Narrativ ist aber kein Instrument kultureller Überformung. Es erhebt zwar den Anspruch einer Objektivität, ihm kann aber widersprochen werden, besonders wenn neue Fakten auftauchen, die eine Änderung bedingen. Eine zu starke Deutung widerspricht aber der Idee des Master-Narrativs. Es ist, möge der Vergleich gestattet sein, eher ein Lexikonartikel als eine historiografische Interpretation. Das kulturelle Gedächtnis in der Assmann’schen Auslegung hingegen ist gekennzeichnet durch starke Überformung, aktiv wie passiv, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Hermeneutik erhebt, dabei auch Mythen in den Prozess mit einbindet und damit eine verschwommene Grenze zieht zwischen dem Ereignis, der Erzählung darüber und der daraus entwickelten Idee über das Ereignis. Die Frage nach einem Master-Narrativ stellt sich grundsätzlich, von den vermeintlich kleinsten Geschehnissen in Familien („Wer hat den Streit zwischen Tante und Onkel angefangen?“) bis hin zu weltgeschichtlich bewegenden Ereignissen („Was geschah am 11. September 2001 in New York?“). Um die Ranke’sche Frage beantworten zu können, denn genau darauf laufen Master-Narrative hinaus, gibt es zwei Wege. Der erste, vor allem bei z. B. Famili-

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enereignissen, ist der Weg des „Oral Narrative“, dies meint, es setzt sich eine allgemeine Sichtweise durch, die in der Familie auch über folgende Generationen hin mündlich weitergegeben wird. Dies schließt aber nicht aus, dass bestimmte Familienmitglieder eine andere Sichtweise haben und diese auch äußern. Inwieweit dies, nebenbei bemerkt, Grund für einen Konflikt innerhalb der Familie ist, hängt von der Bewertung und Wirkmächtigkeit des Ereignisses ab. Wirkmächtigkeit und Bewertung sind als Grundfragen auch für den zweiten Weg wichtig, bei dem sich nicht eine mündliche Erzählung durchsetzt, sondern ein Master-Narrativ verschriftlicht wird. Dies ist kein passiver Akt, es „entsteht“ nicht einfach ein Master-Narrativ, es wird vielmehr aktiv verfasst. Um es systematisch auszudrücken: Jemand hat oder nimmt sich die Deutungshoheit über ein Ereignis und verfasst entweder selbst ein solches Master-Narrativ oder gibt es in Auftrag. Wie sich das in westlich-demokratischen Gesellschaftsverfassungen und den entsprechenden Organen abspielt, zeigt sich z. B. am Instrument des „Berichtes einer Untersuchungskommission“, die von einer Regierung eingesetzt wird, um Ablauf und Hintergründe eines Ereignisses zu klären. Diese Untersuchungskommissionen setzen sich meist aus Mitgliedern des Parlaments zusammen, was nicht unproblematisch ist, wenn es sich um Vorgänge handelt, in die die Legislative selbst involviert ist. Die Judikative ist ebenfalls ein solches Instrument zur Klärung des Ablaufes eines Ereignisses, doch steht hier noch der Anspruch des Durchsetzens der Rechtsvorstellung dahinter. In politisch diktatorischen Systemen werden aus diesen Instrumenten der Klärung schnell Instrumente der Zwangsbestimmung, womit ein Grundsatz des Master-Narrativs deutlich wird: Die Deutungsmacht erschließt sich über die gesellschaftliche und politische Macht, die je nach Herrschaftsstruktur stärker oder schwächer monopolisiert ist. Der oben geschilderte Mauerbau 1961 kann als Beispiel der Deutungsmacht eines eher repressiven Systems gelten, die Debatten über die nachrichtenlosen Vermögen in der Schweiz ab den späten 1990er-Jahren hingegen sind Abbild einer weniger repressiven Herrschaftsstruktur.41 Dass aber auch Historiker ein schon verfasstes und allgemein als gültig anerkanntes Master-Narrativ verändern können, zeigte die Debatte um die 41 Vgl. hierzu Barbara Bonhage, Hanspeter Lussy und Marc Perrenoud: Nachrichtenlose Vermögen bei Schweizer Banken. Depots, Konten und Safes von Opfern des nationalsozialistischen Regimes und Restitutionsprobleme in der Nachkriegszeit (Veröffentlichungen der UEK, Band  15), Zürich 2001. Zur Diskussion vgl. Thomas Maissen: Verweigerte Erinnerung, Zürich 2005.

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Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer zur Kriegsschuldfrage im Ersten Weltkrieg. Die im Versailler Vertrag festgeschriebene Schuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ausbruch des Krieges war schon in den 1920erJahren Gegenstand heftiger Debatten. Vor allem von konservativ-rechten Kreisen in Deutschland wurde gegen diese Zuschreibung stark polemisiert. Aber auch die anderen am Weltkrieg beteiligten Nationen nahmen diese Debatte auf. Anfang der 1950er-Jahre schien die Diskussion dann beendet. Zwar folgte man nicht ganz dem Eindruck Lloyd Georges, der im Dezember 1920 vom Taumeln und Stolpern in den Krieg gesprochen hatte, man sah es differenzierter, aber, besonders auf deutscher Seite, auch als Diskurs über den Zweiten Weltkrieg. Dieser sei von Deutschland begonnen worden, beim Ersten Weltkrieg hingegen könne keiner Regierung der Vorwurf eines bewusst ausgelösten Krieges gemacht werden, so eine Kommission deutscher und französischer Historiker 1951.42 Dieses Master-Narrativ schien unverrückbar in der Gelehrtenwelt zu stehen, und gerade für bundesdeutsche Historiker war diese Auslegeordnung ein positiver Faktor in den anstehenden Diskussionen über den Zweiten Weltkrieg. Ab 1959 wurde die Historikerzunft aber heftig durcheinandergeschüttelt. Fritz Fischer, Professor in Hamburg, hatte neue Quellen gefunden und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die für die damalige Zeit ungeheuerliche These gegossen, das Deutsche Kaiserreich habe durch seine imperialistische Politik – bezeichnenderweise nannte er seine erste Veröffentlichung zu diesem Thema 1961 „Griff nach der Weltmacht“ – ein viel höheres Maß an Schuld am Ersten Weltkrieg, als bisher angenommen wurde und Konsens war. Die anschließende Debatte zog sich über mehrere Jahre hin und wurde nicht nur im Elfenbeinturm der Geschichtswissenschaft geführt, im Gegenteil. Die als Fischer-Kontroverse bezeichnete Auseinandersetzung war Teil eines medialen öffentlichen Diskurses, der sich zwar vorderhand um die Kriegsschuldfrage drehte, dahinter aber ein tiefer liegendes Problem offenbarte, nämlich den Umgang der westdeutschen Historiker mit der „Vorgeschichte“ der Bundesrepublik. Um die Schuld am Zweiten Weltkrieg konnte nicht gestritten werden, aber für den Ersten Weltkrieg sollte Deutschland nicht auch noch schuldig gesprochen werden. Doch Fischers Thesen beruhten auf solidem Quellenstudium, seine Schlussfolgerungen vor allem in „Griff nach der Weltmacht“ 42 Vgl. Karl Dietrich Erdmann, Der Erste Weltkrieg (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Band 18), München 1985 (Taschenbuchausgabe; die Originalausgabe des Handbuchs der deutschen Geschichte erschien 1973 in Stuttgart), S. 91.

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waren nur schwer zu widerlegen, zumal er in diesem Buch seine These noch vorsichtig formulierte: „Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat […] trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch eines allgemeinen Krieges.“43 Die mediale Auseinandersetzung und weitere Quellenfunde ließen Fischer seine These in weiteren Veröffentlichungen noch deutlicher vertreten, so z. B. 1965, als er in einem Artikel für „Die Zeit“ schrieb, Deutschland habe das Risiko eines Weltkriegs im Juli 1914 nicht nur bejaht, „sondern […] diesen großen Krieg gewollt, dementsprechend vorbereitet und herbeigeführt.“44 Die stark zugespitzte Anti-These zur These des Hineinschlitterns rief noch einmal die Kritiker auf den Plan. Fischers radikaler Blick auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde nicht übernommen, aber das Master-Narrativ des Hineinschlitterns war nicht mehr haltbar. Deutschland, und das ist heute Teil des Master-Narrativs über den Ersten Weltkrieg, trägt ein gerüttelt Maß Schuld auch am Ausbruch dieses Krieges.45

Wie kommt das Wissen in eine Gesellschaft? Es schließt sich daran die Frage an, wie genau Wissen in eine Gesellschaft eingeht, d.  h., wie es genau gelehrt und verbreitet werden muss, damit es sich festsetzt. Dieses Wissen lässt sich noch einmal grob in zwei Teile teilen, deren genaue Definition die Problematik zeigen wird. Es handelt sich um das gelehrte Wissen einerseits über Ereignisse und andererseits über die Vermittlung des Verhaltenskodex, worunter Werte, Sitten und Moral verstanden werden. Der Verhaltenskodex umfasst tatsächlich fast alle Bereiche des zwischenmenschlichen Zusammenseins, er baut auf Kulturtraditionen auf und wird von verschiedensten Akteurinnen und Akteure an andere Akteurinnen und Akteure weitergegeben, sei es nun in der Familie, in den Bildungseinrichtungen oder am Arbeitsplatz, sei es im Freundeskreis, im Verein, in Organisationen. Diese Regeln, denn etwas anderes sind sie nicht, werden öffentlich verkündet, aber auch stillschweigend vorausgesetzt, weswegen sich in Tourismusbüchern immer ein Kapitel über „Sitten und Gebräuche“ des Reiselandes 43 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961, S. 97. 44 Fritz Fischer, Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Die Zeit, Nr. 36, 1965, S. 30. 45 Zur Wirkung der Thesen Fritz Fischers vgl. das Interview mit Konrad H. Jarausch: „Ein Buch wie ein Sprengsatz“, in: Spiegel special, 1/2004, „Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, S. 135–137.

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findet, damit die Reisenden wissen, was von ihnen in bestimmten Situationen erwartet wird. Auch dieses Wissen wird nicht durch einen mystischen Vorgang in gesellschaftliche Gedächtnisse eingeschrieben, sondern ist ein klarer Lehrund Lernprozess. Selbstverständlich ist dieser Prozess Wandlungen unterworfen, die sich aus geänderten Zeitumständen ergeben können, aber auch diese Änderungen werden wieder gelehrt. Es gibt in diesem Bereich zwar gewisse Master-Narrative, vor allem im Rechtsbereich, aber sonst handelt es sich sehr häufig auch um ein Aushandeln innerhalb einer Gesellschaft durch die Mitglieder der Gesellschaft, die sich dieses Aushandelns auch bewusst sind. Praktische Beispiele sollen diese These erläutern: Es existieren in den lateinisch-christlich geprägten Gesellschaften im großen Rahmen klare Übereinstimmungen wie, aber noch stärker wann gewisse Feste gefeiert werden. So gilt der 24. Dezember als der Weihnachtsabend. Weihnachten konzentriert sich also auf den Abend des 24. Dezember und auf die darauf folgenden zwei Weihnachtstage. Dass sich nun aber in der Ausführung dieses Festes höchst unterschiedliche Traditionen zeigen, macht deutlich, wie sehr sich Verhaltenskodizes der einzelnen Gruppen aufspalten lassen, ohne dabei das Master-Narrativ infrage zu stellen. Man kann die Festtagstradition bis auf die einzelnen Familien herunterbrechen, und es ist möglich, schon bei zwei reformierten Familien im selben Dorf im Aargau nicht die gleichen Festtagstraditionen zu finden. Diese Traditionen werden den Kindern weitergegeben, die sie dann in ihren Familien oder Lebensgemeinschaften neu miteinander aushandeln müssen, vielleicht eine ganz übernehmen, vielleicht eine Mischform wählen, vielleicht eigene Rituale kreieren, die sich dann als Traditionen im individuellen Erleben niederschlagen. Zwar stellen Kirchenvertreter sehr häufig den Anspruch, die Mitglieder ihrer jeweiligen Kirche sollten den entsprechenden Traditionen, die auch nichts anderes als einmal kreierte Rituale sind, folgen, aber ein Zwangssystem ergibt sich daraus nicht automatisch. Es ist wieder ein Lernen und Lehren, ein Sich-in-die-Abläufe-Einleben, ein Sich-auf-dieseEinlassen. Und dieses Lehren und Lernen heißt nicht, dass es keine Gegenbewegungen geben kann, ein Punkt, der im Konzept des kulturellen Gedächtnisses zu wenig betont wird. Gerade die widerständigen Bewegungen fordern den Verhaltenskodex heraus, stellen ihn infrage, und je nach gesellschaftlicher Bedeutung eines Kodex wird daraus der Fall eines neu zu verhandelnden Kodex oder eines Teils davon. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Kodex ändern kann, ist das Verhalten der Gesellschaft gegenüber unehelichen Kindern. Noch vor 30 Jahren war dies in der Schweiz ein schwerer Makel, der der Mutter wie auch dem Kind, nicht aber dem Vater anhaftete. Heute ist dies in weiten Teilen zumindest der urba-

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nen Gesellschaft nicht mehr der Fall, der Kodex hat sich geändert, ein uneheliches Kind wird nicht mehr als Makel angesehen. Ein zweites Beispiel für die Debatte über einen Verhaltenskodex ist die in den letzten Jahren aufgeflammte Beschäftigung mit den Zehn Geboten als Grundlage europäischer Wertvorstellungen. Auch im Packbuch findet sich ein konkretes Beispiele für solche Änderungen. Sigi R. berichtet über die Verbesserung des Kündigungsschutzes für Lehrlinge, denn während er noch Angst hatte, sein Stelle zu verlieren, weil er für seine Bergtouren um freie Zeit an Sonntagen (!) bitten musste – die Sonntagmorgenarbeit kompensierte im Sommer den Arbeitszeitausfall am Schabbat –, erscheint dies „heute undenkbar“.46 Wichtig ist es festzuhalten, dass es Bereiche gibt, in denen der Verhaltenskodex in eine Rechtsform gegossen wird, die dann dazu bestimmt ist, diesen Kodex mittels Bestrafung bei Verstößen aufrechtzuerhalten. Dass auch hier Änderungen nicht nur möglich, sondern im Grunde für eine Gesellschaft und ihren Kodex überlebensnotwendig sind, zeigt die Entwicklung der Todesstrafe von einem häufig angewandten Mittel hin zu einer in europäischen Gesellschaften geächteten Strafform. Die andere Form von Wissen einer Gesellschaft beinhaltet das gelehrte Wissen über ein oder mehrere Ereignisse, wenn man es etwas umfassender formulieren möchte: die Geschichte einer Gesellschaft, aber dies heißt nichts anderes, als dass über ein Ereignis erzählt wird, damit dieses Ereignis gelehrt wird, es also zu einer kulturellen Überlieferung kommt, denn dieses Wissen schreibt sich nicht in die Gedächtnisse der Einzelnen von selbst ein, sondern wird auf vielfältige Weise gelehrt und gelernt. Diese Überlieferung unterscheidet sich nur in einem vermeintlichen Detail vom Lehren der mathematischen Grundbegriffe, den grammatikalischen Regeln der deutschen Sprache oder der Tonleiter. Das Detail betrifft die Gültigkeit solcher Lehren. Während bestimmte Teile natur- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis als allgemeingültig anerkannt werden („Gesetz der Schwerkraft“), verhält es sich mit den Erzählungen über Ereignisse ein wenig anders, wobei hier zunächst einmal nicht auf die historiografische Arbeit angespielt wird, sondern auf das bereits eingeführte Phänomen eines Master-Narrativs. Gerade in diesem Bereich scheint das Konfliktpotenzial besonders groß zu sein, obwohl oder gerade weil es wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die, vermeintlich, eine objektive Darstellung des Ereignisses zeigen. Aber Geschichtswissenschaft, überhaupt alle Wissenschaften, die in den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften fallen, haben neben der Erforschung eines 46 Packbuch, S. 65.

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Ablaufs eines Ereignisse („Wer tat wann was?“) immer den zweiten Strang geisteswissenschaftlichen Arbeitens in ihrem Denken zu berücksichtigen, die Interpretation des Geschehenen, der Handlungsmotive und der Resultate. Damit wird es aber auch sehr schwer, klar zu bestimmen, was vermittelt werden soll. Und nicht nur das. Es ist auch die Frage, inwieweit überhaupt Dinge in ein vermeintlich kulturelles Gedächtnis eingehen und wie sich dieses Eingehen dann äußern würde, d. h., wie man erkennen könnte, dass das Wissen über ein Ereignis in ein vermeintliches kulturelles Gedächtnis eingegangen ist und dort, was wohl die nächste Stufe wäre, etwas bewirkt.

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10. Gedächtnis eines Individuums Etwas Erlebtes wird erzählend wiedergegeben. Das klingt so banal, wie es existenziell ist, denn womit beschäftigt sich das Erzählen eines Individuums sonst, wenn es nicht reine Fiktion ist? Es beginnt mit der Schilderung eines Erlebnisses, das gerade erst passiert, also vergangen ist. Aber wann fängt die Erinnerung an ein Erlebnis an? Wann also passiert das Geschehen nicht mehr? Wann ist „der Moment“ vorbei? Physikalisch gilt die „Plancksche Zeiteinheit“ als kürzeste Zeitspanne, in der ein Geschehen noch als nacheinander ablaufend bezeichnet werden kann. Diese Zeiteinheit beträgt 10–43 Sekunden. Es ist angesichts dieser Zahl deutlich, dass das menschliche Fassungsvermögen diesen Moment als zu bestimmenden Moment nicht fassen kann. Der Eindruck, Zeit fließe immer, ist daher im Sinne der Definition des Moments so zu bestimmen, dass das Geschehen im Moment des Geschehens schon Erinnerung ist. In Kapitel 9 ist bereits das Problem der Weitergabe der Erinnerung an ein Ereignis besprochen worden. Im Folgenden wird dieses Thema für den Bereich der persönlichen Erinnerung, des Gedächtnisses aufgegriffen. Schaut man sich die Kulturgeschichte des Erzählens an, so scheint der Bericht über das selbst Erlebte nicht nur die Rolle der historischen Überlieferung übernommen zu haben,1 sondern auch bis heute zu den wichtigsten Genres des Erzähl- beziehungsweise Literaturbetriebs zu gehören. Die autobiografische Erzählung hat nichts von ihrer Faszination eingebüßt, was sich schon bei einem Blick auf die – zugegebenermaßen nicht immer sehr aussagekräftigen – Bestsellerlisten zeigt. Da die vorliegende Arbeit keine literaturwissenschaftliche ist, wird hier mit einer rudimentären Definition der Autobiografie gearbeitet, nämlich der, dass es sich um Werke der Epik handelt, in denen die erzählende Person aus ihrer persönlichen Erinnerung selbst erlebte Geschehnisse wiedergibt. Dies gewährt einen faszinierenden Einblick in die Erinnerung einer Person – und öffnet sofort ein Handlungsfeld, dem sich besonders Historiker und Historikerinnen verschrieben haben, denn für sie, die „Adepten der historischen Methode“, gehört „die Entlarvung von Memoiren als Märchen zum bevorzugten Kraftsporttraining […]“.2

1 Vgl. dazu die Kapitel über Oral History. 2 Beide Zitate aus Lutz Niethammer: „Es war einmal…“ Vom Wandel mündlicher Überlieferung, in: Journal für Geschichte, 3/1984, S. 9.

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Kindheitserinnerungen Zwei Beispiele, die sich in besonders sensiblen Bereichen der autobiografischen Literatur bewegen, nämlich den Kindheitserinnerungen, mögen das erläutern. 1995 erschien das Buch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“ von Benjamin Wilkomirski. Darin schildert der heute in der Schweiz lebende Autor, wie er als 3jähriges jüdisches Kind die Lager Majdanek und Auschwitz überlebt habe. Das Buch war zunächst ein riesiger Erfolg, sein Autor wurde mit Ehrungen überhäuft. Doch nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass die Geschichte, wie sie Wilkomirski erzählte, so nicht stimmen konnte. Vor allem die Arbeit des Schriftstellers Daniel Ganzfried deckte auf, dass „Bruchstücke“ schlicht erfunden war.3 Die Erinnerung, die Wilkomirski zu haben vorgab, entsprach nicht der biografisch nachprüfbaren Wahrheit. Dieser Fall eröffnete eine Diskussion zum Thema „false memory“, die im weiteren Verlauf des Kapitels noch eine Rolle spielen wird. Ein zweites Beispiel ist das Buch „Feuerherz“ der aus Eritrea stammenden Sängerin Senait Mehari, die in ihrer 2004 erschienenen Autobiografie ihre Zeit als Kindersoldatin in Eritrea schilderte. Auch diese Veröffentlichung war ein großer Erfolg, auch Senait Mehari, die in Berlin lebt, wurde mit ihrer Autobiografie sehr bekannt, was sie und andere nutzten, um auf das Schicksal von Kindersoldaten aufmerksam zu machen. Im Februar 2007 wurde allerdings auch diese Autobiografie infrage gestellt, allerdings nicht so umfassend wie im Fall Wilkomirski, sondern eher in Details, die aber für die Rezeption des Buches von großer Bedeutung waren. So wurde der Autorin vorgeworfen, zwar als Kind bei der „Eritrean Liberation Front“ (ELF) gewesen zu sein, aber nicht als Kindersoldatin, da es dies bei der von ihr geschilderten Gruppe nicht gegeben habe. Zeitzeugen meldeten sich, die zusammen mit Mehari bei ihrer Gruppe gewesen waren und ihren Bericht anzweifelten.4 Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie sehr sensible Themen ansprachen. Während sich Wilkomirskis Buch aber als reine Erfindung herausstellte, war bei Meharis Schilderung nicht alles erfunden, vielmehr gab es Interpretationsspielraum. Beiden Bücher wurde eine scharfe Reaktion zuteil, nachdem die Erkenntnisse der Nachforschungen in der Öffentlichkeit bekannt geworden 3 Vgl. Daniel Ganzfried (Autor), Sebastian Hefti (Herausgeber): … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie: Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals, Berlin 2002. 4 Vgl. spiegel-online, 14.2.2007, www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,466499,00. html (Zugriff: 6.7.2008) und Peter Disch: Eine ungereimte Geschichte, in: baz Kulturmagazin, 28.2.2007, S. 4f.

Das Ende eines „Sommermärchens“  |

waren, beide erschütterten zutiefst das Genre der Autobiografie. Wenn ich die beiden Bücher zum Thema des Kapitels befrage, nämlich individuelle Erinnerung, kann Wilkomirskis Buch höchstes einen Beitrag zum Thema der „false memory“ leisten, aber auch das nur sehr bedingt, weil es weniger um eine „falsche Erinnerung“ als vielmehr um die Erfindung einer Erinnerung geht.5 Dieser Unterschied wird im Laufe des vorliegenden Kapitels noch detaillierter ausgeführt werden. Meharis Bericht hilft bei der Suche nach der persönlichen Erinnerung auch nicht viel weiter, da sie offensichtlich nicht aus einem „false memory“-Phänomen heraus gehandelt hat, sondern eher aus einem Versuch, die eigene Biografie etwas interessanter, spannender zu machen.

Das Ende eines „Sommermärchens“ An einem dritten literarischen Beispiel soll eine Weiterentwicklung der persönlichen Erinnerung dargestellt werden, bei dem der Autor die Erinnerung nicht nur aufschreibt, sondern auch vorgibt, über sie zu reflektieren. Für das Verständnis dieses Beispiel sind einige Vorbemerkungen angebracht. Die Zeit des Nationalsozialismus war in Deutschland einer der wichtigsten Auslöser, sich überhaupt mit Erinnerung und Gedächtnis zu beschäftigen. Nicht nur die Oral History hat hiervon profitiert, auch die Fragen nach Erinnerung und dem Sich-Erinnern, nach Gedächtnis und Gedenken wurden im Kontext der Aufarbeitung der NS-Zeit neu und wohl in keinem anderen Land so tief und gesellschaftserschütternd gestellt. Dies ist aber weniger als ein Verdienst der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu werten als vielmehr vielleicht das Mindeste, was die Tätergesellschaft und die folgenden Generationen leisten konnten und noch leisten können. Ein Beispiel für diese Arbeit ist der Umgang mit Gedenkstätten und Gedächtnisorten. Wie soll erinnert werden? Mit Denkmälern? Oder nur an den „Orten des Todes“, also in den Lagern? Gedenkstätten wie in Buchenwald, Dachau und Bergen-Belsen zeugen davon. Aber lässt sich dieser Schrecken auf die Lager beschränken? Projekte wie die „Stolpersteine“ oder auch „GLEIS 17“ in Berlin-Grunewald versuchen dies auf andere Weise sichtbar, fühlbar zu machen. Einen Höhepunkt in mancherlei Hinsicht erlebte diese Debatte in der Auseinandersetzung um das „Denkmal für die ermordeten 5 Dass sich die Biografie Wilkomirskis als traumabeladen und seine Handlungen als traumaverarbeitend erklären lassen, soll nicht abgestritten werden, allerdings ändert dies nichts daran, dass die „Bruchstücke“ eine reine Erfindung sind.

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Juden Europas“ in Berlin. Fast gleichzeitig zu diesen Auseinandersetzungen kam es zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin, dessen Gründungsgeschichte ebenfalls einen Blick auf die Gedenkkultur eröffnet. So gab es nach der Fertigstellung des Baus von Daniel Liebeskind eine Debatte, ob nicht der Bau alleine schon als eine Art Museum fungieren könne. Warum solle man die eindrückliche Architektur durch Ausstellungsstücke und Ausstellungskonzepte ihrer Wirkmächtigkeit berauben?6 Aber diese Debatten wurden parallel von einer anderen Diskussion begleitet, nämlich derjenigen, die nach dem Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit sich selbst fragte, mit ihrem Dasein als Nationalstaat, und nach dem Umgang der Bürger und Bürgerinnen mit dem Umstand der Existenz eines deutschen Staates.7 Eine Grundfrage lautete: Konnte und sollte man auf die Bundesrepublik stolz sein? Festmachen lässt sich diese Frage an dem schwierigen Umgang mit Symbolen innerhalb der Gesellschaft, beantworten am besten mit einer komparatistischen Sichtweise. Der 1. August ist der Schweizer Bundesfeiertag, der in den verschiedenen Kantonen zwar sehr unterschiedliche Traditionen entwickelt hat, dem aber eines gemeinsam ist, nämlich der ungezwungene Umgang mit Schweizer Fahnen. Neben der offiziell vorgeschriebenen Beflaggung der öffentlichen Gebäude werden auch Privathäuser mit Bundesfahnen, Kantons- und Gemeindefahnen geschmückt. Das Zeigen der Fahne als Symbol erweist sich als durchgängig akzeptiertes Phänomen. Sollte dies nicht bei jedem Nationalfeiertag der Fall sein? Frankreich tut dies jedenfalls am 14. Juni. Und die USA am 4. Juli sowieso. Wie sah das aber in der Bundesrepublik Deutschland aus? Es gab keinen wirklichen Nationalfeiertag, sondern zur Erinnerung an den Aufstand in der DDR 1953 den „Tag der Deutschen Einheit“, der am 17. Juni begangen wurde. Öffentliche Gebäude wurden beflaggt, im privaten Raum aber kein Gebrauch von diesem Symbol gemacht. Zwar wurde an sportlichen Großanlässen auch schon einmal von Zuschauern die deutsche Fahne mitgebracht und geschwenkt, aber außerhalb der Stadien war dies tabu. Es stand immer die Gefahr im Raum, als „rechts“ oder gar als „Nazi“ zu gelten. Dies änderte sich erst im Jahr 2006, als anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland die deutsche Fahne als Symbol auch bei Teilen der 6 Vgl. hierzu u. a. Claus Leggewie und Erik Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München, Wien 2005. 7 Dass es mit der DDR einen zweiten deutschen Staat gab, sei an dieser Stelle ausgeklammert, da es für die Argumentationsführung nicht von Bedeutung ist, allerdings als Teil dieser Debatte nicht übersehen werden darf.

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Bevölkerung, die nicht in Verdacht standen, Neo-Nazi-Kreisen anzugehören, in Gebrauch kam. Es war plötzlich nicht mehr verpönt, die deutsche Fahne nicht nur im Stadion zu zeigen, sondern z. B. am Balkon, aber vor allem als Scheiben-Fahne am Auto zu befestigen. Selbst in der Schweiz tauchten nun Balkons und Autos (mit Schweizer Kennzeichen) mit deutschen Fahnen auf. Offensichtlich hatte sich eine „neue Normalität“ eingestellt, die stillschweigend das Motto der WM „Zu Gast bei Freunden“ in ein „Wir sind in unserem Zuhause endlich angekommen“ ummünzte. Damit sind die Vorbemerkungen beendet, so wie auch die als „Sommermärchen“ bezeichnete WM 2006, die „neue Normalität“, ihr Ende fand, allerdings nicht mit dem Endspiel am 9. Juli in Berlin, sondern erst am 12. August in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Was war passiert? In einem Interview über sein neues Buch, die kurz danach erscheinende Autobiografie mit dem Titel „Beim Häuten der Zwiebel“8, hatte der deutsche Schriftsteller Günter Grass erklärt, seine bisherigen Darstellungen, er sei 1944 Flakhelfer gewesen, würden nicht der Wahrheit entsprechen, vielmehr sei er im November 1944 zur 10. Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS eingezogen worden. Mit einem einzigen Interview wurde die deutsche Gesellschaft von der Vergangenheit eingeholt, und dies ausgerechnet von jemandem, von dem sie es nicht erwartet hatte und der in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 1999 noch gesagt hatte: „Denn jedesmal, wenn in Deutschland die Stunde Null verkündigt, das Ende der Nachkriegszeit ausgerufen worden ist – zuletzt vor zehn Jahren, als die Mauer gefallen war und Deutschlands Einheit auf dem Papier stand –, hat uns die Vergangenheit wieder eingeholt.“9 Günter Grass galt als das „Gewissen“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft, mehr als einmal hatte er darauf hingewiesen, dass man nicht nur nicht vergessen dürfe – seine ganze schriftstellerische Arbeit steht unter dem Signet des „Schreibens gegen das Vergessen“ –, sondern auch, dass man sich seiner eigenen Geschichte stellen müsse. Aus heutigem Blickwinkel zynisch-traurig mutet seine briefliche Aufforderung im Juli 1969 an den damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller an, mit dem ihn eine Freundschaft verband, er möge doch bald in aller Öffentlichkeit seine politische Vergangenheit – Schiller war u. a. Mitglied der SA gewesen – während des Nationalsozialismus eingestehen: „Ich hielte es für gut, wenn Sie sich offen zu Ihrem Irrtum bekennen 8 Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006. 9 Günter Grass: Nobelvorlesung „Fortsetzung folgt…“, 7.12.1999, zitiert nach: http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1999/lecture-g.html (Zugriff 4.7.2008).

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wollten. Es wäre für Sie eine Erleichterung und gleichfalls für die Öffentlichkeit so etwas wie ein reinigendes Gewitter.“10 Grass’ unsäglich selbstgefällige Reaktionen auf seine eigene Enthüllung sind hier nicht das Thema, auch wenn es dies wert wäre, sondern die Frage nach der individuellen Erinnerung. Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ antwortet Grass auf die Frage, warum er erst jetzt seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS eingestanden habe, ausweichend, er habe sich nicht freiwillig bei der Waffen-SS, sondern bei den U-Booten gemeldet, die aber niemand mehr genommen hätten. Seine damalige Wahrnehmung der Waffen-SS beschreibt er so: „Und für mich, da bin ich meiner Erinnerung sicher, war die Waffen-SS zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit […].“11 Hier ist die individuelle Erinnerung klar, oder besser: Grass ist sich sicher. Die Antwort auf die nächste Frage offenbart dann aber Unsicherheit. Er wird gefragt, wann er gemerkt habe, dass er zur Waffen-SS einberufen worden sei, bei der Einheit selbst oder schon am Einberufungsbefehl. Grass antwortet: „An der Stelle wird’s undeutlich, weil ich nicht sicher bin, wie es war: War es schon am Einberufungsbefehl zu erkennen, am Briefkopf, am Dienstgrad des Unterzeichners? Oder habe ich das erst gemerkt, als ich in Dresden ankam? Das weiß ich nicht mehr.“12 Im Buch beschreibt es er wie folgt: „Alle Hilfsmittel versagen. Verschwommen bleibt der Briefkopf. Als sei er nachträglich degradiert worden, ist der Dienstrang des Unterzeichnenden nicht festzustellen.“13 In den ersten Kapiteln des Buches ist immer wieder von der Faszination der U-Boote die Rede, die es dem jungen Grass angetan hatten. Immer wieder werden Episoden dazu erzählt. Er hatte sich sogar freiwillig gemeldet, wurde aber zurück- und auf die „Panzerwaffe“ hingewiesen. In diesen Textpassagen bleiben die Details unklar, Grass bedient sich des Fragesatzes, wann immer er sich offensichtlich nicht erinnern kann, z. B.: „Wurde er aufgefordert, Platz zu nehmen?“14 Dies leuchtet auf den ersten Blick ein und wirkt redlich, denn wer vermag sich schon an solche Details aus dem Jahr 1944 zu erinnern? Nur 10 Grass an Schiller, 15.7.1969, zitiert nach Wigbert Löer: Beichten Sie, es wäre für Sie eine Erleichterung!, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2006, http:// www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~E6BCF3 95876B443EC8A9E2734F8AF5234~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Zugriff: 4.7.2008). 11 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.2006. 12 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.2006. 13 Grass, 2006, S. 114. 14 Grass, 2006, S. 84.

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die wirklich wichtigen Dinge scheinen ihm erinnerlich, so z. B. dass für freiwillige U-Boot-Rekruten ein Aufnahmestopp bestanden habe.15 Doch sagt Grass selbst über Erinnerung: „Mit Vorliebe hortet die Erinnerung Schrott, also Gegenstände, die versprechen, selbst im abgewrackten Zustand dauerhaft zu sein.“16 Die Erinnerung hortet also nach Grass’ Aussage Unwesentliches, an einer Stelle nennt er Erinnerung „eine Plaudertasche, die gerne mit Anekdoten gefällig wird […].“17 Folgt man Grass, wird nur das Nebensächliche, die nette Anekdote erinnert. Warum erinnert er sich dann nicht mehr an die Nebensächlichkeiten aus seinem Gespräch mit den U-Boot-Offizieren über seine freiwillige Meldung? Wenn Erinnerung tatsächlich nur Anekdoten bereithält, wäre klar, dass er nicht mehr weiß, was auf dem Einberufungsbefehl gestanden hat. Oder verschwindet Erinnerung an Geschehnisse? „Die Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder. Sie verkriecht sich. Zum Schönreden neigt sie und schmückt gerne, oft ohne Not“18, schreibt Grass am Anfang seines Buches. Wie kann aber Erinnerung verschwinden? Vergisst man die Erinnerung? Oder das Ereignis? Günter Grass hat vergessen, was auf dem Einberufungsbefehl stand? Er fuhr mit dem Zug nach Dresden und glaubte, dort auf einen U-Boot-Hafen zu treffen? Aber die Erinnerung tritt in Grass’ Einsichten noch zu etwas anderem in Konkurrenz, zum Gedächtnis. Die Erinnerung „widerspricht dem Gedächtnis, das sich pedantisch gibt und zänkisch rechthaben will.“19 Es gibt noch das Gedächtnis, das die Erinnerung bekämpft, die offensichtlich falsch ist, wobei das Gedächtnis sich aber korrekt erinnert, oder sollte man besser sagen: „gedächtnist“? Man möge das Wortspiel verzeihen, aber die etwas krude Theorie von Günter Grass über Gedächtnis als die Korrektur der Erinnerung fordert dies geradezu heraus. Er geht sogar noch weiter, indem er sich selbst unterstellt, möglicherweise seine eigene Erinnerung nicht lesen zu wollen, und greift auf die Metapher des Zwiebelschälens zurück, die er seinem Buch als Motto autobiografischen Erzählens vorangestellt hat. Hierzu wird noch einmal auf ein schon genanntes Zitat zurückgegriffen, das nun vollständig wiedergegeben wird: „Alle Hilfsmittel versagen. Verschwommen bleibt der Briefkopf. Als sei er nachträglich degradiert worden, ist der Dienstrang des Unterzeichnenden nicht festzustellen. Die Erinnerung, sonst eine Plaudertasche, die gerne 15 16 17 18 19

Grass, 2006, S. 84. Grass, 2006, S. 85. Grass, 2006, S. 114. Grass, 2006, S. 8. Grass, 2006, S. 8.

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mit Anekdoten gefällig wird, bietet ein leeres Blatt; oder bin ich es, der nicht entziffern will, was der Zwiebelhaut eingeschrieben steht?“20 Um sich nicht mit der eigenen Erinnerung auseinandersetzen zu müssen, verfasst Grass den letzten Satz wieder als Fragesatz. Nach all den leicht wirren Äußerungen über Erinnerung – einmal erinnert sie nur „Schrott“, dann versteckt sie sich, dann wieder ist sie eine „Plaudertasche“ – ist deutlich, dass dieses Beispiel autobiografischen Schreibens mit dem Anspruch, etwas über die eigene Erinnerung zu sagen – Grass nennt sein Buch immerhin ein „Erinnerungsbuch“, das er mit „Neugier auf sich“21 verfasst habe –, nur das Produkt eines begabten Schriftstellers ist, der sich weniger mit der eigenen Erinnerung als vielmehr mit der Frage beschäftigt, wie er sich aus einer heiklen Situation, nämlich der Frage an ihn, warum er seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwiegen habe, herauswinden kann. Es muss der wissenschaftlichen Redlichkeit halber betont werden, dass, wie an den Fußnoten zu erkennen ist, die angeführten Zitate aus verschiedenen Kapiteln des Buches und aus dem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ stammen. Aber gerade diese Zusammenführung seiner Vorstellungen über Erinnerung machen deutlich, wie geschickt er die Leserschaft hier für seinen Zweck, für das Mittragen seines persönlichen Freisprechens von Schuld, einspannt. Die Frage nach der persönlichen Erinnerung bleibt unbeantwortet zurück. Dass die persönliche Erinnerung aus einem extrem subjektiven Blickwinkel kommt und daher zwei Personen, die ein scheinbar gleiches Erlebnis beobachten oder daran teilnehmen, es sehr unterschiedlich beschreiben, ist bereits in Kapitel 10 beschrieben worden. Ein Beispiel aus der epischen Literatur soll dies noch einmal erläutern und in den nächsten Themenbereich des vorliegenden Kapitels einführen. Das beispielhafte Werk, von dem die Rede sein soll, ist die 1922 im japanischen Original erschienene Kurzgeschichte „Yabu no Naka“ (dt.: Im Gebüsch) des Schriftstellers Ryunosuke Akutagawa.22 Sie erzählt die Geschichte der Ermordung eines Samurais aus den Perspektiven der sechs beteiligten Personen plus der ermordeten Person selbst, die durch ein Medium spricht. Man hört tatsächlich sieben verschiedene Geschichten, die das Ereignis berichten. Zwar haben alle Personen einen unterschiedlichen Standpunkt zum Ereignis selbst, aber dies allein erklärt noch nicht die unterschiedlichen 20 Grass, 2006, S. 114. 21 Beide Zitate Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.2006. 22 Dem folgenden Text liegt die englische Übersetzung zugrunde. Ryunosuke Akutagawa: In a Grove, in: ders., Rashomon and Other Stories, New York, London 1999 (englische Erstveröffentlichung 1952).

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Berichte. Die Erzählungen der einzelnen Personen, die von einem Polizeioffizier verhört werden, erscheinen in sich logisch und „wahr“. Erst die Kombination der Erzählungen zeigt die Differenzen, die aber nicht unbedingt als sachliche Differenzen bezeichnet werden können. Gerade die Schilderungen einer älteren Frau und eines buddhistischen Mönches geben dies eindrücklich wieder. Hier werden Momenterlebnisse zu einem allgemeinen Bild umgeformt. Die Schilderungen des vermeintlichen Mörders des Samurai und der Frau des Toten sind dann allerdings krass widersprüchlich. Am Schluss der Erzählung spricht der Ermordete selbst durch ein Medium und erzählt die Geschichte aus seinem Erleben. Ist das nun die Wahrheit? Sind seine Erinnerungen richtig? Sind alle anderen Erzählungen nur gefärbte Versuche, sich von Schuld reinzuwaschen? Denn es ist nicht zu vergessen, dass Akutagawa seine Personen ihre Geschichte einem Polizeioffizier erzählen lässt. Oder sind die Erinnerungen falsch? Aber was würde das bedeuten, eine „falsche“ Erinnerung? Heißt das, man erinnert sich nicht richtig? Oder man ist sich nicht sicher? Man nimmt an, man habe etwas so erlebt, aber es war anders? Hat man dann „falsch“ erlebt? Oder ist es die Schwierigkeit, Erinnerung in Sprache umzusetzen? Kann Sprache überhaupt Erinnerung adäquat wiedergeben? Die hier aufgeführten Fragen an Erinnerung und an das Wiedergeben von Erinnerung sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Fragenkatalog, der sich allein schon aus den geschilderten Beispielen ableiten ließe. Er führt zu der Frage, was denn Erinnerung überhaupt ist. Aber nicht nur Günter Grass vermischt Gedächtnis und Erinnerung, wobei Grass auch noch beides gegeneinander ausspielt. Dies geschieht häufig, daher muss noch einmal anknüpfend an die in Kapitel 9 gegebene Definition des Gedächtnisses die Frage gestellt werden, was denn das Gedächtnis sei. Während in Kapitel 9 eine kulturwissenschaftliche Definition gewählt wurde, wird jetzt der Schwerpunkt auf die neurophysiologischen Grundlagen gelegt.

Was ist das Gedächtnis? In einer ersten Arbeitsdefinition kann Gedächtnis als der Ort definiert werden, an dem Wissen aufbewahrt wird. „Wissen“ wird dabei ganz umfassend verstanden, es reicht von Wissen im Sinne lexikalischen Wissens über das Wissen im Sinne von Transformationserkenntnissen aus der Beschäftigung mit bestimmten Phänomenen bis hin zum Wissen über das eigene Leben, das eigene Erleben. Erinnerung hingegen meint das Abrufen von im Gedächtnis gelagertem Wissen. Es wird deutlich, dass hier an das Gehirn, in dem sich diese Dinge

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abspielen, zwei höchst komplexe Aufgaben gestellt werden, die sich in ihrer Ausführung immer überlappen. Welche Vorgänge versetzen das Gehirn in die Lage, diese Aufgaben zu erfüllen? Am Anfang steht die schlichte Frage, wie das Gehirn physiologisch funktioniert, wie also eine Information ins Gehirn kommt, wo sie dort bleibt und wie sie wieder abgerufen werden kann. Eine Bemerkung vorweg: Die vorliegende Untersuchung ist keine streng naturwissenschaftliche Analyse und wird sich darauf beschränken, bei der Beschreibung hirnphysiologischer Vorgänge immer zu fragen, inwieweit diese Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung sind.23 Die Basis für eine Gehirnleistung ist die Anzahl der synaptischen Verbindungen im Gehirn. Diese Verbindungen bilden sich auf zwei Wegen: zunächst durch Entwicklungsprozesse in den ersten Lebensjahren eines Menschen, zum anderen aber auch durch „Erfahrungen“, die der Mensch macht und die sich im Gehirn niederschlagen. Die neuesten Forschungen deuten darauf hin, dass die genetisch festgelegte Gehirnleistung bei 50 Prozent liegt, die weiteren 50 Prozent sind Erfahrungslernleistungen, die individuell bestimmt und trainierbar sind.24 Diese Erfahrungen zeigen sich in einer Änderung der Stärke oder einer Erhöhung der synaptischen Verbindungen. Wichtigstes Element hierbei sind die Neuronen. Das Gehirn verfügt über geschätzt 100 Milliarden Nervenzellen, die durch 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden sind. Jedes Neuron ist nach diesem statistischen Mittel mit 1.000 anderen Neuronen verbunden. Bei einem als wichtig eingestuften Ereignis „feuern“ diese Neuronen und bilden dabei neuronale Netzwerke, die sich in ganz verschiedenen Mustern zeigen können. Ein in der Vergangenheit erlebtes Muster erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder aktiviert wird: „Neurons which fire together, wire together.“25 Die so kreierte Information befindet sich zunächst im Kortex 23 Zur Einführung in das Thema sei auf die Bibliografie im Anhang und die im weiteren Verlauf des Textes zitierten Werke verwiesen. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Entwicklung derart schnell ist, dass es, um einen Überblick über die neuesten Forschungen zu bekommen, sinnvoll ist, sich in den einschlägigen Zeitschriften kundig zu machen; hierbei sind vor allem „Science“ und „Nature“ zu nennen. 24 Vgl. Andreas Papassotiropoulos et al.: Common Kibra Alleles Are Associated with Human Memory Performance, in: Science, 314, 20.10.2006, S. 475 und Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Andreas Papassotiropoulos, Universität Basel, 31.8.2007. 25 Daniel J. Siegel: Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurologische Dimensionen, in: Harald Welzer und Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S. 23.

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(Großhirnrinde). Um das Ereignis aber bewusst zu erleben, muss die Information an den Hippocampus geschickt werden, der darüber entscheidet, welche Information aufbewahrt werden soll, und diese dann zum Kortex, genauer zu den Partiallappen, zurücksendet.26 Was heißt nun aber Erinnerung im Zusammenhang mit dieser biologischen Kurzbeschreibung? „Erinnern beruht auf der Reaktivierung eines neuronalen Netzwerkes, dessen synaptische Verbindungen zuvor ‚gelernt‘ wurden.“27 Oder wie es Endel Tulving beschreibt: „Memory is the capacity of nervous systems to benefit from experience.“28 Diese Definitionen verdecken ein wenig, dass sich die Forschung bei der Frage nach dem wirklichen physiologischen Funktionieren des Gedächtnisses noch in den Kinderschuhen befindet,29 auch wenn die neuen bildgebenden Verfahren (z. B. MRI) einen völlig neuen Blick in die Arbeitsweise des Gehirns ermöglichen. Man kann sich dem Funktionieren aber annähern, um ein Bild von der Arbeitsweise des Gedächtnisses und damit dem Prozess der Erinnerung zu bekommen. Die stark mechanische Vorstellung des Gedächtnisses als eines Lagerraums, in dem gut geordnet Informationen abgelegt werden, ist schon lange als unhaltbar klassifiziert worden. Zwar lassen sich im Gehirn Bereiche finden, die für bestimmte Gehirnleistungen zuständig sind (z. B. das motorische Zentrum und die Sehrinde), aber die exakt zu lokalisierenden und geordnete Lagerräume der Erinnerung gibt es so nicht. Damit wird klar, dass die Vorstellung einer systemischen, mechanischen Ordnung, wie sie in einem haptischen System existiert, für den Bereich der Erinnerung nicht gegeben ist. Und doch existieren Formen von Ordnungssystem in Erinnerung und Gedächtnis, die von der Forschung verifiziert werden konnten und die damit für das Verstehen und die 26 Vgl. Norbert F. Pötzl: Schlafen macht schlau, in: Spiegel spezial, 6/2007, S. 46. 27 Walter Senn: Erkennen, Lernen & Erinnern – mit mathematischen Modellen dem Gehirn auf der Spur, PDF-Datei des Vortrags, gehalten auf der Veranstaltung des Basler Neuroscience Programs „Woche des Gehirns“, 11.3.2008, /www. biozentrum.unibas.ch/neuro/brainweek08/programm.html. 28 Endel Tulving: Introduction to Memory, in: Michael S.  Gazzaniga (Hrsg.), The New Cognitive Neurosciences, 2.  Auflage, Cambridge 2000, S.  727. Endel Tulving, 1927 in Estland geboren und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada gekommen, wo er schließlich Psychologie studierte und an der Universität Toronto bis zu seiner Emeritierung lehrte und forschte, ist einer der renommiertesten und innovativsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung. Für eine detaillierte Biografie vgl. American Psychologist, Juli 1994, S. 551–553. 29 Vgl. Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Andreas Papassotiropoulos, Universität Basel, 31.8.2007.

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Kritik jedweder Formen von Erinnerungstheorien zwingend notwendig sind. Das Gehirn, wie es Manfred Spitzer formuliert, tut ständig etwas, was er selbst als „trivial“ bezeichnet, weswegen „man es laut sagen muss“: das Gehirn lernt immer. „Es kann eines nicht, nicht lernen“.30 Die Vorstellung, dass die Fähigkeit zum Lernen und damit auch zum Erinnern irgendwann abgeschlossen ist, wurde durch eine im Juli 2008 veröffentlichte Studie widerlegt, die zeigt, dass auch ältere Menschen auf Erfahrungsreize mit Wachstum in verschiedenen Hirnregionen (z. B. dem Hippocampus) reagieren.31 Dazu passt, dass der inzwischen fast schon zum Allgemeinwissen gehörende Eindruck, Altern gehe unweigerlich mit Demenzerkrankungen einher, von Andreas Papassotiropoulos unter anderem in seiner Antrittsvorlesung eindrücklich widerlegt wurde.32

Implizites und explizites Gedächtnis Eine erste Ordnung der Erinnerung wird in der Naturwissenschaft heute durch die Trennung in ein implizites und ein explizites Gedächtnis vorgenommen. Das implizite Gedächtnis spielt sich im Kortex ab, wird also nicht über den Hippocampus bewusst gesteuert. Es beinhaltet alle Formen unbewusster Wahrnehmung, für die sich die Fachausdrücke „Priming“ und „prozedurales Gedächtnis“ durchgesetzt haben. Im prozeduralen Gedächtnis finden sich motorische Handlungsmuster und einfache Reizverknüpfungen.33 Diese Gedächtnisform der motorischen Handlungsmuster ist schon beim Säugling vorhanden, es ist die erste und wichtigste Lernbasis. Beispielhafte Handlungsmuster des prozeduralen Gedächtnisses sind z. B. Geh- und Laufbewegungsabläufe, das Fahrradfahren, aber auch Bewegungsmuster aus dem Sport. Ein Kind, das im Grundschulalter mit dem Judo beginnt und dies eine gewisse Zeit betreibt, wird die sehr speziellen Bewegungsabläufe, vor allem die zum Selbstschutz eminent wichtigen Ukemi-Waza (Falltechniken), nicht wieder verlernen. Sie sind im impliziten Gedächtnis eingeschrieben, man kann sagen, hier finden sich Formen eines Körpergedächtnisses. Unter einfacher Reizver30 Beide Zitate Manfred Spitzer, Statement zu 3. Ausbau: Lehren und Lernen, in: Forum Bildung, Frankfurt/Main, Frühjahr 2003, S. 79. 31 Vgl. Janina Boyke et al.: Training-Induced Brain Structure Changes in the Elderly, in: The Journal of Neuroscience, 28, 9.7.2008, S. 7031–7035. 32 Vgl. Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Andreas Papassotiropoulos, Universität Basel, 31.8.2007. 33 Vgl. Hans J. Markowitsch und Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2005, S. 137.

Implizites und explizites Gedächtnis  |

knüpfung wird verstanden, dass eine Erfahrung, sei sie „gut“ (angenehm) oder „schlecht“ (schmerzhaft), mit einem bestimmten Reiz verbunden wird. Das Aufrufen dieser Verbindung erzeugt den damit verbunden Affekt. Der zweite Teil des impliziten Gedächtnisses umfasst das „Priming“, worunter ein verbesserter Wiedererkennungseffekt eines Reizes verstanden wird, der schon einoder auch mehre Male verarbeitet wurde. Weiter werden unter Priming auch Sinnesreize verstanden, die zu einem Verstehenskomplex gehören; dies meint die hermeneutische, dann aber unbewusst ablaufende Zuordnung, z. B. dass kochendes Wasser heiß ist.34 Das bewusste Erinnern, das bewusste Gedächtnis wird als explizites Gedächtnis bezeichnet. Hier werden die Informationen im Hippocampus verarbeitet, damit bewusst gemacht, und können daher auch bewusst wieder aufgerufen werden. Das explizite Gedächtnis trennt sich grob in zwei Bereiche, nämlich in das semantische und das episodische Gedächtnis. Diese Trennung geht auf Endel Tulving zurück, dessen Definition als äußerst sinnvoll gerade im Bereich „Erinnerung“ erscheint. Die Unterscheidung dieser beiden Formen ist eindeutig benannt, das semantische Gedächtnis beinhaltet das „Faktenwissen“, das episodische Gedächtnis beinhaltet das Wissen über sich selbst, über eigene Erlebnisse, das Erinnern an eigene Erlebnisse. Faktenwissen meint hierbei alles Wissen, das man sich im Laufe des Lebens aneignet, für das es keinen Selbstblick braucht. Darunter fallen Sprache, mathematisches Wissen, Schreibfähigkeit, das Wissen um das Funktionieren technischer Geräte, geografische Kenntnisse etc. Um sich dieses Wissen anzueignen und es später wieder zu erinnern, braucht es keine Beschäftigung mit dem Selbst, es braucht keinen besonderen Bezug auf das Individuum. Dieses Wissen ist nicht an das Wissen um das eigene Ich geknüpft. Hiermit ist auch bereits eine der Grundbedingungen für das episodische Gedächtnis genannt, das Wissen um das eigene Ich. Man kann die Unterscheidung der beiden Gedächtnisformen an einem umgangssprachlichen Vergleich festmachen: Man muss kein Dreieck sein, um die Geometrie zu verstehen, denn dies erfordert semantisches Wissen, aber man kann sich nicht an sein Leben als Dreieck erinnern, wenn man kein Dreieck ist, denn dies erfordert episodisches Wissen. Tulving selbst beurteilt seine 1972 aufgestellte Trennung der beiden Gedächtnisformen dahingehend kritisch, dass er diese Formen nicht verwirft, da sie in den Grundzügen immer noch zuträfen, dass aber gerade der Bereich des episodischen Gedächtnisses eine starke Wandlung, eine starke Ausdifferenzierung erfahren habe. Dem Bereich des episodischen Gedächtnisses soll 34 Pötzl, 2007, S. 46.

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an dieser Stelle größerer Raum gegeben werden, da dieses Gedächtnis die Basis für die Bildung der persönlichen Erinnerung ist. Auch wenn es vielleicht anders scheint, ist der Bereich des episodischen Gedächtnisses jedoch nur ein kleiner Teil des menschlichen Gedächtnisses; die weitaus größten Teile der Erinnerung machen das implizite Gedächtnis und das semantische Gedächtnis aus.35 Häufig wird in der Literatur für das episodische Gedächtnis auch der Ausdruck autobiografisches Gedächtnis verwendet, doch ist dieser Ausdruck irreführend, gaukelt er doch vor, es handle sich dabei um ein an eine Autobiografie heranreichendes Gedächtnis, also eine Form der chronologischen Erzählung, d. h. einer kongruenten Erinnerung. Dass dem nicht so ist, wird sich im Laufe des Kapitels noch zeigen, denn eher das Gegenteil ist der Fall: Das episodische Gedächtnis hat eigentlich mit einer Form der Autobiografie nichts zu tun, es ist ein Ereigniserinnern. Aus mehreren Ereigniserinnerungen, die noch näher bestimmt werden, fügt dann der Mensch narrativ eine Autobiografie zusammen.

Das episodische Gedächtnis Wie definiert Endel Tulving das episodische Gedächtnis? Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das „Zeitreisen“ unternehmen kann, d. h., der Mensch ist sich der Zeit, in der er gegenwärtig lebt, bewusst, er kann in Gedanken in die Vergangenheit reisen, kann sich an Erlebnisse aus seiner eigenen Vergangenheit erinnern. Diese Definition zeigt schon, dass es drei Dinge sind, die das episodische Gedächtnis als Voraussetzung hat: das Gefühl für die subjektive Zeit, das Bewusstsein eines Selbst und das autonoetische Bewusstsein. Letzteres meint, dass es dem Menschen bewusst ist, wenn er etwas in der Gegenwart erlebt oder wenn er in die Vergangenheit reist. Autonoetisch hat sich inzwischen als Begriff für die „Erfahrung des Sich-Erinnerns“ durchgesetzt, „noetisch“ meint „das Nachdenken über das Wissen um die Welt“.36 Das episo35 Vgl. Endel Tulving: Episodic memory, in Michael W. Eysenck (Hrsg.), The Blackwell Dictionary of Cognitive Psychology, Oxford 1990, S. 138. 36 eide Zitate Endel Tulving: Das episodische Gedächtnis: Vom Geist zum Gehirn, in: Harald Welzer und Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S. 53. Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Artikels „Episodic Memory: From Brain to Mind“, der in der Annual Review of Psychology, Nr.  53, 2002, S. 1-25 erschienen ist (die englische Originalfassung liegt mir ebenfalls vor).

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dische Gedächtnis ist also vergangenheitsorientiert mit klarem Fokus auf das eigene Erleben. Dass sich dies auch biologisch nachweisen lässt, machte Tulving an dem in der Neurowissenschaft berühmten Fall K. C. klar. K. C. erlitt als Dreißigjähriger bei einem Motorradunfall ein schweres Schädel-HirnTrauma mit „Hirnverletzungen in mehreren kortikalen und subkortikalen Regionen, einschließlich des medialen Schläfenlappens, und anschließender weitreichender Amnesie.“37 Die besondere Form der Amnesie zeigt sich in den jahrelangen Untersuchungen und Arbeiten mit K. C. kurz gefasst wie folgt: Das semantische Gedächtnis ist intakt und in der Lage, neue Informationen zu behalten, das episodische Gedächtnis vor dem Unfall ist nicht mehr vorhanden und nach dem Unfall nicht mehr trainierbar. Damit wird deutlich, dass für das Faktenlernen kein autonoetisches Bewusstsein nötig ist.38 So ist es auch bei K. C., der sehr viele Fakten über sich weiß, aber keine einzige persönliche Begebenheit erinnern kann. Wie kommen persönliche Begebenheiten in das episodische Gedächtnis? Zunächst beeinflussen verschiedene Faktoren die Aufnahme, so die Aufmerksamkeit für ein Ereignis, die Motivation, dies als „erinnerungswürdig“ zu bewerten,39 aber vor allem die Emotionen, die bei dem Ereignis eine Rolle spielen. Wenn ein Ereignis als wichtig eingestuft wird, d. h., wenn es mit Emotionen einhergeht, seien diese negativ oder positiv, „feuert“ die Amygdala (der Mandelkern).40 Wie bedeutend die Amygdala für Erinnerung und Emotionen ist, zeigen Tests mit Personen, die an der seltenen Urbach-Wiethe-Krankheit leiden. Diese Krankheit geht unter anderem mit der Mineralisierung der Amygdala einher. Es ist den an Urbach-Wiethe erkrankten Personen nicht mehr möglich, Erinnerungen emotional zu verarbeiten, dazu können sie wichtige von unwichtigen Informationen z. B. in einer Erzählung nicht mehr unterscheiden. In einem Test ging es um eine Erzählung über eine Frau, die ein gepunktetes Kleid trug und später ermordet wurde. Der an Urbach-Wiethe

37 Tulving, 2006, S. 62. 38 Vgl. Tulving, 2006, S. 58. 39 Vgl. die Website „The Brain from Top to Bottom“, die gemeinsam von den „Canadian Institutes of Health Research“ und dem „Canadian Institute of Neurosciences, Mental Health and Addiction“ betrieben wird. Die Website ist in verschiedene Themen, Fachbereiche und Erklärungsstufen unterteilt. Die Informationen in diesem Abschnitt sind aus dem Thema „Memory and Learning“, dem Fachbereich „Psychological“ und der Erklärungsstufe „Advanced“ entnommen. Vgl. http://thebrain.mcgill.ca/flash/a/a_07/a_07_p/a_07_p_tra/a_07_p_tra.html. 40 Interview mit Prof. Andreas Papassotiropoulos, Basel, 12.9.2007.

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erkrankte Patient konnte später detailliert über das Kleid der Frau berichten, die Ermordung erschien ihm nicht erwähnenswert.41 Das Ereignis, an das sich jemand erinnert, muss also im Moment des Ereignisses für die beteiligte Person einen emotionalen Wert gehabt haben. Dies würde auch erklären, warum sich Menschen manchmal an Dinge erinnern, die vom Zeitpunkt des Erinnerns aus gedacht als vollkommen belanglos und nicht „erinnerungswürdig“ eingestuft werden. Zum Zeitpunkt des Ereignisses haben sie aber ganz sicher eine Bedeutung gehabt, z. B. hat sich der Mensch in der Situation sehr wohl gefühlt, was eine Einspeicherung ins episodische Gedächtnis stark unterstützt, denn „wohlfühlen“, was sehr individuell interpretiert werden kann, gehört zu den wichtigsten Gefühlen gerade auch bei der Einspeicherung von Ereignissen. Damit ist klar, dass die Emotionen bestimmen, was sich Menschen merken, aber die Wertigkeit der Emotionen sind völlig individualisiert.42 Wie läuft ein solcher „Merkprozess“ ab? In der medizinisch-naturwissenschaftlichen Literatur werden verschieden Modelle mit Kurzzeit, Mittelzeit und Langzeitgedächtnissen angeboten. Die folgende schematische Darstellung stützt sich auf die Webpublikation „The Brain from Top to Bottom“.43 Der Erinnerungsprozess wird in das sensorische Gedächtnis (sensory memory), das Kurzzeitgedächtnis (short-term memory), das Arbeitsgedächtnis (working memory) und das Langzeitgedächtnis (long-term memory) eingeteilt. Das sensorische Gedächtnis verarbeitet die visuellen und auditiven Informationen, behält diese aber nicht länger als eine Sekunde. Je nach Gewichtung dieser Informationen gehen sie in das Kurzzeitgedächtnis ein. Dort werden die Informationen nicht länger als eine Minute gespeichert und können innerhalb dieser Zeitspanne auch wieder abgerufen werden. Das Arbeitsgedächtnis ist Teil, besser: Fortsetzung des Kurzzeitgedächtnisses. Es besteht, modellhaft gesprochen, aus mehreren Komponenten, und in ihm werden die Informationen des Kurzzeitgedächtnisses bearbeitet; es ist z. B. an gedanklichen Prozessen wie Lesen und Schreiben beteiligt. Die Informationen werden im Arbeitsgedächtnis also nicht nur gespeichert, sondern durch die Bearbeitung auch wiederholt. Vom Arbeitsgedächtnis gehen die Informationen in das Langzeitgedächtnis, das sowohl ganz neue, noch recht fragile Erinnerungen enthält als auch alte Erinnerungen, die schon sehr gefestigt sind. Diese prozessuale Aufnahme in das Langzeitgedächtnis besteht aus drei Schritten. Zunächst werden die Infor41 Vgl. Markowitsch/Welzer, 2005, S. 70. 42 Interview mit Prof. Andreas Papassotiropoulos, Basel, 12.9.2007. 43 Vgl. http://thebrain.mcgill.ca/flash/a/a_07/a_07_p/a_07_p_tra/a_07_p_tra.html.

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mationen codiert (encoding), d. h., es wird ihnen eine Bedeutung gegeben, womit auch der Kontext der Information oder Begebenheit gemeint ist. Dann erfolgt die Lagerung oder Aufbewahrung (storage), womit eine Festigung der Begebenheit im Langzeitgedächtnis gemeint ist. Diese Festigung verhindert das schnelle Vergessen. Dieser Prozess der Lagerung unterscheidet die neuen von den alten Erinnerungen. Die neuen Erinnerungen müssen erst verfestigt werden, während die alten dies bereits sind. In allen bis jetzt genannten Phasen ist ein sofortiges Vergessen einer Information möglich und geschieht auch tatsächlich. Selbst die Verfestigung einer Information im Langzeitgedächtnis ist keine Garantie dafür, dass sie nicht doch vergessen wird. Elementar zum Langzeitgedächtnis und damit episodischen Gedächtnis gehört das Abrufen (retrieval) der Erinnerung. Die im episodischen Gedächtnis gespeicherten Begebenheiten sind nämlich nur dann von Wert, wenn es gelingt, diese auch wieder abzurufen. Tulving formulierte dies 1991 in einem Interview mit dem „Journal of Cognitive Neuroscience“ wie folgt: „The key process of memory is retrieval. The storage […] alone, in the absence of retrieval, is no better than no storage […] at all.“44 Das heißt, eine Information, die zwar aufgenommen, aber nie aufgerufen wird, ist sinnlos. Dieses episodische Gedächtnis hätte dann den gleichen „Zustand“ wie ein episodisches Gedächtnis, das diese Information nie aufgenommen hätte. Das Abrufen geschieht, indem die Information respektive Begebenheit vom Langzeitgedächtnis wieder ins Arbeitsgedächtnis kopiert wird, um dort benutzt zu werden. Um mit Zeitzeugen und ihren Erzählungen besser umgehen zu können, ist es nötig, die Funktionsweise des episodischen Gedächtnisses zu verstehen.45 Dass Historiker und Historikerinnen bei ihrer Arbeit mit den Ereignisberichten von Menschen ein schwieriges Quellenmaterial haben, ist eindeutig und keine Erkenntnis der neuzeitlichen Gedächtnisforschung. Die Auseinandersetzung in der Art zu führen, wie es Johannes Fried mit seinem Buch „Der Schleier der Erinnerung“46 macht, der darin eine „historische Memorik“ postuliert, die letztendlich nichts anders ist als eine Quellenkritik unter dem Schlagwort „Misstraut der Erinnerung“, wirkt banal und wird dem Thema

44 Interview with Endel Tulving, in: Journal of Cognitive Neuroscience, 3 (1), 1991, S. 91. 45 Dies betrifft allerdings auch den Umgang mit allen anderen Textquellen, die als Überlieferung angesehen werden können. 46 Vgl. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004.

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nicht gerecht. Zu einer ersten umfassenden Kritik an Fried sei auf die 2006 erschienene Rezension von Achatz von Müller hingewiesen.47 Das episodische Gedächtnis eines jeden Menschen ist höchst individuell. Zwar kann die interdisziplinäre Gedächtnisforschung schon relativ viele Parameter benennen, die das episodische Gedächtnis ausmachen, aber es bleibt eine hohe Unsicherheit. So ist z. B. klar, dass sich Menschen an emotionale Vorfälle besser erinnern. Andreas Papassotiropoulos sagt dazu aus der Sich der Genetik: „Wir möchten auch verstehen, weshalb sich Menschen an emotionale Vorfälle besser erinnern als an neutrale. Das ist eine entscheidende Frage für psychiatrische Krankheiten.“48 Erinnerungen, und auch das ist seit Längerem deutlich, werden nicht wie in einem Schubladenlagersystem aufbewahrt, sondern bilden Netzwerke, was dazu führt, dass Erinnerungen auf verschiedenste Weise miteinander verknüpft sein können.49 Dies macht die Arbeit mit Erinnerungen nicht leichter, erklärt aber ein wenig die faszinierenden Wege, die die Erinnerungen zu nehmen scheinen. Der Historiker Heiko Haumann bemerkt dazu: „Die Erinnerung eines Menschen spiegelt nicht das unmittelbar Erlebte.“50 Hier ist allerdings zu fragen, was denn das unmittelbar Erlebte genau ist und ob bei der Suche nach dem unmittelbar Erlebten in der Erinnerung nicht die alte Historikersucht und suche nach dem, wie es wirklich gewesen, die Hauptrolle spielt. Während Haumann schon die Erinnerung als nicht dem Erlebten entsprechend bewertet, sieht der Hirnforscher Wolf Singer den Menschen als generell nicht in der Lage, die Erinnerungsspuren, die sogenannten Engramme, in Sprache umzusetzen – die Struktur dieser Erinnerungsspuren würde dies nicht zulassen.51 Sprache ist immer ein indirektes Medium, eines, das über etwas erzählt, das aber nicht das Ereignis selbst ist. Sprache ist eine Transformationsform der Kommunikation. Wenn Sprache die Engramme nicht umsetzen kann, wer 47 Vgl. Achatz von Müller: Wirklichkeit oder Wahrnehmung? Zu Johannes Frieds Studie „Der Schleier der Erinnerung“, in: Geschichte und Gesellschaft, 32, 2006, S. 214–219. 48 Papassotiropoulos zitiert nach swissinfo.ch, 20.10.2006, „Arbeitsweise von Gedächtnis-Gen entdeckt“, www.swissinfo.org/ger/startseite/Arbeitsweise_von_ Gedaechtnis_Gen_entdeckt.html?siteSect=105&sid=7181083&cKey=116135510 6000&ty=st (Zugriff: 24.6.2008). 49 Vgl. z.  B. Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.9.2000 in Aachen, abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.9.2000, Nr. 226, S. 10. 50 Haumann, 2006, S. 42. 51 Vgl. Singer, 2000.

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oder was könnte es dann? Und ist nicht die Grundbedingung jedweder Kommunikation das Einsehen, dass es sich immer um eine Transformations- und Übersetzungsleistung handelt? Stehen dem Menschen noch andere Kommunikationsformen zur Verfügung, die besser geeignet sind, die Engramme weiterzugeben? Tatsächlich wird im Laufe dieses Kapitels eine Form der Kommunikation der Engramme noch vorgestellt werden, die sich aber in einem anderen Kontext von Erinnerung bewegt, daher wird dies zunächst zurückgestellt. Singers Bemerkung erscheint gerade für die historische Wissenschaft wichtig, bestätigt sie doch die Skepsis bei „Erzählungen“. Ein Ergebnis der Hirnforschung lässt diese These aber möglicherweise wieder in einem anderen Licht erscheinen, haben doch die letzten Jahre gezeigt, dass sich im Gehirn das episodische Gedächtnis und die Sprachfähigkeit zur gleichen Zeit entwickeln.52 Dies könnte darauf hindeuten, dass Sprache und episodische Gedächtnis doch in einer engeren Verbindung zueinander stehen. Braucht es die Sprache, um Erlebnisse im episodischen Gedächtnis abzuspeichern? Zwar entwickelt sich dieses ab dem vierten Lebensjahr, „wirklich zu füllen“53 beginnt es sich aber erst ab dem zehnten Lebensjahr, dann ist die Sprache jedoch schon weit entwickelt, und es stellt sich die Frage, was zwischen dem vierten und dem zehnten Lebensjahr im episodischen Gedächtnis passiert, warum es eine so lange „Anlaufzeit“ braucht, um seine Funktion zu erfüllen. Sprache und Erzählung spielen im Erinnerungsvorgang eine wichtige Rolle, wie neueste neurowissenschaftliche Forschungen wieder bestätigt haben. So hat eine Forschergruppe die „long-term memory for a narrative film“ untersucht, wobei versucht wurde, den Faktor „Emotion“ bei der Speicherung der Erinnerung außen vor zu lassen.54 Die Ergebnisse verifizieren einige schon bekannte Beobachtungen, so z.  B. dass sich Menschen im Allgemeinen an große Erzählstrukturen erinnern, aber nicht an Details. Diese Narrative gibt der Mensch weiter, er ist ein „Geschichtenerzähler“, ohne den Plot aber wörtlich zu erinnern. Er rekonstruiert ihn vielmehr nach den ihm im Langzeitgedächtnis zur Verfügung stehenden Erfahrungen und kulturellen Voraussetzungen.55 Daran schließt sich die Frage an, warum es sogar schon kurz nach dem 52 Vgl. Douwe Draaisma: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von den Rätseln unserer Erinnerung, München 2006 (Übersetzung aus dem Niederländischen, das Original erschien 2001), S. 58. 53 Draaisma, 2006, S. 58. 54 Vgl. Orit Furman et al.: They saw a movie: Long-term memory for an extended audiovisual narrative, in: Learning Memory, online 11.6.2007, www.learnmem. org/cgi/content/full/14/6/457. 55 Furman, 2007, S. 6.

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Anschauen des Films auch zu „erroneous recall[s]“56 kam. Der für die historische Wissenschaft wichtige Erklärungsansatz besagt, dass wahrgenommene Ereignisse versehentlich in das Schema früherer Erfahrungen, früher erworbenen Wissens eingefügt werden.57 Dies ist deswegen so „gefährlich“, weil das Aufnehmen neuer Informationen in schon existierende Schemata sehr schnell geht, schneller offensichtlich, als ein neues Schema anzulegen.

Das Abrufen der Erinnerung Dass ein Ereignis, das der Mensch mit Emotionen verbindet, besser erinnert wird, ist bereits gesagt worden. Es scheint aber nicht eindeutig zu sein, ob positive oder negative Emotionen stärkere Engramme hinterlassen. Draaisma und Markowitsch sagen deutlich, dass es die negativen Emotionen, sind, Draaisma spricht von den Demütigungen, die besser im Gedächtnis bleiben58, Markowitsch legt Wert auf die Wichtigkeit der negativen Erlebnisse im Prozess der Evolution.59 Papassotiropoulos hingegen betont auch die Wichtigkeit des „Wohlfühlens“ in einer Situation, die manche von den sich Erinnernden heute als vollkommen belanglose Erinnerung an eine bestimmte Situation einstufen.60 Fast scheinen positive oder negative Gefühle für die Bewertung eines Erinnerungszeugnisses nicht von Bedeutung für die Auslegeordnung der historischen Forschung zu sein, denn jede erinnerte Beschreibung eines Geschehens kann nur erfolgen, weil das Geschehen mit Emotionen verbunden wurde, doch erklärt dieser Faktor, dass sich Zeitzeugen, neben dem allgemeinen Handlungsgang, oft an ein spezielles Detail ganz genau erinnern können. Hierzu passt ein Erinnerungsphänomen, das mit dem Namen „Blitzlichterinnerung“ (im englischen Original: „flashbulb memory“) bezeichnet wird. Dies meint nicht, dass ein Erinnerungsengramm durch eine Assoziation ausgelöst wird, sondern eine besonders umfassende Erinnerung – und dies beinhaltet neben dem Ereignis auch eine detaillierte Kontexterinnerung – an ein stark emotionales Ereignis.61 Dies muss nicht unbedingt direkt das persönliche Leben betreffen, es kann auch ein Ereignis sein, das allgemein in der Wahr56 Furman, 2007, S. 8. 57 Furman, 2007, S. 8. 58 Vgl. Draaisma, 2006, S. 68. 59 Vgl. Interview mit Hans-Joachim Markowitsch: „Es ist noch im Kopf, aber man kommt nicht ran“, Berliner Zeitung, 17.5.2008 (Magazin). 60 Interview mit Prof. Andreas Papassotiropoulos, Basel, 12.9.2007. 61 Vgl. Draaisma, 2006, S. 70–76.

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nehmung und Beurteilung einer Gesellschaft als besonders bedeutend eingestuft wird. Die Parameter für diese Einstufung liegen aber schon vorher fest, was deutlich wird, wenn man sich Beispiele anschaut, die für eine Blitzlichterinnerung genannt werden: die Ermordung John F. Kennedys 1963, der Fall der Mauer zwischen der BRD und der DDR im November 1989, der 11. September 2001. Alle Ereignisse gehören in den Bereich einer unerwarteten Entwicklung im politischen Bereich, etwas, was mit dem Begriff der Zäsur einhergeht. Wichtig ist anzumerken, dass es sich bei den Blitzlichterinnerungen nicht immer um ein bewusst negatives Ereignis handeln muss, wie das Beispiel des Mauerfalls zeigt. Neben der Arbeit mit Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten gehört die Oral History zu den wichtigsten Methoden, die sich mit Erinnerung befassen. Aber nicht nur das, sie trägt auch selbst zum Abrufen der Erinnerung bei, indem der Interviewer nach Ereignissen fragt, die ohne die Frage vielleicht nicht wieder abgerufen worden wären. Erinnerungen können aber auch durch andere Reize freigesetzt werden, seien es bestimmte Bilder, Töne oder Gerüche. Kein Buch über Erinnerung, das hierfür nicht Marcel Prousts Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und das darin beschriebene Beispiel des in Tee getauchten Sandtörtchens „Madeleine“ anführt, dessen Geschmack beim Erzähler eine Kaskade von Kindheitserinnerungen und für ihn nicht erklärbare Glücksgefühle auslöst.62 Mit dem Aufrufen einer Erinnerung wird diese später zwar leichter wieder erinnert,63 „die Erinnerung ist wieder aufgefrischt“, wie es umgangssprachlich heißt, aber sie wird auch verändert. Siegel erklärt das mit den „unvorhersehbaren assoziativen Verknüpfungen“, die direkt auf die Erinnerung einwirken und so ein Teil von ihr werden können. Das Abrufen kann also zu einem „Erinnerungsumwandler“ werden, wie es Siegel nennt.64 Dass dies tatsächlich so ist, bestätigt eine Studie aus Südkorea.65 In dieser Studie, die sich mit den biologischen Vorgängen der Angst-Erinnerung beschäftigt, wurde deutlich, dass die gefestigte Erinnerung beim Abrufen destabilisiert und wieder neu zusammen62 Vgl. Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Erster Band, Frankfurt/Main 1989, S. 63–67. Das französische Original des ersten Bandes des monumentalen, in sieben Bänden erschienenen Werkes „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ veröffentlichte Proust 1913 noch auf eigene Kosten. 63 Vgl. Welzer, 2005, S. 99. 64 Informationen dazu und beide Zitate bei Siegel, 2006, S. 36. 65 Vgl. Sue-Hyun Lee et al.: Synaptic Protein Degradation Underlies Destabilization of Retrieved Fear Memory, in: Science, 319, 29.2.2008, S. 1253–1256.

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gesetzt wird. Die Forschergruppe um Sue-Hyun Lee schließt daraus Folgendes: „This suggests that the retrieval of the consolidated memory is a dynamic and active process in which remodeling or reorganization of the already-formed memories occurs to incorporate new information.“66 Für die Arbeit mit Zeitzeugen, besonders wenn sie wiederholt befragt werden oder zum befragten Themenkomplex schon mehrfach befragt wurden, bedeutet dies, dass eine scheinbar gefestigte Erinnerung genau das nicht ist, was sie vorgibt zu sein, nämlich gefestigt. Sie unterliegt einem Wandel, der sich neurologisch erklären lässt. Sieht man einmal von bewussten Veränderungen einer Erzählung ab, ist hier nicht Vorsicht geboten, weil die Zeitzeugen die Interviewpartner möglicherweise anflunkern, sondern weil das wiederholte Aufrufen einer Erinnerung diese verändert. Im Raum steht damit die Frage, ob Erinnerungen, die zum ersten Mal aufgerufen werden, „echter“, „direkter“ sind und daher von größerem Wert für die Rekonstruktion eines Geschehens. Für diese These spricht eine Methode der Radio- und Fernsehjournalisten, die Interviewpartnern, die sie in einem Live-Interview präsentieren, die eigentlichen Fragen des Interviews nicht vorab vorlegen. So sollen authentische Antworten erreicht werden. Ob dies der Fall ist, hängt aber nicht nur von den nicht vorgelegten Fragen ab, sondern auch davon, ob der oder die zu Befragende eine solche Live-InterviewSituation bereits kennt und mit den Mechanismen vertraut ist. Ein Beispiel aus einer Interviewsituation soll dies erläutern. Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm „Shoah“ arbeitet intensiv mit der Methode der Oral History und dem Aufrufen von Erinnerungen. Der Film ist allerdings keine rein chronologische Zusammenstellung von spontan geführten Interviews, er hat auch eine sehr große kompositorische Ebene. Die für das folgende Beispiel gewählten zwei Personen und ihre Filmsequenzen gehören nicht zu den stark durchkomponierten Teilen, sondern zu denen, die Lanzmann relativ wenig beeinflusst hat. Der Film beginnt nach einer kurzen Einführungssequenz mit Simon Srebnik. Srebnik kam als 13½Jähriger nach Chelmno, überlebte die sogenannte zweite Tötungsperiode zwischen Juni 1944 und Januar 1945, emigrierte nach seiner Befreiung nach Palästina/Israel, wo er von Lanzmann gefunden und überredet wurde, mit ihm nach Chelmno zurückzukehren.67 Srebnik war ein guter Sportler, aber vor allem ein sehr guter Sänger. Er musste für die SS-Wachen singen, manchmal fuhr er auch auf einem Boot den Fluss hinauf und sang. Dies rettete ihm das Leben. Lanzmann setzt ihn wie66 Lee et al., 2008, S. 1253. 67 Vgl. Claude Lanzmann: Shoah, Düsseldorf 1986 (die französische Originalausgabe ist 1985 erschienen), S. 17–19.

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der in ein Boot und lässt ihn ein polnisches Volkslied singen, das er damals auch gesungen hat. Dieser stark komponierten Sequenz folgt eine Szene, in der Srebnik den Platz sieht, an dem die Vergasungswagen gehalten haben und an dem zwei Gasöfen zum Verbrennen der Leichen standen. Srebnik erblickt den Ort, der heute nur noch eine Lichtung ist, nur wenige Spuren deuten darauf hin, was hier einst geschah. Srebnik erinnert sich, aber es ist kein Narrativ, es sind Erinnerungsspuren, die sich Bahn brechen. Srebnik hat über seine Erlebnisse bisher erst einmal Auskunft gegeben, und zwar im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961.68 Es scheint deutlich, dass Srebnik das erste Mal im Angesicht des Ortes seinen Erinnerungen freien Lauf lässt. Am Ende seiner ersten Schilderung beginnt er noch einmal ein polnisches Lied zu singen. Die zweite Person, deren Erinnerungszeugnis genannt werden soll, ist Filip Müller. 1922 im slowakischen Sered geboren, kam er 1942 nach Auschwitz. Er gehört zu den wenigen Überlebenden der „Sonderkommandos“, jener Gruppen von jüdischen Gefangenen, die die ermordeten Menschen aus den Gaskammern zerren und in die Verbrennungsöfen bringen mussten.69 Immer wieder wird er aufgefordert, seine Erlebnisse zu erzählen. Bereits 1946 erscheint ein erster Bericht von ihm, ab 1963 beginnt er seine Erinnerungen für sich aufzuschreiben. 1964 tritt er als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess auf,70 danach ist er überzeugt davon, dass es wichtig ist, seine Erinnerungen zu veröffentlichen. Er ordnet sie systematisch und chronologisch, aber es dauert noch bis 1979, dann erst erscheint das Buch.71 Im Gegensatz zu Srebnik hat sich Müller also bereits intensiv mit seinen Erlebnissen während der Nazi-Zeit in dem Sinne befasst, dass er seine Erinnerungen in eine sprachliche Form gegossen hat. Seine Interviewtexte und die entsprechenden Filmsequenzen zeigen diesen Unterschied deutlich. Während Srebnik eher fragmentarisch berichtet, setzt Müller die ihm von Lanzmann gestellten Fragen in ein durchlaufendes Narrativ um.72 Nicht nur die Erfahrung des Erinnerungserzählens ist deutlich, 68 Information dazu vgl. Lanzmann, 1986, Gespräch mit Mordechai Podchlebnik, S. 22f. 69 Zu den Sonderkommandos vgl. Eric Friedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian: Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando Auschwitz, Lüneburg 2002 und die Website www.sonderkommando-studien.de. 70 Vgl. Bernd Naumann: Auschwitz. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt, Frankfurt/Main 1968, S. 181–184. 71 Informationen zu Filip Müller, seinem Leben und seinen Erlebnisberichten vgl. Andreas Kilian: Erinnerungsbericht: „Sonderbehandlung“, www.sonderkommando-studien.de/literatur (Zugriff 19.7.2008) 72 Vgl. Lanzmann, 1986, Gespräch mit Filip Müller, S. 82–86.

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sondern auch, dass sich aus den Engrammen durch das wiederholte Erzählen und Niederschreiben Narrativstrukturen gebildet haben. Ein weiterer Punkt, der Erinnerungen wachruft, ist ein biologischer. Es ist die mit dem fortschreitenden Altern einhergehende Rückbesinnung auf Erlebnisse in der Kindheit und Jugend. Dieser Trend ist vor allem auf dem deutschsprachigen Büchermarkt zu beobachten, da Zeitzeugen, die die Jahre des Nationalsozialismus und der Schoa als Kind erlebt haben, über ihre Erinnerungen berichten. Aus der Warte der historischen Forschung und dem Versuch, das episodische Gedächtnis so zu verstehen, dass dieses Verständnis für die historische Forschung nutzbringend angewendet werden kann, sind für diesen Bereich der „Reminiszenzeffekt“ und die altersbedingt fallende Erinnerungshemmung zu nennen. Unter Reminiszenzeffekt versteht man ein Phänomen des episodischen Gedächtnisses, das bei Lebensbeschreibungen beobachtet werden kann, wobei es keine Rolle spielt, ob diese schriftlich oder mündlich abgelegt werden: Es finden sich auffallend viele Erinnerungen, die sich in den Jugend- und frühen Erwachsenenjahren, d. h. zwischen 15 und 25, des sich Erinnernden abgespielt haben. Draaisma hat dies in seinen Studien eindrucksvoll dargelegt, aber auch gezeigt, dass es bis heute keine wissenschaftlich begründete Erklärung dafür gibt. Drei Möglichkeiten werden genannt: Das Gedächtnis sei um die Zwanzigerjahre schlicht am aufnahmefähigsten, in dieser Zeit passierten die für den Menschen wichtigsten Dinge und in dieser Zeit werde die Persönlichkeit geformt.73 Besonders die zweite und dritte Erklärung, die sich überlappen, deuten wieder auf den emotionalen Effekt hin, denn eine erste Prägung in der frühen Adoleszenz wird besser erinnert als ein diese Prägung wiederholendes Ereignis im siebzigsten Lebensjahr. Dass der deutschsprachige Büchermarkt mit Erinnerungsliteratur überschwemmt wird, ist für Hans-Joachim Markowitsch keine Überraschung, im Gegenteil, es ist durch die Erinnerungsforschung leicht zu erklären. Das Gehirn ist ein Überlebensinstrument, daher ordnet es, gewichtet, hebt bestimmte Informationen hervor und unterdrückt andere.74 Unangenehme Erinnerungen, die sich im Leben traumatisch auswirken könnten, werden daher eher unterdrückt, im Alter aber lässt diese Hemmung nach, das Gehirn ist nur noch schwer in der Lage, diese Erinnerungen zu kontrollieren. Assoziierende Ereignisse können dann die in der Kindheit erlebten Geschehnisse wieder in das Arbeitsgedächtnis holen. Die davon betroffenen Menschen reagie73 Vgl. Draaisma, 2006, S. 212–245. 74 Vgl. „Das Gedächtnis macht, was es will“, Interview mit Douwe Draaisma, Spiegel, Nr. 36/2004, S. 142.

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ren oft mit Bestürzung und Überraschung auf die „plötzlich auftauchenden“ Erinnerungen, von denen man sich offenbar nicht bewusst war, dass sie überhaupt existieren.75

False Memory Johannes Fried hatte explizit vor „der Erinnerung“ gewarnt. Offensichtlich in Stein gemeißelte Sätze wie „Der schlimmste Feind des Historikers ist der Zeitzeuge“ unterstützen diese Meinung, gilt doch die Erinnerung als unzuverlässig. Im bisherigen Verlauf der Arbeit ist deutlich geworden, dass es sich mit „der Erinnerung“ etwas komplexer verhält, als es in historiografischen Studien bisher den Anschein hat. Es soll hier nicht noch einmal auf die Debatte eingegangen werden, ob denn eine schriftliche Quelle, also z. B. ein amtliches Dokument, so viel „wahrer“ ist als eine Zeitzeugenaussage, es soll aber der Frage nachgegangen werden, wie es sich mit „falschen Erinnerungen“ verhält und wie die Ergebnisse der Gedächtnisforschung in die Arbeitsweisen der Historikerinnen und Historiker eingebracht werden können. Der Begriff der „falschen Erinnerung“ ist dabei ein Terminus technicus der Erinnerungsforschung, der aus der englischen Sprache übernommen wurde. „False memory“ bezeichnet dabei nicht die Schutzbehauptung („Ich kann mich nicht erinnern“) oder eine bewusste Lüge. Markowitsch definiert „false memory“ vielmehr als eine unter Stress oder besonderer Erregung auftretende Erscheinung, bei der fehlende Teile eines Ereignisses durch schon in der Erinnerung abgespeicherte Teile ergänzt werden.76 Diese Definition von „false memory“, also als eine Art „Erinnerungsersatz“, erscheint nicht ganz zutreffend. Ursprünglich kommt die Beschäftigung mit diesem Begriff aus der Arbeit über Kindesmissbrauch und dem Versuch, von Kindern in Gesprächen Aussagen über eine reale oder vermeintliche Missbrauchssituation zu erhalten.77 Dies hat sich als äußerst schwierig erwiesen, da Kinder bis in das Schulalter hinein nicht über ein entwickeltes episodisches Gedächtnis verfügen, d. h., sie können sehr viel schwerer zwischen real Erlebtem und Erzählungen unterscheiden. Daher sind sie anfällig für Fragen, die ihnen einen Sachverhalt suggerieren, den sie schließlich als real anneh-

75 Vgl. Katja Thimm: „Sie sind beste Kriegsware“, in: Spiegel, Nr. 12/2008, S. 36. 76 Vgl. Markowitsch, 2008. 77 Vgl. Welzer, 2005, S. 32f.

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men.78 Und so wie es bei den Gerüchen Marcel Proust ist, kommt anscheinend kein Buch über Erinnerungsforschung an einer Geschichte aus der Jugend des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896–1980) vorbei. Darin schildert Piaget seine vermeintlich erste Kindheitserinnerung, nämlich einen von seinem Kindermädchen vereitelten Entführungsversuch, an den er sich exakt erinnern könne, der sich aber später als erfundene Geschichte des Kindermädchens herausstellte.79 Hieran zeigen die Autoren exemplarisch, wie sich eine falsche Erinnerung als echte zeigt. Piagets Geschichte könnte durch unzählige Beispiele aus der Literatur und aus dem Leben jedes Autors ergänzt werden.80 Zu beachten ist hierbei aber, dass die geschilderten „false memories“ nicht als falsch wahrgenommen werden, sondern als echte Erinnerung (siehe Piaget) wieder in das Arbeitsgedächtnis geholt werden. Schreiben nun zum Beispiel die schon genannten Benjamin Wilkomirski und Senait Mehari ihre Kindheitserinnerungen auf, fällt es, vor allem wenn es um Erinnerungen bis zum sechsten Lebensjahr geht, sehr schwer zu entscheiden, ob sich hier Fiktion als Realität im episodischen Gedächtnis festgesetzt hat oder ob die Geschichte vom Autor schlicht erfunden wurde. Akribische Nachforschungen haben in beiden geschilderten Fällen gezeigt, dass die Erzählung der Realität nicht standhalten kann. Einen ähnlichen, aber viel weniger bekannten Fall beschreibt Claudia Erdheim, die die Memoiren von Conny H. Meyer untersucht, der berichtet, wie er als Elfjähriger ins KZ Mauthausen kam und dort bis 1945 überlebte.81 Erdheim weist detailliert auf verschiedene Widersprüche in den Schilderungen Meyers hin, die den Schluss zulassen, dass es sich auch bei den Erinnerungen Meyers nicht um „false memories“ handelt, sondern eine reine Fiktion.82 Vor allem die Arbeiten der Psychologin Elizabeth F. Loftus über Erinnerung haben einen wichtigen Aspekt der „false memories“ deutlich gemacht, nämlich dass diese nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen überzeu78 Vgl. Katherine Nelson: Über Erinnerung reden: Ein soziokultureller Zugang zur Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, in: Harald Welzer und Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S.  78–94, vor allem S. 88–92. 79 Vgl. z. B. Nelson, 2006, S. 88f. und Welzer, 2005, S. 19. 80 Vgl. z. B. Draaisma, 2006, S. 36–38. 81 Vgl. Conny H. Meyer: Ab heute singst du nicht mehr mit. Aufzeichnungen einer Kindheit, Molden-Verlag 2006. 82 Claudia Erdheim: Literatur: Wie wahr muss Erinnerung sein?, www.diepresse.at/ textversion_article.aspx?id=549008 (Zugriff 31.3.2006).

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gend suggeriert werden können.83 Loftus zeigt dabei nicht nur die schon bekannte Ungenauigkeit der Erinnerung, z. B. die Schilderungen der Zeugen eines Verkehrsunfalls, sie weist vor allem überzeugend nach, dass suggestive Fragen und Fehlinformationen über einen beobachteten Vorgang die Erinnerung einer Person zutiefst beeinflussen können. Ein Beispiel für suggestive Fragen bei einem Verkehrsunfall ist die Wahl des Wortes für den Aufprall zweier Autos. Die Zeugen gaben höhere Geschwindigkeiten der beiden Autos an, wenn sie gefragt wurden: „How fast were the cars going when they smashed [kursiv i. O.] into each other?“, als wenn statt des Wortes „smash“ der Ausdruck „hit“ verwendet wurde.84 Die von Loftus et al. „misinformation effect“ genannte Erscheinung zeigt sich z. B. an den Erzählungen eines Zeugen, der nach dem von ihm beobachteten Ereignis darüber einen sehr einseitigen Filmbericht gesehen hat.85 Loftus beschreibt in ihrem Artikel auch einen interessanten „Nebeneffekt“ der Forschungsarbeiten im Bereich der Erinnerung. Verschiedene Arbeiten haben gezeigt, dass die annähernd korrekte Wiedergabe eines Ereignisses auch davon abhängt, ob das Geschehen im Film angeschaut wurde oder ob der Zeuge das Geschehen direkt beobachten konnte. Die Wiedergabe der im Film beobachteten Dinge war deutlich genauer, woraus Loftus schließt, dass die in Laborexperimenten erzielten Erinnerungsleistungen als Basisparameter nicht überschätzt werden dürften.86 An ihre Forschung zum „misinformation effect“ schließt Loftus die Frage an, ob man einer Person eine komplett falsche Erinnerung suggerieren könne, also nicht nur Details verändern, sondern ein nie stattgefundenes Ereignis als episodische Erinnerung „einpflanzen“ könne („rich false memories“). Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass dies möglich ist, allerdings betont Loftus, dass es nicht klar ist, ob die Person einfach nur daran glaubt, das Ereignis habe stattgefunden, da es auch Beispiele gibt, bei denen Personen eine „rich false memory“ mit umfangreichen Details „erinnerten“.87 Für die Historiografie ist die Erkenntnis der „false memories“ im Kinderalltag eine interessante Erkenntnis für die Untersuchung von Kindheitserinnerungen. Noch wichtiger aber ist es, die durch Elizabeth F. Loftus auf einer 83 Elizabeth F. Loftus ist Professorin an der University of California, Irvine. Auf ihrer Website können ihre wichtigsten Artikel eingesehen werden. Der folgende Abschnitt nimmt Bezug auf den im November 2003 in der Zeitschrift „American Psychologist“ erschienenen Artikel „Make-Believe Memories“, S. 867–873. 84 Vgl. Loftus, 2003, S. 867f. 85 Vgl. Loftus, 2003, S. 868. 86 Vgl. Loftus, 2003, S. 868. 87 Vgl. Loftus, 2003, S. 870.

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ersten Ebene schon beantwortete Frage, inwieweit „false memories“ auch bei Erwachsenen auftreten können, noch intensiver anzuschauen. Durch seine Arbeit mit Patienten, die an einer sehr seltenen Gedächtnisstörung leiden, ist der Hirnforscher Christopher Moulin am Institute of Psychological Science der Universität Leeds auf etwas gestoßen, was in dieser Frage hilfreich sein könnte. Moulin forschte dabei zunächst über das „Déjà vu“-Erlebnis, das Gefühl, eine Szene schon einmal erlebt zu haben. Moulins Patienten leiden allerdings an „déjà vécu“ (schon erlebt), wie er es nennt, d. h., sie haben eigentlich alles schon einmal erlebt, lesen keine Bücher, weil sie glauben, sie schon zu kennen, alles Neue ist für sie etwas, was sie schon erlebt haben („recollective confabulation“). In Tests wird klar, dass zwar das Bewusstsein da ist, dies alles schon erlebt zu haben, aber das eigentliche Ereignis nicht geschildert werden kann.88 Hieraus entwickelt sich die Frage, ob das Hirn in der Lage ist, zwischen realer Erinnerung und Einbildung zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist äußerst schwierig, da Einbildung wie auch Erinnerung mit dem Bilden einer Vorstellung über ein Ereignis einhergehen, häufig, wie schon gezeigt, sich auch überlappen. Moulin geht aber davon aus, dass es beim Abrufen einer Erinnerung aus dem episodischen Gedächtnis zu einer emotionalen Kennung im Gehirn kommt. Eine solche Kennung findet beim Abrufen von Dingen aus dem semantischen Gedächtnis und auch beim reinen Fantasieren nicht statt.89 Dies hilft den an dieser Krankheit leidenden Patienten nicht weiter, unterstützt aber die pflegenden Personen und die behandelnden Ärzte im Umgang mit den Patienten. Klar scheint damit aber zu sein, dass das nicht erkrankte Gehirn unterscheiden kann, wann eine Erinnerung real ist und wann es sich um reine Fantasie handelt. Aber kann sich der Mensch eine Erinnerung auch einreden und schließlich selbst die Fiktion für Realität halten? Diese Frage bezieht sich nicht mehr auf Kindheitserinnerungen, sondern auf Erinnerungen von Erwachsenen. Die bekanntesten und öffentlichkeitswirksamsten Settings für diese Frage sind Gerichtsverfahren, bei denen Angeklagte mit einem Ereignis konfrontiert werden und nicht versuchen, das Ereignis, d. h. ihr Handeln, zu rechtfertigen – dies impliziert ein Anerkennen, dass sie am Ereignis beteiligt waren –, sondern das Ereignis als solches bestreiten. Die in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen 88 Vgl. Christopher A. J. Moulin et al.: Disordered memory awareness: recollective confabulation in two cases of persistent déjà vecu, in: Neuropsychologia, 43, 2005, S. 1362–1378. 89 Vgl. Moulin, 2005 und Manfred Dworschak: Erinnerung aus dem Nichts, in: Spiegel, Nr. 48/2006, S. 210.

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Raum aufsehenerregendsten Gerichtsverfahren sind die Kriegsverbrecher-Prozesse, die ihren Anfang mit dem Nürnberger Prozess nahmen. Als illustrierendes Beispiel soll an dieser Stelle der am 20. Dezember 1963 in Frankfurt am Main beginnende sogenannte „Auschwitz-Prozess“, der eigentlich „Strafsache gegen Mulka und andere“ hieß, dienen. In ihm wurde den Angeklagten, die in verschiedenen Funktionen in Auschwitz tätig waren, dies reichte von Aufsehern über Sanitätsdienstgrade bis zum Ärztepersonal, die Beteiligung an Selektionen, die Durchführung von Vergasungen, die Misshandlung und Tötung von Gefangenen, z. B. mit einer Giftspritze ins Herz, vorgeworfen. Zu Beginn des Prozesses erklärten sich alle Angeklagten für unschuldig, alle ihnen vorgeworfenen Taten hätten sie nicht begangen. Der sich über 20 Monate hinziehende Prozess konfrontierte die Angeklagten mit einer Fülle von Zeugen und Zeuginnen, die immer wieder ganz explizit die einzelnen Angeklagten verschiedener Taten bezichtigten. Selbst im Angesicht direkter Beschuldigungen taten die Angeklagten dies stereotyp mit dem Hinweis ab, dass dies schlicht nicht der Wahrheit entspreche.90 Alle Angeklagten erzählten ihre Geschichte aus der Zeit in Auschwitz, alle hatten für die Anschuldigungen Erklärungen, vor allem schilderten sie ihre eigene Position in ihrem jeweiligen Dienstbereich als untergeordnet, ohne eigene Verantwortung und immer ohne jede Form von Misshandlung oder gar Töten von Personen.91 Angesichts der zum Teil erdrückenden Beweislast erscheinen diese Geschichten alle als Fiktion. Die Frage ist aber nicht, ob diese Geschichten einer durch das Gericht festzustellenden Wahrheit entsprachen, sondern ob die Angeklagten selbst im Auschwitz-Prozess diese Geschichten für ihre eigene Erinnerung, also für die korrekte Wiedergabe der Situation hielten. 90 Vgl. z. B. Naumann, 1968, S. 135. 91 In diese Überlegungen müssen auch die Strategien der Verteidiger mit einbezogen werden. Ein Beispiel für eine mögliche Taktik lieferte der Verteidiger des Angeklagten Victor Capesius, Dr. Hans Laternser. Die Verantwortung für die Verbrechen sah er ausschließlich bei Hitler und der höchsten Führungsriege des NS-Staates. Die Angeklagten hätten daher nur Befehlen gefolgt, sie selbst seien nicht selbst aktiv gewesen („kein eigener Tatwille“). Von Laternser stammt auch die Umkehrung der Bewertung der Selektionen auf der Rampe in Auschwitz, denn er stellte nicht die Vergasung in den Vordergrund, sondern attestierte den an der Selektion beteiligten SS-Männern, dass sie durch die Selektionen Leben gerettet hätten. Vgl. Christian Dirks: Selekteure als Lebensretter, in: Irmtrud Wojak (Hrsg., im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts), „Gerichtstag halten über uns selbst ...“ Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt/Main, New York 2001, S. 163–192.

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Kann das episodische Gedächtnis lügen? Folgt man den Forschungen von Chris Moulin, müssten sich im Gehirn bei einem Zugriff auf das episodische Gedächtnis andere Dinge abspielen als beim reinen Fantasieren. Um diesen Komplex zu illustrieren, wähle ich aus dem Auschwitzprozess einen Angeklagten und einen Anklagepunkt exemplarisch aus. Dem Angeklagten Josef Klehr, einem als Sanitätsdienstgrad in Auschwitz arbeitenden SS-Mann, wurde vorgeworfen, Weihnachten 1942, während der Abwesenheit des Lagerarztes, eigenmächtig Selektionen durchgeführt und Häftlinge mit einer Phenol-Injektion in den Herzmuskel getötet zu haben. An diesem Datum entzündete sich eine lange Auseinandersetzung. Obwohl mehrere Zeugen zweifelsfrei Klehr als denjenigen beschrieben, der zu Weihnachten im Lager war und die ihm zur Last gelegten Verbrechen begangen habe, beharrte Klehr auf seinem Standpunkt, zu diesem Zeitpunkt nicht in Auschwitz gewesen zu sein. Er konnte dies aber nicht durch Dokumente oder Ähnliches belegen.92 Handelt es sich hier um einen Fall von „false memory“? Wohl kaum, denn bei den in der Literatur geschilderten Fällen einer „false memory“ geht es darum, dass jemand meint, eine Sache hätte sich auf eine bestimmte Weise zugetragen, eine bestimmte Person sei dabei gewesen etc. Es geht also um eine offensichtlich falsche Ergänzung des episodischen Gedächtnisses, die aber nicht bewusst vorgenommen wird, sondern die in der Verknüpfung eines Ereignisses mit Mustern und Erinnerungen eines anderen Ereignisses sich gebildet hat und so wieder ins Arbeitsgedächtnis aufgerufen wird. Die Person ist fest davon überzeugt, dass die eigene Erinnerung der Wahrheit entspricht, und äußerst überrascht, wenn dies nicht so sein sollte. Diese Vermischung aus Realität und Fiktion, die das episodische Gedächtnis vornimmt, ist von sich Erinnernden nicht zu erkennen. Man möchte die Sache auch dann fast nicht glauben, wenn sie zweifelsfrei erwiesen ist.93 Wenn Josef Klehr Weihnachten 1942 in Auschwitz gewesen ist und die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat, geht es hier nicht um eine Datumsverwechselung, die auch zum Teil Gegenstand des Auschwitzprozesses war. Klehr war sich ohne Zweifel bewusst, dass, sollte man ihm diese Taten nach92 Vgl. Naumann, 1968, S. 130, 132–133, 140 und 199. 93 Vgl. z. B. Interview mit Hans-Joachim Markowitsch: „Es ist noch im Kopf, aber man kommt nicht ran“, Berliner Zeitung, 17.5.2008 (Magazin). Markowitsch schildert den Fall eines englischen Kollegen, der überzeugt war, mit Markowitsch zusammen auf einem Kongress in Bozen gewesen und mit ihm eine eisglatte Straße entlanggegangen zu sein. Erst mit der Hilfe eines italienischen Kollegen konnte Markowitsch ihm „nachweisen“, dass er sich irrte.

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weisen, seine ganze Verteidigung des untergeordneten Sanitätsdienstgrades, der nicht ohne Anweisung handeln, daher nicht in eigener Verantwortung tätig werden konnte, zusammenbrechen musste. War seine Geschichte, Weihnachten 1942 nicht im Lager gewesen zu sein, eine eindeutige Lüge oder war Klehr überzeugt, dass dies die Wahrheit sei? Hat er möglicherweise seine Erinnerung an diese speziell nachgefragte Zeit in Auschwitz verdrängt, konnte sie daher überhaupt nicht mehr erinnern? Verdrängung ist ein Topos aus der Psychoanalyse, der meint, dass traumatische Erlebnisse von einer Person verdrängt, d. h. eigentlich vergessen werden. Sie sind der Person nicht mehr erinnerlich, können aber nach Ansicht der Psychoanalyse weiter das Handeln der Person bestimmen. Diese Traumata werden dabei in einer Therapie nicht einfach wieder ins Bewusstsein geholt, sondern es findet eine Übertragung statt, wie Freud es beschreibt: „Der Analysierte erinnere [kursiv i. O.] überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere [kursiv i. O.] es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt [kursiv i. O.] es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“94 Die eng gefasste Definition der Verdrängung passt auf den exemplarischen Fall von Josef Klehr nicht. Er hat das Verdrängte nicht durch Taten wiederholt, auch wenn seine Sprache bei den Befragungen in Ton und Wortwahl schnell wieder in die Zeit seines Aufenthaltes in Auschwitz zurückverfiel.95 Verdrängung gehört im Verständnis der Psychoanalyse in den größeren Bereich der Selbsttäuschungen, trägt aber in sich ein hermeneutisches Problem. Während die von Elizabeth Loftus beschriebene Möglichkeit der Implementierung einer „rich false memory“ eine Beeinflussung von außen erklärt, die Verdrängung in psychoanalytischer Weise aber vor allem auf erlittene Traumata zielt, zeigt die exemplarische Beschäftigung mit Josef Klehr andere Parameter. Ihm wird nicht von außen eine „false memory“ suggeriert, er hat auch kein Trauma erlitten, das er mit einer Verdrängung aus seinem bewussten Blick schaffen müsste.96 Er wird vielmehr einer Handlung beschuldigt, die er im Brustton stärkster Überzeugung zurückweist. Loftus hat die fast schon selbstverständliche Erkenntnis eines Teils ihrer Forschung dazu wie folgt auf den Punkt gebracht: „[…] just because a memory report is expressed with confidence, detail, and emotion does not mean the 94 Sigmund Freud, 1914, zitiert in: Wolfgang Mertens: Psychoanalyse. Geschichte und Methode, München 1996, S. 54f. 95 Vgl. z. B. Naumann, 1968, S. 83. 96 Inwieweit Josef Klehr in seiner Kindheit und Jugend Traumata erlitten hat, die ihn zu den Handlungen in Auschwitz führten, sei dahingestellt, da diese Frage nicht das Thema dieses Abschnitts ist.

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underlying event actually happened.“97 Doch wie kann sich ein Mensch selbst täuschen? Hat er einen kritischen Blick auf sich selbst, wird er wissen, dass er einer Selbsttäuschung unterliegt, dann sind seine handlungsleitenden Vorstellungen aber keine Selbsttäuschung mehr, sondern einfach eine Lüge. Ist der Mensch aber nicht in der Lage, die Selbsttäuschung zu erkennen, stellt sich die Frage, wer diese Selbsttäuschung initiieren kann, ob es also eine für die Selbsttäuschung verantwortliche Art Über-Ich gibt. Gibt es ein solches, wer steuert es dann? Denn steuert es der Mensch selbst, ist es keine Selbsttäuschung mehr.98 Der Psychologieprofessor Mark Freemann geht dieser Frage nach und macht am Fall Wilkomirski exemplarisch deutlich, wie das „semantische zum episodischen (oder pseudoepisodischen) Gedächtnis wird.“99 Dieser „Wechsel des Gedächtnisses“, um es einmal so zu formulieren, ist auf den ersten Blick ein überzeugendes Argument, die Frage bleibt aber unbeantwortet, ob dies ein bewusster Akt ist oder ob Schädigungen des Kortex, des Hippocampus oder anderer Teile des Gehirns vorliegen. Ist es ein bewusster Akt, kann nicht mehr von einem Wechsel des Gedächtnisses gesprochen werden. Liegt eine neurologische Schädigung vor, ist es ein pathologischer Fall und nicht mehr eine Frage an die Geschichtswissenschaft. Eine dritte Möglichkeit wäre die bewusste Autosuggestion, die schließlich dazu führt, das episodische Gedächtnis derart zu manipulieren, dass es die falsche Erinnerung, und nicht nur ein Versatzstück, als Erinnerung ins episodische Gedächtnis aufnimmt, also tatsächlich einen Wechsel vornimmt. Autosuggestion meint, in einer Art Selbsthypnose bestimmte Gedanken und Vorstellungen im Unterbewusstsein der eigenen Person einpflanzen zu können. Diese Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Methode erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, was sich vor allem beim Blick in das Angebot der Self-Help-Literatur zeigt. Entwickelt wurde diese Methode von dem Franzosen Émile Coué (1857–1926), der sich neben seiner Arbeit als Inhaber einer Apotheke intensiv mit Psychologie und der Hypnose beschäftigte. Seine Arbeit zielte darauf ab, dass sich durch Selbstaffirmationen das Wohlbefinden eines jeden Menschen steigern lasse. 97 Loftus, 2003, S. 871. 98 Vgl. hierzu u. a. Amelie Oksenberg-Rorty: The Deceptive Self: Liars and Layers, in: Analyse und Kritik, Zeitschrift für Sozialtheorie, 7 (2), 1985 (Themenheft: Grundlagenprobleme der Psychoanalyse), S. 141–161. 99 Mark Freeman: Autobiographische Erinnerung und das narrative Unbewußte, in: Harald Welzer und Hans J. Markowitsch (Hrsg.), Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Stuttgart 2006, S. 134.

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Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi (1919–1987), dessen schriftstellerische Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit Beachtung fand, hat in seinem 1986 auf Italienisch erschienen Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ (deutsch 1990) auf Formen der Autosuggestion und der Selbsttäuschung Bezug genommen, als er sich im ersten Kapitel mit der Frage auseinandersetzte, inwieweit man den Aussagen von Nazi-Tätern Glauben schenken könne. Levi geht davon aus, dass jedes Trauma, egal ob erlitten oder zugefügt, nur unter großer Belastung wieder an die Oberfläche geholt werden könne.100 Auch der Täter „drängt seine Erinnerung in die Tiefe ab, um sich von ihr zu befreien, um sein Schuldgefühl zu beschwichtigen.“101 Levi geht aber noch einen Schritt weiter und beschreibt den Wechsel von der Lüge zu der selbst geglaubten Lüge, die damit in der Wahrnehmung der Täter keine Lüge, sondern die Wahrheit ist. Es gebe, schreibt Levi, zwar auch bewusste Lügner, „aber es gibt weitaus mehr Menschen, die die Anker lichten, sich für den Augenblick oder auch für immer von den ursprünglichen Erinnerungen lösen und sich eine bequemere Wirklichkeit zurechtzimmern.“102 Folgt man Levis Darlegung, kann dies nur mit Methoden der Autosuggestion erfolgen, denn die neue Wirklichkeit muss immer wieder „erinnert“, immer wieder beschrieben werden, dann „verliert die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge allmählich ihre Konturen, und der Mensch glaubt schließlich mit voller Überzeugung an seine Geschichte […].“103 Levis beeindruckendes Buch lässt im Bereich der „false memory“ allerdings die wichtigsten Fragen offen. Kann eine „rich false memory“ tatsächlich im episodischen Gedächtnis gespeichert werden? Oder bleibt diese im semantischen Gedächtnis? Gibt es vielleicht einen Bereich, den man „pseudoepisodisches“ Gedächtnis nennen könnte, wie Freeman vorschlägt?104 Nach den Untersuchungen von Moulin müsste dann aber noch die Frage beantwortet werden, wie es sich mit der „emotionalen Kennung“ verhält. Würde sich diese auch im pseudoepisodischen Gedächtnis nachweisen lassen, wäre dieser Parameter als Kennzeichen für das Abrufen einer Erinnerung aus dem episodischen Gedächtnis nicht haltbar. Oder kann der Mensch nicht mehr zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis unterscheiden? Hält er Erinnerungen aus dem semantischen Gedächtnis für Erinnerungen aus dem episo100 Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München, Wien 1990, S. 20. 101 Levi, 1990, S. 20. 102 Levi, 1990, S. 23. 103 Levi, 1990, S. 23. 104 Freeman, 2006, S. 134.

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dischen Gedächtnis und ist deswegen auch derart überzeugt, die Wahrheit zu sagen? Wenn aber der Mensch selbst nicht zwischen den beiden Gedächtnisarten unterscheiden kann, wie kann es dann die Geschichtswissenschaft? Für Elizabeth Loftus ergibt sich daraus die folgende Aufgabe: „A different area of psychological science is needed to distinguish the deliberate lie from the ‚honest‘ lie.“105 Aber sie geht noch weiter, denn den in der Erinnerungsforschung als allgemeingültig angesehen Satz, der Mensch stelle sich in der Summe seiner Erinnerungen an das, was er getan habe, dar, möchte sie nach 30 Jahren Erinnerungsforschung umdrehen: „Who we are may be shaped by our memories, but our memories are shaped by who we are and what we have been led to believe.“106 Und dazu gehört dann, dass Identität nicht einfach durch Erinnerung kreiert und geformt wird, sondern einem reziproken Prozess unterworfen ist, der auch Einfluss auf die Identität und die Erinnerung hat, oder wie Elizabeth Loftus es formuliert: „We seem to reinvent our memories, and in doing so, we become the person of our own imagination.“107 Dies würde bedeuten, dass Erinnerungen nicht nur identitätsstiftend sind, sondern dass Identität auch erinnerungsstiftend ist. Bringt man Loftus Definition mit ein, würde dies bedeuten, dass Erinnerungen nicht Konstruktionen sind, die gemacht werden, um sich in einer bestimmten Situation besser darzustellen, sondern viel elementarer: Man wird durch „Reinventing“ der Erinnerung zu der Person, die man sich in seinen Gedanken vorstellt. Das heißt, man wird tatsächlich diese Person, man erweckt nicht nur den Anschein nach außen. Dies hat erheblichen Einfluss auf die Arbeit mit Zeitzeugen, aber auch mit jeder Form von Ego-Dokumenten und Selbstzeugnissen. Hier ist nicht einfach nur eine Quellenkritik gefragt, sondern der Versuch, das Wechselspiel zwischen Identität und Erinnerung zu erkennen, um die Information wissenschaftlich einordnen zu können. Allerdings eignen sich nicht alle Erinnerungsdokumente für eine solche tiefer gehende Analyse von Identität und Erinnerung. Das schon besprochene autobiografische Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ von Günter Grass fällt in eine andere Kategorie. Es handelt sich nicht um eine „false memory“ oder eine „honest lie“, es ist vielmehr ein wortreiches, wortgewaltiges Verschweigen. Grass legt sich seine Welt nicht in der Erinnerung zurecht, er ist nicht überzeugt, dass er nicht bei der Waffen-SS war, er ist überzeugt, dass seine Lüge kein Problem sei. Er erfindet seine Identität nicht durch „reinventing“ der Erin105 Loftus, 2003, S. 872. 106 Loftus, 2003, S. 872. 107 Loftus, 2203, S. 872.

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nerung, sondern durch eine Erfindung der Gegenwart. Die Frage an Günter Grass ist daher auch nicht eine Frage an die Erinnerung. Es ist die Frage nach den persönlichen Motiven einer Lüge, die nicht durch eine „false memory“ überdeckt wurde, die sich also weniger um eine Änderung der Erinnerung dreht, sondern darum, dass ein Leben, eine Reputation auf einer Lüge aufgebaut wird, die aber das ganze Leben hindurch präsent bleibt. Ist diese Lüge möglicherweise so stark, dass sie gar nicht durch eine „false memory“ überdeckt werden könnte? Vergleicht man Grass’ Zugehörigkeit zur Waffen-SS und die Taten des SS-Mannes Josef Klehr in Auschwitz miteinander, wiegen auf einer objektiven Beurteilerebene die Verbrechen Klehrs deutlich schwerer, er hat sich des hundertfachen Mordes schuldig gemacht. Grass war zwar bei der WaffenSS, hat aber, zumindest nach dem neuesten Erkenntnisstand, dort nicht gemordet. Aber möglicherweise muss hier wieder der Umstand des höchst individuellen Beurteilungsschemas bedacht werden, der bei Grass und Klehr zu sehr verschiedenen Ergebnissen führt. Die Gedächtnisforschung stößt allerdings mit der Frage nach einer möglichen „false memory“ und einer durch das persönliche Gewissen verunmöglichten „false memory“ an eine Grenze.

Josef Klehr und der Frankfurter Auschwitzprozess Während Günter Grass nicht in den Fokus der „false memory“-Forschung fällt, auch nicht einer „honest lie“ bezichtigt werden kann, sondern nur einer „real lie“, kann eine Person wie Josef Klehr nicht einfach als Lügner oder erfolgreicher „Selbstsuggerierer“, was Selbsttäuscher beinhaltet, eingestuft werden. Es ist ein Auflösen der wechselseitigen Verbindungen zwischen Erinnerung und Identität nötig, um Klehr und die von ihm kommenden Informationen zu erkennen und damit auch ein historisches Ereignis beschreiben und einordnen zu können. Schaut man noch einmal genauer auf die Aussagen Josef Klehrs im Frankfurter Auschwitzprozess wird deutlich, dass sein Fall tatsächlich anders liegt als Günter Grass’ Häuten der Zwiebel, bei dem, die Bemerkung, wenn auch polemisch, sei noch gestattet, das Abtragen der verschiedenen Schichten letztendlich zu einem Nichts führt, das Grass wortreich füllt. Josef Klehr hat keinerlei Erinnerungsschwierigkeiten, wenn er im Prozess zu Dingen befragt wird, die nicht sein persönliches Handeln betreffen, wie sich an der Frage nach dem Aufbau des Krankenbaus zeigen lässt.108 In der Analyse der Klehr’schen Aussagen werde ich ebenfalls wieder mit den Begrif108 Vgl. Naumann, 1968, S. 83.

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fen semantisches und episodisches Gedächtnis arbeiten, da die definitorische Schärfe einen genaueren Blick auf das Phänomen der „false memory“ erlaubt. Die Erinnerung an den Aufbau des Krankentrakts ist Teil des semantischen Gedächtnisses, es handelt sich um das Speichern reiner Fakten, die Klehr nicht persönlich betreffen. Die Erinnerung funktioniert einwandfrei. Geht es in den Fragen aber um Klehrs eigene Taten, werden die Antworten zunächst, wie aus ähnlichen Prozessen gewohnt, stereotyp. Er sieht sich selbst unter Druck: „Ich befand mich doch in einer Zwangsjacke“109, „Wir sind ja nur kleine SS-Männer gewesen“110; er habe stets „auf Befehl“111 gehandelt, wie er auf die Frage, ob er selbst tödliche Phenol-Injektionen verabreicht habe, antwortet. Wenn ihm eine Handlung nachgewiesen wird, die er selbst als minder schwer einstuft, z. B. das Strafexerzieren, schwächt Klehr ab: Er habe die „aufgefallenen“112 Häftlinge nur „leichte Leibesübungen“113 machen lassen, um sie vor schwerer Bestrafung zu schützen.114 Trotz der Abschwächungen erinnert sich Klehr an diese Dinge, auch wenn jetzt seine persönlichen Bewertungen eine wichtigere Rolle spielen. Die reinen Fakten sind da, sie werden nicht abgestritten, höchstens einer persönlichen Wertung unterzogen. Doch kann hier noch kein „false memory“-Phänomen beobachtet werden. Die Vorwürfe, die sich aus den Fragen ergeben, werden zwar bestritten, Handlungen abgeschwächt, aber letztendlich akzeptiert, da sie eine Begründungsebene haben, auf die sich Klehr zurückziehen kann, denn er hat, wie er behauptet, immer auf Befehl gehandelt. Da spielt, so erschreckend das klingt, auch die Diskussion über die Anzahl der von Klehr getöteten Häftlinge eigentlich nur eine quantitative, keine qualitative Rolle. Dazu passt, dass Klehr zwar hin und wieder emotional bis zynisch reagiert, wenn er eine Anschuldigung als zu absurd empfindet,115 aber eigentlich während des Prozesses von Naumann als „völlig ungerührt“ geschildert wird.116 Dies ändert sich, als der schon dargelegte Anklagepunkt, Klehr habe Weihnachten 1942 eigenmächtig Selektionen vorgenommen und Häftlinge in großer Zahl umgebracht, verhandelt wird. Diese Handlung fällt aus dem Befehlsbereich heraus, das semantische Gedächtnis als reines Faktengedächtnis kann 109 110 111 112 113 114 115 116

Naumann, 1968, S. 85. Naumann, 1968, S. 243 Naumann, 1968, S. 88. Naumann, 1968, S. 91. Naumann, 1968, S. 91. Vgl. Naumann, 1968, S. 91 Vgl. Naumann, 1968, S. 129. Naumann, 1968, S. 91.

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dieses Datum nicht mehr zuordnen, denn Klehr hat eine andere Erinnerung als alle Zeugen, die im Prozess zu dieser Anschuldigung befragt werden und diese vollumfänglich bestätigen. Hier geht es, folgt man der Theorie von Elizabeth Loftus, nicht nur um die Erinnerung an ein Ereignis, sondern um eine Identitätsbeschreibung, die die Erinnerung an ein Ereignis verändert, vielleicht sogar das Ereignis in der Erinnerung völlig umschreibt. Schließlich wirkt die durch die Ereignisumschreibung veränderte Identität auch auf die Erinnerung an das inzwischen schon verändert erinnerte Ereignis ein.117 Die Frage ist berechtigt, warum als Beispiele für diese Erinnerungsdiskussion mit Günter Grass und Josef Klehr zwei Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gewählt wurden. Man kann ohne Zweifel ein Phänomen wie „false memory“ und die sich aus Erinnerung und Identität wechselseitig ergebenden Veränderungen auch an niederschwelligeren Beispielen festmachen, aber gerade die Zeit des Zweiten Weltkriegs hat auf Täterseite zu einer großen Erinnerungsarbeit geführt, bei der es tatsächlich um die zwei von Loftus angesprochenen Dinge ging: um das „reinventing“ der Erinnerung, damit letztendlich um die Frage, wie man mit dem Bewusstsein seiner Handlungen umgehen soll, und um die sich daraus ergebende, damit verwobene und wechselseitig speisende „inventing“ der Identität. Die Arbeit mit Erinnerung, die Arbeit über das episodische Gedächtnis hat gezeigt, dass es bei allen Fortschritten, seien diese naturwissenschaftlicher oder geisteswissenschaftlicher Art, eine große Unsicherheit gibt, wie das episodische Gedächtnis aktiviert, aufbewahrt und abgerufen wird. Möglicherweise werden die ausstehenden Fragen in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten geklärt, der wissenschaftliche Fortschritt der vergangenen Dekaden stimmt optimistisch, aber vielleicht unterliegt vor allem auch der historisch-philosophische Blick auf Erinnerung einem grundsätzlichen Fehler, indem er von einer wichtigen strukturellen Form der Erinnerung als Blick in die Vergangenheit ausgeht. Aber die Erfahrung nach jahrzehntelanger Forschung über Erinnerung zeigt nur, dass es gewisse strukturelle Grundlagen gibt, z. B. die große Bedeu117 Man könnte sich fragen, ob all dies nicht eine gut ausgedachte Verteidigungsstrategie von Josef Klehr oder seinem Anwalt Gerhard Göllner gewesen sein könnte. Doch passt dies nicht in die Taktiken, die während des Prozesses angewandt wurde, wie z.  B. Verzögerung, Unglaubwürdigkeit der Zeugen, Herausheben der humanen Taten der Angeklagten (Capresius), Befehlsnotstand oder Erinnerungslücke. Klehr tut dies alles nicht, er ist, so ist mein Schluss aus den Akten, Tonbandaufnahmen und Filmausschnitten, überzeugt, dass seine Erinnerung richtig ist. Es gibt also keine „Taktik“ einer Verteidigung, sondern nur Klehrs Darstellung seiner Wahrheit.

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tung des Hippocampus oder der Amygdala, dass aber die eigentlichen Vorgänge und Reproduktionen nicht erklärt werden können. Die Wichtigkeit der emotionalen Bedeutung eines Ereignisses spielt bei der Aufbewahrung des Ereignisses eine zentrale Rolle, das wurde klar, erscheint angesichts der eigenen Lebenserfahrung eines jeden Menschen aber fast schon banal. Primo Levi schreibt zur Entschlüsselung des Gedächtnisses: „Die geringe Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses wird erst dann zufriedenstellend erklärt sein, wenn wir wissen, in welcher Sprache, in welchem Alphabet es geschrieben ist, auf welches Material und mit welcher Feder: auch heute ist das ein Ziel, von dem wir noch weit entfernt sind.“118 Vielleicht ist das episodische Gedächtnis überhaupt nicht dafür gedacht, die Vergangenheit so zu erinnern und uns abrufen zu lassen, wie man das gerne hätte, nämlich wie ein Computer, dessen Dateien man unbeschränkt aufrufen kann.

118 Levi, 1990, S. 19.

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11. Aktive Kulturkontinuität Endel Tulvings Definition des episodischen Gedächtnisses als spezifisch für den Menschen hat bei verschiedenen Biologen einen gewissen Widerspruch hervorgerufen. Angeregt von diesem Widerspruch wurden Untersuchungen durchgeführt, die nachzuweisen versuchten, dass auch Tiere eine Form des episodischen Gedächtnisses aufweisen. Besonders eindrücklich ist dies von Clayton et al. in ihren Versuchen mit Wühlmäusen und Eichelhähern beschrieben worden, da sie nicht mit Menschenaffen arbeiteten, sondern mit Tieren, denen auf den ersten Blick kein „menschlich-episodisches“ Gedächtnis zugetraut wird. Ergebnis der Studie war, dass auch Tiere gewisse Kriterien des episodischen Gedächtnisses erfüllen: „We suggest that several feature of episodic memory may not be unique to humans.“1 Es wird in der Studie aber auch klar, dass die Parameter für das Bestimmen des episodischen Gedächtnisses beim Menschen nicht direkt auf die Welt der Fauna übertragen werden können, weil das Kriterium der Sprache als Austausch- und Reflexionsinstrument entweder fehlt oder den Forschern nicht zugänglich ist.2 Ein etwas anderes Bild ergibt sich bei der Arbeit mit Menschenaffen.3 Frans de Waal, Professor für Primatenverhalten in Atlanta/USA, hat in seiner 2006 auf Deutsch veröffentlichten Publikation „Der Affe in uns“ seine Erfahrungen und Forschungsergebnisse mit der Erinnerung bei Menschenaffen aufgezeichnet. Zwei Beispiele sollen dies erläutern. Zunächst schildert de Waal, wie ihn im Zoo von San Diego die Bonobofrau Loretta erkennt und mit den entsprechenden Lauten begrüßt. Obwohl er das letzte Mal vor 20 Jahren in diesem Zoo geforscht hat, scheint sich Loretta sofort an ihn zu erinnern.4 Wiedererkennen ist nicht Teil des episodischen Gedächtnisses, dieses Beispiel macht aber deutlich, über welch langen Zeitraum Erinnerung bei Bonobos 1 N. S. Clayton, D. P. Griffiths, N. J. Emery und A. Dickinson: Elements of episodic-like memory in animals, in: Alan Baddely, John P. Aggleton und Martin A. Conway (Hrsg.), Episodic memory: New Directions in Research, Oxford 2002, S. 232. 2 Clayton et al., 2002, S. 245f. 3 Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas gelten in der Wissenschaft als Menschenaffen, alle anderen Affen als Tieraffen, was in der englischen Sprache klarer wird, denn „ape“ bezeichnet die Menschenaffen, während alle anderen Affen „monkeys“ genannt werden. Vgl. Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind, München, Wien 2006 (das englische Original „The Inner Ape“ erschien 2005), S. 24. 4 Vgl. de Waal, 2006, S. 27f.

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erhalten bleibt. Man könnte hier allerdings auch argumentieren, dass de Waal als Forscher schlicht einen „Lerneindruck“ bei Loretta hinterlassen hat, sie sich also eher an den Lerneindruck als an de Waal selbst erinnert. De Waal ist allerdings überzeugt, dass sich Loretta an sein Gesicht erinnern kann. Ausgehend von seiner langjährigen Erfahrung, schreibt er den Bonobos hohe Gedächtnisleistungen zu. Die Wiedererkennung ist sicher ein beeindruckendes Phänomen im Umgang mit Tieren, deutet aber noch nicht auf ein episodisches Gedächtnis hin. Anders sieht das im zweiten Beispiel aus. Wiedererkennung und die Begrüßung nach dem Wiedererkennen sind für de Waal bei Menschenaffen ein im Grunde normaler Vorgang, wobei besonders die Begrüßung nach längerer Abwesenheit zu den bekannten Ritualen gehört.5 Was de Waal allerdings überzeugte, dass auch Menschenaffen, in diesem Fall Schimpansen, eine Form des episodischen Gedächtnisses haben, war die Beobachtung, dass ein Schimpansenmädchen namens Kuif, bevor sie jeden Nachmittag aus dem Käfig geholt wurde, ihrer Mutter und dem ranghöchsten Schimpansenmännchen „Auf Wiedersehen“ sagte, wobei de Waal darauf hinweist, dass Schimpansen selbstverständlich dies nicht „sagen“, sondern durch Gesten ausdrücken, in diesem Fall war es ein Kuss. Eine Begrüßung ist, wie schon gesagt, ein oft zu beobachtender Vorgang, er erfordert „nur“ ein Wiedererkennen, eine Verabschiedung hingegen setzt die Erkenntnis des Schimpansen voraus, dass er die Mitglieder seiner Gruppe eine Weile lang nicht sehen wird, er muss also eine Vorstellung von Zukunft haben.6 Diese Form der Zukunftserkenntnis unterscheidet sich stark von den Tierarten, die im Herbst beginnen, für den Winter vorzusorgen. In diesem Fall leben die Tiere im Einklang mit dem Zyklus der Natur, der ihnen als eigener Lebenszyklus mitgegeben wurde. Die Schimpansin Kuif hingegen gewinnt eine Erkenntnis, von der man bisher angenommen hatte, sie liege außerhalb des Verstehensvermögens eines Menschenaffen.

Das absolute Gedächtnis Dieser neu entdeckte Blick eines Schimpansen, salopp formuliert, in die Zukunft aus der Erinnerung heraus führt zu einer den gesamten Bereich der Erinnerungsforschung betreffenden Frage. Erinnerung erscheint als unabdingbar wichtig für den Menschen. Warum ist sie dann so ungenau, so willkür5 Vgl. de Waal, 2006, S. 51. 6 Vgl. de Waal, 2006, S. 52.

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lich und so wenig systematisierbar? Warum können sich die Menschen nicht einfach an alles erinnern? Die belletristische Literatur bietet ein Beispiel, wie dies aussehen könnte. „Funes el memorioso“ (deutscher Titel: „Das unerbittliche Gedächtnis“) heißt eine 1942 verfasste Erzählung von Jorge Luis Borges (1899–1986), in der über einen jungen Mann namens Ireneo Funes berichtet wird, der, nachdem er durch einen Sturz vom Pferd querschnittgelähmt war, von da an über ein allumfassendes Gedächtnis verfügte. Die Hauptperson der Erzählung besucht Ireneo Funes und schreibt über dessen Gedächtnis: „Wir nehmen mit einem Blick drei Gläser auf einem Tisch wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem Rebstock gehören. Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Río Negro am Vorabend des QuebrachoGefechtes aufgewühlt hatte. Diese Erinnerungen waren indessen nicht einfältig; jedes optische Bild war verbunden mit Muskel, Wärmeempfinden usw. Er konnte alle Träume, alle Dämmerträume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede Rekonstruktion hatte einen ganzen Tag beansprucht. Er sagte mir: ‚Ich allein habe mehr Erinnerungen, als alle Menschen zusammen je gehabt haben, solange die Welt besteht.‘“7 Doch was eigentlich als Glücksfall erscheinen könnte, weil bei Ireneo Funes keine Fragen nach vergangenen Geschehnissen offen bleiben sollten, entpuppt sich als unendliche Qual für Funes. Er kann zwar alle Fragen beantworten, aber jedes einzelne Geschehen schreibt sich unwiederbringlich mit jedem Detail ins Gedächtnis ein und blockiert jedes Denken, das außerhalb der Erinnerung liegt. Funes kann nicht anders, als sich an alles erinnern. „In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.“8 Borges Erzählung treibt die Mnemo-Kunst auf die Spitze. Zwar sind immer wieder Menschen mit ungewöhnlichen Begabungen im Bereich des Gedächtnisses aufgetreten, gleichzeitig dürfen autistische Menschen mit ihren zum Teil erstaunlichen Fähigkeiten in einer bestimmten Gedächtniskunst, z. B. Kopfrechnen oder Datumstagebestimmung, nicht außer Acht gelassen werden. Aber Borges geht noch einen Schritt weiter und bestimmt hier das absolute Gedächtnis. Nichts geht verloren, alles bleibt erhalten. Doch ist die Situation 7 Jorge Luis Borges: Das unerbittliche Gedächtnis, in: ders., Fiktionen. Erzählungen, 9. Auflage, Frankfurt/Main 2004, S. 100f. 8 Borges, 2004, S. 103.

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für Ireneo Funes unerträglich, seine Erinnerungen bestimmen ihn vollkommen, sie beherrschen ihn. Und zwar nicht, weil es sich um besonders traumatische Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis handelt, die immer wieder kommen und ihn quälen, sondern weil jedes Detail bleibt, keine Erinnerung vergessen wird und immer neue hinzukommen, jeden Tag, jede Sekunde. Und Funes kann diese Details nicht nur erinnern, er kann sie physisch erspüren, kann also auch die körperlichen Empfindungen dabei nachspüren. Wäre Funes ein Zeuge in einem Gerichtsprozess oder Interviewpartner eines Oral-History-Projekts, die Interviewer hätten eine unerschöpfliche Quelle vor sich. Die Frage ist allerdings, was mit so einer Quelle anzufangen wäre. Nimmt man einmal an, Funes wäre Augenzeuge eines sich völlig überraschend abspielenden Ereignisses, stellt sich die Frage, was er überhaupt zur Rekonstruktion beitragen könnte. Als Beispiel soll die Tragödie um das deutsche Luftschiff LZ 129 „Hindenburg“ dienen, das am 6. Mai 1937 beim Versuch der Landung auf dem Landeplatz Lake Hurst/USA explodierte und in Sekundenschnelle in Flammen aufging. Dieses Ereignis wurde gefilmt und auch live im Radio übertragen, aber da, selbstverständlich, weder das Filmteam noch der amerikanische Radioreporter mit einer solchen Katastrophe zu diesem Zeitpunkt gerechnet hatten, sind beide Quellen höchst unzuverlässig. Die Kamera ist auf das explodierende und in Flammen aufgehende Luftschiff gerichtet. Erst beim Aufschlagen des Metallgerippes auf den Boden sieht man Menschen davonlaufen. Der Radioreporter ist völlig geschockt und bricht während der Reportage in Tränen aus. Was hätte ein Mensch mit einem absoluten Gedächtnis hier gesehen, gehört, erlebt, gespürt und dann wiedergegeben? Funes’ Fokus wäre auf jedes Detail gerichtet gewesen, daher hätte er über alle sich in der Luft, aber auch am Boden abspielenden Dinge berichten können. Doch hätte er überhaupt „berichten“ können? Folgt man der Erzählung von Borges und spinnt die dort geschilderte Art der Erinnerung weiter, hätte Funes jedes einzelne Detail gewusst, aber wäre er auch in der Lage gewesen, eine stringente Chronologie, ein sinnvolles Narrativ herzustellen? Wahrscheinlich nicht, nimmt man als Beispiel, was er schon beim oben angeführten Betrachten dreier Gläser auf einem Tisch sieht und erinnert. Das absolute Gedächtnis wäre also nicht nur für den „Besitzer“ eine Qual, es würde auch die Arbeit der Historiografie vollkommen unmöglich machen. Funes kann in seinem Erinnern nicht zwischen wichtiger und unwichtiger Information unterscheiden, der Sonnenaufgang vom 30. April 1882 hätte damit möglicherweise die gleiche Wertigkeit wie der brennende Zeppelin. Das absolute Gedächtnis erinnert stark an die Folgen der bereits beschriebenen Urbach-Wiethe-Krankheit. Die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem

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zu trennen, scheint in der Fülle der alle als gleich bedeutend eingestuften Erinnerungen verloren zu gehen. Aber nicht nur das, auch scheint ein absolutes Gedächtnis die Fähigkeit der verallgemeinernden Abstraktion nicht zu besitzen: „Nicht nur machte es ihm Mühe zu verstehen, daß der Allgemeinbegriff Hund [kursiv i. O.] so viele Geschöpfe verschiedener Größe und verschiedener Gestalt umfassen soll; es störte ihn auch, daß der Hund von 3 Uhr 14 (im Profil gesehen) denselben Namen führen sollte wie der Hund von 3 Uhr 15 (gesehen von vorn). Sein eigenes Gesicht im Spiegel. Seine eigenen Hände überraschten ihn immer wieder.“9 Stellt man sich vor, man hätte einige Zeitzeugen eines Ereignisses, die über das absolute Gedächtnis verfügten, und versuchte daraus ein Narrativ zu konstruieren, wird klar, dass es zunächst aus rein historiografischen Gründen wenig Sinn macht, wenn Menschen über ein absolutes Gedächtnis verfügten. Allerdings erweist sich das absolute Gedächtnis nur im Vergleich mit dem, was der Mensch als Gedächtnisvermögen hat und was ich das relative Gedächtnis nennen möchte, als Problem. Würde tatsächlich jeder Mensch über das absolute Gedächtnis verfügen, wäre auch die wahrgenommene Erscheinungsform der Erinnerung eine andere. Erst die komparatistische Differenz kreiert das Problem. Aber was wäre, wenn es dieses absolute Gedächtnis doch gäbe? Was Borges in seiner Kurzgeschichte erzählte, erhielt 2006 einen Realitätsbezug. Einer der führenden Gedächtnisforscher der USA, der an der Universität Kalifornien, Irvine, lehrende James L. McGaugh, veröffentlichte in diesem Jahr in der Zeitschrift „Neurocase“ einen Artikel, in dem er den Fall einer 34jährigen Frau („AJ“) beschrieb, die sich seit ihrem elften Lebensjahr bei jedem Datum daran erinnert, was sie dort gemacht hat und welcher Wochentag es war.10 Doch diese Erinnerung ist nicht ein häufig Formen des Autismus begleitendes Phänomen, sie ist nicht antrainiert oder wird durch beständiges Studium vertieft, im Gegenteil, die Erinnerung kommt „nonstop, uncontrollable, and automatic.“11 McGaugh war zunächst sehr skeptisch, erwartete einen der ihm schon bekannten Fälle einer speziellen Mnemotechnik, musste aber nach den Untersuchungsreihen erkennen, dass er auf ein bisher nirgends beschriebenes Phänomen gestoßen war, dem er den Namen „hyperthymestic 9 Borges, 2004, S. 102. 10 Vgl. Elizabeth Parker, Larry Cahill und James L. McGaugh: A Case of Unusual Autobiographical Remembering, in: Neurocase, 2006, 12, S. 35–49. Der Fall wurde vor Kurzem auch im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ beschrieben, vgl. Spiegel, Nr. 47/2008, S. 158–160, in dem auch die wahre Realität von AJ enthüllt wurde. Vgl. Jill Price and Bart Davis: The Woman who can’t forget, New York 2009. 11 Parker/Cahill/McGaugh, 2006, S. 35.

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syndrome“12 gab. Dieses äußerst faszinierende Phänomen lässt Borges Helden zwar in den Hintergrund treten, die Realität überholt die Fiktion, aber beide, Funes wie AJ, haben das gleiche Problem. AJ schrieb über ihre Erinnerung: „My first memories are of being a toddler in the crib […] Whenever I see a date flash on the television (or anywhere else for that matter) I automatically go back to that day and remember where I was, what I was doing, what day it felt on and on and on and on and on. It is non-stop, uncontrollable and totally exhausting. Most have called it a gift but I call it a burden. I run my entire life through my head every day and it drives me crazy!!!“13

Gedächtnis als Zukunftsplaner? Die Unzweckmässigkeit – fast müsste man sagen das Handicap – eines absoluten Gedächtnisses führt die Argumentation wieder zum Anfang des Kapitels und den Forschungsergebnissen Frans de Waals zurück. Möglicherweise ist das Gedächtnis, ist die Erinnerung nicht alleine dafür gedacht, minutiös und detailliert vergangene Ereignisse zu rekapitulieren. Aber für was wäre dieser doch nach all dem Gesagten sehr komplexe Erinnerungs- und Gedächtnisvorgang dann konzipiert? Die Antwort auf diese Frage liefern der Blick auf die Rolle des Hippocampus beim Aufrufen des episodischen Gedächtnisses und die Erforschung der Amnesie. Ausgehend von der ganz generellen Annahme, dass sich Menschen bewusst Erlebnisse aus der Vergangenheit wieder ins Gedächtnis rufen und sich zukünftige Ereignisse vorstellen können, analysierten Donna R. Addis, Alana T. Wong und Daniel L. Schacter in einer Harvard-Studie14 mittels MRI-Scanning die Gehirnregionen, in denen diese beiden Dinge ablaufen könnten. Sie fanden heraus, dass sich die Regionen im Hippocampus, in denen sich das Aufrufen der Vergangenheit und das Vorstellen der Zukunft abspielen, extrem überschneiden, „striking neural overlap“15. Die bisher stillschweigend vorausgesetzte neurologische klare Trennung zwischen „Erinnerung“ und „Vorstellung“ ist damit nicht mehr haltbar. Dies wird auch aus zwei weiteren Studien deutlich, die den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Vorstellung noch stärker herausstreichen. In 12 Parker/Cahill/McGaugh, S. 35. 13 AJ an McGaugh, zitiert in: Parker/Cahill/McGaugh, 2006, S. 35. 14 Donna R. Addis, Alana T. Wong und Daniel L. Schacter: Remembering the past and imagining the future: Common and distinct neural substrates during event construction and elaboration, in: Neuropsychologia, 45, 2007, S. 1363–1377. 15 Addis/Wong/Schacter, 2007, S. 1363.

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einer 2002 veröffentlichen Studie wurde ein Amnesiepatient beschrieben, der Schwierigkeiten hatte, nicht nur Ereignisse aus seiner persönlichen Vergangenheit zu erinnern, er konnte sich auch keine Vorstellung über seine persönliche Zukunft machen. Allerdings war er in der Lage, Zukunftsvorstellungen, die nicht mit dem episodischen Gedächtnis verknüpft waren, zu äußern, so zu Entwicklungen in der Politik.16 Eine 2007 erschienene Studie geht noch einen Schritt weiter. Demis Hassabis, Dharshan Kumaran, Seralynne D. Vann und Eleanor A. Maguire stellten sich in ihrer Forschungsarbeit die Frage, warum Amnesieerkrankungen bisher nur als Schädigungen des Erinnerungsvermögens klassifiziert und untersucht wurden.17 Das Ergebnis ihrer Studie bestätigt die vorgängigen Untersuchungen, auch wenn die Frage nach dem verunmöglichten Blick in die Zukunft in den vorherigen Untersuchungen so nicht gestellt wurde. Patienten, die an einer hippocampalen Amnesie leiden, sind nicht in der Lage, Ereignisse aus dem episodischen Gedächtnis zu erinnern, sie sind aber auch nicht in der Lage, sich ein Ereignis aus der Zukunft, das sie selbst betrifft, vorzustellen. Die Neurowissenschaft zieht aus dieser Erkenntnis klare Schlüsse: „If the hippocampus does turn out to be as important for imaginations as it is for memory, that could have interesting implications for aging“, sagt Donna Addis.18 Diese Frage stellt sich für Geisteswissenschaftler in diesem Maße nicht. Für die Erinnerungsforschung und die vorliegende Arbeit lässt sich aus den Ergebnissen dieser Studien – und es werden gemäß Donna Addis weitere Untersuchungen dazukommen – die Schlussfolgerung ziehen, dass die Erinnerung, dass das Gedächtnis nicht einfach ein vergangenheitsorientiertes Spielzeug des Gehirns ist, mit dem sich Episoden aus der Vergangenheit erinnern und erzählen lassen, sondern dass die Erinnerung ein ganz wesentliches Mittel für die Vorstellung über die Zukunft ist. Der Mensch wäre also nicht durch die Zeitreisen in die Vergangenheit gekennzeichnet, sondern durch seine Vorstellungskraft über die Zukunft. Und diese Vorstellungskraft scheint von größerer Bedeutung für das Überleben in 16 Vgl. S. B. Klein und J. Loftus: Memory and temporal experience: The effects of episodic memory loss on an amnesic patient’s ability to remember the past and imagine the future, in: Social Cognition, 20, S. 353-379, zitiert in: Addis/Wong/ Schacter, 2007, S. 1363f. 17 Demis Hassabis, Dharshan Kumaran, Seralynne D. Vann und Eleanor A. Maguire: Patients with hippocampal amnesia cannot imagine new experiences, in: Proceedings of the national Academy of Sciences, 104 (5), 30.1.2007, S. 1726–1731. 18 Addis zitiert in: Greg Miller: A Surprising Connection Between Memory and Imagination, in: Science, 315, 19.1.2007, S. 312.

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der Zukunft zu sein als die reine Erinnerung. Das geisteswissenschaftliche Denkmodell würde daher lauten, dass der Mensch zwar Erfahrungen in der Vergangenheit macht, diese aber vor allem dazu braucht, sich die Zukunft vorzustellen. In einem Artikel in „Science“ offenbart die am Weizmann Institut in Rechovot, Israel, arbeitende Neurowissenschaftlerin Yadin Dudai, dass das Stellen der „umgekehrten Frage“ auf Endel Tulving zurückgeht, der eine alte Idee wieder aufgenommen habe: „In prescientific times, many people thought that the role of memory ist not neccessarily to remember the past but to enable you to imagine the future.“19 Alain Berthoz, Professor für „Physiologie de la perception et de l’action“ am Collège de France, bringt es wie folgt auf den Punkt: „The purpose of memory is not to let us recall the past, but to let us anticipate the future. Memory is a tool for prediction.“20 Die Wichtigkeit der Erinnerung als Basis für die Vorstellung der Zukunft erweitert die von Endel Tulving als für den Menschen so spezifisch genannte Fähigkeit zu einer Zeitreise in die Vergangenheit um eine Achse, nämlich die in die Zukunft. Und sie macht diese Achse stärker, d. h. wichtiger für den Menschen. Damit wäre evolutionstechnisch die Frage geklärt, warum die Erinnerung ein so schwierig zu fassendes Phänomen ist, warum sie häufig so unkonkret daherkommt, warum die Erinnerung der Menschen sich so massiv unterscheidet, auch wenn sie demselben Ereignis beiwohnten, und warum es nicht möglich erscheint, die Erinnerungen absolut zu fassen – es ist für den Menschen schlicht nicht notwendig. Der Mensch braucht seine Erinnerung, weil sie Träger der Erfahrung ist, die ihm helfen wird, sich die Zukunft vorzustellen, d. h. die Zukunft zu gestalten, in der Gegenwart zu leben und zukunftsgerichtet zu handeln. Niemand kauft am Donnerstagabend für den vorherigen Tag ein. Die Zeit läuft nur in eine Richtung, aber die Vorstellung kann sie überholen, muss sie sogar überholen, weil das reine Leben im Moment für niemand möglich wäre. Ein Mensch, der nur im Moment lebt, würde unweigerlich verhungern, denn er könnte nie den aufkommenden Hunger bekämpfen, da das Besorgen der Nahrung ein Vorgang ist, der visionär gedacht werden muss. Wenn der Mensch Hunger verspürt und er nicht sofort, in der nächsten Sekunde, eine Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung hat, muss er losgehen und z. B. einkaufen, was wiederum Planung erfordert. Lebt der Mensch nur im Augenblick, kann er das nicht. Ist es ihm aber möglich, aus seiner vergan19 Dudai, zitiert in: Miller, 2007, S. 312. 20 Berthoz, zitiert in: The Brain from Top to Bottom, http://thebrain.mcgill.ca/flash/ a/a_07/a_07_p/a_07_p_tra/a_07_p_tra.html.

Kultur  |

genen Erfahrung (das Gefühl des Hungers lässt sich befriedigen, dafür benötige ich aber Nahrung, die ich mir besorgen muss) in die Zukunft zu schauen und lösungsorientiert zu handeln, kann er überleben. Allerdings wirken die Erfahrungen nicht als Zwangsjacke, und sie visionieren immer Handlungen, die bereits in der Vergangenheit funktioniert haben, denn sonst wäre kein Fortschritt in den lösungsorientierten Handlungen möglich. Aber die Erfahrungen bilden eine Basis, auf die sich bauen lässt. Ein Mensch ohne jedes Bewusstsein um seine Erfahrungen kann sich daher nur in einem erneuten Lernprozess Erfahrungen und damit eine Ausgangsbasis schaffen. Was bedeutet dies aber für die Historiografie, für die Arbeit mit historischen Quellen, für die Arbeit mit Zeitzeugen? Muss ein neues Konzept erstellt werden, weil die alten Erinnerungskonzepte die Lebenswelt der Individuen, die Erinnerungswelt der Individuen nicht mehr wiedergeben? Und muss damit nicht auch die historiografische Arbeit neu betrachtet werden? Ist die Suche nach der perfekten Erinnerung genauso falsch bzw. unmöglich wie die Suche nach dem Ranke’schen „wie es gewesen“? Aber vielleicht ist dies neben dem immer wichtiger werdenden Blick auf die Lebenswelt des Individuums, weil nur so der Einzelne in Motiv und Handlung verstanden werden kann, auch die Rückkehr zum Master-Narrativ, das aber keinen Anspruch auf Alleingültigkeit erheben kann, sondern den Versuch unternimmt, zu ordnen, ordnend zu verstehen und ordnend zu erklären? Um diese Fragen beantworten zu können, werden im Folgenden mit einem veränderten Blick die Gedächtnis- und Erinnerungstheorie, Gedächtnis- und Erinnerungskultur analysiert. Die hierfür zu entwickelnde Theorie nenne ich „Aktive Kulturkontinuität“. Die bisher in der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung vorgeschlagenen Theorien nenne ich hingegen „Passive Kulturkontinuität“, wobei im Laufe der Darlegung deutlich werden wird, dass eine Passive Kulturkontinuität ein Widerspruch in sich ist und daher nicht existiert.

Kultur Um sich dem Konzept der Aktiven Kulturkontinuität zu nähern, bedarf es zunächst der Erläuterung, wie „Kultur“, „Kontinuität“ und „aktiv“ für sich allein genommen zu verstehen sind. Beginnt man mit der Suche nach einer Definition von Kultur, wird schnell deutlich, dass dies ein schwieriges Unterfangen ist. Die Ausdeutungen sind Legion, gleichzeitig erhöhen die Differenzierungen nicht die Klarheit, sondern scheinen eher zu versuchen, in größtmöglicher Spezifizierung jeden Einzelfall zu subsumieren. Es ist hier nicht der Ort, um die

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Gesamtheit der Deutungen und damit auch die unterschiedlichen Deutungen von Kultur anzusprechen, obwohl dies wichtige Hinweise auf die Entwicklung der Beschäftigung mit der Kultur und auch auf die Entwicklung der Kulturwissenschaft oder auch der Kulturwissenschaften geben könnte, die heute, auch wenn sie kein Produkt der jüngsten Zeit sind, einen wichtigen Teil im Diskurs über Gesellschaft und die akademische Beschäftigung mit Gesellschaften ausmachen.21 Für die Arbeit an der Aktiven Kulturkontinuität ist es aber wichtig, einen Begriff von Kultur zu haben, der in der weiteren Untersuchung eingesetzt werden kann, ohne dass es zu Missverständnissen kommt. Hilfreich hierbei sind die Wortgeschichte und, in leicht abgewandelter Form, die Kulturtheorien Sigmund Freuds sowie der Begriff „Kultur“ bei Clifford Geertz. Die etymologische Herleitung des Wortes aus dem lateinischen „cultura“ (Bearbeitung, Anbau, Veredelung), abgeleitet von „colere“ (bebauen, bearbeiten), macht deutlich, dass sich das Wort ganz allgemein auf eine künstlich, d. h. durch Arbeit zu erreichende Verbesserung eines Zustandes bezieht. Ende des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff auf zwei Phänomene angewandt, nämlich auf die Landwirtschaft und auf die „Pflege“ z. B. „einer Sprache, einer Wissenschaft“.22 Die heute noch Verwendung findenden Bezeichnungen „Kultivierung“ oder auch „Kulturland“ zeigen von dem Herkommen, das im allgemeinen Sprachverständnis stark landwirtschaftlich geprägt ist. Interessanterweise kann „cultura“ auch mit Anbetung, Verehrung übersetzt werden, woraus sich die Bezeichnung „Kultus“ als Terminus technicus innerhalb der Religionen erklärt. Sigmund Freud, der „Erfinder“ der Psychoanalyse, hat sich zeit seines Lebens nicht nur um die Entwicklung der psychoanalytischen Methode zur Behandlung des Individuums gekümmert, er hat sich auch immer wieder in aktuelle Debatten eingemischt, so z. B. in den Schriften „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915) oder „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), und aus seinen eigenen kulturtheoretischen Ansichten heraus argumentiert. In seiner 1929 erschienenen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ hat er sich expli21 Eine sehr gute Darstellung der Entwicklung des Kulturbegriffs findet sich bei Lina Hammel: Der Kulturbegriff im wissenschaftlichen Diskurs und seine Bedeutung für die Musikpädagogik, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 2007, elektronischer Artikel, home.arcor.de/zfkm/07-hammel1pdf (Zugriff 18.12.2009). Einen umfassenden Überblick über den Kulturbegriff und die Kulturwissenschaft findet sich bei Hartmut Böhme: Was ist Kulturwissenschaft? 2001, www.culturehu-berlin.de/lehre/kulturwissenschaft.pdf (Zugriff 28.9.2008) 22 Artikel „Kultur“, in: Konrad Fuchs und Heribert Raab: Wörterbuch zur Geschichte, 4. Auflage, München 1980, S. 464.

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zit mit der Frage beschäftigt, was Kultur ausmache und warum sich darin ein Unbehagen einstelle. Freuds Argumentation, dass sich der Trieb des Individuums und die Triebeinschränkung fordernde Gesellschaft in einem Machtkampf gegenüberstünden, und die daraus entwickelte These im Text von der Existenz eines Über-Ich auch in der Gesellschaft führten schließlich zur Entwicklung eines sehr speziellen Zweigs der Psychoanalyse, zur Psychohistorie. Freud selbst hatte dies noch etwas skeptisch betrachtet,23 seine Nachfolger, die auch im Bereich der Historiografie geschult waren und dort nach den Hintergründen einer Handlung fragten, übernahmen diese Idee und führten sie als eigenständiges Denkmodell auch in die Geschichtswissenschaft ein. Als Pionier ist hier Erik Erikson zu nennen, daneben aber auch Lloyd deMause, Peter Loewenberg und Robert Jay Lifton.24 Während Freud mit dem Schritt zurückhaltend ist, die Psychoanalyse nicht nur auf Individuen, sondern auch auf eine Gesellschaft in corpore anzuwenden, obwohl nur dies die Schlussfolgerung aus seinem Text sein kann, ist er sehr viel deutlicher in der Analyse, was er unter Kultur versteht, nämlich „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“25 Damit ist klar, dass man aus dem Ursprung des Wortes, der Verarbeitung, Veredelung, und der Freud’schen Definition ableiten kann, dass alles, was der Mensch erschafft, zur Kultur gehört. Die Abgrenzung, die die Römer noch zu den Barbaren zogen, die als unkultiviert galten, fällt damit ebenso weg wie der Versuch im deutschsprachigen Raum, zwischen Kultur und Zivilisation zu unterscheiden, was Freund in „Die Zukunft einer Illusion“ bereits ablehnte.26 Der Begriff der Kultur wird damit zwar ein sehr weiter, aber auch einer, der klar auf Handlungen und Einflussnahmen des Menschen 23 Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930 (die Schrift wurde allerdings schon Ende 1929 veröffentlicht), in: ders., Studienausgabe, Band IX, Frankfurt/Main 1982, S. 269. 24 Aus der reichhaltigen Literatur seien nur drei exemplarische Titel genannt: Erik Erikson: Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History, New York 1958, Benjamin B. Wolman (Hrsg.): The Psychoanalytic Interpretation of History, New York 1971 und Peter Gay: Freud for Historians, Oxford 1985. 25 Freud (1930), 1982, S. 220. Zwar hat Freud auch in „Die Zukunft einer Illusion“ die Kultur definiert, und diese Definition unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Definition im genannten Zitat, aber im „Unbehagen“ definiert er dies sehr viel prägnanter. 26 Vgl. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, 1927, in: ders., Studienausgabe, Band IX, Frankfurt/Main 1982, S. 140.

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fokussiert ist. So ist eine Sturmflut keine Kultur, sondern Natur, der Deich, der davor schützen soll, ist Kultur. Regen ist keine Kultur, sehr wohl aber das Dach, das den Menschen vor dem Regen schützen soll. 1973 hat sich der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz (1926– 2006) grundlegend Gedanken zur Arbeitsweise und Definition seines Faches gemacht und als Basis seinen 1972 erschienenen Essay über die Beobachtung eines Hahnenkampfes in Bali genommen.27 Geertz nannte seine daraus entwickelte Methode „Dichte Beschreibung“ (Thick Description). Im 1973 veröffentlichten Aufsatz „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“28 definiert er seinen Kulturbegriff ausgehend von Max Webers Begriff des „Sinnzusammenhangs“29 wie folgt: „Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.“30 Es mag etwas erstaunen, dass für eine allgemeine Definition des Kulturbegriffs auf zwei in Zeit und Ansicht sehr unterschiedliche Autoren zurückgegriffen wird. Doch die Synthese dieser beiden Definitionen liefert einen für die vorliegende Untersuchung geeigneten Ansatz. Kultur ist demnach zunächst alles, was der Mensch vollbringt und was nicht die Natur schafft. Darunter verstehe ich gedankliche Leistungen, Normen, Werte sowie Handlungen und daraus resultierendes Werk, wobei dieses Werk prozesshaft immer weiterentwickelt wird. Dazu ist Kultur das Netzwerk menschlichen Seins, in dem sich jeder Mensch befindet und an dem er selbst allein schon durch sein Dasein Anteil hat, was er aber auch selbst permanent weiter ausbaut. Um eine im vorherigen Kapitel zitierte Definition aus der Hirnforschung umzuwandeln: Der Mensch kann nicht nicht an diesem Netzwerk arbeiten.

Kontinuität Damit kann nun der zweite Begriff eingeführt und definiert werden. Es handelt sich um den Begriff der Kontinuität. Zunächst meint Kontinuität eine 27 Clifford Geertz: Deep Play. Notes on the Balinese Cockfight, in: Daedalus – Journal of the American Academy of Arts and Sciences, 1001 (1), 1972. 28 Das englische Original erschien unter dem Titel: Thick description. Toward an Interpretive Theory of Culture. 29 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976 S. 2. 30 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 9.

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Form der Stetigkeit, beschreibt ein Fortschreiten, etwas Zusammenhängendes, ein Fortsetzen, eine Permanenz. Der Begriff des Kontinuierlichen hat aber etwas sehr Starres, Konservatives, etwas, das sich scheinbar ungerührt immer weiter bewegt, ungeachtet der Ereignisse. Im Historismus spielte das Denkmodell der Kontinuität eine wichtige Rolle, es besagte allerdings nicht, dass sich Geschichte kontinuierlich entwickle, sondern dass die Entwicklung der Geschichte, wie sie sich darstellte, sinnvoll sei.31 Dass die Historiker des Historismus, Leopold von Ranke eingeschlossen und federführend, überzeugt waren, das bürgerliche Zeitalter sei der Höhepunkt der Kulturentwicklung, passt nicht in ihr eigenes Bild, aber es zeigt die Schwierigkeit, ein Kontinuum nicht als aus der Vergangenheit in die Gegenwart, sondern auch aus der Gegenwart in die Zukunft reichend zu denken. Francis Fukuyamas 1992 erschienenes Buch „The End of History“32 ist ein beredtes Beispiel dafür. Der amerikanische Philosoph argumentierte in bester Hegel’scher Manier, dass sich aus Liberalismus und Totalitarismus eine Synthese ergebe, nämlich die liberale Demokratie, womit die geschichtliche Entwicklung eigentlich zu einem Ende gekommen wäre. Aber wenn die Geschichte zu einem Ende kommt, was kommt dann? Bei Fukuyama kam ein nächstes Buch. Kontinuität als sinnstiftendes Argument war z. B. Walter Benjamin sehr suspekt, er sah es als den revolutionären Klassen genuin an, dass sie das „Kontinuum der Geschichte“33 aufsprengen wollten. Damit ist klar, dass es für Benjamin ein Kontinuum gab, dieses aber Teil der herrschenden Klasse sei. Eine Revolution musste also das Kontinuum zerstören, um sich selbst die Herrschaft zu sichern. Kontinuität als reiner Herrschaftsdiskurs? Kontinuität in der Aktiven Kulturkontinuität nimmt auf etwas andere Wurzeln des Kontinuitätsbegriffs Bezug, die aber ebenfalls aus der Geschichtswissenschaft stammen. Es geht um das Fortsetzen einer Entwicklung, die aber nicht als Sinn, Herrschafts- oder gar Endzeitdiskurs geführt wurde, sondern die eine Weiterführung meinte, die eher dem Utilitarismus verschrieben war als der HistorismusDebatte. Zwei Beispiele, die das Konzept der Kontinuität bewusst einsetzen, mögen dies erläutern.

31 Vgl. Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, Göttingen1993, S. 19. 32 Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, London 1992. 33 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 2005, S. 151.

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Das erste Beispiel stammt aus einem Aufsatz von Alfons Dopsch, den er im Jahr 1926 veröffentlich hat.34 Hierin widmet sich Dopsch der Frage des Übergangs vom Altertum in das Mittelalter, ein Thema, dem er einen großen Teil seiner Forschungsanstrengungen widmete. Er kämpfte vor allem gegen die damals landläufige Auffassung in der Mediävistik, zwischen Altertum und Mittelalter habe es eine strenge Zäsur gegeben. Worauf Dopsch in seinem Aufsatz hinaus wollte, machte er schon mit dem Titel deutlich: „Vom Altertum zum Mittelalter. Das Kontinuitätsproblem“.35 Dopschs geschichtswissenschaftliche Argumente gegen eine Zäsur können für die vorliegende Untersuchung in den Hintergrund treten, obwohl man nicht verhehlen kann, dass sein progressiver interdisziplinärer Ansatz, wissenschaftlich exakt formuliert und quellentechnisch breit abgestützt, noch immer sehr überzeugend wirkt. An dieser Stelle interessiert mehr das konzeptionelle Denken von Dopsch in der Frage, wie er Kontinuität definierte, denn dies musste er tun, sonst hätte er seine eigene These nicht belegen können. Dopsch argumentiert in seinem Aufsatz dahingehend, dass von einem klaren Bruch, also im modernen Sprachgebrauch von einer „Stunde Null“, nicht die Rede sein kann. Kontinuität bildet sich im Übergang vom Altertum zum Mittelalter durch ein Ineinandergreifen der „alten“ römischen Vorstellungen und der „modernen“ germanischen Vorstellungen. Diese Vorstellungen waren aber nicht so weit voneinander entfernt, wie es den Anschein hatte, zumal Dopsch darauf hinwies, quellenkritisch zu schauen, wer diese Thesen in die Welt gesetzt habe, d. h. ein Interesse daran gehabt haben könnte, die Antike von einer Barbarenhorde überrollt zu sehen.36 Anhand der vormals römischen Landgüter zeigt er, dass diese eben nicht zerstört, sondern von den germanischen Fürsten übernommen und weitergeführt wurden.37 Für Dopsch ist aber 34 Dopsch, 1868 in Lobositz (Böhmen) geboren, 1953 in Wien gestorben, hatte in Wien Geschichte studiert, über ein neuzeitliches lokalgeschichtliches Thema promoviert, sein Hauptarbeitsgebiet aber auf das Frühmittelalter gelegt. Von 1900 bis 1937 war er als ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Wien tätig. Neben seinen mediävistischen Forschungen erwarb er sich einen exzellenten Ruf als Diplomatiker; er war bereits seit 1892 Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, spezialisierte sich dabei auf die Karolinger-Diplome. Vgl. www. wien.gv.at/ma53/45jahre/1953/0553.htm (Zugriff am 30.9.2008). 35 Alfons Dopsch: Vom Altertum zum Mittelalter. Das Kontinuitätsproblem, in: Archiv für Kulturgeschichte, 16, 1926, S.  159–182 (u.  a. wieder abgedruckt in: Paul Egon Hübinger: Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, Darmstadt 1968, S. 78–103). 36 Vgl. Dopsch, 1926, S. 161. 37 Vgl. Dopsch, 1926, S. 163.

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auch klar, dass Kontinuität nicht meint, das Alte, also die Römerstädte und die römischen Vorstellungswelten in Kultur in Gesellschaft, würde weiter existieren, Kontinuität ist vielmehr dann gegeben, wenn sich das Neue und das heißt hier die Germanen diese Siedlungsplätze zunutze machen, z. B. neben diesen alten Plätzen ihre eigenen errichten und die vorher geleistete „Kulturarbeit fortführten“.38 Kontinuität wird bei Dopsch zu einer Fortführung bestimmter Traditionen, wobei er sich einer Wertung strikt enthält. Die Fortführung meint bei Dopsch nicht, es wäre von den Germanen das Nützlichste und Beste des Römischen Reichs und der römischen Kultur übernommen worden. Er sieht nicht eine progressive Entwicklung im Sinne einer spiralförmigen steten Verbesserung. Kontinuität entspricht also nicht den Vorgaben des klassischen Historismus oder bestimmten Vorstellungen heute wie denjenigen von Francis Fukuyama. Das zweite Beispiel für eine Definition der Kontinuität befasst sich mit der deutschen Geschichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Alff39 veröffentlichte 1976 eine Sammlung seiner Aufsätze mit dem Titel „Materialien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte“.40 Für Alff war die Ernennung Otto von Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 der Beginn des „Sündenfalls“ in Deutschland, weil sich damit die preußische Tradition durchzusetzen begonnen habe, was in der Entfesselung zweier Weltkriege kulminiert, in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland aber nicht aufgearbeitet worden sei. Alffs Aufsätze sind heute selbst eine Quelle der Auseinandersetzung um Geschichtsinterpretation und Geschichtsschreibung, daher immer noch sehr lesenswert. Im Anschluss an Dopsch stellt sich aber weniger die Frage nach seiner Interpretation der Geschichte als vielmehr danach, wie Alff den Begriff der Kontinuität definiert. Alff, der seine Nähe zur Frankfurter Schule, zur marxistischen Geschichtsinterpretation nicht leugnen kann, sieht Kontinuität nicht als etwas Naturgegebenes an, etwas, das in undefinierbarer Zeit begann und unendlich wei-

38 Dopsch, 1926, S. 170. 39 Wilhelm Alff, 1913 geboren, 1992 gestorben, war von 1962 bis 1968 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München und anschließend Professor an der Universität Bremen. 40 Wilhelm Alff: Materialien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, Frankfurt/Main 1976. Das Thema „Kontinuitätsproblem“ hat Alff auch nach dieser Veröffentlichung weiter verfolgt. Von 1984 bis 1986 gar er im Peter Lang Verlag Frankfurt die vierbändigen „Studien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte“ heraus.

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terlaufen muss. „Kontinuitäten sind sterblich“,41 schreibt er, womit er einen Beginn und auch ein Ende intendiert, gleichzeitig auch verschiedene Kontinuitäten zulässt, denn er setzt Kontinuität in den Plural. Der Begriff des „Nationalcharakters“ spielt für Alff eine wichtige Rolle, der zusammen mit „historischen Kontinuitäten“42 wirkmächtig wird. Sucht man allerdings die Parameter der Kontinuität, schlägt Alff vor, am Ende bzw. bei einem Ergebnis dieser als Kontinuität erkannten Entwicklung zu bleiben, worunter er in seiner These den „gescheiterte[n] Versuch eines deutschen Nationalstaats“43 versteht. Von diesem Ergebnis geht er zurück und sucht Anzeichen für eine Kontinuität und auch für den Beginn dieser Kontinuität. Er hat bereits Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten als Beginn genannt und spricht von einer Veränderung im Nationalcharakter seit der Gründung des „kleindeutschen Reiches“ 1871: „Man erkennt dies nicht zuletzt aus Bismarcks wütender Kritik an den deutschen Truppen, die damals noch die Tötung von Zivilisten und Gefangenen und die Brandschatzung rebellischer Dörfer verweigerten. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs jedoch, als von Verrohung der Truppe noch nicht die Rede sein konnte, haben die deutschen Invasoren in Belgien sich unglaublicher Ausschreitungen schuldig gemacht.“44 Wie kann es aber dazu kommen, dass sich innerhalb von knapp über 40 Jahren ein „Nationalcharakter“, um es einmal auf die von Alff auch genannte Metaebene zu heben, derart ändert? Zunächst sieht Alff das Vorhandensein eines Nationalcharakters als gegeben an, was im weiteren Verlauf des vorliegenden Kapitels noch einmal aufgegriffen wird. Kontinuität betrachtet er dann als einen höchst aktiven Prozess an, einen Prozess, der gesteuert, geleitet und zielgerichtet geführt wird. Etwas antiquiert mutet seine Benennung derjenigen an, die dies vornehmen, „die herrschenden Klassen“45, klarer ist aber die Methode, die Alff anführt. Es fand ein „Erziehungsprozess“46 statt, wobei dieser nicht für sich alleine stehen kann, denn Erziehung kann auch scheitern. Daher geht er noch einen Schritt weiter und nennt all das, dem die „deutsche Bevölkerung“ seit der Schlacht von Sedan „ausgesetzt“ war, einen „Verinnerlichungsprozess“.47 41 Alff, 1976, S. 9. 42 Beide Zitate: Alff, 1976, S. 10. 43 Alff, 1976, S. 10. 44 Alff, 1976, S. 16. 45 Alff, 1976, S. 7. 46 Alff, 1976, S. 16. 47 Alle Zitate Alff, 1976, S. 20. Die für das deutsche Heer siegreiche Schlacht bei Sedan am 1.9.1870 war der Wendepunkt im Deutsch-Französischen Krieg.

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Kontinuität ist für Wilhelm Alff weniger eine nachträgliche teleologische Konstruktion, wie sie dem klassischen Historismus eigen ist, sondern das Offenlegen von Entwicklungen, die nötig sind, um einen bestimmten Geschichtsabschnitt zu verstehen, die aber nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind oder auch ganz bewusst verfälscht werden. Alffs Theorie klingt sehr stark nach Verschwörungstheorien, doch wird bei der Lektüre seiner „Materialien“ deutlich, dass es weniger um die Verschwörung einiger weniger Mächtiger geht, was gegen seine „herrschenden Klassen“ als Verantwortliche spricht, sondern um das Weiterführen der Kontinuität ganz unabhängig von Verschwörungstheorien. Dies passiert durch Einzelpersonen, auch Historiker, die in der Nachfolge dieser Kontinuität stehen. Sie führen diese fort, ohne dafür ein Verschwörungsbewusstsein zu haben, sind sich der Kontinuität aber nicht bewusst.48 Dieses Verstehen von Kontinuität eines Nationalcharakters erinnert zwar an die Vorstellungen eines „kollektiven“ und „kulturellen Gedächtnisses“, stammt aber aus einer von diesen Vorstellungen sehr zu unterscheidenden Interpretationstradition und ist daher nicht mit den vorgenannten zu verwechseln. Auch wenn es Alff nicht direkt ausspricht, ist sein System einer Kontinuität stark an Sigmund Freuds Modell eines gesellschaftlichen Über-Ich angelehnt. Freund hatte diese Vorstellung in seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ ausgeführt. Ausgehend von dem Vorhandensein eines individuellen Über-Ich, das der verinnerlichten Autorität entspricht und bei Handlungen gegen diese Autorität Schuldgefühle auslöst, hat Freud in dieser Spätschrift eine Parallele zwischen der Entwicklung des Individuums und der Menschheit als Ganzes gezogen und festgestellt, dass auch eine Gemeinschaft ein ÜberIch entwickle, das erheblichen Einfluss auf die Kulturentwicklung nehme.49 Allerdings gibt es einen Punkt in Alffs Beschreibung einer Kontinuität, die nicht hineinpasst, nämlich das unbewusste Weitertragen dieser Kontinuität, da sie nicht erkannt wird oder nicht erkannt werden könnte. Gerade an den Beispielen der Historiker Hillgruber und Geiss festgemacht, passt dies nicht – fast muss man sagen: im Gegenteil, denn diese tragen nicht unbewusst etwas weiter, sondern diese Kontinuität, und dies betrifft nicht nur die Historikerzunft, wird aktiv weitergegeben.

48 Vgl. hierzu die Artikel über die Historiker Imanuel Geiss und Andreas Hillgruber bei Alff, 1976, S. 133–135 und 142–151. 49 Vgl. Freud (1930), 1982, S. 266–269.

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Das Aktive in der Kulturkontinuität Als dritten Punkt einer Deskription und Analyse der Aktiven Kulturkontinuität muss der Begriff des Aktiven definiert werden. Unter „aktiv“ wird ein Prozess des eigenen Handelns verstanden, der sich entweder auf der Seite desjenigen abspielt, der etwas vermittelt, oder aufseiten desjenigen, der etwas vermittelt bekommt. Beides impliziert aber ein Aufnehmen des Vermittelten oder ein Weitergeben des zu Vermittelnden. Passiv als Gegenstück hierbei wäre das Nichtaufnehmen eines zu vermittelnden Inhalts, aber damit wäre dann die Kulturkontinuität nicht gegeben. Auch die unbewusste Aufnahme eines Vermittlungsinhalts braucht einen aktiven Teil, der vermittelt. Eine unbewusste Weitergabe kann nur dann eine Weitergabe sein, wenn sie aufgenommen wird, daher ist auch hier ein aktiver Teil nötig. Kann es eine passive Vermittlung und einen passiven Aufnehmer des zu Vermittelnden geben? Dieser Gedanke erinnert ein wenig an die Vorstellung einer Autopoiesis in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der davon ausgeht, dass Systeme „selbstherstellend“ (autopoietisch) seien.50 Doch gerade dies ist die Aktive Kulturkontinuität als Modell einer Erinnerungstheorie nicht, sie ist nicht autopoietisch, sie kann nicht vollkommen unbewusst ablaufen. Zwei Personen können nicht vollkommen unbewusst vermitteln und Vermittlung aufnehmen. Damit ist die Diskussion am Kernpunkt angelangt: Wie muss man sich eine Aktive Kulturkontinuität vorstellen und warum ist sie ein Gegenmodell zum sogenannten „kulturellen Gedächtnis“?

Vermittlung und Aktive Kulturkontinuität Zunächst muss davon ausgegangen werden, dass Kulturen, d. h. Ordnungssysteme, „System[e] von Bedeutungen“, wie es Clifford Geertz nennt51, einen Inhalt haben, der diese Systeme ausmacht. Die Frage nach einem Sinn oder einer Logik eines solchen Systems stellt sich nicht, Sinnhaftigkeit stellt sich innerhalb des Systems her und muss nur von den Mitgliedern des Systems als kohärent empfunden werden. Auch spricht nichts dagegen, dass Ordnungssysteme unlogisch sind, wobei aber die Frage zu stellen ist, wer über „logisch“ 50 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984. 51 Clifford Geertz: Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 46.

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und „unlogisch“ entscheidet. Hier ist ein Blick in die Systemtheorie Luhmanns sehr erhellend, der sagt, dass es innerhalb eines Systems eine Differenz zwischen Beobachter und Beobachtendem gibt, wobei der Beobachter sich nicht bewusst ist, was er nicht sehen kann („blinder Fleck“), er sieht nur, was er sehen kann. Auch ein Beobachter außerhalb eines Systems kann nach Luhmann nur sehen, was er sehen kann, auch er hat einen blinden Fleck und daher eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit. Clifford Geertz geht hingegen davon aus, dass mit der Dichten Beschreibung auch das Verstehen fremder Ordnungssysteme möglich ist. Für das Begreifen der Aktiven Kulturkontinuität ist als Extrakt aus den beiden Ansichten aber nur wichtig, dass Systeme Inhalte haben. Diese Inhalte bestehen zunächst rein aus semantischem Wissen, d. h., es gibt innerhalb des Systems eine Abfolge, eine Anordnung von Wissensinhalten. Ein Beispiel aus der Mobilitätsgesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts ist das Wissen innerhalb des Systems „Verkehr“, dass eine Ampel mit Rotlicht bedeutet, man muss anhalten. Hierbei handelt es sich um ein reines Faktenwissen, das erlernt werden kann. Dieses Erlernen benötigt nicht das logische Verstehen, warum für das Stoppsignal die Farbe Rot gewählt wurde. Es kann bei der weiteren Analyse vernachlässigt werden, dass diese Inhalte innerhalb eines Systems das Ergebnis des Aushandelns sind, das die Mitglieder des Systems durchgeführt haben. Es ist eine Übereinkunft, deren Befolgen erwartet, deren Nichtbefolgen bestraft wird – im vorliegenden Beispiel ganz konkret durch die Verkehrspolizei. Um den Mitgliedern des Systems zu verdeutlichen, dass eine rote Ampel ein Stoppsignal ist, bedarf es einer Vermittlung. Schon kleinen Kindern wird „beigebracht“, dass eine rote Ampel ein Stoppsignal ist. Dies kann durch die Eltern geschehen, indem sie das Kind darauf aufmerksam machen, es kann aber auch durch die Handlung der Eltern geschehen, die an einer roten Ampel stoppen.52 Später kann das Kind einen Kurs in einer Verkehrsschule besuchen, 52 Exkursorisch sei hier auf die Memetik hingewiesen, die davon ausgeht, dass alle Kulturinformationen sich in sogenannten Memen, dem Gegenstück zu den Genen, finden, die über Replikation und Imitation (wie vermeintlich beim Beispiel der roten Ampel) weitergegeben werden. Diese Vorstellung wurde 1976 von dem englischen Biologen Richard Dawkins mit seinem Buch „The Selfish Gene“ (erschienen in Oxford) populär gemacht. Die wichtigste Vertreterin heute ist Susan Blackmore, eine englische Psychologin, die 1999 ihr Buch „The Meme Machine“ (erschien ebenfalls in Oxford) veröffentlichte. Die Kritik an der Memetik sagt kurzgefasst, dass es bis heute nicht eindeutig geklärt sei, was ein Mem genau sei und wie sich ein Mem von einem anderen Mem abgrenze. Aber nur

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es kann die Fahrradprüfung ablegen, es kann den Führerschein für Mofas erwerben und später den Führerschein für PKW etc. Das Vermitteln von Verkehrsregeln ist ein wenig geeignetes Beispiel, um deutlich zu machen, wieso Aktive Kulturkontinuität sich vom kulturellen Gedächtnis unterscheidet. Andererseits ist der Vorgang des Erlernens von Verkehrsregeln in seiner Substanz nichts anderes als das Weitergeben einer „Kultur“, denn die Mitglieder des Systems stellen eine Kontinuität her. Und dies geschieht über einen Lernprozess. „Lernen“ ist ohne Zweifel einer der komplexesten Vorgänge des Individuums und gleichzeitig ein existenzieller. Für die vorliegende Untersuchung ist es nicht entscheidend, dass alle Formen und Theorien des Lernens angesprochen werden, da sich auch die Lerntheorien, wie andere Theorien ebenfalls, zum Teil eklatant widersprechen. Elementar ist allen Lerntheorien aber, dass Lernen zwei Dinge beinhaltet, die im Laufe der vorliegenden Untersuchung bereits ausführlich behandelt wurden, nämlich Erinnerung sowie die Fähigkeit, Erinnertes abzurufen. Dies zusammen macht die Fähigkeit des Lernens aus. Ohne diese Fähigkeit ist das Einbringen in ein System für das Individuum nicht möglich, es kann sich weder in ein System einfügen, noch kann es das System oder auch sich selbst verändern. Ohne Lernfähigkeit kann das Individuum nicht überleben. Aber auch das System selbst benötigt seine lernfähigen Mitglieder, da es sich nicht selbst reproduzieren kann. Hierzu bedarf es aufseiten der Mitglieder aber nicht unbedingt des vollen Verstehens eines Inhalts, der vermittelt werden soll, sondern schlicht der Vermittlung. Das Beispiel der roten Ampel ist nicht mit einer größeren intellektuellen Tiefe verbunden, hinzu kommt die einleuchtende Pragmatik dieser Regel. Komplizierter wird es, wenn es nicht mehr um relativ einfache Regeln geht, sondern um komplexere Dinge, die zwar ebenfalls über und an das semantische Gedächtnis vermittelt werden, die aber dazu neben der Komplexität auch eine emotionale Komponente vermitteln sollen. Ein schwieriger zu verstehender Fall der Aktiven Kulturkontinuität führt von der Pragmatik und Einsichtigkeit des Ampelbeispiels in die Welt der Mythen. In meiner Familie in Nordhessen ist es üblich, dass „zwischen den Jahren“, also nach heutigem Verständnis zwischen dem 25.  Dezember und dem 31. Dezember (in der Frühen Neuzeit verstand man darunter die Zeit bis mit diesem Wissen könne überhaupt eine wissenschaftliche Validierung der Thesen von Dawkins und Blackmore stattfinden. Die Memetik scheint auf den ersten Blick nahe bei der Aktiven Kulturkontinuität zu liegen, doch wird der Verlauf des Kapitels zeigen, wie unterschiedlich beide Vorstellungen sind. Stellt die Memetik Replikation und Imitation in den Vordergrund, ist es bei der Aktiven Kulturkontinuität die Vermittlung, wie im Folgenden erläutert wird.

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zum 6. Januar), keine weiße Bettwäsche gewaschen wird, da sonst ein Familienmitglied sterben würde. Das Motiv der aufgehängten weißen Wäsche als Unglückssymbol ist eigentlich dem Mythos der Rauhnächte53 zuzuordnen, die je nach Region zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar liegen. Einer der Rauhnächtemythen besagt, dass an Silvester Wotan mit den Toten zur „Wilden Jagd“ aufbricht. Das Geisterreich ist in dieser Zeit offen, daher versucht man an Silvester die Geister mit möglichst viel Lärm zu vertreiben. Aufgehängte weiße Bettwäsche lockt die „Wilde Jagd“ an, sie stehlen die Bettwäsche und bringen sie während des Jahres als Leichentuch für den Besitzer zurück. In meiner Familie wird diese Sage in leicht veränderter Form weitergegeben, d. h., ihr Inhalt, keine weiße Bettwäsche zu waschen, wird vermittelt. In anderen Familien wird dies entweder in auch wieder veränderter Form oder gar nicht getan. All dies geschieht aber nicht in einer kollektiven Weise, sondern individuell, in jeder Familie einzeln. Wie weit dies angenommen wird, ist dann der Bereitschaft der Einzelnen überlassen, derartigen Mythen zu folgen. Das Motiv der weißen Wäsche ist nicht ein zentrales Motiv der Weihnachtszeit, es ist ein stark heidnisches (Wotan, die „Wilde Jagd“), das nur bedingt Eingang in christliche Bräuche gefunden hat. Es gehört also nicht zu den allgemein zu vermittelnden Kulturbräuchen, es ist angewiesen auf die Vermittlung innerhalb einer Familie. Könnte aber nicht gerade dies ein Beispiel für ein kulturelles Gedächtnis sein? Die Antwort lautet entschieden Nein, denn dies würde bedeuten, dass die Gesellschaft ein allgemeines Wissen in sich trägt. Die Aktive Kulturkontinuität dagegen sagt, dass ein Motiv wie „weiße Wäsche nicht waschen“ in einem aktiven Lehr- und Lernprozess vermittelt wird. Dieser Prozess bedarf einer Initiation, einer eigentlichen Vermittlung, einer Aufnahme durch den Lernenden und der Verinnerlichung. Mit dem Verinnerlichen des Vermittelten werden die Lernenden zu Lehrenden, sie können das Vermittelte nun ebenfalls aktiv in eine Kulturkontinuität über- und weiterführen. Man kann diese Information also z. B. an seine Freunde weitergeben, im Kindergarten oder der Schule darüber berichten, an seine eigenen Kindern weiterreichen oder es über ein Instrument der Medien verbreiten. Bei Letzterem ist aber das persönliche Vermitteln schon gebrochen. Es ergibt sich eine andere Form der Vermittlung, die Basis bleibt aber bestehen, denn Kultur wird vermittelt. Bei der persönlichen wie auch bei der medialen Vermittlung muss der Inhalt von den Lernenden aufgenommen, d. h. verinnerlicht werden. Ver53 Vgl. u. a. Sigrid Früh: Rauhnächte. Märchen, Brauchtum, Aberglaube, Waiblingen 1999; Perschten-Stiftung (Hrsg.): Bayerische Rauhnacht. Sagen, Mythen und Legenden, Kirchseeon 2008.

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innerlicht meint allerdings nicht im Sinne Alffs die ständige Handlung nach dem verinnerlichten Movens, sondern das Einschreiben der Information in das semantische Gedächtnis. Das Aufnehmen einer Information in das Gedächtnis ist, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, am besten möglich, wenn es mit einer Emotion verbunden wird. Dies scheint eines der Dinge zu sein, bei denen innerhalb der Gedächtnisforschung Einigkeit besteht. Gestritten wird „nur“ über die Frage, ob eine positive oder eine negative Emotion das Einschreiben in das Gedächtnis unterstützt bzw. stärker unterstützt. Dies bringt einen interessanten Aspekt in die Lerntheorien, der heruntergebrochen bedeuten würde, dass es zu jedem Fakt eine Emotion geben müsse, damit der Fakt dann erinnert werden könnte. Dies kann in einem Lernprozess nicht der Fall sein, zumal sich die Ausführungen über Emotionen im Gedächtnisspeicherungsvorgang vor allem auch auf persönliches Erleben konzentrierten, also Dinge des episodischen Gedächtnisses. Trotzdem sind auch erinnerte Fakten des semantischen Gedächtnisses an eine Emotion gebunden. Die Wichtigkeit der Emotion im Gedächtnisspeicherungsvorgang weitergesponnen hieße für den Lernvorgang, dass schon Interesse an einer Sache genau die Emotion sein kann, die das Gedächtnis braucht, um die Information abspeichern und wieder abrufen zu können. Man könnte einwenden, dass diese Hinleitung zum Interesse eine Plattitüde ist, da ohne Interesse kein Lernprozess stattfinden könne, was zutrifft. Aber es ist wichtig, dies ins Auge zu fassen, da bei zwei weiteren Beispielen die Art der Vermittlung eine Rolle dafür spielt, wie sie im Kontinuitätssystem zu verstehen sind. Zunächst soll die Religion behandelt werden. Religion, obzwar ein komplexes Gebilde, unterscheidet sich in der Art der Vermittlung nicht von der Vermittlung der roten Ampel. Die rote Ampel wie auch die Religion haben in Bezug auf das Lernen starke Anklänge an die Form der Habituation im Lernprozess, d. h., sie werden nicht nur einmal vermittelt, sondern sie werden wiederholt weitergegeben. Bei der Habituation geht man davon aus, dass ein beständiger Reiz für den Körper zur Gewohnheit wird, eine dem Reiz eigentlich folgende Reaktion tritt nur noch schwach oder gar nicht auf. Dies entspricht nicht exakt dem Ablauf der Verinnerlichung, da diese nicht einen sich abschwächenden Reiz hervorruft, sondern eine Konstituierung des vermittelten Inhalts. Kann man Religion „erlernen“? Dabei geht es nicht um eine religionswissenschaftliche oder theologische Frage, es geht vielmehr darum, zu beantworten, ob auch Religion letztendlich nichts anderes ist als eine rote Ampel. Warum sollte das nicht so sein? Religion ist ein, wie schon gesagt, komplexes System, ein System, das aus Formen und Regeln besteht, die man erler-

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nen kann. So wie die rote Ampel ein „Stopp“ in der Straßenverkehrsordnung bedeutet, kann man die Bedeutung der Schabbatregeln, den Ablauf eines Sundance der Native Americans oder die Form des katholischen Abendmahls erlernen. Diese Regeln werden vermittelt. Religiöse Formen und Regeln sind Teil der Kultur, werden also in Mehrheitsgesellschaften von sehr vielen Vermittlern weitergegeben, aber dies schließt nicht aus, dass in Mehrheitsgesellschaften auch Minderheiten ihre Regeln und Formen beibehalten, die für ihre Religionsausübung wichtig sind. Dass die Mehrheitsgesellschaft nicht immer bereit ist, eine Minderheit in ihrer Mitte zu dulden, hat sich in der Geschichte ebenfalls hinlänglich erwiesen. Eine wichtige Beobachtung dabei ist es, dass die Mehrheit davon ausgeht, die Minderheit würde auf alle Fälle bei ihren Regeln und Formen bleiben, sich daher nicht an einem Aktiven Kulturkontinuitätsprozess beteiligen. Dies lässt sich zum Beispiel an der Inquisition in Spanien beobachten. Die getauften Juden und Jüdinnen wurden derart misstrauisch beäugt, dass man es als notwendig ansah, sich der Glaubensfestigkeit durch Tribunale zu versichern, oder ihnen gleich unterstellte, heimlich beim „alten Glauben“ zu bleiben. Die Überzeugung von der Permanenz der Formen und Regeln scheint ein Faktum zu sein, dem man vonseiten der Mehrheitsgesellschaft mit der Forderung nach „Assimilation“ begegnet. In diesem Zusammenhang meint Assimilation auch tatsächlich das strenge Anpassen an die von der Mehrheitsgesellschaft vorgegebenen Formen und Regeln.54 Doch zurück zur Frage der Vermittlung. Die Formen und Regeln einer Minderheit, also im vorliegenden Falle einer Religion, die nicht von der Mehrheit geteilt wird, werden nur von wenigen Vermittlern weitergegeben, haben aber ebenso die Möglichkeit, als Verhaltensnorm aufgenommen zu werden. Die Zahl der Vermittler scheint in diesem Prozess nicht von Wichtigkeit zu sein, sondern die Vermittlung selbst, also das Umfeld, die Vermittler-Person sowie der persönliche Umgang mit dem Vermittelten, d. h. die Frage, inwieweit sich das Vermittelte in die Lebenswelt der Person einbauen lässt, inwieweit sie Teil der Lebenswelt ist. In all diesen Bereichen unterscheidet sich Religion nicht von der Straßenverkehrsordnung. Das zweite Beispiel, die Nation, ist wie die Religion ein historisch und gesellschaftspolitisch wichtiges Thema.55 Von den Umwälzungen der Fran54 Zum Unterschied zwischen Assimilation und Akkulturation vgl. Petry, 2004, S. 4–8. 55 Dass gerade Religion und Nation als Beispiele gewählt wurden, verdanken beide ihrer Anschaulichkeit und gleichzeitigen Omnipräsenz. Dass die vorliegende Untersuchung nicht die einzige ist, die dies tut, zeigt z. B. Manuel Castell: Communi-

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zösischen Revolution und ihrer Neuauslegung des Begriffs der Nation über die Entwicklung des noch heute das politisch-staatliche Denken bestimmenden Nationalismus bis zu den Versuchen der EU, dies über einen gemeinsamen Währungs- und Grenzschutzraum aufzubrechen, begleitet die „Nation“ die Menschheitsgeschichte seit über 200 Jahren, folgt man hierbei der Definition von Ernest Gellner in seinem viel diskutierten Buch „Nations and nationalism“, in dem er Nationalismus als moderne Erscheinung der Industriegesellschaft beschreibt, Nation aber auch als ein vom Nationalismus erfundenes Phänomen darstellt.56 Wie funktioniert aber das Teilnehmen an einer Nation? Indem man den Pass eines Staates hat und damit Nation und Staat gleichsetzt? Und wie verhält sich der Begriff des „Volkes“ dazu? „Cuius regio, eius religio“ gegen „ius sanguinis“ oder doch „ius soli“? Wird man also Mitglied einer Nation, wenn man dort wohnt? Oder muss man dort geboren werden? Was wird aber mit den Personen, die an einem Ort geboren werden, den sie dann aber sehr früh verlassen müssen? Oder wenn die Eltern an einem Ort geboren werden und ihn dann verlassen müssen? Sind Kinder der 1945 aus Ostpreußen geflohenen Deutschen, die seit 1945 in der Bundesrepublik leben, Ostpreußen? Allein schon die Aufzählung dieser wenigen Fragen und Gedankensplitter macht klar, dass es sich hierbei um nicht nur für die einzelnen Menschen, sondern für Gemeinschaften und letztendlich für das Handeln der Menschen in ihrer Lebenswelt wichtige Wahrnehmungen und Zuschreibungen handelt. Ein Blick nicht nur in die Geschichte, sondern in das aktuellste Weltgeschehen zeigt, dass diese Begriffe bis auf den heutigen Tag wirkmächtig sind. Oder wie würde sich sonst der Konflikt im August 2008 zwischen Russland und Georgien um Südossetien erklären? Reichen allein ökonomische Motive dafür aus? Hier ist nicht der Ort, diese Fragen zu beantworten, vielmehr soll aber die Frage beantwortet werden, ob es möglich ist, Zugehörigkeit, und darum handelt es sich bei cation Power, Oxford 2009. Castell arbeitet ebenfalls mit Religion und Nation als Beispielbegriffen für seine Analyse der Identität in der Network Society. 56 Ernest Gellner: Nations and nationalism, Oxford 1983. Aus der gleichen Periode wie Gellners Buch stammend, aber in ihren Ansätzen weiter gehend, haben die Theorien von Benedict Anderson Bewegung in die Debatte über „Nation“ gebracht. „Imagined Communities“ nannte er seine Idee, wobei „imagined“ mit „vorgestellt“ am besten übersetzt werden kann, denn die Nationen existierten zwar, wären aber in den Vorstellungen der Menschen existent, als reale Einheit hingegen äußerst limitiert, was er vor allem anthropologisch und mit Beispielen aus nicht europäischen Gesellschaften begründet. Vgl. Benedict Anderson: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983.

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dem institutionenschaffenden Begriff Nation, zu erlernen. Erlernt man, ein Schweizer zu sein? Diese Frage ist wie schon bei der Religion mit einem klaren Ja zu beantworten. Auf der Ebene des semantischen Gedächtnisses, d. h. im Bereich der Formeln und Regeln, erlernt man die Parameter, die Zugehörigkeit ausmachen. Mit der Einrichtung der Nationalstaaten wurde ein System von Zugehörigkeitskomponenten festgeschrieben, deren Grundlage sich nicht sehr verändert hat. Systemisch wird zwischen „ius sanguinis“ und „ius soli“ unterschieden, woraus sich die rechtlich gesicherte Zugehörigkeit zu einer Entität ergibt. Wozu man gehört und was das für das tägliche Leben, sei es sozial, politisch oder wirtschaftlich, bedeutet, wird der Person vermittelt. Und dies geschieht schon von klein auf, also nicht erst mit dem Eintritt z. B. in die Schule. Doch auch hier ist immer ein Vermittler nötig und die Bereitschaft, das Vermittelte anzunehmen. Aus dem Gesagten lässt sich die These formulieren, dass beide Bereiche, Religion wie auch Nation, sich nicht von der roten Ampel unterscheiden, beide Bereiche bzw. die Parameter dieser Bereiche, die Regeln und Formeln, werden „erlernt“. Doch mutet es etwas eigenartig an, wenn man die Straßenverkehrsordnung mit der Zugehörigkeit zu einer Religion vergleicht. Religion und Nation scheinen mehr zu bedeuten als ein Stoppsignal. Sie sind mit Emotionen verbunden, sie können angenommen oder abgelehnt werden, und dies kann hochemotional geschehen. Würde man für eine Straßenverkehrsordnung Kriege führen? Sigmund Freud hat in seinem bereits zitierten Text „Das Unbehagen in der Kultur“ sein Erstaunen geschildert, dass die Reaktion seines Freundes Romain Rolland auf Freuds Text „Die Zukunft einer Illusion“ zwar recht positiv gewesen sei, Rolland aber auch darauf hingewiesen habe, dass Religion mehr sei, als sie von Freud beschrieben wurde, sie sei ein von Millionen Menschen geteiltes Gefühl. Freud zitiert Rolland: „Ein Gefühl, das er die Empfindung der Ewigkeit nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem‘.“57 Werden derartige Gefühle auch über eine Aktive Kulturkontinuität vermittelt? Lernt man auch „ozeanische Gefühle“, lernt man Glauben, lernt man Leidenschaft für das „Vaterland“? Diese Frage bewegt sich stark im anthropologisch-individualpsychologischen Bereich und scheint nur schwer beantwortbar. Schaut man auf die aktuellen Diskussionen über Religion in der Gesellschaft, ist sie von zwei Parametern bestimmt. Zum einen wird auf den Umgang mit dem Islam hingewiesen und die Verbindung von Religion und Gewalt, die zwar keine Erscheinung der Neuzeit ist, sich aber vor allem nach dem 11. September 2001 57 Freud (1930), 1982, S. 197.

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als ein wirk- und handlungsmächtiger Bestandteil der Gesellschaft erwiesen hat. Zum anderen wird auf eine sich wieder zeigende, aber veränderte Religiosität hingewiesen, die sich in Europa nicht in den „klassischen“ Glaubensrichtungen zeigt, sondern in esoterischen Zirkeln, streng fundamentalistischen Richtungen (z. B. evangelikalen Gruppen), dem eklektischen Aneignen von Vorstellungen aus außereuropäischen Religionen (z. B. dem Buddhismus) oder dem Wiederbeleben vorchristlicher Religionen (z. B. Kelten). Hierzu passte die 2004 erschienene Darstellung von Dean Hamer, in der er behauptete, es gebe ein „GottesGen“, das die Menschen zu Gläubigen mache, und er, Dean Hamer, habe dieses Gen gefunden.58 Die hier anklingende Vorstellung des Determinismus ist deutlich, sie wird weiter unten noch ausführlicher behandelt. Könnte aber Religion, könnte aber Nation nicht auch nur ein Oberbegriff sein für ein menschliches Verhalten, das sich in vielen Verhaltensweisen spiegelt? Sucht man wirklich die protestantische Kirche oder den Hindu-Tempel, sucht man tatsächlich seine Zugehörigkeit als Schweizer, oder ist es nicht vielmehr die Suche nach der Gruppe, der man angehört, auf welcher Basis auch immer, die Teil der eigenen Lebenswelt ist? Da sich Kultur nur über Kommunikation mit anderen entwickeln, weiterentwickeln und weitervermitteln lässt, ist es deutlich, dass sich die Lebenswelt zwar in individualisierter Form erleben lässt, gleichzeitig aber in Gruppen gelebt wird. Doch bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht, dass man nicht auch Mitglied einer anderen Gruppe sein kann. Es sollte hierfür allerdings nicht der Begriff der Lebenswelten gewählt werden, da eine Person zwar mehreren Gruppen angehören kann, als Person sich aber immer in ihrer höchst eigenen Lebenswelt bewegt. Wäre das nicht so, könnte die Person gar nicht bestimmt werden, sie könnte keine Identität entwickeln.59

Gruppenzugehörigkeit und Gruppencharakteristika Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe beinhaltet das Lernen und Vermitteln bestimmter Regeln und Formen, es ist aber auch ein wechselseitiger Prozess, 58 Dean H. Hamer: The god gene. How faith is hardwired into our genes, New York 2004. 59 Woody Allen hat mit seinem Film „Zelig“ (1983) hierzu eine passende Satire geschaffen, in der es um Leonard Zelig geht, der wie ein Chamäleon immer die Identität desjenigen annimmt, mit dem er gerade spricht. Dies zeigt sich auch körperlich: Spricht er mit einem Schwarzen, verfärbt sich seine Haut, spricht er mit einem Dicken, wölbt sich sein Bauch. Diese Parabel über eigene Identität und den Versuch, in einer Gesellschaft nicht aufzufallen, ist auch heute noch äußerst sehenswert.

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da die Gruppe – oder dafür von ihr bestimmte Personen bzw. Gremien – entscheiden, wer zur Gruppe dazugehört. Bei klar definierten Kriterien ist dieser Prozess eindeutig, so z. B. bei der Frage, wer zur Gruppe der deutschen Staatsbürger gehört; schwieriger wird es bei der Frage, wer deutscher Staatsbürger werden kann. Hierfür sei auf die Diskussionen über Integration sowie die Voraussetzungen zur Einbürgerung in Deutschland und in der Schweiz hingewiesen. Dass solche Diskussionen kein Produkt des 21.  Jahrhunderts sind, hat Patrick Kury eindrucksvoll nachgewiesen. In seiner Untersuchung „Über Fremde reden“ legt er die Grundlagen des Überfremdungsdiskurses in der Schweiz dar, die sich in ihren Grundannahmen des Wunsches nach einer Schweizer Identität nicht sehr von heutigen Debatten unterscheiden.60 Je nach Motivation und Ziel einer Gruppe können sich solche Kriterien aber in unendlichen Variationen zeigen. Klar scheint nur, dass es bestimmte Formen braucht, um von der Gruppe aufgenommen zu werden, außer die Person praktiziert ihre neue Gruppe für sich allein, was aber nur selten dem menschlichen Bedürfnis nach Gruppenbildung entspricht. Die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Deutschland kann hierbei als exemplarisch angesehen werden, insofern eine Gruppe, hier sind es die Juden in Deutschland nach 1871, zwar rechtlich aufgenommen wurde, denn die Verfassung von 1871 stellte die jüdische Bevölkerung der christlichen gleich, trotzdem aber latent als nicht dazugehörig betrachtet wurde. Für die Aktive Kulturkontinuität sind die Formen des Dazugehörens ein Teil der Regeln, die vermittelt werden, aber auch einer Änderung unterzogen werden können. Die Veränderung wird dann ebenfalls vermittelt, was die Frage beantwortet, ob es sich bei der Aktiven Kulturkontinuität nicht um ein starres Modell handelt, das aufgrund seines spezifischen Lern- und Vermittlungscharakters unfähig ist, auf Veränderungen zu reagieren. Es wird hier bewusst nicht der Begriff des Fortschritts gebraucht, da es für die Aktive Kulturkontinuität keine Rolle spielt, in welche Richtung die Veränderungen gehen, zumal das Konzept „Fortschritt“ nicht frei von Ambivalenzen und Zweifeln ist, denn was genau unter „Fortschritt“ zu verstehen ist, müsste erst definiert werden. Ist jede technische Errungenschaft ein Fortschritt? Oder das verbesserte Bekämpfen verschiedener Krankheiten? Das Durchsetzen der Demokratie in allen Ländern? Oder die Reduzierung der Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen? Da Leben auf einer Zeitachse verläuft, die zwar linear ist, aber deswegen nicht teleologisch, kann nur der Begriff der Veränderung für die Aktive Kulturkontinuität den Sachverhalt beschreiben. Das Vermitteln veränderten 60 Kury, 2003.

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Wissens oder veränderter Regeln gehört elementar hinzu, was nicht mehr vermittelt wird, gerät in Vergessenheit. Die Gründe hierfür mögen mannigfaltig sein, doch nicht vermitteltes Wissen geht der Kulturkontinuität verloren. Es kann dann Aufgabe der archäologischen, historischen, ethnologischen oder anthropologischen Zunft sein, derartiges Wissen wieder zutage zu fördern, wenn es darüber noch Quellen gibt, aber es wird nur noch selten wieder in die Kulturkontinuität eingespeist. Daher ist eine Form des kulturellen Gedächtnisses nicht vorstellbar, denn das Wissen liegt letztendlich nur in den Menschen, in den Quellen, die sie produzieren, und dann bei denen, die dieses Wissen annehmen. Als Beispiel mögen die in Deutschland schon zu Lebzeiten Bismarcks, aber vor allem nach seinem Tod errichteten Bismarckdenkmäler, Bismarcksäulen und Bismarcktürme gelten. Heute sind diese Türme oft beliebte Ausflugsziele, doch ist das Wissen, warum sie errichtet wurden, wieso es Türme sein müssen und warum viele dieser Türme eine Einrichtung haben, um dort eine Art Leuchtfeuer zu entzünden, in der Bevölkerung nicht mehr vorhanden. Erst die Arbeit von Historikern und Denkmalpflegern macht es möglich, dieses Wissen abzurufen. Sollte dies aber nicht nachgefragt werden, wird auch dieses Wissen nicht wieder in die Kulturkontinuität einfließen. Die Frage nach den Charakteristika einer Gruppe, die nicht nur von Regeln bestimmt wird, ist eine der wichtigen Kulturfragen. Jede Beschreibung einer Gruppe, sei es nun eine kleine Gruppe innerhalb einer Gesellschaft oder sei es ein anderes Volk, geht mit dieser Frage und dem damit zusammenhängenden Selbstbild einher. Und diese beiden Faktoren könnten gegen die Theorie der Aktiven Kulturkontinuität sprechen. Sind Deutsche diskussionswütiger und selbstbewusster als Schweizer? Sind die Deutschen immer diszipliniert und kämpfen bis zum Schluss? Diese Frage stellt sich übrigens nicht nur im Sport, sondern war eine der Grundfragen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg nach der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad. Der Krieg war damit faktisch verloren, trotzdem kämpfte die Wehrmacht (bzw. große Teile davon) weiter, bis das Land komplett besetzt war. Ist das typisch deutsch? Sind die Schweizer immer kompromissbereit? Ist nicht sogar die Schweizer Politikform mit ihrer Konsensdemokratie ein untrügliches Zeichen für den ständigen Kompromiss? Ist Italien eine vollkommen chaotische Gesellschaft, was sich schon daran zeigt, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg 62 Regierungen unter 25 Ministerpräsidenten (Stand Juli 2012) gab? Man kann diese Reihe an Zuschreibungen unendlich fortführen und sich den Vorwurf rassistischer Töne einhandeln. Zu nahe sind solche Zuschreibungen an Vorstellungen, die aus der sogenannten Völkerpsychologie, unter der aber eine Form von Sozialpsychologie, besser noch Gesellschaftspsychologie verstanden wird, kommen und vor

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allem in den 1930er-Jahren in Deutschland zu rassistischen Gebilden über die Eigenschaften der Völker hochstilisiert wurden.61 Die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, Charakteristika und Verhaltensformen sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern fallen in den Bereich derjenigen, die über fremde Völker ihrem Volk berichten, wie z. B. Caesar in „De bello gallico“ oder Tacitus in „Germania“. Wenn man aber den rassistischen Ton weglässt, fragt es sich, ob es diese „völkerpsychologischen Zuschreibungen“, die auch auf einzelne Gruppen Anwendung finden können, nicht bis heute gibt. Die Arbeitsthese dazu lautet: Das Leben an einem Ort in einer lange dort schon ansässigen Gemeinschaft, dazu eine geografisch-familiär-ethnisch ähnliche Herkunft erzeugt Verhaltensähnlichkeiten, woraus sich eine Gruppe definieren lässt, deren Zuschreibungen sich über Jahrhunderte erhalten können. Die weiter oben schon angesprochenen Völker- bzw. Sozialpsychologen haben den Begriff des Volkes vor allem als Sprachgemeinschaft aufgefasst,62 aber dies scheint nicht weit genug zu gehen. So schreibt Volker Zastrow am 27. Januar 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die anstehenden Landtagswahlen in Hessen sowie Niedersachsen und macht sich Gedanken über unterschiedliches Wahlverhalten, das er nicht nur an der Stadt- und Landbevölkerung festmacht: „Der Limes, der die Gebiete römischen Rechts und römischer Zivilisation vom ‚barbarischen‘ Germanien trennte, wirkt in gewisser Weise bis heute, er markiert zum Beispiel im Groben und Ganzen die Konfessionsgrenze zwischen Katholisch und Protestantisch – und die hat immer noch einen beträchtlichen Einfluss auf das Wahlverhalten.“63 Zastrow sagt damit nichts anderes, als dass die Trennung durch den Limes, also zwischen „Zivilisation“ und „Barbaren“, mithin eine ethnisch-kulturelle Trennung, bis heute wirkmächtig ist. Man bekriegt sich zwar nicht mehr, aber die Unterschiede kommen in anderen Bereichen stark zum Tragen. Die unterschiedlichen Konfessionen sind dabei nur ein Beispiel. Dies würde bedeuten, dass es eine „Longue Durée“ nicht nur in historischen Entwicklungen gibt, sondern auch in Gruppencharakteristika und Verhaltensformen. Diese sind dann aber so stark geformt, dass man sie auch mitnimmt, wenn man seinen angestammten Ort verlässt.64 61 Vgl. dazu u. a. Uwe Laucken: Sozialpsychologie. Geschichte, Hauptströmungen, Tendenzen, Oldenburg 1998, hier besonders S. 67–93. 62 Vgl. Laucken, 1998, S. 73–77. 63 Volker Zastrow: Stadt, Land, Fluss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.1.2008. 64 Dies erinnert in gewisser Weise an die Mentalitätengeschichte, doch spricht die angenommene lange Dauer, also das Beibehalten auch in einem anderen Zeitkontext, gegen eine Gleichsetzung mit der Mentalitätenforschung.

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Als Beispiel hierfür wird John McCain gewählt, der sich 2008 für die Republikaner um das Amt des Präsidenten der USA bewarb. McCain, Offizier der US Navy und seit 1987 Senator des US-Bundesstaates Arizona, gilt als gemäßigt konservativ, aber auch als sehr kämpferische bis cholerische Person. Dass dies nicht „einfach nur“ ein Wesenszug sei, sondern einen ethnischkulturellen Hintergrund habe, beschreibt Anatol Lieven in einem Artikel für die „New America Foundation“, einem amerikanischen Thinktank, in dessen Board unter anderem auch der weiter oben zitierte Francis Fukuyama sitzt.65 Unter der Überschrift „Fighting John McCain“ schreibt Lieven: „By ancestry, John McCain is a Scots-Irishman. That is to say, he comes from one of the oldest, most admirable and most worrying ethno-cultural traditions in the US. To a remarkable extent, that tradition is reflected in McCain’s character traits: his obstinancy; his tendency towards unshakeable friendship and implacable hatred; his hair-trigger temper; his deep patriotism; his obsession with American honor; and his furious response to any criticism of the US. These are not just the products of his military upbringing and experiences as a prisoner in North Vietnam, but also the result of his being the proud descendant of Indian-fighters and Confederate soldiers.“66 Im Verlaufe des Artikels führt Lieven dies noch weiter aus und kommt zu dem Schluss, dass der schottischirische Hintergrund McCains sein Verhalten erkläre, da die schottisch-irischen Einwanderer schon in ihrer Heimat vor der Auswanderung gelernt hätten, sich durchzusetzen, und daher mit der Eigenschaft des Kämpfens und Durchsetzens in Amerika zu denen gehört hätten, die an die Grenzen des Landes gingen (Frontiers), die Kriege gegen die Indianer führten und einen starken Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft ausübten.67 Doch ist dies nicht ein sehr simples „Verfahren“, wenn Verhaltenscharakteristika als ewige Konstante angesehen werden? John McCains Vater und Großvater waren beide hohe Offiziere der US Navy. Könnte der Enkel bzw. Sohn nicht auch davon etwas mitbekommen haben? Hinzu kommt, dass, geht man von der Richtigkeit der These einer „ewigen Konstante“ aus, die Frage gestellt werden muss, wann sich diese Verhaltenscharakteristika entwickelt haben. War das ein langer Prozess? Wann begann er? Wann war er so weit abgeschlossen, dass dieses Verhalten als fest implementiert gelten kann und dies über Generationen tragfähig und durchsetzungsfähig bleibt? Ist von Jahrzehnten, Jahrhun65 Vgl. www.newamerica.net (Zugriff: 14.9.2008). 66 http://www.newamerica.net/publications/articles/2008/fighting_john_mccain_7638. 67 Lieven steht mit seiner Analyse nicht alleine, vgl. Jim Webb: Born Fighting. How the Scots-Irish shaped America, New York 2004.

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derten oder gar anthropologischen Konstanten über Jahrtausende die Rede? Wenn z. B. über das Gebiss des Homo sapiens gesagt wird, es wäre ein seit Jahrtausenden auf Mischkost, d. h. vegetarische und Fleischkost, ausgerichtetes Werkzeug, kann man dies auch von Verhaltensformen sagen? Sind die Menschen, die im Nordteil der Britischen Inseln lebten, eine auf das Kämpfen ausgerichtete Gruppe?

Die Schweizer – kampferprobt oder neutral? Bleibt man beim Beispiel der kampferprobten Gruppen und schaut, wer über einen längeren Zeitraum sehr kampferprobt und kriegsbereit war, landet man sehr schnell in der Schweiz. Auch wenn dies für das heutige Bild der Schweiz in der Welt als neutraler Staat par excellence etwas überraschend anmutet, standen bereits ab dem frühen 13. Jahrhundert Schweizer Söldner (sogenannte „Reisläufer“) in kaiserlichen Diensten.68 Der Erfolg der Schweizer Söldner war so groß, dass bis weit ins 18. Jahrhundert hinein kaum ein bewaffneter Konflikt in Europa geführt wurde, an dem nicht auf einer der Seiten, manchmal auch auf beiden, Schweizer Söldner dabei waren. Erst in der Schweizer Bundesverfassung von 1848 wurde das Reislaufen verboten. Aus der lang andauernden Verpflichtung Schweizer Söldner müsste, folgt man dem Muster, das Anatol Lieven für die schottisch-irischen Einwanderer geltend macht, der Schluss gezogen werden, dass „die Schweizer“ ein kriegserprobtes, kampflustiges Volk seien. Und dies schon über Jahrhunderte, hatte doch bereits Julius Caesar in seinem „De Bello Gallico“ im ersten Kapitel, Abschnitt 5, geschrieben: „Aus diesem Grunde übertreffen auch die Helvetier die übrigen Germanen an Tapferkeit, weil sie sich in fast täglichen Kämpfen mit den Germanen messen, indem sie entweder von ihren eigenen Grenzen sie abwehren oder selbst in deren Lande Krieg führen.“69 68 Zu diesem Thema vgl. vor allem den Artikel „Fremde Dienste“ im Historischen Lexikon der Schweiz, Website: http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8608.php (Zugriff: 16.10.2008). „Reise“ im Mittelhochdeutschen bedeutet „Aufbruch zum Kriegszug“; vgl. Schlagwort „Reise“ in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866, 4  Bände und Indexband, Band 2, Stuttgart 1990, S. 663. 69 Originaltext: „Qua de causa Helvetii quoque reliquos Gallos virtute praecedunt, quod fere cotidianis proeliis cum Germanis contendunt, cum aut suis finibus eos prohibent aut ipsi in eorum finibus bellum gerunt.“

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Nach einer solch langen Tradition müssten die Schweizer eigentlich auch heute noch tief in ihrem Wesen kriegslüstern und auf den Kampf aus sein. Nichts aber könnte dem Bild der Schweiz und ihrer Bewohner heute fernerliegen. Die Schweiz gilt als Musterland in Sachen Neutralität, nichts ist mehr zu spüren von kriegsgewohnten Reisläufern. Kann es also einen Wechsel in einem ethnisch-kulturell geprägten Verhalten geben? Können aus den McCains Pazifisten werden, um es einmal pointiert zu formulieren? Im Projekt „Präsenz Schweiz“ der Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) werden die Schweizer Leistungen und Werte aufgezählt: Stabilität, Zukunftssicherheit, Ausgleich, internationale Drehscheibe, Selbstbestimmung, Effizienz sind diesem Papier zufolge die Schweizer Leistungen, während: echt, vertrauenswürdig, diskret überlegen, neugierig und frisch als Schweizer Werte aufgeführt werden.70 Abgesehen davon, dass einige der genannten Leistungen und Werte hinterfragt werden müssten, fehlen alle Hinweise auf kämpferische Tugenden, und dem Reislaufen entspricht ein Punkt wie „Selbstbestimmung“ auch nicht exakt. Oder muss man aus der Liste auf das Wunschbild einer urbanen Herrschaftsform des 20. Jahrhunderts schließen und würde bei der Befragung eines Bergbauern im Wallis zu ganz anderen Werten kommen?71 Man mag einwenden, dieses Papier entspreche nicht den wissenschaftlichen Standards zum Erstellen einer Art Psychogramm über den Charakter „der Schweizer“, was und wer immer das auch genau sei, aber Untersuchungen zu Mentalität und charakteristischem Verhalten einer Gruppe sind immer von höchster Schwierigkeit, will man sich nicht in den mehr oder minder gelungenen Beschreibungen der Touristenführer verlieren. Einen hilfreichen Ansatz bietet auch hier die Kulturtheorie Freuds. In seiner schon zitierten richtungsweisenden Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ entwickelt er aus der Individualpsychoanalyse eine gesamtgesellschaftliche psychoanalytische Vorstellung. Er geht dabei von den Kernpunkten „Gewissen“ und „Schuld“ aus und kommt zu dem Schluss, dass auch Gesellschaften von einem Über-Ich bestimmt sein können,72 was, wenn man dies weiterdenkt, bedeutet, dass sich lange Traditi70 Vgl. Papier des EDA, Präsenz Schweiz: „Manifestationen, Eigenschaften, Werte und Charakter der Schweiz: Die 14 Kernelemente.“ 71 Könnte man anhand des Packs bestimmte Werte und Eigenschaften herausarbeiten, die für die Schweiz charakteristisch sind? Im Laufe der Arbeit wird gezeigt, was die Kernelemente für die Mitglieder des Packs sind, doch daraus eine kollektive Gruppenbeschreibung zu konstruieren, würde der in dieser Arbeit ausgeführten Aktiven Kulturkontinuität widersprechen. 72 Vgl. Freud (1930), 1982, vor allem S. 267.

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onen in Verhalten und Charakter einer Gruppe erhalten, weil sie weitergegeben werden können. Einer der herausragenden an einer Universität lehrenden Psychoanalytiker, der in Österreich geborene, aber 1938 in die USA emigrierte Robert Waelder (1900–1967)73, der selbst noch mit Freud in Wien zusammengearbeitet hatte, nahm diese Ideen auf und verband sie noch mit einer weiteren kulturhistorischen Annahme von Freud. In „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, 1939 erschienen, stellt Freud eine Korrelation her zwischen der Wichtigkeit der Kindheitserlebnisse für den Erwachsenen und der Kindheit einer Nation, die ebenso prägend sein kann. Dies ist aber nicht nur auf Nationen beschränkt, sondern kann für Gruppen, Bewegungen, d. h. alle historisch relevanten Vereinigungen angewendet werden. Als Kindheit bezeichnet Waelder „the time during which the group was formed and stabilized“.74 Er sagt allerdings auch, dass Gruppen mehrere Kindheiten, d. h. mehrere Perioden haben können, in denen sich die Gruppe findet bzw. stabilisiert. Er macht das am Beispiel der jüdischen Geschichte klar, deren „Kindheit“ man in der Gefangenschaft in Ägypten, der Zeit der Patriarchen, im Auszug aus Ägypten und auch in der Landnahme in Kanaan sehen könnte. Um eine Zeit als formativ bezeichnen zu können, ist es wichtig, dass die Gruppe in dieser Periode ein bestimmtes Verhalten als erfolgreich erlebt hat, diese Verhaltensmuster dann an die nächste Generation weitergibt75 – im Sinne der Aktiven Kulturtheorie muss man sagen: weitervermittelt – und diese so kontinuierlich in die Kultur der Gruppe aktiv eingespeist werden. Mit diesem von Waelder ausgeführten Schema einer „Kindheitsprägung“, das sich als Verhaltensmerkmal in einer Gruppe festsetzt, kann die Frage nach den Charakteristika einer Gruppe ein wenig leichter beantwortet werden. Es scheint nach den Vorstellungen der kulturwissenschaftlich forschenden Psy73 Waelder, der in Physik promoviert hatte, unterzog sich ab 1922 einer Therapie bei Freud, machte dann aber auch gleichzeitig eine Ausbildung im Bereich der Psychoanalyse. 1924 wurde er Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft, von 1932 bis 1939 gab er zusammen mit Ernst Kris die Zeitschrift „Imago“ heraus. Nach seiner Emigration in die USA unterrichtete er zuerst in Boston, später dann in Philadelphia, wo er 1963 zum Professor für Psychoanalyse am Jefferson Medical College berufen wurde. Waelder galt nicht nur als herausragender Wissenschaftler, er beeindruckte seine Studierenden und Kollegen mit einer auch in Professorenkreisen erstaunlich umfassenden Bildung im Bereich der Wissenschaft und Literatur. 74 Robert Waelder: Psychoanalysis and History, in: Benjamin B. Wolman (Hrsg.): The Psychoanalytic Interpretation of History, New York 1971, S. 24. 75 Vgl. Waelder, 1971, S. 24f.

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choanalytiker möglich, dass sich Gruppen nicht einfach aus sich heraus ein bestimmtes Verhalten aneignen, sondern dass sich dieses Verhalten in einer oder mehreren Konsolidierungsphasen als erfolgreich erwiesen haben muss. Zieht man nun noch einmal das Beispiel der Schweiz heran, ist aber die Frage zu beantworten, ob ein solches Verhalten auch wieder „abtrainiert“ werden kann. Ist es also dem Schweizer Bundesrat mit seiner Entscheidung 1848, das Reisläufertum zu verbieten, gelungen, ein als erfolgreich angesehenes Verhalten umzuerziehen? Wie schnell können Erfolgsmodelle als kulturtragend weitervermittelt werden? Oder hatten, bleiben wir bei dem Beispiel der Reisläufer und der als herausragende Kämpfer angesehen Schweizer, sich diese Modelle von selbst erledigt? Mitte des 19. Jahrhunderts ist in Europa aber noch kein Ende eines aggressiven Nationalismus zu sehen, im Gegenteil. Zwar ist das Gründen des Deutschen Kaiserreichs 1871 nach einem erfolgreichen Krieg im Schloss des besiegten Feindes ein heftiger Anachronismus, der sich daraus entwickelnde besondere Zweig des Militarismus, der Wilhelminismus, ebenfalls, vergleicht man dies mit der Entwicklung in Mittel- und Westeuropa hin zu größeren demokratischen Verfasstheiten der Staaten. Aber die Idee eines neutralen Staates passt auch nicht in das Bild Europas. Nun wurde allerdings die Bundesverfassung der Schweiz 1848 nicht auf dem bequemen Sofa erreicht, sondern war Ergebnis heftiger militärischer Auseinandersetzungen seit 1798. Den Schlusspunkt bildete 1847 der Sonderbundskrieg, der die liberalen Kantone mit den katholischen Kantonen in militärischer Auseinandersetzung sah. Die Schweiz also doch ein eher kampflüsternes Land, das schließlich zwanghaft befriedet wurde, wobei dies abschließend von der Bundesverfassung von 1848 ausgeht? Schaut man sich parallel zu dem Aufstieg der Reisläufer, also dem Ruf der Schweizer Söldner als beste Kriegstruppen, die Entwicklung der Neutralität der Schweiz an, ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild.76 Schon nach der Niederlage der Eidgenossenschaft 1515 bei Marignano war klar, dass die Schweiz nicht im Konzert der Großmächte mitspielen konnte, sich daher auf eine Position der Neutralität zurückziehen musste, um zu überleben. Dies hinderte die einzelnen Kantone aber nicht daran, Verträge mit den europäischen 76 Vgl. z. B. Die Neutralität der Schweiz, Broschüre hrsg. v. Eidgenössischen Departement für Verteidigung, 4., überarbeitete Auflage; Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Aussenpolitik, 9 Bände, Basel 1965–1976; Georg Kreis (Hrsg.): Die Schweizer Neutralität: beibehalten, umgestalten oder doch abschaffen?, Zürich 2007; Georg Kreis: Kleine Neutralitätsgeschichte der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz seit 1943, Bern 2004.

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Großmächten abzuschließen, die diesen das Recht einräumten, in den jeweiligen Kantonen Söldner anzuwerben. Die Neutralität wurde zwischen 1798 und 1814 gezwungenermaßen aufgegeben, da die französische Besatzung nicht nur die Schweiz als Schlachtfeld nutzte, sondern auch die Eidgenossenschaft zwang, sich an den französischen Kriegszügen zu beteiligen. Nach dem Wiener Kongress 1814/15 wurde die Neutralität der Schweiz allerdings ein auch in Krisenfällen von allen Krieg führenden Parteien anerkanntes Recht. Man sieht also eine Parallelentwicklung: Während die Reisläufer den Ruf der Schweizer als unverzichtbare Kämpfer in Europa verbreiteten, setzte die Eidgenossenschaft auf ein Heraushalten aus europäischen Konflikten. Wie wäre dies nun mit Waelders Interpretation der Freud’schen Thesen in Einklang zu bringen? Ist eine Entscheidung über Verhalten und Charakteristika der Schweizer überhaupt nötig? Oder kann man sich der Frage auch über ein dialektisches Verstehen nähern? Die Reisläufer sind in puncto Kriegskunst ein Erfolgsmodell gewesen, und dies über einen relativ langen Zeitraum. Das hat, folgt man den Thesen Lievens, Spuren hinterlassen. Das Überleben der Schweiz in der Auseinandersetzung mit den Großmächten konnten die Reisläufer aber nicht sichern, hier musste ein anderes Verhalten an den Tag gelegt werden, um das Ziel – überleben bei gleichzeitiger Sicherung der Unabhängigkeit – zu erreichen. Dies konnte militärisch und politisch nur die Neutralität sein. Waelder und Lieven sprechen von einem sich durchsetzenden Erfolgsmodell, das weitergegeben wird und seine Spuren im Verhalten und Charakter der Schweizer hinterlässt. Die hier als Analyseinstrument verwendeten Theorien Lievens und die Psychohistorie lassen sich zweifellos als methodisches Konzept anwenden, wenn man eine Antwort auf die Frage nach dem Verhalten und dem Charakter von Gruppen, Nationen, Staaten sucht. Gleichzeitig ist aber auch deutlich geworden, dass dies ein komplexes, nicht monokausales und monoteleologisches Verfahren ist. Der Erkenntnisgewinn für die Aktive Kulturkontinuität liegt, um ein Zwischenfazit zu ziehen, in dem Umstand, dass Verhalten und Charakter von Gruppen stark vermittelbar ist, daher einen Lehr- und Lernprozess voraussetzt. Um aber zu einem abschließenden Fazit zu kommen, muss noch ein erst in neuester Zeit wieder in den Blick der Forscher gerückter Umstand berücksichtigt werden, der eine schon fast vergessene, jetzt aber wieder hochaktuelle, wenn auch leicht veränderte Theorie erneut zur Sprache bringt, den sogenannten Lamarckismus.

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Epigenetik Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), ein französischer Biologe, hatte noch vor Charles Darwin eine Theorie zur Evolution und Vererbung beschrieben. Viele seiner Ideen sind relativ schnell in Vergessenheit geraten, da sie den Erkenntnissen der modernen Biologieforschung nicht standhielten, eine seiner Vorstellungen konnte sich aber länger halten, nämlich die, dass Lebewesen ihre erworbenen Eigenschaften auf ihre Nachkommen innerhalb einer Generation übertragen, d. h. vererben. Diesen Teil der Theorie von Lamarck meint man, wenn heute von Lamarckismus gesprochen wird. Doch auch diese Theorie musste den sich durchsetzenden Vorstellungen der Genetik weichen, und bis vor wenigen Jahren galt der Lamarckismus höchstens noch als Teil der Wissenschaftsgeschichte. Man war überzeugt, dass Vererbung in einem äußerst langen Prozess verläuft, dass die Gene sehr stabil sind und sich nicht innerhalb einer Generation ändern können. Daher sind Vorstellungen über Verhalten und Charakter einer Gruppe, die über einen sehr langen Zeitraum zusammenlebt, akzeptiert worden, auch wenn Ideen eines „Volkscharakters“ oder einer „Volksmentalität“ gerade nach 1945 im Geruch rassistischer Ideologien standen. Zur großen Überraschung der Wissenschaftswelt der Biologie fand u. a. der kanadische Biologie Moshe Szyf aber ein Phänomen, das den Lamarckismus wieder in das Blickfeld der Biologen und Biologinnen rücken wird, das aber auch für die Aktive Kulturkontinuität eine verifizierende Rolle spielt. Was haben Szyf und seine Kollegen und Kolleginnen entdeckt? Sie untersuchten Hirne von Menschen, die Suizid verübt hatten und die dazu noch eine Vorgeschichte im Bereich Kindesmissbrauch oder schwerer Vernachlässigung aufwiesen. Die Kontrollgruppe bestand aus Unfallopfern, die keine solche Vorgeschichte hatten.77 Die Forscher fanden heraus, dass bei den Suizidopfern ein für die Arbeit des Hippocampus wichtiges Gen nicht funktionierte. Das Gen war zwar vorhanden und auch in der Grundstruktur nicht verändert oder beschädigt, aber es war „ausgeschaltet“. Dass es einen Vorgang wie das Ausschalten von Genen überhaupt gibt, war bisher nicht bekannt. Dieses Ausschalten erfolgt durch die Methylierung, bei der Zellen die Aktivität bestimmter Gene verändern. Diese das Gen bestimmenden Zellen heißen Epigenome, der sich daraus entwickelnde Zweig der Biologie daher Epigenetik. Schon vor dieser Untersuchung war die Epigenetik auf dem Feld der Krebsbekämpfung aktiv 77 Vgl. Moshe Szyf, Patrick O. McGowan et al.: Promoter-wide hypermethylation of the Ribosomal RNA Gene Promoter in the Suicide Brain, in: PLoS ONE 3 (5): e2085 doi:10.1371/journal.pone.0002085.

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geworden. „It is now clear that Cancer is an epigenitic disease. In must tumors the DNAS methylation pattern is defective. Vast regions of the genome lose their methylation while specific regions are heavily methylated“, schreibt Szyf auf seiner Website der McGill-Universität.78 Damit rücken auch neue Therapieansätze in den Bereich des Möglichen, denn wenn es gelingt, die methylierten Gene, die für den Schutz der Zellen verantwortlich sind und damit Tumorbildungen verhindern, ausfindig zu machen, könnte man diese auch gezielt wieder „einschalten“. Doch die Erkenntnisse der Epigenetik gehen noch einen Schritt weiter, als nur ein neues Feld der Genetik zu eröffnen. Die Ergebnisse aus der Studie über Suizid-Gehirne verweisen auf drei Punkte, die schließlich auch das Untersuchungsfeld der vorliegenden Arbeit betreffen. Die epigenetische Reaktion auf das Missbrauchstrauma als Kind ist die eine Erkenntnis, der zweite Punkt betrifft die Frage, ob dieses ausgeschaltete Gen weitervererbt wird, der dritte, welche Einflüsse ein Gen epigenetisch verändern können. Es scheint deutlich zu werden, dass ein bestimmtes Verhalten der Elterngeneration vor der Geburt des Kindes einen Einfluss auf Phänotyp und Anfälligkeit für Krankheiten haben könnte.79 So gibt es erste Hinweise, dass Söhne, deren Väter älter als 40 Jahre sind, überdurchschnittlich häufig Autisten sind. Doch die Epigenetik scheint auch auf die folgende Enkelgeneration zu wirken, denn es existiert z. B. die These, dass Enkelkinder von Frauen, die in der Schwangerschaft unterernährt waren, mit einem geringeren Geburtsgewicht zur Welt kommen.80 Auch wenn diese Folgerungen vielleicht auf den ersten Blick etwas abwegig erscheinen, steht doch fest, dass die Methylierung durch chemische Einflüsse verändert werden kann.81 Darunter können eben auch Faktoren wie Unterernährung und starker Tabakkonsum verstanden werden und nicht nur das Verabreichen einer chemischen Substanz. Aber wirken auch andere Einflüsse epigenetisch?82 Moshe Szyf vertritt die These, dass neben den Umwelteinflüssen, zu denen auch die Ernährung gehört, ebenso die Einflüsse der sozialen Umgebung in den epigenetisch wirksamen Bereich fallen. Daraus leitet er die, 78 www.medicine.mcgill.ca/pharma/mszyflab (Zugriff: 22.10.2008). 79 Vgl. Patrick O. McGowan et al.: Diet and the epigenetic (re)programming of phenotypic differences in behaviour, in: Brain Research 1237, 2008, S. 21 und Moshe Szyf et al.: The Social Environment and the Epigenome, in: Environmental and Molecular Mutagenesis, 49, 2008, S. 46–60, hier S. 56. 80 Vgl. Jörg Blech: Bruch des bösen Zaubers, in: Der Spiegel, Nr. 32/2008, S. 111. 81 Vgl. Matthew D. Anway et al.: Epigenetic Transgenerational Actions of Endocrine Disruptors and male Fertility, in: Science, 308, 3.6.2005, S. 1466. 82 Vgl. Szyf et al., 2008, S. 46.

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wie er selbst sagt, „provocative idea“ ab, dass „the social environment could influence the physical state of modification of the genome.“83 Und diese epigenetischen Veränderungen wären dann auch wieder vererbbar. Dies würde bei der Grundlagenuntersuchung von Moshe Szyf bedeuten, dass dann, wenn die untersuchten Menschen nicht ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt, sondern Kinder gehabt hätten, das ausgeschaltete Gen weitervererbt worden wäre.84 In seinem Aufsatz über den Einfluss der sozialen Umgebung führt Szyf eine Studie mit Ratten an, an denen epigenetische Veränderungen in Bezug auf das Verhalten in Stresssituationen untersucht wurden. Wurde den jungen Ratten eine besondere Fürsorge, eine „maternal care“ (i. e. „licking and grooming“) angediehen, wobei dies noch nicht einmal durch die leiblich Mutter geschehen musste, sondern auch durch eine „fostering mother“ geschehen konnte, waren sie deutlich stressresistenter als eine Vergleichsgruppe ohne diese besondere Fürsorge. Dies führt Szyf zu folgender Erkenntnis: „Epigenetic programming by maternal care is an example of how epigentic programming of the offspring is triggered by maternal behaviour, or how the epigenetic program of one subject is affected by the behaviour of another subject.“85 Und er geht noch weiter: „If environmental exposures could alter the epigenetic information in a heritable fashion then it could serve as a mechanism for environmental directed evolution.“86 Und das heißt nichts anderes, als dass Lamarck in seiner Kernthese recht hatte. Epigenetische Veränderungen, also das Ausschalten bestimmter Gene, haben im Übrigen einen großen Vorteil gegenüber den genetisch bedingten Krankheiten, sie sind umkehrbar. Es ist allerdings unklar und bedarf daher noch weiterer Forschung, inwieweit dies in hoher Frequenz passieren kann. Im Moment sprechen die Forschungsergebnisse eher dafür, dass epigenetische Veränderungen recht stabil sind und das Gen nicht in einen unsteten On/off-Zustand versetzen.87 Die Epigenetik stellt aber auch noch eine Verbindung zum Thema Erinnerung her. In einer bereits 2007 erschienenen Studie stellten Courtney Miller und David Sweatt fest: „DNA methylation does in fact play an important role in learning and memory.“88 Allerdings sei dies nicht im Bereich der Erin83 Szyf et al., 2008, S. 52. 84 In der Untersuchung wird über die Biografie der Menschen nichts weiter gesagt, daher ist die Annahme, sie hätten keine Kinder gehabt, rein hypothetisch. 85 Szyf et al., 2008, S. 52. 86 Szyf et al., 2008, S. 56. 87 Szyf et al., 2008, S. 49. 88 Courtney A. Miller and J. David Sweatt: Covalent Modification of DNA Regulates Memory Formation, in: Neuron, 53, 15.3.2007, S. 857–869, hier S. 863.

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nerungslagerung („memory storage“), sondern bei der Erinnerungsfestigung („memory consolidation“) der Fall.89 Die Epigenetik, so sie sich denn in den hier vorgezeichnete Bahnen weiterentwickelt und ihre Thesen bestätigt, schafft einen neuen Blick auf die Genetik.90 Bisher war man davon überzeugt, dass sich Gene höchstens noch in der Schwangerschaft verändern und dann für den Rest des Lebens stabil bleiben. Dies müsste revidiert werden, denn die Methylierung zeigt, dass ein Einfluss auf die Gene des Menschen auch noch nach der Schwangerschaft möglich ist, wobei die Einflüsse nicht nur chemischer Natur sein müssen, sondern auch aus dem sozialen Umfeld der Person kommen können. Was bedeutet das für die Aktive Kulturkontinuität? Zunächst muss von dem rein genetisch angelegten Verhalten eines Menschen und damit einer Gruppe Abstand genommen werden. Gleichzeitig wird der Akt der Vermittlung wieder besonders wichtig, denn schon das Schaffen eines angenehmen Umfeldes kann eine Veränderung hervorrufen, die dann nicht nur auf den Menschen selbst einwirken, sondern auch epigenetisch weitergegeben werden kann. Damit bekommt der Vermittlungsakt eine noch größere Wichtigkeit. Aktive Kulturkontinuität ist der Schlüssel zur Weitergabe von Wissen und damit auch von Wissen über Kultur. Dieses Wissen wird dem Individuum in einem aktiven Prozess vermittelt. Aktive Kulturkontinuität geht also davon aus, dass das Individuum nicht von einem kollektiven oder kulturellen Gedächtnis bestimmt wird, sondern von dem individuell Vermittelten und Erlebten. Das Verstehen einer Gesellschaft kann also nur über die Analyse der Lebenswelt der Individuen und der Kulturkontinuität des Individuums geschehen.

Das Pack und die Aktive Kulturkontinuität Können die Aktive Kulturkontinuität und das besondere Faktum der Vermittlung anhand der Geschichte des Packs überprüft werden? Zur Verfügung stehen dafür zwei Dokumente, zum einen das Packbuch, in dem die Mitglieder des Packs in kurzen Sequenzen (sie reichen von einer halben Seite bis zu fünf Seiten Länge) ihre Biografie erzählen, zum anderen die Lebenserinnerungen von Walter U., der 1992 eine 64 Seiten umfassende Autobiografie ver89 Miller/Sweatt, 2007, S. 863. 90 Die 2009 erschienene Studie des Neurobiologen und Wissenschaftsjournalisten Peter Spork bestätigt die angeführten Thesen. Vgl. Peter Spork: Der zweite Code. Epigenetik – oder Wie wir unser Erbgut steuern können, Reinbek 2009.

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fasst hat, die er aber nicht veröffentlicht, sondern seinen Söhnen übergeben hat.91 Obwohl beide Quellen in den Bereich der Selbstzeugnisse fallen, stellt ein quellenkritischer Blick doch starke Unterscheide fest, die wichtig werden bei der Beantwortung der Frage, inwieweit diese Quellen hilfreich sein können für eine Überprüfung des Konzepts der Aktiven Kulturkontinuität. Das Packbuch wurde in dem Bewusstsein verfasst, die eigene Geschichte weiterzugeben „für unsere Nachkommen und vielleicht auch für andere festzuhalten, was unsere Gemeinschaft von zwei Dutzend Männern und ihren Familien war, was sie erlebten und was sie geworden sind.“92 Es ist deutlich, dass damit nicht nur ein Text für den internen Gebrauch verfasst werden sollte, sondern dass man sich durchaus bewusst war, dieser Text könne auch von Außenstehenden gelesen werden. Daher wurde ein Redaktionsausschuss gebildet, der sich um die Texte kümmerte und, nach Aussage von Juliette B., auch lektorierend eingriff. Der Text wurde vervielfältigt und den Packmitgliedern sowie ihren Nachkommen zugestellt. Dies hätte einen immer noch sehr eingeschränkten Leserkreis bedeutet, aber ein Exemplar wurde auch der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) übergeben, ist daher für alle Interessierten frei zugänglich. Ein zweiter Punkt, der besonders den Bereich der Aktiven Kulturkontinuität betrifft, ist der relativ geringe Raum, den die Autorinnen und Autoren zur Verfügung hatten. Sie sollten über ihre Geschichte in Verbindung mit dem Pack berichten; dabei waren tiefer gehende Beschreibungen kaum möglich, aber auch nicht das Ziel. Walter U. hingegen hat seine Lebenserinnerungen nur für seine Söhne verfasst, nicht an eine Veröffentlichung gedacht und sich viel Raum genommen, um über sein Leben zu reflektieren. So ist denn diese Autobiografie weniger ein Erlebnisbericht als vielmehr eine eindrückliche Schilderung, wie Walter U. in den verschiedenen Lebensphasen mit sich umgegangen ist, wie er in diesen Phasen empfunden hat und was er zum Zeitpunkt des Schreibens darüber gedacht hat. Walter U. ist in diesem Text nicht darauf aus, einen „guten Eindruck“ zu hinterlassen, sondern schildert auch die Probleme schonungslos, schreckt dabei nicht davor zurück, sein Erkranken an Depressionen freimütig zu erzählen. Walter U.s Lebenserinnerungen erfüllen damit mehr als das Packbuch die Kriterien, die an ein Ego-Dokument gestellt werden, denn dies umfasst all jene Dokumente, „in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst

91 An dieser Stelle sei Walter U.s Söhnen herzlich dafür gedankt, dass sie mir dieses Erinnerungsstück für die wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung gestellt haben. 92 Packbuch, S. 3.

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gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig […] oder durch andere Umstände bedingt geschieht.“93 Es ist deutlich, dass die beiden Quellen für die Aktive Kulturkontinuität möglicherweise einen unterschiedlichen Wert haben. Im Packbuch gibt es zwei kurze Stellen, die auf den Vermittlungsprozess der Aktiven Kulturkontinuität hinweisen. Colette G. erzählt über ihre Familie väterlicherseits, es sei dort „Tradition, dass zur Berufsarbeit auch jüdische Aktivität gehörte“.94 Sie schildert dann, wie ihr Vater diese Tradition umgesetzt habe, indem er zwar als Leiter einer Leinenfabrik in Bern sehr beschäftigt, aber über viele Jahre Synagogenpräsident und Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde Bern gewesen sei. Hier wird zumindest kurz angedeutet, wie Familientraditionen weiter vermittelt werden und sich eine Kontinuität herausbildet, die aber nur dann existieren kann, wenn sie, wie es Colette G. schildert, weiter vermittelt wird. Während diese Vermittlung monokausal-linear verläuft, ist das zweite Beispiel auf verschiedenen Ebenen komplizierter. Sigi R. schildert zu Beginn seiner Biografie ein Erlebnis aus der vierten Klasse. Die Hohen Feiertage fielen in diesem Jahr auf normale Schultage, an denen die jüdischen Schüler zwar die Schule besuchten, aber nicht schrieben. Der Lehrer machte daraufhin, wie Sigi R. berichtet, einige „von mir als antijüdisch empfundene Bemerkungen.“95 Zwar hat sich dies nicht wiederholt, es waren „einmalige Ausrutscher“,96 Sigi R. schreibt allerdings nicht, ob es Proteste oder Ähnliches gegen die Bemerkungen gab, wobei dies vonseiten eines Schülers um die Mitte der 1920er-Jahre auch eher ungewöhnlich gewesen wäre.97 Dass dieses Erlebnis Sigi  R. im Gedächtnis haften geblieben war, hatte jedoch noch einen anderen Grund. Er schreibt über den Lehrer: „[…] ich achtete ihn sehr, weckte er in mir doch auch das Verständnis für Demokratie und deren Funktionieren.“98 Vermittlung im Sinne der Aktiven Kulturkontinuität ist also, folgt man dem Beispiel von Sigi R., bei der Vermittlerrolle nicht immer nur auf jemand angewiesen, der der 93 Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokument“, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 21. Diese auf Jakob Presser zurückgehende Definition habe ich gewählt, da sie im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung am zutreffendsten ist. 94 Packbuch, S. 16. 95 Packbuch, S. 64. 96 Packbuch, S. 64. 97 Sigi R. wurde 1913 geboren, die vierte Klasse hat er also wahrscheinlich 1922/23 besucht. 98 Packbuch, S. 64.

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Person grundsätzlich nahesteht, vielleicht zum Familien- oder Freundeskreis gehört. Es kann auch eine Person sein, die eigentlich außerhalb des akzeptierten eigenen Horizonts sich bewegt, wobei sie immer noch zur Lebenswelt der lernenden Person gehört. Lehrkräfte sind Teil des engen Umfelds der Lebenswelt eines Schülers, aber nicht zwingend auch akzeptierte Vermittler einer Kulturkontinuität. Im Falle des Lehrers von Sigi R. ist dies so gewesen; Sigi R. konnte offensichtlich zwar die antijüdischen Bemerkungen nicht einfach abtun und vergessen, sie waren stark mit negativen Emotionen behaftet, er konnte aber gleichzeitig auch die für ihn wichtige Vermittlung annehmen. Sigi R. schildert in seiner Biographie darüber hinaus einen Fall, bei dem er mit einer Person konfrontiert wurde, die ihn als Juden stigmatisierte, dieses Verhalten aber im Laufe der Zeit veränderte. Während seiner Aktivdienstzeit (1943 oder 1944) musste er auch am Dreiländereck Wachdienst tun. Eines Tages kam er vom Wachdienst zurück, suchte einen Sitzplatz in der Wachstube, es war aber nur noch ein Platz neben dem Hauptmann frei, der zu ihm sagte: „(R.), ich bin zwar kein Judefründ, aber gäge Sie hani nüt. Sie chönned ruhig näbe mir sitze.“99 Auch dieser Vorfall, wie die Bemerkungen des Lehrers, selbst wenn diese nicht wörtlich übermittelt sind, kommt aus einer latenten antisemitischen Haltung heraus, im Falle des Hauptmanns fast schon klassisch mit dem Motiv: „Ich kenne einen Juden, der ist anders als die anderen Juden.“ In den achtziger Jahren hat Sigi R. diesen Hauptmann bei einem Truppentreffen wiedergesehen und ihn auf den Vorfall angesprochen, woran dieser sich auch noch erinnern konnte und meinte: „Aber ich bin nümen-eso.“100 Sigi R. hat dies ebenfalls so gesehen, eine Rolle als aktiver Vermittler des Antisemitismus in einer Kulturkontinuität hat er diesem Hauptmann nicht zugestanden. Wie bereits angedeutet, hat die Struktur und Zielsetzung des Packbuches nur wenig Raum gelassen, um intensiver den Formen einer Aktiven Kulturkontinuität nachzuspüren. Dies funktioniert aber in den Lebenserinnerungen von Walter U. dafür umso besser. Einige Beispiele möchte ich herausgreifen, um das Konzept zu verdeutlichen. Walter U. hatte einen vier Jahre älteren Bruder, der an Rachitis erkrankt war, einer Krankheit, die starke Auswirkungen auf das Wachstum der Knochen hat. Felix U. musste verschiedene Schienen tragen, dazu ein Korsett, was mit dazu beitrug, dass er sich nur mühevoll bewegen konnte. Im Denken des beginnenden 20. Jahrhunderts galt Felix U. als „Krüppel“. Walter U. allerdings erfuhr in seiner Familie eine ganz andere Art des Umgangs mit seinem Bruder, da gab es keine Ausgrenzung in Rede und 99 Packbuch, S. 67. 100 Packbuch, S. 67.

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die Tat, sondern ein selbstverständliches Einbinden des Bruders in das Familienleben, mehr noch, das Familienleben wurde sehr auf die Möglichkeiten des Bruders zugeschnitten, sodass Walter U. nicht nur sehr viel mit seinem Bruder unternahm – unter anderem hatten sie ein zweisitziges, armbetriebenes Vierrad, mit dem sie zusammen herumfahren konnten –, sondern mit ihm auch streiten konnte, d. h., Felix wurde nicht „geschützt“ behandelt. Die enge Beziehung zu seinem Bruder, der trotz aller negativen Voraussagen die Schule beendete, als Buchhalter arbeitete und 60 Jahre alt wurde, hat Walter U. stark beeinflusst. Er selbst beschreibt es so: „[…] es gibt jemand, auf den ich Rücksicht nehmen muss, der auf meine Hilfe angewiesen ist.“101 Kann sich aus dieser Einsicht eine Form der Kulturtradition entwickeln? Oder ist dies bereits eine an Walter U. aktiv vermittelte Kulturtradition? Walter U. hat von seinen Eltern und im Umgang mit seinem Bruder nicht nur die Einsicht vermittelt bekommen, dass jemand auf seine Hilfe angewiesen war, sondern vor allem den respektvollen Umgang miteinander, die Auseinandersetzung mit einer schwierigen Situation und das Suchen nach Lösungen, die sich von sonst im Umfeld beobachteten und vielleicht auch bekannten Mustern unterscheiden. Das weitere Schicksal der Familie zwingt die Brüder, genau dies zu tun. 1922 stirbt der Vater an einem Herzinfarkt, knapp ein Jahr später nimmt sich die Mutter das Leben. Sie war früh an manischen Depressionen erkrankt und hatte den Tod ihres Ehemannes nicht verkraftet. Die weitere Familie fängt die beiden Brüder auf, eine Tante aus Bayern zieht nach Zürich, um für die beiden zu sorgen. Dieses Füreinander-Einstehen, diesen Respekt innerhalb der Familie hat Walter U., wie seinen Lebenserinnerungen an vielen Stellen zu entnehmen ist, „verinnerlicht“. Er hat diese Kulturtradition aber nicht nur verinnerlicht und als wichtigen Teil seiner Jugend genannt, er hat dies auch weitervermittelt. Zunächst im Umgang mit seiner Frau Lily, die er über eine Heiratsannonce kennengelernt hatte. Die „Abmachungen“, die beide trafen, erinnern stark an den Umgang, den Walter U. im eigenen Elternhaus erfahren hatte: „Dass Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau herrschte, war für uns selbstverständlich.“102 Und auch der weitere Umgang bestätigt diesen Eindruck: „Streit kannten Lily und ich nicht. Wir hatten uns, als wir heirateten, versprochen, uns jeden Abend mit einem Kuss ‚gute Nacht‘ zu wünschen, 101 Walter U., Rückblick, S. 5. Die Tippfehler in der maschinenschriftlichen Fassung werden in den Zitaten nicht korrigiert. Ebenso weise ich in diesem Teil über Walter  U., der sich auf seine Lebenserinnerungen stützt, nur wörtliche Zitate nach. 102 Walter U., Rückblick, S. 35.

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denn Differenzen, die sich über Nacht verhärten, sind am nächsten Tag schon schwieriger zu lösen. Anderer Meinung durfte man selbstverständlich sein.“103 Der in der elterlichen Umgebung vermittelte Umgang, den er bei seiner Frau bestätigt und geteilt fand, übertrug Walter U. auch auf seine Söhne. Dies meint nicht, dass er versuchte, die sich seinen Schilderungen zufolge unterschiedlich entwickelnden Söhne in ihren Handlungen und Entscheidungen über einen Kamm zu scheren, aber Lily und Walter U. ließen beide Kinder eine eigene Streit- und Streitlösungskultur entwickeln, förderten dabei auch den Zusammenhalt der Brüder. „Wir suchten uns nach Möglichkeit nicht einzumischen und sagten ihnen: ‚Wir können euch nicht alle Steine aus dem Weg räumen; ihr müsst das selbst tun und miteinander auskommen.‘ Schiedsrichter wollten wir nicht gerne spielen […].“104 Als die Söhne erwachsen werden, d. h. das 20. Lebensjahr erreichen und der Ablösungsprozess vom Elternhaus beginnt, ein Prozess, den Walter  U. selbst nicht mitgemacht hat, finden sich Walter und Lily U. in einer unbekannten Situation wieder. Folgt man den Ausführungen von Jürgen Habermas zur Theorie des kommunikativen Handelns und seiner Definition des Lebensweltkonzepts, gibt es in der „kommunikativen Alltagspraxis“ allerdings keine unbekannten Situationen: „Auch neue Situationen tauchen aus einer Lebenswelt auf, die aus einem immer schon vertrauten kulturellen Wissensvorrat aufgebaut ist.“105 Habermas scheint hier ein sehr enges, streng konservatives Kommunikationsmodell vorzustellen, dem zufolge keine wirklichen Neuerungen, weder im situativen noch im Lösungsbereich, möglich sind. Doch wäre dies eine zu eng geführte Definition, die damit eine Vermittlung im Rahmen der Aktiven Kulturkontinuität unmöglich machen würde. Viel eher ist Habermas’ These so zu verstehen, dass es eine Basis des kommunikativen Handelns gibt, dessen Medium die Sprache ist.106 Aber man kann dies noch grundlegender betrachten, denn letztendlich ist jede Handlung im kommunikativen Bereich auf der Basis menschlicher Kommunikation aufgebaut. Was sich unterscheidet, sind die Ausführungen, aber nicht die Grundlagen. Daher sind technische Errungenschaften zwar immer eine „Neuerung“, aber nicht eine grundlegende Änderung der Basis kommunikativen Handelns.

103 Walter U., Rückblick, S. 38. 104 Walter U., Rückblick, S. 37. 105 Beide Zitate aus Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/Main 1995, S. 191. 106 Vgl. Habermas, 1995, S. 191.

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Wie fügt sich die Aktive Kulturkontinuität in diese Handlungsvorstellung ein? Die Vermittlung, also die Aktive Kulturkontinuität, ermöglicht das Handeln in Situationen, die entweder als wiederkehrend oder als neu erlebt werden. Die Wahrnehmung einer Situation als „wiederkehrend“ oder „neu“ hängt stark vom Standpunkt des Betrachters ab. Daher ist der auf Heraklits Aussage, man könne niemals zweimal in denselben Fluss steigen, zurückgehende Satz „Panta rhei“ (alles fließt) ebenso falsch wie Kohelet 1.9: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Heraklits auf zwei Worte reduzierte Aussage würde, konsequent weitergedacht, die völlige Erfahrungslosigkeit bedeuten, was nicht nur philosophisch, sondern auch nach den Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaft und der Gedächtnisforschung dem Menschen das Leben unmöglich machen würde. Andernfalls müsste, bleibt man bei Heraklits Beispiel, der Mensch bei jedem Steigen in einen Fluss das Schwimmen neu erlernen, was er dann aber auch nur für einen Schwimmzug könnte, dann müsste er es wieder neu erlernen. Der Vers aus Kohelet, der sehr oft zitiert und dabei auch noch Rabbi Akiba in den Mund gelegt wird, findet in 1.11 noch eine Fortsetzung: „Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die erst noch kommen werden.“ Damit spielt der Satz weniger darauf an, dass alles schon einmal dagewesen wäre, als vielmehr auf die Vorstellung im Judentum, dass Babys vor der Geburt die ganze Thora kennen, dann aber einen Klaps auf den Mund bekommen und damit alles vergessen, sozusagen „Tabula rasa“ auf die Welt kommen. Walter und Lily U. stehen also vor einer für sie zwar aus eigener Erfahrung unbekannten Situation, agieren aber im Sinne der von ihnen als vermittelbar empfundenen Kulturkontinuität. Sie lassen beiden Söhnen große Freiheiten, wie sie vor allem Walter U. und sein Bruder nach dem Tod der Eltern gehabt haben, stehen ihnen aber auch zur Seite wie jene Tante, die die Gebrüder U. nach dem Tod der Eltern in Zürich betreut hat. Zwar gibt es mit dem älteren Sohn, Arieh U., starke Meinungsverschiedenheiten, die zeitweise auch zu einem Schweigen innerhalb der Familie führen, aber Walter und Lily U. geben Arieh auch nach einer heftigen Auseinandersetzung immer wieder die Möglichkeit, seinen Weg zu gehen, dabei aber auch auf sie zurückzugreifen. Zunächst funktioniert dies nicht, erst nach einem weiteren großen Streit, an dessen Ende beide Seiten (Eltern und Sohn) vom Streit zurücktreten und deeskalierend handeln, findet Arieh den Weg in einen Beruf und den Weg zu seinen Eltern zurück. Der jüngere Bruder, Raffi U., stellte vor allem Walter U. vor ein Problem, das dieser aus seinem Umgang mit seinem Bruder Felix nicht gekannt hatte, denn Raffi U. litt ein wenig unter seinem älteren Bruder, da diesem sehr viele

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Dinge leichter fielen, Raffi hingegen sehr viel härter arbeiten musste. Walter U. war selber ein „jüngerer Bruder“, hatte aber nie ein Unterlegenheitsgefühl gespürt. Es scheint Felix gelungen zu sein, die schwierige Situation des älteren Bruders, der dazu noch besonderer Betreuung bedurfte, nie zu einem Thema zu machen, das zwischen den Brüdern stand. Raffi U. hatte eine „ziemlich unglückliche Schulzeit“107, die dazu noch von antisemitischen Erlebnissen überschattet war. Als er das Elternhaus verließ, äußerte vor allem Lily U. Kritik an der Lebensführung ihres jüngeren Sohnes, was diesen veranlasste, nicht mehr nach Hause zu kommen. Auch hier griff Walter U. ganz im Sinne „seiner“ Kulturkontinuität ein. Er machte sich auf, um mit dem Sohn ein persönliches Gespräch zu führen, aber nicht, um ihm sein Fehlverhalten vorzuhalten, sondern um ihn zu bitten, zumindest an den Freitagabenden (zum Kabbalat Schabbat) nach Hause zu kommen. Walter U. hatte Erfolg, auch Raffi U. fand wieder den Weg zu seinen Eltern. Doch es ist in den Lebenserinnerungen nicht nur der Umgang mit den Söhnen, der auf eine Aktive Kulturkontinuität schließen lässt. Drei weitere Themenbereiche können hierfür noch herangezogen werden: das Lernen, der Umgang mit „Vorbildern“ und die Religion. Walter  U. war ein begabter Schüler, durchlief die Schule ohne größere Probleme. Zwar störte es ihn, wenn er in der Schule vor der ganzen Klasse als Klassenbester gelobt wurde: „Ich freute mich auch nicht besonders darüber, denn ich galt in der Klasse als ‚Schanzknochen‘, was absolut nicht der Fall war.“108 Eindrücklicher als die guten schulischen Leistungen waren aber für Walter U. das Erleben, dass Lernen „etwas Schönes, Interessantes“109 sein konnte, wobei dies ihm von einem Grundschullehrer, aber auch zu Hause vor allem von seiner Mutter vermittelt wurde. Die Vermittlung einer humanistischen Bildung, anders kann man die Beschreibungen der Aktivitäten der Familie mit den Kindern nicht deuten, hatte großen Einfluss auf Walter U., im übertragenen Sinne lernte er die Welt kennen und machte sich später auf, diese real zu entdecken. Mutter U. hatte ihren Söhnen also eine Kulturkontinuität vermittelt, die zwar für den Bildungskanon des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als „klassisch“ gelten kann, aber trotzdem den Söhnen aktiv nähergebracht werden musste.

107 Walter U., Rückblick, S. 48. 108 Walter U., Rückblick, S. 6. „Schanzknochen“ meint in der Rekrutensprache einen Klappspaten, Walter U. versteht dies hier aber eher als Streber. 109 Walter U., Rückblick, S. 6.

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Dass Einzelpersönlichkeiten, die als „Vorbilder“ gewählt werden, stark auf das Leben eines Menschen einwirken können, ist keine neue Erkenntnis, gewinnt aber im Licht der Aktiven Kulturkontinuität eine neue Bedeutung. Walter U. beschreibt in seinen Lebenserinnerungen zwei Beispiele, die ihn beeinflusst haben. In Amerika, das er als 21Jähriger bereiste, um das Land zu sehen, aber auch, um dort zu arbeiten, lebte er bei seiner Tante Elsa, der Schwester seiner Mutter, und Onkel Max. Sie führten in Chicago einen kleinen Betrieb, der Broderie-Waren herstellte. Walter U. kam in eine Familie, die ihn sehr an die eigene erinnerte, in der für ihn aber Onkel Max die wichtigste Person wurde: „Für mich war er ein Vorbild, einer der wenigen, die einem im Leben begegnen und dem Denken eine andere Richtung geben. Er hat bestimmt meine Weltanschauung beeinflusst.“110 Doch eine Vorbildfunktion hatte auch schon früher ein Onkel, der in den Lebenserinnerungen leider namenlos bleibt, noch in Zürich übernommen, von dem Walter U. etwas über Streiten und Versöhnen lernte: „Eine Kindheitserinnerung: ich hatte einen Onkel, der sagte: ‚Wenn ich mit jemand Streit hatte, ging ich am nächsten Tag zu ihm und sagte: ‚Einmal müssen wir doch wieder gut werden, – tun wir das gerade jetzt.‘ Das hatte ich mit 12/13 Jahren gehört, aber nie vergessen und mir zum Vorbild genommen.“111 Es wird deutlich, dass offensichtlich die Vermittlung, manchmal auch unbewusst, Kulturkontinuitäten aktiv weiterträgt. Es werden allerdings erst Kontinuitäten daraus, wenn Walter U. dies ebenfalls weitergibt. Sein Verhalten gegenüber seinen Söhnen und seiner Frau deutet aber darauf hin, dass er dies so getan hat – mit allen Konsequenzen, denn als seine Frau Lily schwer erkrankt, sagt ihm ein Psychiater: „Vielleicht habt ihr nie gelernt, miteinander zu streiten.“112 Geändert haben Walter und Lily U. ihr Verhalten aber nicht mehr. Der dritte Bereich, in dem die Aktive Kulturkontinuität sichtbar wird, betrifft die Religion. Kaum ein Bereich des menschlichen Lebens, des Lebens in Gesellschaften ist so kulturtraditionell gebunden wie der Umgang mit Religion. Doch ist „Religion“ hierfür eigentlich der falsche, weil zu ungenaue Ausdruck. Gemeint ist das Erlernen der Rituale, Kultusabläufe, Traditionen und der damit verbundenen Wert- und Handlungsvorstellungen – das persönliche Erleben einer Gottesvorstellung, das „ozeanische Gefühl“, wie es Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud nennt und was Freud nicht ohne intel110 Walter U., Rückblick, S. 18. 111 Walter U., Rückblick, S. 38. 112 Walter U., Rückblick, S. 54.

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lektuelle Spitze kommentiert.113 Formen Aktiver Kulturkontinuität haben dazu geführt, dass das „ozeanische Gefühl“, worunter auch „Erscheinungen“ und „Erweckungserlebnisse“ fallen können, von den menschlichen Gesellschaften in Verbindung mit einer Gottesvorstellung gebracht werden. In Zusammenhang mit Walter U.s Erleben der Religion soll aber nicht von den Gottesvorstellungen die Rede sein. Die Eltern von Walter U. kamen beide aus traditionellen Familien, wie er schreibt, aber aus verschiedenen Gründen wurde Walter U. von seinen Eltern nicht in das Judentum eingeführt, und er wurde auch nicht in einen jüdischen Religionsunterricht geschickt: „Zur Ausbildung eines jüdischen Kindes gehören sieben Jahre Religionsunterricht. Für meine Eltern war aber Klavierstunde und freie Zeit wichtiger, und ich besuchte den Unterricht nicht.“114 Nur von den „höchsten jüdischen Feiertagen und vielleicht noch Chanukka“115 bekam Walter U. etwas mit. Zwar schildert er seine Erfahrung als Kind einer jüdischen Familie nicht negativ, schreibt aber über das Selbsterkennen seines jüdisch Seins: „So waren es eigentlich nur gelegentlich antisemitische Bemerkungen, , die mir meinJudentum bewusst machten, aber die waren nie sehr tiefgehend, und sie hatten keine nachhaltige Wirkung.“116 Walter U. wurde Judentum nicht vermittelt. Trotz des Feierns der Hohen Feiertage wird keine nähere Verbindung aufgebaut. Zwar hatte er eine Bar-Mizwah-Zeremonie, doch konnte er nicht aus der Thora vorsingen („leinen“), da er sich, wie er schreibt, kurz vorher einer Mandeloperation unterziehen musste. An ein Bar-Mizwah-Fest „habe ich auch nicht den Schatten einer Erinnerung. Wahrscheinlich war meine Mutter krank, und es fand gar nicht statt.“117 In seinen Jugendjahren scheint es von seiner Seite auch kein Interesse gegeben zu haben, sich näher mit seinem Judentum, mit Judentum allgemein auseinanderzusetzen. Dies änderte sich erst mit seinem Eintritt in die „Kadimah“.118 Zu diesem Zeitpunkt lebten seine Eltern schon nicht mehr, er konnte also mit ihnen keine Auseinandersetzung mehr darüber führen, stellte aber in der Kadimah fest, dass er in diesem Bereich nicht nur wenig Kenntnisse besaß, sondern vor allem, dass ihn dies störte. Ohne den Eintritt in die Kadimah hätte Walter U. möglicherweise keinen näheren Kontakt zum Judentum bekommen. Aber Kulturkontinuität ist nicht an Eltern als Vermittler gebunden und auch nicht an das Alter, wie der Abschnitt über den Einfluss der „Vorbilder“ gezeigt 113 114 115 116 117 118

Vgl. Freud (1930), 1982. Walter U., Rückblick, S. 16. Walter U., Rückblick, S. 7. Walter verwendet selbst den Ausdruck „mitbekamen“. Walter U., Rückblick, S. 8. Walter U., Rückblick, S. 17. Zu Geschichte und Zweck der Kadimah vgl. Kapitel 3.

Das Pack und die Aktive Kulturkontinuität  |

hat. Aktive Kulturkontinuität ist an einen Vermittler gebunden, der oder die vom Lernenden als vertrauenswürdig beurteilt wird. Walter U. musste sich entscheiden: „Ich sagte mir, entweder gehe ich nicht mehr in die Synagoge (wo in hebräischer Sprache gebetet wird) oder ich will verstehen, was ich bete. So begann ich erst m Alter von 17/18 Jahren zu lernen: die hebräische Sprache, Geschichte, religiöse Schriften, inBüchern, Vorträgen, Kursen.“119 Es wird klar, dass auch eine Organisation wie die Kadimah in gewisser Weise die Rolle als Vermittler der Kulturkontinuität übernehmen kann, aber nur im übertragenen Sinne, denn Walter U. lernt dann von verschiedenen Personen, nicht einfach von einer anonymen Organisation, Sprache, Regeln und historisch-kulturelle Hintergründe des Judentums. Eine Kulturkontinuität konnte Walter U. aber nur herstellen, wenn er seine Beschäftigung mit dem Judentum, seinen Einstieg weitergab. An dem Umgang mit der Bar Mitzwa seiner Söhne macht er dies deutlich: „Ich erzählte aus meiner Jugend von der Nicht-Abhaltung meiner Bar Mitzwa-Feier. Das war nun bei ihnen ganz anders.“120 Beiden Söhnen werden nicht nur Bar Mitzwa in der Synagoge, sondern Walter und Lily U. richten für beide auch eine große Feier aus, nachdem sie sich monatelang auf das Vorbeten in der Synagoge vorbereitet hatten. Und Walter U. tut noch etwas, was für ihn und seinen Umgang mit den Söhnen typisch ist: „Vom religiösen Standpunkt aus und nach altem jüdischen Brauch Gesetz gilt der Junge nun als erwachsen. Ich sagte aber beiden an der Familienfeier, sie dürften weiterhin ‚Kind‘ sein…“121 Walter U.s „Rückblick“ ist, wie schon betont, ein Selbstzeugnis, also ein Text, der freiwillig und nicht mit der Absicht einer Veröffentlichung, eines Zugänglich-Machens außerhalb eines streng definierten Kreises verfasst wurde, ein Text, in dem er etwas von sich preisgibt. Er tut dies ungeschützt, versteckt sich nicht hinter vagen Formulierungen, sondern möchte seinen Söhnen sich selbst erklären, allerdings nicht aus Rechtfertigungsdruck, nicht aus Not oder zur Klärung von Missverständnissen. Die Arbeit an diesem Text hat gezeigt, wie eng seine Beziehung zu seinen Söhnen zum Zeitpunkt des Verfassens ist. Diese enge Beziehung und das Wissen, dass dieser Text nicht für ein größeres Publikum bestimmt war, machen aus diesem Dokument eine wertvolle Quelle, die besonders für den Bereich der Aktiven Kulturkontinuität wichtig ist. Gerade Selbstzeugnisse dieser Art können einen Blick auf Kulturkontinuitäten ermöglichen, aber nicht nur das, sondern vor allem auch auf die aktive 119 Walter U., Rückblick, S. 16. 120 Walter U., Rückblick, S. 40. 121 Walter U., Rückblick, S. 41.

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Vermittlung dieser Kontinuitäten. Das Packbuch ist ohne Zweifel ebenfalls eine wichtige Quelle im Bereich der Autobiografien, aber durch die mehrfache Bearbeitung, den Blick nach außen und die Kürze der Artikel bleibt es für die Aktive Kulturkontinuität hinter Walter U.s Text zurück. Walter U.s Beschreibung seines Lernens des Judentums und über das Judentum stellt explizit die Frage, ob Vermittlung von Kulturkontinuität immer einen Vermittler im Sinne einer Person braucht oder ob dies nicht auch durch medial aufgearbeitetes Material geschehen kann, worunter vor allem, Droysen und Bernheim folgend, die im Sinne einer „Tradition“ erstellten Quellen verstanden werden. Aktive Kulturkontinuität ist ein Phänomen der vermittelnden Kommunikation, da nur sie Kultur und Kontinuität verbinden, dabei aber die notwendige Forderung nach Innovation im bilateralen Austausch erfüllen kann. Selbstverständlich konnte Walter U., um ihn noch einmal als Beispiel heranzuziehen, sich „alles“ über die hebräische Sprache sowie Geschichte und Kultur des Judentums aus Büchern erarbeiten. Er hätte sich damit Wissen über einen Teil einer Kultur angeeignet, und dies ist ohne Zweifel ein wichtiger Punkt, denn, wie weiter oben am Beispiel der Bismarck-Türme gezeigt, ein Teil der Aktiven Kulturkontinuität ist die Weitergabe von Wissen. Es ist aber, um ein weiteres schon genanntes Beispiel mit einzubeziehen, ein Unterschied, ob ich „weiß“, dass man zwischen den Jahren keine Bettwäsche waschen soll, oder ob ich dies aktiv durchführe und als Kulturkontinuität weitergebe. Der analytische Zugang zu einer Kultur über das Aneignen von Wissen ist damit eine wichtige erste Stufe, wenn jemand nicht in einem Vermittlungsprozess gestanden hat oder steht. Diese Wissensaneignung kann das Vermitteln auch ergänzen, wobei die Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts hierfür eine ungeahnte Fülle an Möglichkeiten bietet. Dem Erlernen einer Kultur, dieser ersten Stufe, ist aber noch eine andere Stufe, eine andere Herangehensweise, zugeschaltet, die, um sie vom Erinnern abzugrenzen, das Erleben von Kulturkontinuität genannt werden soll. Dies konnte Walter U. nicht aus Büchern erfahren, dafür musste er sich selbst mit seinem Judentum auseinandersetzen, d. h. seine Kultur nicht nur lernen, sondern erleben und sie in sein individuelles Gedächtnis einbringen.

Auf nach Polynesien: Vermittlung und Thick Description Diesem Erleben versuchte Clifford Geertz sich mit seinem Konzept der „Thick description“ anzunähern, um damit das „Erleben“ auch der Wissenschaft zugänglich zu machen. Geertz kommt mit der Dichten Beschreibung dem Lebensweltkonzept schon sehr nahe, definiert er doch Kultur als Kontext,

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der „verständlich – nämlich dicht – beschreibbar“122 sei, und diese Beschreibung müsse man „aus der Sicht der Handelnden“123 vornehmen. Geertz ist sich aber bewusst, dass alle ethnologischen Schriften, auch diejenigen der „dichten Beschreibung“, Interpretationen sind. Eine höhere Stufe der Kulturüberlieferung ist nur durch direkt in der betreffenden Kultur lebende Menschen möglich, wie Geertz schreibt. „Nur ein „Eingeborener“ liefert Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur.“124 Diese Folgerung allerdings ist diskussionswürdig, da sie implizieren würde, dass „Eingeborene“ immer einen tieferen Einblick liefern können als Wissenschaftler. Gerade für die Geschichtswissenschaft ist die Frage nach den „Eingeborenen“ von eminenter Wichtigkeit, denn die Historiografie arbeitete bis vor nicht allzu langer Zeit zwar gerne und seit Rankes „Erfindung“ der Geschichte als Wissenschaft intensiv mit Schriftstücken, Akten und Urkunden, die von Beteiligten, also notabene Zeitzeugen, verfasst werden, misstraut aber jeder Form einer Oral History oder auch anderen Formen von Selbstzeugnissen fast schon reflexartig. Und gleichzeitig bleibt der Wissenschaftler, Geertz spricht für die Ethnologie, immer eine außenstehende Person, die auch bei einer „teilnehmenden Beobachtung“ nicht vergessen darf, dass sie eben nicht Teil der zu beobachtenden Gruppe ist, sondern immer mit ihrem speziellen Blick von außen schaut und analysiert.125 Das würde bedeuten, dass es einem „Fremden“ niemals gelingen kann, in einer Gruppe so heimisch zu werden, dass er nicht nur den Kulturkontext wie ein Einheimischer versteht, sondern diesen auch noch als Wissenschaftler erklären kann. Ein solcher Vorgang könnte nur einheimischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gelingen. Dies ist eine etwas schwierige Position, weil sie z. B. im Bereich der Jüdischen Studien die Meinung untermauern würde, dass Jüdische Studien nur von jüdischen Personen betrieben werden könnten,126 die Geschichte Chinas nur von Chinesen, die Geschichte Osteuropas nur von Osteuropäern, die Geschichte der hinduistischen Religion nur von Hindus. Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Doch zurück zur Frage nach dem „Eingeborenenwissen“ und der vermeintlichen Unfähigkeit oder Unmöglichkeit der Wissenschaft, Erkenntnisse zu gewinnen. So ambivalent diese Meinung ist, so verweist sie doch auf ein Manko der Wissenschaft, vielleicht nie zu wissen, wie es gewesen – nicht 122 123 124 125 126

Geertz, 1987, S. 21. Geertz, 1987, S. 22. Geertz, 1987, S. 23 [kursiv i. O.]. Vgl. Geertz, 1987, S. 29, Fußnote 4. Die Erfahrungen in diesem Bereich bei der Gründung und Konsolidierung des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Basel sprechen Bände.

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weil dies ein Topos moderner Geschichtswissenschaft wäre, sondern weil man nicht dabei war. Am 29. April 1947 begab sich der Zoologe, Geologe und auch in Anthropologie geschulte Norweger Thor Heyerdahl auf eine Fahrt von Peru Richtung Polynesien, um seine Theorie zu beweisen, dass eine Besiedlung Polynesiens von Südamerika aus möglich war, worauf viele archäologische Funde in Polynesien hingedeutet hatten.127 Heyerdahl und seine fünf Mitstreiter erreichten nach 101 Tagen schließlich Polynesien. Das Besondere an der Expedition war nicht die Überfahrt, sondern dass Heyerdahl sich hierfür ein Floß anfertigen ließ, das dem technischen Stand der präkolumbianischen Ära entsprach. Heyerdahl nutzte für die Überfahrt die Meeresströmung des Humboldtstroms und die Passatwinde, die ihn schließlich nach Polynesien brachten. Er hatte etwas getan, was über eine „dichte Beschreibung“ hinausging, und auch das Konzept der „teilnehmenden Beobachtung“ trifft hierfür nicht zu. Heyerdahl wollte seine Theorie nicht vom Schreibtisch aus beweisen, sondern sich über einen anthropologisch-praktischen Zugang selbst in die Zeit hineinversetzen. In den späten 1940er-Jahren war dies ein wissenschaftlich revolutionärer Akt, der äußerst skeptisch betrachtet wurde. Man musste nach der KonTiki-Reise Heyerdahl aber zugestehen, dass er zumindest gezeigt hatte, eine solche Fahrt von Südamerika nach Polynesien war möglich, eher jedenfalls als vom asiatischen Kontinent aus. Ob dies auch tatsächlich so geschehen ist, war damit zwar nicht bewiesen, aber es öffnete sich ein Feld, das den Namen „experimentelle Archäologie“ bekam und bis heute existiert. Wahrgenommen wird diese Form der Wissenschaft zwar fast nur, wenn im Fernsehen Doku-Serien wie „Die Pfahlbauern“ ausgestrahlt werden, aber dies zeigt, dass es ein Interesse daran gibt, vergangene Lebenswelten als „living history“ mit experimentellen Formen zu verifizieren.128 Das Floß Thor Heyerdahls stellt in gewissem Sinne die Frage, ob sich die Aktive Kulturkontinuität auch auf Bücher und andere Medien stützen kann. 127 Es gibt inzwischen einige Bücher über Heyerdahl, vor allem aber hat er selbst seine Reisen und Theorien in vielen Publikationen beschrieben. Vgl. z. B. Thor Heyerdahl: Kon-Tiki. Ein Floss treibt über den Pazifik, Wien 1949. Verwiesen sei auf die Website des Kon-Tiki-Museums, von dem die Informationen des folgenden Abschnitts übernommen wurden und das eine Bibliografie bereithält: http://www.kon-tiki.no/Ny/e_aapning.php (Zugriff 30.11.2008). 128 Die „experimentelle Archäologie“ ist heute Teil der Archäologie und hat auch eine eigene europäische Vereinigung, die EXAR – Europäische Vereinigung zur Förderung der Experimentellen Archäologie e. V. mit Sitz in Oldenburg. Es existiert neben einer Website auch eine Schriftenreihe, die von der EXAR herausgegeben wird.

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Das Erleben einer Kultur, das Erlernen einer Kultur über dieses Erleben schafft Möglichkeiten der Kulturkontinuität, die über eine mediale Vermittlung nur schwierig herzustellen sind. Als Beispiel sei der Umgang mit Erinnerung genannt, wie er sich in Berlin zum Thema „DDR“ abspielt. Soll angesichts der Tatsache, dass sich am 9. November 2009 der Fall der Mauer zum zwanzigsten Male jährt, der DDR mehr gedacht werden als bisher? Wie soll der Umgang mit der Geschichte der DDR gestaltet werden? Wie ist die DDR im Vergleich mit dem Nationalsozialismus einzuordnen? Zwei Diktaturen? Ist die eine die schlimmere, und wird die andere mehr und mehr verklärt? Um es harsch provokant zu formulieren: Warum ist Rotkäppchensekt kein Problem, aber der Slogan „Kraft durch Freude“ verpönt? Was sich in der Debatte zeigt, ist, dass auch hier die Vermittler eine ganz wichtige Rolle spielen. Trotz aller medialen Präsenz oder auch Nichtpräsenz läuft dieser Diskurs wieder auf die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Geschichtsvorstellungen, d. h. Kulturkontinuitätsvorstellungen, hinaus, die, und genau das macht sie für die Aktive Kulturkontinuität wichtig, sich an Personen verifizieren lassen.129 Und genau diese Personen sind es, die Kontinuität herstellen und dabei das Verständnis über eine Zeit formen. Es spielt dabei für die Funktion der Aktiven Kulturkontinuität keine Rolle, ob sich die Befürworter eines härteren Umgangs mit der Geschichte der DDR, und dies meint vor allem den Umgang mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), oder die eines „differenzierteren“130 Blicks durchsetzen, was immer auch in diesem Zusammenhang „differenziert“ meint. Die Vermittler und Vermittlerinnen schließlich wirken als Personen z. B. in Vorträgen oder vermitteln als Teil einer Institution ihre Form der Kulturkontinuität, sei dies als Gedenkstättendirektoren, leitende Angestellte in Ministerien oder auch Vereinsvorsitzende. Diese Vermittlungsarbeit wird dann nicht selten in ein medial zu verwendendes Produkt gegossen, sei dies z. B. ein Buch, ein Film oder auch eine Website. Es stellt sich dabei die Frage, was die Rolle der Geistes- und Kulturwissenschaftler und wissenschaftlerinnen, vor allem der Historiker und der Historikerinnen, ist. Betreiben sie auch Aktive Kulturkontinuität? Sie können das durchaus – ein Beispiel dafür ist Heinrich von Treitschke, der über seine Geschichtsdarstellungen seinen Kultur- und Geschichtsbegriff unverhohlen weitergegeben hat. Treitschke war nicht nur Professor für Geschichte in Ber129 Vgl. hierzu z.  B. Jan Fleischhauer: Keine Spur von Diktatur, in: Der Spiegel, Nr. 45/2008, S. 174–177 und Frank Hornig: Disneyland des Kalten Krieges, in: Der Spiegel, Nr. 32/2011, S. 30–32. 130 Vgl. Fleischhauer, 2008, S. 176.

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lin, er war auch Mitglied des Reichstags und nutzte seine Tätigkeit als Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“, um dort seine Kommentare zur aktuellen politischen Situation zu platzieren. Nun könnte man auch die Meinung vertreten, dass jede Form historischer Arbeit eine kulturkontinuierliche Weitergabe ist. Dem muss aber in zweifacher Weise widersprochen werden. Zunächst kann man sagen, dass ein Außenstehender anders beobachtet, anders analysiert als ein „Eingeborener“, was in den Debatten über Analysen der Geschichte eines Staates von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die nicht Bürger dieses Staates sind, immer wieder zum Vorschein kommt, allerdings nicht als wissenschaftliches Kriterium oder gar wissenschaftliche Qualität. Kann ein nicht jüdischer Historiker überhaupt über jüdische Geschichte arbeiten? Kann ein nicht deutscher Historiker überhaupt über deutsche Geschichte schreiben? Derjenige, so lautet das Argument, habe doch gar nicht das intime Insiderwissen, was in diesem Falle meint, er ist nicht Mitglied einer der Kulturkontinuitätsgemeinschaften des Landes, des Volkes oder der Gruppe. Was ist also mit Arbeiten z. B. eines Timothy Garton Ash, Professor in Oxford, anzufangen, der lange in Deutschland geforscht hat und sich explizit zur deutschen Geschichte äußert? Die Kritik an Historiografie, die nicht von „Insidern“ verfasst wird, ist aus wissenschaftlicher Sicht haltlos, da nicht die Position der Historiker zur Debatte steht, sondern der Erkenntnisweg und die Erkenntnisdarlegung unter quellenkritisch fundierter interpretativer Textausdeutung. Die wissenschaftliche Arbeit der Historiker ist daher, und damit ist der zweite Grund genannt, nicht im Sinne einer Kulturvermittlung zu verstehen, sondern im Sinne einer erklärenden Analyse. Allerdings erinnert die Kritik an „Historikern von außen“ bzw. die Bevorzugung der „Historiker von innen“ – was zum Beispiel bedeuten würde, dass die Geschichte der Nazi-Täter nur von Nazi-Tätern selbst verfasst werden könnte, eine offenkundig absurde Forderung, die sich aber nicht auf diesen Fall beschränkt – an eine Debatte auf einem ganz anderen Feld, nämlich dem Feld der Psychoanalyse. In einem seiner frühen Texte äußert sich Erich Fromm zur Einstellung des Psychoanalytikers zu seinem Patienten und kritisiert dabei Sigmund Freuds Anweisungen, die unmissverständlich darauf hinauslaufen, der Analytiker solle sich „während der Behandlung den Chirurgen zum Vorbild nehmen, der all seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen.“131 Dies würde, umgedeutet auf die 131 Freud, 1912, zitiert in: Erich Fromm: Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie (1935), in: ders., Die Gesellschaft als Gegenstand der

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Geschichtswissenschaft, dem Zugang von außen entsprechen. Kalt und ohne jede emotionale Bindung an den Gegenstand wird das zu untersuchende Phänomen betrachtet. Das Ergebnis ist nicht eine Zuneigung oder ein Verständnis für das Phänomen bzw. die handelnden Personen, sondern nur die gelungene „Operation“, also die wissenschaftliche Untersuchung. Erich Fromm war mit Freuds Anweisungen nicht einverstanden, er sah in der Psychoanalyse mehr als nur den Weg vom Wundarzt zum Chirurgen, sie entsprach aus seiner Sicht vielmehr einer „großartigen neuen menschlichen Situation“.132 Fromm hielt es also für notwendig, zum Patienten eine emotionale Bindung aufzubauen, um damit die Widerstände gegen die Behandlung zu überwinden.133 Dies würde in der Geschichtswissenschaft dem Blick von innen entsprechen, einem Blick, der auch emotional an den Gegenstand gebunden ist. Dies beinhaltet selbstredend nicht nur die Beschäftigung mit der modernen Zeitgeschichte, denn eine emotionale Bindung kann sich auch mit Ereignissen, Personen oder Gruppen aus lang zurückliegender Vergangenheit aufbauen. Trotz dieser Überlegungen bleibt nach meinem Dafürhalten die Aktive Kulturkontinuität ein auf persönliche Vermittlung gründender Prozess. Formen der Wissensaneignung können diesem Prozess vorangehen oder ihn ergänzen, ersetzen können sie ihn nicht. Das Erleben der Kulturkontinuität und das Weitergeben, wobei Evolutionen und Innovationen nicht ausgeschlossen sind, stellen einen Bereich dieses Prozesses dar, der umfassend Teil des individuellen Gedächtnisses wird. Aber eine Frage bleibt noch zu beantworten, wenn man, wie ich es tue, das Konzept der Aktiven Kulturkontinuität in das Nachdenken über Gesellschaften einbezieht und gleichzeitig die Vorstellungen eines kollektiven Gedächtnisses zurückweist. Es ist die Frage, ob nicht doch eine Art von Instanz über der Aktiven Kulturkontinuität steht, ob sich dieser persönliche Zugang nicht in ein gesamtgesellschaftliches Phänomen einreiht und ob dies dann nicht doch wieder ein kollektives Gedächtnis wäre.134 Dies wäre dann eine Transformation des kollektiven Gedächtnisses in ein Master-Gedächtnis der Gesellschaft. Doch auch dies weise ich explizit zurück. Es ist hier nicht der Ort, dies noch detaillierter zu untersuchen, dafür ist eine Untersuchung der sich aus einer Aktiven Kulturkontinuität ableitenden gesellschaftlichen Strukturen nötig. Doch kann verkürzt – und Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, hrsg. von Rainer Funk, Frankfurt/Main 1993, S. 36-68. 132 Fromm (1935), 1993, S. 42. 133 Vgl. Fromm (1935), 1993, S. 42ff., 58ff. 134 Für die Anregungen in der Diskussion dieser Frage danke ich besonders Dr. Jörn Happel.

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in der Verkürzung provokant – gesagt werden, dass das Konzept des kollektiven Gedächtnisses ein Instrument der Herrschaftsstützung ist, da es über eine Meta-Ebene Vorstellungen der Herrschaftserhaltung als zielführend für die Gesellschaft behauptet. Dies gilt für alle Systeme, die mit Herrschaft einhergehen, also Demokratien und Diktaturen, aber auch für den Widerstand gegen herrschende Systeme, denn auch Widerstand ist ein Herrschaftssystem. Dies näher auszuführen ist dann Teil der Fortsetzung des Nachdenkens über Aktive Kulturkontinuität. Im folgenden letzten Kapitel werden die Untersuchung des Packs, die Erkenntnisse der Gehirnforschung und die Formulierung der Aktiven Kulturtheorie zusammengeführt, indem über die Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ im Bereich Gedächtnis und Erinnerung nachgedacht wird. Diese Verwendung geschieht meist in großer Selbstverständlichkeit und entzieht sich dadurch häufig dem kritischen Hinterfragen. Hierzu sei ein kleiner Exkurs gestattet. Auch die in der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Basis bildenden Psychoanalyse, bzw. die Kulturtheorie Sigmund Freuds, wurde schnell mit dem Adjektiv „jüdisch“ belegt, was eine bis heute anhaltende Diskussion ausgelöst hat.135 Während in der Anfangszeit der Psychoanalyse die Bezeichnung der Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ despektierlich und kompromittierend gemeint war, wird in neueren Darstellungen eher nach den jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse geforscht, wie im 2002 erschienenen Buch von Frank Maciejewski.136 Warum diese Zuschreibungen und damit auch die Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ oft sehr ärgerlich, weil unhinterfragt und bar jedes analytischen Vorgehens sind, zeigt ein Blick in eine Buchrezension. In einer Besprechung zu Micha Brumliks 2006 veröffentlichter Darstellung Sigmund Freuds schreibt Guido Kalberer über die Verbindung der Freud’schen Psychoanalyse mit dem Judentum, die Freud selbst in seiner Vorrede zur hebräischen Übersetzung von „Totem und Tabu“ aufgeführt habe. Er zitiert Freud: „Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders

135 Vgl. z.  B. Yigal Blumenberg: Psychoanalyse – eine jüdische Wissenschaft?, in: Forum Psychoanalyse, 1996, Nr. 12, S. 156–178. 136 Vgl. z. B. Frank Maciejewski: Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis. Freud, Beschneidung und Monotheismus, Wien 2002.

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wünscht.“137 Hier bricht das Zitat in der Besprechung ab, und Kalberer sieht sich bestätigt, Freud selbst habe seine Wissenschaft mit dem Judentum verbunden.138 Kalberer ist mit dem Zitieren dieses ersten Teils der Vorrede, die insgesamt kaum eine drei viertel Seite lang ist, nicht allein. Gerade Texte zur jüdischen Identität Freuds bedienen sich häufig dieses ersten Teils. Doch geht die Vorrede noch ein Stück weiter und endet wie folgt: „Ein Buch überdies, das den Ursprung von Religion und Sittlichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Einschränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft, sich mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, daß die voraussetzungslose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.“139 Sucht man nach der Selbstbezeichnung Freuds der Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft, klingt dieser zweite Teil doch ein wenig anders, als es der erste vermuten ließ. Freud sieht „Totem und Tabu“ nicht genuin von seinem nicht verleugneten Judentum inspiriert, sondern von der „voraussetzungslosen Wissenschaft“, woraus geschlossen werden kann, dass er selbst die Bezeichnung „jüdische Wissenschaft“ entschieden abgelehnt hätte. Was kann nun aber aus der Verbindung des Adjektivs „jüdisch“ mit den Begriffen Erinnerung und Gedächtnis geschlossen werden? Warum wird dies so selbstverständlich verwendet und wieso ist dies meiner Ansicht nach ein Problem in der Geschichtswissenschaft?

137 Sigmund Freud, Vorrede zur hebräischen Ausgabe (verfasst Wien 1930), abgedruckt in: ders., Studienausgabe, 7.  Auflage, Band  IX, Frankfurt/Main 1994, S. 293. 138 Vgl. Guido Kalberer: Der Pessimismus machte ihn hellsichtig, in: Tages-Anzeiger, 21.2.2006, S. 49. 139 Freud (1930), 1994, S. 293.

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12. Jüdisches Erinnern, jüdisches Gedächtnis Erinnerung und Gedächtnis scheinen mit Judentum und jüdischer Geschichte auf eine derart selbstverständliche Weise verquickt zu sein, oder besser gesagt, verquickt zu werden, dass es notwendig ist, diese Verquickung und ihre Implikationen näher zu betrachten. Die Kapitelüberschrift wirft dabei die ersten Leitfragen auf. Jüdisches Erinnern, jüdisches Gedächtnis? Diese Wortkombination spielt auf die vielen Publikationen an, die sich, dem Anschein nach, dem Thema einer jüdischen Erinnerung widmen. Titel wie „Jewish History and Jewish Memory“, „Memoria. Wege jüdischen Erinnerns“, „Storm from Paradise. The Politics of Jewish Memory“, „Zakhor. Jewish History and Jewish Memory“ und „Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen“, um nur einige zu nennen, deuten an, es gebe etwas, das mit dem Begriff „Jewish memory“ umschrieben werden kann. Wenn sich diese Publikationen dem Thema aber widmen, muss auch eine Definition, eine Erklärung, was sie darunter verstehen, den Texten vorangehen. An einigen Beispielen soll zunächst nach einer solchen Definition gesucht werden. Nimmt man Yosef Hayim Yerushalmis „Zakhor“ als Auslöser der Diskussion über „Jewish History and Jewish Memory“1, müsste hier eine erste Definition der jüdischen Erinnerung zu finden sein. Im Vorwort zur ersten Auflage erläutert Yerushalmi, warum sein Buchtitel eigentlich eine Definition benötigen würde: „The Jews, after all, have the reputation of being at once the most historically oriented of peoples and as possessing the longest and most tenacious of memories. Yet such accolades can be profoundly true or completely false, depending upon what one means by ‚history‘ or ‚memory‘.“2 „History“ definiert Yerushalmi nicht näher, betrachtet seinen Versuch eher als „historical distancing [kursiv i.  O.]“ und verweist auf seine Definition

1 Dass sich Yerushalmi nicht als zu feiernder „Stammvater“ neuerer jüdischer Historiografie sah, vielmehr sein Buch zu einem Teil auch als missverstanden bewertet, geht aus der Debatte zwischen David N. Myers und Yerushalmi anlässlich einer Tagung auf Schloss Elmau im Jahr 2000 hervor. Vgl. dazu Yerushalmis Antwort auf Myers Vortrag in Elmau: Yosef Hayim Yerushalmi: Jüdische Historiographie und Postmodernismus: Eine abweichende Meinung, in: Michael Brenner und David N. Myers (Hrsg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 75–94. 2 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, Washington 1996 (Erstveröffentlichung 1982), S. XXIII.

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der Historiografie in einem früheren Aufsatz.3 Beim Thema „memory“ verweist er sofort auf die Bereiche „collective memory“ und „group memory“, die er in seinem Buch zwar gebrauchen würde, aber: „I do not have in mind some vaguely genetic endowment, nor an innate psychic structure analogus to the Jungian archetypus.“4 Vielmehr verwende er die Begriffe im Sinne der Halbwachs’schen Theorie.5 Doch bricht er die anscheinend damit geschaffene Klarheit wieder auf: „However, in attempting a specific examination of the dynamics of Jewish [kursiv i. O.] collective memory, I have found little help at hand. The categories generally invoked are usually not adequate to the Jewish case.“6 Die Verbindung direkt zu Formen des kollektiven Gedächtnisses lässt die Suche nach einer Definition von „jewish memory“ auf halbem Weg verharren. Jonathan Boyarin stellt in seiner Studie über „Politics of Jewish Memory“ dem Begriff „memory“ den nicht minder wichtigen Begriff „forgetting“ gegenüber, die er beide als Konstruktionen ansieht, bei denen man sich bewusst sein müsse, „which of the two masters we serve […]. Memory is much more demanding, and may perhaps be served only at the cost of diminished ambitions.“7 Vergessen gehört zum Erinnern, zum Gedächtnis dazu, der Hinweis auf das Vergessen fehlt bei vielen Darstellungen über Erinnerung und Gedächtnis, aber auch Boyarin versteht „Jewish Memory“, wie er im Titel schreibt, nicht als Aufruf, diese zu definieren, sondern nutzt das Begriffspaar als Schlagwort für eine intellektuelle Auseinandersetzung über den Umgang mit Erinnerung. David Myers schreibt 1998 im Vorwort zu „Jewish History and Jewish Memory“, einer Publikation mit Essays zu Ehren Yosef Hayim Yerushalmis, über Moderne und Erinnerung: „For as the pace of historical changes quickens, the perception arises that we moderns inhabit a radically destabilized world in which the pillars of communal structure and memory no longer stand […]. And so it is perhaps not accidental that at such a historical juncture […] scholarly attention has been increasingly devoted to the relationship between history 3 Yerushalmi, 1996, S.  XXXIII. Yerushalmi bezieht sich auf seinen Aufsatz: Clio and the Jews. Reflections on Jewish Historiography in the Sixteenth Century, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research, 1979–1980, S. 46–47. 4 Yerushalmi, 1996, S. XXXIV. 5 Vgl. Yerushalmi, 1996, S. XXXIV. 6 Yerushalmi, 1996, S. XXXIV. 7 Jonathan Boyarin: Storm from Paradise. The Politics of Jewish Memory, Minneapolis 1992, S. 7.

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and memory.“8 Die archetypische Aussage, der moderne Mensch erlebe sich in einer destabilisierten Welt, der Struktur und Tradition verloren gegangen seien, ist so ärgerlich wie falsch, denn sie ignoriert die Lebenswelt der Menschen in früheren Zeiten, die sich in nicht minder destabilisierten Verhältnissen empfunden hatten. Warum gerade die heutigen destabilisierten Verhältnisse das Interesse der Historiker und Historikerinnen an „Memory“ anfachen sollen, wird aus Myers Analyse nicht klar, es ist aber deutlich, dass Geschichte und Erinnerung/Gedächtnis zusammengehören, auch wenn der mit dieser Publikation zu Ehrende die Ambivalenz bereits 1982 deutlich benannt hat: „It is our common experience that what is remembered is not always recorded and, alas for the historian, that much of what has been recorded ist not necessarily remembered.“9 Myers Vorwort zeigt wichtige Aspekte des Konnexes von Geschichte und Erinnerung, kann aber mehr als diesen Konnex für eine Definition von „Jewish memory“ auch nicht bieten. Dem Thema ist in der Publikation ein ganzer Kapitelbereich gewidmet10, der viel verspricht in puncto „Jewish memory“, dabei auch vier wissenschaftsgeschichtlich hochinteressante Essays enthält, sich aber der Definitionssuche verweigert. „Erinnerung spielt eine zentrale Rolle in der jüdischen Religion,“11 schreiben Sabine Hödl und Eleonore Lappin in ihrem Vorwort zur Publikation „Erinnerung als Gegenwart“. Das Wort „sachar“ komme 169 Mal in der Bibel vor, was sie wiederum von Yerushalmi übernehmen, erinnert werden die Gebote und „Gottes Wirken in der Welt“, was im nächsten Satz zu einer „Geschichtsauffassung“ mutiert: „Gemäß dieser Geschichtsauffassung werden spätere Ereignisse im Spiegel der biblischen Geschichte gesehen und verstanden – die Gebote der Tora gelten als ewiger Rahmen des jüdischen Lebens.“12 Diese These wird weiter unten noch einmal ausführlich behandelt, da es sich um eine wichtige Vorstellung über jüdische Geschichtsschreibung handelt. Daher 8 David N. Myers: Preface, in: Elisheva Carlebach, John M. Efron und David N. Myers (Hrsg.), Jewish History and Jewish Memory. Essays in Honour of Yosef Hayim Yerushalmi, Hannover 1998, S. XV. 9 Yerushalmi, 1996, S. 5f. 10 „Jewish Memory and Historical Writing in the Modern Age“, darin enthalten Essays von Michael Brenner („Between Haskalah und Kabbalah: Peter Beer’s History of Jewish Sects“), Ira Robinson („Hasidic Hagiography and Jewish Modernity“), Aron Rodrigue („Léon Halévy and Modern French Jewish Historiography“) und Jacob J. Schacter („History and Memory of Self: The Autobiography of Rabbi Jacob Emden“), vgl. Carlebach/Efron/Myers, 1998, S. 389–452. 11 Sabine Hödl und Eleonore Lappin: Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin, Wien 2000, S. 7. 12 Hödl/Lappin, 2000, S. 7.

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soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, wie schnell aus „Erinnerung“ und „Religion“ eine „Geschichtsauffassung“ werden kann, ohne dass z. B. näher auf Erinnerung eingegangen wird. Es ist auch nicht ganz klar, was diese Geschichtsauffassung bedeutet. Werden aktuelle Ereignisse als Spiegelung biblischer Ereignisse gedeutet oder sind es die Gebote der Thora, die den Interpretationsspielraum vorgeben? Und was genau meint Erinnerung in der jüdischen Religion? Unterscheidet die zentrale Rolle der Erinnerung in der jüdischen Religion sich von anderen Religionen? Der jener oben zitierten Definition im nächsten Absatz direkt folgende Satz verwirrt das Bild noch mehr: „Die traditionelle jüdische Geschichtsauffassung war zutiefst gegenwartsbezogen.“13 Und dies, weil es bis zu den Pogromen des Ersten Kreuzzugs kein rituelles Totengedenken in der jüdischen Religion gegeben haben soll?14 Aber wurde nicht im vorherigen Abschnitt Geschichtsauffassung als stark mit der Erinnerung verbunden dargestellt, sogar so weit, dass aktuelle Ereignisse auf bestimmte Art immer mit der Thora verbunden werden? Was bedeutet also „gegenwartsbezogen“? Unhistorisch, d. h. ohne Bewusstsein für Geschichte? Dies würde aber dem weiter oben Gesagten widersprechen. Oder meint „traditionell“ vor dem Ersten Kreuzzug? Ob es nun etwas wie „Jewish memory“ gibt, wird damit nicht gesagt, aber in der Beschreibung eines Beitrags in ihrer Publikation zu Agnons Roman „Nur wie ein Gast zur Nacht“ führen sie aus: „Erinnerung ist schon lange ein Thema jüdischer Literatur.“15 Zusammen mit der Feststellung, dass Erinnerung eine zentrale Rolle in der jüdischen Religion spiele, kommen zwei Fragen auf. Zunächst stellt sich die Frage, ob es Religionen und Literaturen gibt, bei denen Erinnerung nicht ein wichtiges Thema ist, diese Aussage also nicht weiterführend bzw. trennscharf, weil allgemeingültig ist. Religionen wohnt selbstredend immer ein Erinnerungsfaktor inne, denn sie berufen sich auf Erweckungserlebnisse, Initiationssituationen oder Erscheinungserlebnisse, die den Beginn und die Inaugurationszeit einer Religion ausmachen. Verbunden mit Schöpfungsmythen wird deutlich, dass für jede Religion Erinnerung eine zentrale Rolle spielt. Inwieweit dies auch für andere als die jüdische Literatur gilt, erscheint weniger eindeutig beantwortbar, da zunächst schon die Frage, was denn eigentlich jüdische Literatur sei, einen Diskurs eröffnet, der

13 Hödl/Lappin, 2000, S. 7. 14 Vgl. Hödl/Lappin, 2000, S.  7, die dabei auf einen im Buch folgenden Aufsatz hinweisen. 15 Hödl/Lappin, 2000, S. 7.

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die Frage nach der Wichtigkeit der Erinnerung in der Literatur in den Hintergrund drängt.16 Es scheint, und dies ist die zweite Frage, dass „Erinnerung“ hier bewusst als Schlagwort eingesetzt wird, womit sich jüdisches Leben, jüdische Kultur vermeintlich kennzeichnen lässt, ohne dass nach Definitionen gefragt wird, gefragt werden muss. Doch schwingt bei diesem – undefinierten – Verwenden des Begriffs Erinnerung auch die Haltung mit, jüdisches Leben als vergangenheitsorientiert zu sehen, es nicht in seiner Aktualität zuzulassen, sondern in einem permanent rückwärts gerichteten Diskurs wahrzunehmen.

Jüdische Erinnerung undefinierbar? Diese zugegebenermaßen verallgemeinernden Versuche, aus verschiedenen Publikationen eine Klarheit über den Begriff der „Jewish memory“, des jüdischen Erinnerns, zu gewinnen, bleibt im Unbestimmten hängen. Gerade beim letzten Beispiel zeigt sich eine Form der Verwendung des Begriffs Erinnerung in Zusammenhang mit jüdischem Leben und jüdischer Kultur, der nicht frei von Ambivalenzen ist, ganz sicher aber nicht detailliert definiert wird. Diese nähere Betrachtung des Themas lässt den Verdacht aufkommen, dass Erinnerung, Gedächtnis und kulturspezifische Ausprägungen vermischt, verwechselt und sehr willkürlich verwendet werden. Dies soll an zwei weiteren Beispielen aus der jüngeren Literatur erläutert werden. So schreibt Christoph Münz 2005 in seinem die innerjüdischen Deutungen des Holocaust beschreibenden ausgezeichneten Aufsatz: „Aus alle dem lassen sich mehrere Schlüsse ziehen. Erstens findet das außerordentliche Problem jeder Form von Interpretation und Erinnerung an den Holocaust innerhalb des Judentums seine Ursachen nicht allein in der Schwere dieses einzigartigen Ereignisses selbst, sondern hat seine Gründe ebenso sehr in der Tatsache, dass mit dem Holocaust eine Gemeinschaft getroffen ist, die schon immer dem historischen Ereignis an sich eine Signifikanz, eine Bedeutung und einen Stellenwert zusprach, wie dies kaum in keiner anderen Religion oder Kultur der Fall ist. Analysiert man – zweitens – geschichtstheologisches Denken und rituell-liturgisches Gedenken als zwei der wesentlichen Ausdrucksformen jüdischen Gedächtnisses, wird man erkennen, was jüdisches Gedächtnis seinem tiefsten Wesen nach ist: ein Prozeß existenzieller ErInnerung, die zum integralen Bestandteil der eigenen Existenz wird. 16 Vgl. dazu u. a. Alfred Bodenheimer: Wer definiert für wen, was jüdische Literatur ist, in: transversal, 2/2005, S. 3–9.

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Jüdisches Gedächtnis fordert dazu auf, die Vergangenheit in einem existenziell-ganzheitlichen Sinne wieder-zu-vergegenwärtigen, zu re-Präsentieren. Als ein Teil der Gegenwart erinnere ich mich nicht an die Vergangenheit, um an ihr Teil zu haben, sondern als Teil der Gegenwart bin ich kraft der ErInnerung unmittelbarer Teil der Vergangenheit. Wiedervergegenwärtigung der (meiner) Vergangenheit ist ErInnerung an (m)eine vergangene Gegenwart.“17 An dieser Textstelle wird nicht klar, über was exakt gesprochen wird. Ist es die (jüdische) „Gemeinschaft“, das „jüdische Gedächtnis“ oder jüdische Erinnerung? Um dies etwas aufzuschlüsseln: Was ist damit gemeint, die Gemeinschaft spreche dem historischen Ereignis eine so hohe Bedeutung zu wie keine andere Religion oder Kultur? Ein besonderes Bewusstsein für die Ereignisse in der Vergangenheit? Wie würde sich dies äußern?18 Oder gar ein besonders starkes Verbleiben in der Vergangenheit? Wie ginge dies aber mit der Diskussion über das Nichtvorhandensein jüdischer Geschichtsschreibung seit Josephus Flavius bis weit in das Mittelalter hinein einher? Meint Münz damit nicht die historischen Ereignisse jeder Epoche, sondern nur das Verbleiben in der in der Thora beschriebenen Geschichte? Dann wäre sein Ansatz allerdings falsch gewählt, es ginge dann nicht um die Wichtigkeit historischer Ereignisse, sondern um die historischen Ereignisse, die in der Thora beschrieben werden. Dies dann gleichzusetzen mit „historischen Ereignissen“ entspräche einer übertriebenen Beliebigkeit. Die Verwendung des Begriffs „Gemeinschaft“ suggeriert zusätzlich eine Form der Allgemeingültigkeit, die einen differenzierten Blick nicht zulässt, denn „übersetzt“ heißt dies, und hier wird auch die vorherige Debatte über historische Ereignisse miteinbezogen, nichts anderes als: „Alle Juden und Jüdinnen sprechen den in der Thora beschriebenen Ereignissen die größte Wichtigkeit zu.“ Dem entspricht auch die Definition für das „jüdische Gedächtnis“, es sei ein Prozess existenzieller ErInnerung, die integraler Bestandteil der eigenen Existenz werde. Es fällt auf, dass Münz das 17 Christoph Münz: Der Holocaust, das Judentum und die Erinnerung. Anmerkungen zu innerjüdischen Deutungen des Holocaust und der Zentralität des Gedächtnisses im Judentum, 2005, S. 15f., abrufbar unter www.compass-infodienst.de. Der Aufsatz basiert auf der Monografie des Autors: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, 2. Auflage 1996. 18 Zu diesem Komplex vergleiche Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt/Main 1995. Auch Funkenstein spricht von einem „akuten historischen Bewusstsein“, was dem Judentum immer klar mache, dass es von anderen Völkern unterschieden sei. Und auch für Funkenstein gilt das im Folgenden Gesagte.

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Verb „wird“ verwendet, diese „ErInnerung“ also erst im Laufe der Zeit ein Bestandteil der Existenz wird. Was heißt das? Es wird anerzogen? Gelernt? Damit hätte Münz der Aktiven Kulturkontinuität das Wort geredet. Sonst wird über das Verb „wird“ wieder der Eindruck der Prozesshaftigkeit erweckt, die zwingend einen Vermittler braucht, der aber im Text nicht erwähnt wird. Damit bleibt der Prozess ein nebulöser, offensichtlich selbstständig ablaufender. Schließlich ist für Münz jüdische Erinnerung nicht Erinnerung zur Teilhabe, sondern durch Erinnerung wird man „unmittelbarer Teil der Vergangenheit“. Damit sagt Münz, dass jüdische Erinnerung etwas grundsätzlich anderes sei als jede nicht jüdische Erinnerung. Dies ist für den Vorgang der Erinnerung betrachtet nicht wenig problematisch, um nicht zu sagen eine kulturwissenschaftliche Zuschreibung, die so in keiner Weise zu halten ist. Lässt man dieses Argument beiseite, stellt sich die Frage, wieso gerade Juden und Jüdinnen „Teil der Vergangenheit“ werden, und zwar „unmittelbarer“ Teil. Kombiniert mit der weiter unten im Text gemachten Aussage, die Ebene des Gedächtnisses sei das Zentrum jüdischer Identität,19 wird eine Form jüdischer Identität ausgedrückt, die sich einzig in der Vergangenheit orientiert, die einer sich nicht verändernden Tradition entspricht, wie Münz sagt, wenn er ausführt, dass die Erinnerung an den Holocaust „ebenfalls jenen Gesetzen und Regeln gehorcht, wie sie seit Jahrtausenden für das jüdische Gedächtnis gültig sind.“20 Ich möchte an dieser Stelle noch einmal explizit wiederholen, dass die sehr guten Texte von Christoph Münz nicht per se Gegenstand der Kritik sind, sondern dass an diesem ersten Beispiel ein höchst problematischer Umgang mit den Begriffen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ aufscheint. Münz erklärt, dass die Abstraktion der gefährlichste Feind des Gedächtnisses sei,21 tritt aber mit seinen Definitionen genau in diese Falle.22 Ein zweites Beispiel für den Umgang mit den Begriffen „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ findet sich in einem 2001 veröffentlichten Text von Bernd Witte, der sich der Frage widmet, was denn das historische Bewusstsein des Judentums ausmache. Als kleiner Exkurs sei angemerkt, dass damit dem Judentum ein „historisches Bewusstsein“ zugeschrieben wird, nicht den Juden und Jüdinnen, womit Menschen unter einer generellen Bezeichnung einer abstrakten Religionsdefinition subsumiert werden. Das Verwenden des Begriffs „Judentum“, 19 Vgl. Münz, 2005, S. 16. 20 Münz, 2005, S. 18. 21 Vgl. Münz, 2005, S. 17. 22 Eine Unklarheit, auf die aber in diesem Beispiel nicht eingegangen wird, ist das Verstehen von Gedächtnis als „Gedenken“. Münz scheint dies zumindest teilweise so zu verstehen.

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wenn man eigentlich von Juden und Jüdinnen spricht, ist im Alltagsgebrauch der Sprache häufig zu beobachten. Durch die Verwendung auch in schriftlichen Texten wird dies nicht besser. Juden und Jüdinnen haben ein Bewusstsein, das Judentum kann dies nicht haben, vielmehr können die Vermittler und Vermittlerinnen des Judentums historisches Bewusstsein für eine religionsbestimmende Komponente halten und entsprechend weitergeben. Wenn man von der Verwendung des Begriffs Judentum absieht, hebt Witte darauf ab, dass die bis heute das Handeln des Alltags bestimmende Kraft der Orthodoxie, des Chassidismus und der mystischen Strömungen der im 19. Jahrhundert entworfenen neuzeitlichen Geschichtsschreibung als „Erinnerungskultur“ gegenüberstehe. Abgesehen davon, dass der Begriff der Erinnerungskultur zu definieren wäre, schreibt Witte, und dies gewährt Einsicht in den Blick auf Juden und Jüdinnen, auf jüdische Religion und Kultur, wie sie im heutigen deutschsprachigen Diskurs wahrgenommen wird, diese beiden Erscheinungen stünden „auf unterschiedlichen Stufen der historischen Entwicklung“.23 Nun mögen sich die Leserinnen und Leser fragen, welche Entwicklung auf welcher historischen Entwicklungsstufe steht und, vor allem, was dies für den Blick auf jüdisches Leben bedeutet. Über eine Analyse der Heinrich-Heine-Geschichte „Der Rabbi von Bacherach“ und im Vergleich mit den Schriften von Vertretern des „Vereins für Wissenschaft und Kultur des Judentums“ führt Witte die „charakteristische Andersheit der jüdischen Tradition“24 vor, die sich im grundlegenden, 1823 veröffentlichten Aufsatz von Immanuel Wolf, einem der Begründer des Vereins, finde, nämlich die Betrachtung der Zeit als „erfüllte Gegenwartszeit“ und der Geschichte als „archetypisches Geschehen“. Daraus ergebe sich eine gegen die Ereignisgeschichtsschreibung gerichtete eigene Methode: Geschichtsschreibung „nach Maßgabe der Textgeschichte“.25 Schaut man sich die von Witte hierfür als Beleg zitierte Textstelle an, öffnet sich eine zweite Interpretationsmöglichkeit, die dem Ansinnen der Mitglieder des Vereins für die Wissenschaft und Kultur des Judentums eher entspricht als das von Witte suggerierte Lesen der Geschichte einzig als archetypisches Geschehen. Wolf interpretiert in diesem Text Judentum als eine „Idee“, die sich „als bedeutendes und einflussreiches Moment der Entwicklung des menschlichen Geistes“ zeige. Nur wer 23 Belegstellen und Zitate aus Bernd Witte: Kulturelles Gedächtnis und Geschichtsschreibung im Judentum, in: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2001, hrsg. v. Gert Kaiser, Düsseldorf 2001, S. 267. 24 Witte, 2001, S. 272. 25 Alle Zitate Witte, 2001, S. 272.

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Geschichte als reine Abfolge von Schlachten betrachte, ergo: ein „vorgefasstes Urteil“ habe, könne dies nicht erkennen. Wolf definiert jüdische Geschichtsauffassung nicht als Hängenbleiben in der Vergangenheit oder Interpretation jedweden Ereignisses als Archetypus. Im Gegenteil, er zeigt Judentum als Ideengeschichte, die, weil schon so lange existent, „in dem Wesen der Menschheit selbst gegründet seyn“.26 Daraus eine, wie Witte schreibt, „charakteristische Andersheit der jüdischen Tradition“ ablesen zu können, erscheint doch etwas überzogen und an den Intentionen der Wissenschaftler, aber auch der ihnen folgenden Generationen jüdischer Historiker, die sich der Geschichtsschreibung annahmen, vorbeigehend. Beide Beispiele zeigen, dass beim Umgang mit Erinnerung, sobald es Juden und Jüdinnen betrifft, sehr schnell mit Metamodellen gearbeitet wird, die sich gut in die Vorstellungen eines „kulturellen Gedächtnisses“ einbauen lassen. Doch wird jüdisches Leben dabei rein auf die Religion bezogen, was sich durch die unreflektierte Verwendung des Begriffs Judentum zeigt, und damit eine vermeintlich „typisch jüdische“ – was nichts anderes meint als die von Witte angeführte „charakteristische Andersheit jüdischer Tradition“ – Verbindung zur Vergangenheit gezogen, wie exemplarisch am Text von Christoph Münz gezeigt wurde. Doch das Beziehen einer Kultur rein auf die Religion fokussiert den Blick immer auf die Vergangenheit. Schaut man z. B. deutschsprachige europäische Kultur nur unter dem Muster des Christentums an, so kann man feststellen, wie sehr sich Christinnen und Christen in der Vergangenheit bewegen. So gehen beispielsweise die Feiertage selbstredend auf Ereignisse in der Vergangenheit zurück, und der einzige in die Zukunft gerichtete Blick, nämlich die Hoffnung auf die messianische Zeit, teilen Christen und Christinnen mit Juden und Jüdinnen, wenn auch mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen und Implikationen. Dies hat auch Maurice Halbwachs deutlich gesehen und sich in seiner Religionsanalyse über den Allgemeingültigkeitsanspruch der christlichen Religion gewundert, dabei aber auch den für den vorliegenden Abschnitt entscheidenden Satz geschrieben, das Christentum wende sich zur Gänze der Vergangenheit zu, „und das gilt übrigens für jede Religion“.27

26 Alle Zitate aus Immanuel Wolf, zitiert in: Witte, 2001, S. 272. 27 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/ Main 1985 (Erstausgabe 1925: Les cadres sociaux de la mémoire), S. 255.

Historiografie als Erinnerungsträger?  |

Historiografie als Erinnerungsträger? Aber was ist nun „jüdische Erinnerung“? Ist es ein rein historiografischer Diskurs, da Erinnerung per se mit der Konstruktion der Erinnerungschronisten verbunden ist? Betrachtet man die Debatten über Erinnerung, kommt der Eindruck auf, niemand definiere „jüdische Erinnerung“ tatsächlich, sondern es würden immer Metasysteme genannt, die etwas beschreiben, was sie selbst aber nicht sind. „Kulturelles Gedächtnis“ oder „kollektives Gedächtnis“ sind nicht spezifisch Teile einer jüdischen Erinnerung, es sind Konstruktionen der Kulturwissenschaft, die sich damit Klärung verschiedener Fragen versprechen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, ist das Konzept dieser Gedächtnisformen auch durch andere Betrachtungsweisen ersetzbar beziehungsweise diesen Vorstellungen die Idee einer Aktiven Kulturkontinuität entgegenzusetzen. Die Historiografie ist Teil eines Diskurses über die Vergangenheit, vor allem über die Interpretation, aber sie ist nicht „jüdische Erinnerung“. Auch die von Bernd Witte angesprochene unterschiedliche Betrachtung der Zeit kann nicht als „jüdische Erinnerung“ angenommen werden, zum einen, weil der zitierte Text von Immanuel Wolf auch andere Deutungen zulässt, zum anderen, weil trotzdem beide Ansichten über Zeit verhandeln, die Formen der Betrachtung aber nur Perspektivverschiebungen sind, keine grundsätzlichen Andersheiten. Die Besonderheiten, die für die jüdische Historiografie genannt werden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als Kulturäußerungen, die eher den strukturellen Bedingungen geschuldet sind als einer typischen Form der Erinnerung. So erscheint es nicht erstaunlich, dass erst im 19. Jahrhundert jüdische Historiker wie Isaak Jost und Heinrich Graetz zu den großen Darstellungen ausholten. Betrachtet man die Historiografie vor dem 19. Jahrhundert im mittelalterlichen Europa, ist die Darstellung historischer Ereignisse an bestimmte Rahmenbedingungen geknüpft. Entweder sind die Darstellungen reine Ereignis- und Herrschaftsgeschichten oder sie sind an Orte der Schreibkunst, z. B. Klöster, gebunden. Eine Gruppe, die als ihr eigener Chronist auftritt, kommt so nicht vor. Warum sollte also die jüdische Gemeinschaft dies tun? Es kann zudem kein größeres Ziel sein, das Leben in der Diaspora aufzuschreiben, denn der Diaspora wohnt ein Vorübergehendes inne, nämlich die Vorstellung, dass man eines Tages zurückkehrt. Daher sind die Ereignisse in der Diaspora weit weniger wichtig als die Geschichten, die ihren Kern in der Heimat, d. h. der Nicht-Diaspora haben. Warum etwas von einem Ort aufschreiben, den man nur als, salopp gesagt, „Durchgangsstation“ betrachtet? Im Tanach ist dem eigentlichen Leben im Babylonischen Exil genau ein Vers gewidmet, 2. Chro-

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nik 36:20. Keine seitenlangen Schilderungen über Umstände und Ergehen des Volkes, sondern die schlichte Feststellung, die in der Verbannung Lebenden hätten Nebukadnezzar und seinen Söhnen als Sklaven gedient. Yosef Hayim Yerushalmi betont in diesem Zusammenhang, dass im Mittelalter Ritual und Liturgie viel besser die Erinnerung an die Heimat festhalten konnten als Geschichtsschreibung, weshalb keine Notwendigkeit bestanden hätte, sich der Geschichtsschreibung zu widmen.28 Dazu kam noch, dass sich die Rabbinen des Mittelalters nicht mit Historiografie beschäftigten. Dies lag außerhalb ihres rabbinischen Denkens, daher konnten sie auch nicht als „Role Model“ für eine jüdische Historiografie fungieren. Und schließlich darf auch Maimonides nicht unerwähnt bleiben, hatte er doch gesagt, das Lesen profaner Geschichte sei eine Zeitverschwendung.29 Dies sind wichtige Argumente, erklären aber weder das lange Fehlen noch das plötzliche Auftauchen der Chroniken im 11. und 12. Jahrhundert sowie die schließlich doch stattfindende jüdische Historiografie umfassend. Das kann nur die mit Yerushalmis Argumenten verknüpfte Betrachtung der sozial-kulturell-politischen Entwicklung leisten, zumal die Geschichten in der Thora weniger als Ritual und Liturgie gelesen wurden, sondern auch als Teil der Historiografie, die in der Diaspora nicht weitergeführt werden müsse, sondern erst wieder bei der Rückkehr nach Erez Israel aufgenommen werde. Zwei Kriterien machten aber eine Veränderung dieser Praxis nötig, erstens das Erleben eines aus der Diaspora-Heimaterwartung herausfallenden Ereignisses und zweitens der Heimatwechsel. Ein Ereignis, das dem ersten Kriterium entsprach, war die Zeit des Ersten Kreuzzugs. Mit dem Aufruf zum Kreuzzug 1095 durch Papst Urban II. in Clermont beginnt eine Leidenszeit in der Diaspora, die es nicht mehr erlaubt, die Diaspora als Ereignisstätte auszublenden. Die jüdischen Gemeinden entlang des Rheins werden 1096 in einer Form bedrängt, die der jüdischen Bevölkerung in diesem Kulturraum bisher unbekannt war: Die Gemeinden werden durch radikale Gewalt existenziell bedroht. Und die Drohung wird in vielen Fällen auch ausgeführt. So werden z. B. die Gemeinden in Speyer, Worms, Mainz, Trier, Metz, Köln, Neuss, Xanten angegriffen und jüdische Menschen von den christlichen Kreuzrittern und ihren Helfern in den Städten ermordet. Manchmal helfen die Bürger oder

28 Vgl. Yerushalmi, 1979–1980, zitiert in: David N. Myers: Of Marranos and Memory, in: Carlebach, 1998, S. 10. 29 Vgl. Yerushalmi, 1996, S. 32f.

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der Bischof der jüdischen Bevölkerung, wie z. B. in Speyer.30 Aber meist sind die Juden den Kreuzfahrern ausgeliefert. Die Zahl der ermordeten Juden und Jüdinnen allein schon auf dem Weg nach Jerusalem kann nur geschätzt werden. Angenommen wird, dass ca. 5.000 jüdische Menschen ermordet wurden, allein in Mainz waren es 1.014 und in Worms 800.31 Aus dieser Zeit sind drei Chroniken überliefert, die den Schrecken der Kreuzzüge darstellen, die des Solomon ben Simeon, des Eliezer ben Nathan und des „Mainzer Anonymus“. Auch wenn man nicht weiß, wann genau die Texte verfasst wurden – Solomon ben Simeon scheint seine Chronik um 1140 niedergeschrieben zu haben –, sind dies nach Jahrhunderten des Schweigens die ersten Aufzeichnungen aus dem Bereich des aschkenasischen Judentums, die überliefert wurden. Cecil Roth schreibt in der Encyclopaedia Judaica, der Stil der Berichte lasse den Schluss zu, dass dies nicht eine neue Literaturform sei, sondern Vorbilder habe, d. h. die Autoren Vorlagen kannten, deren Tradition fortgesetzt würde. Dazu lasse das wie aus dem Nichts auftauchende Material annehmen, dass weiteres Material vorhanden gewesen und nur nicht überliefert worden sei.32 Beide Argumente haben ihre Berechtigung, man muss sich allerdings fragen, wie es kommt, dass über einen jahrhundertelangen Zeitraum aber auch nicht die geringste Spur derartiger Chroniken zu finden ist. Das Sprachargument ist fast noch stärker zu gewichten, doch könnte es auch möglich sein, dass die vermeintlichen Vorbilder nicht einer langen Familientradition, sondern zeitlich eng bei diesen Quellen angesiedelten weiteren Texten entstammen. Für die These, dass die Pogrome 1096 die jüdische Gemeinschaft geradezu zwang, sich mit der Diaspora auch chronistisch auseinanderzusetzen, spricht auch das Vorhandensein weiterer schriftlicher Zeugnisse über diese Ereignisse. Hierbei handelt es sich aber nicht um Chroniken, sondern um Pijutim, also Teile der liturgischen Poesie.33 In diesen Texten werden die Massaker des Jahres 1096 in eine zwar schon bekannte Form gebracht – Pijutim sind 30 Vgl. Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Band I: Von den Anfängen bis 1650, Darmstadt 1990, S. 62f. 31 Vgl. Battenberg, 1990, S. 62. Die genauen Zahlen aus Mainz und Worms sind den dortigen Memorbüchern entnommen, auf die im Verlauf des Textes noch eingegangen wird. 32 Vgl. EJ 2, „Historiography“, S. 156f. 33 Vgl. z. B. Kalonymos ben Jehuda (Klagelied auf die Märtyrer zu Speyer, Worms und Mainz im Jahre 1096), zitiert in Julius Höxter: Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, 5 Bände, III. Teil: Deutschland, Frankreich und Italien im Mittelalter, Reprint Zürich 1983 (das Original erschien 1928–1935 in Frankfurt/Main), S. 71f.

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keine Produkte des Mittelalters, sondern existieren ausformuliert bereits seit dem 6. Jahrhundert34 –, aber die starke Konzentration auf ein Ereignis in der Diaspora hebt diese Klagelieder aus der Sammlung der Pijutim heraus. Eine zweite Textgattung, die es allerdings vor den Kreuzzügen noch nicht gegeben hat, sind die Memorbücher. In einem Memorbuch werden die Namen verstorbener oder, wie im vorliegenden Falle, ermordeter Personen aufgeführt, verbunden entweder mit dem Jizkor-Gebet oder auch lokalen Gebetsriten. Sinn eines Memorbuchs ist es nicht nur, die Verstorbenen aufzulisten, sondern auch, ihrer zu gedenken, indem an zwei Tagen im Jahr die Namen der Verstorbenen in der Synagoge vorgelesen wurden: einmal am Schabbat vor dem neunten Aw, dem Tag der Zerstörung des Temples, und am Schabbat vor Schawuot.35 Im 17. Jahrhundert war es in Mitteleuropa üblich, dass jede Gemeinde ein Memorbuch führte, das erste aber, das Memorbuch von Worms, stammt aus dem Jahr 1096. Das Auftauchen dieser neuen literarischen Gattung, die sich dann tatsächlich erst ein halbes Jahrhundert später ganz durchsetzt, zeigt, dass das Jahr 1096 mit den bisher bekannten Mitteln der Tradition nicht bewältigt werden konnte. Chroniken und Pijutim sind geeignete Verschriftlichungen, aber der Schock über die Pogrome erforderte eine stärkere Aufarbeitung, nämlich die Verschriftlichung des Geschehens nicht nur in einem Klagelied, sondern ad personam: Jede Person wird aufgeführt, jede Person wird zwei Mal im Jahr in der Synagoge genannt. Diese Personalisierung des Leidens, die auch ein Zeichen für die Wichtigkeit des Individuums in der jüdischen Religion ist, führt weg vom Leiden einer anonymen Gruppe. Diese Änderung passt in die Vorstellungen einer Aktiven Kulturkontinuität, nämlich dass nicht die Vermittlung abstrakter Beschreibungen fortgeführt wird, sondern das personale Gedenken, das Individualisieren des Leids und der Trauer.36 Was alle drei Verschriftlichungen – Chroniken, Pijutim und Memorbuch – verbindet, ist das Niederschreiben einer Leidensgeschichte, die das vorstellbare Maß in der Diaspora übersteigt, daher explizit notiert werden muss. 34 Vgl. Johann Maier und Peter Schäfer, Kleines Lexikon des Judentums, Stuttgart 1987, Artikel „Poesie“, S. 242. 35 Vgl. Cecil Roth: The Frankfurt Memorbuch, Jerusalem 1965, S. 10. Die Etymologie des Namens „Memor“-Buch ist nach Roth etwas unklar. Zwar scheint die Herkunft deutlich vom lateinischen „memoria“ zu stammen, doch gibt es auch Ansichten, es komme vom Wort „Almemor“, da es unter dem Lesepult der Synagoge aufbewahrt und von dort aus auch vorgelesen wurde. Vgl. Roth, 1965, S. 9. 36 Inwieweit jüdische Traditionen für eine Aktive Kulturkontinuität eine Rolle spielen, wird weiter unten erläutert.

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Die zweite Möglichkeit, in einer Diaspora historiografisch aktiv zu werden, tritt ein, wenn aus der Diaspora, als rein physischem Ort des Daseins, ein Ort wird, der flüchtige Durchgängigkeit durch vertrauten Raum ersetzt.37 Ort meint in diesem Zusammenhang einen lokalisierbaren Platz, an dem eine Gruppe lebt. Dies setzt zwar Formen der Sesshaftigkeit voraus, benötigt diese aber nicht unbedingt. Auch ein häufiger Wechsel des Ortes ändert das Konzept des Ortes nicht. Die Diaspora hat immer einen konkreten Ort, aber sie hat keinen Raum. Raum meint in diesem Zusammenhang, dass es nicht nur einen physischen Ort gibt, an dem man lebt, sondern eine Lebenswelt, die mit diesem Ort verbunden ist. Hier fallen äußeres Leben und inneres Annehmen dieses Ortes als Zentrum der eigenen Lebenswelt zusammen. Dies meint nicht, jüdische Gemeinschaften im Mittelalter und der Frühen Neuzeit hätten sich nicht in die sie umgebende Umwelt eingebracht – ich vermeide bewusst den Begriff „eingegliedert“, da dieser den Kern nicht trifft –, wohl eher das Gegenteil ist der Fall, aber diesen Ort als Raum, als Lebenswelt anzunehmen, dazu gehörte vonseiten der jüdischen Bevölkerung mehr, als nur an einem Ort zu leben. Zwar kann eine enge Bindung an den Ort schon bei den Landjuden beobachtet werden, aber erst die Verbesserungen der normativen Bedingungen jüdischen Lebens in Mitteleuropa, worunter die Veränderungen des rechtlichen Status der Juden verstanden werden kann – exemplarisch für den deutschsprachigen Bereich seien die Toleranzedikte Joseph II. ab 1782 und das preußische Emanzipationsedikt 1812 genannt –, schaffen einen Rahmen, in dem Moritz Lazarus (1824–1903) in einer Rede gegen den Antisemitismus 1880 schreiben konnte: „Wir sind Deutsche, nichts als Deutsche, wenn vom Begriff der Nationalität die Rede ist; wir gehören nur einer Nation an – der deutschen […].“38 Wobei Lazarus’ Aussage nicht so verstanden werden darf, dass erst die Nationalität eine Bindung zum Raum schafft, aber in der Atmosphäre der Jahre nach 1871 (Gründerkrise) drückte sich eine solche Bindung sehr häufig über das bewusste Betonen der Nationalität aus – und wurde von der Mehrheitsgesellschaft auch so gefordert und verstanden. In dieser Situation entwickelt sich eine jüdische Historiografie, die nicht chronistenpflichtig Ereignisse auflistet, sondern sich mit jüdischer Geschichte 37 Dieses Konzept schließt in gewisser Weise an die Vorstellungen des „Spatial Turn“ an, auch wenn hier eigene Definitionen gesetzt werden. Vgl. als Überblick zum „Spatial Turn“ Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 38 Moritz Lazarus: Was heisst national? (1880), zitiert in: Achim von Borries (Hrsg.), Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1861–1945, Frankfurt/Main 1988, S. 25.

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auseinandersetzt. Immanuel Wolf wurde schon genannt, zwei weitere wichtige Vertreter im 19. Jahrhundert sind Isaak Markus Jost und Heinrich Graetz.39 Die jüdischen Historiografen haben unterschiedliche Zugänge zur Geschichte, die hier nicht explizit aufgeführt werden müssen, wichtig ist nur zu bemerken, dass sie sich im Zuge der Akademisierung des Geschichtsschreibens in den wissenschaftlichen Diskurs einbrachten, hierbei aber auch klar signalisierten, dass sie Deutschland als ihre angenommene Lebenswelt sahen, und damit eine klare Aussage trafen, die in der Deutlichkeit dem Statement Moritz Lazarus’ in nichts nachstand. Aber sind die Schriften von Wolf, Joost und Graetz, um nur die bekanntesten Historiker zu nennen, nun jüdische Erinnerung? Dies würde bedeuten, dass Geschichtsschreibung per se Erinnerung sei. Geschichtsschreibung ist aber, folgt man der Entwicklung von „Geschichte(n) (erzählen)“ zu „Geschichtsschreibung“, eine Wissenschaft, die universitär gelehrt werden kann. Diesem vor allem in Deutschland entwickelten Modell (Droysen, Bernheim) widersprach schon am Ende des 19. Jahrhunderts ein italienischer Historiker und Philosoph auf das Schärfste. Geschichte sei keine Wissenschaft, bemerkte Benedetto Croce (1866–1952), sondern eine Kunstform, was sich schon allein daraus ergebe, dass die Geschichte nicht mit einer wissenschaftlichen Methode arbeite. Allerdings ist bei beiden, der Kunst wie der Geschichtsschreibung, die „Wahrheit“ ein wichtiger Punkt. Croce schreibt dazu 1893: „Ebenso wie der Künstler nicht dem Falschen verfallen darf, darf der Historiker nicht dem Imaginären [kursiv i. O.] verfallen.“40 Es sei zunächst dahingestellt, ob Geschichte eine Kunstform oder eine Wissenschaftsform ist, sie ist in beiden Fällen ein Ereignisse beschreibendes Mittel.

39 Zur Geschichte der jüdischen Geschichtsschreibung vgl. Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni und Nils Römer (Hrsg.): Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20.  Jahrhundert, München 2003 sowie Michael Brenner: Von einer jüdischen Geschichte zu vielen jüdischen Geschichten, in: Michael Brenner und David N. Myers, Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 17–35. 40 Benedetto Croce: Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht, Hamburg 1984, S. 35. Das italienische Original erschien 1893 unter dem Titel „La storia ridotta sotto il concetto generale dell’arte“. Eine genaue Diskussion dieser Position, auch in Verbindung zu den Anforderungen Rankes an die Historiker, erfolgt an anderer Stelle.

Jüdische Religion = jüdische Erinnerung?  |

Jüdische Religion = jüdische Erinnerung? Kaum eine Gruppe wird unter derart stark religiös konnotierten Annahmen betrachtet wie Juden und Jüdinnen, kaum einer anderen Gruppe, einem anderen Volk wird eine derart wichtige Bedeutung der Religion zur Identitätsfindung zugeschrieben. Die Frage stellt sich, ob jüdische Religion mit jüdischer Erinnerung gleichgesetzt werden kann. In seinem umfassenden, auf drei Bänden angelegten Werk zur jüdischen Theologie, Philosophie und Mystik schreibt Karl Erich Grözinger in der Einführung zum ersten Band über die Bedeutung der Religion für Juden und Jüdinnen, für die „israelitisch-jüdische Kultur“.41 Er geht dabei weniger von einem wie auch immer gearteten Erinnerungsdiskurs aus, sondern stellt Religion als Kraftquelle für die israelitischjüdische Kultur dar.42 Religion wird dabei als konkrete, kulturtragende Erscheinung gedeutet, in allen Ambivalenzen, denn „die“ jüdische Religion gebe es nicht, Judentum sei immer auch Vielfalt und Differenz und eigentlich nicht wirklich zu fassen. Grözinger lässt dafür exemplarisch zwei bekannte Vertreter zu Wort kommen. Leo Baeck äußert sich zur Frage eines Dogmas im Judentum: „[Es] kann sogar gesagt werden, dass das Judentum überhaupt keine Dogmen hat und infolgedessen ja auch eigentlich nicht eine Orthodoxie.“43 Gershom Scholem geht sogar noch einen Schritt weiter: „Es gibt keinerlei Definition für das Wesen des Judentums, da es kein Wesen und keine Essenz hat. Das Judentum kann darum nicht als eine abgeschlossene historische Größe betrachtet werden […]. Das Judentum ist viel eher eine lebendige Größe, die aus irgendwelchen Gründen als die Religion eines Volkes überdauert hat.“44 Aber sind Thora und „Erinnerungspflicht“ nicht in gewisser Weise ein Dogma? Viele Beschreibungen und Versuche, sich dem Judentum und einem jüdischen Erinnern zu nähern, verweisen auf die Bedeutung der Religion und dabei unter anderem auf den Umstand, dass die Hebräische Bibel intensiv mahne, sich zu erinnern. Birgit Klein und Christiane Müller formulieren dies beispielsweise in der 2005 erschienen Festschrift für Michael Brocke ganz explizit: „Die biblische Aufforderung sakhor [kursiv i. O.] – ‚erinnere dich‘, die Ermahnung an das Volk Israel, zu gedenken, nicht aber zu vergessen, hat die jüdische Tra41 Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik. Band 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles, Darmstadt 2004, S. 18. 42 Vgl. Grözinger, 2004, S. 18. 43 Leo Baeck, zitiert in Grözinger, 2004, S. 20. 44 Gershom Scholem, zitiert in Grözinger, 2004, S. 21.

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dition geprägt.“45 Wichtig in dieser Textsequenz ist aber nicht nur das zu Erinnerungshandlungen aufrufende „erinnere dich“, sondern dass betont wird, das Volk Israel solle auch nicht vergessen. Yerushalmi hat dieses „erinnere dich“ schon 1982 in „Zakhor“ in eine Zahl gegossen. In verschiedenen Formen, schreibt er, komme das Verb „sachar“ („erinnern“) 169 Mal im Tanach vor.46 Dies ist eine erstaunliche Zahl, die die Bedeutung der Erinnerung im jüdischen Denken qualitativ deutlich zu erhöhen scheint. Ist dies nun ein untrügliches Zeichen dafür, dass Judentum vor allem daraus besteht, sich zu erinnern und nicht zu vergessen? Die bereits zitierten Leo Baeck und Gershom Scholem würden dem sicher nicht zustimmen. Oder wie es der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Gabriel Josipovici formuliert: „But how can we ask people not to forget what they have never experienced?“47 Josipovicis Statement wirkt auf den ersten Blick wie eine Plattitüde, wie eine Selbstverständlichkeit, aber eine tiefere Analyse zeigt die darin enthaltene Nachfrage nach der klaren Definition dessen, was „not to forget“ meint, und damit auch, was „Erinnerung“ meint. Denn, und dies wird schon aus den wenigen geschilderten Beispielen deutlich, es ist nicht wirklich „Erinnerung“, die von den Autoren und Autorinnen gemeint ist, wenn sie von „jüdischer Erinnerung/Jewish memory“ sprechen. Alles, was angeführt wird und vermeintlich „jüdische Erinnerung“ beschreibt, ist nichts weiter als eine Deskription, besser Umschreibung einer Kulturtradition, die Erinnerung genannt wird, in diesem Fall jüdische Erinnerung, die sich offensichtlich von der nicht jüdischen 45 Birgit Klein und Christiane Müller: Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Memoria. Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 13. 46 Diese Zahl hat Yerushalmi 1982 in „Zakhor“ genannt, sie wird seitdem von sehr vielen Autoren und Autorinnen übernommen. Vgl. Yerushalmi, 1996, S. 5. Historiografie ist keine Statistik, das „Auszählen“ gehört nicht zu den Grundmethoden, aber es ist zu fragen, wie Yerushalmi auf diese Zahl kommt. Zählt man anhand der in der „Concordantiae Hebraicae atque Chaldaicae“ die dort aufgeführten Formen des Stammes „sachar“, landet man bei der Zahl 356. Im „Wortschatz der Hebräischen Bibel“ werden für das Verb „sachar“ 223  Fundstellen konjugierter Formen genannt, nimmt man noch das Substantiv „Sikaron“ (Erinnerung) hinzu, sind es noch einmal 24  Stellen mehr. Vgl. Solomon Mandelkern: Veteris testamenti concordantiae Hebraicae atque Chaldaicae, Graz 1975, S.  353–356 sowie Samuel Arnet: Wortschatz der Hebräischen Bibel. Zweieinhalbtausend Vokabeln alphabetisch und thematisch geordnet, Zürich 2006, S. 53f. 47 Gabriel Josipovici: Rethinking memory: too much/too little, in: Judaism, 47, (Spring) 1998, S.  1, http://findarticles.com/p/articles/mi_m0411/is_n2_v47/ai_21042665/ ?tag=content;col1 (Zugriff: 12.1.2004).

Jüdische Literatur  |

Erinnerung unterscheidet, denn täte sie das nicht, wäre das Adjektiv „jüdisch“ ein Pleonasmus zu Erinnerung. Lässt man außen vor, dass es sich weniger um tatsächliche Erinnerung handelt, sondern um eine Kulturtradition, und behält man zunächst der Einfachheit halber die Bezeichnung „jüdische Erinnerung“ bei, so ist es nötig, sich auf die Suche nach einer Phänomenologie des Jüdischen in diesem Diskurs zu machen, denn vielleicht hilft dies weiter auf der Suche nach „jüdischer Erinnerung“. Doch wie kann dies geschehen?

Jüdische Literatur Um sich der Phänomenologie des Jüdischen in der Erinnerung zu nähern, ist es nötig, sich in einem Überblick mit der Phänomenologie des Jüdischen in anderen Bereichen zu beschäftigt, denn es gibt kaum einen Bereich der Künste, der nicht adjektivisch eine Zuordnung erfährt, wie an den Beispielen der jüdischen Literatur, der jüdischen Kunst und der jüdischen Musik zu beobachten ist. Im Falle der jüdischen Literatur scheint eine Definition des Jüdischen ohne Probleme vorgenommen werden zu können, denn es handelt sich um von jüdischen Autoren verfasste Literatur. Wäre dann ein Roman eines jüdischen Autors, der im antiken China spielt, auch noch jüdische Literatur? Oder muss auch der Inhalt eines schriftstellerischen Erzeugnisses sich mit jüdischen Themen befassen, was immer auch in diesem Fall „jüdische Themen“ wären, oder sollten zumindest jüdische Personen vorkommen? Und ist dann ein von einer Nichtjüdin verfasstes Gedicht über das jüdische Viertel in der Altstadt von Jerusalem jüdische Literatur? In einem 2005 veröffentlichten Artikel hat der Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer diese Debatte auf wenigen Seiten beschrieben und problematisiert,48 wobei die Frage nach der Sprache der jüdischen Literatur und die Frage, ob jüdische Literatur immer „Bindestrichliteratur“49 sei, also z. B. deutsch-jüdische, französisch-jüdische Literatur, im Zentrum der Analyse stehen. Gerade am Beispiel Franz Kafkas, schreibt Bodenheimer, lasse sich die Problematik besonders eindrücklich darstellen, wurde doch Kafka von seinen Zeitgenossen ganz sicher nicht als 48 Vgl. Bodenheimer, 2005. Vgl. auch explizit dazu Andreas B. Kilcher: Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 2000, S.  V–XX sowie allgemein Daniel Hoffmann (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2002. 49 Bodenheimer, 2005, S. 4.

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jemand wahrgenommen, der jüdische Literatur verfasse, heute aber sei er fast der Inbegriff dafür.50 Damit wird deutlich, dass die am Anfang so selbstverständlich erscheinende Definition des „jüdischen“ im wissenschaftlichen Diskurs nicht haltbar ist. Dass das Adjektiv „jüdisch“ bei Anwendung im Bereich der Literatur eine Vorstellungen über Autor und/oder Thema auslösende Zuschreibung ist, wird zwar nicht bezweifelt, im wissenschaftlichen Diskurs aber muss über den Gebrauch des Ausdrucks „jüdische Literatur“ für jedes Werk, für jeden Autor, jede Autorin diskutiert werden. Bodenheimer erhofft sich dies auch für den populären Diskurs,51 wozu allerdings gesagt werden muss, dass damit eine tatsächliche Änderung der Wahrnehmung adjektivischer Zuschreibungen verbunden sein müsste, die vor allem die mit dem Adjektiv „jüdisch“ verbundenen Assoziationen betrifft, die zumeist pejorativer, einschränkender oder ideologischer Natur sind. Und obwohl die Zahl der Bücher mit „Bindestrichliteratur“, wie z. B. deutsch-jüdisch, im Titel Legion ist, scheint eine klare Definition nicht möglich zu sein; der Vorschlag, Werk und Autor jeweils anzuschauen und dann zu entscheiden, ist sinnvoll, belässt aber den Begriff der jüdischen Literatur ein wenig im Vagen.

Jüdische Kunst Ein ähnliches Problem trifft an, wer sich auf die Definitionssuche zum Bereich der „jüdischen Kunst“ macht. Die bildende Kunst hat dabei zunächst ein anderes Hindernis zu überwinden, nämlich die Vorstellung, das in der Thora ausgesprochene Verbot, sich kein Bildnis zu machen52, allgemein als „Bilderverbot“ bezeichnet, habe dazu geführt, dass es keine jüdischen Künstler gebe.53 Avinoam Shalem beschreibt in einer exzellenten Übersicht die Genese des Begriffs 50 Vgl. Bodenheimer, 2005, S. 6. 51 Vgl. Bodenheimer, 2005, S. 8. 52 Es handelt sich um das zweite Gebot des Dekalogs, Schemot (Exodus) 20:4 „Du sollst Dir kein Bild machen und keinerlei Gestalt von dem, was im Himmel oben, oder im Wasser unter der Erde ist.“ Die Übersetzung folgt der Ausgabe: Pentateuch mit deutscher Übersetzung von J.  Wohlgemuth und J.  Bleichrode und Haftarot übersetzt von L. H. Löwenstein und S. Bamberger, Basel 2005. 53 Es muss hier nicht explizit darauf hingewiesen werden, dass eine eingehender analysierende Lesart von Schemot 20:4 zeigt, dass hiermit nicht die bildenden Künste generell gemeint sind, sondern die Idolatrie, die Anbetung und Verehrung von Darstellungen. Vgl. dazu z.  B. Kalman P. Bland: The Artless Jew. Medieval and Modern Affirmations and Denials of the Visual, New Jersey 2000.

Jüdische Musik  |

„Jüdische Kunst“,54 wobei es wichtig ist zu bemerken, dass Shalem konsequent von „Jüdischer Kunst“ spricht, „jüdisch“ also nicht adjektivisch verwendet, um damit Kunst näher zu bezeichnen, sondern als feststehenden Ausdruck. In seinem Artikel weist er nach, dass es sehr wohl eine „Jüdische Kunst“ und jüdische Künstler gebe, dass allerdings das „Bilderverbot“ bzw. die Wahrnehmung desselben in nicht jüdischen Kreisen dazu geführt habe, Jüdische Kunst und jüdische Künstler zu ignorieren. So konnte dies erst über den „Umweg“ der Rezeption jüdischer Ritualobjekte als Kunstwerke abgebaut werden.55 Für Shalem ist die heutige „Jüdische Kunst“ vergleichbar mit einer „Christlichen Kunst“,56 er sieht also eine klare Determinierung durch die Religion in der Moderne. Das war im 19. Jahrhundert noch nicht der Fall, da galt das Adjektiv „jüdisch“ eindeutig als nationale Bezeichnung, was sich durch den Nationalismusdiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts leicht erklären lässt. Shalems Fokussierung einer Jüdischen Kunst auf die Religion scheint zwar etwas eng zu sein, alle Versuche, dies zu erweitern, scheitern aber an den gleichen Problemen wie im Hinblick auf die jüdische Literatur, denn es stellt sich die Frage, ob eine von einem jüdischen Künstler hergestellte Plastik eines Pferdes jüdische Kunst ist und wie es sich mit dem Gemälde einer nicht jüdischen Künstlerin mit dem Motiv eines Rabbiners verhält. Es scheint, als ob sich im Bereich von Literatur und Kunst die Suche nach der Definition der Phänomenologie des Jüdischen im Kreis dreht.

Jüdische Musik Vielleicht hilft es weiter, eine Negativdefinition an den Anfang zu stellen, um aus den Debatten darüber eine Positivdefinition herauslesen zu können. Während zwar im Bereich der bildenden Kunst Juden und Jüdinnen Kunstverständnis und Kreativität ebenfalls abgesprochen werden,57 ist die radikale Zurückweisung der künstlerischen Fähigkeiten von Juden in der Musik am öffentlichkeitswirksamsten. Beispielhaft hierfür ist Richard Wagners Pamphlet „Das Judentum in der Musik“, das zum ersten Mal 1850 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, notabene unter einem Pseudonym, erschien und einen 54 Vgl. Avinoam Shalem: Die komplexe Identität Jüdischer Kunst, in: Eli Bar-Chen und Anthony Kauders (Hrsg.), Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen, neue Ansätze, München 2003, S. 103–110. 55 Vgl. Shalem, 2003, S. 108. 56 Vgl. Shalem, 2003, S. 109. 57 Beispiele hierfür finden sich z. B. bei Bland, 2000, S. 13–15 und Shalem, 2003, S. 108. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.

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Sturm der Entrüstung auslöste.58 Wagner lässt in diesem Text kein antisemitisches Klischee aus, der Text ist gefüllt mit Hasstiraden und derart offensichtlich gegen Giacomo Meyerbeer als Konkurrenten Wagners gerichtet, dass man sich fragt, wie jemand dieses Machwerk überhaupt ernst nehmen konnte. 1869 gab Wagner den Text dann erneut heraus, diesmal als Broschüre. Er hatte den Text ein wenig geändert, war aber seinen Intentionen treu geblieben. Wie Anselm Gerhard völlig richtig bemerkt, hat der Text, trotz der schon 1850 vorgenommenen strikten Widerlegung der Argumentation, eine Eigendynamik entwickelt, die ihn auch heute noch zu einem Forschungsobjekt macht.59 Dabei sind zwei Dinge näher zu betrachten: die Rezeptionsgeschichte und eine auffallende Parallele. Die Rezeptionsgeschichte soll exemplarisch an einer Ausgabe des Textes festgemacht werden. Von 1902 bis 1920 erschien im Hesse & Becker Verlag in Leipzig „Hesses Volksbücherei“, eine Sammlung verschiedenster Texte, die insgesamt 1.350 Ausgaben umfasste.60 Nummer 920 beinhaltete drei Schriften von Richard Wagner: „Das Judentum in der Musik“, „Was ist deutsch?“ und „Modern“. Aus der Nummer 920 und zwei in der Broschüre angekündigten Neuerscheinungen,61 deren Erstveröffentlichungsdatum 1917 war, kann geschlossen werden, dass diese Broschüre zwischen 1917 und 1920 erschienen ist. An der Ausgabe aus „Hesses Volksbücherei“ lässt sich ein Teil der Wagner’schen Rezeption festmachen. Die Broschüre ist von dem Musikschriftsteller und Dramaturgen Julius Kapp (1883–1962)62 herausgegeben und die jeweiligen Texte sind mit Einleitungen von ihm versehen. In seiner Einleitung zum Judentum in der Musik schreibt er über die zweite Fassung des Wagnerpamphlets: „Leider verließ Wagner darin das früher festgehaltene rein s a c h l i c h e Gebiet und ließ sich zu heftigen p e r s ö n l i c h e n Angriffen auf seine Gegner hinreissen […].“63 Um dies anschaulich zu machen, führt 58 Vgl. hierzu vor allem Anselm Gerhard: Wagner und die Erfindung des „Jüdischen“, in: Eckhard John und Heidy Zimmermann (Hrsg.), Jüdische Musik? Fremdbilder. Eigenbilder, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 33–51 sowie Jens Malte Fischer: Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt 2000. 59 Vgl. Gerhard, 2004, S. 44f. 60 Vgl. http://www.muenchhausen-welt.de/register/reihe.htm (Zugriff: 15.12.2008). 61 Eduard Engel: Sprich Deutsch! Ein Buch zur Entwelschung sowie R. Zoozmann, Unartige Musenkinder. 62 Vgl. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2007, S. 295. 63 Julius Kapp (Hrsg.): Richard Wagner. Das Judentum in der Musik. Was ist deutsch? Modern, Leipzig o. J., S. 7 (gesperrt i. O.).

Jüdische Musik  |

Kapp in dieser Ausgabe dem Text von 1869 alle Veränderungen bei, die Wagner an der Fassung von 1850 vorgenommen hatte. Man gewinnt den Eindruck, der Text von 1850 sei womöglich eine neutrale Analyse gewesen, der von 1869 hingegen eine selbst vom Herausgeber als zu polemisch eingeschätzte Schrift. Nur ein Textbeispiel soll für die vorliegende Untersuchung diese Diskrepanz vorführen. Der nachfolgende Text hat als Klammereinfügung die Zusätze von 1869. Wagner äußert sich in diesem Abschnitt, aus dem das folgende Zitat stammt, über den Gesang in der Synagoge: „Wer hat nicht Gelegenheit gehabt, von der Fratze des gottesdienstlichen Gesanges in einer eigentlichen Volkssynagoge sich zu überzeugen? Wer ist nicht von der widerwärtigen Empfindung, gemischt von Grauenhaftigkeit und Lächerlichkeit, ergriffen worden beim Anhören jenes Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers, das keine absichtliche Karikatur widerlicher zu entstellen vermag (als es sich hier mit vollem Ernste darbietet)?“64 Etwas überrascht liest man diese Textstelle und fragt sich zunächst, ob erst der Zusatz von 1869 aus einem sachlichen Text einen persönlichen Angriff gemacht hat. Dies ist nicht der Fall, denn schon der Text von 1850 ist eine Kavalkade von Ausfälligkeiten, Angriffen und abstoßenden Bemerkungen, die als nichts anderes denn als antisemitisch zu bezeichnen sind. Man fragt sich weiter, wie Julius Kapp diesen Text liest. Kapp, der nicht nur als Herausgeber der Schriften von Richard Wagner hervortrat, sondern auch sonst sehr viel über Musik publizierte, scheint hier auf eine erschreckende Weise blind zu sein für die Qualität und Intention des Textes.65 Wenn der Text in der Fassung von 1850 um das Jahr 1917 herum als sachlich gilt, wirft das Fragen nach den Vorstellungen des Autors auf, stellt sich aber auch in eine Tradition, die im Ersten Weltkrieg in der sogenannten Judenzählung von 1916, also der vom Preußischen Kriegsministerium angeordneten Zählung aller jüdischen Frontsoldaten, ihren Antisemitismus deutlich ausdrückte, denn es ging den Behörden in dieser Zählung nicht um eine statis-

64 Wagner, zitiert in Kapp, o. J., S. 19. 65 Wie stark der Antisemitismus auch in anderen Werken Kapps durchschlug, zeigt Annkatrin Dahm in ihrer Analyse der Kapp’schen Meyerbeer-Biografie, die 1920 erschien, in der er Meyerbeer als einen Komponisten zeigte, der ohne Heimat, ohne Seele und Gemüt Musik nur um des Erfolgs willen mache. Kapp bedient auch hier alle Stereotypen des Antisemitismus. Vgl. Annkatrin Dahm: Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007, S. 230ff.

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tische Erhebung, sondern um die Bestätigung antisemitischer Vorurteile und der Präsentation der „Schuldigen“.66 Anselm Gerhard kommt in seinem Aufsatz schon zu Beginn der Analyse der Texte zu einem fast resignierenden Fazit: „Auch wenn es mir unmöglich scheint, Wagners Wandlungen und vor allem die Brutalität seines späteren Antisemitismus wirklich verstehen zu können […].“67 Ob es die Aufgabe der historischen Forschung ist, etwas zu verstehen, was immer auch unterschwellig eine Zustimmung beinhaltet, sei dahingestellt, aber zumindest könnte gerade im Fall Wagner eine Parallele weiterhelfen, wenn man noch einmal in Wagners Biografie in die Zeit vor 1850 zurückgeht, die Gerhard in seinem Artikel ins Zentrum rückt, denn in dieser Zeit war Wagner noch kein ausgewiesener Gegner z. B. eines Giacomo Meyerbeer, im Gegenteil. Ab 1837 ist er in Kontakt mit Meyerbeer, zu diesem Zeitpunkt schon ein hoch angesehener Opernkomponist, und bittet um Hilfe. Wagner schreibt devote Briefe an Meyerbeer, der ihn nicht nur zu mehreren Gesprächen trifft, sondern ihm auch ganz praktisch hilft, seine Opern zur Aufführung zu bringen. 1850 aber sieht sich Wagner auf Augenhöhe mit Meyerbeer – Dankbarkeit wandelt sich um in ungezügelten Hass, den Wagner 1850 noch hinter dem Pseudonym „K. Freigedank“ (notabene!) versteckt, 1869 (Meyerbeer ist da schon fünf Jahre tot) aber noch einmal auflegt, diesmal unter seinem richtigen Namen.68

Martin Luther und die Juden Es drängt sich eine Parallele auf, die zwar nicht den Musikbereich betrifft, aber im Schema dem Vorgehen und Verhalten Wagners entspricht, zunächst eine Annäherung bis hin zur Anbiederung zu suchen, um dann diese Haltung in ihr Gegenteil zu kehren, sei es aus Erfolglosigkeit oder aus möglicher Scham über das eigene Vorgehen. Die Rede ist von Martin Luther und seinen 1523 und 1543 veröffentlichen Schriften, in denen er sich über Juden und jüdische Reli66 Vgl. dazu folgende sehr konzise Darstellung, die auch eine umfangreiche Quellensammlung beinhaltet: Werner T. Angress: Dokumentation. Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 19 (1), 1976, S. 77–88; vgl. zudem Erik Petry: Eine Saat, die spät aufging. Über die „Judenzählung“ 1916, in: Israelitisches Wochenblatt, Nr. 25, 23.6.2000 und Jacob Rosenthal: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt/Main, New York 2007. 67 Gerhard, 2004, S. 40. 68 Vgl. Gerhard, 2004, S. 40–42.

Martin Luther und die Juden  |

gion äußert.69 Luther, ohne Zweifel ein wortgewaltiger Schreiber, dessen Texte sehr häufig für die heutige Leserschaft erschreckend polemisierend klingen, hat sich zwar nicht nur in diesen beiden Texten mit der jüdischen Religion auseinandergesetzt, aber an diesen zeigt sich die Parallele zu Wagner am augenfälligsten. 1523 veröffentlicht er den Text „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, in dem er klarstellt, dass Jesus ein Jude war, mehr noch: „Darum wenn man sich des Blutes und Fleisches rühmen sollte, so gehören ja die Juden Christo näher zu als wir […].“70 Auch die bisherige Behandlung der Juden verurteilt Luther scharf: „Denn sie haben mit den Juden gehandelt, als wären es Hunde und nicht Menschen […].“71 Doch der vermeintlich positive Eindruck, der erweckt wird, ist keine Form der Achtung der Juden, sondern hat bei Luther eine klare Intention, die er auch nicht verschweigt, denn er erhofft sich eine große Taufbewegung unter den Juden, wenn sie erst einmal „sein“ Evangelium gehört hätten. Seine Auseinandersetzung mit den offiziellen Vertretern der Kirche spielt hierbei eine wichtige Rolle. Man solle, schreibt er, an den Juden „christlicher Liebe Gesetz“72 üben, sie damit an die sie umgebende Gesellschaft gewöhnen, ihnen Raum zur Entfaltung geben73 und sie so auf die für sie schwierige Annahme des Christentums vorzubereiten: „Aber es ist zum Anfang zu hart, laß sie zuvor Milch saugen und aufs erste diesen Menschen Jesum für den rechten Messias erkennen. Darnach sollen sie Wein trinken und auch lernen, wie er wahrhaftiger Gott sei.“74 Luther erwartet aber nicht nur die Taufe von der jüdischen Bevölkerung, sondern eine Form der Hilfe, denn wenn es ihm gelänge, die Juden zum Christentum zu bekehren, hätte er einen wichtigen Trumpf in der Hand in seiner Auseinandersetzung mit der Kirche. Doch es gelang ihm nicht, die jüdische Gemeinschaft zeigte sich an „Luthers Christentum“ nicht interessiert, was einen mehr als bemerkenswer69 Zu dem Komplex Antisemitismus bei Luther vgl. u. a. Arne Domrös et al. (Hrsg.): Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit, Berlin 2002; Heiko A. Obermann: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981 sowie Rosemary Radford Ruether: Nächstenliebe und Brudermord. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, München 1987. 70 Martin Luther: Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523), abgedruckt in: Hans Heinrich Borcherdt und Georg Merz (Hrsg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe, Bd. 3, S. 3. 71 Luther (1523), S. 2. 72 Luther (1523), S. 28. 73 Vgl. Luther (1523), S. 28. 74 Luther (1523), S. 28.

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ten Wandel bei ihm hervorrief. Abgesehen davon, dass er nicht das erste Mal einen solchen Wandel vollzog – den ersten derart schroffen Wechsel hatte er während des Bauernkriegs vorgenommen, als er vom „Vertreter“ der Bauern, zumindest lasen sie dies aus seiner Lehre so heraus, zu deren schärfstem Ankläger wurde mit der Schrift „Wider die mörderischen Rotten der Bauern“ (1525) –, verurteilte Luther beim zweiten großen Wechsel nicht eine Tat, wie er es beim Bauernkrieg mit dem Aufstand getan hatte, sondern diffamierte Juden und Jüdinnen, goss Hass und Verachtung über sie aus und rief sogar zum Niederbrennen der Synagogen und zur Zwangsarbeit auf. Seine 1543 erschienene Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ ist eine Sammlung von Ausfälligkeiten gegenüber den Juden, die ihresgleichen sucht. Auch wenn in der Forschung dieser Text heute sehr differenziert gesehen wird, u. a. im Vergleich mit Texten anderer Autoren über die Juden und mit Luthers weiteren Werken75, bleibt der wortgewaltige Judenhass bestehen: „Darum hüt’ dich vor den Juden und wisse, wo sie ihre Schulen haben, daß daselbst nichts anderes ist als ein teufelsnest, darin eitel Eigenruhm, Hochmut, Lügen und Lästern, Gott und Menschen schänden, getrieben wird, aufs allergiftigste und bitterste, wie die Teufel selbst tun.“76 Und dem seitenlangen Hass folgen auch Tataufrufe: „Erstlich, daß man ihre Synagoga und Schule mit Feuer anstecke […]. Zum siebenten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel, und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße der Nasen, wie Adams Kindern aufgelegt ist […].“77 Schon diese kurzen Betrachtungen zeigen ähnliche Vorgehensweisen bei Wagner wie bei Luther. Beide sind zunächst daran interessiert, Juden für ihre jeweiligen Projekte zu begeistern, beide erhoffen sich Hilfe, beide wechseln aber auch auf das Heftigste ihre Meinung. Was sie allerdings unterscheidet, ist, dass Wagner in gewisser Weise bekommen hat, um was er gebeten hatte, denn Meyerbeer hilft ihm tatsächlich, Luther hingegen hat keinen Erfolg bei seinem 75 Zu diesem Komplex hat Elizabeth Dickinson am Historischen Seminar der Universität Basel als Resultat eines Proseminars über Antisemitismus eine Proseminararbeit bei mir verfasst mit dem Titel „Luthers ‚Von den Juden und ihren Lügen (1543)‘ – Reflexionen über Kirchengewalt, religiöse Toleranz und Antijudaismus im 16. Jahrhundert“, in der sie detailliert und differenziert die Sprache Luthers, aber auch seiner Zeitgenossen analysiert. Diese Arbeit verdient es, ausgebaut zu werden. 76 Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen (1543), abgedruckt in: Hans Heinrich Borcherdt und Georg Merz (Hrsg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe, Bd. 3, S. 97. 77 Vgl. Luther (1543), S. 189, 193.

Noch einmal: jüdische Musik  |

Werben um die Juden. Aber er bekommt auch so, was er will, denn in seiner Auseinandersetzung mit der Kirche kann er große Erfolge feiern, seine Auslegung des Christentums wird zu einer eigenen Konfession, auch wenn er dies selbst nicht unbedingt als Sieg ansieht, wäre ihm doch eine Einheit der Kirche, allerdings unter „seiner“ Evangeliumsauslegung, lieber gewesen. Beide, Luther wie auch Wagner, sind dann nicht mehr auf ihre jüdischen (Wunsch-)Partner angewiesen, im Gegenteil, sie stören nun und müssen angegriffen, eigentlich vernichtet werden. Mit dieser komparativen Beobachtung lässt sich zumindest ansatzweise das Verhalten Wagners wie Luthers erklären, vor allem der radikale Wechsel, wie er sich in den Schriften zeigt.

Noch einmal: jüdische Musik Doch zurück zu Wagners Verunglimpfung, die eine heftige Debatte gerade darüber ausgelöst hat, was denn „jüdisch“ in der Musik sei, die auch eine intensive innerjüdische Debatte wurde. Heidy Zimmermann hat eindrücklich dargestellt,78 dass der Begriff „jüdische Musik“ erst ein Produkt des beginnenden 20. Jahrhunderts und Spiegelbild eines Diskurses über jüdische Identität ist. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eher von „Musik der Juden“ geredet, womit religiös konnotierte Musik gemeint war, denn für „das traditionelle Judentum […] waren Musik und Gesang in erster Linie eine religiöse Praxis, ein funktionaler Bestandteil des Kultes und keine isolierbare, historische Kategorie.“79 Erst mit der Emanzipation und damit dem Engagement jüdischer Musiker außerhalb des traditionellen gottesdienstlichen Rahmens wurde eine Diskussion über jüdische Musik losgetreten, die man für das 20. Jahrhundert grob in zwei Richtungen teilen kann: Zum einen war dies die „enge“ Auffassung, die unter jüdischer Musik einzig synagogale Musik, vielleicht noch unter Einschluss gewissen Volksliedguts, versteht. Die zweite, sogenannte „weite“ Auffassung subsumiert unter jüdischer Musik alle Musik, die von Juden komponiert und gespielt wird.80 Die beiden Auffassungen stehen, wie schon betont, auch für eine Identitätsdebatte, die sich im Spannungsfeld „Staatsbürger mosaischen Glaubens“ und Zionismus/Nationalidee abspielt. Der Ver78 Vgl. Heidy Zimmermann: Was heiβt „jüdische Musik“?, in: Eckhard John und Heidy Zimmermann (Hrsg.), Jüdische Musik? Fremdbilder. Eigenbilder, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 11–32. 79 Zimmermann, 2004, S. 12. 80 Vgl. für die beiden Definitionen Zimmermann, 2004, S. 14–28.

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such, beide Auffassungen von jüdischer Musik in eine Synthese zu überführen, gelingt nicht, da sich „eng“ und „weit“ nicht als These und Antithese gegenüberstehen, sondern eher Engführung und Globalisierung repräsentieren, wobei der Eindruck nicht täuscht, dass damit einer Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet wird. Dies zeigt sich auch daran, dass in nicht jüdischen, westlichen Kulturen keine andere Musik als Klezmer als jüdisch angesehen wird, was eine vielsagende „Karriere“ dieser Musikrichtung beschreibt. Heidy Zimmermann jedenfalls macht sich in ihrem Artikel nicht auf, tatsächlich zu definieren, was „jüdische Musik“ denn nun „wirklich“ sei, sondern verweist darauf „dass alle Versuche, eine Einheit jüdischer Musik zu konstruieren, stark interessegeleitet sind.“81 Damit ist eigentlich eine Debatte über das Jüdische in der Musik beendet. Es kann zwar weiter eine Engführung geben, z. B. mit der These, nur synagogale Musik sei jüdische Musik, aber die Idee einer exakten Bestimmung des Jüdischen scheint ausgeschlossen. Gelöst hat sich bis zu einem gewissen Punkt die Frage nach einer nationalen Musik, denn mit der Gründung des Staates Israel gibt es nun eine israelische Musik. Dass aber israelische Musik letztendlich eine ähnliche Debatte nach sich zieht wie die Frage nach der jüdischen Musik, ist eine andere Geschichte, die dadurch fast schon ins Kuriose gleitet, wenn auf Tonträgern mit „israelischer Musik“ sich auch klassische Klezmerstücke finden. Ist dies nun der Einzug der definitionslosen, von jeder Trennschärfe befreiten Beliebigkeit oder schlicht die Realität eines Staates?

Ist „jüdisch“ undefinierbar? Die Frage nach „dem“ Jüdischen in der jüdischen Literatur, jüdischen Kunst und jüdischen Musik bleibt eine klare Antwort schuldig. Auch aus der Negativdefinition ergibt sich keine Positivdefinition, außer man lässt sich auf engführende Vorgaben ein, die lauten, Musik, die im Staat Israel oder von Israelis produziert wird, sei israelische Musik. Auch für die Literatur könnte man solche Definitionsmerkmale bestimmen, z. B. über die Sprache oder über die Thematik. Das hieße, nur Literatur, die in einer jüdischen Sprache verfasst ist, kann als jüdische Literatur bezeichnet werden. Wobei dies, wie schon von Alfred Bodenheimer gezeigt,82 die Frage aufwirft, was als jüdische Sprache zu gelten habe. Kann die Betrachtung des Themas weiterhelfen? Alle Literatur, die ein 81 Zimmermann, 2004, S. 32. 82 Vgl. Bodenheimer, 2005, S. 4.

Ist „jüdisch“ undefinierbar?  |

jüdisches Thema oder Juden als Hauptpersonen hat, müsste dann als jüdische Literatur gelten. Was ist ein jüdisches Thema? Und was heißt „Hauptperson“? Ist Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ jüdische Literatur? Und Berthold Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“? Annette von DrosteHülshoff (1797–1848) war nicht jüdisch, ihre Novelle aber behandelt auch die jüdische Lebenswelt. Berthold Auerbach (1812–1882) war jüdisch und setzte sich vehement für die jüdische Gleichberechtigung ein, bei seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ spielten zwar seine sozioethischen Vorstellungen eine wichtige Rolle, jüdische Lebenswelten aber nicht. Damit ist auch das Definitionskriterium „jüdisch“ infrage gestellt. Verfasst jeder jüdische Autor, jede jüdische Autorin jüdische Literatur? Betroffen davon sind auch die Definitionsmerkmale für den Bereich der Kunst. Soll man Kunstwerke nach ihrem Thema oder der Identität des Künstlers einteilen? Ist eine Buchmalerei in der sogenannten Vogelkopf-Haggadah jüdische Kunst? Eine kunstvoll verzierte Bessomim-Büchse? Damit wäre der Begriff des Jüdischen auf die Religion konzentriert, gleichzeitig steht damit aber das ganze Konzept einer Einteilung in „jüdische“ Kunst infrage, wobei dieses Infragestellen nicht die Kunst, sondern die von außen an die Kunst herangetragene Zuschreibung betrifft. Alfred Bodenheimer möchte das Kriterium der jüdischen Literatur beibehalten, es individuell als Bezeichnung prüfen und einsetzen, im Bereich der jüdischen Musik zitiert Heidy Zimmermann den Komponisten Stefan Wolpe (1902–1972) aus einem Vortrag im Jahr 1940: „The question of Jewish music conceals the questioner. Who asks and who needs the answer?“83 Es sei nur angemerkt, dass die Encyclopaedia Judaica über Wolpe schreibt: „His music belongs to the Schoenberg and Webern schools and shows strong Jewish influence.“84 Die im vorherigen Abschnitt angeführten Definitionsmerkmale sind formale Kriterien, die zwar Bereiche definieren können, dies aber eben nur in formalistischer Weise. Bei der Suche nach einer Phänomenologie des Jüdischen helfen diese formalistisch-externen Kriterien nicht weiter, da sie zwar eine Grundlage liefern, sich aber bei näherem Hinsehen im Kreis drehen, denn die Aussage, Schweizer Literatur ist Schweizer Literatur, weil sie Literatur aus der Schweiz ist, schafft zwar eine Merkmalsbezeichnung, aber kein analytisches Kriterium. An diesen Exkurs in die Welt der Kunst schließt die Beobachtung an, dass in kaum einem anderen Bereich so selbstverständlich das Wort „jüdisch“ ver83 Stefan Wolpe: What is Jewish Music, 1940, zitiert in: Zimmermann, 2004, S. 32. 84 EJ 2, Bd. 21, Artikel „Wolpe, Stefan“, S. 155.

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wendet wird wie in der Historiografie. „Jüdische Geschichte“ ist ein Ausdruck, der Eingang gefunden hat in die Beschreibung historiografischer Gebiete, Jüdische Geschichte wird als Fach oder Teilfach an den Universitäten gelehrt, ist damit Teil nicht nur des Lehrcurriculums, sondern auch einer umfassenden Forschungstätigkeit. Es erscheint müßig, zu fragen, wie denn jüdische Geschichte zu definieren sei, zumal auch hier, wie schon einige Male, die Frage nach der Schreibung und damit Wortbedeutung von jüdisch gestellt werden muss: Adjektiv oder Teil eines feststehenden Ausdrucks?

Jüdische Geschichte Moshe Rosman, Professur für Geschichte an der Bar-Ilan-Universität Tel Aviv, hat in einem 2007 veröffentlichten Buch doch die Frage gestellt, was jüdisch sei an der Jüdischen Geschichte.85 Analog zu der im oberen Abschnitt erkannten Schwierigkeit, jüdische Kunst zu definieren, fragt Rosman, wie man überhaupt etwas als jüdisch erkennen könne, wenn sich keine eindeutigen Kriterien „over time and place“ bestimmen ließen, die jüdisch als Definitionsmerkmal festsetzen. Rosman sieht seine Darstellung in der Essenz als eine Debatte zwischen Konstruktivismus und Essenzialismus, aus dem für ihn sich die provokante Frage ergibt: „If Jewish can be everything, is it anything?“86 Diese Frage setzt in gewisser Weise die Frage von Stefan Wolpe fort: Wer will es überhaupt wissen, wenn es denn sowieso eigentlich nicht mit verlässlicher Trennschärfe zu definieren ist? Wie sehr im Bereich der „Jewish History“ die Wahrnehmung eine Rolle spielt, die mit dem Wort „Jewish“ verbunden wird, zeigt sich in einer Randbemerkung von Rosman, der von „Jewish historians“ spricht, aber gleich erklärt, dies umfasse für ihn die Gruppe der Historiker und Historikerinnen, die über jüdische Geschichte arbeiten, ungeachtet der Frage, ob sie selbst jüdisch sind oder nicht.87 Auch wenn diese Randbemerkung der Spezifität der englischen Sprache geschuldet ist, ist die Wahrnehmung vor allem auch im deutschen Sprachraum zu beobachten. Von einer Person, die sich mit jüdischer Geschichte befasst, wird stillschweigend zunächst einmal angenommen, dass sie jüdisch sei. Wenn dem so ist, wird nicht weiter gefragt, warum gerade dieses Gebiet der Geschichtswissenschaft gewählt wurde, es scheint fast eine Selbst85 Vgl. Moshe Rosman: How Jewish is Jewish History, Portland 2007. 86 Informationen und beide Zitate Rosman, 2007, S. 4. 87 Vgl. Rosman, 2007, S. 11.

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verständlichkeit zu sein. Kompliziert wird es, wenn die Person nicht jüdisch ist, denn dann öffnen sich Spekulationsmöglichkeiten, die im deutschsprachigen Raum sehr häufig zwei Ebenen bedienen: Entweder wolle die Person „etwas gutmachen“, oder sie sei Theologe/Theologin und habe daher ein Interesse am Judentum.88 Ein genuines Interesse an einem Gebiet der Geschichte, so wie es für Historiker und Historikerinnen angenommen wird, die sich z. B. mit der Antike, mit dem Frühmittelalter, mit der Geschichte Afrikas, mit der Geschichte der Kaiserdynastien Chinas oder mit der Geschlechtergeschichte – die Liste ließe sich endlos ausbauen – beschäftigen, wird nicht akzeptiert. Diese Wahrnehmung, die sich nicht auf der Wissenschaft fernstehende Personen beschränkt, ist eine schwere Hypothek für das Fach „Jüdische Geschichte“, weil in den Wahrnehmungen und Zuschreibungen vor allem auch der Vorwurf der Parteilichkeit steckt. Zwar scheint es in der Historiografie geklärt, dass es die noch im 19. Jahrhundert angenommene und vorausgesetzte Objektivität nicht geben kann, aber weniger aus Parteilichkeit, sondern aus dem Grund, dass jede Historiografie betreibende Person aus ihrer Individualität heraus spricht, schreibt, argumentiert. Der an die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Bereich der „Jüdischen Geschichte“ gerichtete Vorwurf der Parteilichkeit impliziert aber nicht nur Einseitigkeit – dies wäre wohl noch zu verschmerzen –, sondern ein Nicht-ernst-Nehmen der wissenschaftlichen Arbeit, entweder weil die Person Partei sei oder auch, konterkarierend, weil sie gerade nicht jüdisch sei.89 Rosman, um damit wieder zu seinem Text zurückzukommen, warnt explizit davor, bei der Suche nach dem Jüdischen in alte, überwunden geglaubte Muster zurückzufallen, die weniger analytischer als vielmehr rassistischer Natur sind: „[…] the more than two millennia-long existence of the conversion and intermarriage options (grated, that in some eras this has been only theoretically) means that even if racial theory had any credibility, the Jews could not conform to it.“90 Damit ist für ihn erst einmal klar, dass es keine allgemein anerkannten und annehmbaren Kriterien für seine Frage gibt. Er beschäftigt sich dann vor allem mit den Erscheinungen jüdischer Geschichte und welchen Platz in der Historiografie Juden und Jüdinnen einnehmen können. Muss man sich dies 88 Diesen Aussagen liegen keine Datenerhebungen statistischer Art zugrunde, sondern nur die eigenen und die Erfahrungen vieler Kollegen und Kolleginnen, die im Bereich Jüdische Geschichte forschen und lehren. 89 Im Laufe dieses Kapitels wird im Anschluss an diese Überlegungen noch weiter darüber nachgedacht, was Wahrnehmungen bedeuten, in diesem Fall die Wahrnehmung der „jüdischen Erinnerung“. 90 Rosman, 2007, S. 23.

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wie einen Kreis vorstellen, der dann mit anderen Kreisen in Kontakt kommt (Itzchak Baer), oder eher wie eine Ellipse, die von internen und externen Einflüssen geprägt wird (Salo W. Baron)?91 Und wo stehen Juden und Jüdinnen in der Kultur der Gesellschaften, in denen sie leben? Rosman kommt zu dem Schluss, jüdische Kultur sei immer untergeordnete, abhängige Minderheitenkultur, die aber nicht generell definiert werden könne, im Gegenteil, sie sei eine lokale Erscheinung: „[…] there is no universal, essential, core, authentic, autonomous Jewish culture that informed Jewish life everywhere and that always stood in independent relationship to the hegemonic culture of any given place.“92 Statt jüdischer Kultur gebe es nur die Vielzahl der Kulturen, womit Rosman, wie er auch selbst schreibt, auf das von David Biale herausgegeben Werk „Cultures of the Jews“ anspielt.93 Damit aber kommt Rosman wieder zu seiner Anfangsfrage zurück, ob dann, wenn „jüdisch“ alles sein könne, überhaupt irgendetwas jüdisch sei. Aber diese Beliebigkeit will Rosman nicht stehen lassen, er fragt, was etwas als jüdisch definieren könne: „[…] my approach here is polythetic: to say that Jewishness is defined by a constellation of factors, all of which are never present simultaneously, but a significant number of which, in various permutations, are always in evidence.“94 Diese Definition ist vielleicht doch etwas enttäuschend, denn auch sie ist vage, eröffnet Spielraum, was aber nicht immer zum Nachteil der wissenschaftlichen Analyse sein muss. Doch es bleibt der Vorwurf, der Forderung nach analytischer Trennschärfe nicht nachgekommen zu sein, sondern eher die Möglichkeit einer „Sammelidentität“ anzubieten. Rosman hat in seiner Untersuchung auch stark auf die Entwicklung und Zukunft des Faches Jüdische Geschichte geschaut, ein Blick, der zweifellos sehr wichtig wird in den nächsten Jahren im Zuge einer sich stark verändernden universitären Landschaft, vor allem in Europa. Am Ende seines Buches kommt Rosman dann aber doch noch auf seine Titelfrage zurück und beantwortet sie: „How Jewish ist Jewish History? As Jewish as the Jews have been […].“95 Eine fast augenzwinkernde Antwort, die die Frage an die Fragenden, aber vor allem auch an Juden und Jüdinnen zurückgibt. Die Antwort wird nicht geliefert, jeder selbst muss entscheiden, wie jüdisch er oder sie selbst und wie jüdisch damit die Jüdische Geschichte sein kann und sein wird. Aber Ros91 92 93 94 95

Vgl. Rosman, 2007, S. 43–47. Vgl. Rosman, 2007, S. 97. Vgl. David Biale: Cultures of the Jews. A new History, New York 2002. Rosman, 2007, S. 184. Rosman, 2007, S. 186.

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mans Schlusssatz („as Jewish as the Jews have been“) geht noch weiter: „[…] and as Jewish as historians have the courage to present it.“96 Und damit ist die Frage auch wieder an die historische Zunft zurückgegeben – nicht in der Frage nach der Identität, sondern in der Frage des Mutes, Jüdische Geschichte als eine jüdische Geschichte darzustellen. Damit wird noch einmal betont, dass für Rosman „Jewish Historians“ nicht jüdisch sein müssen, um Jüdische Geschichte schreiben zu können, sondern der Grad der jüdischen Darstellung von ihrem Mut abhängt, dies zu tun. Rosmans Schlussstatement liest sich sehr schön, inspiriert und tritt eine Diskussion los, denn woran hängt der Grad der Jüdischkeit und warum braucht es Mut, Jüdische Geschichte jüdisch darzustellen? Als Fazit der Untersuchung Rosmans und des eigentlich sehr offenen Endes des Buches bleibt zu sagen, dass der Blick in die Jüdische Geschichte die Frage nach der Phänomenologie des Jüdischen nur bedingt weitergebracht hat. Immerhin, der Blick ist etwas weiter geworden, und er hat vor allem auf der Ebene der beteiligten Personen (Akteure wie auch Historiker und Historikerinnen) eine neue Dimension erhalten.

Jüdisches Denken Ein weiterer Versuch einer Phänomenologie des Jüdischen in der „jüdischen Erinnerung“ auf die Spur zu kommen, führt in den Bereich der Judaistik. Karl Erich Grözinger hat 2004 den ersten Band seiner auf drei Bände angelegten Untersuchung zum „Jüdischen Denken“ vorgelegt.97 In der Einführung zeigt er deutlich, dass es „das“ Judentum nicht geben kann; er zeigt die verschiedenen Möglichkeiten und Deutungsmuster, macht aber auch klar, dass „die Religion im Judentum – wenigstens bis zur Aufklärung – einen entscheidenden Faktor im täglichen Handeln der Juden, in ihrem sozialen und geschäftlichen Gebaren, in Vergnügungen, ihrer Ästhetik und Küche spielte […].“98 Religion als wichtigster Orientierungswert, als handlungsleitend, dabei aber ausdifferenziert, nicht einer Richtung folgend – in gewisser Weise erinnert dies an die – hier leicht abgewandelte – Rosman-These „Jewish can be everything“, die es dann nicht möglich macht, eine Definition auch nur annähernd zu finden. 96 Rosman, 2007, S. 186. 97 Vgl. Grözinger, 2004. Der zweite Band („Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus“) ist 2005 erschienen, der dritte Band („Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert“) 2009. 98 Grözinger, 2004, S. 17.

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Grözinger allerdings überschreitet diese Definitionslosigkeit und findet für den Bereich des jüdischen Denkens eine Lösung: „Traditionelles jüdisches Denken und entsprechender Glaube ist demnach nicht auf eine einzige ausgewählte jüdische Philosophie oder Theologie zu beschränken, wenngleich dies von einzelnen gläubigen Juden natürlich immer versucht worden ist. Will man jedoch wissen, was jüdische Theologie oder jüdisches Denken ist, d. h. will man erkennen, was jüdisch gesehen denkmöglich und de facto jüdisch gedacht wurde, muss man – gleich den Gebetbüchern – die ganze Vielfalt im Blick behalten und alle die in den Gebetbüchern vereinigten Denkansätze als legitime jüdische Glaubensweisen ernst nehmen.“99 Die Formulierung, was „denkmöglich“ ist, bringt die Suche nach einer Phänomenologie des Jüdischen ein wichtiges Stück weiter. Was konnte und kann in einem gesetzten Rahmen gedacht werden, welche Denkmöglichkeiten eröffnen sich innerhalb eines Rahmens, wobei Rahmen hier nicht als begrenzte Zulassung verstanden wird, sondern als Referenzrahmen, denn damit sind auch Entwicklungen und Grenzen überschreitendes Denken möglich. Der zweite Teil der Formulierung, was „de facto jüdisch gedacht wurde“, fällt allerdings wieder in die Beliebigkeitsformel zurück. Denn damit ist alles, was von Juden und Jüdinnen gedacht wurde, jüdisches Denken. Das ist zwar in einem allgemeinen Sinn richtig, allerdings nicht in der für eine Definition maßgeblichen Forderung nach Trennschärfe. Man könnte aber sagen, dass jüdisches Denken damit eine globale Definition hat: Es ist alles, was Juden und Jüdinnen denken. Dieser Vorlauf zur Diskussion über jüdische Erinnerung hat verschiedene Aspekte geöffnet, aber die Frage nach einer Phänomenologie des Jüdischen einer Antwort nur wenig näher gebracht. Zwar scheint es allgemein gesprochen immer klar zu sein, was mit der Einfügung des Adjektivs „jüdisch“ oder der Verwendung „Jüdische“ gemeint ist, denn sonst würde dies wohl kaum in dieser schon beeindruckenden Selbstverständlichkeit geschrieben. Ein näheres Hinsehen aber zeigt, dass der vermeintlich klare Begriff verschwimmt. Das nähere Hinsehen bringt keine klärenden Details, sondern verwirrende Einzelheiten, die wiederum verschiedene weitere Möglichkeiten eröffnen. Unterliegt das ganze System des jüdischen Denkens, einer jüdischen Musik, Kunst und Literatur vielleicht einem Denkfehler, nämlich der Vorstellung, man könne aus einer Erscheinung auch auf ein Ding an sich schließen? Anhand der Suche nach der Phänomenologie des Jüdischen in der „Jüdischen Erinnerung“ soll dieser These nachgegangen werden. 99 Grözinger, 2004, S. 24.

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1993, kurz nach Eröffnung des Holocaust-Museums in Washington und einer sich daraus entwickelnden Debatte über „Erinnerung“, schreibt Amos Elon in einem Artikel, die Singularität des Holocaust spiele eine entscheidende Rolle „als Erinnerung in der Geschichte eines heute lebenden Volkes.“ Und weiter: „Natürlich ist das israelische Volk nicht das einzige, das im Schatten einer dramatischen Vergangenheit lebt.“100 Auch wenn diese vermeintliche Relativierung von Amos Elon so nicht intendiert ist, er sich vielmehr mit der Erinnerung an den Holocaust in der israelischen Gesellschaft im Zuge eines Friedensprozesses auseinandersetzt, weist sein Satz auf etwas anderes hin, nämlich auf den Umstand, dass Juden und Jüdinnen, dass Judentum als stark erinnerungszentriert wahrgenommen wird. Diese von außen herangetragene Wahrnehmung transzendiert Erinnerung an die Vergangenheit in einen zentralen Teil des aktuellen jüdischen Lebens. Dies wird dann problematisch, wenn sich daraus denk- und handlungsleitende Maximen ableiten. So zitiert Avinoam Shalem in seinem schon erwähnten Artikel über jüdische Kunst zwei Autoren, Sergio Quinzio und John Onians, die sich darüber explizit auslassen: „Sergio Quinzio […] schreibt […] dass das Judentum nicht die Phänomene der Welt betrachten könne, denn ‚das Judentum erweist sich dann im Gegenteil als völlig auf das Transzendentale, das Jenseitige bezogen, auf die messianische Wirklichkeit, die es in der Geschichte der Welt niemals geben kann‘.“101 Shalem bringt die Ansichten von Quinzio und Onians zusammen: „Nach den Worten von Quinzio und Onians ‚lebe‘ ein Jude nicht wirklich in der Gegenwart. Auf der einen Seite ‚lebe‘ er in der Vergangenheit und auf der anderen Seite in der Zukunft. Dadurch sei er weniger ‚real‘. So bleibe ein Jude außerhalb der gegenwärtigen Welt.“102 Auch wenn diese Vorstellungen aus dem Bereich der Kunstgeschichte kommen, sind sie doch bemerkenswert in ihrer erschreckenden Klarheit. Was würde es bedeuten, wenn Quinzio und Onians recht hätten, wenn Judentum und damit Juden und Jüdinnen nicht in der Gegenwart leben würden? Wären sie dann nur in der Erinnerung existent, nur über Erinnerung? Wie müsste dann ein autobiografischer Text über jüdisches Leben aussehen? Oder darf man diese Aussagen einfach nicht wörtlich nehmen? Und hieße das dann, dass man jüdisches Leben nicht wörtlich, nicht ernst nehmen muss? Ein Blick in das Packbuch könnte weiterhelfen auf der 100 Beide Zitate Amos Elon: Die vergessene Hoffnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.6.1993, S.  28. Zu dem Umgang der israelischen Gesellschaft mit dem Holocaust vgl. vor allem Idith Zertal: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Gesellschaft, Göttingen 2003. 101 Sergio Quinzio, zitiert in Shalem, 2003, S. 104. 102 Shalem, 2003, S. 105.

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Suche, ob sich dieses Nicht-in-der-Gegenwart-Leben, also diese reine Erinnerungsfixiertheit dort zeigt.

Das Pack und Jüdische Erinnerung Jede Autobiografie, sei sie von einer Person oder einer Gruppe angefertigt, ist per se ein Erinnerungsrelikt, ein Blick zurück; aber das ist eine zu einfache Klassifizierung. Denn dann wäre, folgt man Quinzio und Onians, jede Kultur, die Autobiografien hervorbringt, eine nicht in der Gegenwart lebende Kultur. Man muss die Autobiografie genauer analysieren, genauer darauf achten, was eigentlich mit ihr bezweckt wird – ob es so etwas wie eine Erinnerungsfixiertheit gibt, ob sich darin eine das Judentum kennzeichnende Konstante findet. Die Genese des Packbuchs wurde bereits erzählt, es genügt daher, zu sagen, dass die Autoren und Autorinnen ihre Vergangenheit, ihre Geschichte aufschreiben wollten, aber nicht, weil sich jüdisches Leben nur in Erinnerungen ergehen würde, sondern weil sie dankbar waren, dass sie die Zeit des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten, und daher ihre „alltäglichen Erlebnisse“103 für ihre Nachkommen und alle Interessierten niederschreiben wollten.104 Die Erinnerungen zeigen viel mehr das Gegenteil vom Leben in der Vergangenheit, weshalb der Autor des Vorworts mit Bedacht ein Zitat aus Goethes Faust als zentrale Motivation gewählt hat: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben, und wo Ihr’s anpackt, da ist’s interessant.“105 Man könnte aus der Tatsache, dass das Pack auf die religiösen Feiertage geachtet hat und sich in der Gruppe auch sehr religiöse Mitglieder befanden, schließen, dies sei ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass Juden und Jüdinnen ihre Lebenswelt stark religiös geprägt wahrnehmen. So wird im Packbuch die Lebensgeschichte von Marcel  Gu.  I geschildert, der dafür sorgte, dass Walter U. lernte, Tefillin zu legen, der diesen aber noch mehr mit einem Gelöbnis beeindruckte: „Es geschah im Jahre 1931 auf einer Gletschertour mit zwei Freunden. Einer von ihnen rutschte aus, stürzte in eine Gletscherspalte und konnte sich auch mit Hilfe der Kameraden nicht befreien. Der andere 103 Packbuch, S. 124. 104 Vgl. Packbuch, S. 2–3, 124. 105 Packbuch, S. 3. Das Zitat stammt aus dem „Vorspiel auf dem Theater“, es spricht eine „Lustige Person“, allerdings fehlt der Mittelteil. Vollständig lautet es: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“ Zitiert nach der Faust-Ausgabe von Erich Trunz, München 1979, S. 13.

Das Pack und Jüdische Erinnerung  |

ging raschestens auf Hilfesuche. Marcel sass endlose Stunden am Spaltenrand, sprach seinem Freund Mut zu – doch die Hilfe kam zu spät. Es war ein schreckliches Erlebnis. Aus seiner Religiosität heraus gelobte Marcel damals, am Sabbat nie mehr zu rauchen. Er hat es gehalten.“106 Das Pack doch ein religiös geprägter Freundeskreis? Der gleiche Marcel Gu. I kam aber auch, wie es Rafi U., Sohn von Walter U., schildert, jedes Jahr am 6. Dezember zu den U.s nach Hause und spielte den „Samichlaus“ mit wallendem weißen Bart und rotem Mantel. Rafi  U. wurde aus einem großen Buch vorgelesen, dann musste er ein Gedicht aufsagen und bekam Nüsse, Feigen und Schokolade. So wenig wie aus der vorherigen Schilderung geschlossen werden kann, das Pack sei ein streng orthodoxer Freundeskreis gewesen, so wenig soll diese Geschichte ein Hinweis auf eine Übernahme christlicher Rituale sein; es war schlicht die Annahme einer Schweizer Kulturtradition, die dazu für die Kinder aufgeführt wurde und eine eigene jüdische Note erhielt: „Zu uns kam der Samichlaus, nicht der Santichlaus. Er war kein Heiliger. Heilige besuchen keine Juden; zu uns kommen Menschen.“107 Der Samichlaus bekam als Nachtspeise „gefillte Fisch“, dazu sagte Rafi U. als Gedicht „Hamaloch hago’el“ auf, das jüdische Abendgebet.108 Dies ist wohl eher als Kulturtransfer zu deuten, der aber zeigt, dass es hier Offenheiten gab, die von einer strikt vergangenheitsorientierten Gruppe eigentlich nicht erwartet werden könnten. Die Frage nach der Religiosität wird auch in einem Abschnitt von Sigi R. beantwortet, der schreibt: „In meinem Packleben fühlte ich mich manchmal ein wenig als Aussenseiter. Ich führte dies darauf zurück, dass der weitaus grössere Teil von uns aus der ICZ stammte und nur wenige aus der JRG-Gemeinde kamen, in der ich aufgewachsen bin.“109 Der größte Teil des Packs war also Mitglied in der weniger streng orthodoxen ICZ; gleichzeitig macht Sigi R.s Statement deutlich, dass es innerhalb des Packs über Religion verschiedene Ansichten gab, die aber insofern die Gruppe nicht beeinflussten, als man die Feiertage achtete und damit auch religiöseren Mitgliedern die Teilnahme an allen Packanlässen ermöglichte. Aber sind dies nun „Beweise“ für ein Nicht-in-der-Gegenwart-Leben? Ist das Praktizieren einer Religion eine Disqualifikation für das gegenwärtige Leben? Liest man das gesamte Packbuch, wird deutlich, dass Religion und die Anbindung an eine Gemeinde für viele, nicht für alle, einen wichtigen Faktor 106 107 108 109

Packbuch, S. 48. Packbuch, S. 46. Vgl. Packbuch, S. 46f. Packbuch, S. 69.

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darstellte und wohl noch darstellt. Daran anschließend wird jüdische Erinnerung stark an die Religion geknüpft, was aber für die Packmitglieder nur einen Teil ihrer Lebenswelt ausmachte. Man muss sich außerdem fragen, inwieweit die Situation einer Minderheit nicht das stärkere Betonen gemeinsamer Kulturtraditionen fördert, woran sich eine Untersuchung über Erinnerung vor und außerhalb des Staates Israel sowie nach und innerhalb des Staates Israel anschließen müsste. Bleibt der Blick aber noch länger auf das Leben außerhalb Israels gerichtet, kann konstatiert werden, dass die jüdische Religion als eine traditionserhaltende Religion gedeutet wird, was nicht selten aus einem christlich geprägten Blickwinkel geschieht und dabei das Bild des „Alten“ ( Judentum) gegen das „Neue“ (Christentum) im Hintergrund hat, daher in der Außenwahrnehmung die Erinnerung in den Mittelpunkt stellt. So scheint es in der Bundesrepublik Deutschland im Zuge des Aufarbeitens der Vergangenheit heute vor allem darum zu gehen, an der Erinnerung zu arbeiten, was ohne Zweifel ein wichtiger Faktor ist, aber die Tendenz aufweist, jüdisches Leben, das man einmal ausgelöscht hat, nun zu musealisieren. Juden und Jüdinnen sind Symbole des Über-Lebens, nicht des Lebens. Dies macht es möglich, relativ einfach ein Jiddisch-Festival zu organisieren, aber eher schwierig, ein Israel-Film-Festival in eine deutsche Stadt zu bringen. Daher kommt die häufig geäußerte Forderung der Normalität, die bedingt, dass man zwar seiner Taten gegenüber den Juden und Jüdinnen gedenkt, aber in einem sicheren, fast möchte man sagen: hermetisch-sterilen Raum. Dann kann Martin Walser wegschauen, wenn im Fernsehen eine Dokumentation über Auschwitz läuft,110 weil er sein Gedenken an einem Ort abgeben kann, sich aber mit den Folgen für das Leben heute, für das Leben von Juden und Jüdinnen heute nicht befassen muss. Einen anderen Zugang zur jüdischen Erinnerung und dabei vor allem mit weitreichenden Folgen für die Historiografie beschreibt Gabriel Motzkin, der sich in einem im Jahr 2000 gehaltenen Vortrag mit „Memory and Secularization“ auseinandersetzt. Er kommt am Ende, nachdem er das Buch einer nicht jüdischen Autorin über den Holocaust beschrieben hat,111 zu einem überraschenden Schluss: „I became convinced that the history of the Holocaust could only be written by Gentiles, for whom the question of the behaviour of the 110 Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, 11.1.1998 (Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 1998), abgedruckt in: Frank Schirrmacher, Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt/Main 1999, S. 11f. 111 Motzkin bezieht sich auf Inga Clendinnen: Reading the Holocaust, Cambridge 1999.

Das Pack und Jüdische Erinnerung  |

Judenräte and the Sonderkommando [kursiv i. O.] are not questions of personal identity, as for me.“112 Eine interessante Sicht des Literaturwissenschaftlers Motzkin, allerdings ist zu fragen, wer denn dann überhaupt irgendeine Geschichte schreiben könne. Und dies heißt, dass Geschichte nicht von denen geschrieben werden kann, die identitäts- und erinnerungsbezogen mit diesem Ereignis verankert sind, womit bei einem zeitnahen Ereignis wie dem Holocaust die ganze westliche Welt betroffen ist. Für die von Motzkin zitierte australische Autorin Inga Clendinnen trifft die Identitätsfrage genauso zu, sie muss sich nach der Verstrickung der eigenen Gesellschaft fragen. Hätte nicht Australien sehr viel mehr tun können, z.  B. den Juden und Jüdinnen uneingeschränkt Asyl anbieten? Und heißt Motzkins Erkenntnis nicht sogar, dass sich Juden und Jüdinnen mit der Katastrophe des Holocaust nicht selbst beschäftigen können, weil es sie zu sehr betrifft, womit plötzlich wieder die Forderung nach einer objektiven Historiografie im Raum steht? Dies würde nun bedeuten, wenn man Motzkins Argument zuspitzt, dass alles, was Juden und Jüdinnen erinnern und sie somit betrifft, von ihnen selbst nicht historiografisch bearbeitet werden kann. Verstellt Identität den Blick auf Geschichte? Verstellt Erinnerung den Blick auf Geschichte? Kommt man mit den bisher zitierten Argumenten auf der Suche nach der Phänomenologie des Jüdischen weiter? Dies ist nur schwer der Fall, zeigt sich doch immer mehr, dass jüdisches Leben einem besonderen Blickwinkel anheimgefallen ist. Bewusst wird hier der Ausdruck „anheimgefallen“ verwendet, denn bisher konnte eine Phänomenologie nicht gezeigt, sondern nur ein Phänomen beschrieben werden, dem eine besondere Erinnerungsform zugeschrieben wird, die aber nicht näher bestimmt werden kann. Karl Erich Grözinger hat einen Definitionsversuch für seinen Blick auf Jüdinnen und Juden als religionsgeschichtliche Gruppe vorgenommen. Er schreibt auf der Suche nach dem einigenden Faktor, aus dem heraus sich möglicherweise eine Form jüdischer Erinnerung ableiten ließe: „Lässt man die gesamte jüdische Religionsgeschichte vor dem inneren Auge Revue passieren, so erweist sich eines als anhaltendes Kontinuum, und dies ist die kontinuierliche Bindung des jüdischen Diskurses an die Tora.“113 Zwar macht auch Grözinger umgehend deutlich, dass der Begriff der Thora Wandlungen unterworfen war, aber als Kontinuum und damit als Definitionsmerkmal des Jüdischen bleibt sie bei ihm 112 Gabriel Motzkin: Memory and Secularization, in: Raphael Gross und Yfaat Weiss (Hrsg.), Jüdische Geschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 2006, S. 45. 113 Grözinger, 2004, S. 24.

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manifest. Damit wäre die Phänomenologie des Jüdischen in dem Sinne aufgelöst, dass sich jüdisch als Thora-gebundener Diskurs darstellt. Welchen Einfluss hätte dies auf eine Definition jüdischer Erinnerung? Wäre dann jüdische Erinnerung tatsächlich streng religionsgebunden? Grözingers Definition der Thora als Klammer bei der Definition der jüdischen Religion erscheint sehr nützlich und schafft ein wirksames Arbeitsinstrument, mit Blick auf Erinnerung wirkt es aber zu eng. Nicht zu Unrecht haben sich Rezensenten wie der Philosophiehistoriker Friedrich Niewöhner gefragt, ob Grözingers Sicht auf das Judentum als rein religiöse Erscheinung einer Beschreibung jüdischen Lebens angemessen sei.114 Angesichts des bisher Gesagten stellt sich die Frage, ob sich überhaupt eine Definition des Jüdischen in der Erinnerung finden lässt, d. h., ob es möglich ist, sich einer Phänomenologie des Jüdischen zu nähern. Folgt man der von Moshe Rosman eingebrachten polythetischen Zuordnung, kann gesagt werden, dass „jüdisch“ eine aufgrund verschiedener Determinanten vorgenommene Zuschreibung ist, die nach Ansicht des Zuschreibenden etwas als jüdisch wahrnimmt und bezeichnet. Diese Determinanten sind verschieden kombinierbar. In Verbindung mit der Erinnerung wird damit eine spezifische Definition „jüdischer Erinnerung“ schlicht unmöglich. Manifest wird dies allerdings erst, wenn eine oder mehrere Determinanten als Conditio sine qua non bestimmt werden und immer erfüllt sein müssen, um jüdische Erinnerung zu definieren, denn was für den Begriff „jüdisch“ gilt, gilt auch für den Begriff „Erinnerung“. Es ist deutlich, dass jüdisches Leben sehr stark auf Religion eingegrenzt, sehr stark über Religion definiert wird, wobei dies, wie in den Beispielen in diesem Kapitel gezeigt, nur selten so deklariert, sondern stillschweigend vorausgesetzt wird. Aber wie gehen dann säkulare Lebensentwürfe, säkulare Lebenswelten in diese Definition ein? Jüdische Überlieferung kann streng wörtlich gedeutet werden oder aber auch im übertragenen, metaphorisch-allegorischen Sinne. Beide Deutungen, obwohl völlig gegensätzlich, fast einander ausschließend, bleiben aber in ihrem Selbstverständnis jüdisch. Darunter fällt auch der Blick auf jüdisches Leben als religiös bestimmt im Gegensatz zu jüdischem Leben als aus der Lebenswelt heraus geprägt. Ein „Ding an sich“, also, um es weniger kantianisch auszudrücken, eine klare Definition jüdischen Erinnerns ist nicht zu finden. Alle Wege, die dies vorgeben, begeben sich auf den zweifelhaften Weg einer sich rassistischen Denkmodellen nähernden Definition. Die 114 Vgl. Friedrich Niewöhner: Religion als Lehre ohne Kultus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.6.2004.

Jüdische Kultur ist Aktive Kulturkontinuität  |

klare Verwendung der Begriffe „jüdisch“ und „Erinnerung“ hat sehr oft Züge davon und verstellt den Weg einer Analyse, da mit diesen Begriffen klare Vorstellungen impliziert sind und werden, die Debatten wie die Hinterfragung des Begriffs „jüdische Literatur“ ausschließen. Dies heißt aber nicht, dass es nicht Formen der Aktiven Kulturkontinuität gibt, die sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft durchgesetzt haben, oder, um es als These über den nächsten Abschnitt zu stellen: Die Tradierung jüdischer Kultur ist Aktive Kulturkontinuität par excellence. Und noch weiter: Die Gründung des Staates Israel ist weniger ein politischer Erfolg als vielmehr das Ergebnis der Aktiven Kulturkontinuität.

Jüdische Kultur ist Aktive Kulturkontinuität Die jüdische Kultur kennt neben der schriftlichen Überlieferung eine nicht minder wichtige mündliche Tradierung. Diese „mündliche Thora“ war nicht in den fünf Büchern Mose, der „schriftlichen Thora“, enthalten, sondern umfasste die Gebräuche, die sich bei der Erfüllung der schriftlichen Gebote entwickelt hatten.115 Aus den Diskussionen hierüber entwickelten sich die Midraschund die Mischnah-Erzählungen, aus letzterer schließlich der Talmud, dessen Ursprünge eben auch in der mündlichen Tradition liegen. Reinhold Mayer bezeichnet die mündliche Tradition sogar als das eigentlich Charakteristische an der jüdischen Religion, da ihr mit der Septuaginta, also der Bibelübersetzung und damit der „Globalisierung“ der Bibel, diese als einzigartiges und individuelles Dokument verloren gegangen ist.116 Günter Stemberger verweist auf die Diskussion, ob es möglicherweise im rabbinischen Judentum sogar verboten gewesen sei, halachische Vorschriften aufzuschreiben.117 Dass es dann aber doch zu einer schriftlichen Fixierung kam, lag an auftretenden Notzeiten, die Befürchtungen weckten, es könnten das Wissen der mündlichen Thora und die Diskussionen darüber verloren gehen.118 An einem Beispiel soll diese mündliche Tradition gezeigt werden, die auch einen Hinweis auf Aktive Kulturkontinuität liefert. In den „Pirke Awot“, den „Sprüchen der Väter“, die sich im Talmud in der Ordnung Nesikin finden, 115 Vgl. Reinhold Mayer: Der Talmud, 3. Auflage, München 1989, S. 13, sowie das Standardwerk von Günter Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch, 8. Auflage, München 1992, S. 41–54. 116 Vgl. Mayer 1989, S. 13. 117 Stemberger, 1992, S. 41–44. 118 Vgl. Mayer 1989, S. 239.

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heißt es im ersten Vers: „Mose empfing die Weisung vom Sinai und überlieferte sie Josua und Josua den Ältesten und die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Versammlung.“119 Dass damit nicht gemeint ist, dass Mose alles schriftlich festgelegt in die Hand gedrückt bekommen und dies dann komplett Joshua übergeben habe, wird in der Auslegung dieser Stelle deutlich, z. B. bei Marcus Lehmann: „Moscheh hat zwar die Thora ganz und voll dem Josua überliefert; aber dieser war nicht imstande, die ganze Thora in sich aufzunehmen; daher heißt es […] ‚er überlieferte sie dem Josua‘, und nicht […] ‚und Josua empfing die Thora von Moscheh‘.“120 An diesem Beispiel wird klar, dass die mündliche Überlieferung nicht nur einen wichtigen Teil jüdischer Tradition ausmacht, sondern auch, dass diese Form der Aktiven Kulturkontinuität schon in den Pirke Awot ganz realistisch gesehen wird: Es ist nicht möglich, alles Überlieferte zu erinnern, aber trotzdem bleibt die direkte mündliche Überlieferung der zentrale Punkt. Lehmann schreibt dazu: „Die Erhaltung der überlieferten Lehre ist nicht bloß Aufgabe des Auffassungsvermögens und des Gedächtnisses; diese beiden Seelenkräfte sind nicht immer ganz zuverlässig; ihr Ordner und Einrichter ist die Schärfe des Verstandes, der Scharfsinn. Durch die letztgenannte Geisteskraft wird der Mangel ersetzt, den das Gedächtnis manchmal erleidet, werden die Widersprüche gehoben, die durch das manchmal nicht ganz ausreichende Auffassungsvermögen hervortreten. Damit ist das ganze Wesen des Studiums der mündlichen Lehre, des Talmuds, charakterisiert. Lernen, im Gedächtnis behalten und das Aufgenommene mit der Schärfe des Verstandes zu durchdringen, das eine mit dem anderen zu vergleichen und die gefundenen Widersprüche zu heben und zu lösen, darin besteht noch heute unsere Aufgabe beim Studium der Gotteslehre, gerade so wie zu den Zeiten des Athniel ben Kenas.“121 Gegen die Vorstellung, mündliche Überlieferung sei stures Auswendiglernen, damit nichts verloren gehe, setzt Lehmann ein mündliches Tradieren, das nicht nur die Überlieferung weitergibt, sondern diese auch intellektuell zu durchdrin119 Übersetzung nach Mayer 1989, S. 365. 120 Marcus Lehmann: Sprüche der Väter, Erster Band, Abschnitt  1 und 2, Basel 1963, S.  5 (ausgelassen sind im Zitat die hebräisch geschriebenen Textteile). Marcus Lehmann (1831–1890), Rabbiner in Mainz und promovierter Philosoph, war einer der herausragenden Führer der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Neben seiner Tätigkeit als Rabbiner und Verfasser exegetischer Schriften gründete er 1860 die Zeitschrift „Der Israelit“, die ein Sprachrohr des orthodoxen Judentums wurde und sich als Gegenpol zu Ludwig Philippsons „Allgemeiner Zeitung des Judentums“ etablierte. 121 Lehmann, 1963, S. 5f.

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gen sucht, damit die Überlieferung besser verstanden wird, was dem Gedächtnis hilft, sie zu behalten, denn eben dieses Gedächtnis ist eine „Seelenkraft“, auf die man sich nicht immer verlassen kann, d. h., das menschliche Gehirn vergisst. Die Lebenswelt von Juden und Jüdinnen baut stark auf den Erzählungen der mündlichen Tradition auf, baut überhaupt stark auf Erzählungen auf. Dieses Erzählen, das ich als Aktive Kulturkontinuität identifiziere, hat sich bis heute erhalten. Es ist also weniger Judentum als Religion, sondern Judentum als eine sich durch Aktive Kulturkontinuität erhaltende Gemeinschaft, die sich heute darstellt. Die Aktive Kulturkontinuität spielt hier nicht die Rolle des Überlieferers sinnentleerter Rituale, sondern schafft, wie es Lehmann sagt, ein kontinuierliches Weitergeben einer intellektuell durchdachten und von Widersprüchen gereinigten Tradition. Diejenigen, denen es überliefert wird, haben dann die Aufgabe, diese sich wieder anzueignen, zu durchdenken und von den ihnen auffallenden Widersprüchen zu reinigen. Die Tradition kann dabei ganz wörtlich verstanden werden – Marcus Lehmann hätte sich so gesehen –, oder aber auch als Metapher, als Allegorie, wie weiter oben schon beschrieben wurde. Beide Deutungen sind möglich, beide Deutungen bleiben damit Teile der Aktiven Kulturkontinuität.122 Sucht man nun nach einer erfolgreichen Aktiven Kulturkontinuität, oder besser: nach etwas, was durch diese beeinflusst wurde, dann erweist sich die Geschichte des Zionismus als gutes Beispiel.123 Die Form des politischen Zio122 Eine faszinierende und wissenschaftlich absolut überzeugende Koinzidenz zur Aktiven Kulturkontinuität, wenn auch so nicht beabsichtigt und in Unkenntnis meines Textes, stellt Alfred Bodenheimer in seiner 2012 in Göttingen erschienenen Publikation „Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung“ her. Bodenheimer zeigt den Zusammenhang von jüdischer Traditionsbildung und der Narrativität. Leider ist das Buch zu spät erschienen, um noch detailliert in die Diskussion über Aktive Kulturkontinuität eingebunden zu werden, aber Bodenheimers Ansatz stellt meiner Ansicht nach den ersten überzeugenden Blick auf jüdische Traditionsbildung dar, der die schwammigen Begriffe „kollektives Gedächtnis“ und/oder „kollektive Identität“ vermeidet. Nach der Lektüre seines Buches halte ich noch überzeugter an der Aktiven Kulturkontinuität fest. 123 Die Literatur über die Geschichte des Zionismus ist Legion, daher hier nur eine kleine Auswahl aus den Standardwerken: Ehud Luz: Parallels meet. Religion and Nationalism in the Early Zionist Movement, 1882–1904, Philadelphia, New York, Jerusalem 1988; Jehuda Reinharz und Anita Shapira (Hrsg.): Essential Papers on Zionism, London 1996 und, herausragend bis heute, Gideon Shimoni: The Zionist Ideology, Hanover, London 1995.

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nismus, wie ihn Theodor Herzl und mit ihm große Teile der 1897 in Basel gegründeten Zionistischen Weltorganisation vertreten haben, ist stark von den nationalstaatlichen Ideen des 19. Jahrhunderts beeinflusst. Allerdings ist die Vorstellung einer Entität für die Juden im „Land Israel“ (hebr.: Erez Israel) keine Erfindung Herzls oder erst in der Zeit des wirkmächtigen Nationaldenkens aufgekommen, im Gegenteil, es ist ein elementarer Teil jüdischer Tradition. Und diese Tradition heißt nicht, man solle ein beliebiges Land besiedeln, sie heißt, man soll sich im Lande Israel niederlassen. Der jedes Jahr zu Pessach geäußerte Wunsch „Ha-shana ha-baa be-Yerushalaim“ („Nächstes Jahr in Jerusalem“) wird damit nicht zu einer Leerformel, sondern zu einem Versprechen der Kontinuität, auf das schließlich die politischen Zionisten aufbauen konnten. Die sogenannten Kulturzionisten um den Schriftsteller Achad ha-Am lehnten dieses aktive Bemühen um das eigene Land ab, sie sahen in Erez Israel einen rein kulturellen Mittelpunkt, von dem aus eine Form der Erneuerung des Judentums erfolgen könne. Sie waren nicht erfolglos, konnten sich aber gegen die wirkmächtigere Strömung des politischen und auch des praktischen Zionismus nicht durchsetzen.124 Dies erstaunt letztlich nicht, denn die politischen Zionisten boten etwas an, was sonst hauptsächlich nur aus Erzählungen bekannt war: Sie boten an, eine Kulturkontinuität aus dem metaphysischen wieder in den realen Raum zurückzuführen. Beide, Achad Ha-Am wie auch Herzl, wollten eine ihrer Meinung nach erstarrte und unter permanentem Druck leidende jüdische Gemeinschaft erneuern, die trotz aller Bemühungen, ihre Solidarität für die europäischen Gesellschaften, in denen sie lebte, zu zeigen, immer wieder mit geiferndem Hass überzogen wurde; sie wollten die in den Erzählungen weitergetragene Existenz eines jüdischen Volkes verwirklichen. Allerdings war Achad Ha-Ams Ansatz eines Kulturzionismus nur für eine kleine Gruppe Intellektueller und Künstler interessant, die große Mehrheit der Zionisten wollte eine Stufe weiter gehen, wollte sich nicht mehr mit intellektuellen Gedankenspiele abgeben. Sie suchten eine ganz reale Weiterführung der mündlichen Tradition, sie suchten ein Land. Wäre die mündliche Tradition, die Aktive Kulturkontinuität nur eine Form sinnentleerter Rituale, hätte es nur eine völlig unpersönliche Darstellung 124 Politische und praktische Zionisten unterschieden sich, grob gesagt, darin, dass die politischen Zionisten vor einer Ansiedlung im Land die Zustimmung des Osmanischen Reiches oder einer europäischen Großmacht erhalten wollten, während die praktischen Zionisten mit einer Ansiedlung schon vor der politischen Zustimmung ein Fait accompli schaffen wollten. Die beiden Strömungen fanden unter der Präsidentschaft der Zionistischen Organisation von Chaim Weizmann im synthetischen Zionismus zusammen.

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gegeben, so wäre der Zionismus über eine Rolle als Splitterbewegung nicht hinausgekommen, hätte er nicht eine größere Zahl von Menschen erreicht. Selbstverständlich spielten der persönliche Einsatz Theodor Herzls, glückliche Konstellationen in der Politik und damit verbundene Interessen der europäischen Großmächte eine ebenfalls wichtige Rolle, aber ohne eine Aktive Kulturkontinuität wäre all dies nicht von Bedeutung gewesen. Was die jüdische Gemeinschaft bis heute trägt und nicht assimilatorisch in anderen Gesellschaften verschwinden lässt, ist eben kein „kulturelles Gedächtnis“, dessen „Existenz“, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, so, wie es definiert wird, nicht gegeben ist, handelt es sich bei diesem Gedächtnis doch um eine reine Konstruktion. Es ist vielmehr die sich auf eine reale mündliche Tradition stützende Gemeinschaft, bei der die Erzählungen, wie bereits ausgeführt, real oder metaphorisch verstanden werden können, das Erzählen selbst aber real bleibt. Eine wichtige Beobachtung hierbei ist aber der Unterschied der Erzähltradition außerhalb der religiösen Traditionen in der Diaspora und im Staat Israel. Erzählte Traditionen spielen in der Diaspora eine wichtige Rolle, sie dienen der Weitergabe kultureller Traditionen, sie lassen sich ebenfalls unter dem Begriff der Aktiven Kulturkontinuität subsumieren. Ein mündliches Erzählgut existiert, selbstverständlich, in allen Gesellschaften, wird tradiert, weitergegeben und meistens auch aufgezeichnet, wofür die „Kinder- und Hausmärchen“ von Jakob und Wilhelm Grimm Zeugnis ablegen können, denn sie sind eine Aufzeichnung von Erzählungen, die unter anderem Dorothea Viehmann (1755– 1815), die in Niederzwehren (heute ein Stadtteil von Kassel) lebte, den Brüdern Grimm erzählte, die sie aufschrieben, das erste Mal 1812 veröffentlichten und so populär machten. Heute kümmern sich vor allem Archive und universitäre Institute für Kulturanthropologie um Erforschung und Bewahrung dieser Erzählungen. Nach der Staatsgründung Israels 1948 sah sich das jüdische Erzählgut außerhalb des religiösen Bereichs der ganz besonderen Gefahr ausgesetzt, dass im Zuge einer sich aus den verschiedenen Herkunftsländern neu bildenden israelischen Gesellschaft die Erzählungen aus diesen Ländern verloren gingen. Daher wurden bereits 1955 die „Israel Folktale Archives“ (IFA) gegründet, die heute zur Universität Haifa gehören.125 Es wird an diesen Beispielen deutlich, dass Aktive Kulturkontinuität nicht durch ein „kulturelles Gedächtnis“ ersetzt werden kann, im Gegenteil, es zeigt sich, dass Erstere unersetzbar ist, will sich eine Gemeinschaft ihrer selbst ver125 Zur Geschichte und zum heutigen Arbeitsbereich der IFA vgl. deren Website http://ifa.haifa.ac.il und Alexander Alon: Jüdisches Erzählgut bewahren, in: tachles, 19.12.2008, S. 51f.

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gewissern. Dass dies in einer Bedrohungssituation in der Diaspora intensiver geschieht und daher wirkmächtiger ist, zeigen viele Beispiele von Gemeinschaften, die in solchen Bedrohungssituationen leben, wobei die Bedrohung nicht immer eine physische sein muss. Die Armenier, Basken und Native Americans sind, neben der jüdischen Gemeinschaft, eindrucksvolle Beispiele dafür.

Erinnerung und Thora Doch noch einmal zurück zu den so häufig zitierten zentralen Stellen zur Erinnerung in der Thora. Eine genaue Textanalyse fördert noch etwas anderes außer dem Aufruf zur Erinnerung zutage, was gerade für den Bereich der Historiografie interessant ist.126 In Schemot (Exodus) 17:14, nach dem Sieg Joshuas gegen die Amalekiter127, steht: „ER sprach zu Mosche: Schreib das zum Gedächtnis ins Buch und legs in die Ohren Jehoschuas: Ja, ich wische, wische das Andenken Amaleks unter dem Himmel hinweg.“128 Das erste Mal in der Thora wird eine Verbform von „schreiben“, hier „ketov“, verwendet, allerdings nicht, um damit lediglich der Erinnerung dienlich zu sein, sondern dies mit einem Schreibauftrag zu verbinden. Doch dieser Schreibauftrag, den man als Aufforderung zum Erstellen einer Chronik, zur Historiografie verstehen kann, wird mit einem offensichtlich diametral zur Aufforderung stehenden Satz verbunden, denn Gott will die Erinnerung an Amalek austilgen. Warum also erst aufschreiben, wenn Gott die Erinnerung wegwischen will? Gibt es einen Unterschied zwischen aufgeschriebener und mündlicher Erinnerung? Bleibt die erste bestehen, auch wenn die zweite ausgelöscht ist? Die auszutilgende Erinnerung an Amalek wird noch einmal in Dewarim (Deuteronomium) 25:19 wiederholt: „Es sei: wann ER dein Gott dir Ruhe gewährt vor all deinen Feinden umher in dem Land, das ER dein Gott dir als Eigentum gibt, es zu erwerben, wegwische das Gedenken Amaleks ringsunter dem

126 Für den Hinweis und die Diskussionen über die folgenden Thora-Stellen danke ich Rav Michel Birnbaum-Monheit ganz herzlich. 127 Die Amalekiter waren in der Bibel ein mit den Israeliten verfeindeter Volksstamm. Allerdings findet ein Volk mit dem Namen Amalekiter außerhalb der Bibel keine Erwähnung. „Amalek“ wurde in der jüdischen Tradition zum Synonym für einen Feind des jüdischen Volkes und bezeichnete z. B. Rom oder auch in der Moderne das Nazi-Regime. 128 Deutsche Übersetzung aus Martin Buber und Franz Rosenzweig: Die Schrift, 10. verbesserte Auflage, Stuttgart 1992.

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Himmel, vergiss nicht!“129 Während in Schemot noch Gott selbst offensichtlich die Erinnerung an Amalek auslöschen will, ergeht in Dewarim die Aufforderung an die Israeliten, die Erinnerung an Amalek selbst wegzuwischen. Es ist hier nicht mehr von „Schreiben“ die Rede, dies ist offensichtlich bereits geschehen. Der Vers in Schemot wird aber auch nicht mehr näher aufgegriffen, in dem z. B. gesagt würde, dass das Buch, in das man die Erinnerung an Amalek geschrieben hat, vernichtet werden soll. Es ist in der Auslegungstradition des Schemot-Verses auch nicht klar, was tatsächlich mit „Buch“ gemeint ist.130 Doch ist das entscheidende Wort hier nicht „Buch“, sondern „schreib“ in Verbindung mit Vergessen.131 Ist also das Aufschreiben der erste Weg zum Vergessen? Führt das Aufschreiben per se zum Vergessen? Damit wäre Geschichtsschreibung nicht der Königsweg der Erinnerung, sondern genau das Gegenteil. Verschwindet damit Geschichte aus dem Bewusstsein? Wenn dem so wäre, müsste Erinnerung in Form von Historiografie ganz neu betrachtet werden. Der schon zitierte Benedetto Croce hat sich genau über diesen Punkt in einer 1938 erschienenen Schrift geäußert: „Geschichte schreiben, so bemerkte einmal Goethe, ist ein Mittel um die Vergangenheit von sich abzuwälzen. Das 129 Deutsche Übersetzung aus Buber/Rosenzweig. 130 Zwei Beispiele dazu: Rabbi Mose ben Nachman (Ramban) zitiert Rabbi Abraham ibn Ezra, der „Buch“ mit Bemidbar (Numeri) 21:14 identifiziert „im Buch von den Kriegen des Herren“ (rev. Luther-Übersetzung, Württembergische Bibelanstalt 1964). Ramban folgt ibn Ezra nicht, sondern beruft sich auf Dewarim 31:26 „Nehmt das Buch des Gesetzes“ (rev. Luther-Übersetzung, Württembergische Bibelanstalt 1964, Buber/Rosenzweig übersetzen „Buch der Weisung“), vgl. Ramban. Commentary on the Torah. Exodus, übersetzt von Charles B. Chavel, New York 1973, S. 245f. Gunther Plaut schreibt, es werde nicht näher erklärt, ob sich „Buch“ auf Bemidbar 21:14 beziehe oder die Thora meine; vgl. Gunther W. Plaut: Die Tora. In jüdischer Auslegung. Band II: Schemot. Exodus, Gütersloh 2000 (Originalausgabe New York 1981, Titel: „The Torah. A Modern Commentary“), S. 180. 131 Bemerkenswerterweise hat diese erste Erwähnung des Verbs „schreiben“ in der reichhaltigen Traditionsliteratur kaum Eingang gefunden. Im Traktat Megilla im babylonischen Talmud wird diese Stelle zwar diskutiert, aber nur unter der Maßgabe, dass Ester verlangt habe, man möge schriftlich festhalten, was die Weisen erst ablehnten, nach Konsultation von Schemot 17:14 dann aber erlaubten. Vgl. Der Babylonische Talmud, Traktat Megilla, Fol.  7a, Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, Frankfurt/Main 1996 (Erstausgabe Berlin 1929), Band IV, S. 24f. Auch in der Mechiltha wird die Stelle behandelt, aber mehr auf die Hermeneutik der Worte „dieses“ (bei Buber/Rosenzweig: das), „Buch“ und „Erinnerung“ (bei Buber/Rosenzweig: Gedächtnis) eingegangen. Vgl. Mechiltha. Ein tannaitischer Midrasch zu Exodus. Übersetzt und erläutert von Jakob Winter und August Wünsche, Leipzig, 1909, S. 173.

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geschichtliche Denken erniedrigt diese Vergangenheit zu einem Rohstoff, wandelt sie in seinen Gegenstand und die Geschichtsschreibung befreit uns von der Geschichte.“132 Geschichtsschreibung ist also, nach Croce, nicht eine Form der Erinnerung, sondern eine Form des Vergessens, mehr noch: eine Form des Befreiens. Heißt das dann aber, dass ein Ereignis, ist es erst einmal in die Mühlen der Geschichtswissenschaft geraten, für die Gesellschaft als erledigt betrachtet werden kann? Auf diese Frage soll das letzte Kapitel eine als Ausblick formulierte Antwort geben.

132 Benedetto Croce: Die Geschichte als Gedanke und Tat, Bern 1944, S. 77. Das italienische Original erschien 1938 unter dem Titel „La storia come pensiero e come azione“.

13. Ausblick – Historiografie neu angeschaut Nimmt man die in den vorangehenden Kapiteln erarbeiteten Theorien zur Erinnerung des Individuums und der Aktiven Kulturkontinuität zu der von Croce ausgeführten These der Geschichtsbefreiung durch Geschichtsschreibung hinzu, stellt sich ausblickend explizit die Frage, ob Historiografie nicht neu betrachtet werden sollte, werden muss. Auch wenn Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, These  IX seines Essays „Über den Begriff der Geschichte“, ein beliebtes Objekt ist, um Geschichte zu illustrieren, ist seine VI. These im Zusammenhang dieser Arbeit wichtiger. Benjamin schreibt: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“1 Damit spielt auch Benjamin noch einmal auf Rankes „wie es gewesen“ an und verneint es. Aber lag Ranke wirklich so falsch? Benjamins „aufblitzende Gefahr“ deutet auf einen Umstand hin, der für das individuelle Gedächtnis eine wichtige Rolle spielt, denn, wie in Kapitel 10 erläutert, das Gehirn erinnert Ereignisse nicht als durchgehendes Narrativ, sondern als Einzelmomente, als „flashs“, aus denen dann im erinnernden Erzählen ein Narrativ gemacht wird, da der Mensch Erinnerungen im Moment der Versprachlichung in ein Narrativ einbindet; er beschreibt, was er erinnert, was in diesem Moment schon eine Erzähl-Übersetzungsleistung ist. Geschichtswissenschaft ist dann, und hier sei noch einmal auf Benedetto Croce verwiesen, ebenfalls eine Erzählung: „Die Geschichte erzählt [kursiv i. O.]“, schreibt er 1893.2 Croces Debatte vor allem mit und über seine Historikerkollegen aus Deutschland über die Frage, ob es eine Geschichts-Wissenschaft gebe, was Croce verneinte, der vielmehr Geschichts-Schreibung als eine Kunst bezeichnete, ist hinlänglich bekannt. Das Erzählen in der Geschichte muss aber bei der weiteren Diskussion über Geschichtswissenschaft im Kopf behalten werden. Unterscheidet sich also Geschichte von Geschichtswissenschaft? Geschichte ist niemals frei von Mythen, Verklärungen und Verteufelungen, denn Geschichte ist eine sich auch aus der Aktiven Kulturkontinuität speisende Erzählung, die sich letztlich nicht von den Göttersagen der Griechen und Römer unterscheidet. Erzählte Geschichte wie auch die Göttersagen sind 1 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, Stuttgart 1992, S. 144 (verfasst wurde der Essay 1940). 2 Croce 1984, S. 18.

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nichts anderes als Parabeln, als ein Angebot an Deutungsmustern; sie sind, um es etwas überspitzt zu formulieren, „Bildungsromane“. Damit sind Instrumentalisierungen Tür und Tor geöffnet; Geschichte kann „missbraucht“ werden, aber das liegt in ihrem Selbstverständnis und auch in ihren Quellen, nämlich der menschlichen Erinnerung und Handlung, begründet. Diese Instrumentalisierungen sind moralisch nicht verwerflich; Erinnerung und Handlung geben immer unterschiedliche Interpretationen frei. Auch die Geschichtswissenschaft ist eine Erzählung, eine Kunst, um bei Croce zu bleiben, aber mit einem anderen Anspruch. Ranke hat es auf den Punkt gebracht, wenn er wissen wollte, „wie es gewesen“, um damit die Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichtswissenschaft herzustellen. Rankes Ansatz galt aber bald als unerfüllbar, als Historismus in Reinkultur, der den Anspruch vertrat, eine objektive Geschichtsschreibung liefern zu können, ein Anspruch, der nicht zu leisten war. Alle Versuche, eine subjektiv-objektive Historiografie, worunter hier die Methoden nach Ranke verstanden werden können, die sich der Subjektivität des Historikers objektiv bewusst waren, zu liefern, haben vor allem eines getan: Sie haben die Faktendichte darüber, „wie es gewesen“, erhöht, denn der Wunsch, eine Form der Wahrheit, und sei sie noch so subjektiv, darzustellen, ist allen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen immanent. Geschichtswissenschaft als Mythenzerstörer, Geschichtswissenschaft als Aufbrecher der Mythengedächtnisse muss sich daher neu orientieren. Das Konzept der Aktiven Kulturtheorie zwingt hierbei erneut zu einer persönlicheren Geschichtswissenschaft. Dass dies in der Historiografie wieder ein Thema ist, zeigt die zunehmende Beliebtheit von Biografien, die eigentlich als Auslaufmodell der Geschichtsschreibung galten, jetzt aber eine Renaissance feiern,3 die nur so zu erklären ist, dass hier offensichtlich einem Bedürfnis entsprochen wird – und zwar einem Bedürfnis von Publikum und (notabene) Historiografie. Geschichtsschreibung wird daher noch stärker „entsystemisiert“, was mit Clifford Geertz’ „Thick description“ einen Pfeiler haben könnte, aber seinen Vorläufer in Lucien Febvre findet, der schon 1938 in seinem Artikel „Geschichte und Psychologie“ (frz.: „La Psychologie et l’histoire“) forderte, sich mehr mit dem Erklären der Handlungen des Individuums zu beschäfti3 Es muss freilich gesagt werden, dass sich die heutigen Biografien in ihren Analysen von ihren Vorgängern unterscheiden, aber es bleibt der Umstand, dass Biografien wieder ein sehr großes Publikum finden und wissenschaftlich nicht mehr „geächtet“ werden. Vgl. u.  a. Jeremy D. Popkin: History, Historians, & Autobiography, Chicago, London 2005 und Hans Erich Bödeker (Hrsg.): Biographie schreiben, Göttingen 2003.

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gen: „‚Man muss sich‘, schreibt der holländische Historiker Johan Huizinga in einem ungemein suggestiven Buch, ‚in diese Empfänglichkeit des Gemütes [des mittelalterlichen Menschen, E. P.], diese Bereitschaft zu Tränen und geistiger Umkehr, diese Reizbarkeit hineindenken, um ermessen zu können, welche Farbigkeit und Intensität das Leben besaß.‘ Gewiß – aber vor allem muß man sie erklären.“4 Hineindenken und erklären sind also die Schlüsselworte für Febvre, die Geertz für seine ethnologischen Studien aufnimmt, allerdings mit dem Vorteil, die zu untersuchenden Menschen selbst aufsuchen, selbst beobachten zu können. Dies ist Historikern und Historikerinnen nicht bzw. nur als Annäherung möglich; sie können nicht ein zu beschreibendes Ereignis aufsuchen, sozusagen selbst erleben und dann darüber schreiben.5 Sie sind, unter anderem, auf Erinnerungen angewiesen. Aber Erinnerung ist trügerisch. Die Vorstellung, der Wunsch nach der perfekten Erinnerung ist zwar immer noch vorhanden, aber nicht realisierbar, weil Erinnerung, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, kein verlässliches Instrument für den Menschen ist. Es geht bei der Entwicklung des Menschen nicht darum, sich perfekt zu erinnern, sondern aus den Flashs und kurzen Momenten eine – pathetisch gesprochen – Lehre zu ziehen, eine Erfahrung zu machen, die sich handlungsleitend auf das spätere Verhalten auswirken kann. Das Gedächtnis ist viel zu schwach entwickelt, um die Wünsche nach der perfekten Erinnerung zu erfüllen. Die Romanfigur von Borges wie auch AJ, die junge Frau, die sich an jedes Datum und die damit zusammenhängenden Geschehnisse erinnert, zeigen zudem beispielhaft , wie sehr die betroffenen Personen unter der „Gabe“ eines solchen Gedächtnisses leiden. Ernst Bloch wird ein Satz zugeschrieben, der das Problem weniger wissenschaftlich, dafür umso treffender benennt: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich erinnert, was noch zu tun ist.“6 Das heißt, erinnern macht nur Sinn, wenn es an die Zukunft gemahnt. Und erinnern ist höchst individuell, wie aus den vorhe4 Lucien Febvre: Geschichte und Psychologie, abgedruckt in: ders., Das Gewissen des Historikers, Frankfurt 1990, S. 86. Febvre bezieht sich auf Huizingas „Herbst des Mittelalters“. 5 Eine kulturwissenschaftliche Bemerkung: In den 1970er-Jahren wurden auch im deutschen Fernsehbereich einige Folgen der amerikanischen Serie „The Time Tunnel“ ausgestrahlt, bei denen zwei Wissenschaftlicher durch eine Zeitmaschine verschiedene Ereignisse der Weltgeschichte (klassischer Beginn: Die Wissenschaftler landen auf der „Titanic“) miterleben. Obwohl sie den Verlauf der Geschichte (und vor allem der Katastrophen, siehe Titanic) kennen, können sie den Gang der Ereignisse nicht ändern, verursachen zum Teil sogar den Ablauf, wie er aus den Geschichtsbüchern bekannt ist. 6 Ernst Bloch, zitiert nach Reinhard Gaede: Christ und Sozialist, 4/1998.

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rigen Kapiteln deutlich wurde. Dem widerspricht auch nicht die Beeinflussung der vermeintlichen Erinnerung, denn in letzter Konsequenz ist es nicht wichtig, ob das Erinnern an ein Ereignis detailliert exakt ist oder von anderen Einflüssen verschoben wird, es ist nur wichtig, dass sich der Einzelne, man könnte sagen: einer zu einem Punkt verschmolzenen Idee erinnert, also bei der Grenzöffnung der DDR im November 1989 an den allgemein erlebten Freudentaumel – wenn es denn das ist, was für den sich Erinnernden wichtig war. Wer die nicht erwartete und nicht sehr geschätzte Verwandtschaft aus der DDR plötzlich vor der Haustür hat, mag sich eher an Ärger erinnern, wer den 30 Jahre nicht mehr gesehenen Bruder in jenen Novembertagen wieder trifft, wird vielleicht nur mit Freude daran denken. Erinnerung, d. h. die zu einem Punkt verschmolzene Erinnerungsidee, ist äußerst individuell, auch wenn Vorstellungen eines „kommunikativen Gedächtnisses“ etwas anderes suggerieren: Der Mensch bleibt als Entität ein Einzelner, oder wie es der schon zitierte Ernst Bloch ausgedrückt hat: „Es ist nicht zu erwarten, daß Menschen jemals arm an Ich auftreten. Keiner hört auf, ein Einzelner in diesem seinem Rahmen zu sein, sei das auch noch so schwach oder nebenbei. Der Wunsch, auf eigenen Füßen zu stehen, ist mit dem aufrechten Gang nahe verwandt. Es gibt in jedem Menschen einen wie immer durchkreuzten Willen, der unabhängig zu sein wünscht und nicht untertan.“7 Und dieser Mensch hat auch eine unabhängige Erinnerung, die sich subtil von den angelernten und nachgesprochenen Ereigniskenntnissen unterscheidet. Die Historiografie braucht also keine neue Quellenkritik, die sich in neue Namen kleidet, wie Johannes Frieds „Memorik“, sondern eine Erinnerungskritik, die sich explizit mit der Erinnerung eines Individuums beschäftigt. Diese Erinnerungskritik darf aber nicht von den Prämissen ausgehen, man müsse nur gut nachfragen, dann kämen schon die detaillierten Erinnerungen zutage, oder gar annehmen, niedergeschriebene „Erinnerung“, und darunter sind auch alle schriftlichen Formen von Ego-Dokumenten und Selbstzeugnissen zu verstehen, sei für die historiografische Arbeit wertvoller als eine Oral-HistoryArbeit. Eine auf Erinnerung angewendete „klassische“ Quellenkritik geht an den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung vorbei; ein Hinweis, mit Erinnerungen vorsichtig umzugehen, erscheint in diesem Zusammenhang wie eine Plattitüde. Wichtig zu fragen wäre, wie eine verschmolzene Idee der Ereigniserinnerung aussieht bzw. was die Person aus dem Ereignis mitnimmt. Dies meint nicht die sich möglicherweise ändernde Beurteilung eines Ereignisses im 7 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt/Main 1980, S. 1134. Bloch schrieb „Prinzip Hoffnung“ zwischen 1938 und 1947 in den USA.

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Laufe der Jahre, sondern den Versuch, die Person in der Erinnerung bei dieser Idee „abzuholen“, ihre Lebenswelt um diese verschmolzene Erinnerung herum zu analysieren und daraus einen Eindruck von den Geschehnissen, besser: vom Erleben der Geschehnisse zu bekommen. Hierfür ist auch ein stärkeres Einbeziehen psychologischer und psychoanalytischer Methoden notwendig, aber dies ist ein Desiderat, das der Geschichtswissenschaft schon lange anhängt. Interpretation menschlichen Verhaltens gehört zu den Kernkompetenzen von Historikern und Historikerinnen, doch auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse und der Psychologie wird in der universitären Ausbildung kein Bezug genommen, was die Analysefähigkeit schwächt, besonders im Bereich der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung. Auch wenn die ursprünglichen Theorien Sigmund Freuds heute stark kritisiert werden, erlebt die Psychoanalyse eine Renaissance in Form einer Verbindung mit den Neurowissenschaften.8 Hier muss auch die Erinnerungskritik ansetzen, sie muss sich die Erkenntnisse der Psychologie und der Psychoanalyse zunutze machen, um die verschmolzenen Erinnerungen für die historiografische Arbeit im Wortsinne zum Sprechen zu bringen. Erinnerungsmodelle wie das „kulturelle Gedächtnis“ sind dabei nur hinderlich, da sie ein konstruiertes Massenphänomen als permanent handlungsleitend darstellen. Es sei hierfür auf Freuds Aufsatz „Massenpsychologie und IchAnalyse“ verwiesen. In der Beschäftigung mit historischen Ereignissen, die sich als handlungsleitend erweisen, muss aber die einzelne Erinnerung, das individuelle Gedächtnis im Mittelpunkt stehen, sonst wird es nicht möglich sein, Entwicklungen außerhalb allgemein verfasster Aussagen zu erkennen, vor allem auch den individuellen Anteil der einzelnen Handelnden zu bestimmen. Dabei sind folgende Fragen zentral: Welche Rolle spielen Individuen bei dem Ablauf von Ereignissen? Ist Geschichte, ist die Gesellschaft eher von einem Zeitgeist Hegel’schen Zuschnitts bestimmt oder doch viel stärker individuell geprägt? Wie kann dies auseinandergehalten werden? Welche Rolle spielte beispielsweise der Ba’al Shem Tov bei der Gründung und Entwicklung des Chassidismus? Ist hier von einem Zeitgeist neuer Frömmigkeit auszugehen, der sich nach den Pogromen in der Ukraine innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ausbreitete? Oder ist es eben doch die Person Israel ben Eliezer, des Ba’al Shem Tov, die diese Richtung begründete? Den Zugang zu der oben beschriebenen Erinnerungskritik schafft neben dem stärkeren Einbeziehen der Psychologie und der Psychoanalyse die lebensweltliche Forschung. Im Ausgehen vom Individuum, also in einem Betrach8 Vgl. Beate Lakotta: Die Natur der Seele, in: Spiegel special, 6/2007, „Gesund und glücklich“, S. 58–70.

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ten von innen nach außen, liegt die Möglichkeit, Erinnerungskritik auch in schwierigen Quellenlagen einzusetzen, weil der Blick auf ein Individuum es dem Historiker ermöglicht, angelernte Ideen von der individuellen Erinnerung zu trennen, die verschmolzene Erinnerungsidee für diese eine Person aussagekräftig zu machen. Daraus lässt sich dann aber auch im Induktionsschluss etwas über eine Gesellschaft aussagen. Die großen Narrative sind weniger gefragt, und doch wollen Menschen etwas über „Gesellschaften“ wissen, wollen wissen, was die Werte und Handlungsleitlinien sind. Dass sich dies an individuellen Biografien zeigen lässt, beweist, wie bereits gesagt, die wieder erstarkte Sparte der historischen Biografie.

Schlusswort Von Friedrich Dürrenmatt stammt angeblich der Ausspruch, er wisse beim Beginn eines Romans auch nicht, wie er ausgehe. Als ich 1999 die Forschungsarbeit über das Pack begann, war es die Idee, über die Arbeit mit dem Pack einen tieferen Einblick in die jüdische Lebenswelt Zürichs zu erhalten. Das Pack sollte wie ein einzelner Akteur angesehen werden und die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten auf das jüdische Zürich, wenn ich es einmal so formulieren darf, Anwendung finden. Dieser Erkenntnisweg erwies sich aber bereits im ersten Jahr der Forschung als eigentlich nicht realistisch, weil er zwei Dinge voraussetzte: zum einen die Übertragung der Akteursrolle auf eine Gruppe, zum anderen die Annahme, das Pack sei repräsentativ für die jüdische Gemeinschaft Zürichs. Die erste Voraussetzung wurde aus methodologischen Gründen fallen gelassen, da ich im Laufe der Arbeit das Lebensweltkonzept streng auf das Individuum bezogen angewendet habe, die zweite Annahme habe ich nach der intensiven Arbeit mit den Packmitgliedern und dem Abgleichen dieser Erkenntnisse mit den aktuellen Arbeiten zur jüdischen Geschichte Zürichs gestrichen. Dafür öffneten sich mit der Oral-History-Arbeit und dem Nachdenken über ein kollektives Gedächtnis des Packs zwei andere Bereiche, die ich intensiv verfolgte. Bei der Oral History waren es die besonderen Bedingungen der Gespräche mit den Packmitgliedern (keine Ton- oder Bildaufnahmen) und der lange Kontakt zu den „Packianerinnen“, die mich schließlich zur Formulierung einer Theorie und Methodologie einer solchen Situation führten, die ich Relation-dependent Research genannt habe. Beim kollektiven Gedächtnis wurde es noch ausführlicher. Fragen nach dem Existieren eines kollektiven Gedächtnisses beschäftigen mich schon sehr lange, aber erst in der Auseinandersetzung mit dem Pack ist es mir gelungen, nicht nur meine Vorbehalte gegen diese Vorstellung exakt zu formulieren, sondern daraus auch eine eigene Theorie, die Aktive Kulturkontinuität, zu entwerfen. Gerade dieser Teil hat in meinem Nachdenken und Forschen im Laufe der letzten zwei Jahre immer größeren Raum eingenommen, damit aber auch die Fertigstellung der Arbeit verzögert. Rückblickend bin ich über diese Verzögerung aber sehr froh, denn nur dadurch konnte sich ein Theoriegebäude entfalten, mit dem ich die Arbeit über das Pack zu einem gewissen Abschluss bringen konnte. Die Hinleitung zur Aktiven Kulturkontinuität ist aber auch ein Spiegel meines eigenen wissenschaftlichen Weges, wie ich ihn in der didaktischen Leseanleitung beschrieben habe und den ich dadurch versprachlichen und in eine Untersuchung einbauen konnte.

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Der Abschluss der Arbeit, die Auseinandersetzung mit den Begriffen „jüdische Erinnerung“ und „jüdisches Gedächtnis“, ergab sich fast logisch aus den beiden vorherigen großen Bereichen. Die Zuschreibungen, die mit der Verwendung des Adjektivs „jüdisch“ verbunden sind, werden als bekannt vorausgesetzt, daher nicht benannt, womit einer wissenschaftlich nicht seriösen Vorgehensweise die Tür geöffnet wird. Das Nichtdefinieren der Begriffe gleitet dann schnell ab in eher volkstümliche Zuschreibungen, bei denen es dann zu Aussagen wie derjenigen kommt, der hohe Anteil von Juden in der sich in den 1920er-Jahren entwickelnden Sexualwissenschaft lasse sich auch auf das hebräische Alphabet und das Fehlen der Vokale in der Schriftsprache zurückführen. In eine ähnliche Kategorie gehört die Aussage, Juden erinnerten sich immer rückwärts, da alle ihre Feiertage sich auf Ereignisse in der Vergangenheit beziehen würden.1 Es erscheint mir dringend notwendig, in diesem Bereich mit wissenschaftlicher Klarheit zu argumentieren – und sollte dies nicht möglich sein, zumindest die Unmöglichkeit der Definition zu beschreiben. Schaut man sich die großen Bereiche meiner Untersuchung an, könnte sich der Eindruck einer starken Heterogenität einstellen, der dann zu der berechtigten Frage führen würde, was der Sinn einer solchen heterogenen Untersuchung sei, und daran anschließend, ob es eine gemeinsame Klammer gebe. Die zweite Frage habe ich in der didaktischen Leseanleitung bereits beantwortet, zu der ersten Frage möchte ich noch einmal gesondert Stellung beziehen. Schaut man sich die Entwicklung im Fach Jüdische Studien an, wird deutlich, dass es immer mehr Arbeiten gibt, die sich nicht nur auf einen Teilbereich, z. B. Jüdische Geschichte, Judaistik oder Jiddistik, konzentrieren, sondern die versuchen, verschiedene Bereiche miteinander zu verbinden. Jüdische Studien fordern geradezu, dass bereichs- und themenübergreifend gearbeitet wird, sonst wird die komplexe Materie nicht deutlich. Das Beispiel einer Doktorandin, die aus dem Nichtvorhandensein von Synagogen im Moskau der 1930er-Jahre schloss, dort habe es kein jüdisches religiöses Leben gegeben, und die auf den Hinweis, dass es für Kultus und religiöses Leben nicht unbedingt einer Synagoge bedürfe, äußerst überrascht reagierte, kann dies illustrieren. Doch nicht nur in den Jüdischen Studien wird dieses themenübergreifende Forschen immer wichtiger. Dies geht einher mit dem an manchen Orten schon durchgeführten Zerschlagen klassischer Fachstrukturen, das sich in Fächern wie Gesellschaftswissenschaften niederschlägt. Hier scheint das Idealbild des 1 Beide Aussagen sind im wissenschaftlichen Rahmen mir gegenüber gemacht worden, werden hier aber aus Persönlichkeitsschutzgründen nicht näher nachgewiesen.

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allumfassenden Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts wiederzukehren. Doch dies ist es nicht, was ich in diesen Arbeiten sehe. Ich sehe vielmehr eine umfassende und unverzichtbare Ausbildung in einer Disziplin, z. B. Geschichte, und die Notwendigkeit, dies mit anderen Disziplinen, auch nach dem eigentlichen Studienabschluss, zu ergänzen. Meine Forderung nach einem stärkeren Einbeziehen der Psychologie in das Geschichtsstudium habe ich bereits in der Arbeit kurz angesprochen. In diesem Sinne können themenübergreifende Arbeiten dem komplexer werdenden Anspruch an die erkenntnistheoretische Durchdringung der Geschichte in den nächsten Jahren gerechter werden. Wo sehe ich aber selbst die Weiterführung der hier vorgelegten Forschungsergebnisse? Das Konzept der Aktiven Kulturkontinuität ist zunächst ein Beitrag zur Erinnerungsdiskussion in der Geschichtswissenschaft. Darauf aufbauen muss darüber nachgedacht und geforscht werden, wie Aktive Kulturkontinuität und die Herrschafts- und Machtstrukturen einer Gesellschaft zusammenhängen. Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses ist dabei zunächst als herrschaftsstützend zu betrachten, woraus sich eine besondere Stellung im gesellschaftlichen Diskurs ableitet. Aktive Kulturkontinuität könnte hier möglicherweise das individualstrukturalistische Gegenmodell einer Gesellschaft darstellen, sie könnte ein Analyseinstrument sein, um damit diese Individualstruktur aufzuzeigen und den Prozess des Beitrags des Individuums zur Gesellschaft herauszuarbeiten. Dies würde eine Erweiterung des lebensweltlichen Blicks bedeuten und einen Beitrag zur Subjekttheorie leisten. Gleichzeitig kann sich die Arbeit mit Zeitzeugen unter den Aspekten Relation-dependent Research und Aktive Kulturkontinuität verändern und erweitern. Oral-History-Projekte werden also nicht mehr „nur“ interviewbasierte Darstellungen einer vermeintlichen Geschichte von unten sein, sondern umfassendere Untersuchungen, die entweder in Publikationen der jeweiligen Forscher münden oder auch in z. B. autobiografischen Darstellungen, die etwas mehr sind als nur ein Ghostwriter-Projekt. Ein Beispiel, wie dies aussehen könnte, ist die Publikation „Frau Rabbiner Teichman erzählt. Ein Leben in Ungarn, Israel und der Schweiz“ (Baden 2009), die von Christiane Uhlig Gast verfasst und in enger Zusammenarbeit mit Agnes Teichman-Porjes gestaltet wurde. Ein Zitat aus der Einleitung von Uhlig Gast soll dies erläutern: „Unsere Arbeit begann mit der Darstellung der Kindheitsjahre in Kecskmetét. Nachdem ich auf der Grundlage ihrer Schilderungen das erste Kapitel geschrieben hatte, legte ich es Agnes Teichman zur Prüfung vor. Sie las es in meiner Anwesenheit sofort durch, und ihre Reaktion kam spontan: ‚Genau so hätte ich es geschrieben!‘ Ich freute mich sehr und empfand, dass damit eine Beziehungs-

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grundlage gelegt war, auf der wir weiterarbeiten konnten.“2 Christiane Uhlig Gast kannte Agnes Teichman vor der ersten Begegnung nicht. Aus einem auf zwei Monate angelegten Projekt einer für die Familie bestimmten Autobiografie wurde schließlich ein ganzes Jahr Arbeit und Begegnung, was dann in der zitierten Publikation mündete. „Frau Rabbiner Teichman erzählt“ geht in die Richtung, die ich mit der RdR angedeutet habe. Am Ende dieses Schlusswortes, am Ende der Arbeit soll noch einmal das Pack selbst zu Wort kommen. Im Vorwort des Packbuchs schreibt Walter U., man habe diese Chronik verfasst, um etwas „für unsere Nachkommen und vielleicht auch für andere festzuhalten.“ Ich hoffe, dies mit der vorliegenden Publikation getan zu haben.

2 Christiane Uhlig Gast: Frau Rabbiner Teichman erzählt. Ein Leben in Ungarn, Israel und der Schweiz, Baden 2009, S. 10.

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