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German Pages [263] Year 2024
Julia Moldovan Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹
Lettre
Meinem Bruder
Julia Moldovan (Dr. phil.) arbeitet am Theater Freiburg. Sie war Postdoc an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie auch promovierte. Ihr Magisterstudium der italienischen, rumänischen und neueren deutschen Literatur absolvierte sie in Freiburg, München, Bologna und Cluj-Napoca.
Julia Moldovan
Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹ Krieg und Umbruch in der italienischen Literatur des Novecento
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https ://dnb.dnb.de/ abrufbar.
© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: J. Zettler Lektorat: Adrian Moldovan und Gero Faßbeck Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839468098 Print-ISBN: 978-3-8376-6809-4 PDF-ISBN: 978-3-8394-6809-8 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
»Distruggere l’uomo è difficile, quasi quanto crearlo […]« (Primo Levi: Se questo è un uomo)
Inhalt
Dank ................................................................................9 Einleitung .......................................................................... 11 I. Theoretische Grundlegung .................................................... 21 1. Begriffe und Theorien von Latenz ................................................ 21 1.1 Etymologie und Überblick zur Latenz ....................................... 21 1.2 Gumbrecht: Latenz als Unbehagen ohne Begriffe ........................... 34 2. Schreiben und Erzählen von Extremerfahrungen ................................ 39 2.1 Forschungsüberblick und Aspekte der Gedächtnisforschung................ 39 2.2 Biopolitische Überlegungen zu Figuren der Schwelle bei Agamben, Arendt und R. Esposito .................................................... 43 2.3 Die Larve als Latenzfigur bei Primo Levi ................................... 58 2.4 Exkurs: Cioran und die ›Komödie der Wiedererweckung‹ ................... 63 II. Historischer und politischer Kontext ........................................ 67 1. Italien im Ersten und Zweiten Weltkrieg ........................................ 67 2. Die Lazarus-Metapher in der italienischen Faschismusdebatte (E. Gentile, Gori, Treves, Gramsci) ................................................ 71 III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen.................................... 1. Ausgehendes Ottocento und Jahrhundertwende ................................. 1.1 D’Annunzios ambivalente Umwertung der christlichen Lazarus-Figur ........ 1.2 Lazarus als Sozial- und Religionskritik in der Lyrik von Guerrini, Rapisardi, Camerana und Satta ............................................
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2. Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit ........................................107 2.1 Auferstehungsmythen im italienischen Drama der Zwischenkriegszeit bei Borgese, Gallian und Pirandello ........................................107 2.2 Lazarus als Auseinandersetzung mit Leben, Krieg und Tod in der Prosa von Boine, Rebora und Govoni ................................ 130 3. Übergang und Nachkriegszeit...................................................146 3.1 Lazarus zwischen Erinnerung und Verdrängung in der Nachkriegslyrik Italiens (Negri, Quasimodo, Montale, dell’Arco, Guidacci, Ungaretti, Sereni)...146 3.2 Lazarus als Moralisierung und Satire bei Malaparte und Fo..................174 3.3 Lazarus und die Wiederkehr des Verdrängten bei Silone und Moravia .......190 Zusammenfassung ................................................................ 211 Literaturverzeichnis ............................................................. 229 Primärliteratur .................................................................... 229 Lyrik .......................................................................... 229 Drama .........................................................................231 Prosa und Literaturtheorie .....................................................231 Theorie und Sekundärliteratur ..................................................... 234
Dank
Mein größter Dank gilt all jenen Menschen, von denen ich etwas gelernt habe und die mein Leben durch Liebe, Freundschaft, Freude, Stärke, Mut, Authentizität und Intelligenz bereichern. Dazu gehören besonders meine Familie und meine Freunde. Einen tiefen Dank möchte ich meinen Eltern, meinem Bruder und meiner guten Freundin Stefanie Klug aussprechen, auf die ich immer zählen kann und die mir in einer schwierigen Zeit eine große Stütze waren. Herrn Prof. Dr. Thomas Klinkert danke ich für seine wertvolle jahrelange persönliche und fachliche Unterstützung. Darüber hinaus bedanke ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Finanzierung, die mir u.a. einen Forschungsaufenthalt in der Biblioteca Nazionale Centrale di Roma ermöglichte, bei der Französischen Botschaft, deren Stipendiatin ich war, sowie bei Herrn Prof. Dr. Claudio Milanesi und den Mitarbeitern und Postdocs des CAER in Aix-en-Provence für die freundliche Aufnahme in ihr Forschungsinstitut. Schließlich möchte ich den Mitarbeitern von transcript für die angenehme Zusammenarbeit danken. Freiburg im Dezember 2023
Einleitung
Die vorliegende Arbeit1 geht der Frage nach, wie das vermehrte Aufkommen von Lazarus-Figuren in der italienischen Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zu bewerten ist. Ausgangspunkt ist hierbei Hennigfelds These, dass es sich bei diesen Figuren um »Latenzindikatoren handelt, die in Schwellenphasen nach Kriegs- und Krisenereignissen traumatische Erfahrungen zum Ausdruck bringen, die […] nur im Medium der Literatur sagbar sind.«2 Im Anschluss an diese These wird untersucht, inwiefern die ursprüng-
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Diese Arbeit entstand im Rahmen eines DFG-Projekts an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, bei dem ich als Projektmitarbeiterin eigenverantwortlich zur italienischen Literatur forschte. Für die Unterstützung bedanke ich mich bei der DFG. Hennigfeld, Ursula (2022): Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts. Heidelberg (Winter), S. 7. An anderer Stelle wird angenommen, dass Lazarus-Figuren historische Krisenmomente wie z.B. den Zweiten Weltkrieg belegen und »in posttraumatischen Gesellschaften Latenzindikatoren für (noch) nicht Sagbares, Verdrängtes, Unbewältigtes sind.« Hennigfeld, Ursula (2016a): »Vorwort«, in: Hennigfeld, Ursula (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg (Winter), S. 7–18, S. 14 und vgl. ferner Hennigfeld, Ursula (2016b): »Lazarus-Figuren in Dramen des 20. Jahrhunderts«, in: Hennigfeld, Ursula (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg (Winter), S. 127–154, S. 151. Zu Hennigfelds Auseinandersetzung mit Lazarus in v.a. der französischen und spanischen Literatur vgl. außerdem die folgenden Aufsätze: Hennigfeld, Ursula (2012): »›Le vrai problème n’est pas de raconter‹ – Jorge Semprún und das 20. Jahrhundert«, in: Burns, Tom/Cornelsen, Elcio/Jaeckel, Volker/ Vieira, Luiz Gustavo (Hg.): Revisiting 20th Century Wars. New readings of modern armed conflicts in literature and image media. Stuttgart (ibidem), S. 213–234; Hennigfeld, Ursula (2012a): »Auferstehung und Leid. Lazarus-Figuren bei Vildrac, Obey, Wiesel und Malraux«, in: Romanistische Zeitung für Literaturgeschichte 36, Heft 3/4. Heidelberg (Winter), S. 335–352; Hennigfeld, Ursula (2014): »Le retour de Lazare: Le survivant chez Jean Cayrol«, in: Gelz, Andreas/Bosshard, Marco (Hg.): Return Migration in Romance Cultures. Freiburg (Rombach), S. 127–142; Hennigfeld, Ursula (2016c): »›Cet homme revenu de la nuit‹: Lazare et la fictionalisation de transitions historiques«, in: Bengsch, Daniel/
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lich aus dem biblischen Kontext stammende Figur (Joh 11,12/Lk 16,19–31)3 in der italienischen Literatur refunktionalisiert und herangezogen wird, um sich mit den Themen Krieg, Krise, Shoah, Gewalt, Verdrängung, Vergessen, Erinnerung, Unsagbarkeit, Absenz, Latenz und mit (kollektiven) Traumata auseinanderzusetzen. Denn anhand der literarischen Lazarus-Figuren, so die Hypothese, werden latente, verdrängte, schwer vermittelbare oder in den offiziellen Diskursen der Gesellschaft und Politik ungesagt gebliebene Themen aufgegriffen und neu verhandelt. In dieser Arbeit wird ein enger Zusammenhang zwischen Lazarus und ›Latenz‹ postuliert, der eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff
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Segler-Messner, Silke (Hg.): Depuis les marges: les années 1940–1960, une époque charnière. Berlin (Schmidt), S. 130–148; Hennigfeld, Ursula (2019): »I confini culturali e la ›natura‹ del sapere: I ›fenomeni di Lazzaro‹«, in: Schafroth, Elmar/Conte, Domenico/ Wirtz, Nora (Hg.): Natura e cultura nelle scienze dell’uomo. Natur und Kultur in den Geisteswissenschaften. Oberhausen (Athena), S. 261–272. Hennigfelds Untersuchungen und ihre Thesen zu Lazarus und Latenz sind für die vorliegende Arbeit grundlegend. Lazarus kommt in der Bibel im Johannes- und im Lukasevangelium vor. Bei Johannes stellt die Auferweckung des Lazarus das letzte Wunder Jesu dar (Joh 11,12): Jesus erhält von Martha und Maria, den Schwestern des Lazarus, Kunde, dass dieser krank ist. Nachdem Lazarus gestorben ist, macht sich Jesus nach Bethanien auf. Dort angekommen, lässt er den Stein vor dem Grab des Lazarus entfernen, der schon vier Tage darin liegt, und ruft mit lauter Stimme: »Lazarus, komm heraus!« Daraufhin tritt Lazarus, in Grabestücher gebunden und mit einem Schweißtuch, das sein Gesicht verhüllt, aus dem Grab heraus. Vgl. Die Bibel. Die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Köln (Naumann&Göbel) 1964, S. 116–117. Für eine theologische Einordnung und fundierte Auseinandersetzung mit dem Wunder und der Auferweckung des Lazarus s. Labahn, Michael (1999): Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten. Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche. Band 98. Berlin/New York (De Gruyter), S. 378ff. Bei Lukas kommt Lazarus in der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus vor (Lk 16,19–31). Sie erzählt von einem reichen Mann, der zu Lebzeiten prächtige Banketts abhält und in seinem Reichtum schwelgt, während der Bettler Lazarus hungrig und von Schwären bedeckt unbeachtet vor seiner Tür liegt. Als beide sterben, findet sich Lazarus im Schoße Abrahams wieder, der Reiche jedoch wird von den Höllenflammen verzehrt. Auf die Bitte des Prassers, Abraham möge Lazarus schicken, um ihn zu kühlen, antwortet Abraham ihm, dass er im Leben Gutes erhalten habe und Lazarus Böses, und er somit im Jenseits gepeinigt, Lazarus aber getröstet werde. Auch die zweite Bitte, dass Lazarus auf die Erde zu den Brüdern des Prassers geschickt werde, um diese zu warnen, wird ihm verwehrt. Vgl. Bibel, S. 88–89. Zu einer näheren Einordnung der Lazarus-Parabel und besonders auch in Bezug auf den Lazarus aus dem Johannesevangelium s. Labahn 1999: 451ff.
Einleitung
der Latenz unabdingbar macht. Diesbezüglich kann konstatiert werden, dass in den letzten Jahren ein vermehrtes Forschungsinteresse am Thema ›Latenz‹ zu beobachten ist, das sich besonders im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft niederschlägt, bis heute jedoch keine einheitliche Theorie vorliegt, sodass die Schärfung des Begriffs laut Diekmann/Khurana ein Forschungsdesiderat darstellt.4 An diesem Punkt setzt der theoretische Teil dieser Arbeit an, indem im Anschluss an eine etymologische Betrachtung zunächst zentrale Theorien und Überlegungen zur Latenz aus interdisziplinärer Perspektive vorgestellt werden. Eine weitere theoretische Grundlage für die später erfolgenden Analysen der literarischen Lazarus-Texte bildet Hans Ulrich Gumbrechts kulturwissenschaftlich geprägter Latenzbegriff, der eine besondere Anschlussfähigkeit an die Forschungsfrage aufweist.5 Gumbrecht bestimmt Latenz als Gefühl des Unbehagens und beunruhigende, unzugängliche Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart.6 Er stellt die These auf, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Latenzphase eingetreten sind, die bis heute anhält (ebd.: 34ff.). Gumbrecht geht sogar davon aus, »dass die Wirkung der irreversiblen Zerstörung […] plötzlich verschwand, oder genauer gesagt, dass sie keinerlei Spuren oder Folgen in der Welt hinterließ« (ebd.: 37). Eine zentrale Frage der Untersuchungen wird daher sein, inwiefern sich die Lazarus-Texte dieser von Gumbrecht konstatierten Tendenz der Neutralisierung entgegenstellen und welche Mittel und Metaphern sie finden, um sich mit Themen auseinanderzusetzen, die verdrängt wurden. In diesem Kontext sind die theoretischen Ausführungen von Primo Levi, Hannah Arendt und Giorgio Agamben zum Verlust von Sprache und Menschlichkeit in Extremsituationen erhellend. Sie zeigen, wie in Ausnahme- und Extremsituationen wie den nationalsozialistischen Konzentrationslagern sowie in den Grenz- und Schwellenfiguren, die sie generieren, die Begriffe von Leben
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Vgl. Diekmann, Stefanie/Khurana, Thomas (2007a): »Latenz«, in: Diekmann, Stefanie/Khurana, Thomas (Hg.): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff. Berlin (Kadmos), S. 9–13, S. 11. Schon Hennigfeld hat auf Gumbrechts Latenzbegriff aufmerksam gemacht und vorgeschlagen, ihn für die Analyse literarischer Texte fruchtbar zu machen; sie konzentriert sich hierbei auf die französische und spanische Literatur: Hennigfeld 2022: 42; Hennigfeld 2016b: 130f.; Hennigfeld 2019: 265. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich (2012): Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart. Berlin (Suhrkamp), S. 41 und das Kapitel I, 1.2 in dieser Arbeit.
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und Tod ihre Bedeutung verlieren. Hier zeichnet sich ab, dass es neuer Begriffe und Metaphern bedarf, die das Unsagbare auszudrücken vermögen, und es zugleich notwendig wird, diese Begriffe und Metaphern zu dechiffrieren, was eine profunde philologische Analyse leisten könnte, wie sie sich diese Arbeit zum Ziel setzt. Im Hinblick auf die literarischen Texte fällt auf, dass gerade in Zeiten, die von Umbruch geprägt sind und deren Ende offen ist, auf biblische Figuren und Geschichten zurückgegriffen wird. Davon ausgehend lassen sich zwei Hypothesen formulieren: Entweder soll die Rekurrenz auf tradierte Erklärungsund Ordnungsmuster demonstrieren, dass herkömmliche Sinnordnungen weiter Geltung besitzen und es helfen kann, sich auf sie zurückzubesinnen, um Krisenmomente zu überwinden und gedankliche Fluchträume zu schaffen; oder aber es wird aufgezeigt, dass Tradiertes nicht mehr ausreicht, um die neue gewaltvolle Realität zu erfassen, dass es im Angesicht des Unbekannten versagt und umgeschrieben werden muss. Insofern steht in Frage, auf welche Weise die tradierte Lazarus-Figur aus der Bibel in der Literatur aufgegriffen wird und welche Veränderungen, Umdeutungen und Kontextverschiebungen sie dort erfährt. Bemerkenswert ist außerdem, dass sowohl mit dem Faschismus sympathisierende (D’Annunzio, Pirandello, Negri, Malaparte, Quasimodo) als auch antifaschistische (Gramsci, Borgese, Silone, Moravia), gläubige (Rebora, Boine) und religionskritische (Gallian, Pirandello, Malaparte, Fo) Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle auf die Lazarus-Figur rekurrieren. Vor diesem Hintergrund gilt es, zu untersuchen, wie Lazarus in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs verwoben wird, etwa in der Konfrontation mit der katholischen Kirche, der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen (sozial-)politischen Debatten, oder aber inwiefern die Metapher im Zusammenhang mit den faschistischen Mythen des Lebens und der Wiedergeburt Italiens erscheint. Die humanitäre Katastrophe des Zweiten Weltkriegs macht eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen unabdingbar; zugleich kommt die drängende Frage auf, wie ein moralischer Wiederaufbau zu leisten sei. Nach dem Krieg ist die Welt undurchdringlich geworden, die Wirklichkeit hat kein »verbürgtes Konzept«7 mehr und wird als fremd wahrgenommen, während sich die Mo-
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Borsò, Vittoria (2012): »Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismo. Offenheit zum Leben«, in: Öhlschläger, Claudia/Perrone Capano, Lucia/Borsò, Vittoria (Hg.): Realismus nach den europäischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit. Bielefeld (transcript), S. 261–289, S. 263.
Einleitung
dernität als »Bruch mit der Welt« (ebd.: 264) empfindet. Es entstehen neue ästhetische und literarische Formen und allgemein besteht der Wunsch nach einer ethischen und literarischen Erneuerung.8 In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass mit Lazarus auf eine Metapher zurückgegriffen wird, die traditionell eine Auferstehung und einen Neubeginn symbolisiert, aber zugleich als Infragestellung von Grenzen und Konzepten wie ›Leben‹ und ›Tod‹ fungiert. Des Weiteren wird Lazarus in der italienischen Literatur auffallend oft mit dem Motiv der Larve in Verbindung gebracht. Dies führt zu der Annahme, dass verstärkt ambivalente Metaphern und Figuren zum Einsatz kommen, die Grenz- und Schwellenphänomene bezeichnen und sich auf diese Weise eine relative Offenheit und Auslegbarkeit bewahren (bei Lazarus ist dies die Grenze zwischen Leben und Tod, bei der Larve die Schwelle beim Übergang von einer Gestalt zur anderen). Als solche sind die Metaphern des Lazarus und der Larve häufig nicht restlos dechiffrierbar und erfüllen in den literarischen Texten insofern eine Doppelfunktion: Einerseits stellen sie ästhetische Mittel dar, die auf etwas Latentes hindeuten und auf Latenzen sowie Unausgesprochenes aufmerksam machen, andererseits enthalten und generieren sie selbst Leerstellen, Ambivalenz und Uneindeutigkeit. Das umfassende Korpus besteht – abgesehen von den literaturtheoretischen und philosophischen Texten, die mit Lazarus operieren – aus 27 italienischen Werken der Lyrik, Prosa und des Dramas, die von 1875 bis 1969 entstanden sind und die von 21 verschiedenen Autoren und Autorinnen stammen. Behandelt werden Gabriele D’Annunzio, Olindo Guerrini/Lorenzo Stecchetti, Mario Rapisardi, Sebastiano Satta, Giuseppe Antonio Borgese, Marcello Gallian, Luigi Pirandello, Giovanni Boine, Clemente Rebora, Corrado Govoni, Ada Negri, Salvatore Quasimodo, Eugenio Montale, Mario dell’Arco, Margherita Guidacci, Giuseppe Ungaretti, Vittorio Sereni, Curzio Malaparte, Dario Fo, Ignazio Silone und Alberto Moravia. Neben dem ästhetischen Wert der Texte war ein entscheidendes Kriterium bei deren Auswahl die Voraussetzung, dass sie sich auf direkte oder indirekte Weise mit Lazarus beschäftigen und in Relation mit der Forschungsfrage
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Vgl. dazu das Kapitel III, 3.1 in dieser Arbeit und darin besonders den Appell, den Quasimodo kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs bezüglich einer neuen Lyrik formuliert; zum Klima der Erneuerung vgl. Finzi, Gilberto (2015): »Introduzione«, in: Quasimodo, Salvatore: Tutte le poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. V–XVIII, S. XIV.
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stehen, d.h. sich mit den Themen Latenz, Krieg, (historischer) Krise, Erinnerung, Literatur, Gesellschaft, Politik oder Macht auseinandersetzen. Entsprechend der Ausgangsthese, die davon ausgeht, dass die Lazarus-Figuren Latenzindikatoren für Traumatisches darstellen, werden verstärkt Werke in den Blick genommen, die vor, während oder nach historischen Umbruchszeiten entstanden sind. Es wird sich hierbei auf den Zeitraum konzentriert, der die Jahre nach der 1871 vollendeten italienischen Vereinigung (Risorgimento), den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zu den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten umfasst. Um die Lazarus-Figur und die Modalitäten ihrer Refunktionalisierung in der italienischen Literatur möglichst umfassend zu untersuchen, wurden sowohl Texte in das Korpus aufgenommen, die einen Bezug zum Lazarus aus dem Johannesevangelium (Joh 11,12) aufweisen, als auch solche Texte, die auf den Lazarus aus der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus aus dem Lukasevangelium (Lk 16,19–31) referieren. Auf diese Weise gelingt es, die Lazarus-Metapher als ein ganzheitliches Phänomen in den Blick zu nehmen und in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit zu beleuchten. Bei der Zusammenstellung des Korpus lag die Herausforderung darin, eine fundierte Literaturrecherche mit einer umsichtigen Auswahl des Untersuchungsmaterials zu verbinden. Da Lazarus in der Literatur auch indirekt vorkommt, ohne namentlich aufgeführt zu sein, und er außerdem, wenn er denn namentlich auftritt, nicht immer im Titel steht,9 musste eine Vielzahl potentieller Texte erst eruiert werden, bevor das umfangreiche Untersuchungsmaterial auf seine Relevanz hin untersucht und einer tiefgehenden Lektüre unterzogen wurde. Zumal Lazarus nicht nur in der italienischen Literatur, sondern auch in den außerliterarischen Debatten Italiens jener Zeit eine wichtige Rolle spielt, wurden außerdem Texte in das Korpus integriert, die (literatur-)theoretisch, philosophisch oder zeit- und gesellschaftskritisch angelegt sind. Denn Lazarus scheint in Italien ein regelrechter Kristallisationspunkt in den ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Debatten zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu sein. Dabei fällt auf, dass die Figur häufig mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit und Legitimierbarkeit von Krieg und (Herrschafts-)Gewalt in Bezug gebracht wird. Dies beweist zum einen, dass ein
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Gleiches gilt für Lazarus in der französischen und spanischen Literatur (s. dazu Hennigfeld 2022: 14).
Einleitung
Zusammenhang zwischen dem bewegten Zeitgeschehen und dessen Thematisierung in Literatur und Dichtung besteht. Zum anderen wird nahegelegt, dass sich die Lazarus-Metapher besonders dafür eignet, um Themen, die in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit dem Krieg aufkommen, in das Medium der Literatur zu überführen und dort gesondert zu reflektieren. Die vorliegenden Untersuchungen verbinden insofern einen synchronen und einen diachronen Ansatz. Dies hat den Vorteil, dass die literarischen Texte sowohl in Relation mit den ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen ihrer Zeit gebracht als auch Entwicklungen und Unterschiede zwischen den einzelnen Werken und darüber hinaus wiederkehrende Themenkomplexe herausgearbeitet werden können. Da außerdem zentrale Theorien und Positionen aus der Literatur- und Kulturwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Historiographie und den Gender Studies reflektiert und für die Interpretation der Lazarus-Texte fruchtbar gemacht werden, ist die Arbeit interdisziplinär angelegt. Zugleich werden die literarischen Werke einer detaillierten philologischen Analyse unterzogen, die besonders die diskursive Ebene in den Blick nimmt und Betrachtungen zu Stil, Sprache, Form, Metrik, Leitmotiven, Metaphorik und Symbolik enthält. Darüber hinaus werden die Ebenen von Inhalt, Figuren und Zeit näher beleuchtet sowie intertextuelle Zusammenhänge herausgearbeitet, anhand derer die Frage erörtert werden soll, inwiefern sich die LazarusTexte mit der literarischen sowie kulturellen Vergangenheit und damit auch mit dem kollektiven Gedächtnis und dem Thema der Erinnerung auseinandersetzen. Die Arbeit gliedert sich in drei jeweils weitere Unterkapitel enthaltende große Teile, wobei der erste (I) theoretisch, der zweite (II) historischsozialpolitisch angelegt ist, während der dritte Teil (III) die Textanalysen enthält. Im ersten Theoriekapitel (I, 1.1) werden zentrale Theorien und Überlegungen zur Latenz aus u.a. den Bereichen der Philosophie (Friedrich Nietzsche, Ernst Bloch, Martin Heidegger), Psychologie (Sigmund Freud, Bessel van der Kolk) und den Gender Studies (Judith Butler) vorgestellt. Nach der Erörterung von Gumbrechts Latenzbegriff (I, 1.2) wird im nächsten Kapitel ein Forschungsüberblick zu den Themen Schreiben in Extremsituationen, der Spannung zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit, Literatur als Überlebensstrategie sowie zum Gedächtnisdiskurs gegeben (I, 2.1). Daran schließen sich zentrale Positionen von Giorgio Agamben, Hannah Arendt und Roberto Esposito zur Biopolitik an, die das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtba-
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Julia Moldovan: Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹
rem, von Latenz und Macht im Sinne der arcana imperii oder die Erzählbarkeit des Holocausts thematisieren (I, 2.2). Im nächsten Kapitel (I, 2.3) erfolgt eine Untersuchung ausgewählter theoretischer Schriften Primo Levis zur Problematik unterlassener Kommunikation sowie zum Verlust von Sprache und Menschlichkeit in Extremsituationen am Beispiel des sogenannten ›Muselmanns‹ als ein Produkt des nationalsozialistischen Konzentrationslagers. Eine weitere wichtige Metapher, auf die sich Levi bezieht und die ebenfalls in den literarischen Texten immer wieder in Verbindung mit Lazarus erscheint, ist die Larve. Mit Emil Ciorans philosophischen Überlegungen zur Situation nach dem Zweiten Weltkrieg (I, 2.4), die mit der Lazarus-Metapher in Bezug gesetzt wird, endet der theoretische Teil. Der zweite Abschnitt (II) beginnt mit einer kurzen historischen Kontextualisierung Italiens in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (II, 1), um daraufhin auf Überlegungen zur Historiographie als Narration (Hayden White, Michel de Certeau, Carlo Ginzburg, Benedetto Croce) zu referieren und im Anschluss verschiedene Positionen innerhalb der italienischen Faschismusdebatte zu präsentieren (II, 2), die mit der Lazarus-Metapher operieren (Emilio Gentile, Gino Gori, Antonio Gramsci, Claudio Treves). In Kapitel III werden die literarischen Lazarus-Texte einer eingehenden philologischen Betrachtung unterzogen. Die Abhandlung der einzelnen Werke erfolgt chronologisch, wobei die aufeinanderfolgenden Kapitel nach Gattungen unterteilt sind und jeweils Lazarus-Texte einer Gattung enthalten, sodass Lyrik, Drama und Prosa gesondert voneinander betrachtet werden können. Eine Ausnahme bildet das erste Analysekapitel (III, 1.1), das vier Lazarus-Texte unterschiedlicher Gattungen von D’Annunzio enthält: ein Lazarus-Gedicht aus der Lyriksammlung Canto novo (1882/1896), die Erzählung Lazzaro aus der Sammlung Terra Vergine (1882), den Text La parabola dell’uomo ricco e del povero Lazaro (1898) und schließlich das Drama La figlia di Iorio (1904). Kapitel III, 1.2 ist Lazarus-Gedichten aus dem ausgehenden Ottocento gewidmet. Analysiert werden Guerrinis Lazzaro aus dem Lyrikband Postuma (1877), Rapisardis Espiazione (1896), Cameranas Gedichte Giuseppe Giacosa (1875) und Lazzaro (1899) sowie Sattas Natale di Lazzaro (1903). Kapitel III, 2.1 nimmt mit Borgeses Lazzaro (1926), Gallians La casa di Lazzaro (1929) und Pirandellos Lazzaro. Mito in tre atti (1929) drei Lazarus-Dramen der Zwischenkriegszeit in den Blick, die sich jeweils in einen Zusammenhang mit dem historischen Kontext Italiens zur Zeit des erstarkenden Faschismus bringen lassen. Unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsthematik werden in Kapitel III, 2.2 die Prosawerke L’agonia (1913) von Boine, verschiedene Texte von Rebora, dar-
Einleitung
unter Arche di Noè sul sangue (1917), sowie Corrados Il libro del bambino (1919) und seine Erzählung Deformazione (1919) beleuchtet. Ausgehend von Negris Gedicht Alba, das Teil der Gedichtsammlung Il dono (1935) ist, werden in Kapitel III, 3.1 Lazarus-Gedichte der italienischen Nachkriegslyrik untersucht. Vor dem Hintergrund von Quasimodos theoretischen Schriften Sulla poesia contemporanea (1946) und Discorso sulla poesia (1953), die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Funktion die Dichtung und das Schreiben nach Kriegsende haben, erfolgt eine Analyse seines Gedichts Di un altro Lazzaro (1947). Gegenstand des Kapitels sind außerdem Montales Voce giunta con le folaghe (1947), dell’Arcos Lazzaro (1950), Guidaccis Morte del ricco (1954), Ungarettis Per sempre (1959) sowie Serenis Sopra un’immagine sepolcrale (1965). Kapitel III, 3.2 behandelt den unvollendet gebliebenen Lazarus-Text La carne umana (1950) von Malaparte und Fos Theaterstück Resurrezione di Lazzaro (1969), die ganz unterschiedliche Auslegungen der Lazarus-Figur bereithalten. Im letzten Analyse-Kapitel III, 3.3 werden mit Silones Una manciata di more (1952) und Moravias La ciociara (1957) zwei italienische Romane der Nachkriegszeit betrachtet, die sich auf eindrückliche Weise mit den Themen Krieg, Gewalt, Schuld und Verdrängung beschäftigen.
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I. Theoretische Grundlegung
1. Begriffe und Theorien von Latenz 1.1
Etymologie und Überblick zur Latenz
Um sich dem Begriff der Latenz zu nähern, soll er zunächst in seinen verschiedenen Ausprägungen umrissen und von anderen sinnverwandten Termini abgegrenzt werden. ›Latenz‹ ist auf das lateinische latens zurückzuführen, was ›verborgen‹, ›unsichtbar‹, ›heimlich‹, ›geheim‹ bedeutet.1 Von dem lateinischen Etymon leiten sich das italienische und spanische latente sowie das französische und englische latent ab.2 Der Gebrauch des Adjektivs ist im Italienischen mit Dante und Boccaccio und im Französischen mit Oresme bereits ab dem 14. Jahrhundert belegt, im Spanischen tritt es erst 1520 auf.3 Während ›latente‹ im Zingarelli näher bestimmt wird, als etwas, »che esiste ma non si manifesta, che rimane nascosto«,4 und das Lemma im Diccionario de la
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Vgl. »Latens«, in: Menge, Hermann (Hg.) (17 1971): Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch. Teil I. Lateinisch-Deutsch. Berlin u.a. (Langenscheidt), S. 426. Vgl. Janssen, Hans Gerd (1980): »Latent, Latenz«, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L–Mn. Basel (wbg), S. 39–42, S. 39. Vgl. zum Italienischen »latente« Cortelazzo, Manlio/Zolli, Paolo (Hg.) (1983): Dizionario etimologico della lingua italiana. 3/I–N. Bologna (Zanichelli), S. 654; zum Französischen »latere«/»latente« Wartburg von, Walther (Hg.) (1948–1950): Französisches Etymologisches Wörterbuch. 5. Band J–L. Basel (Klopp), S. 197 und zum Spanischen »latente« Corominas, Joan/Pascual, José (Hg.) (1984): Diccionario crítico etimológico castellano e hispánico. G–Ma. Madrid (Gredos), S. 601. Im Unterschied zu den anderen Sprachen wird ›latente‹ im Spanischen auch im Sinne von »palpitante o vivo, animado, intenso« gebraucht (ebd.: 601). Zingarelli, Nicola (Hg.) (12 2013): »Latente«, in: Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana. Bologna (Zanichelli), S. 1234.
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Julia Moldovan: Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹
lengua española als »oculto, escondido o aparentemente inactivo«5 verzeichnet ist, findet sich im Trésor de la langue française folgende Beschreibung: »Qui n’est pas manifeste, qui reste caché, mais demeure susceptible d’apparaître, de se manifester à un certain moment.«6 Gängige Wörterbuch-Definitionen operieren mit dem Dualismus eines Manifesten, das verneint wird (»non si manifesta«, »n’est pas manifeste«), bzw. eines Dunklen (»oculto«) und eines Versteckten (»nascosto«, »escondido«, »caché«). In der französischen Beschreibung wird ›latent‹ mit der Möglichkeit verbunden, dass das Versteckte irgendwann einmal in Erscheinung tritt (»apparaître«), und im Spanischen wird eine Präsenz suggeriert, die (noch) inaktiv ist. Latenz beschreibt demnach etwas, das zwar existiert, jedoch im Verborgenen liegt und sich unter bestimmten Umständen zeigen kann. Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm ist ›Latenz‹ nicht aufgeführt, allerdings werden dort zur Definition des sinnverwandten Begriffs ›Verborgenheit‹, auf welche auch das griechische Etymon ›kryptein‹ verweist, der »zustand des verstecktseins, obscuratio«, »der verborgene gegenstand, das geheimnis« und »die verborgenhaiten gotes, die uns unsichtig seind« genannt.7 Diesen Beschreibungen ist zu entnehmen, dass die Aspekte des Geheimen, des Dunklen bzw. Verdunkelns, des Versteckten und des NichtSichtbaren eine wichtige Bedeutung haben. Zieht man einschlägige Handbücher und Lexika zu Rate, fällt auf, dass sich kaum Einträge zu ›Latenz‹ finden lassen, während Begriffe wie ›Verdrängung‹, ›Unbewusstes‹, ›Absenz‹ oder ›Ephemer‹ ausführlich behandelt werden.8 Dies
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»Latent,e«, in: Real Academia Española (Hg.): Diccionario de la lengua española; verfügbar unter: https://dle.rae.es/?id=My8T5qe; letzter Zugriff: 25.12.2023. »Latent,e«, in: Centre National de la Recherche Scientifique (Hg): Trésor de la langue française; verfügbar unter: http://stella.atilf.fr/Dendien/scripts/tlfiv5/advanced.exe?8; s=735329730; letzter Zugriff: 27.5.2019. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1854–1971): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. Leipzig (Hirzel); verfügbar unter: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#1; letzter Zugriff: 25.12.2023. Zu ›kryptein‹ s. Zeilinger, Doris (2012): »Latenz«, in: Dietschy, Beat/Zeilinger, Doris/Zimmermann, Rainer (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin/Boston (De Gruyter), S. 232–242, S. 232. Vgl. etwa Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörg (Hg.) (2004): Handbuch der Kulturwissenschaften. Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar (Metzler) und Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich (Hg.) (2002): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar (Metzler).
I. Theoretische Grundlegung
stützt die von Diekmann/Khurana vorgebrachte Auffassung, dass es keine umfassende und allgemeine Theorie der Latenz gebe9 und die Schärfung des Latenzbegriffs ein Forschungsdesiderat darstelle (ebd.: 9).10 Die Tatsache, dass der Terminus in das Historische Wörterbuch interdisziplinärer Begriffe aufgenommen wurde, zeigt wiederum, dass ›Latenz‹ kein isoliertes Phänomen darstellt, sondern in verschiedenen Disziplinen Relevanz besitzt. So wird sie dort allgemein definiert als das »(unterschwellige) Vorhandensein einer noch nicht sichtbaren Sache«.11 Ein Blick in das Historische Wörterbuch der Philosophie bestätigt, dass ›Latenz‹ ein großes Bedeutungsspektrum aufweist und in weiteren Bereichen wie der Philosophie, Medizin, Psychologie und Soziologie Verwendung findet. Selbst wenn es insgesamt relativ wenig Forschungsbeiträge zu ›Latenz‹ gibt, belegen neuere Publikationen, dass das Thema in den Geistes- und Kulturwissenschaften reflektiert wird. Im Klappentext des von Gumbrecht/ Klinger herausgegebenen Sammelbands Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften (2011) heißt es: »Die Dimension der ›Latenz‹ ist zu einer neuen Kategorie der Reflexion in den Geisteswissenschaften geworden.«12 Seine Herausgeber betonen die Aktualität des Themas, dessen ›ansteckende Wirkung‹ auf Geisteswissenschaftler und die immanente Energie, die von Begriffen und Phänomenen der Latenz ausgehe.13 An anderer Stelle wird ›Latenz‹
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Sie stellen fest, dass ›Latenz‹ kaum als Substantiv vorkommt und stattdessen v.a. adjektivisch und ohne nähere Bestimmung verwendet wird (Diekmann/Khurana 2007a: 9). Vgl. ferner Ellrich, Lutz (2012): »Latenz«, in: Bartz, Christiana/Jäger, Ludwig/Krause, Marcus/Linz, Erika (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. München (Wilhelm Fink), S. 149–157, S. 151, 155. Ellrich unterscheidet drei Ebenen, die sich seit der Antike in der Auseinandersetzung mit Latenz herausgebildet hätten: 1. Latenz auf Ebene der Phänomene (Strukturen und Themen), 2. Latenz auf Ebene der Mittel (Verbreitungs- und Darstellungstechniken) und 3. Latenz auf Ebene von Gruppen oder Personen (ebd.: 150f., 156). Müller, Ernst (Leiter): Historisches Wörterbuch interdisziplinärer Begriffe, ständig erweitert; verfügbar unter: https://www.begriffsgeschichte.de/doku.php/begriffe/latenz; letzter Zugriff: 25.12.2023. Im Zusammenhang mit der Physik wird ›Latenz‹ als latente Wärme aufgeführt, in der Psychoanalyse als Unbewusstes, in der Fotographie als latentes Bild, das ein bereits belichtetes, aber noch unentwickeltes Bild bezeichnet, und in der Technik als Signallaufzeit. Gumbrecht, Hans Ulrich/Klinger, Florian (Hg.) (2011): Latenz: blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen (V&R). Vgl. Klinger, Florian (2011): »›Latenz‹ im Bruch der Generationen. Für einen Pragmatismus in den Geisteswissenschaften«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Klinger, Florian
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im Anschluss an Haverkamp als ›Grundbegriff der Kulturwissenschaften‹ ausgewiesen (Diekmann/Khurana 2007a: 11). Der folgende Überblick über zentrale Begriffe und Theorien der Latenz soll einerseits die Schärfung des Latenzbegriffs vorantreiben und dient andererseits dazu, die zahlreichen Facetten, Verbindungen und Querverstrebungen herauszuarbeiten, die der Begriff in unterschiedlichen Bereichen aufweist und die ›Latenz‹ zu einer besonders furchtbaren und anschlussfähigen Kategorie für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung machen. Cicero verbindet Latenz mit dem Zufall bzw. dem Schicksal (fortuna) als einem Ereignis, das aus einem dunklen Grund (»eventus obscura«) geschieht und von etwas herrührt, das verborgen ist (»latenter efficitur«).14 In Tacitus’ Begriff der arcana imperii, der die geheimen Grundlagen von Herrschaft meint, erhält Latenz eine politische Funktion, insofern sich politische Macht in Geheimnissen und deren Latenthaltung ausdrückt.15 Bei Augustinus findet sich Latenz einerseits im Zusammenhang mit dem verborgenen Schriftsinn, den es zu entziffern gilt, andererseits mit Gott, dessen Entscheidungen der Mensch nie gänzlich begreifen kann, da alles Stoffliche ein ihm Verborgenes enthalte (Janssen 1980: 39f.).16 In der Philosophie wird Latenz von Nietzsche in Zur Genealogie der Moral (1887) bei der Bestimmung des schlechten Gewissens aufgeführt. Als »ge-
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(Hg.) (2011): Latenz: blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen (V&R), S. 295–306, S. 295ff. und Gumbrecht, Hans Ulrich (2011a): »Zentrifugale Pragmatik und ambivalente Ontologie: Dimensionen von Latenz«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Klinger, Florian (Hg.) (2011): Latenz: blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen (V&R), S. 9–19, S. 9f. »Da nämlich nichts ohne Ursache geschieht, ist gerade dies eine Auswirkung des Schicksals: Sie kommt durch eine dunkle Ursache auf verborgene Weise zustande.« Cicero, Marcus Tullius (1993): Topica – die Kunst, richtig zu argumentieren. LateinischDeutsch. Übersetzt v. Karl Bayer. München/Zürich (Artemis&Winkler), S. 53. Das lateinische Original lautet: »Cum enim nihil sine causa fiat, hoc ipsum est fortunae eventus: obscura causa et latenter efficitur« (ebd.: 52). Vgl. Janssen 1980: 39f. und für einen Überblick zum Begriff ›Latenz‹ überhaupt und bei Bloch Zeilinger 2012: 232ff. Vgl. Tacitus, Cornelius (4 2002): Annalen. Buch II. Lateinisch/Deutsch. Hg. u. übersetzt v. Erich Heller. Düsseldorf/Zürich (Artemis&Winkler), S. 148/149 und Diekmann/Khurana 2007a: 10. Auch bei Thomas von Aquin und Martin Luther erscheint Latenz im religiösen Kontext als die »Verborgenheit Gottes« (ebd.).
I. Theoretische Grundlegung
waltsam latent gemachte[r] Instinkt der Freiheit«,17 so Nietzsche, entsteht das schlechte Gewissen in der Überwindung einer Art tierischen, primitiven Zustands und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft als ein Zurückgedrängtes, Zurückgetretenes und ins Innere Eingekerkertes. Schließlich wird der Begriff der Latenz insbesondere im philosophischen Werk Ernst Blochs wichtig, der ihn 1923 zuerst in Verbindung mit der Musik als höchste utopische Ausdrucksform des Menschen gebraucht und in seinem etwa 50 Jahre später geschriebenen Alterswerk Experimentum Mundi systematisch darlegt (Zeilinger 2012: 234f.), wobei er die Termini ›Tendenz‹ und ›Latenz‹ korreliert.18 Anders als in den zuvor aufgeführten Beispielen, ist Latenz bei Bloch nicht das Verborgene, Versteckte oder nur Schlafende, sondern ein ›Noch-Nicht‹ der Zukunft, das in der Gegenwart spürbar wird und darauf angelegt ist, »die Wirklichkeit von morgen zu meinen« (ebd.: 148).19 Ein weiterer Philosoph, der sich indirekt auf Latenz bezieht, ist Martin Heidegger. In Sein und Zeit (1927) legt er sein Verständnis von Wahrheit im Rückgriff auf das griechische ἀλήθεια bzw. λήθω dar, das auf Deutsch ›ich bin vergessen, verborgen, unerkannt‹ heißt (Janssen 1980: 42). Er stellt die »Wahrheit im Sinne der Entdecktheit (Unverborgenheit)«20 der ›Verborgenheit‹ 17
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Nietzsche, Friedrich (1887): Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig (C. G. Neumann), S. 17 und im Folgenden ebd.; verfügbar unter: www.nietzschesource.org/#eK GWB/GM; letzter Zugriff: 25.12.2023. Zum Terminus des Gewissens s. Kerger, Henry (2011): »Gewissen«, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 244–246. »Es erhellt nun, daß Totalität, indem sie dergestalt in der Tendenz geht, jedoch gehemmt und noch unerreicht, zugleich das utopisch Fundierende der Tendenz einschließt: die Latenz.« Bloch, Ernst (1975): Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis. Gesamtausgabe. Band 15. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 147. Latenz sei konkret, nicht wirklichkeitsfremd, prozesshaft und enthalte den Ausblick auf das noch nicht erfüllte, aber objektiv-real Mögliche; als solche erhält Latenz in ihrer utopischen Dimension eine positive Konnotation, die sie in vielen anderen Ansätzen nicht hat (ebd.: 148, 243). Zum Utopisch-Emphatischem der Latenz bei Bloch s. Fulda, Daniel (2017): »Weder Bloch noch Gumbrecht. Latenzen in Stephan Wackwitz’ Generationenerzählungen«, in: Gisbertz, Anna-Katharina/Ostheimer, Michael (Hg.): Geschichte – Latenz – Zukunft. Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur. Hannover (Wehrhahn), S. 63–75, S. 67. Zur Latenz als ›Noch-Nicht‹ bei Bloch s. Kreuzer, Johann (2017): »Vom Möglichen her denken. Zum Begriff der Latenz bei Bloch«, in: Gisbertz, Anna-Katharina/Ostheimer, Michael (Hg.): Geschichte – Latenz – Zukunft. Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur. Hannover (Wehrhahn), S. 77–92, S. 88f. Heidegger, Martin (11 1976): Sein und Zeit. Tübingen (Max Niemeyer), S. 219.
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gegenüber, welche er mit Unverständigkeit, Vergessen und einem Zurücksinken in die Verborgenheit korreliert (ebd.: 219). Damit ist Wahrheit als aletheia (aus dem Alpha Privativum und griech. lethe, ›Vergessen‹, ›Verborgenheit‹) »das anonyme Geschehen der Entbergung«.21 Das Sein wiederum, das Heidegger weitgehend synonym mit Wahrheit verwendet, ist das ›Ungedachte‹ und ›Ungesagte‹ des Denkens (Mende 2 2013: 218f.) und stellt in diesem Sinne eine weitere Latenzfigur dar. Zu ihm gehören Verborgenheit und Entdecktheit gleichermaßen.22 Bei dem Philosophen Giorgio Agamben taucht der Begriff der Latenz in Abgrenzung zur ›Illatenz‹ als Sichtbarkeit und im Rekurs auf Heidegger auf. Besonders interessant ist, dass Agamben Latenz mit Dichtung, Wort und Muse verbindet.23 Latenz ist in dem Sinne positiv belegt, als sie im Zusammenspiel mit ihrem Gegenbegriff ›Illatenz‹ schöpferisch wirkt und Gedachtes in Gedichtetes und Wort verwandeln kann, also unter einem musischen Aspekt funktio-
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Mende, Dirk (2 2013): »›Brief über den Humanismus‹. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie«, in: Thomä, Dieter (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 216–226, S. 218. Zu aletheia und zum Wahrheitsbegriff bei Heidegger vgl. Frede, Dorothea (2 2013): »Wahrheit. Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung«, in: Thomä, Dieter (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 308–315. Zu aletheia bei Heidegger als das Unverborgene und Nicht-Latente s. außerdem Weinrich, Harald (3 2000): Lethe: Kunst und Kritik des Vergessens. München (Beck), S. 15. »Das Seiende ist nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich – aber im Modus des Scheins. Imgleichen sinkt das vordem Entdeckte wieder in die Verstelltheit und Verborgenheit zurück« (ebd.: 222). Bei der Untersuchung von Heideggers Metaphern entwirft Blumenberg den Terminus der ›Unbegrifflichkeit‹ und meint damit Gegenstände, die begrifflich nicht fassbar sind und etwas Ungesagtes oder Unsagbares enthalten. Heideggers Seinsbegriffe stellten solche »Entwürfe des unsagbaren Seins« dar, weswegen sein Schreiben über das Sein und die Verborgenheit ihrerseits als Formen der Latenz aufgefasst werden können (ebd.: 219). Vgl. Blumenberg, Hans (1960): Paradigmen zur Metaphorologie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp). »Daß eine Verborgenheit bewahrt werden muß, damit es Unverborgenheit gebe, daß das Vergessen geschützt werden muß, damit Erinnerung sei: das ist die Inspiration, musische Sendung, die den Menschen mit Wort und Gedanken in Einklang bringt. Der Gedanke ist seiner Sache nur dann nah, wenn er sich in dieser Verborgenheit verliert, wenn er seine Sache nicht mehr sieht. Nur so kann er Gedichtetes werden: es muß die Dialektik von Latenz und Illatenz, Vergessen und Eingedenken walten, damit das Wort sich ereignen kann und nicht von einem Subjekt gehandhabt wird.« Agamben, Giorgio (2003): Die Idee der Prosa. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 47. Zur ›Illatenz‹ als reine Sichtbarkeit ebd.: 135.
I. Theoretische Grundlegung
niert. Der Konnex, den Agamben zwischen Latenz und Dichtung konstituiert, zeigt auf, dass die Literatur ein bevorzugtes Medium ist, in dem Latentes nicht nur eine besondere Wirkung entfaltet, sondern auch sichtbar werden kann.24 Als ›verborgen‹ und ›unsichtbar‹ findet sich latens in der Medizin und bezeichnet dort (im weiteren Sinne) verborgene Krankheiten, die (teilweise) von anderen Krankheitserscheinungen verdeckt sind, und im engeren Sinne Krankheiten, die keine oder nur schwer erkennbare Symptome zeigen.25 Bei Francis Bacon kommt Latenz in der Unterscheidung von beobachtbar und nicht-beobachtbar vor. Während der ›latens processus‹ nicht beobachtbar ist, weil er sich im unendlich Kleinen abspielt, bleibt der ›latens schematismus‹ zwar vorerst verborgen, da er »außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen liegt«,26 obwohl er bei verbesserten wissenschaftlichen Bedingungen potentiell beobachtbar wäre. Latentes erscheint also primär jenseits des menschlichen Bewusstseins und bedarf einer Entschlüsselung. Dieser Gedanke ist in Sigmund Freuds psychoanalytischen Schriften zentral. Schon in den frühen Studien über Hysterie (1895) wird ein Zusammenhang von Hysterie, Trauma und Latenz hergestellt.27 In Freuds später Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) werden Trauma und Latenz erneut in Zusammenhang gebracht: Nach einem vermeintlich folgenlosen Ereignis komme das Trauma erst nach einer Latenzphase und als unverständliche Erscheinung des früheren Ereignisses zum Ausdruck.28 Freud überträgt die Phasen, die er als typisch für das individuelle Trauma ansieht (Trauma, Abwehr, Latenz, Ausbrechen der Neurose, Rückkehr des Verdrängten), auf den
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Zur Annahme, Literatur sei eine privilegierte Quelle für Latenzbeobachtung, s. auch Haverkamp, Anselm (2004): Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg. Berlin (Suhrkamp), S. 11. Vgl. Brune, Karl-Heinz (1980): »Latent, Latenz«, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L–Mn. Basel (wbg), S. 42–43, S. 42. Schönpflug, Ute (1980): »Latent, Latenz«, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L–Mn. Basel (wbg), S. 43–46, S. 43. Vgl. Breuer, Josef/Freud, Sigmund (1895): Studien über Hysterie. Leipzig/Wien (Franz Deuticke), S. 152, 190. Vgl. Freud, Sigmund (1939): Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. Amsterdam (Allert De Lange), S. 139, 144ff.; Kasper, Judith (2016): Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante. Berlin/ Boston (De Gruyter), S. 26ff. und Assmann, Jan (2006): »Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) [1934–38], in: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 181–187, S. 185.
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größeren Kontext der Religionsgeschichte. Er behauptet, dass ein einschneidendes Ereignis (die Ermordung des religiösen ›Urvaters‹) nach einer Latenzzeit das verdrängte kollektive Tätertrauma reaktiviert, wenn sich das ›Urereignis‹ in ähnlicher Form wiederholt (Ermordung des Moses) (ebd.: 185; Freud 1939: 181f.). Daraus ist zu schließen, dass sich ein nicht manifestes, aber latent vorhandenes Trauma individuell niederschlägt und darüber hinaus eine kollektive Erscheinung sein kann. In Traumdeutung (1900) unterscheidet Freud manifeste und latente Trauminhalte. Während der manifeste Trauminhalt erinnert und wörtlich oder schriftlich festgehalten werden kann, bezeichnet der latente Trauminhalt einen unterdrückten, verdrängten oder unerledigten Wunsch.29 Latente und manifeste Inhalte sind also nie deckungsgleich, sondern enthalten Verschiebungen, Lücken und Entstellungen. Auch später in den metapsychoanalytischen Schriften (1914–1915) geht Freud von der Grundannahme aus, dass psychische Vorgänge unbewusst und als solche nicht beobachtbar, aber rekonstruierbar sind. Durch psychoanalytische Arbeit an Symptomen, Fehlleistungen und Träumen, hinter denen sich Unbewusstes verbirgt, kann dieses Unbewusste erschlossen werden.30 Ein weiteres Mal verwendet Freud den Begriff der Latenz in seinen Schriften über das Unbewusste (1915). Dort beschreibt er latente Vorstellungen als unbewusst: »Eine unbewusste Vorstellung ist dann eine solche, die wir nicht bemerken, deren Existenz wir aber trotzdem auf Grund anderweitiger Anzeichen und Beweise zuzugeben bereit sind.«31 Freud geht davon aus, dass unbewusste Vorstellungen im Bewusstsein zwar latent, in unserer Seele jedoch 29
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Vgl. Deserno, Heinrich (2006): »Schriften zur Traumdeutung«, in: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 106–117, S. 108f. und Freud, Sigmund [1900] (1982): Die Traumdeutung. Hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 152ff. Vgl. Bayer, Lothar (2006): »Metapsychologische Schriften«, in: Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 123–127, S. 123f. Laut Maye/Meteling werden Wünsche und Triebe durch Zensur und Verdrängung kontrolliert, doch können diese Kontrollen in Fehlleistungen, Träumen oder in der Kunst gelockert und sichtbar gemacht werden. Maye, Harun/ Meteling, Arno (2009): »2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte«, in: Ellrich, Lutz/Maye, Harun/Meteling, Arno (Hg.): Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz. Bielefeld (transcript), S. 13–149, S. 15. Freud, Sigmund [1912] (1992): »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse«, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 40–48, S. 42.
I. Theoretische Grundlegung
präsent sind. Er unterscheidet zwischen latenten Gedanken, die nicht bewusst werden (als ›vorbewusst‹ bezeichnet), und solchen, die ins Bewusstsein gelangen können, hierbei aber einen Widerstand zu überwinden haben und auf Abwehrmechanismen treffen (ebd.: 45ff.). Demnach zeigt sich Latentes nicht von selbst und es bedarf zu seiner Hervorbringung einer aktiven Tätigkeit, die sich ihm entgegenstellt, nämlich der Verdrängung. Diese hält eine Vorstellung davon ab, bewusst zu werden, und vollzieht sich damit an der Grenze zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Die Verdrängung gilt erst dann als aufgehoben, wenn sich die bewusste Vorstellung und die unbewusste ›Erinnerungsspur‹ verbinden.32 Literatur könnte eine solche Hervorbringung von Latentem leisten. Ihre Funktion bestünde dann in genau jenem Widerstand und jeder ›aktiven Tätigkeit‹, die sich dem Verdrängen und Vergessen gegenüberstellen, indem sie Unbewusstes präsent halten und aus der Latenz befreien. Aus Freuds Bestimmung des Latenten als Unbewusstes lassen sich einige Aspekte destillieren, die für die späteren Textanalysen von Bedeutung sein werden: Zensur, Widerstand und Abwehrmechanismen, das Fremde (da latente Vorgänge etwas Fremdes enthalten, das dem Bekannten entgegenläuft), die Bedeutsamkeit der Erinnerung, Verdrängung als ein Grenzphänomen, Traum, Trauma und Neurose (als Zustände, in denen unbewusste Vorgänge erkennbar werden) und Zeitlosigkeit, weil das Unbewusste keiner zeitlichen Ordnung gehorcht (ebd.: 123, 138f.). Gerade im Zusammenhang mit Traumata, die durch die Erfahrung von Krieg und Gewalt entstehen, ist das Thema der Latenz als Verdrängung und Verschweigen auch in der aktuellen neurowissenschaftlichen Forschung vertreten. In The Body Keeps the Score (2014) untersucht der Psychiater Bessel van der Kolk u.a. in Auseinandersetzung mit den Erinnerungen von Kriegsveteranen, die Spuren, die Traumata im Körper und der Psyche zurücklassen. Wohl im Rückgriff auf Freud, konstatiert er gleich zu Beginn seiner Studie, dass eine traumatische Erfahrung, selbst wenn sie lange Zeit zurückliegt, bei dem kleinsten Hinweis auf Gefahr reaktiviert werden könne.33 Anders als das ursprüngliche Trauma, das einen Beginn und ein Ende habe, seien die reaktivier-
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Vgl. Freud, Sigmund [1915] (1992a): »Das Unbewusste«, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 119–153, S. 119, 128, 132. Vgl. van der Kolk, Bessel [2014] (2015): The Body Keeps the Score. Mind, brain and body in the transformation of trauma. UK (Penguin Books), S. 2f.
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ten Traumata in ihrer Dauer, Intensität und Art nicht voraussagbar und daher für die Betroffenen umso bedrohlicher (ebd.: 18). Das als »posttraumatic stress disorder« (PTSD) (ebd.: 12) bezeichnete Phänomen äußere sich durch Teilnahmslosigkeit, Rückzug und dem Gefühl, das Leben sei sinnlos (ebd.: 21). Als weitere Folgen nennt van der Kolk Scham, Albträume, Flashbacks, unangenehme Emotionen, Wutausbrüche, starke körperliche Empfindungen, impulsive und aggressive Reaktionen, binäre Denkmuster (Freund vs. Feind), Schwierigkeiten, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren, und ein allgemeines Gefühl, die Kontrolle zu verlieren (ebd.: 8f., 14ff.).34 Unabhängig davon, wann das Initialtrauma stattgefunden hat und wie lange es her ist, empfänden die Betroffenen eine unüberwindbare Kluft (gap) zwischen ihrem Leben davor und danach. Paradoxerweise wird so ein Ereignis, das großes Leid verursachte, zum einzigen bedeutungsvollen Lebensinhalt, während das restliche emotionale, gesellschaftliche, familiäre und berufliche Leben gegen das erfahrene Grauen verblasse (van der Kolk 2015: 21). Wie noch zu zeigen sein wird, weisen zahlreiche der literarischen Lazarus-Figuren ebenjene Verhaltensmuster auf, die van der Kolk mit posttraumatischen Störungen (PTSD) in Zusammenhang bringt. Während Freud in Beiträgen, die sich dem Thema der Latenz widmen, in der Regel als wichtige Referenz herangezogen wird, bleibt Judith Butler zumeist weitgehend unbeachtet. Jedoch findet der Begriff in ihrem Werk sowohl direkt als auch indirekt Eingang. In Gender Trouble (1990) heißt es im Rekurs auf Foucaults Surveiller et punir (1975) und den dort formulierten Gedanken, dass der Körper zum Mittel biopolitischer Macht wird, indem Gesetze und Normen über den Prozess der Verinnerlichung in ihn eingeschrieben werden, ohne dass sie sichtbar würden: »In effect, the law is at once fully manifest and fully latent, for it never appears as external to the bodies it subjects and subjectivates.«35 Latenz erhält hier ein kritisches Potential, da sie in Verbindung mit Regulierungsmechanismen erscheint, durch die das Subjekt kontrolliert
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Letzteres ist mit Gumbrechts Beobachtung in Verbindung zu bringen, der zufolge nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Gefühle eines drohenden Kontrollverlusts, der existentiellen Unsicherheit und der Bedrohung aufkommen (Gumbrecht 2012: 184f., 211f., 225). Mit van der Kolk gelesen, deuten diese Gefühle auf ein unverarbeitetes kollektives Trauma hin. Butler, Judith (1999): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London/ New York (Routledge), S. 171.
I. Theoretische Grundlegung
und normiert wird, ohne dass diese biopolitische Macht äußerlich manifest und damit sagbar würde. Mit ›Verwerfung‹ (foreclosure) findet sich bei Butler ein Terminus, in dem der Bezug zur Latenz indirekt gegeben ist. Butler entlehnt den psychoanalytischen Begriff36 und erweitert ihn insofern, als dass er bei ihr ein konstitutives Außen (constitutive outside) und etwas, das nicht ist oder nicht gesagt wurde, bezeichnet. Dieses Außen gehöre zwar zur Kultur, aber nur in dem Sinne, dass es als Verdrängtes, Gesperrtes, Unsagbares und Undenkbares ihr Produkt sei.37 Butler geht es in ihren Texten darum, das aus der Kultur Verworfene, Verdrängte und Ausgeschlossene in den Blick zu nehmen, das sprachlos und für den normativen Diskurs nicht sichtbar ist (Kämpf 2 2011: 345) und ein, wie Kämpf es nennt, »Feld unsichtbar gemachter ›Gespenster‹« (ebd.: 352) darstellt. Ein solches ›Gespenst‹ ist auch die ›figurale Gestalt‹ (figure lays), die in Frames of War (2009) thematisiert wird.38 Bei der Frage, was Leben ist, führt Butler den Prozess des framing an. Der Rahmen (frame) ist eine selektive Rahmung unserer ethischen und affektiven Haltungen und dessen, was wir wahrnehmen.39 Er ist politisch mitbestimmt und das Ergebnis von Macht36
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Freud selbst gebraucht ihn im Zusammenhang mit latenten Trauminhalten und dem Unbewussten als Aufschieben, Verdecken und Sträuben. Er beschreibt, wie seine Patienten auf die Deutung ihrer Träume mit Weigerung und Verdrängung reagieren (Freud 1982: 152f., 537). Vgl. hierzu Kämpf, Heike (2 2011): »Judith Butler: Die störende Wiederkehr des kulturell Verdrängten«, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden (VS), S. 345–355, S. 347. Zum Begriff der ›Verwerfung‹ bei Butler ebd.: 345, 347, 351f. und Bublitz, Hannelore (3 2010): Judith Butler zur Einführung. Dresden (Junius), S. 43, 70, 90. An anderer Stelle schreibt Butler dazu: »foreclosure is not a singular action, but the reiterated effect of a structure. Something is barred, but no subject bars it; the subject emerges as the result of the bar itself.« Butler, Judith (1997): Excitable Speech. A Politics of the Performative. London/New York (Routledge), S. 138. Demnach wird das Subjekt durch Verwerfung in Form von Sperre (»barred«) und Ausschlussmechanismen erst gebildet. Zugleich stabilisiert es das normative Innere, aus dem es exkludiert wird, indem es ihm als negatives Distinktionsmerkmal dient. Zum Verworfenen als ein ›konstitutives Außen‹ vgl. Bublitz 3 2010: 70 und Butler, Judith (1993): Bodies that Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹. London/New York (Routledge), S. 3. Da Verwerfung als Zensur die Grenzen des Sagbaren festlegt, in denen das Subjekt leben kann, entscheidet sie über Leben und das, was gesagt werden darf, und ist eine Form der Machtproduktion im Sinne Foucaults (ebd.: 140ff.). Für den Hinweis auf die ›figurale Gestalt‹ bei Butler danke ich Jenny Augustin. Vgl. hier und im Folgenden Butler, Judith (2009): Frames of War. When Is Life Grievable? London/New York (Routledge), S. 9ff. An Butlers Gedanken könnte man das Konzept
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verfahren. Anhand eines Rahmens entscheiden wir, was Leben ist, was wir überhaupt als Leben und lebenswert wahrnehmen bzw. erkennen (apprehend) und anerkennen (recognize). Die ›figurale Gestalt‹ lebt zwar, ist aber kein Leben, da sie nicht als Leben anerkannt wird; sie befindet sich außerhalb des Rahmens und der von ihm gesetzten Norm, steht aber zugleich in Relation damit.40 Als eine Figur, deren Vorhandensein spürbar, jedoch nicht greifbar ist, und als ein ontologisch nicht Definierbares,41 ist die ›figurale Gestalt‹ als Latenzfigur interpretierbar. Bei beiden handelt es sich um Figurationen des ›Dazwischen‹, die normative Diskurse und Machtmechanismen infrage stellen und Zonen des Nicht-Lebbaren (unlivable) markieren (Butler 1993: 3).42
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der ›cadres sociaux‹ von Halbwachs anschließen, demzufolge Erinnerung sozial bedingt und nicht rein individuell ist. Vgl. Halbwachs, Maurice [1925] (1952): Les cadres sociaux de la mémoire. Paris (PUF), S. 196ff.; Halbwachs, Maurice [1950] (1968): La mémoire collective. Paris (Presses Universitaires de France), S. 1ff., 28ff. und Erll, Astrid (4 2008): »Halbwachs, Maurice«, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart (Metzler), S. 272. »What is this specter that gnaws at the norms of recognition, an intensified figure vacillating as its inside and its outside? As inside, it must be expelled to purify the norm; as outside, it threatens to undo the boundaries that limn the self« (Butler 2009: 12). Zur Unterscheidung von lebenswertem und unlebenswertem Leben, auch mit Blick auf Verwerfung, s. ferner Butler, Judith (2006): Precarious Life. London/New York (Verso), S. 147. »[R]elentless double whose ontology cannot be secured, but whose living status is open to apprehension« (Butler 2009: 8). Das Thema der Latenz ist im Bereich der Politik von besonderer Relevanz. So untersuchen Ellrich/Maye/Meteling Latenz und Verborgenheit im Zusammenwirken von Macht und Wissen, wobei sie unsichtbare Mechanismen und ›Grauzonen‹ der Medien in den Blick nehmen. Ellrich, Lutz/Maye, Harun/Meteling, Arno (Hg.) (2009): Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz. Bielefeld (transcript). Muhle behandelt ein Doppelprinzip von Latenz in der Politik, das darin besteht, dass die Politik ihre eigenen Mechanismen latent hält und die moderne Macht zugleich selbst von Latenz durchzogen ist. Platthaus legt dar, wie bei Agamben Wahrnehmung, Wahrheit und Latenz verknüpft werden. Bei Triebel werden Fossilien und die Archäologie als Ausgrabung von Verborgenem zu Latenzformen, und Diekmann untersucht den Zusammenhang zwischen Reliquien und latenten Bildern. Latenz wird auch zur Theoriebildung herangezogen; so ist sie in Luhmanns Systemtheorie eine Voraussetzung von Kommunikation und Gesellschaft und bei Müller findet sich die These, dass Foucaults Diskursanalyse aus der Figur der Latenz heraus entstehe. Sie fasst Latenz als ein ›Drittes‹ und setzt die Schwelle zu ihrer Neubewertung um 1800 an, da zu dem Zeitpunkt der Thron der absolutistischen Herrscher vakant wurde und eine Leerstelle aufkam. Zu den einzelnen Aspekten vgl. folgende Artikel, die erschienen sind in:
I. Theoretische Grundlegung
Die Überschau zu Begriffen und Aspekten von Latenz macht deutlich, dass die Termini ›Latenz‹, ›Unbewusstes‹ und ›Verdrängung‹ in enger Relation stehen und darüber hinaus mit Begriffen wie ›Schweigen‹, ›Unsagbarkeit‹, ›Ephemer‹, ›Absenz‹, ›Präsenz‹, ›Unsichtbarkeit‹, ›Erinnerung‹, ›Gedächtnis‹, ›Vergessen‹, ›Amnesie‹, ›Trauma‹, ›Tabu‹, ›Geheimnis‹ und anderen mehr verbunden werden können. Ähnlich variantenreich erweisen sich die Gegenbegriffe ›Präsenz‹, ›Tendenz‹, ›Illatenz‹ und ›manifest‹, die ›Latenz‹ bzw. ›latent‹ entgegengestellt werden. Die Bedeutungsvielfalt und zugleich die relative definitorische Unbestimmtheit des Begriffs wie auch der Gegenbegriffe lassen erkennen, dass sich ›Latenz‹ einer einheitlichen Zuschreibung entzieht. So stellen Diekmann/Khurana in ihrem Band Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff (2007) gleich 40 Deutungsmöglichkeiten von Latenz vor und definieren diese selbst als etwas, das verborgen ist und aus der Verborgenheit heraus Wirksamkeit entfaltet. Ihrer Ansicht nach markieren Latenzfiguren nicht nur symptomatische und einschneidende Stellen, sie vertiefen sie auch (ebd.: 10). Dies führt zu einer der Hauptthesen dieser Arbeit, die besagt, dass ein vermehrtes Aufkommen von Latenzfiguren auf Krisen, Umbrüche und Spannungen schließen lässt.43 Eine Position, die daran anknüpfbar ist, vertritt die Latenztheorie von Gumbrecht, welche im deutschsprachigen Raum eine breite kulturwissenschaftliche Rezeption erfahren hat und im nächsten Kapitel vorgestellt wird.44
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Diekmann, Stefanie/Khurana, Thomas (Hg.) (2007): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff. Berlin (Kadmos): Muhle, Maria: »Bio-Politik. Zur Latenz von Leben und Politik«, S. 41–46, S. 41; Platthaus, Andreas: »Blindheit. Wie Giorgio Agamben der Latenz auf den Grund geht«, S. 47–51, S. 47; Triebel, Odila: »Fossil. Kontingente Fundorte einer repräsentativen Wirksamkeit«, S. 79–84 und Diekmann, Stefanie: »Fotografie. Turin, 28. Mai 1898«, S. 85–90, S. 86f. Zur Latenz bei Luhmann s. Maye/Meteling 2009: 43f. und zu Latenz als »Ordnungserfordernis« und »Struktursicherungsmittel« Luhmann, Niklas (1991): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 174, 456. Hier wird Latenz als »fehlende Bewußtheit« bestimmt. Zu Müllers nicht immer nachvollziehbaren Foucault-Auslegungen s. Müller, Sabine (2006): »Diesseits des Diskurses. Die Geburt der Diskursanalyse aus dem Geiste der Latenz«, in: Eder, Franz X. (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden (VS), S. 131–150, S. 132ff., 143ff. Zu dieser These s. Hennigfeld 2016b: 127. Zu Beginn des Aufsatzes verweist die Autorin auf einige theoretische Darlegungen zur Latenz, die hier ebenfalls angesprochen werden (ebd.: 128f.). Neben Gumbrecht setzt sich Anselm Haverkamp eingehend mit ›Latenz‹ auseinander. Seine philosophisch, philologisch und kulturwissenschaftlich fundierte Theorie
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1.2 Gumbrecht: Latenz als Unbehagen ohne Begriffe Mit Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart (2012) legt Gumbrecht ein Werk vor, dessen Grundthese lautet, dass wir nach 1945 in eine Phase der Latenz eingetreten sind, die wir nicht mehr verlassen haben. Dabei, so seine Annahme, ist die Nachkriegszeit von einer Art Neutralisation geprägt, die kaum den Wunsch erkennen lässt, das Geschehene zu hinterfragen. Während der Erste Weltkrieg als eine Zäsur wahrgenommen wurde, die eine Fortsetzung des bisherigen Lebens unmöglich machte,45 scheine es ganz so, als hinterlasse der Zweite Weltkrieg keine nennenswerten Spuren (Gumbrecht 2012: 34ff.). Stattdessen kommt es nach Kriegsende zu einem »›als ob‹ des aggressiven Ignorierens« (ebd.: 21, 34ff.).46 Diese »eigenartige Präsenz einer Vergangenheit […], die nicht aufhörte, obwohl sie doch anscheinend ihre Wirkung verloren hatte« (Gumbrecht 2012: 38), verbindet Gumbrecht mit dem Begriff der Latenz. Diese ist für ihn nicht mit Verdrängung oder Vergessen gleichzusetzen, insofern Latenz nicht etwas darstellt, das aus der Welt verdrängt wird, sondern daraus verschwindet und Teil einer neuen Realität wird (ebd.: 38f.).47 Um sein Verständnis von Latenz darzulegen, rekurriert Gumbrecht auf die Metapher des
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der Latenz präsentiert er in den Büchern Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz (2002) und Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg (2004). Vgl. Haverkamp, Anselm (2002): ›Figura cryptica‹. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) und Haverkamp 2004. Gumbrecht selbst erwähnt Haverkamp und dessen Absicht, Latenz als zentrale Bedingung literarischen Schreibens freizulegen (Gumbrecht 2011: 9). Zu einer näheren Auseinandersetzung mit Haverkamps Latenztheorie vgl. ferner Hennigfeld 2016b: 130ff. und Hennigfeld 2022: 42ff. Vgl. dazu ferner Bloch, Ernst (1923): Geist der Utopie. 2. Fassung (1923). Berlin (P. Cassirer), S. 4f. Auch Aleida Assmann beschreibt eine ›kollektive Amnesie‹ und den »Habitus des ›Wegschauens, Weghörens und Wegfühlens‹«, Assmann, Aleida (2015): »EmpathieBlockaden in und nach der NS-Zeit«, in: Angehrn, Emil/Küchenhoff, Joachim (Hg.): Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung. Weilerswist (Velbrück), S. 17–30, 17. Sie bestimmt die Kriegs- und Nachkriegserfahrung durch die doppelte Wahrnehmung von Sehen und Wegsehen bzw. verbotener Zeugenschaft. Aus Wegsehen, Tabuisierung und Schweigen über die NS-Verbrechen resultiere wiederum eine EmpathieBlockade (ebd.: 18ff). Vgl. hierzu ferner Gumbrecht, Hans Ulrich (2009): »Wie (wenn überhaupt) können wir entschlüsseln, was in Texten latent bleibt?«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 3, 1, S. 7–16, S. 9f.
I. Theoretische Grundlegung
blinden Passagiers, worunter er die Präsenz einer Sache oder einer Person versteht, die man spüren, aber nicht konkret fassen und verorten kann. Da man keine Kenntnis von ihrer Identität besitzt, ist es ungewiss, ob man sie erkennen würde, wenn sie sich zeigte (Gumbrecht 2012: 39).48 Folglich sieht man sich aufgrund des ungesicherten ontologischen Status von Latenz erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, will man Latentes erkennen oder etwas aus der Latenz befreien. Dennoch gibt es für Gumbrecht eine Möglichkeit, sie erfahrbar zu machen, nämlich anhand von ›Stimmungen‹. Latenz ist zwar unzugänglich, unsichtbar und wie unter einer Oberfläche verborgen, doch wirkt sie sich auf uns aus, indem sie als Stimmung »innere Gefühle eines Unbehagens, für das wir keine Begriffe haben« (Gumbrecht 2012: 41)49 weckt. Gumbrecht definiert die ›Stimmung‹ selbst als eine innere, unkontrollierbare Berührung, die physische Auswirkungen auf den Menschen hat.50 Stimmungen haben eine materielle Qualität und verweisen auf etwas Verborgenes, Verstecktes und Verdrängtes, darauf, dass etwas latent existiert. Sie dienen nicht nur dazu, Latenzen aufzuspüren, sondern entstehen selbst als Reaktionen auf und als Folgen von Latenz (ebd.: 41f., 55; Gumbrecht 2009: 10).51 Als Bestandteil einer historischen Situation können sie herangezogen werden, um die Vergangenheit gegenwärtig zu machen:
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Gumbrecht nennt vier Aspekte von Latenz. 1. die Gewissheit über eine bestehende Präsenz, 2. die Implikation, dass diese Präsenz sich in derselben räumlichen Dimension wie man selbst befindet, 3. die Unkenntnis darüber, wo das Latente genau ist, und 4. was das Latente ist (Gumbrecht 2009: 8). Es fällt auf, dass sich Latenz hier und in anderen Beispielen, die Gumbrecht aufführt, hinter negativ konnotierten Termini wie Gewalt und Nervosität verbirgt (ebd.: 33, 40f.). Das »Bemerken einer Stimmung [ist] immer eine physische Bewegung, welche uns ein geschärftes Gewahrsein ansonsten häufig eingeklammerter Schichten unserer physischen Existenz gibt« (Gumbrecht 2009: 10 und vgl. Gumbrecht 2012: 41). Wie man hier und an anderen Stellen beobachten kann, bleiben die Definition und das Konzept der Stimmung insgesamt vage. Stimmungen können für Gumbrecht so viel Verschiedenes wie Musik, Atmosphäre, Wetter, Gefühle und Nuancen bedeuteten, darüber hinaus sind sie subjektabhängig, unterliegen Veränderungen und müssen immer neu beschreibbar gemacht werden. Ob das Konzept der Stimmung als solches tatsächlich dazu beitragen kann, neue Perspektiven für eine »Ontologie der Literatur« zu eröffnen, wie Gumbrecht vorschlägt, ist daher zu prüfen. Gumbrecht, Hans Ulrich (2011): Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München (Carl Hanser), S. 12 und insgesamt zur Stimmung vgl. ebd.: 56ff.
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Die Erinnerung an Stimmung kann uns die retrospektive Gewissheit geben, dass etwas Vernachlässigtes, Übersehenes, manchmal sogar Verlorenes eine entscheidende Wirkung auf das Leben eines historischen Zeitpunkts gehabt hat – und häufig weiterhin Teil dessen ist, was jede nachfolgende Generation ausmacht (ebd.: 51). Demnach besteht ein Zusammenhang zwischen einer Stimmung als Latenz im Sinne von etwas, das man nicht sehen oder greifen kann (»Vernachlässigtes«, »Übersehenes«), und einer bestimmten historischen Zeit; Latenz kann sich auf die Strukturen und das Empfinden einer gegenwärtigen Zeit auswirken, insofern sie als Vergangenheit darin vorhanden, als solche aber noch nicht enthüllt ist. Die aus der Latenz entstandenen Stimmungen können also bestimmte historische Momente begreifbar machen, die noch nicht in den gesellschaftlichen Diskurs eingegangen oder dort sagbar geworden sind (Hennigfeld 2016b: 151). Die unverarbeiteten Spuren des Zweiten Weltkriegs sind Gumbrecht zufolge in unserer Gegenwart als Latenz spürbar. Hierbei handelt es sich nicht um ein rein deutsches Phänomen, wie man aufgrund der gerade für die Deutschen besonders dringenden Schuld- und Täterfrage angesichts des Holocausts annehmen könnte, vielmehr geht Gumbrecht in einer als eurozentristisch kritisierbaren Perspektive davon aus, dass die Latenzzeit alle Menschen betrifft. Daraus ergeben sich für ihn zwei Fragen: Ob es möglich sei, jemals aus der Latenz hinauszugelangen, und ob die Schwierigkeiten, die im Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart aufkommen, bei jedem Generationenwechsel auftreten, oder ob es sich um eine Besonderheit nach 1945 handelt (Gumbrecht 2012: 48ff.). Gumbrecht unterscheidet zwei Ebenen von Latenz. Die erste besteht darin, dass »ein Eindruck, eine Wirkung der Latenz (der Eindruck, dass etwas ›verborgen‹ oder ›im Dunkeln‹ blieb) letztlich zum Akkumulations- und Konvergenzpunkt für vielfältige Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen wurde« (ebd.: 237). Damit ist gemeint, dass die mit einem Gefühl der Erlösung einhergehende Hoffnung, die Latenz möge sich ›entbergen‹, etwas Entscheidendes möge sich endlich zeigen, zu einer allgemeinen Erwartung der Nachkriegsgeneration wurde. Da sich diese Hoffnung auf Entbergung jedoch nie erfüllt habe, sei Latenz zu einer Bedingung für die Menschheit geworden (als Bedingung für das Menschsein selbst) (ebd.: 45, 53, 237ff.). Hinter einer zweiten Ebene von Latenz verbirgt sich ein spezifisches Gefühl, das durch ein neues Zeitempfinden entsteht, welches Gumbrecht ›Chronotop‹ nennt. In Anlehnung an Lyotards These, die historische Zeit sei vorüber, postuliert er,
I. Theoretische Grundlegung
dass der ›Chronotop Geschichte‹ als eine lineare Zeitlichkeit zu ihrem Ende gekommen und durch einen neuen, erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich entpuppenden Chronotop des zeitlichen Nebeneinanders ersetzt worden sei. In diesem seien das Vergangene und das Gegenwärtige zugleich enthalten, wobei die Zukunft als Bedrohung und nicht länger als offene Möglichkeit wahrgenommen werde (ebd.: 303ff.).52 Diese »Präsenz der Vergangenheit, die gleichzeitig gegenwärtig, beunruhigend und unzugänglich war« (Gumbrecht 2012: 306), setzt Gumbrecht mit Latenz gleich und kommt so zu dem Schluss, dass die nicht überwundene Latenz der Ursprung unserer Gegenwart ist (ebd.: 239). Seine Thesen untermauert Gumbrecht anhand von Texten aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt von u.a. Beckett, Sartre, Borchert sowie Camus und stellt fest, dass darin drei Motive auffallend oft vorkommen, die er ›Konfiguration‹ nennt und als Reaktion auf die Latenzzeit nach 1945 versteht, nämlich 1. Klaustrophobie, 2. Unwahrhaftigkeit (mauvaise foi) und 3. eine unsichere und unerfüllte Zukunft (ebd.: 55ff.). Mit Blick auf die erste ›Konfiguration‹ nennt er ein Gefühl von Schuld, dem man nicht entfliehen könne (ebd.: 73ff.). Außerdem lebe die Nachkriegsgesellschaft in dem ständigen Gefühl einer drohenden Explosion und in der Erwartung eines bald eintretenden Kollapses (ebd.: 105). Ausgehend von Sartres L’être et le néant (1943) geht Gumbrecht auf die
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Zum ›neuen Chronotop‹ bei Gumbrecht s. ferner Fulda 2017: 64ff. Fulda kritisiert, dass Gumbrechts Schilderungen grundsätzlich der Empirie ermangelten und dass seine These einer neuen Zeitordnung nicht ausreichend begründet sei (ebd.: 65). Resina und Diner untersuchen ebenfalls die zeitliche Dimension von Latenz u.a. in dem Sinne, dass die Nachkriegszeit latent gehalten wurde und eine ›Stauung‹ der Zeit verursachte, die zur Folge hatte, dass die Nachkriegszeit und die nationalsozialistische Vergangenheit v.a. in Deutschland auch in späteren Jahren nicht überwunden wurde. Resina, Joan Ramon (2011): »Aufgeschobene Nachkriegszeit: Die Latenz der Vergangenheit in der spanischen Demokratie«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Klinger, Florian (Hg.) (2011): Latenz: blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen (V&R), S. 173–190 und Diner, Dan (2011): »Vom Stau der Zeit. Neutralisierung und Latenz zwischen Nachkrieg und Achtundsechzig«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Klinger, Florian (Hg.) (2011): Latenz: blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften. Göttingen (V&R), S. 165–172. Simon wiederum stellt im Rückgriff auf Derrida fest, dass Latenzzeit eine zweite, alternative Zeit darstellt, die parallel zur aktuellen verläuft. Simon, Ralf (2015): »Die Latenzgehalte des Surrealismus (Peter Weiss, ›Die Ästhetik des Widerstands‹)«, in: Angehrn, Emil/ Küchenhoff, Joachim (Hg.): Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung. Weilerswist (Velbrück), S. 47–80, S. 49.
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zweite Konfiguration der Unwahrhaftigkeit (mauvaise foi) ein53 und suggeriert, dass Wahrheitsfindung nicht länger im Möglichkeitsbereich des Menschen liegt (ebd.: 148ff.). Zugleich dränge sich die Konfrontation mit der Wahrheit als Notwendigkeit auf, dem Geschehenen und seinen Folgen ins Auge zu sehen. Es wird eine Sehnsucht nach Strafe erkennbar, die von einer begangenen Schuld loskaufen soll, die die Menschen latent empfinden (ebd.: 143ff.). Die dritte Konfiguration (›Entgleisung‹ und ›Behälter‹) meint die Kombination des Wunsches nach Schutz, Geborgenheit und Heimat (›Behälter‹) und des Gefühls einer ungebremsten Bewegung bzw. eines Kontrollverlustes (›Entgleisung‹) (ebd.: 181ff.). Trotz kleiner lokaler Unterschiede begreift Gumbrecht die Situation nach 1945 als universal, da überall ähnliche Herausforderungen entstanden seien. Die drei Konfigurationen der Nachkriegszeit stünden für die »Form eines historisch spezifischen, globalen kulturellen Netzes«, welche bis heute als »graues Erbe einer Vergangenheit« (ebd.: 231) erhalten geblieben sei. Stimmt diese These, dann funktioniert Latenz als ein transkulturelles Phänomen. Es fällt auf, dass die drei Hauptmotive subjektive Gefühle sind und paradoxe Zustände oder Widersprüche beschreiben. Da Gumbrecht davon ausgeht, dass die Motive als Folge von Latenz entstehen, kann hier die Hypothese formuliert werden, dass Latenz Widersprüche, Kontraste und Paradoxa sowohl hervorbringt als auch begünstigt.54 Gumbrechts essayistischen Ausführungen entwickeln keine systematische Theorie oder Begriffsbestimmung von Latenz. Dennoch bieten sie zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Untersuchung literarischer Latenzfiguren, die
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Sartre, für den die Unwahrhaftigkeit notwendigerweise zum menschlichen Dasein gehört, unterscheidet zwischen der Lüge, bei der das Subjekt die Wahrheit vor anderen verbergen will, und der Unwahrhaftigkeit, bei der sich das Subjekt selbst die Wahrheit verschweigt: »c’est que dans la mauvaise foi, c’est à moi-même que je masque la vérité.« Sartre, Jean-Paul (2013): L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris (Gallimard), S. 83. Vgl. außerdem ebd.: 83ff., 93f. und Gumbrecht 2012: 115ff. Dies wird bei der Frage relevant sein, inwiefern Figuren der Latenz alternative Diskurse konstituieren (auf sprachlich-stilistischer sowie auf inhaltlicher Ebene) und sich gegen eine einseitige Geschichtsschreibung verwehren, welche die Geschichte der Sieger meint oder sich für eine restlose, widerspruchsfreie Erklärbarkeit einsetzt. Zur These, dass Latenz- bzw. Lazarus-Figuren die Geschichte von ›Verlierern‹ darstellen können und gegen »die definitive Schließung von Geschichte [operieren]«, s. Hennigfeld 2016b: 152.
I. Theoretische Grundlegung
unter Zuhilfenahme seiner Überlegungen umfassender und noch fundierter in den Blick genommen werden können.
2. Schreiben und Erzählen von Extremerfahrungen 2.1 Forschungsüberblick und Aspekte der Gedächtnisforschung Den Themen von Absenz, Trauma und Unsagbarkeit in der Literatur ist sich auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zugewendet worden. So untersucht Monika Schmitz-Emans in ihrer Monographie Schrift und Abwesenheit (1995) das Verhältnis von Präsenz und Absenz im Medium der Literatur.55 Während Leerstellen, Zwischenräume und Abwesenheiten für sie metapoetische Mittel darstellen, um über den Sinn von Literatur und das Verhältnis von Text und Außenwelt zu reflektieren, kann die Farbe Weiß zur Chiffre des Namenlosen werden. Ihre These besagt, dass gerade das literarische Wort die Spannung zwischen Artikuliertem und Nicht-Artikuliertem, zwischen Sagbarem und Unsagbarem sowie zwischen Sagen und Schweigen darstellen und reflektieren kann (ebd.: 12ff., 42ff.). Sprache, Kommunikation und Literatur scheinen bei Extremerfahrungen eine besondere Rolle zu spielen. Kuon zufolge erweist sich das Erzählen in der KZ-Literatur als besonders hybrid, da diese vor der Herausforderung steht, von einer Grenzerfahrung zu berichten, die über die menschliche Vorstellungskraft hinausgeht, was sich im literarischen Text in Form von Ambivalenzen und Widersprüchen niederschlage.56 Das Erzählen könne ein Versuch sein, die verlorene Identität wiederzugewinnen,57 und es diene dazu, in der ›normalen‹ Welt von einer ›anderen‹ Welt zu berichten, die sonst unverstanden bleiben und vergessen werden würde. Hierbei bestehe das Problem darin, dass sich die ehemaligen KZ-Häftlinge auf eine Realität beziehen, die 55 56
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Vgl. Schmitz-Emans, Monika (1995): Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München (Fink), S. 12. Vgl. Kuon, Peter (2005): »Alcune riflessioni sull’ibridità della ›Lagerliteratur‹«, in: Bandella, Monica (Hg.): Raccontare il lager. Deportazione e discorso autobiografico. Frankfurt a.M. (Lang), S. 151–174, S. 154ff. Vgl. Kuon, Peter (2016): »Scritture ostacolate: riflessioni sulla difficoltà di narrare i campi di concentramento nazisti«, in: Kuon, Peter/Rigamonti, Enrica (Hg.): Narrarsi per ritrovarsi. Pratiche autobiografiche nelle esperienze di migrazione, esilio, deportazione. Firenze (Cesati), S. 183–195, S. 184.
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außerhalb der Erfahrung anderer liegt, was die Fragen nach Wahrheit, Authentizität und Zeugenschaft aufwerfe. Der Status des ›Autor-Zeugen‹ bleibe prekär, weil seine Glaubwürdigkeit nicht auf Verifizierbarkeit, sondern auf Vertrauen beruhe.58 Im Rückgriff auf Texte von Levi, Antelme, Semprún und Cayrol untersucht Aschenberg die Funktion von Sprache und Literatur im KZ. Die Beispiele demonstrieren, dass gerade in Extremsituationen wie Tod auf Literatur rekurriert wird und diese selbst zur Überlebensstrategie wird.59 Daraus kann die
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Zur Zeugenschaft bei Primo Levi und zum ›Muselmann‹ s. außerdem Kuon, Peter (2011): »L’uomo di fronte al terrore totalitario. La riflessione sui confini dell’umano nei racconti di deportazione«, in: Bonaiuti, Gianluca (Hg.): Senza asilo. Saggi sulla violenza politica. Verona (Ombre corte), S. 303–317, S. 310ff. Jurt setzt sich in seinem Beitrag mit verschiedenen Ansichten auseinander, die die Frage erörtern, ob die Shoah durch Literatur beschreibbar(er) werde, und stellt anhand von Semprún und Cayrol zwei Gegenpositionen vor: Während Semprún der Auffassung ist, nur Literatur könne die Shoah beschreiben und ihre Erinnerung erhalten, hält Cayrol die Lagerrealität für nicht ›übersetzbar‹. Zu den einzelnen Positionen s. Jurt, Joseph (2015): »Erinnern, überleben, bezeugen«, in: Rothstein, Anne-Berenike (Hg.): Poetik des Überlebens. Kulturproduktion im Konzentrationslager. Berlin/Boston (De Gruyter), S. 159–184, S. 171, 183. Besonders interessant ist, dass der französische Schriftsteller und KZ-Überlebende Cayrol in seinem Essay Lazare parmi nous (1950) bei der Frage, wie sich in der Nachkriegsliteratur mit dem Holocaust auseinandergesetzt werde, auf Lazarus rekurriert. Des Weiteren verwendet Cayrol die Metapher in dem Gedicht Lazare (1942). Zur Bedeutung von Lazarus bei Cayrol und für eine nähere Kontextualisierung seines Werks s. Hennigfeld 2022: 67ff., 95f. Vgl. Aschenberg, Heidi (2005): »Sprachterror und Sprachbewahrung im Konzentrationslager«, in: Bandella, Monica (Hg.) (2005): Raccontare il lager. Deportazione e discorso autobiografico. Frankfurt a.M. (Lang), S. 49–67, S. 51ff., 55, 60f. Zur Erkenntnis, dass Sprache, Kommunikation, Verstehen und Information im Lager überlebenswichtig sind, s. außerdem Bandella, Monica/Kuon, Peter (2003): »Il lager e il suo linguaggio nelle testimonianze dei sopravvissuti italiani di Mauthausen«, in: Levia Gravia, 5, S. 211–224, S. 216, 221. Siguan stützt diese These, betont jedoch zugleich, dass die Literatur im KZ nicht in der Lage ist, den Tod aufzuheben, sondern auf seine Allgegenwärtigkeit hinweist. Vgl. Siguan, Marisa: »Literatur und Überleben. Die literarische Memoria bei Klüger, Amery, Semprún und Levi«, in: Klinkert, Thomas/Oesterle, Günter (Hg.) (2014): Katastrophe und Gedächtnis. Berlin/Boston (De Gruyter), S. 276–292, S. 283. Auch nach dem Lager, wenn die sprachliche Freiheit wiedererlangt wurde, hat Literatur eine vermittelnde Funktion. Klinkert stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die KZ-Realität oft anhand von poetischer Sprache und intertextuellen Verweisen kommuniziert wird. Dies habe seinen Grund darin, dass die ferne, für andere unverständliche Welt des Lagers nur durch diese gemeinsamen Referenzpunkte verstehbar wird. Klinkert, Thomas: »Problemi semiotici della scrittura nei testi del dopo-lager: Primo Levi e
I. Theoretische Grundlegung
Hypothese abgeleitet werden, dass literarische, narrative, poetische und besondere stilistische Verfahren immer dann vermehrt zum Einsatz kommen, wenn herkömmliche Sprache nicht mehr ausreicht, um das Miterlebte adäquat wiederzugeben. Kasper wiederum rekurriert auf Agambens Überlegungen zur Ausnahme und bringt sie mit dem Trauma-Begriff bei Breuer/Freud in Zusammenhang. Obwohl man Kaspers Konzept des ›traumatisierten Raumes‹ vorwerfen kann, metaphorisch und abstrakt zu sein, gelingt es ihr, die Begriffe von Trauma, Latenz und Ausnahme in Bezug zu setzen und für die Analyse literarischer Texte zu öffnen. Die Haupterkenntnis von Studien über Hysterie besteht für sie darin, gezeigt zu haben, dass im Trauma »stets ein Rest [bleibt], der sich der Ökonomie der Abreaktion entzieht und unbeeinträchtigt davon weiter insistiert« (Kasper 2016: 30). Überträgt man diese Überlegung auf einen größeren Kontext wie ein gesellschaftliches Trauma, das Müller zufolge die Störung einer sozialen Ordnung ausdrücken kann,60 dann stellt sich die Frage, ob und auf welche Weise unausgesprochene Reste in einer Gesellschaft als Latenz weiterexistieren und in einem veränderten Kontext sowie mit zeitlicher Verspätung zum Vorschein kommen. Ein solcher Gedanke würde nicht nur Gumbrechts These erhellen, die davon ausgeht, dass der Zweite Weltkrieg als Latenz bis in unsere heutige Zeit fortwirkt (Gumbrecht 2012: 53, 245), er würde außerdem den Fokus auf Kunst und Literatur richten, die latenten, kollektiv vorhandenen, aber noch nicht deutlich veräußerten Erscheinungen einen konkreten Ausdruck zu geben vermögen. Aus diesem Grund hat Literatur bei der Aufarbeitung und Erinnerung bzw. Präsent-Haltung kollektiver und individueller Traumata eine wichtige Funktion. Dass der literarische Text ein Medium ist, das kulturelle Erinnerung nicht nur enthält, sondern auch produktiv formen kann, ist in den Theorien zum kulturellen Gedächtnis hervorgehoben worden. Diese gehen von Halbwachs’ Annahme aus, dass Erinnerung nicht individuell, sondern sozial bedingt ist, und dass durch kollektive Erinnerung eine kollektive Identität entsteht (Erll 4 2008: 272). Neben anderen deutschen Gedächtnisforschern (Nünning, Erll)
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Jorge Semprún«, in: Bandella, Monica (Hg.) (2005): Raccontare il lager. Deportazione e discorso autobiografico. Frankfurt a.M. (Lang), S. 29–42, S. 37f. Vgl. Müller, Alexandra (2017): Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten. Heidelberg (Winter), S. 59.
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greifen Aleida und Jan Assmann das Konzept von Halbwachs auf. Für sie besteht das kulturelle Gedächtnis aus einem geteilten, kollektiven Wissen, über das eine Gesellschaft in Form von etwa Riten und Bildern verfügt. Jan Assmann bestimmt das kulturelle Gedächtnis u.a. durch die ›Geformtheit‹, die besagt, dass jede Gesellschaft ihre eigene Geschichte in Abhängigkeit von ihrer aktuellen Situation neu schafft. Damit kollektives Wissen überliefert werden könne, müsse es mittels eines Mediums objektiviert und kristallisiert werden.61 Der Gedächtnisdiskurs ist, häufig im Rekurs auf die deutsche und französische Gedächtnisforschung, auch in Italien aktuell.62 Neure Untersuchungen legen etwa Di Pasquale und Fortunati/Agazzi vor. Letztere konstatieren, dass die Gedächtnisforschung die Krise offengelegt hat, in der sich die Geschichtsschreibung befände, indem sie demonstriert habe, dass es keine objektive oder wahre Geschichte gebe. Der Blick auf die Zeugenschaft habe gezeigt, dass ein und dasselbe historische Ereignis jeweils anders wahrgenommen und in Abhängigkeit von den Erinnerungen des Zeugen verschieden dargestellt wird.63 61
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Vgl. Nünning, Ansgar (4 2008): »Gedächtnis, kulturelles«, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart (Metzler), S. 239–240, S. 239 und Assmann, Jan (1988): »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 9–19, S. 14. Zur Literatur als Medium kultureller Erinnerung s. Erll, Astrid (Hg.) (2 2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 173ff.; Erll, Astrid (2010): »Literaturwissenschaft«, in: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 288–298. Dort findet sich ein Überblick zu weiteren Gedächtnis- und Erinnerungstheorien. Vgl. ferner Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.) (2005): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin (De Gruyter). Vgl. z.B. folgenden Sammelband zur Historie, Literatur, Erinnerung und Shoah: Neiger, Ada (Hg.) (1998): Primo Levi. Il mestiere di raccontare. Il dovere di ricordare. Atti del convegno, Trento, 14 maggio 1997. Fossombrone (Metauro). In Italien werde dazu tendiert, die negative Vergangenheit auszublenden und sich der Konfrontation und Aufarbeitung zu entziehen. Vgl. dazu Bertolini, Frida (2009): »L’eredità dell’ultimo testimone«, in: Storia e problemi contemporanei. Nr. 51, S. 169–174, S. 171ff. Ähnliches gilt für Deutschland und Frankreich. Sloterdijk untersucht dort Aufarbeitungsstrategien nach dem Zweiten Weltkrieg. Neben Verdrängungstendenzen stellt er fest, dass historische Fakten, besonders Niederlagen, nachträglich umgedeutet werden, oft in eine Sieger-Geschichte. Sloterdijk, Peter (2008): Theorie der Nachkriegszeit. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 17f., 27ff., 36ff. Vgl. Agazzi, Elena/Fortunati, Vita (2007): »Introduzione«, in: Agazzi, Elena/Fortunati, Vita (Hg.): Memoria e saperi. Percorsi transdisciplinari. Roma (Meltemi), S. 9–24, S. 16. Di
I. Theoretische Grundlegung
Elena Espositos Beitrag La memoria sociale: mezzi per comunicare e modi di dimenticare (2001) fokussiert Formen des gesellschaftlichen Erinnerns und Vergessens aus soziologischer Sicht. Esposito nimmt besonders Epochenschwellen und geschichtliche Zäsuren in den Blick, um die Funktionsweise des gesellschaftlichen Gedächtnisses zu untersuchen. Dabei geht sie davon aus, dass Medien darüber Aufschluss geben können, wie in einer Gesellschaft erinnert und vergessen wird.64 Selbst wenn Esposito andere Zeiten und Kommunikationstechnologien untersucht (ebd.: 35ff., 84ff., 125ff., 110ff., 183ff.), sind die Ergebnisse von Interesse. Denn es wird erstens die Bedeutung ersichtlich, die historische Umbrüche in der kollektiven Erinnerung haben, zweitens wird Medien wie der Literatur eine besondere Funktion eingeräumt, wenn es darum geht, gesellschaftliche (Erinnerungs-)Strukturen sichtbar zu machen, und drittens zeigt sich, dass das kollektive Gedächtnis ein Mittel der Reflexion ist, das über die Gegenwart Aufschluss gibt. In diesem Sinne vermögen literarische Texte (Medium/Kommunikation), die in Krisenzeiten geschrieben worden sind oder auf sie Bezug nehmen (historische Zäsur), zum Verständnis und zur Aufarbeitung von Traumata ihrer jeweiligen Gegenwart und unserer Zeit gleichermaßen beizutragen.
2.2 Biopolitische Überlegungen zu Figuren der Schwelle bei Agamben, Arendt und R. Esposito Das Thema der Latenz findet auch in biopolitische Diskurse Eingang, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fokus rücken und mit verschiedenen Figuren der Schwelle und des gesellschaftspolitisch ›Unsichtbaren‹ sowie ›Ausgeschlossenen‹ operieren. Zentrale Impulse für den europäischen und amerikanischen Theoriediskurs kommen unter den Bezeichnungen Italian Theory bzw. Italian Thought und mit Namen wie Giorgio Agamben, Roberto
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Pasquale verbindet die Begriffe von Kultur, Identität und Erinnerung und bestimmt diese als kulturelle Praxis und kreative Kraft, die sich Klassifizierungen der Realität entgegenstellt. Di Pasquale, Caterina (2018): Antropologia della memoria. Il ricordo come fatto culturale. Bologna (il Mulino), S. 224, 227. Vgl. Assmann, Jan (2002): »Nachwort«, in: Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen v. Alessandra Corti. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 400–414, S. 401ff. und Esposito, Elena (2002): Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen v. Alessandra Corti. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 7ff., 27ff.
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Esposito oder Antonio Negri aus Italien.65 Wie Gentili konstatiert, können zwei Grundtendenzen innerhalb der italienischen Denkrichtung extrapoliert werden: zum einen die Interpretation der Moderne als Krise,66 zum anderen ihr reges Interesse für biopolitische Fragen. Im Hinblick auf letztere ist einer der gemeinsamen Referenzpunkte Foucault, welcher sich in seinen Vorlesungen von 1975–1976 am Collège de France und in La volonté de savoir (1976) dem Thema der Biopolitik zuwendet.67 Biopolitique bezeichnet bei Foucault eine neue Machtform, die sich als Macht über das Leben konstituiert und die im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert entsteht. Im modernen Staat geht es darum, den Körper des Einzelnen zu disziplinieren (Disziplinarmacht) und das Leben der gesamten Bevölkerung zu kontrollieren, zu verwalten, zu ökonomisieren und zu optimieren (Biomacht). Das Leben und seine Prozesse treten ins politische Kalkül ein (»la prise en compte de la vie par le pouvoir«), was sich dann im 19. Jahrhundert radikalisiere, als das Biologische verstaatlicht wird (»étatisation du biologique«).68 Während also die neuen 65
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Vgl. Lisciani-Petrini, Enrica/Strummiello Giusi (2017): »Premessa«, in: Lisciani-Petrini, Enrica/Strummiello Giusi (Hg.): Effetto ›Italian Thought‹. Macerata (Quodlibet), S. 7–20, S. 8f. »[il] Moderno come crisi, scissione, conflitto, contrapposizione e contraddizione«, Gentili, Dario (2012): Italian Theory. Dall’operaismo alla biopolitica. Bologna (il Mulino), S. 155 und vgl. ebd.: 167. Foucaults Vorlesungen zur Biopolitik von 1978/79 werden nach seinem Tod als Naissance de la biopolitique (2004) veröffentlicht. Foucault, Michel (1997): Il faut défendre la société. Cours au Collège de France (1975–1976). Hg. v. François Ewald u. Alessandro Fontana. Paris (Seuil/Gallimard), S. 213. Foucault umschreibt die Souveränitätsmacht als Todesmacht und als Recht, zu töten, mit der Formel »faire mourir et laisser vivre« und das im 19. Jahrhundert aufkommende ›neue Recht‹ über das Leben als eines »de faire vivre et de laisser mourir« (ebd.: 214). Näher zur Biopolitik bei Foucault s. Lemke, Thomas (2007a): »Die Macht und das Leben. Foucaults Begriff der ›Biopolitik‹ in den Sozialwissenschaften«, in: Kammler, Clemens/ Parr, Rolf (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Heidelberg (Synchron), S. 135–156, S. 136f.; Borsò, Vittoria (2014a): »Jenseits von Vitalismus und Dasein. Roberto Espositos epistemologischer Ort in der Philosophie des Lebens«, in: Borsò, Vittoria (Hg.) (2014): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld (transcript), S. 141–169, S. 144f.; Pieper, Marianne/ Atzert, Thomas/Karakayalı, Serhat/Tsianos, Vassilis (2011): »Biopolitik in der Debatte – Konturen einer Analytik der Gegenwart mit und nach der biopolitischen Wende. Eine Einleitung«, in: Pieper, Marianne/Atzert, Thomas/Karakayalı, Serhat/Tsianos, Vassilis (Hg.): Biopolitik – in der Debatte. Wiesbaden (VS), S. 8–27, S. 8ff. sowie Gehring, Petra (2014): »Bio-Politik/Bio-Macht«, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ul-
I. Theoretische Grundlegung
Machttechnologien von biopolitique und bio-pouvoir primär auf das Leben einwirkten, entziehe sich der Tod, ehemals Hauptschauplatz souveräner Macht, zunehmend ihrer Kontrolle.69 In diesem Sinne könnte die Thematisierung des Todes, beispielsweise in literarischen Texten, nicht nur als ein Rückzug aus übergeordneten Machtstrukturen, sondern auch als ihr Gegenentwurf und als Protestgeste ausgelegt werden. Agamben greift zentrale Gedanken Foucaults auf, um sein eigenes Verständnis von Biopolitik zu entfalten.70 Während Foucault zufolge die Politisierung des Lebens die Moderne kennzeichnet, existiert die Biopolitik für Agamben schon seit der Antike und ist in unserer Zeit zur ausschließlichen Form der Politik geworden. So heißt es im ersten Teil seines vierbändigen Werks Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (1995): che l’implicazione della nuda vita nella sfera politica costituisce il nucleo originario – anche se occulto – del potere sovrano. Si può dire, anzi; che la produzione di un corpo biopolitico sia la prestazione originale del potere sovrano. La biopolitica è, in questo senso, antica almeno quanto l’eccezione sovrana. Mettendo la vita biologica al centro dei suoi calcoli, lo Stato moderno non
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rich Johannes (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 230–232, S. 230ff. Hier findet sich eine Unterscheidung der Begriffe ›Biopolitik‹ und ›Bio-Macht‹, die in der Forschungsliteratur oft synonym verwendet werden. Erste bezeichnet bei Foucault die Ebene konkreter Machttechniken, zweite einen bestimmten ›Machttypus‹ (ebd.: 231). Dazu heißt es bei Foucault: »la mort va être […] le moment où l’individu échappe à tout pouvoir, retombe sur lui-même et se replie, en quelque sorte, sur sa part la plus privée« (Foucault 1997: 221). Diese wird in der Forschung als ›Thanatopolitik‹ bezeichnet, da sie nicht auf die produktiven Seiten des Lebens, sondern auf den Tod ausgerichtet ist. Geulen, Eva (2005): Giorgio Agamben zur Einführung. Hamburg (Junius), S. 130; Lemke 2007a: 139 und Sarasin, Philip (2003): »Agamben – oder doch Foucault?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 2, S. 348–353, S. 353. Sarasin kritisiert, dass Agamben Foucaults Begriff der Biopolitik falsch auslegt. Gerade in Bezug auf den Begriff des Lebens bestünden Differenzen, denn im Unterschied zu Agamben sei es Foucault nie um das ›nackte Leben‹ gegangen (ebd.: 351). Zu Agambens Rezeption von Foucault s. auch Mein, Georg (2014): »Giorgio Agamben«, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 198–200. Für einen Überblick zu Foucaults Biopolitik und deren Neuauslegung durch Agamben, Negri und Hardt s. Lemke, Thomas (2007): Biopolitik zur Einführung. Hamburg (Junius). Es fällt auf, dass Esposito hier nur am Rande vorkommt.
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fa, allora, che riportare alla luce il vincolo segreto che unisce il potere alla nuda vita, riannodando cosí col piú immemoriale degli arcana imperii.71 Souveräne Macht ist demnach auch immer biopolitische Macht, da ihr ursprünglicher Kern (»nucleo originario«) darin besteht, das auf einen biologischen Rest reduzierte ›nackte Leben‹ (»nuda vita«) politisch zu machen und es als einen ›biopolitischen Körper‹ zu produzieren. Was sich geändert hat, ist das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem. Denn während im ›alten Recht‹ der souveränen Ausnahme (»l’eccezione sovrana«) der Hauptgegenstand des Politischen verborgen blieb (»occulto«), wird der geheime Zusammenhang (»vincolo segreto«), der zwischen nacktem Leben und Macht schon immer bestand, aber gewissermaßen latent blieb, nun aufgedeckt (»riportare alla luce«) und als politisches Leben sichtbar gemacht. Agamben operiert hier mit einem Dualismus von Verbergen und Sichtbar-Machen, der häufig im Zusammenhang mit dem Begriff ›Latenz‹ verwendet wird. Zudem greift er Tacitus’ Notion der arcana imperii auf, die sich auf die Geheimnisse von Herrschaft bezieht, welche unsichtbar und der Öffentlichkeit verborgen sind (Tacitus 4 2002: 148/149). Er weist das biologische Leben als ein politisches Phänomen aus, das ehemals latent war und nun in den Fokus rückt. Indem die Biopolitik das biologische Leben fokussiert, integriert sie es in einen Diskurs, der zuvor den Geheimnissen der Macht unterstand. Es geht also um die Verschiebung, Sichtbarmachung und Diskursivierung von politischen Latenzphänomenen und damit um ein verändertes Verhältnis zur Wahrheit, Sagbarkeit und Darstellbarkeit. Zentrale Begriffe in Agambens Denken sind ›Ausnahme‹ (eccezione) und ›nacktes‹ bzw. ›bloßes Leben‹ (nuda vita). In Stato di eccezione (Homo sacer II, 2003a) wird der Ausnahmezustand unter Rückgriff auf Carl Schmitt als eine zeitweilige Suspendierung von Recht beleuchtet, über die der Souverän bestimmt.72 Agambens Logik der Ausnahme besagt, dass die Trennung von 71
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Agamben, Giorgio (1995): Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino (Einaudi), S. 9 und im Folgenden ebd.: 5ff., 131f. Hier und in der ganzen Arbeit werden die Akzente im Italienischen (z.B. più/piú, Gesù/Gesú u.a.) wie im Original übernommen, weswegen sich unterschiedliche Zitierweise ergeben können; dies gilt ebenso für die Schreibung von D'Annunzio/d'Annunzio. Schmitts Definition lautet: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Schmitt, Carl [1922] (9 2009): Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin (Duncker&Humblot), S. 13. Wie Geulen darlegt, nivelliert Agamben Unterscheidungen, die in der Souveränitätstheorie grundlegend für die Definition von
I. Theoretische Grundlegung
Leben und Recht, Innen und Außen nicht mehr möglich ist. Vielmehr konstituiert sich die Ausnahme als »esclusione inclusiva« (Agamben 1995: 10), da in ihr das Ausgeschlossene zugleich eingeschlossen wird, indem es sich auf die Norm bezieht. Macht und Norm konstituieren sich folglich immer dadurch, dass das ›Andere‹ ausgeschlossen wird. Die nuda vita steht mit dem Terminus homo sacer in Bezug.73 Mit homo sacer (von lat. sacer, in der Doppelbedeutung von ›heilig‹ und ›verflucht‹)74 greift Agamben eine Figur aus dem alten römischen Recht auf, die einen Menschen bezeichnet, der straflos getötet werden kann, aber nicht opferbar und deswegen gleich doppelt rechtlos ist, da er sowohl aus dem göttlichen als auch aus dem menschlichen Recht ausgeschlossen wird. Der homo sacer bezeichnet eine Figur der Ausnahme und Exklusion. Er ist ortlos, da er außerhalb des Rechts steht und keinen festen Platz in der geltenden Ordnung besitzt; sein Leben ist nacktes, ungeschütztes Leben, das der Macht bedingungslos ausgeliefert ist.75 Der homo sacer ist eine Schwellen- und Grenzfigur (»soglia«), die zwischen verschiedenen Welten, Ordnungen und Seinsformen steht, ohne einer einzigen
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Politik und Recht sind (Geulen 2005: 69ff., 73f.). Lemke kritisiert Agambens dualistisches Denken. Lemke, Thomas (2004): »Die politische Ökonomie des Lebens – Biopolitik und Rassismus bei Michel Foucault und Giorgio Agamben«, in: Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik. Tübingen (Gunter Narr), S. 257–274, S. 265. Für Borsò zeigt sich ›Leben‹ bei Agamben als etwas Offenes und als Resistenz gegen die Macht. Borsò, Vittoria (2014b): »Mit der Biopolitik darüber hinaus. Philosophische und ästhetische Umwege zu einer Ontologie des Lebens im 21. Jahrhundert«, in: Borsò, Vittoria (Hg.): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld (transcript), S. 13–40, S. 14. Die unterschiedlichen Bewertungen zeigen, dass Agambens Werk, wie auch seine häufig nicht ausreichend fundierte Quellenarbeit sowie seine oft metaphorische und unscharfe Begrifflichkeit Raum für Interpretationen und Kritik geben. Mit nuda vita bezieht sich Agamben zum einen auf Benjamins Begriff des ›bloße[n] Lebens‹, der sich in dem Aufsatz »Kritik der Gewalt« findet. Dessen Hauptthese lautet, dass jede Rechtsetzung ein Akt der Gewalt ist. Benjamin, Walter (1977): »Kritik der Gewalt«, in: Gesammelte Schriften II. I. Hg. v. u.a. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 179–203, S. 190f. Zum anderen spielt er auf die aristotelische Unterscheidung von zoé (natürliches, unpolitisches Leben) und bíos (politisches, wertvolles Leben) an (s. Borsò 2014a: 141). Vgl. »Sacer«, in: Menge, Hermann (Hg.) (17 1971): Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch. Berlin/München/Zürich (Langenscheidt), S. 670. »Der homo sacer ist für Agamben das Urbild des nackten Lebens, auf dessen Absonderung sich alle Macht gründet« (Geulen 2015: 91; s. weiter dazu und zu Agambens Quellen ebd.: 82ff., 95).
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anzugehören.76 Im nationalsozialistischen Konzentrationslager sieht Agamben eine Konvergenz von stato di eccezione und nuda vita,77 da dort der Ausnahmezustand zur Regel wird, und die Menschen bar jeder Möglichkeit auf politische Teilhabe auf nacktes Leben (nuda vita) reduziert und zu homines sacri gemacht werden.78 Aus Agambens Ausführungen wird deutlich, dass historische und politische Krisen Notstandsordnungen und Ausnahmezustände begünstigen. Aus letzteren wiederum resultiert die Produktion von ›nacktem Leben‹ und homines sacri. Dies wirft die Frage auf, inwiefern in Krisenzeiten auf Figuren und Metaphern rekurriert wird, die Formen der Exklusion, des Dazwischen und der Schwelle bezeichnen, um einschneidende Veränderungen aufzuzeigen. Eine besondere Figur, die ein solches Grenz- und Schwellenphänomen darstellt, ist der sogenannte ›Muselmann‹ des nationalsozialistischen Konzentrationslagers, auf den Agamben in Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone (Homo sacer III, 1998) eingeht. Im Anschluss an Kuons These, dass er das ›absolut Andere‹ und eine »disturbing category that subverts the memorial or critical
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Er bezeichnet »una soglia di indifferenza e di passaggio fra l’animale e l’uomo, la physis e il nómos, l’esclusione e l’inclusione […], che abita paradossalmente in entrambi i mondi senza appartenere a nessuno« (Agamben 1995: 117). Mit Blick auf Beispiele wie Guantánamo und dem nach 9/11 verabschiedeten USA Patriot Act münden Agambens Gedanken in die vieldiskutierten Thesen, dass der Ausnahmezustand zum herrschenden Leitbild und das Lager zum biopolitischen Paradigma der Gegenwart geworden sind: »Il campo, che si è ora saldamente insediato al suo interno è il nuovo nomos biopolitico del pianeta« (ebd.: 198 und vgl. ebd.: 187, 195). Für Agamben ist das Lager kein historisches Ereignis oder eine ›Abnormität‹ der Vergangenheit, sondern existiert bis heute als etwa Flüchtlingslager überall auf der Welt. Zu Guantánamo und dem Ausnahmezustand s. Agamben, Giorgio (2003a): Stato di eccezione. Torino (Bollati Boringhieri), S. 12f., 42. Agamben macht sich angreifbar für Kritik, indem er die Einmaligkeit von Auschwitz nivelliert. Lemke zufolge will Agamben mit der Behauptung, dass in totalitären Staaten und Demokratien gleichermaßen ›nacktes Leben‹ produziert werde, nicht den Unterschied von Demokratie und Diktatur nivellieren, stattdessen versucht er zu zeigen, dass die nuda vita schon immer Gegenstand der Politik war. Er kritisiert jedoch, dass Agambens Begriffe nicht klar konturiert seien und er keine Abstufungen des ›nackten Lebens‹ vornehme (Lemke 2004: 260ff.). »In quanto i suoi abitanti sono stati spogliati di ogni statuto politico e ridotti integralmente a nuda vita, il campo è anche il più assoluto spazio biopolitico che sia mai stato realizzato« (Agamben 1995: 191).
I. Theoretische Grundlegung
discourse«79 darstellt, wird nun untersucht, ob der Muselmann als Latenzfigur interpretierbar ist. Bei der Frage nach der Zeugenschaft und Erzählbarkeit des Holocausts rekurriert Agamben auf das von Lyotard in Le différend angesprochene Paradox, dass man als KZ-Überlebender nicht vom (eigenen) Tod in der Gaskammer berichten kann.80 Daraus schließt Agamben, dass sich die Zeugenschaft auf einer Schwelle zwischen Innen und Außen situiert, da man weder von innen (innerhalb des Todes) noch von außen als Außenstehender berichten kann. Die Zeugenschaft enthalte eine Lücke und beschreibe eine unbezeugbare Leerstelle (lacuna). Diese kann mit dem Begriff der Latenz in Verbindung gebracht werden, insofern darin etwas Erlebtes latent und unaussprechbar bleibt (Agamben 1998: 32f.). Levi, auf den sich Agamben primär bezieht, verknüpft das Unbezeugbare mit der Figur des Muselmanns. Dieser ist ein Produkt des Lagers und ein Phänomen, das es vor Auschwitz nicht gab; er bezeichnet einen KZ-Häftling, der jeden Lebenswillen verloren hat und nicht mehr spricht (ebd.: 46, 79).81 Der Muselmann unterliegt einem doppelten Ausschluss, da sowohl die Häftlinge als auch die Wärter ihn meiden – letztendlich kann er in keine Ordnung integriert werden (Agamben 1998: 37ff.). In den von Agamben aufgeführten Zeugenberichten und literarischen Textbeispielen wird der Muselmann als wandelnder Leichnam (»cadavere ambulante«), Nicht-Mensch (»non-uomini«), lebendiger Toter (»morti vivi«) und
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Kuon, Peter (2008): »›Chi potrebbe dire che cosa sono?‹ Questioning Humanism in Concentration Camp Survivor Texts and the Category of the ›Muselmann‹«, in: Annali d’Italianistica. Vol. 26, S. 203–221, S. 216 und vgl. ebd.: 217f. Vgl. Agamben, Giorgio (1998): Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone. Homo sacer III. Torino (Bollati Boringhieri), S. 32. Lyotards strittige These besagt, dass kein lebendiger Mensch von der Gaskammer Zeugnis ablegen kann, da er, wäre er tatsächlich darin gewesen, tot sein müsste: »La seule preuve recevable qu’elle [la chambre à gaz] tuait est qu’on en est mort. Mais, si l’on est mort, on ne peut témoigner que c’est du fait de la chambre à gaz.« Lyotard, Jean-François (1983): Le différend. Paris (Minuit), S. 16. Laut Kuon bezieht sich der Begriff ›Muselmann‹ nicht, wie oft behauptet, auf ›Muslim‹, sondern leitet sich als miser man/mieser Mann aus dem Jiddischen Wort mis(er) ab, das auf das Hebräische mi ūs (›Ekel‹) verweist. Die Bezeichnung ist daher eine soziale Zuschreibung (Kuon 2008: 207f., 213). Auch für Sofsky bezeichnet der Muselmann eine soziale Kategorie. Sofsky, Wolfgang (5 2004): Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 233.
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als Namen- und Gesichtsloser (»presenza senza volto«, ebd.: 37ff.) beschrieben. Er steht zwischen Leben und Tod, Präsenz und Absenz und er bezeichnet eine bewegliche Schwelle, auf welcher der Mensch zum Nicht-Menschen wird. Dabei ist es unmöglich, zu sagen, wann genau er von dem einen Status in den anderen übergeht (ebd.: 45ff.).82 Durch den Muselmann (figura-limite) werden also Grenzen überschritten und Grenzziehungen in Frage gestellt. Dies betrifft unterschiedlichste Bereiche, da der Muselmann Agamben zufolge eine nosographische Figur, eine ethische Kategorie, eine politische Grenze und ein anthropologisches Konzept zugleich darstellt. Als ein unbestimmtes Wesen (essere indefinito) ist er nicht auf eine bestimmte Identität reduzierbar und bleibt für Widersprüche und Interpretationen offen. Er beschreibt ein ›Drittes‹, einen alternativen Bereich (terzo regno), der zur Chiffre des Nicht-Orts des Konzentrationslagers wird, in dem jedwede Grenzziehung versagt (ebd.: 43). In der Figur des Muselmanns verlieren die Begriffe von Leben und Tod ihre ursprüngliche Bedeutung, wodurch die gekannte Sprache außer Kraft gesetzt und Verstehen erschwert wird. Agambens Ansicht nach besteht das Furchtbare, das der Muselmann verkörpert, darin, dass der Tod eines Menschen nicht mehr als solcher bezeichnet und benannt werden kann (ebd.: 64).83 Wenn nun aber die Sprache versagt und herkömmliche Begriffe nicht mehr ausreichen, um das Grauen von Auschwitz zu benennen, dann wird es notwendig, neue Begriffe und Metaphern, mit denen man das Unsagbare ausdrücken kann, nicht
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Bei der Frage, ob und wie man in einer Extremsituation Mensch bleibt, spielt er daher eine tragende Rolle. Zugleich dient er dazu, Konzepte wie ›Menschlichkeit‹ und ›Moral‹ auf den Prüfstein zu stellen und fordert dazu auf, sie zu überdenken: »il musulmano è […] il luogo di un esperimento in cui la morale stessa, la stessa umanità sono revocate in questione. Egli è una figura-limite di una specie particolare, in cui non soltanto le categorie come dignità e rispetto, ma persino l’idea stessa di un limite etico perde il suo senso« (ebd.: 57). Levis Feststellung »si esita a chiamare morte la loro morte« wird von Agamben aufgegriffen: »perché ciò che definisce i musulmani non è tanto che la loro vita non sia più vita […] quanto piuttosto che la loro morte non sia morte« (ebd.: 64). – Die Schreibweise von ›musulmano‹ bzw. ›mussulmano‹ differiert bei Levi und Agamben; zitiert wird nach dem jeweiligen Original, weswegen Unterschiede in der Schreibweise vorkommen.
I. Theoretische Grundlegung
nur zu finden, sondern auch zu entschlüsseln, was eine literaturwissenschaftliche Analyse leisten könnte.84 Levi selbst bedient sich einer Metapher, die den Aspekt der Unsichtbarkeit bzw. des unmöglichen Blicks thematisiert, indem er den Muselmann als jemanden beschreibt, der die Gorgo gesehen hat (ebd.: 47). Die Gorgonen sind Schreckensgestalten aus der griechischen Mythologie, deren Blick versteinert.85 Sie haben kein Gesicht, da es unmöglich ist, sie anzublicken, ohne dem Tod ins Angesicht zu sehen. Als solche ist die Gorgo für Agamben eine Chiffre für unmögliches Sehen (»impossibilità della visione«, Agamben 1998: 48). Wenn es dem Muselmann dennoch möglich ist, sie anzublicken und das zu sehen, was man eigentlich nicht sehen kann, dann deshalb, weil er schon nicht mehr Mensch ist. Und eben darum stellt er Levi zufolge einen ›vollständigen Zeugen‹ (testimone integrale) dar, der Auschwitz bezeugen kann (ebd.: 49ff., 75f.). Agamben schreibt dazu: la vera cifra di Auschwitz – il musulmano, il ›nerbo del campo‹, colui che ›nessuno vuole vedere‹ e che iscrive in ogni testimonianza una lacuna – fluttua senza trovare una collocazione definita. Egli è veramente la larva che la nostra memoria non riesce a seppellire, l’incongedabile col quale dobbiamo deciderci a fare i conti (ebd.: 76). Im Muselmann verbinden sich die Konzepte von Zeugenschaft (»testimonianza«), Erinnerung (»memoria«), Exklusion (»nessuno vuole vedere«), Unsagbarkeit (»cifra«), Unbestimmtheit (»fluttua«), unmöglicher Verdrängung (»seppellire«, »incongedabile«) und Latenz (»lacuna«, »larva«). Der Muselmann wird zur Latenzfigur, da er für die Lücke in Auschwitz steht, für etwas Unausgesprochenes, das als Larve im kulturellen Gedächtnis weiterlebt, ohne benennbar oder sichtbar zu sein (ebd.: 151). Die Metapher der Larve ist hier zentral, da sie ausdrückt, dass der Holocaust etwas Untilgbares bedeutet, das trotz aller Versuche des Vergessens und Verdrängens als Latenz fortlebt und darauf drängt, erinnert und thematisiert zu werden (»fare i conti«).
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Es fällt auf, dass bei Agamben und Levi häufig Sprache, Verstehen oder Nicht-Verstehen thematisiert werden und Worte wie ›entschlüsseln‹ (»decifrare«), ›heimlich‹ (»segreto«) oder ›Chiffre‹ (»cifra«) vorkommen (ebd.: 34f., 59, 64). Vgl. Lurker, Manfred (3 2014): »Gorgonen«, in: Lexikon der Götter und Dämonen. Namen Funktionen Symbole/Attribute. Stuttgart (Kröner), S. 176 und den Eintrag »Medusa« in: ebd.: 309.
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In seiner Ungreifbarkeit und ambivalenten Doppelheit ist der Muselmann mit der Figur des Lazarus vergleichbar. Er steht auf der Schwelle zwischen Mensch und Nicht-Mensch und beschreibt damit eine Zone des Lebens im Tod und eine Zone des Todes im Leben (ebd.: 76). In beiden Fällen gefährdet er klare Grenzen und die Auffassung, Leben und Tod seien heilig; damit stellt er letztendlich die Menschlichkeit des Menschen infrage.86 Deshalb sind Grenz- und Latenzfiguren wie der Muselmann und Lazarus Figuren, die die soziale Ordnung stören. Schließlich erhält der Muselmann als Latenzfigur eine explizit politische Bedeutung, da er das Verborgene der Macht repräsentiert. Das Lager und sein Produkt, der auf sein ›nacktes Leben‹ reduzierte Muselmann, werden zum Austragungsort verborgener biopolitischer Strukturen und Strategien: »il musulmano nel campo […] non manifesta soltanto l’efficacia del biopotere, ma ne presenta, per così dire, la cifra segreta, ne esibisce l’arcanum« (Agamben 1998: 145). Agambens abschließende These ist, dass die Biomacht mit dem Muselmann ihr letztes arcanum produzieren wollte, das wiederum eine »sopravvivenza separata da ogni possibilità di testimonianza, una sorta di sostanza biopolitica assoluta« (ebd.: 146) sei. Mit dem Zusammenhang von politischer Macht, Totalitarismus und Schwellensituationen des menschlichen Lebens beschäftigt sich auch Hannah Arendt. In ihrem dreiteiligen Hauptwerk The Origins of Totalitarianism (1951) geht sie davon aus, dass politische und insbesondere totalitäre Macht aus der Latenz als einem Verborgenen und Geheimen heraus agiert, womit sie an die arcana imperii anknüpft.87 Für Arendt ist das nationalsozialistische
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Laut Sofsky wird in der Figur des Muselmanns die Demarkationslinie aufgehoben, die Leben und Tod trennt. Er dementiere »die kollektiven Todesvorstellungen der zivilen Gesellschaft«, da sein Massentod die Vorstellung zerstört, die Gesellschaft könne friedlich fortbestehen oder sei unsterblich (Sofsky 6 2008: 235f.). Die Figur des Muselmanns ist in der Forschung häufig aufgegriffen worden. Für Kuon ist der Muselmann im Lager wichtig für die Selbstbeobachtung der Häftlinge; er fragt nach ihrer menschlichen Identität. Als ein Bild des ›Andersseins‹ (otherness) könne er die nach Auschwitz problematisch gewordenen Konzepte von Mensch und Menschlichkeit überdenken. Für Levi und Agamben sei er »a disturbing element that tends to subvert textual strategies« (Kuon 2011: 203). So stellt Arendt bei ihrer Untersuchung von totalitären Systemen fest, dass »the trouble with totalitarian regimes is not that they play power politics in an especially ruthless way, but that behind their politics is hidden an entirely new and unprecedented
I. Theoretische Grundlegung
Konzentrationslager die zentrale Institution des totalen Machtapparats und ein Laboratorium, das beweist, dass alles möglich ist.88 Im KZ ist es weder möglich, zu leben, noch zu sterben, da den Menschen nicht nur das Leben, sondern auch ihre ganze Existenz genommen wird (ebd.: 441ff.). Diese vollständige Vernichtung des Menschen, die Körper und Seele betrifft, beschreibt Arendt bezeichnenderweise mit der Lazarus-Metapher: »The end result in any case is inanimate men, i.e. men who can no longer be psychologically understood, whose return to the psychologically or otherwise intelligibly human world closely resembles the resurrection of Lazarus« (ebd.: 441).89 Die leblosen Menschen (»inanimate men«) können, so wie Lazarus, von anderen nicht mehr verstanden werden, da sie etwas erlebt haben, das sich dem menschlichen Verstand und dem allgemein Vorstellbaren entzieht. Daraus entsteht ein Abgrund (»the terrible abyss that separates the world of the living from that of the living dead«, Arendt 1973: 441). Arendt behauptet, dass dieser Abgrund nicht durch Augenzeugen- oder Erinnerungsberichte überbrückt werden kann, da das, was darin geschildert wird, für Verfasser und Adressaten unfassbar scheint (ebd.). Die Lazarus-Menschen, die Arendt auch lebendige Tote (»living dead«) nennt, sind im mehrfachen Sinne ausgeschlossen. Da die Nazis die Häftlinge nicht nur töteten, sondern auslöschten und jede Spur von ihnen tilgten, werde ihnen und ihren Hinterbliebenen die Möglichkeit genommen, zu trauern. Selbst wenn sie überlebten, blieben sie bei ihrer Rückkehr in die ›alte Welt‹ isoliert, weil sie Erfahrungen gemacht hätten, die über die Grenzen des menschlich Vorstellbaren hinausgingen und von denen sie nicht berichten könnten (ebd.: 442ff.). Ihnen werden Zeugenschaft, Sprechen bzw. Schreiben, Erinnern und ein soziales Leben oder eine Rückkehr in die Gesellschaft gleichermaßen versagt. Die Lazarus-Figuren scheinen sich damit in exakt
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concept of power.« Arendt, Hannah (1973): The Origins of Totalitarianism. San Diego/ New York/London (Harvest Book Harcourt), S. 417. Das KZ und der totale Machtapparat würden beide durch Abriegelung und Abschottung gegenüber den Lebenden stabilisiert. »The real horror of the concentration and extermination camps lies in the fact that the inmates, even if they happen to keep alive, are more effectively cut off from the world of the living than if they had died, because terror enforces oblivion« (ebd.: 443). Auch Kuon nennt die Lazarus-Stelle bei Arendt, geht aber nicht näher auf sie ein (Kuon 2011: 316).
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dem Zustand der Verlassenheit zu befinden, den Arendt bestimmt als »the experience of not belonging to the world at all« (ebd.: 475).90 Der zweite Bezug auf Lazarus steht im Zusammenhang mit dem Verlust dessen, was den Menschen ausmacht und von anderen unterscheidet. Arendt gebraucht die Lazarus-Metapher, um darzulegen, dass sich im von der Außenwelt abgegrenzten Raum des KZs Begriffe wie die von ›Mensch‹, ›Menschlichkeit‹, ›Person‹ und ›Recht‹ auflösen. Ihre Definition des Menschen als jemand, der das Recht hat, Rechte zu haben (»right to have rights«, Arendt 1973: 298), wird hier außer Kraft gesetzt.91 Die Lazarus-Metapher hat insofern eine politische Valenz, da sie aussagt, dass der Mensch im KZ seinen politischen Status und damit auch die Voraussetzung für ein menschliches Leben verliert. Indem er im Lager auf ein ›Reaktionsbündel‹ (»bundle of reactions«, Arendt 1973: 441) reduziert wird, werde er, so Arendt, von allem getrennt, was man ›Person‹ bzw. ›Persönlichkeit‹ oder ›Charakter‹ nennen kann. Erst wenn er wie Lazarus von den Toten aufersteht, erhalte er seine frühere Persönlichkeit zurück (ebd.). Arendts These ist fraglich und wird von den literarischen Texten, die mit der Lazarus-Metapher operieren, insofern widerlegt, als dass die Zurückgekehrten dort nicht mehr zu ihrem alten Ich zurückfinden. In Roberto Espositos Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale (2007) ist Arendt eine wichtige Referenz. Ausgehend von ihrer Kritik an den Menschenrechten wendet sich Esposito biopolitischen und menschenrechtlichen Fragen zu, die er anhand des Begriffs der ›Person‹ diskutiert. Sein Ziel ist es, diese Kategorie aufzubrechen und die mit ihr einhergehende dualistische Denkweise infrage zu stellen.92 Bereits das antike römische Recht bezieht sich auf die Kategorie der Person, indem es Person und Sache und den freien Menschen vom Sklaven trennt. Diese Trennung setzt sich fort und ist bis heute, so Esposito, das Fundament politischer, juridischer und philosophischer Konzeptionen (ebd.: 14). Der Diskurs um die Person stellt folglich eine Konstante 90 91
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S. hierzu außerdem Breier, Karl-Heinz (1992): Hannah Arendt zur Einführung. Hamburg (Junius), S. 45. Arendt begreift die Geburt als eine Fähigkeit, die einen Anfang gewährt und die Voraussetzung für (politisches) Handeln bildet. S. dazu Schües, Christina (2012): »Conditio humana – eine politische Kategorie«, in: Breier, Karl-Heinz/Gantschow, Alexander (Hg.): Politische Existenz und republikanische Ordnung. Zum Staatsverständnis von Hannah Arendt. Baden-Baden (Nomos), S. 45–72, S. 58. Vgl. Esposito, Roberto (2007): Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale. Torino (Einaudi), S. 3ff.
I. Theoretische Grundlegung
dar, die binäres Denken fördert. Besondere Wichtigkeit erhalte er nach dem Zweiten Weltkrieg, da ein drängendes Bedürfnis besteht, auf die Destruktion des Subjekts durch die Nationalsozialisten Antworten zu finden (ebd.: 8ff.). Nach dem Krieg und zu einer Zeit, in der ein offener Hiat zwischen ›Mensch‹ und ›Bürger‹ klaffe, der durch den Begriff der ›Person‹ gefüllt werden solle, gerieten Fragen in den Fokus, die verhandeln, was ein ›Mensch‹ ist und wie man ihn in seiner Würde schützen könne (ebd.: 6). 1948 verabschieden die Vereinten Nationen die Deklaration der Menschenrechte, die den Wert der menschlichen Person wiederherstellen und dem Menschen unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit unantastbare Rechte sichern sollen (ebd.: 87).93 Die Menschenrechte lassen sich Esposito zufolge nur anhand des Personendiskurses ausdrücken und praktizieren; die juridische Anerkennung des Menschen als Rechtswesen ist an den Personenbegriff gekoppelt, denn nur das Leben, das als das einer Person gesehen wird, kann anerkannt werden. An diesem Punkt setzt er seine Kritik an und davon ausgehend formuliert er seine Hauptthese: Es sei gerade das Dispositiv der Person, das eine Trennung von Recht und Leben produziere und die versuchte Zusammenführung von ›Mensch‹ und ›Bürger‹ verhindere. Denn gänzlich Person zu sein, bedeute immer, andere Individuen auszugrenzen und in den Grenzbereich einer Sache zu verschieben. Das Dispositiv der Person hat eine performative Funktion, indem es reale Effekte produziert. In ihm werden das Subjekt sowie das biologische Substrat des Menschen voneinander getrennt, und es entscheidet darüber, wer oder was leben oder sterben soll (Esposito 2007: 13ff.). Die ›Person‹ werde als Entscheidungs- und Trennungsdispositiv in den Händen der Mächtigen zu einem politischen und juridischen Instrument, da sie über Leben und Tod entscheide und wertvolles und unwürdiges Leben unterscheide (ebd.: 121).94 Ihm setzt Esposito die lebensbejahenden Kategorien der Terza persona und des Impersonale entgegen:
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Zu den Menschenrechten im Allgemeinen vgl. Schwarz, Martin (2 2017): »Menschenrechte«, in: Schwarz, Martin/Breier, Karl-Heinz/Nitschke, Peter (Hg.): Grundbegriffe der Politik. Baden-Baden (Nomos), S. 125–131. Hier lassen sich Verbindungen zu Butler herstellen, die sich ebenfalls mit der Unterscheidung und Wahrnehmung von wertvollem und nicht wertvollem Leben auseinandersetzt. Vgl. hierzu Butler 2009: 12 und das Kapitel I, 1.1 in dieser Arbeit. Außerdem sind Espositos Überlegungen an Agambens Begriffe von ›Ausschluss‹ und nuda vita anknüpfbar. Scheinbar bezieht sich Esposito öfter auf Agamben, ohne dies immer kenntlich zu machen.
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Naturalmente l’impersonale si situa fuori dall’orizzonte della persona. Sulle linee di resistenza, piú precisamente, che ne tagliano il territorio impedendo, o almeno contrastando, il funzionamento del suo dispositivo escludente. L’impersonale – si potrebbe dire – è quel confine mobile, quel margine critico, che separa la semantica della persona dal suo naturale effetto di separazione. Che blocca il suo esito reificante. Non è la sua negazione frontale […] ma la sua alterazione, o estroflessione, in un’esteriorità che ne revoca in causa e rovescia il significato prevalente (Esposito 2007: 18f.). Das Impersonale, das Esposito mit der Terza persona (›dritte Person‹, ›das Dritte‹) verbindet, ist eine Figur des Widerstands (»resistenza«, »contrastando«, »impedendo«, »blocca«), der Schwelle (»confine mobile«, »margine«) und des Anderen (»fuori«, »alterazione«). Es konfiguriert eine Gegenposition zu den Ausschlussverfahren (»escludente«), dem binären Separatismus (»separazione«) und der Verdinglichung (»esito reificante«), die das Dispositiv der Person schafft. Sein Ziel ist es, dominierende normative Diskurse und Sinngebungen aufzubrechen (»revoca«, »rovescia«) und sich ihnen als Alternative zu präsentieren (ebd.: 19, 127ff.).95 Trotz ihrer Unschärfe machen Espositos Kategorien des Impersonale und der Terza persona deutlich, dass es neuer Konzepte bedarf, um diejenigen zu beschreiben, die außerhalb oder an der Grenze zu Norm und Leben stehen und durch herkömmliche Termini nicht adäquat zu erfassen sind. Dass bei der Schaffung dieser neuen Begriffe die Literatur und Philosophie eine wichtige Funktion haben (Esposito 2007: 127ff.),96 beweisen Espositos Bezugnahmen
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Für Esposito ist das ›Dritte‹ Ausdruck einer »irriducibilità della logica ternaria a quella binaria« und »il sintomo di un’antinomia più profonda che rimanda alla natura stessa della terza persona. […] essa non è un’altra persona […] ma qualcosa che sporge dalla logica personale a favore di un diverso regime di senso« (Esposito 2007: 21). Er will ein offenes Konzept schaffen, um Widersprüchliches zu fassen und neuen Sinnordnungen Raum zu geben. Doch ist, wie Borsò zu Recht anmerkt, das Konzept des ›Dritten‹ selbst ambivalent und daher problematisch (Borsò 2014a: 160). Zu Espositos ›affirmativen‹ Biopolitik, die sich als Macht des Lebens versteht, s. ebd.: 161 und Borsò 2014b: 20, 25. Zur Ansicht, Espositos Konzept des ›Impersonalen‹ sei gewinnbringend in der Kunst einzusetzen, vgl. Moreiras, Alberto (2014): »Das Schwindelgefühl des Lebens. Roberto Espositos ›Terza Persona‹«, in: Borsò, Vittoria (Hg.): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld (transcript), S. 115–139, S. 120 und Lisciani-Petrini, Enrica (2014): »Vom Impolitischen zum ›Impersonalen‹. Im Dialog mit Roberto Esposito«, in: Borsò, Vittoria (Hg.): Wissen und Leben – Wissen für das
I. Theoretische Grundlegung
auf Denker und Schriftsteller wie Simone Weil, Foucault, Blanchot oder Deleuze und deren Auseinandersetzung mit Figurationen des ›Dritten‹ und des ›Außen‹.97 Lazarus kann als eine solche Figur interpretiert werden. Er ist eine Terza persona, die weder ›Du‹ noch ›Ich‹ ist und zwischen Leben und Recht klafft; als »non-soggetto« bzw. »soggetto alterato«98 verunsichert und problematisiert er, stellt Normen und Grenzziehungen infrage, sprengt das Dispositiv der Person und schafft neue Begriffe. Aus den Ausführungen wurde deutlich, dass Figuren der Latenz, der Exklusion und der Schwelle für das Verständnis von einerseits verborgenen Formen der Macht und andererseits für alternative Konzeptionen des Lebens und des
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Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik. Bielefeld (transcript): S. 98–114, S. 111. Espositos Bezug auf Blanchots Kategorie des ›Neutrum‹, die dieser in L’entretien infini (1969) elaboriert, ist zentral. Laut Esposito ist sie eine Figuration des ›Dritten‹, die sich jeder Dichotomie widersetzt, die der Personendiskurs schaffe, weswegen das ›Neutrum‹ im ›Außen‹ zu verorten sei (Esposito 2007: 21, 153ff., 159). Blanchot selbst glaubt, dass nur das Schreiben es mit dem Dritten aufnehmen kann. Blanchot, Maurice (1969): L’entretien infini. Paris (Gallimard)/Blanchot, Maurice (1977): L’infinito intrattenimento. Torino (Einaudi), S. 70, zitiert nach Esposito 2007: 21. Literatur ist für Blanchot mit dem ›Außen‹ verbunden und hat ein transgressives, normverletzendes Potential: »Écrire […] est la violence la plus grande, car elle transgresse la Loi, toute loi et sa propre loi.« Blanchot, Maurice (1969): »Note«, in: L’entretien infini. Paris (Gallimard), S. V–VIII, S. VIIf. In einem anderen Kontext beschreibt Blanchot Literatur, die literarische Sprache und ihre Funktionsweise anhand der Lazarus-Metapher: »Dans la parole meurt ce qui donne vie à la parole […]. Mais quelque chose était là, qui n’y est plus. Quelque chose a disparu. […] Le langage de la littérature est la recherche de ce moment qui la précède. […] [C]e que l’homme rejette pour le dire, ce qui est le fondement de la parole et que la parole exclut pour parler, l’abîme, le Lazare du tombeau et non le Lazare rendu au jour, celui qui déjà sent mauvais, qui est le Mal, le Lazare perdu et non le Lazare sauvé et ressuscité.« Blanchot, Maurice (1949): »La littérature et le droit à la mort«, in: La part du feu. Paris (Gallimard), S. 305–345, S. 316. Blanchot verwendet Lazarus, um das zu beschreiben, was mit und in der (literarischen) Sprache nicht gesagt wird oder werden kann, was absent, unbekannt und im Dunkeln bleibt. Es ist bemerkenswert, dass er sich hierbei einer Vielzahl an Motiven bedient, mit denen die in dieser Arbeit behandelten literarischen Lazarus-Texte ebenfalls operieren: Tod, Dunkelheit, Hindernis, Vergessen, Verlust, Wiederfinden/Wiedererlangen, Exklusion, Negativität. Bei Blanchot stehen Lazarus und der Abgrund (abîme), den er – ähnlich wie bei Arendt – symbolisiert, für das, was einmal war, und dann verschwunden ist (ebd.). Esposito, Roberto (2011): »Prefazione«, in: Dieci pensieri sulla politica. Bologna (il Mulino), S. 7–23, S. 20.
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Mensch-Seins zentral sind. Der Umstand, dass Agamben und Esposito häufig auf Schriftsteller und literarische Texte rekurrieren, legt nahe, dass der Literatur eine besondere Rolle bei der Behandlung dieser Themen zukommt. Da Primo Levi bei beiden eine wichtige Referenz darstellt, bietet es sich an, im Folgenden einen Blick auf Levis literaturtheoretischen Überlegungen zu werfen.
2.3 Die Larve als Latenzfigur bei Primo Levi Primo Levi ist einer der ersten Holocaust-Überlebenden, der von seinen Erfahrungen in Auschwitz berichtet.99 Seine autobiographischen Texte Se questo è un uomo (1947), La tregua (1963) und I sommersi e i salvati (1986) gehören zu den bekanntesten Werken der Shoah-Literatur. Da Lazarus darin nicht vorkommt, wird ihnen in dieser Arbeit kein eigenes Kapitel gewidmet. Jedoch sind einige seiner literaturtheoretischen Texte für die vorliegende Thematik aufschlussreich. In Dello scrivere oscuro, einem der späteren theoretischen Texte, die in der Sammlung L’altrui mestiere (1985) zusammengefasst werden, legt Levi seine Vorstellungen von Literatur dar. Diese sollte kommunikativ, informativ, verständlich, deutlich, eindeutig und an den Leser gerichtet sein.100 Celans Gedicht Todesfuge, das paradigmatisch für die Shoah-Literatur geworden ist, lehnt Levi aus folgenden Gründen ab: Ci avvince come avvincono le voragini, ma insieme ci defrauda di qualcosa che doveva essere detto e non lo è stato, e perciò ci frustra e ci allontana. […] non è una comunicazione, non è un linguaggio, o al di più è un linguaggio buio e monco, qual è appunto quello di colui che sta per morire, ed è solo (ebd.: 637). Mit Blick auf die Ausgangsfrage dieser Arbeit wird hier Grundlegendes verhandelt. Es geht Levi um die Problematik von fehlerhafter, indirekter und un-
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Das Schreiben und Erzählen seiner KZ-Erfahrungen sind für ihn ein Grundbedürfnis geworden, denn sie folgen einem »bisogno di raccontare agli ›altri‹, di fare gli ›altri‹ partecipi, […] un impulso immediato e violento«. Levi, Primo (2015): »Prefazione«, in: Se questo è un uomo. Torino (Mondadori), S. 9–10, S. 9. Zu Levis Schreibmotivation s. ferner Lollini, Massimo (2001): Il vuoto della forma. Scrittura, testimonianza e verità. Genova (Marietti), S. 244. 100 Zu den wörtlichen Zitaten s. Levi, Primo [1985] (1990): »Dello scrivere oscuro«, in: Opere. Volume terzo. Racconti e saggi. Torino (Mondadori), S. 633–639, S. 636.
I. Theoretische Grundlegung
terlassener Kommunikation, das Verhältnis von Gesagtem und Ungesagtem sowie um die Frage, was eine verständliche Sprache ist und letztlich darum, welche Rolle Literatur in der Gesellschaft und bei kollektiven Verstehensprozessen spielt. Levi thematisiert eine Form der Latenz, die an Gumbrechts Definition des Latenten als etwas Unzugängliches und Unsichtbares erinnert, das ein Gefühl des Unbehagens hervorruft, das wir nicht benennen können (Gumbrecht 2012: 41). Das scrivere oscuro ist eine solche Form der Latenz, da es etwas Ungesagtes bezeichnet, dessen Anwesenheit wir als etwas Unangenehmes (»ci frustra«) wahrnehmen. Levi vertritt die Meinung, dass jeder Schriftsteller die Verantwortung trägt, für jemanden zu schreiben und so Kommunikation zu ermöglichen. Möglich sei dies nur durch eine helle und offene Sprache (»luminoso ed aperto«). Während er eine klare Sprache mit Leben, Menschsein und Kommunikation verbindet, stellt das dunkle und verdunkelnde Schreiben (scrivere oscuro) für ihn Tod, Kommunikationslosigkeit, Einsamkeit und eine Form der Repression dar (Levi 1990: 637). Gerade im Hinblick auf die Frage, inwiefern Metaphern ambivalente und komplexe Sachverhalte artikulieren und begreifbar machen können, bieten Levis Überlegungen Anhaltspunkte. Denn mit der Gegenüberstellung von effabile und ineffabile (ebd: 636) thematisiert er einen Aspekt, den Arendt später in The Life of the Mind (1971) als das ineffable und invisible der Sprache und des Denkens wieder aufgreift. Ein Vergleich ihrer kontrastierenden Ansichten über bildliches und ›uneindeutiges‹ Sprechen bringt interessante Ergebnisse zutage. Mit Bezug auf die in der antiken griechischen Philosophie bestehende Annahme, dass Wahrheit per definitionem unaussprechlich und unbeschreiblich (»ineffable«) sei, geht Arendt auf die Funktion von Metaphern ein. Diese seien in der Lage, das ›Unsichtbare‹ sichtbar zu machen und könnten die Kluft überbrücken, die zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit bestehe.101 Während für Arendt Analogien, Metaphern und Embleme den Kontakt zur Welt erhalten können und etwas zutiefst Menschli-
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So heißt es bei Arendt: »The invisible made visible in the metaphor«, »transforming the invisible into an ›appearance‹« und »Analogies, metaphors, and emblems are the threads by which the mind holds on to the world even when, absentmindedly, it has lost direct contact with it, and they guarantee the unity of human experience.« Arendt, Hannah (1987): The Life of the Mind. San Diego/New York/London (Harvest Book Harcourt), S. 105ff.
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ches sind, bedeuten sie für Levi gerade die Abwendung und Isolierung von der Außenwelt und anderen Menschen. Es fällt auf, dass bei Levi und Arendt die Reflexion über Sprache eine Reflexion über das Mensch-Sein und die Stellung des Menschen in der Welt beinhaltet. Dies legt nahe, dass sich der Mensch erst durch Sprache und Kommunikation als Mensch und Teil einer menschlichen Gemeinschaft fühlt. Wie Levis Schriften zeigen, spielt dieser Gedanke im Konzentrationslager, in den Zeugenberichten und den Texten über das Lager eine wichtige Rolle, da eine zentrale Frage darin lautet, inwiefern der dort erlittene Sprachverlust dazu führt, dass man weniger Mensch ist. In seinem letzten Werk, dem autobiographischen Essay I sommersi e i salvati (1986) fasst Levi seine Auschwitz-Erfahrungen zusammen. Im Unterschied zu Agamben, für den das Lager bis heute in verschiedenen Ausprägungen existiert, begreift es Levi als Unikum und größtes Menschheitsverbrechen: i Lager erano diventati pericolosi per la Germania moribonda perché contenevano il segreto dei Lager stessi, il massimo crimine nella storia dell’umanità. L’esercito di larve che ancora vi vegetava era costituito da Geheimnisträger, portatori di segreti, di cui era necessario liberarsi […].102 Betrachtet man die Etymologie von ›Larve‹, sieht man, dass sie Ambivalentes bezeichnet, da sie zugleich Lebendiges, Werdendes und Totes bedeuten kann.103 Insofern bedient sich Levi gekonnt einer vielschichtigen Metapher, die mehrfach anschlussfähig ist (auch Agamben greift bei seinen biopolitischen Überlegungen auf sie zurück).104 Die Larve kann als Latenzfigur interpretiert werden, da sie eine bevorstehende, noch nicht manifest gewordene Wandlung stets latent in sich trägt. Hier bezieht sich die Metapher einerseits auf die ausgezehrten und geschwächten KZ-Häftlinge, die mehr
102 Levi, Primo [1986] (1987): I sommersi e i salvati, in: Opere I. Torino (Einaudi), S. 651–822, S. 655f. 103 Im Zingarelli werden unter dem Lemma larva folgende Bedeutungen unterschieden: Bei den Römern ist die Larve das Phantasma oder der Geist eines Toten; sie kann sich außerdem auf einen Schatten, eine Maske oder eine ausgemergelte, verwahrloste Person beziehen, und in der Zoologie bezeichnet sie ein Tier in einem anfänglichen Entwicklungsstadium, dessen spätere Gestalt sich deutlich von der früheren unterscheidet. Vgl. Zingarelli, Nicola (Hg.) (12 2013): »Larva«, in: Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana. Bologna (Zanichelli), S. 1232. 104 Vgl. hierzu das Kapitel I, 2.2 in dieser Arbeit.
I. Theoretische Grundlegung
Schatten und Phantasmen als Menschen gleichen, andererseits auf die im KZ erfolgte Entmenschlichung, die Degradierung des Subjekts zu einem Wesen, das nur noch dahinvegetiert (»vegetava«) und das, seiner Individualität und Lebenskraft beraubt, Teil einer Einheit (»esercito«) ist.105 Die Larve verweist ferner auf die latente Gefahr, die aus Sicht der Nazis von den Überlebenden ausgeht. Jeder ehemalige KZ-Häftling, vorerst noch als Larve, später als potentieller Zeuge, ist für die Nazis gefährlich geworden, da er das geheime Wissen um ihre Verbrechen wahrt und irgendwann einmal davon erzählen könnte (»Geheimnisträger«). Außerdem drückt die Metapher die Schwellensituation der Überlebenden aus, indem sie die Unmöglichkeit aufzeigt, sich von dem Gewesenen ganz zu lösen: Ähnlich wie die Larve im weiterentwickelten Tier noch als Ursprung vorhanden ist, so ist die KZ-Erfahrung unauslöschlich und bleibt auch nach ihrem Ende als Erinnerung, Traum, Psychose, Verdrängung oder Trauma bestehen.106 Wie Levi darlegt, treten bei Holocaust-Überlebenden zwei Auffälligkeiten auf; zum einen die Angst, einem würde nicht geglaubt oder zugehört werden, zum anderen die Scham (vergogna) und das Schuldgefühl (senso di colpa), die empfunden werden, da man anstelle eines anderen überlebt hat (Levi 1987: 653f., 706ff., 714f.). Nicht die Täter, sondern die Opfer fühlen sich schuldig, und zwar nicht für ein begangenes, sondern für ein nicht bis ans Ende erlittenes Verbrechen. Dieses in der Psychologie als victim blaming, ›TäterOpfer-Umkehr‹ oder allgemeiner ›Viktimisierung‹ bezeichnete Phänomen107 105 Der aus der Militärsprache entlehnte Begriff »esercito« (dt. ›Armee‹, ›Heer‹) ist zynisch, da er auf die Entmenschlichung und Entindividualisierung der einzelnen Menschen anspielt, die nun zur ›eintönigen Masse‹ geworden sind und als ›Phantasmen‹ aufgrund ihrer physischen Schwäche zu keinerlei militärischer Operation mehr in der Lage wären. Er könnte außerdem auf die sogenannten Todesmärsche anspielen, in deren Folge die Zahl der Überlebenden drastisch dezimiert wird. 106 Als Beispiel hierfür zitiert Levi den Schriftsteller und Philosophen Jean Améry, der von der Gestapo gefoltert und nach Auschwitz deportiert wurde. Améry konstatiert, dass ein gefolterter Mensch stets ein solcher bleiben wird und niemals mehr in die Welt zurückfinden oder sich in ihr zurechtfinden kann (Levi 1987: 664). Damit ist die Problematik angesprochen, mit der Menschen konfrontiert sind, die nach Grenz- und Extremerfahrungen in ihr gesellschaftliches Umfeld zurückkehren. Vgl. hierzu außerdem die neurowissenschaftlichen Studien van der Kolks zum Trauma (van der Kolk 2015: 8ff.) und das Kapitel I, 1.1 in dieser Arbeit. 107 Vgl. Volbert, Renate (18 2014): »Viktimisierung, sekundäre«, in: Wirtz, Markus Antonius (Hg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. Bern (hogrefe), S. 1642 sowie Marsovszky, Magdalena (2013): »Die ›Täter-Opfer-Umkehr‹ – der Antisemitismus der politischen
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führt Levi zu dem Paradox der Zeugenschaft aus, das darin besteht, dass die wahren, ›vollständigen‹ Zeugen (testimoni integrali) nicht mehr bezeugen können, da sie tot sind, und die Überlebenden an ihrer statt bezeugen.108 Diesen Umstand umschreibt Levi mit der Metapher der Gorgo Medusa.109 Aus dem verbotenen Anblick, der im Mythos der Medusa zur Versteinerung führt, resultiert entweder der augenblickliche Tod oder Kommunikationslosigkeit, also die Unmöglichkeit, vom Gesehenen zu berichten. Levis Überlegungen geben einige Fragen an die Hand, die sich für die Lazarus-Thematik als relevant erweisen. Konkret bestehen diese darin, zu bestimmen, was einen Menschen von einem Nicht-Menschen unterscheidet, welches die Schwelle ist, die sie trennt, unter welchen Umständen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft funktioniert, welche Konsequenzen ein traumatisches Erlebnis hat und wie sich dieses niederschlägt, beispielsweise sprachlich und stilistisch im literarischen Text. Von besonderem Interesse ist die von ihm verwendete Metapher der Larve, da sie zeigt, dass bei dem Versuch, eine Grenzund Schwellenerfahrung zu kommunizieren, die andere nicht erlebt haben, stets etwas Latentes und Unerklärliches zurückbleibt. Die Larve ist – ebenso
Mitte. The ›Perpetrator-Victim-Inversion‹ – the Antisemitism of the Political Mainstream«, in: Südosteuropäische Hefte, 2 (1), S. 49–61, S. 50f. In neueren Studien wird die ›Täter-Opfer-Umkehr‹ mit dem Holocaust und einem aktuellen Antisemitismus in Relation gebracht. Vgl. Holz, Klaus (2012): Die Gegenwart des Antisemitismus: Islamische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg (Hamburger Edition). 108 In seiner Analyse verschiedener Werke der KZ- und Holocaust-Literatur kritisiert Parrau Levis These, die Überlebenden könnten keine ›wahren Zeugen‹ sein und nicht einschränkungslos von den Gräuel des KZs berichten. Parrau hält dieser Behauptung entgegen, dass schon der Prozess der Zerstörung – und nicht nur die Zerstörung selbst – die Wahrheit über den Holocaust beinhalte. Parrau, Alain (1995): Écrire les camps. Paris (Belin), S. 98ff., 108f. 109 »[…] non siamo noi, i superstiti, i testimoni veri. […] siamo quelli che, per loro prevaricazione o abilità o fortuna, non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare, o è tornato muto, ma sono loro, i ›mussulmani‹, i sommersi, i testimoni integrali […], coloro la cui disposizione avrebbe avuto significato generale. Loro sono la regola, noi l’eccezione« (Levi: 1987: 716, 658f.). Die Metapher macht deutlich, dass die ermordeten und die überlebenden KZ-Häftlinge eine unüberbrückbare Grenze voneinander trennt, die der Tod ist. Für Levi begründet sich die Unmöglichkeit, zu bezeugen, mehr in der traumatischen Erfahrung des Lagers und weniger darin, dieses sei nicht erzählbar. Er distanziert sich vom Begriff der ›incomunicabilità‹ und meint hingegen, man könne und müsse immer kommunizieren.
I. Theoretische Grundlegung
wie die von Levi genannten Aspekte der Scham und Schuld, die die Überlebenden empfinden – in den literarischen Lazarus-Texten ein wichtiges Motiv.
2.4 Exkurs: Cioran und die ›Komödie der Wiedererweckung‹ Da die Überlegungen des rumänischen Philosophen Emil Cioran auch in den Lazarus-Texten von Bedeutung sind, sollen sie hier kurz wiedergegeben werden. In seinem früheren Werk Amurgul gîndurilor (Gedankendämmerung) von 1940 bedient sich Cioran der Lazarus-Metapher, um den ›modernen Menschen‹ zu beschreiben. Dessen Kondition bestimmt er durch Ausdünnung, Neutralität, Durchsichtigkeit, Nicht-Leben, eine Erfahrung des Nichts, Todessehnsucht, das Gefühl, in dieser immer wieder zu sterben, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, jemals zu sterben.110 Anschließend führt er aus: Dacă printr-o concesie cerească, mi-ar fi îngăduit să stau de vorbă cu vreun muritor din alte veacuri aş alege pe Lazăr cel înviat. El mi-ar ajuta desigur să-nţeleg teama retrospectivă, sentimentul c-ai fost mort, că te-ai născut din moarte şi mergi spre altceva…, că eşti expus unui vag absolut, naşterea derivînd din precizia morţii. Lazăr mi-ar putea spune cum poţi muri cînd nu mai mergi spre moarte, cum poţi scăpa de Invierea asta infinită… (ebd.: 72f.)111 Cioran situiert sich auf einer Schwelle zwischen Leben und Tod und hebt die Grenze auf, die beide Bereiche trennt, indem er sein Leben als eine Geburt aus dem Tod bezeichnet (»născut din moarte«) und es mit der Auferstehung des Lazarus in Verbindung bringt. Doch anders als dieser wird er nicht bloß einmal erweckt, sondern ist einer endlosen, immer aufs Neue erfolgenden Auferstehung (»Invierea infinită«) ausgesetzt. Somit wiederholen sich für ihn permanent die Erfahrungen des eigenen Todes und der darauffolgenden Wieder110
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Die Begriffe lauten im Original »diluare«, »neutralitate«, »stare de transparență«, »nonviață«, »experiență neantului«, »neputînd muri«. Cioran, Emil [1940] (1991): Amurgul gîndurilor. Bucureşti (Humanitas), S. 60ff. Wenn es mir durch ein himmlisches Zugeständnis erlaubt wäre, mich mit einem Sterblichen aus anderen Zeiten zu unterhalten, dann würde ich den wiedererweckten Lazarus wählen. Er würde mir mit Sicherheit helfen, die nachträgliche Angst zu verstehen, das Gefühl, tot gewesen zu sein, aus dem Tod geboren worden zu sein und auf etwas anderes zuzugehen…, einer allumfassenden Unbestimmtheit ausgesetzt zu sein, die Geburt, die sich aus der Eindeutigkeit des Todes herleitet. Lazarus könnte mir sagen, wie man sterben kann, wenn man nicht mehr auf den Tod zugeht, wie man dieser endlosen Auferstehung entkommen kann… (Die Übersetzung ist von mir).
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geburt sowie das Gefühl zu sterben, ohne tatsächlich tot zu sein. Der circulus vitiosus suggeriert, dass diese Daseinsform weder veränderbar noch abwendbar ist. Da sich der Tod, der ja eigentlich ein Faktum ist, als revidierbar erweist, sind sowohl das Leben als auch die Zeit hernach ungewiss, welche dementsprechend als etwas ›anderes‹ (»altceva«) gedacht wird. Bemerkenswert ist, dass das (wiedergeborene) Subjekt von einer nachträglichen Angst erfasst wird.112 Die im Zitat bereits angedeuteten Zustände der Heimat- und Orientierungslosigkeit, des Exils, der Ausgeschlossenheit aus der Welt und der Gesellschaft werden in Ciorans erstem französischen Werk Précis de décomposition (1949) erneut aufgegriffen und durch das Motiv der Auferstehung indirekt mit Lazarus verknüpft: D’où je viens, je ne saurais plus le dire: dans les temples, je suis sans croyance; dans les cités, sans ardeur; près de mes semblables, sans curiosité; sur la terre, sans certitudes. – Donnez-moi un désir précis, et je renverserai le monde. Délivrez-moi de cette honte des actes qui me fait jouer chaque matin la comédie de la résurrection et chaque soir celle de la mise au tombeau […].113 Zur Zeit der Veröffentlichung 1949 liegt der Zweite Weltkrieg wenige Jahre zurück. Der Rückbezug auf den ersten Lazarus-Verweis von 1940 ist deutlich erkennbar, allerdings hat sich die Situation nun verschärft. Der endlose Zyklus der morgendlichen Auferstehung (»résurrection«) und der abendlichen Grablegung (»mise au tombeau«) verdichtet sich zur Farce des Lebens (»comédie«),
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Der Aspekt der Nachträglichkeit lässt sich mit dem Trauma nach Freud in Verbindung bringen. Bei einem Trauma treten die Symptome erst mit einem zeitlichen Abstand auf (Breuer/Freud 1895: 115). Zum Thema der Nachträglichkeit bei Freud s. Kettner, Matthias (1998): »Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie«, in: Rüsen, Jörg/Straub, Jürgen (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 33–69, S. 34f. und das Kapitel I, 1.1 in dieser Arbeit. Cioran, Emil [1949] (1990): Précis de décomposition. Paris (Gallimard), S. 145. Näher zu Cioran s. Sloterdijk, Peter (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 118–132. Dort ist die Beschreibung erwähnt, die Cioran von seiner Epoche gibt als die des Staatenlosen (sans papier), Obdachlosen (sans abri) und Schamlosen (sans gêne) (ebd.: 122). – Das Motiv der Scham (honte), das Cioran mit Lazarus in Zusammenhang bringt, tritt, so wie die Angst (teama), bei einigen der literarischen Lazarus-Figuren auf.
I. Theoretische Grundlegung
in dem das nunmehr durch Gefühlslosigkeit, Desinteresse und Scham (»honte«) geprägte Subjekt sich selbst und jede Bindung zur Welt verloren hat. Es ist aller Sicherheiten beraubt und existentiell heimat- und ortlos, was die zahlreichen Raummetaphern in Verbindung mit dem Privativum »sans« zeigen. Weder im Glauben, noch in der Kommunikation mit anderen oder in der Erinnerung an die eigene Vergangenheit und Identität (»d’où je viens«) findet es Halt, sodass sein Vertrauen in die Grundfesten des Daseins erschüttert worden ist. Die direkten und indirekten Verweise auf Lazarus (Cioran 1991: 66f., 153) stellen bei Cioran allgemein die Existenz des modernen Menschen und sein Gefühl dar, im Leben tot zu sein, beschreiben aber zugleich ein individuelles Schicksal, da ein jeder mit seiner Erfahrung alleine ist und sie anderen nicht kommunizieren kann. Lazarus verweist daher auf eine doppelte Exilerfahrung.
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II. Historischer und politischer Kontext
1. Italien im Ersten und Zweiten Weltkrieg Um die später behandelten Texte in ihrem jeweiligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext erfassen zu können, bietet sich ein Überblick über die historische Situation Italiens in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg an.1 Paradigmatisch verbinden sich Politik und Literatur jener Jahre in der Person Gabriele D’Annunzios, der zahlreiche Italiener durch seine politische Propaganda und seine literarischen Werke erreicht (ebd.: 125, 150ff.).2 Als der Erste Weltkrieg im August 1914 ausbricht, behauptet Italien seine Neutralität, doch schon im Mai 1915 wird Österreich-Ungarn der Krieg erklärt. Damit spaltet sich das Land in zwei große Lager: auf der einen Seite die Kriegsgegner (neutralisti), unter ihnen der kürzlich abgetretene Ministerpräsident Giovanni Giolitti, und auf der anderen Seite die Kriegsbefürworter (interventisti), zu denen der neue rechtsliberale Ministerpräsident Salandra und D’Annunzio gehören. Es zeigt sich bereits zu dieser Zeit, dass nationalistische und faschistische Kräfte aktiv sind und gegen Sozialisten, Katholiken und Giolittaner sowie die Mehrheit der Abgeordneten operieren, die eigentlich keinen
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Schon Borgese hat gezeigt, in welch engem Zusammenhang politische, historische, soziale und kulturelle Ereignisse stehen, indem er darlegt, dass der Faschismus auf kollektive Vorstellungen und Mythen rekurriert, diese instrumentalisiert und sich auf bestimmte historische Geschehnisse sowie italienische Dichter und Künstler bezieht, die die ›nationale Identität‹ Italiens bestimmen. Vgl. Borgese, Giuseppe Antonio (1937): Goliath. The March of Fascism. New York (Viking Press), S. 4ff. Näher zu D’Annunzios politischen Aktivitäten s. den Sammelband von Gumbrecht, Hans Ulrich/Kittler, Friedrich/Siegert, Bernhard (Hg.) (1996): Der Dichter als Kommandant: D’Annunzio erobert Fiume. München (Fink) und zu D’Annunzios Bedeutung für die italienische Literatur Borgese, Giuseppe Antonio (1909): Gabriele d’Annunzio. Napoli (Riccardo Ricciardi), S. 146ff.
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Krieg wollen. Es gelingt, die Massen für eine politica nazionale zu mobilisieren und Kriegsbegeisterung zu schüren.3 Italien ist dem langen Krieg militärisch und wirtschaftlich nicht gewachsen. Die einzelnen Frontkriege verlaufen langsam und erfolglos; Materialschlachten und die sinnlose Verfeuerung von Menschen tragen ab 1917 zu einer allgemeinen Verbitterung und Kriegsmüdigkeit bei. Unter den Arbeitern entstehen Aufstände, die so hart unterdrückt werden wie die einsetzende Desertationsbewegung. Dennoch gelingt es Italien, innerhalb eines Jahres vom ›Besiegten‹ zum ›Sieger‹ zu wechseln.4 Das Land bezahlt den freiwillig begonnenen Krieg und seine Teilhabe am Sieg der Alliierten mit ca. 680.000 Gefallenen, finanziellem wie wirtschaftlichem Bankrott und Nationalismus. Hinzu kommt, dass es sich bei den Nachkriegsverhandlungen der Siegermächte übergangen fühlt. So entsteht unter den nationalistischen Rechten und im Bürgertum das großen Anklang findende Schlagwort der vittoria mutilata – des verstümmelten Kriegs –, für den die Alliierten und die aus italienischer Sicht ungerecht verlaufenden Friedensverhandlungen in Paris verantwortlich gemacht werden (Lill 1980: 287ff.). Durch das Ressentiment und dessen Propagierung u.a. durch D’Annunzio und Mussolini, erstarken nationalistische, faschistische und revisionistische Kräfte.5 Beide tragen durch
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Vgl. hier und im Folgenden Lill, Rudolf (1980): Geschichte Italiens vom 16. Jahrhundert bis zu den Anfängen des Faschismus. Darmstadt (wbg), S. 261ff. Näher zu interventisti und neutralisti s. Lönne, Karl-Egon (1997): »Interventisti«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 417. Die Gründe sind verschieden: Nach der Niederlage in Oberitalien kommen Widerstand und Durchhaltewillen auf, Kriegsmaterial wird erneuert, innerpolitisch gelingen Annäherungen und die Außenpolitik Italiens wird von den Westmächten aufgewertet. Die Großoffensive gegen Österreich endet mit dem Sieg der Italiener bei Vittorio Veneto; Österreich kapituliert am 3.11.1918, was das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie bezeichnet. Die nachträgliche Mythisierung und Verherrlichung dieses Ereignisses ist ein Beispiel dafür, wie eine fälschende Darstellung der Wirklichkeit zu Selbstüberschätzung führt (Lill 1980: 287). Zu weiteren Mythen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Italien verbreitet werden, s. Gentile, Emilio (1996): Le origini dell’ideologia fascista (1918–1925). Bologna (il Mulino), S. 111ff. und näher zum Faschismus Gentile, Emilio (2005): Fascismo. Storia e interpretazione. Roma/Bari (Laterza), S. 7ff. Vgl. Lönne, Karl-Egon (1997): »Vittoria mutilata«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 876–877.
II. Historischer und politischer Kontext
inszenierte patriotische Begeisterung maßgeblich zu der allgemeinen Agitation bei, die sich schließlich zur Bürgerkriegssituation steigert. Im September 1919 besetzt D’Annunzio mit seinen Freischärlern fünfzehn Monate lang die Stadt Fiume (Rijeka), um die sich die Italiener bei den Pariser Verhandlungen betrogen fühlen, und fordert in Rom dazu auf, Giolitti zu töten. Mussolini will die Revolution, schickt seine 1919 gegründeten fasci di combattimento aus und zerschlägt in Mailand die Druckerei der sozialistischen Zeitung Avanti!, deren Herausgeber er zuvor selbst war, bis er Leiter des Popolo d’Italia wird (Lill 1980: 267f., 273ff.).6 Die inneren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme verschärfen sich und die zuvor latente Systemkrise wird zur aktiven Krise, die durch die Einführung des Verhältniswahlrechts zur Wahl im November 1919 eingeleitet wird, das kleineren Parteien den Einzug ins Parlament erleichtert. Während die liberalen Honoratiorengruppen an Rückhalt verlieren, erhalten die Sozialisten und Katholiken die Mehrheit, eine Koalition kommt jedoch nicht zustande. Darüber hinaus bestehen parteiinterne Unstimmigkeiten, sodass sich schließlich der unter Antonio Gramsci neu gegründete Partito Comunista d’Italia (PCI) vom Partito Socialista Italiano (PSI) abspaltet. Die mangelnde Kompromissbereitschaft, Orientierungslosigkeit und innere Konflikte begünstigen den Aufstieg der Faschisten. Schon bei den nächsten Wahlen im Mai 1921 erhalten sie 35 Mandate. Mussolini gelingt es, in das Machtvakuum einzudringen, das der endgültige Rücktritt Giolittis hinterlässt, der kurzzeitig wieder ins Amt getreten war. Die fasci werden zum Partito Nazionale Fascista (PNF) umgewandelt. Nach seinem ›Marsch auf Rom‹ (Marcia su Roma) im Oktober 1922 wird Mussolini von König Vittorio Emanuele III. zum Ministerpräsidenten ernannt (Schumann 1983: 222ff.; Lill 1980: 294ff.). Er gründet den Gran Consiglio del Fascismo, der nicht nur das oberste Parteiorgan und Instrument seiner persönlichen Herrschaft ist, sondern auch die Weichen für die folgende Institutionalisierung des Faschismus stellt.7 6
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Vgl. auch Schumann, Reinhold (1983): Geschichte Italiens. Stuttgart u.a. (Kohlhammer), S. 222f. Zu Mussolinis Kehrtwende vom Wortführer der Sozialistischen Partei hin zum Faschist s. Reinhardt, Volker (1999): Geschichte Italiens. München (Beck), S. 111f. und Gentile 1996: 63ff. Näher zu Mussolini vgl. die vier Bände von De Felice, Renzo (1965–1990): Mussolini. Il rivoluzionario. 1883–1920; Il fascista. 1921–1929; Il duce. 1929–1939; L’alleato. 1939–1945. Torino (Einaudi) und zu Il Popolo d’Italia s. De Felice, Renzo (1985): Intellettuali di fronte al fascismo. Saggi e note documentarie. Roma (Bonacci), S. 76ff. Vgl. Lönne, Karl-Egon (1997): »Gran Consiglio del Fascismo«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Jus-
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Dieser ist mittlerweile zum Massenphänomen geworden und erfasst Bauern, Industrielle und bürgerliche Schichten. Bei den Wahlen im Mai 1924 gehen 65 % der Stimmen an die Faschisten. Die Stimmung kippt jedoch, als der Sozialist Matteotti verschwindet und ermordet aufgefunden wird. Ermittlungsuntersuchungen belasten Mussolini und seine Partei, die sich nicht glaubhaft von den Anschuldigungen befreien können. Auf den Protest der antifaschistischen und sozialistischen Opposition reagiert Mussolini mit politischem Kalkül, Gewalt und Härte.8 Im Übergang zur faschistischen Diktatur 1925 wird jede Art der Opposition unterdrückt, ›staatsfeindliche‹ Verbände sowie Parteien werden aufgelöst und Mussolini erlässt eine neue Verfassung, die ihn zum Regierungschef macht. Die Zeitungen werden gleichgeschaltet und das Radio dient der faschistischen Propaganda. Nicht mehr gewählte Bürgermeister, sondern ernannte podestà verwalten die neu geschaffenen Provinzen, die Gewerkschaften unterstehen nun einem einzigen Bund und mit der katholischen Kirche werden die Lateranverträge ausgehandelt, durch die Mussolini das Wohlwollen der Bevölkerung erlangt und sich die verhärteten Beziehungen zwischen Kirche und Staat normalisieren (Schumann 1983: 224f.). Damit hat Mussolini die wichtigsten Bereiche entweder unterlaufen, neutralisiert oder auf seine Seite gebracht und eine hierarchisch strukturierte Staatspartei geschaffen, an deren Spitze er selbst steht. Im März 1934 findet das erste Treffen zwischen Mussolini und Hitler statt und 1936 beginnen die Annäherungen, die sich im Oktober zum Deutsch-Italienischen Vertrag ausweiten, der die ›Achse Berlin-Rom‹ begründet. 1937 paktiert Italien mit Deutschland und Japan, kurz darauf tritt es aus dem Völkerbund aus. 1940 erklärt es Großbritannien und Frankreich den Krieg, im Jahr darauf den USA. Die deutsch-italienische Offensive gegen Nordafrika endet 1943 mit einer Niederlage, bei der 250.000 Soldaten beider Länder in Kriegsgefangenschaft geraten. Die Alliierten landen auf Sizilien und ein erster Luftangriff trifft Rom (Lill 1980: 296f.).
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tiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 388. Vgl. Lönne, Karl-Egon (1997): »Matteotti, Giacomo«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 481–482.
II. Historischer und politischer Kontext
Im Gran Consiglio del Fascismo wird die Forderung laut, Mussolini den Oberbefehl zu entziehen, der schließlich abgesetzt wird.9 Im Oktober desselben Jahres tritt Italien auf die Seite der Alliierten und erklärt Deutschland den Krieg. Mussolini errichtet in Salò einen repressiven Zweitstaat und lässt antifaschistische und opportunistische Gegner hinrichten. In diesen Jahren formieren sich heterogene Partisanengruppen, die gegen die sogenannte Repubblica di Salò und die deutschen Truppen vorgehen und deren Zahl bis Sommer 1944 auf bis etwa 70.000-80.000 anwächst.10 Im Jahr darauf nehmen einige von ihnen Mussolini gefangen und erschießen ihn. Rom und Florenz werden im August 1944 von den Alliierten befreit, der Zusammenbruch der Deutschen erfolgt im Frühjahr 1945. Mit Kriegsende steht das von Zerstörung gezeichnete Italien vor der Herausforderung, sich politisch neu zu ordnen (Schumann 1983: 233ff.). Zudem gilt es, die historischen Ereignisse aufzuarbeiten und sich mit der eigenen Rolle im Krieg kritisch auseinanderzusetzen. Eine wichtige Funktion übernehmen bei dieser Aufgabe Schriftsteller, Philosophen, Historiker und Intellektuelle, insbesondere Croce und Gramsci, die durch ihre kulturprägenden Werke und starke Präsenz eine ganze Gesellschaft und Zeit beeinflussen.
2. Die Lazarus-Metapher in der italienischen Faschismusdebatte (E. Gentile, Gori, Treves, Gramsci) Zur Erkenntnis, dass Geschichtsschreibung nicht objektiv, sondern eine »verbal structure in the form of a narrative prose discourse«11 ist, und poetische sowie künstlerische Elemente beinhaltet, ist Hayden White bereits 1973 in
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Vgl. zum geschichtlichen Überblick hier und im Folgenden Witz, C ornelia/Schwarzkopf, Johannes (Hg.) (1986): Italienische Geschichte zum Nachschlagen. Freiburg/Würzburg (Ploetz), S. 158ff. In dieser Zeit entsteht der Mythos der Resistenza, bei dem die Entscheidung, ob man Widerstand leistet, zu einer »großen moralischen Entscheidung idealisiert« wird. Meier, Franziska (2002): Mythos der Erneuerung. Italienische Prosa in Faschismus und Resistenza. Göttingen (Wallstein), S. 150. Tatsächlich sei die Entscheidung für die Resistenza oft zufällig oder entstünde bei den kriegsfähigen Männern aus dem Dilemma heraus, sich entweder bei den Faschisten melden zu müssen, von den Nazis deportiert zu werden, oder eben sich dem Widerstand anzuschließen (ebd.: 149ff.). White, Hayden (1975): Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London (Johns Hopkins), S. 2.
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Metahistory gekommen. Auch de Certeau begreift Historiographie in L’écriture de l’histoire (1975) als ›Schreiben‹ und, da sie Geschichte produziere, als machtpolitischen Akt.12 Das Konzept der microstoria, das italienische Historiker, unter ihnen Carlo Ginzburg, im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren erarbeiten, fußt wiederum auf der Annahme, dass Geschichtsschreibung eine Narration sei, die der Historiker aus seiner notwendigerweise eingeschränkten Sichtweise heraus erzähle.13 Der Begriff des Storicismo ist eng mit dem Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler Benedetto Croce (1866–1952) verbunden.14 Auch er betont den narrativen Charakter von Geschichte und identifiziert sie mit der Philosophie.15 Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs und der anwachsende 12 13
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Vgl. de Certeau, Michel (1975): L’écriture de l’histoire. Paris (Gallimard), S. 5, 13. Vgl. Fazio, Ida (2004): »Microstoria«, in: Cometa, Michele/Coglitore, Roberta/Mazzara, Federica (Hg.): Dizionario degli studi culturali. Roma (Meltemi), S. 283–289, S. 283. Ginzburg geht von der Prämisse aus, dass historische Recherche immer konstruiert und niemals gegeben ist, weswegen seine Geschichtsschreibung kein Wahrheitsgarant sein will, sondern epistemologische und historische Lücken offenlegt. Ginzburg, Carlo (1994): »Microstoria: due o tre cose che so di lei«, in: Quaderni storici. Nuova serie. Vol. 29, Nr. 86 (2), S. 511–539, S. 523, 527ff.; Ginzburg, Carlo (1992): »Unus testis. Lo sterminio degli ebrei e il principio di realtà«, in: Quaderni storici. Nuova serie. Vol. 27, Nr. 80 (2), S. 529–548, S. 533ff. Im Rekurs auf u.a. Primo Levi zeigt er auf, dass jede Zeugenschaft nur von der eigenen Erfahrung spricht und für eine Sicht der Realität steht. Damit nimmt sie eine ambivalente Stellung innerhalb der Historiographie ein (ebd.: 540ff.). Zum ambivalenten Verhältnis von Zeugenschaft, Fiktion, Non-Fiktion und Literatur, v.a. bei Levi, s. Rastier, François (2009): Ulisse ad Auschwitz. L’arte della testimonianza. Napoli (Liguori), S. 91ff.; die Originalausgabe ist Rastier, François (2005): Ulysse à Auschwitz. Primo Levi, le survivant. Paris (cerf). Vgl. dazu und zu Croces Bedeutung in Italien Tessitore, Fulvio (2003): »Storicismo und Historismus im Vergleich«, in: Lönne, Karl-Egon (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Tübingen/Basel (Francke), S. 21–38, S. 21. – Nach Cacciatore gibt es in jener Zeit drei Hauptrichtungen, die den italienischen Historismus kennzeichnen: die idealistische (Croce), die marxistische (Gramsci) und die kritisch-problematische (Piovani). S. Cacciatore, Giuseppe (2003): »Die ›politische‹ Dimension des kritisch-problematischen Historismus in Italien«, in: Lönne, Karl-Egon (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Tübingen/Basel (Francke), S. 39–65, 39. Zu Croces Storicismo s. Tessitore, Fulvio (1991): Introduzione a lo storicismo. Roma/Bari (Laterza), S. 208ff., 214f. und Croce, Benedetto [1938] (1966): La storia come pensiero e come azione. Bari (Laterza), S. 53. Geschichte werde zur ideellen Geschichte. Vgl. Croce 1966: 13, 209; Tessitore 2003: 23, 33 und Tessitore, Fulvio (2003a): »Croce und der italienische ›Neo-Historismus‹«, in: Lönne, Karl-Egon (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Tübingen/Basel (Francke), S. 55–67, S. 57f.
II. Historischer und politischer Kontext
Totalitarismus provozieren einen Wendepunkt in Croces Denken, da er es als Notwendigkeit ansieht, auf die Schwächung ordnungsgebender Instanzen zu antworten, die er als ›historische Werte‹ nun infrage gestellt sieht.16 Seiner Ansicht nach hat Geschichtsschreibung eine ethisch-politische Dimension und eine besondere ethische Verantwortung (Tessitore 2003a: 55; Croce 1966: 12, 47).17 Mit weiteren regimekritischen Intellektuellen antwortet er auf Giovanni Gentiles Manifesto degli intellettuali fascisti (1925) mit La replica degli intellettuali non fascisti. Sie kritisieren darin u.a., dass die Faschisten die Religion für ihre Zwecke instrumentalisieren würden, indem sie den ihren einen ›Religionskrieg‹ (»guerra di religione«) nennen.18 Die Tatsache, dass faschistische Propaganda am tradierten religiösen und christlichen Vokabular ausgerichtet ist und Gewalt sowie Krieg exaltiert, lässt die Frage aufkommen, wie religiöse und biblische Motive im Kontext von Krieg und Gewalt verwendet und umgedeutet werden. Eine ursprünglich biblische
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Vgl. Galasso, Giuseppe (2015): Croce e lo spirito del suo tempo. Bari (Laterza), S. 476ff., 485ff. Vgl. ferner Helferich, Christoph (3 2003): »Croce, Benedetto«, in: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Philosophen Lexikon. Stuttgart (Metzler), S. 153–155, S. 154 und Galasso, Giuseppe (2017): Storia della storiografia italiana. Un profilo. Bari (Laterza), S. 102. Hier findet sich ein knapper Überblick zur italienischen Geschichtsschreibung. Eine bessere Überschau speziell zur Zeit des Faschismus und zu den faschismusnahen Historikern Gentile und Volpe bietet De Felice 1985: 190ff. Näher zu Croces Geschichtsverständnis s. Croce, Benedetto (2007): Filosofia come scienza dello spirito. IV Teoria e storia della storiografia. Hg. v. Edoardo Massimilla u. Teodoro Tagliaferri. Napoli (Bibliopolis), S. 130 und Croce, Benedetto (1991): Storia d’Europa nel secolo decimonono. Milano (Adelphi), S. 425ff. Zum antifaschistischen Manifest s. Croce, Benedetto et al. (1925): »La replica degli intellettuali non fascisti al manifesto di Giovanni Gentile«, in: Il Popolo, 1.5.1925. Zu Gentile vgl. Folliero-Metz, Grazia Dolores (1997): »Gentile, Giovanni«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 372–374. Gentiles Enciclopedia Italiana zeigt beispielhaft, wie faschistische Politik Kultur durchdringt. S. dazu Turi, Gabriele (1979): »Ideologia e cultura del fascismo nello specchio dell’›Enciclopedia Italiana‹«, in: Studi Storici, 20. Nr. 1, S. 157–211. Zum Historismus bei Croce und Gentile s. Galasso 2015: 314ff. Laut Eco beruft sich Mussolini in seinen Reden bewusst auf Gott, obwohl er antiklerikal ist. Eco, Umberto (2017): Il fascismo eterno. Milano (La nave di Teseo), S. 15. Ecos These besagt, dass das Wort ›Faschismus‹ eine Synekdoche für totalitäre Systeme geworden ist, gerade weil er auf keiner festen Ideologie beruht und voller Widersprüche ist. Anhand von 14 Merkmalen beschreibt er einen ›Ur-Fascismo‹, der sich bis heute erhalten habe (ebd.: 14f., 18ff.).
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Figur, die erstaunlich oft mit dem Krieg in Verbindung gebracht wird, ist Lazarus. So rekurriert der Historiker und Faschismusforscher Emilio Gentile in seiner Studie zu den Ursprüngen der faschistischen Ideologie auf ein Beispiel, in dem der Krieg mit Lazarus verglichen wird. Er bezieht sich auf einen Artikel des Schriftstellers, Dichters und Philosophen Gino Gori (1876–1952) zum Ersten Weltkrieg, der 1915 in der futuristischen Zeitschrift Vela latina erscheint und in dem es heißt: la guerra non era volontà di pochi, ma necessità per tutti, […] essa difendeva diritti oppressi, sacrosante leggi offese, tutta una civiltà calpestata dallo zoccolo selvaggio d’orde barbariche soffiateci contro dalla mala fame di dominio artigliante l’ingluvia d’un tiranno. […] La guerra è dunque il Cristo che resuscita il suo Lazzaro eterno: Dio. Senonché c’è una guerra che lo seppellisce settemila braccia sottoterra e danza sulla fossa sacra e terribile con la grimace d’uno spaventevole apache colossale, senza fronte e tutto denti e mascelle. È la guerra d’oppressione, di aggressione, di conquista iniqua […].19 Mit starker Bildlichkeit und viel Pathos stellt Gori zwei Arten des Kriegs gegenüber: einen kollektiven und ›richtigen‹ Krieg mit moralischem Impetus, der die Zivilisation, ihre Rechte und Gesetze gegen Tyrannei und Barbarei verteidigt, und einen rohen Krieg der Aggression, Unterdrückung und Eroberung. Ersteren verbindet Gori mit der Lazarus-Metapher, indem er ihn einen Christus nennt, der Lazarus erweckt, hinter welchem sich wiederum Gott verbirgt, weswegen, so die implizite Botschaft, dieser Krieg dem Guten und Richtigen diene. Es ist ein Krieg, den die Futuristen als Notwendigkeit (»necessità«) betrachten; er soll die mit dem Risorgimento begonnene, aber nicht zu Ende gebrachte Aufgabe weiterführen, die Massen (»tutti«) vereinen und zu einer moralischen sowie sozialen Erneuerung führen. Die Futuristen sehen im Krieg eine vitale Kraft und einen Katalysator der futuristischen Revolution, die neue Italiener sowie ein neues Italien schaffen und von allem Traditionellen und Bürgerlichen befreien soll (ebd.: 175ff.). In diesem Sinne ist die LazarusMetapher zu verstehen, die an dieser Stelle weniger vor einem christlichen Hintergrund zu betrachten ist, sondern auf die Möglichkeit hindeutet, durch den Krieg ein neues Leben in Freiheit, eine soziale Wiedergeburt und eine
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Gori, Gino (1915): »Dio«, in: Vela latina, 9–15.9.1915, zitiert nach Gentile 1996: 178.
II. Historischer und politischer Kontext
anthropologische Wende herbeizuführen. Lazarus wird hier zur Figur des sozialen und politischen Kampfes stilisiert, Gott selbst ist Krieg. Die zweite Kriegsform bezieht sich auf den deutschen und österreichischen Krieg, der von den Futuristen als bürgerliche Borniertheit und primitiver, barbarischer Militarismus und Imperialismus abgelehnt wird. Dieser Krieg lasse Gott-Lazarus tief unter der Erde verschwinden und tanze als entfesselte Fratze auf dessen Grab, was einer Entweihung gleichkommt. Es überwiegen Motive, die den Krieg als Personifizierung des übermächtigen und Schrecken bringenden Todes (»terribile«, »grimace«, »spaventevole«, »colossale«, »denti e mascelle«) und als Dionysisch-Unkontrolliertes (»danza«) erscheinen lassen, was auf die Abwesenheit des Sakralen und einer moralischen Motivation des Kriegs schließen lässt. Da der ›unmoralische‹ Krieg mit der Grimasse eines furchteinflößenden Apachen (»apache«) in Verbindung gebracht wird, werden hier außerdem rassistische Stereotype sichtbar. Die Passage zeigt, wie Konzepte und Worte, die dem christlich-religiösen Bereich entnommen sind (»Cristo«, »Dio«, »Lazzaro«, »resuscita«, »eterno«, »sacra«), ihrem ursprünglichen Kontext enthoben und mit der Kriegsthematik verknüpft werden, indem sie herangezogen werden, um den ›richtigen‹ und ›moralischen‹ Krieg zu legitimieren, Gewalt zu sublimieren und den Krieg zu glorifizieren. Zugleich wird suggeriert, dass dieser eine anthropologische Konstante darstellt, da er als ›ewiger Lazarus‹ (»Lazzaro eterno«) stets latent präsent ist, entweder als etwas Vergangenes, etwas aktiv Gegenwärtiges oder etwas zukünftig Drohendes. Auch Antonio Gramsci (1891–1937), der als wichtigster marxistischer Denker Italiens des 20. Jahrhunderts gilt,20 verbindet die Lazarus-Figur mit dem Krieg. Mit seinen zwischen 1929 und 1935 verfassten Quaderni del carcere hinterlässt er ein umfangreiches Werk an philosophischen und theoretischen Schriften, in denen er an einer Stelle über eine Rede des Sozialisten Claudio Treves von 1920 schreibt:
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Gramscis vorerst noch unbestimmter Sozialismus nimmt ab 1919 klare Formen an; er gründet die sozialistische Zeitung L’ordine nuovo, setzt sich für die Arbeiterbewegung ein und ist Mitbegründer des Partito Comunista Italiano (PCI). Schon früh erkennt er die Gefahr, die von der faschistischen Partei ausgeht. 1926 wird er von den Faschisten verhaftet und zu einer zwanzigjährigen Gefängnishaft verurteilt. Helferich, Christoph (3 2003): »Gramsci, Antonio«, in: Lutz, Bernd (Hg.) (3 2003): Metzler Philosophen Lexikon. Stuttgart (Metzler), S. 261–263.
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C’era in questo discorso un certo spirito da profeta biblico: chi aveva voluto e fatto la guerra, chi aveva sollevato il mondo dai suoi cardini ed era quindi responsabile del disordine del dopoguerra doveva espiare portando la responsabilità di questo disordine stesso. […] C’era una certa grandezza sacerdotale in questo discorso, uno stridore di maledizioni che dovevano impietrire di spavento e invece furono una grande consolazione, perché indicava che il becchino non era ancora pronto e Lazzaro poteva risorgere.21 In Gramscis Kritik an Treves werden die Themen von Krieg, Politik, Zeitgeschichte und Gesellschaft mit der Metapher des Lazarus verknüpft.22 Treves bezieht sich in seiner Rede auf die frühen interventisti, die er mit ihrem Einsatz für den Krieg und dessen Folgen dafür verantwortlich macht, die Welt aus den Fugen gehoben und in Unordnung (»disordine«) gebracht zu haben, und die nun Buße (»espiare«) dafür tun sollen. Gramsci distanziert sich mit seinen Worten deutlich von dem Reformisten Treves. Anders als dieser will er die proletarische Revolution, die eine Neuordnung der politischen Verhältnisse bringen solle. Er kritisiert die Scheinheiligkeit der ›dominierenden‹ politischen Klasse und die durch den Krieg noch größer gewordene Kluft zwischen politischen Machthabern und der Arbeiterklasse.23 Die Lazarus-Metapher bei Gramsci ist ambivalent. Zum einen kann man ihr eine positive Bedeutung zusprechen, da sie anzeigt, dass noch die Hoff21
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Gramsci, Antonio (1977): »Appunti per una introduzione e un avviamento allo studio della filosofia e della storia della cultura« (Quaderno II (XVIII)), in: Quaderni del carcere. Vol. II. Quaderni 6–11. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino (Einaudi), S. 1373–1509, S. 1395. Es sind die zwei Jahre des sogenannten biennio rosso von 1919 bis 1920, in denen es zu politischem Aufruhr der Linken, Arbeiteraufständen und Streiks kommt und der PSI an Einfluss gewinnt, bevor sich dessen linker Flügel 1921 unter Gramsci zum PCI abspaltet, Mussolini erstarkt und die Faschisten an Macht gewinnen. Zum historischen Kontext s. das Kapitel II, 1 in dieser Arbeit. Vgl. Gramsci, Antonio [1930] (1975): »§ (44) Passato e presente« (Quaderno 3 (XX), in: Quaderni del carcere. Vol. I. Quaderni 1–5. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino (Einaudi), S. 322f. Gramsci kritisiert, dass die historisch-politische Verantwortung, die die herrschende Klasse gegenüber allen anderen habe, versteckt werde, wobei eine solche politische Macht dazu tendiere, ihre wahren Belange zu verbergen. Zur Einordnung von Gramsci s. Gerratana, Valentino (Hg.) (1975): »Prefazione«, in: Gramsci, Antonio: Quaderni del carcere. Vol. I. Quaderni 1–5. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino (Einaudi), S. XI–XLI. Zu Gramscis Einsatz für die Annäherung von Elite und Volk s. Dotti, Ugo (1999): Storia degli intellettuali in Italia. III Temi e ideologie dagli illuministi a Gramsci. Roma (Editori Riuniti), S. 272ff.
II. Historischer und politischer Kontext
nung besteht, die angestrebte Revolution und eine Veränderung der Zustände zu erreichen. Lazarus wird in dieser Perspektive zu einer Figur des politischen und gesellschaftlichen Kampfes und Widerstands und steht für Aufbegehren, Veränderung und Verbesserung (»risorgere«). Als solche kontrastiert die Metapher mit der des Totengräbers (»becchino«), die Passivität, Akzeptanz der Zustände und Unterordnung verkörpert. Zum anderen könnte Lazarus auf die nach Ende des Ersten Weltkriegs v.a. bei den ehemaligen interventisti noch immer vorhandene Kriegsbegeisterung hinweisen und zugleich die Gefahr verdeutlichen, die Gramsci in den Faschisten sieht, die – so wie Lazarus aufersteht – nun erstarken, aus dem Verborgenen an die Oberfläche drängen und eine rasche Veränderung der Zustände anstreben. Liest man die Lazarus-Metapher schließlich vor dem Hintergrund von Treves Worten, »Non è il morire che vi spaventa, è questo non vivere che vi esaspera«,24 mit der er sich an die interventisti wendet, dann erhält sie eine negative Bedeutung. Lazarus, der weder tot noch lebendig ist (»non vivere«), verweist hier auf einen Zustand der Untätigkeit, des Unbelebten und des Wartens auf die Revolution, die nicht eintritt, sowie auf eine lange Zeit der Buße, die in Treves’ Augen zwar angebracht ist, von Gramsci als Revolutionsbefürworter jedoch abgelehnt wird. Wie schon bei Gori wird die Lazarus-Metapher bei Gramsci mit einer Semantik des Todes (»fossa«, »seppellisce«, »sottoterra«, »becchino«) und dem Motiv des Schreckens verknüpft (»spaventevole«, »spavento«), was deutlich macht, dass Lazarus, selbst wenn er auferstanden ist, mit dem Tod in Verbindung bleibt und seine Anwesenheit stets beunruhigt und ängstigt. Die vielen religiös konnotierten Wörter (»spirito«, »profeta biblico«, »espiare«, »sacerdotale«) werden ironisch verwendet und lassen auf eine religionskritische Position schließen. – Schließlich ist der Fall Gramsci auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant, da er zeigt, wie Literatur in Zeiten der Krise und des Exils zu einer Überlebensstrategie wird.25 24
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Treves, Claudio (1920): »Come ho veduto la guerra«, reproduziert in: »Nota 3 al Quaderno 3 (XX) § (44)«, in: Gramsci, Antonio (1977): Quaderni del carcere. Vol. IV. Apparato critico. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino (Einaudi), S. 2592. Als Gramsci während seines Gefängnisaufenthalts 1931 eine Krise befällt, schöpft er Kraft aus der Literatur: Er liest und interpretiert u.a. Stellen aus Dantes Inferno. S. dazu Lollini 2001: 176f. und Gramsci, Antonio (1975): »Il canto decimo dell’Inferno« (Quaderno 4 (XIII), in: Quaderni del carcere. Vol. I. Quaderni 1–5. Hg. v. Valentino Gerratana. Torino (Einaudi), S. 516–530; Gramsci, Antonio (1931) [1973]: »20 novembre 1931«, in: Lettere dal carcere. Hg. v. Sergio Caprioglio u. Elsa Fubini. Torino (Einaudi), S. 489–493, S. 489ff. Anscheinend ist die Commedia besonders in Krisen- und Umbruchszeiten ei-
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ne wichtige Referenz. Das Inferno wird herangezogen, um traumatische Situationen zu beschreiben – bei Gramsci ist es das Gefängnis, bei Levi das KZ. Zu letzterem s. Levi, Primo [1947] (1987): Se questo è un uomo, in: Opere I. Torino (Einaudi), S. 1–181, S. 115f. Einige der später behandelten Lazarus-Texte beziehen sich ebenfalls auf Dante, um Extremerfahrungen zu vermitteln. Vgl. dazu das Kapitel III, 3.1 in dieser Arbeit.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
1. Ausgehendes Ottocento und Jahrhundertwende 1.1
D’Annunzios ambivalente Umwertung der christlichen Lazarus-Figur
Gabriele D’Annunzio (1863–1938) rekurriert auffallend häufig auf die Figur des Lazarus, die bei ihm in der Lyrik, der Prosa und im Drama vorkommt. Umso mehr erstaunt es, dass dieser Aspekt bisher kaum Beachtung in der Forschung gefunden hat.1 Die im Folgenden untersuchten Texte demonstrieren, dass Lazarus nicht nur in gattungsspezifischer Hinsicht eine facettenreiche Figur in D’Annunzios Werk darstellt, sondern auch zentral für seine Ästhetik ist. Die Lyriksammlung Canto novo beinhaltet in der Erstfassung von 1882 ein Gedicht mit einer Lazarus-Referenz, die in der Version von 1896 jedoch entfällt:2
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Es gibt zwar Forschungsliteratur zu den einzelnen Werken, nicht aber zu Lazarus selbst. Beiträge, die sich Lazarus im Gesamtwerk D’Annunzios widmen, fehlen ebenfalls. Lediglich ein Hinweis darauf, dass zwischen Canto novo und Terra vergine ein Zusammenhang besteht und darin der Name ›Lazzaro‹ vorkommt, findet sich bei Scarano Lugnani, Emanuella (1976): »Gabriele D’Annunzio«, in: Angelini, Franca/Luperini, Romano u.a. (Hg.): Il Novecento. Dal decadentismo alla crisi dei modelli. Vol. IX. Tomo I. Roma/Bari (Laterza), S. 121–225, S. 134. Bei D’Annunzio differiert die Schreibweise von Lazzaro/ Lazaro; sie wird entsprechend der verwendeten Textquelle übernommen. Zu den verschiedenen Fassungen s. Borgese 1909: 33ff. Der Gedichtteil mit der Lazarus-Passage stellt einen Bruch mit den übrigen Gedichtteilen dar, die elaborierter und pathetisch sind, Anspielungen auf die Mythologie, romantische Motive, Apostrophen und bekannte literarische Topoi enthalten. Es werden die Themen Krieg, Liebe und die Dichtung besungen, die durch selbstreferentielle Elemente oder Anleihen an Carduccis Lyrik aufgerufen wird. Ferner erfolgt eine Anspielung auf wichtige italienische Dichter. S. D’Annunzio, Gabriele (1968a): »Canto novo. Libro IV«, in: Tutte le opere di Ga-
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Là, come uno spettro, inchiodato ne l’angolo buio de ’l vico, a notte, Lazzaro ascolta il vento. Spietatamente gelida e pura la notte d’inverno sta su le case, sta su le vie deserte, sogni dona a i felici covanti ne’ tepidi letti, a la canaglia lividi e bestemmie. Bestemmie e lividi a Lazzaro, o notte. Egli ascolta. (D’Annunzio 1968a: 864f.)3 D’Annunzio orientiert sich thematisch an der Vorlage im Lukasevangelium (Lk 16,19–31). Im Vergleich zu den vorherigen Gedichtteilen stellt dies einen auffallenden Themenwechsel dar, der mit formalen Veränderungen einhergeht. Das Metrum wechselt vom endecasillabo zu freieren Versformen und die
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briele D’Annunzio. Versi d’amore e di gloria I. Hg. v. Egidio Bianchetti. Milano (Mondadori), S. 858–869, S. 858ff. Derart situiert D’Annunzio sein Gedicht vor dem Hintergrund einer voraussetzungsreichen Lyriktradition, mit der er auf indirekte Weise in Konkurrenz tritt. Dabei setzt er sich mittels eines Bescheidenheitsgestus in Szene (»nei miei poveri canti«) und bedient sich einer Stilisierung, die schon Petrarca im Canzoniere einsetzte. Vgl. Petrarca, Francesco (2015): »Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono«, in: Canzoniere. Hg. v. Marco Santagata. Milano (Mondadori), S. 5. D’Annunzios Beschreibung des Canto novo als ›metri barbari‹ wiederum ist eine Anspielung auf Carduccis Odi barbare (1877/1882). Zu D’Annunzios Begeisterung für Carducci s. Andreoli, Annamaria (1996): »Cronologia«, in: D’Annunzio, Gabriele: Scritti giornalistici 1882–1888. Vol. I. Hg. v. Annamaria Andreoli. Milano (Mondadori), S. LI–LXXVIII, S. LIVf. und Borgese 1909: 18, 21f. Die Fortsetzung lautet: »A tratti a tratti giungon su la raffica/larghe onde di balli, folate di suoni. Egli ascolta;/dolci le note narrano ebrezze a lui:/– Noi veniam da le stanze tepenti lucenti fragranti/ove l’amor sorride, ove il piacere impera,/noi veniamo da un vortice gaio di seriche vesti,/da un barbaglio di gemme, da una follia di fiori!/– A me picchia ne ’l ventre la fame più di due giorni:/ho addosso la febbre, m’è morto già un figliolo;/a me il vento mi sferza la faccia, ho qui l’unghie gelate,/sento giù ne la gola grume di sangue e fiele…/Ecco, sento che muoio; ma a casa, perdio, non ci torno:/noi si muore a la strada, peggio che cani, noi! –/risponde il pezzente; e stramazza. Ma il gelido vento,/disceso a valle de la montagna, bieco/urla: – Godete, godetevi i balli e le cene,/o felici; sognate entro entro a’ ben caldi letti! –/Fuori, ne le strade fangose, ne’ sozzi angiporti,/ne le soffitte, ne le stamberghe, a ’l buio,/là dov’è fame, dov’è freddo, là dove si muore,/a notte un sordo fremito propagasi« (ebd.: 865f.).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
in versi sciolti verfassten, zuvor mehrheitlich vierzeiligen Strophen verkürzen sich auf Zweizeiler. Von den Gedanken und Gefühlen des lyrischen Ichs findet ein Übergang zur Sicht des Lazzaro statt und es werden Passagen der wörtlichen Rede aufgenommen (»perdio«, »stramazza«). Ferner kommen Motive wie Schmutz und Schlamm (»fangose«, »sozzi«) vor, die der Realität der nun fokussierten Figur entsprechen. Auch die Motive der Nacht, Kälte und des Winters schaffen eine negative Semantik. Lazzaro wird mit einem Gespenst verglichen, das in einer Ecke ›fest- bzw. angenagelt‹ (»inchiodato«) ist und dem nur der Wind als Gesprächspartner bleibt, was ausdrückt, dass er isoliert und kommunikationslos ist. Ähnliches suggeriert das Gefühl, bald zu sterben. In den räumlichen Motiven der dunklen Ecke (»angolo buio«), der leeren Straßen (»vie deserte«) und der schmutzigen Sackgasse (»sozzi angiporti«) verdichten sich seine Einsamkeit und Aussichtslosigkeit. Die zahlreichen Stilmittel der Wiederholung wie Epipher (»Egli ascolta«), Kyklos (»noi«), Anapher (»noi«, »a me«) und Anadiplose (»bestemmie«) sowie Parallelismen, Alliterationen und Wortwiederholungen demonstrieren, dass Lazzaro in seiner Situation gefangen ist. Der Bettler repräsentiert einen Randbereich der Gesellschaft, ein ›Draußen‹ (»fuori«), und ist unerwünscht, was ebenso die pejorative Bezeichnung ›Kanaille‹ oder die plakative Gegenüberstellung von »me«/»egli« (Lazzaro) und »noi« (Reiche) nahelegt. Auf inhaltlicher Ebene übernimmt die Figur eine sozialkritische Funktion, da sie zeigt, dass es dem sozial Schwachen unmöglich ist, seine gesellschaftliche Stellung zu verbessern und das binäre Denken zu überwinden, das die Gesellschaft prägt und durch das Integration oder Exklusion funktioniert (Arm vs. Reich, Innen vs. Außen). Diese Bedeutung ändert sich, wenn man die Ebene der diskursiven Gestaltung mitberücksichtigt.4 Arm und Reich werden einander gegenübergestellt, wobei dieser Kontrast letztendlich die Unterscheidung zweier unterschiedlicher Stilregister und lyrischer Niveaus bedeutet. Über die diskursive Ge4
Die Lazzaro zugeordnete Passage enthält zahlreiche negativ konnotierte Motive; sie ist syntaktisch, stilistisch sowie sprachlich reduziert und repetitiv. Im Gegensatz dazu weist die Passage, die den Reichen gewidmet ist, eine Personifizierung, Luxussymbole wie Seide und Edelsteine, preziöse Adjektive sowie positiv konnotierte Wörter und Motive auf, die dem Bereich der Kunst angehören und die Vergnügen, Gemeinschaft und Wohlbefinden suggerieren. Durch Enjambements und Alliterationen erhalten die Verse einen melodischen Zusammenhang. Ein solcher wird hingegen in den Lazzaro-Passagen mittels Semikola, Kommata und Einschüben reduziert, wobei der Schrei (»urla«) den musikalischen Wohlklängen der Reichen (»suoni«, »dolce le noti«) entgegensteht.
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staltung wird eine Gewichtung vorgenommen, die zulasten Lazzaros und zugunsten der Reichen ausfällt, da diesen der poetischere Part zufällt. Die Reichen erweisen sich auf inhaltlicher und diskursiver Ebene als ›ästhetische Gewinner‹. Sie repräsentieren D’Annunzios Kunst- und Subjektverständnis, das zunehmend zu Ästhetizismus, Elitismus und Exklusivität übergeht.5 Vor diesem Hintergrund bedeutet der Rekurs auf die biblische Figur des Lazarus gerade keine Identifikation mit dem sozial Exkludierten, sondern eine Parteinahme für den kunstaffinen Wohlsituierten. In dieser Hinsicht stellt D’Annunzios Gedicht einen Sonderfall dar, da es sich von den zahlreichen Texten unterscheidet, in denen eine Sympathie für den Bettler Lazarus besteht. Die kurze Erzählung Lazzaro ist Teil der Sammlung Terra vergine (1882), die im selben Jahr wie Canto novo erscheint. Erneut wird ein Lazarus beschrieben, der sich am Lukasevangelium anlehnt, jedoch entfällt die Gegenüberstellung von Arm und Reich, die im Prätext und im Gedicht präsent sind: Non aveva mangiato da un giorno; gli ultimi bocconi di pane se li era ingoiati la mattina il figliolo, quel mostriciattolo umano dal cranio calvo e rigonfio come una zucca enorme; lui il ventre l’avea vuoto più della grancassa su cui picchiava disperatamente perché la canaglia accorresse a pagargli un soldo per quel miracolo di figliolo.6 Die Motive der Brotkrumen, des Hungers, des leeren Magens und später des Hundes rufen den Intertext der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31) auf, der hier allerdings verfremdet wird. Der hungrige Lazza5
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Zu D’Annunzios Ästhetizismus s. Bagnoli, Vincenzo (1999): »La missione dell’artista. Il dibattito nell’›Idea liberale‹ su D’Annunzio, Nietzsche e il rifiuto dell’estetismo«, in: Studi Novecenteschi. Vol. 26, Nr. 57, S. 47–86, S. 57. Die genannte Entwicklung kann man nachvollziehen, wenn man D’Annunzios Romane vergleichend hinzuzieht. Vgl. zu diesen Hausmann, Frank-Rutger (1997): »Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende – Gabriele D’Annunzio und die bildende Kunst«, in: Kapp, Volker/Kiesel, Helmuth/ Lubbers, Klaus (Hg.): Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt: Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende. Berlin (Duncker&Humblot), S. 91–107, S. 102; Hösle, Johannes (2 1990): Italienische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Grundzügen. Darmstadt (wbg), S. 56f. und Küpper, Joachim (1997): »Dekadenz. Zu Gabriele D’Annunzios ›Il Piacere‹«, in: Poetica. Vol. 29, Nr. 1/2, S. 198–233, S. 214. D’Annunzio, Gabriele (1968b): »Lazzaro«, in: Tutte le opere di Gabriele D’Annunzio. Prose di romanzi II. Hg. v. Egidio Bianchetti. Milano (Mondadori), S. 22–23, S. 22.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
ro ist in Begleitung seines Sohnes, dem er die letzten Bissen gegeben hat, um ihm nun die Schuld für den umso leereren eigenen Magen (»ventre«) zu geben. Die boshafte Betrachtung hat wenig mit dem Blick eines sorgsamen Vaters gemein; so erscheint ihm das eigene Kind als kleines Monster, dessen aufgeblähter haarloser Kopf an einen riesigen Kürbis erinnert (»enorme zucca«).7 Zwei Aspekte fallen an D’Annunzios Bearbeitung der Lazarus-Passage auf: Zum einen verändert der Text die biblische Parabel. Zwar wird Lazzaro noch als hungriger und armer Mensch dargestellt, jedoch werden seine positiven Eigenschaften ins Negative gewendet und so bleiben ihm die Aussicht auf das Paradies und eine Vergeltung verwehrt, die bei Lukas das Leid des Lazarus auf Erden nachträglich rechtfertigen. Durch die ironische Verwendung von ›miracolo‹, ›Wunder‹, wird ein weiteres wichtiges religiöses Motiv und die damit verbundene christliche Tradition subtil in Frage gestellt. Zum anderen wird in dem Verhältnis von Vater und Sohn mit der Idealvorstellung einer intakten Familie gebrochen, da Liebe und Zuneigung abwesend sind. Das Ende der zitierten Textpassage suggeriert, dass der Vater seinem Kind die Kehle durchschneidet (»strozza tagliata«, D’Annunzio 1968b: 22). Die Erzählung zeichnet durch die negative Semantik, düstere Seelenlandschaften, personifizierte Naturdarstellungen und die zahlreichen Motive, die Hunger, Abwesenheit, Einsamkeit, Dunkelheit, Isoliertheit und Tod bedeuten, das Bild einer anonymen, desinteressierten Gesellschaft, in der nicht einmal auffällt, wenn ein unschuldiges und wehrloses Kind getötet wird. Der Bettler Lazarus repräsentiert die extremen Folgen, die Armut und sozialer Ausschluss für den Einzelnen haben, der unter miserablen Lebensbedingungen seine Menschlichkeit verliert und mehr und mehr zu einem Tier (»bestia«, »divorarvi«) oder, wie das Kind, zum Objekt (»ignobile straccio«) wird. Während der Körper des Vaters aktiv ausgeführte Gewalt ausdrückt (»picchiava«, »battendo«, »colpo«), steht der Körper des Kindes für passiv erlittene Gewalt (»gittato«, »spasimi«, ebd.: 22f.). Lazarus unterliegt in beiden Texten einer negativen Stilisierung und bietet sich kaum als positive Identifikationsfigur an, weswegen der sozialkritische
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Im Sinne Bachtins ist der Kopf als Kürbis ein grotesker Körperteil, der sich Norm, Kanon und Zensur widersetzt. Das Groteske wende sich gegen die vermeintliche Unabdingbarkeit der Welt, indem es aufzeige, dass andere Welten und Weltordnungen möglich seien. Vgl. dazu Bachtin, Michail M. (1990): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a.M. (Fischer), S. 16ff., 20, 26.
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Aspekt ambivalent erscheint und sich keineswegs für die Seite des armen Lazzaro einnehmen lässt. Glaubt man Borgese, so verbannt D’Annunzio nachträglich alles aus diesen ersten Werken, das nicht »libera e ingenua celebrazione di gioia« (Borgese 1909: 33) sei. Damit antizipieren die Texte bereits die Tendenz des Autors, das Krude, Alltägliche und Niedrige abzuwerten und auszuschließen (ebd.: 39). D’Annunzios La parabola dell’uomo ricco e del povero Lazaro (1898) aus der Sammlung Il venturiero senza ventura (1896–1907) kann als Ausdruck einer solchen Exaltation der Lebensfreuden und letztlich als Triumph der Todsünden von gula, lussuria, superbia und invidia über die christlichen Tugenden gelten. In dem Text kehrt sich die Botschaft um, die die Parabel im Lukasevangelium hat und auf die mit dem Titel und einem einleitenden wörtlichen Zitat Bezug genommen wird.8 Zwar übernimmt D’Annunzio inhaltliche Elemente, die Figuren des Lazarus, des Prassers und Abrahams sowie Passagen aus dem Prätext, die wortwörtlich oder textnah wiedergegeben werden. Doch nimmt er einschneidende Veränderungen bezüglich der Figurencharakterisierung, der inhaltlichen Gewichtung und der abschließenden christlich-ethischen Bewertung vor. So beansprucht die Darstellung des ausschweifenden Lebens, das der Reiche führt, den größten Teil, während die Beschreibung des Jenseits, die bei Lukas den inhaltlichen und moralischen Mittelpunkt darstellt, sehr kurz ist. Dieser strukturellen und inhaltlichen Verlagerung wird auf diskursiver Ebene entsprochen: Die Jenseitsbeschreibung zeichnet sich durch eine verhältnismäßig einfache Syntax und Sprache, repetitive Elemente und Dialogpassagen aus. Bei den Beschreibungen des Reichen hingegen überwiegen eine literarische Sprache, ein elaborierter, pathetischer Stil, hypotaktische, lange Sätze und es finden sich zahlreiche Adjektive, Vanitasmotive, preziöse und ästhetisierte Vergleiche und Ausdrücke, Motive, die Luxus, Kunst, Schönheit, Exklusivität oder Exotik vermitteln, sowie Referenzen auf illustre Personen, Orte oder Gegenstände der Antike und Mythologie. Die diskursive Vermittlung spiegelt insofern den Luxus wider, durch den das Leben des Reichen geprägt ist.
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Vgl. D’Annunzio, Gabriele [1898] (1968c): »La parabola dell’uomo ricco e del povero Lazaro«, in: Tutte le opere di Gabriele D’Annunzio. Prose di ricerca, di lotta, ecc., II. Hg. v. Egidio Bianchetti. Milano (Mondadori), S. 108–124, S. 108. Zu den wörtlichen Zitaten im Folgenden s. ebd.: 108ff.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Die Macht des ›magnifico‹ ist unhinterfragt; er ist grausam, tyrannisch, gewalttätig und behandelt Frauen und Diener wie Objekte, derer er sich nach Gutdünken entledigt oder die er töten lässt. In der Gegenüberstellung von ›weißem Herren‹ und ›schwarzem Diener‹ (ebd.: 110) perpetuiert D’Annunzio fragwürdige Rollenverteilungen und schreibt die Bibel-Passage im Sinne eines rassistischen Diskurses um. Auch die Gunst, die der Reiche dem Bettler Lazaro zukommen lässt, indem er ihm Essen, Trinken, Gewänder und Konkubinen anbietet, ist mit Spivak interpretiert eine Zurschaustellung seiner Macht und ein Machtgestus des reichen Mannes dem Subalternen gegenüber.9 Lazaro ist unfähig, die Gaben anzunehmen; er lehnt alles Weltliche ab und ist deshalb in den Augen des Prassers auch im Jenseits unglücklich, während er selbst das Sinnliche sogar im Höllenfeuer preist: – Misero te, Lazaro! Misero te, che non ti sei saziato se non di miche! Ecco, l’occhio mio ha veduto tutte queste cose, l’orecchio mio le ha udite, la mia lingua le ha assaporate, le mie nari le hanno odorate, le mie mani le hanno palpate, tutta la mia carne ne ha preso gioia! E Lazaro, come si protese perdutamente verso la bellezza di quelle cose vane, precipitò nella voragine (D’Annunzio 1968c: 123f.). Der christliche Gedanke, den Freuden des Lebens zu entsagen und sündenfrei und demütig zu leben, um im Jenseits dafür belohnt zu werden, wird hier Lügen gestraft. Stattdessen handelt es sich um einen Lobgesang auf irdische und vergängliche Güter (»bellezza«, »cose vane«). Freude (»gioia«), Körperlichkeit (»carne«) und das sinnliche Leben (»cantava il canto della sua vita bella«), das in allen fünf Sinnen angesprochen wird (»occhio«, »orecchio«, »lingua«, »nari«, »mani«, ebd.: 123f.), triumphieren über christliche Enthaltsamkeit und Mäßigung. Lazaro folgt den lockenden Rufen des Reichen und verlässt Abrahams Schoß, um hernach in den Strudel (»voragine«) zu stürzen, der Paradies
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Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty (1988): »Can the Subaltern Speak?« in: Nelson, Cary/ Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago (University of Illinois Press), S. 271–313, S. 274f. Der Gestus des Reichen lässt sich außerdem mit dem Konzept des superuomo in Verbindung bringen, das D’Annunzio bei Nietzsche entlehnt und für sich adaptiert. Zur Auseinandersetzung mit Nietzsches ›Übermensch‹Gedanken und zu dessen Umsetzung in bspw. Il piacere s. Plack, Iris (2003): »Il mito nella tragedia dannunziana: ›La figlia di Iorio‹: una analisi critica«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 32, Nr. 3, S. 377–388, S. 377, 384; zur Umarbeitung vgl. Bagnoli 1999: 58ff. und insgesamt zu Nietzsche bei D’Annunzio s. Küpper 1997: 232f.
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und Hölle voneinander trennt. Er löst die Nähe zu Abraham für einen einzigen Blick auf den Sünder ein, was ihm letztendlich den Untergang beschert. Auf blasphemische Weise verkehrt D’Annunzio die christliche Botschaft und lässt Lazaro als Verlierer auftreten, der weder auf Erden noch im Jenseits Gutes zu erwarten hat und der, ohne die Freuden des Lebens je genossen zu haben, an ihnen zugrunde geht. Die Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes von Bestrafung und Belohnung hebt sich hier auf und wird verhöhnt.10 Der Lazarus in D’Annunzios Drama La figlia di Iorio (1904) hat mit den früheren Lazarus-Figuren nichts mehr gemeinsam.11 Das Stück handelt davon, wie Aligi seine Familie und Verlobte für Mila verlässt. Als sein Vater Lazaro di Roio Mila bedrängt, erschlägt Aligi ihn, worauf er zur Strafe für den Vatermord auf 10
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In diesen Aspekten äußert sich nicht nur Zynismus, sondern auch D’Annunzios Nähe zur Dekadenzliteratur und deren Kritik am bürgerlichen Leben mit seiner pietistischen Haltung und christlichen Moral, die als verbohrt, einengend und der ›echten‹ Kunst restriktiv gegenüber abgelehnt wird. Der Reiche fungiert als Sprachrohr für D’Annunzios Subjekt-, Liebes- und Ästhetikkonzept, das auf die Individualisierung und Ästhetisierung des elitären, intellektuellen, kunstliebenden Menschen, die Glorifizierung von Lust, Leidenschaft und Sinnlichkeit sowie die Sublimierung von Kunst und Sprache abzielt, und nimmt in dieser Hinsicht Aspekte auf und vorweg, die in den Romanen Il piacere (1889) und Il fuoco (1900) behandelt werden und die eigentlich mit dem christlichen Hintergrund nicht vereinbar sind. Vgl. zu D’Annunzios Kritik an Religion und Bürgertum Plack 2003: 387; Küpper 1997: 214 und zu D’Annunzios Verortung innerhalb der Dekadenzliteratur ebd.: 198ff. Zur Dekadenz als Ausdruck für das Aufbegehren gegen das Bürgertum, die Verherrlichung des Sinnlichen und Extravaganten sowie die Verbindung von Eros und Thanatos vgl. Haupt, Sabine (3 2007): »Décadence«, in: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moenninghoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart (Metzler), S. 142–143. Zu D’Annunzios Ästhetik u.a. in Il fuoco, s. Schlumbohm, Dietrich (1983): »Stilisierung statt Handlung: Zur Erzählweise in D’Annunzios Roman ›Il Fuoco‹«, in: Schulz-Buschhaus, Ulrich/Meter, Helmut (Hg.): Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur. Tübingen (Narr), S. 73–84, S. 82 und Plack 2003: 378, 384f. Zu den Aspekten des Ich-Kults (etwa in der Figur des ›Dandy‹), der Künste und deren Kombination in der Literatur der Dekadenz bei D’Annunzio s. Hausmann: 1997: 95f. Zum Entstehungshintergrund und den Hauptthemen des Stücks vgl. De Michelis, Eurialo (1980): »Introduzione«, in: D’Annunzio, Gabriele: La figlia di Iorio. Tragedia pastorale in tre atti. Milano (Mondadori), S. 23–30, S. 23ff.; Busjan, Catharina/Nelting, David (2008): »Gabriele D’Annunzio: ›La figlia di Iorio‹«, in: Lentzen, Manfred (Hg.): Italienisches Theater des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen. Berlin (ESV), S. 20–33, S. 20 und Barsotti, Anna (2009): »L’indicibile delle passioni nel teatro da Verga a d’Annunzio«, in: Il castello di Elsinore, 59, S. 31–61, S. 31.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll. Mila opfert sich für ihren Geliebten, indem sie behauptet, ihn verhext zu haben, und stirbt an seiner statt. Der tyrannische Patriarch Lazaro di Roio repräsentiert die archaischen Werte und Gesetze von Vater, Blut und Macht.12 Er steht zu Beginn durch seine namentliche Nennung als Figur im Raum, tritt als sprechender Charakter jedoch erst und ausschließlich in den beiden letzten Szenen des zweiten Akts auf. Lazaros erster stummer Auftritt wird von Aligi mit folgenden Worten begleitet: »Padre, aspetta. La croce è su la soglia./Non puoi passare senza inginocchiarti./Se il sangue è ingiusto, tu non puoi passare« (ebd.: 86). Aligi verwehrt seinem Vater den Eintritt ins eigene Haus und unterstellt ihm, gesündigt zu haben. Das Kreuz, das auf der Schwelle zum Hauseingang steht, symbolisiert hier den Eintritt zu einem heiligen Raum, den Übergang von einem profanen zu einem heiligen Bereich. Das Innen ist durch das geweihte Kreuz zum geschützten, ›heiligen‹ Raum geworden, in dem Mila Zuflucht vor den Mähern findet, unter ihnen Lazaro selbst, die sie vergewaltigen wollen. Aligi erkennt in Mila den »Angelo muto« (ebd.: 81). Der Engel stellt mit Eliade interpretiert eine ›Hierophanie‹ dar, also ein Eindringen bzw. Aufkommen des Heiligen im Profanen,13 und bietet ein apotheotisches Bild der Unschuld. Daraufhin entsagt Aligi dem Profanen, um sich dem Heiligen zuzuwenden. Diese zwei Ordnungen, die schon Eliade als konträr begreift (Eliade 1965: 28), stellen die beiden zentralen Oppositionen dar, aus denen sich der Hauptkonflikt entwickelt.14 Während Lazaro profane Macht repräsentiert, die Macht Gottes verneint und sich über das göttliche Gesetz stellt, richtet Mila ihre Handlungen nach den Geboten und Gesetzen Gottes, ist gläubig, gottesfürchtig und demütig und vertritt die christliche Religion. Mit Foucault
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Vgl. D’Annunzio, Gabriele [1904] (1980): La figlia di Iorio. Tragedia pastorale in tre atti. Milano (Mondadori), S. 37–173, S. 37ff. Eliade definiert die ›Hierophanie‹ als »une irruption du sacré qui a pour effet de détacher un territoire du milieu cosmique environnant et de le rendre qualitativement différent.« Eliade, Mircea (1965): Le sacré et le profane. Paris (Gallimard), S. 29. Sie ermögliche den Übergang von ontologischen Ordnungen, von einem Wesenszustand in einen anderen. Das Profane und das Heilige könnten im Falle einer ›Hierophanie‹ verbunden werden (ebd.: 28, 60). Denn anders als Kibler behauptet, geht es in dem Stück nicht vorrangig um den Kontrast zwischen antiken und romantischen Mythen, sondern um den Gegensatz von Heiligem und Profanem, der anhand der Figuren Mila und Lazaro ausgetragen wird. Zu ersterem s. Kibler, Louis (1987): »Myth and Meaning in D’Annunzios ›La figlia di Iorio‹«, in: Annali d’Italianistica. Vol. 5, S. 178–187, S. 178f., 181.
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können die beiden Ordnungen als zwei unterschiedliche Diskurse interpretiert werden.15 Diskurse produzierten zugleich Machteffekte und wirkten als Kontrolle und Regulierung, indem sie sowohl aus- als auch einschließen und bestimmen, »was sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann« (Parr 2014: 235). Vor diesem Hintergrund und angesichts der von Foucault aufgegriffenen und zugleich kritisierten These, dass jeder sichtbare und sagbare Diskurs nichts anderes ist, als die repressive Anwesenheit dessen, was innerhalb desselben Diskurses verschwiegen wird (Foucault 1969: 36), ist Lazaros Sprechen aufschlussreich. Das folgende Zitat (6. Szene, 2. Akt) stellt dar, wie er und Mila aufeinandertreffen: Femmina, non avere paura. Lazaro di Roio è venuto ma senza portare la falce; […] Certo, femmina, male scegliesti. Ma s’è rifatto il mio sangue, e troppe altre parole non dico, ché la lingua risecca m’è già; ed è sempre l’istessa cagione. Or tu verrai meco senz’altre parole, figlia di Iorio. […] Se pensi di star contro me su l’istesse difese, t’inganni. Qui non v’è focolare, né v’è parentado; né Santo Giovanni suona la campana a salute. Io muovo tre passi e ti prendo. (D’Annunzio 1980: 125ff.)
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Der Begriff ›Diskurs‹ wird hier im Anschluss an Parr verwendet, der Foucaults heterogenen Begriff in Anlehnung an eine Stelle in L’archéologie du savoir umschreibt als: »eine Praxis des Denkens, Schreibens, Sprechens und auch Handelns, die diejenigen Gegenstände, von denen sie handelt, zugleich selbst systematisch hervorbringt.« Parr, Rolf (2014): »Diskurs«, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart (Metzler), S. 233–237, S. 234. Vgl. ferner Foucault, Michel (1969): L’archéologie du savoir. Paris (Gallimard), S. 33. Hier findet sich eine weitere Definition des Diskursbegriffs als »des ensembles d’énoncés qui étaient, à l’époque de leur formulation, distribués, répartis et caractérisés«.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Ausgehend von der These, dass Diskurse ihren Inhalt selbst hervorbringen, erkennt man hier, dass die Macht und Gewalt, die Lazaro repräsentiert, durch seine Sprache, Gedanken und Handlungen überhaupt produziert werden. Seine Worte sind Ausdruck von unverhohlener männlicher Gewalt und Drohungen. In ihnen manifestiert sich seine übergeordnete Stellung, die er durch die mehrfache Nennung des eigenen Namens betont, während er Mila zunächst nur mit ›femmina‹ anspricht. Diese Entpersonalisierung bedeutet zugleich eine Abwertung der Frau durch den Mann, die sich später sogar noch steigert, da Lazaro Mila mit Geld gefügig machen und vergewaltigen will. Außerdem wird mit seinem abschätzigen Kommentar, sie könne nicht länger auf die Hilfe Gottes hoffen, welcher durch den Heiligen Johannes und das Symbol der Glocke aufgerufen wird, seine Übermacht gegenüber Religion und Glaube ausgedrückt. Die sprachliche Gewalt manifestiert sich in den von Lazaro verwendeten Ausdrücken und Motiven (»paura«, »falce«, »sangue«) und darin, dass er keine Kommunikation zulässt, das Wort mehrfach verweigert (»altre parole non dico«, »lingua risecca«, »senz’altre parole«) und darüber bestimmt, wie und wie lange Kommunikation zu funktionieren hat. Mit Foucault interpretiert sind dies Machteffekte und Kontrollakte. Denn Lazaro reguliert Milas Sprechen und kontrolliert, was sagbar ist und was nicht, oder ob überhaupt gesprochen wird. Mila wird in die passive Rolle der Zuhörerin gedrängt; sie bleibt vorerst stumm und unbeweglich und hat in der Szene weitaus weniger Redeanteile. Vergleicht man die Figurenrede, so fällt auf, dass sich Lazaros Sprache deutlich von der Sprache Milas und Aligis abhebt.16 Die Unterschiede in der Figurenrede entsprechen der Konstitution der Charaktere: Während Lazaro nur schematisch skizziert wird, statisch ist, keine Entwicklung durchläuft und das Immerwährende, Unabänderliche repräsentiert, sind Aligi und Mila komplexere Figuren, die einen Wandel vollziehen und gegen die archaische Gesellschaft und ihre Normen rebellieren. Während Aligi erst zum Grenzgänger wird, ist Mila, als Tochter des Zauberers Iorio, von vornherein eine Störung der Ordnung und wird als Gefahr empfunden, derer man sich zu entledigen
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Diese ist auf einer höheren Stilebene zu verorten, bedient sich poetischer und religiös konnotierter Wörter, Motive und Metaphern, ist syntaktisch komplexer, vielseitiger, teils pathetisch und emotional aufgeladen. Ein Beispiel dafür sind die Abschlussreden von Aligi und Mila (ebd.: 166ff.)
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hat.17 Sie ist eine Fremde, die aus der sozialen Ordnung exkludiert wird. Als sich Mila für Aligi opfert, indem sie behauptet, ihn verhext zu haben, damit er seinen Vater töte, schenkt ihr die Gesellschaft nur allzu leicht Glauben: La turba: – Lode a Dio! Gloria a Dio! Gloria Patri! – L’infamia è tolta da noi. – La macchia non è sopra di noi. – Di nostra gente non viene il parricida. A Dio gloria! – Lazaro l’uccise la femmina straniera, di Codra alle Farne. – L’ho detto, l’ho detto: È innocente, Aligi è innocente. Sia sciolto! […] – Piglia il capo della sortiera! – Alle fiamme, alle fiamme la maga! – Alla catasta la strega! (D’Annunzio 1980: 169f.) An dieser Stelle wird offensichtlich, wie schnell das Volk bereit ist, Mila, als Fremde (»straniera«), für ein Verbrechen zu bestrafen, das sie nicht begangen hat, während es Aligi entlastet und wieder in die Gesellschaft aufnimmt (»è innocente«), sodass die alte Ordnung wiederhergestellt werden könne. Denn das eigentliche Skandalon scheint hier weniger der Vatermord zu sein, als dass der Verbrecher aus den eigenen Reihen stammt (»sopra di noi«, »di nostra gente«). Die Gesellschaft sieht sich von der Schuld und Schande (»infamia«, »macchia«) befreit, die durch den Mord auf der gesamten sozialen Gemeinschaft lastete. Diese spricht nun im Namen Gottes Recht, missbraucht Religion also als Rechtfertigung, und wälzt die Schuld auf Mila ab, die als Hexe (»sortiera«, »maga«, »strega«) stigmatisiert und zum Sündenbock gemacht wird. Hier bewahrheitet sich Girards These, nach der alles Heilige Gewalt sei, und darüber
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Mit Waldenfels gelesen, handelt es sich um »Methoden der Eindämmung, der Einschränkung und Ausschließung«, mit denen das ›Eigene‹ auf das ›Fremde‹ reagiere. Dieses ›Fremde‹ kontrastiere mit dem Eigenen, das als Norm und Normalität fungiert, und überschreite die Grenzen dieser normativen Ordnung. Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 60.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
hinaus wird mit dem ›Sündenbockmechanismus‹ ein Verfahren angewendet, das Girard zufolge typisch für die Ausübung kollektiver Gewalt ist.18 Aligi selbst verflucht Mila am Ende.19 Seine letzten Worte nehmen Bezug auf den Anfang des Dramas und verdeutlichen so eine Rückkehr zur archaischprofanen Ordnung, gegen die Aligi vorübergehend rebelliert hatte. Nun droht er Mila körperliche Gewalt an (»levar le mani contro costei«) und übt verbale Gewalt auf sie aus, indem er sie verflucht. Er perpetuiert das Verhalten Lazaros und bestätigt den von ihm repräsentierten Diskurs der profanen archaischen Macht und Gewalt, der am Ende obsiegt. Obwohl Lazaro tot ist, bleiben seine Gesetze letztlich erhalten. Ob Mila, wie in der Sekundärliteratur oft dargelegt, tatsächlich die Gewinnerin des Stücks darstellt (Busjan/Nelting 2008: 25; Plack 2003: 382.), ist daher fraglich. Mit Girard interpretiert ist sie vielmehr ein bouc émissaire, anhand dessen die Brutalität der archaischen Gesellschaft und ihrer Gesetze entlarvt und demonstriert wird, wie Opferselektion, kollektive Gewalt und deren religiöse Verschleierung funktionieren. Es zeigt sich, dass Lazaro hier wie auch in den zuvor analysierten Texten eine Figur verkörpert, die dem christlichen Diskurs entgegensteht und diesen aushöhlt. Insofern ist die Referenz auf die biblische Figur negativer Art und verkehrt sich in Hinsicht auf den Prätext zunehmend. Außerdem fällt auf, dass Lazarus durchweg ein einfaches, repetitives und verhältnismäßig 18
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Im Original »mécanisme de la victime émissaire« genannt. Girard, René (1972): La violence et le sacré. Paris (Grasset), S. 119 und zum vorherigen Aspekt s. ebd.: 52. Girard führt die Hexenverfolgung als ein Beispiel für kollektive Verfolgung und Gewalt an, die von einer mörderischen Masse (lat. turba) begangen werden. Auch der christliche Märtyrer – dem Mila aufgrund ihrer Opferung ähnelt – sei Ausdruck kollektiver Gewalt und ein Residuum der Grausamkeit, die im profanen und rituellen Heiligen liege. Vgl. dazu Girard, René (1982): Le bouc émissaire. Paris (Grasset), S. 22 und zu turba, Hexenverfolgung und Märtyrer ebd.: 21f., 26, 30, 291ff. Busjan/Nelting verweisen ebenfalls auf Girard, führen diesen Aspekt jedoch nicht aus (Busjan/Nelting 2008: 33). Mit Milas Stigmatisierung als ›Hexe‹, ihrer Verbrennung und Stilisierung zur christlichen Märtyrerin wendet die Gesellschaft Mechanismen an, die mit Girard interpretiert den Verfolgungsstereotypen der Anschuldigung (accusation), Opferselektion (sélection victimaire) und Gewalt (violence) entsprechen (Girard 1982: 24ff.; Girard 1972: 128). Näher zu Girard s. Palaver, Wolfgang (2004): René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Wien (LIT Verlag), S. 12ff. »[…] solo ch’io possa levar le mani/contro costei (no, non l’ardete:/la fiamma è bella!), chiamare i morti,/tutti i miei morti nella mia terra,/quelli degli anni dimenticati,/i più lontani […] a maledirla, a maledirla!« (D’Annunzio 1980: 172).
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unliterarisches Sprechen vertritt, das mit D’Annunzios Vorliebe für einen pathetischen und elaborierten Stil kontrastiert. Lazarus stellt deshalb ein sprach- und kunstkritisches Negativmodell dar.
1.2 Lazarus als Sozial- und Religionskritik in der Lyrik von Guerrini, Rapisardi, Camerana und Satta Die im Folgenden betrachteten Gedichte mit Lazarus-Bezug stammen aus der Zeit der Jahrhundertwende vom Otto- zum Novecento. Eines davon ist Lazzaro von Olindo Guerrini (1845–1916), der seine Gedichte unter dem Pseudonym Lorenzo Stecchetti verfasst. Seine Beliebtheit gründet nicht zuletzt auf dem bahnbrechenden Erfolg des Gedichtbands Postuma (1877),20 zu dem das Lazarus-Gedicht gehört. Dieses ist – wie Guerrinis Gedichte insgesamt – subversiv und rebellisch und zeugt von einer laizistischen sowie antiklerikalen Haltung.21 Bereits die Referenz im Untertitel, mit der sich Guerrini auf den französischen Dichter 20
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Zu Guerrinis Beliebtheit s. Novelli, Mauro (2004): Il verismo in maschera. L’attività poetica di Olindo Guerrini. Cesena (Il Ponte Vecchio), S. 27 und Mariotti, Claudio (2007): »Plausi e vituperi di un falso morto. I ›Postuma‹ di Olindo Guerrini tra imitazioni, contestazioni e parodie«, in: I Quaderni del Cardello, Nr. 16, S. 261–328, S. 261f. In D’Annunzios Frühwerk finden sich Anklänge an Postuma. Vgl. dazu Novelli, Mauro (2007): »Attraverso Stecchetti: ›Postuma‹ e ›Disjecta‹ nella collezione elzeviriana di Zanichelli (con un intermezzo dannunziano)«, in: Milanini, Claudio/Morgana, Silvia (Hg.): Per Franco Brioschi: saggi di lingua e letteratura italiana. Milano (Cisalpino), S. 337–349, S. 342f. Für das freundliche Zurverfügungstellen seiner Monographie Il verismo in maschera danke ich Mauro Novelli. Zu Guerrinis antiklerikaler Haltung und diesbezüglichen eigenen Stellungnahmen s. Novelli 2004: 276ff. und Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo (1906): »Prologo«, in: Nova polemica. Bologna (Zanichelli), S. 7–94, S. 8ff. Zu Guerrinis Kritik an der Kirche, den parodistischen und satirischen Elementen in Postuma sowie Referenzen auf andere Dichter s. Mariotti 2007: 261ff., 272ff.; Croce, Benedetto (2 1921): »XXIX. Olindo Guerrini (Lorenzo Stecchetti)«, in: La letteratura della nuova Italia. Saggi critici. Vol. II. Bari (Laterza), S. 127–144, S. 136ff. und die Einleitung zur kritischen Ausgabe von Postuma Mariotti, Claudio/Martelli, Mario (2001): »Introduzione. I pretesti dei ›Postuma‹«, in: Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. XI–XLIV, S. XVIff. Guerrini bedient sich der lyrischen Tradition, um sie zu parodieren oder verschiedene Versatzstücke in satirischer Weise zu kombinieren und neu zusammenzufügen. Indem er Postuma als ›canzoniere‹ bezeichnet und da sein Hauptthema die Liebe des lyrischen Ichs ist, stellt er das Werk in die Tradition von Petrarcas Liebeslyrik, entfernt sich jedoch von dem literarischen Vorbild des Can-
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Joséphin Soulary (1815–1891) bezieht,22 bringt eine häretische Ausrichtung ins Spiel. Denn sie verweist auf Soularys Lazarus-Gedichte,23 in denen eine zutiefst negative Sicht auf die Auferweckung des Lazarus entworfen wird – ein Aspekt, den Guerrini aufgreift: I sozzi lini del sepolcro scossi, Ancor mal desto Lazzaro piangea, E il cupo Rabbi dai capelli rossi Dell’osanna volgar si compiacea. – In che peccai che sì punito io fossi? Il risorto discepolo dicea: – In che dunque peccai che tu m’addossi Tutte le colpe della gente ebrea? Mi dovevi salvar quand’io moria Ed al sepolcro la mia carne hai tolta Or che nel suo dormir più non soffria; E tu, Rabbi che amai, perchè la stolta Turba in te riconosca il suo Messia, Mi condanni a morire un’altra volta! –24
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zoniere. Vgl. dazu Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo [1877] (2001): »Al lettore«, in: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 3–11, S. 7. Der Untertitel von Lazzaro, »I Soulary«, steht z.B. bei Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo (12 1883): »Lazzaro«, in: Postuma. Bologna (Zanichelli), S. 72, ist aber nicht in allen Ausgaben vorhanden. Zum Hinweis, dass Guerrini mit Lazzaro auf Soulary referiert, s. den Kommentar zur kritischen Ausgabe von Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo (2001): Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 63. Laut den Herausgebern verbindet Guerrini in seinem Gedicht die zwei Sonette Lazare I und Lazare II von Soulary. Sie erwähnen jedoch nicht, dass noch ein drittes Lazarus-Sonett mit dem Titel Gula existiert. Darin wird in Auseinandersetzung mit der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus die Todsünde der Völlerei behandelt. Außerdem thematisiert Soularys Gedicht Resurrectio die Wiederauferstehung und ist ein weiterer indirekter Lazarus-Bezug. Zu den französischen Gedichten, auf die sich Guerrini bezieht, vgl. Soulary, Joséphin (1858): »Gula«, »Resurrectio«, »Lazare I«, »Lazare II«, in: Œuvres poétiques. Ire partie – Sonnets humouristiques (1847–1871). Paris (Alphonse Lemerre), S. 148, 183ff. Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo [1877] (2001): »Lazzaro«, in: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 64–65 und vgl. ebd. den Kommentar von Mariotti/Martelli.
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Guerrini übernimmt von Soulary formale und inhaltliche Aspekte wie die Gedichtform des Sonetts, die Sicht des Lazarus, die wörtliche Rede, die Fragen sowie die Motive des Weinens, des Vorwurfs, der Instrumentalisierung und des zweifachen Todes. Er spitzt die bei Soulary noch als rhetorisch zu verstehende Frage, ob die Wiederauferweckung gerecht sei (»Était-ce juste?«, Soulary 1858: 183), zur offenen Anklage zu (»mi condanni«). Auch der Ton, den Lazzaro Jesus gegenüber anschlägt, verschärft sich. Guerrini rekurriert auf die bekannte Passage aus dem Johannesevangelium, die von der Auferweckung des Lazarus erzählt, verändert ihren Sinn jedoch komplett. Dies wird zum einen dadurch erreicht, dass das Gedicht die Perspektive des Lazarus einnimmt und seine Reaktion auf die Wiedererweckung beschreibt, Aspekte, die im Prätext nicht thematisiert werden. Zum anderen besteht der hauptsächliche Unterschied zum Prätext darin, dass Jesus unvorteilhaft dargestellt und die Wundertat nicht mehr als solche gesehen wird, sondern eine Umdeutung erfährt, die als blasphemisch gelten kann. Diese semantische Verschiebung wird im Gedicht durch mehrere Aspekte ausgedrückt: Bereits im ersten Vers zeigen die Inversion und die Alliteration (»sozzi«, »sepolcro scossi«) an, dass eine Konzentration auf das Negative stattfindet, da durch sie die Wörter ›Schmutz‹ und ›Aufruhr‹/›Erschütterung‹/›Unordnung‹ syntaktisch und lautlich in den Vordergrund treten. Außerdem überwiegt die Isotopie Tod (»sepolcro«, »moria«, »morire«), die mit dem Thema des wieder zum Leben erweckten Lazarus kontrastiert. Im ersten Quartett wird die Gegenüberstellung von Jesus und Lazarus vorbereitet: Während der auferweckte Lazarus weint (»piangea«), gefällt sich Jesus (»compiacea«) in der Rolle des ›Wundertäters‹, der vom Volk bejubelt wird. Die beiden Verben, die metrisch, lautlich und syntaktisch eine Einheit bilden und als Kreuzreim fungieren, bezeichnen auf inhaltlicher Ebene den Grundkonflikt. Lazarus empfindet die Auferweckung als ungerechte Strafe (»punito«, »mi condanni«), die ihn dazu zwingt, ein zweites Mal zu sterben. Er wirft Jesus vor, ihn nur deshalb wiedererweckt zu haben, damit er die Menschen davon überzeugt, dass er tatsächlich der Messias sei. Das bedeutet, dass Lazarus seiner Auferweckung jede Berechtigung abspricht und sie als ein Instrument ansieht, das Jesus aus Berechnung einsetzt, um seine Macht, Reputation und seinen Einfluss zu stärken und andere zu manipulieren. Er stellt die Autorität Jesu und letztlich die gesamte christliche Mission in Frage, da er bezweifelt, dass Jesus tatsächlich von Nächstenliebe und Barmherzigkeit geleitet wird, die dieser ursprünglich repräsentiert. Außerdem klagt Lazzaro ihn an, das Gebot, die Toten ruhen zu lassen, gebrochen zu haben (»al sepolcro la mia carne
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
hai tolta«). Zugleich werden die Menschen dafür getadelt, unreflektiert zu sein und sich von Jesus blenden zu lassen (»stolta turba«). Die Strafe nimmt für Lazzaro universelle Züge an, da er die Schuld des jüdischen Volkes auf sich lasten spürt (»tutte le colpe della gente ebrea«). Damit könnte der Vorwurf gemeint sein, dass die Juden Jesus gekreuzigt haben (Mt 27, 25). Außerdem könnte es sich um eine Anspielung darauf handeln, dass im Judentum die Wiedererweckung von den Toten als Frevel und Verstoß gegen die Regeln und den Willen Gottes angesehen wird.25 Mit »Rabbi«, »Messia«, »osanna« und »ebrea« werden auffallend viele Wörter verwendet, die dem jüdischen Kontext entnommen sind.26 Frappierend ist, dass diese Wörter eine negative Bedeutung erhalten. So ist der im Judentum ehrenvolle Titel ›Rabbi‹ (hebräisch rabbī = mein Lehrer) hier mehr als eine Anspielung darauf, dass Jesus Jude und Lehrer ist. Denn der damit verbundene Hinweis auf sein rotes Haar (»Rabbi dai capelli rossi«) rekurriert auf eine stereotype Darstellung des rothaarigen Juden, die seit dem Mittelalter existiert, und perpetuiert antisemitische Vorurteile.27 Der Zusatz »cupo« (›düster‹, ›finster‹, ›dumpf‹) verstärkt den negativen Eindruck, der von Jesus als ›Rabbi‹ entsteht. Auch die an25
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Zum Aspekt des Vorwurfs s. Zimmermann, Ruben (2005): »›Deuten‹ heißt erzählen und übertragen. Narrativität und Metaphorik als zentrale Sprachformen historischer Sinnbildung zum Tod Jesu«, in: Frey, Jörg/Schröter, Jens (Hg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament. Tübingen (Mohr Siebeck), S. 315–373, S. 342; zum Frevel s. Jankrift, Kay Peter (2016): »Lazarus und das mittelalterlich-frühneuzeitliche Bild der ›lebenden Toten‹ aus christlicher und jüdischer Sicht«, in: Hennigfeld, Ursula (Hg.): Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher. Heidelberg (Winter), S. 41–54, S. 49ff. Zu den Lemmata »rabbi«, »messia« und »osanna« und ihrer Etymologie vgl. hier und im Folgenden Zingarelli, Nicola (Hg.) (12 2013): Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana. Bologna (Zanichelli), S. 1836, 1377, 1555. Vgl. Mellinkoff, Ruth (1982): »Judas’s Red Hair and The Jews«, in: Journal of Jewish Art. Vol. 9, S. 31–46, S. 31ff. Mellinkoff zeigt, wie das Motiv des roten Haars, das einer negativen Semantisierung unterliegt und für das Böse, Gefahr oder Tugendlosigkeit steht, schon in der Antike und im frühen Christen- und Judentum verwendet wird. Als Beispiel nennt sie die Darstellung von Judas mit rotem Haar, rotem Bart oder rötlicher Haut, die dazu diene, Judas in seiner Bosheit und Schlechtheit zu zeigen und dabei oft als Karikatur des Juden schlechthin erscheint. Zur Korrelation von Juden und der Farbe Rot in ihrer negativen symbolischen Bedeutung seit dem Mittelalter s. Gow, Andrew Colin (1995): The Red Jews: Antisemitism in an Apocalyptic Age. 1200–1600. Leiden/New York/Köln (Brill), S. 66ff. Zur Diskriminierung und Verfolgung von Juden in Italien und unter Mussolini s. Treskow von, Isabella (2013): Judenverfolgung in Italien (1938–1945) in Romanen von Marta Ottolenghi Minerbi, Giorgio Bassani, Francesco Burdin und Elsa Morante. Fakten, Fiktion, Projektion. Wiesbaden (Harrassowitz), S. 11ff.
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deren eigentlich positiven Begriffe mit Bezug zum Jüdischen erfahren eine Bedeutungsverschiebung, indem sie mit negativ konnotierten Wörtern korreliert werden (»volgar«, »colpa«) oder in einem negativen Kontext erscheinen. Auf diese Weise wird die antireligiöse Haltung, deren Vertreter Lazzaro ist, mit einer unterschwelligen Kritik am Judentum unterlegt. Die religionskritische und subversive Position wird auf intertextueller Ebene bestätigt. Neben den Referenzen auf Soulary geschieht dies durch Verweise innerhalb des Gedichtbands Postuma selbst.28 Durch intertextuelle Referenzen auf Gedichte, die die sinnliche Liebe thematisieren, werden der religiöse Diskurs aus dem Lazarus-Gedicht und der hedonistische Liebesdiskurs in einen Zusammenhang gebracht. Diese nonkonforme Verbindung von Religion und erotischer Liebe bedeutet zugleich eine Abkehr von der Liebeslyrik nach dem Vorbild Petrarcas, die Guerrini durch zahlreiche Anleihen an den Canzoniere aufruft.29 Das Gedicht Lazzaro führt insofern beispielhaft vor
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Ein Vergleich des Lazarus-Gedichts (XXVI) mit dem III. Gedicht (Era una notte) zeigt, dass die thematisch sehr unterschiedlichen Texte viele gemeinsame Motive aufweisen. Durch das Zitat des »mal desto« und die Motive des Weinens (»piangea«), Todes (»morire«), Fleisches (»carne«), Schlafs (»dormir«) und der Liebe (»amai«), die in beiden Gedichten vorkommen, wird ein Zusammenhang hergestellt. Die Verwünschung Gottes (»maledetto Iddio«) ist ein Sakrileg und knüpft an die blasphemische Haltung an, die Lazzaro repräsentiert. Für die Zitate s. Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo (2001): »III. Era una notte«, in: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 16–21. Durch die Referenzen wird die Lazarus-Thematik mit dem Thema der körperlich-sinnlichen Liebe verbunden, von der das III. Gedicht handelt und die mit dem religiösen Diskurs eigentlich nicht vereinbar ist. In der Tat kommt diese Verschmelzung häufiger vor, z.B. in dem Gedicht Resurrexit. Mit dem Titel wird der religiöse Kontext aufgerufen, auf die Auferstehung Christi und auf Lazarus verwiesen und zugleich wird eine Verbindung zu Lazzaro geschaffen sowie auf die Gedichte Resurrectio von Soulary, Il risorgimento von Leopardi und La risurrezione von Manzoni angespielt, die das Motiv der Auferstehung in ihren Titeln tragen. S. zu Leopardi und Manzoni Mariotti/Martelli 2001: 163; zu Soularys Resurrectio Soulary 1858: 183 und zu Resurrexit Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo [1877] (2001): »Resurrexit«, in: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 163–166, S. 164. In den Gedichten XXXVIII, XLIII und Canto dell’odio (XL) werden Religions- und Liebeslyrik ebenfalls verbunden. Vgl. Stecchetti, Lorenzo/Guerrini, Olindo (2001): »Il canto dell’odio«, in: Postuma. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Roma (Salerno), S. 99–104. Im III. Gedicht rekurriert Guerrini auf Leitmotive des Canzoniere wie Schmerzliebe (tormento, dolor, sospiri), Liebeswunde (piaga), Hoffnung (spero), Scham (vergogna) und Vanitas. Er verwendet eine Edelsteinmetaphorik und Elemente, die bei Petrarca Teil des Frauenlobs sind (Haare, Augen), ein paronomastisches Gefüge bilden (oro) oder
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Augen, wie Guerrini die Tradition im Sinne der superatio auf spielerische und originelle Weise transgrediert und erweitert. Mit der Figur des Lazarus beschäftigt sich auch der sizilianische Dichter Mario Rapisardi (1844–1912). Seine Gedichtsammlung Africa orrenda, mit deren Titel Rapisardi auf Italiens Eroberungskriege in Afrika anspielt, wird 1896 veröffentlicht, im selben Jahr, als Italien bei dem Versuch, Äthiopien zu erobern, eine Niederlage erleidet, nachdem es von 1882 bis 1890 mit Assab, Massaua und Eritrea bereits drei Kolonien in Ostafrika erobert hat (Schumann 1983: 220f.). In dem Gedicht Espiazione, das zu Africa orrenda gehört, erscheint Lazarus, so meine These, im Kontext der Kolonialkriege: Che importa, se al nostro uscio Lazzaro derelitto Frignando invidj a’ nostri cani il pranzo? Avrà, quand’ei non sia ad alcun Fascio ascritto, Pur qualche avanzo. Che ci fa, se a quest’ora al suon della mitraglia Nel ribelle Tigrè riddi la morte?
das ›antinomisch-paradoxale Liebeskonzept‹ ausmachen. Vgl. zu den Motiven Hennigfeld, Ursula (2008): Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive. Würzburg (Königshausen&Neumann), S. 58ff. und zu den anderen Aspekten Regn, Gerhard (1993): »Systemunterminierung und Systemtransgression. Zur Petrarkismus-Problematik in Marinos ›Rime Amorose‹ (1602)«, in: Hempfer, Klaus/Regn, Gerhard (Hg.) (1993): Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen. Stuttgart (Steiner), S. 255–280, S. 256 und Regn, Gerhard (1987): Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ›Parte prima‹ der ›Rime‹ (1591/1592). Tübingen (Narr), S. 26ff. Die erfüllte körperliche Liebe kontrastiert mit Petrarcas Liebeskonzept, bei dem die moralisch und ästhetisch vollkommene Frau per definitionem unerreichbar ist. Dazu und für einen Überblick zu Petrarca, dem Petrarkismus und den Begriffen imitatio, aemulatio und superatio s. Regn, Gerhard (2003): »Petrarkismus«, in: Ueding, Gert (Hg.) (2003): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 6. Tübingen (Niemeyer), Sp. 911–921 und Regn 1993: 258ff. Bei Guerrini ist die Frau weniger stilisiert, der körperlich-erotischen Liebe zugänglich und sie wird verflucht. Im Gegensatz zum Canzoniere stirbt nicht die Geliebte, sondern das lyrische Ich selbst. Ebenso wenig zeigt sich dieses (vermeintlich) reumütig über das Streben nach irdischer Liebe, um sich hernach Gott zuzuwenden. Vgl. hierzu das Proömialsonett in Petrarca 2015: 5 und ebd.: 1413–1417 für die abschließende Mariencanzone.
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Terran le nostre schiere, in qual che sia battaglia. Fronte alla sorte!30 Der Gedichtausschnitt zeigt, wie Rapisardi den religiösen und den politischsozialen Diskurs miteinander in Bezug setzt. Der Titel des Gedichts, Espiazione (dt. ›Buße‹, ›Sühne‹), die Referenz auf den Lazarus aus dem Lukasevangelium und die Verwendung thematisch zentraler Motive aus der Lukas-Parabel (»uscio«, »cani«, »pranzo«, »avanzo«) in der ersten Strophe rufen den christlichen Kontext auf, dienen jedoch vor allem dazu, die gesellschaftliche Situation in Italien zu beschreiben. Die darauffolgende Strophe wiederum bezieht sich auf den Afrikafeldzug. Die Figur des Lazarus übernimmt die Funktion einer Kritik, die sich zunächst auf Italien bezieht (1. Strophe), und sich dann auf dessen Verhältnis zu Afrika ausweitet (2. Strophe).31 Die Kritik ist eine doppelte: Auf einer ersten, innerpolitischen und sozialen Ebene steht Lazzaro für den exkludierten, armen und ausgebeuteten Menschen (»Lazzaro derelitto«), der vom Bürgertum und der Oberschicht weder wahrgenommen noch anerkannt wird (»Che importa«) und dem jede gesellschaftliche und politische Partizipation verwehrt ist (»non sia ad alcun Fascio ascritto«).32 Auf einer zweiten, allegorischen Ebene weist Lazzaro auf das Verhältnis Italiens zu Afrika hin. Das Thema des Kriegs in Afrika tritt anhand der Isotopie Gewalt/Krieg (»mitraglia«, »ribelle«, »morte«, »schiere«, »battaglia«,
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Rapisardi, Mario (1896): »Espiazione«, in: Africa orrenda. Catania (N. Giannotta), S. 15–22, S. 18. Dieser thematische Zusammenhang schlägt sich in einer analogen Strophengestaltung nieder. Die Vierzeiler werden durch dasselbe Reimschema (abab cdcd) und Metrum sowie durch Anaphern, Parallelismen, Wortwiederholungen und die beiden rhetorischen Fragen verknüpft. Die Kritik richtet sich an die italienische Gesellschaft und prangert Missstände im eigenen Land an, zugleich gilt sie der invasiven Außenpolitik und der Kriegsführung Italiens in Afrika. Schon Jahre zuvor macht Rapisardi das Bürgertum und die italienische Regierung mit ihrer Kriegs- und Eroberungslust für die soziale Ungleichheit verantwortlich. Vgl. hierzu Giarrizzo, Giuseppe (1991): »Il caso Rapisardi«, in: Zappulla Muscarà, Sarah (Hg.): Mario Rapisardi. Catania (Maimone), S. 7–25, S. 16. – Mit ›fascio‹ wird auf den historischen Kontext zu Rapisardis Zeit verwiesen, als sich ab 1890 mit den Fasci siciliani Protestbewegungen der sizilianischen Landbevölkerung bilden. S. zum Begriff ›fascio‹ bei Rapisardi ebd.: 23 und allgemein Lönne, Karl-Egon (1997): »Fasci siciliani«, in: Brütting, Richard (Hg.): Italien Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Justiz, Gesundheitswesen, Verkehr, Presse, Rundfunk, Kultur und Bildungseinrichtungen. Berlin (ESV), S. 314.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
»fronte«) in den Fokus und wird durch die Erwähnung der Region Tigrè (Tigray) in Äthiopien mit dem Eroberungskrieg Italiens in Afrika verknüpft. Rapisardi übernimmt hierbei Meinungen und Ansichten, die als repräsentativ für die damalige Zeit gelten können.33 Im Gedicht werden sie aus der Perspektive einer egozentrischen gesellschaftlichen und politischen Elite geäußert, die eine invasive Kriegs- und Eroberungspolitik gutheißt und den Opfern, die diese fordert, gleichgültig gegenübersteht. Wie die zahlreichen Wir-Formen (»nostro«, »nostri«, »nostre«, »ci«) belegen, versteht sich diese Elite als ein Kollektiv mit einer stabilen Gruppenidentität, die entsteht, indem ›Fremdes‹ und Unerwünschtes, wie es Lazzaro und Afrika repräsentieren, ausgeschlossen werden. Hier wird dem binären Schema ›wir‹/›sie‹ gefolgt, mit dem auch Huntingtons Clash of Civilizations operiert.34 Doch zeigt der Zynismus, der in den rhetorischen Fragen des Gedichts zum Ausdruck kommt, eine Distanz zu der hier repräsentierten elitären Haltung. In Espiazione wird Italiens Krieg in Afrika Teil einer sozialpolitischen Debatte, die danach fragt, was Gut und Böse ist und ob Krieg legitimierbar ist. Das binäre Denken wird dabei tendenziell aufgebrochen. Dennoch gelingt eine vollkommene Lösung von vorgefertigten Denkmustern nicht. Denn Rapisardi reaktiviert dualistisches Denken, indem er die Gegensätze von Arm und Reich sowie zwischen Afrika und Italien etabliert und dabei mit einer positiven und negativen Bewertung verbindet, die keine Differenzierungen zulässt. Damit lässt das Gedicht eine eurozentristische und paternalistische Stellung gegenüber Afrika und den Armen in Italien erkennen.35 33
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Vgl. zum damaligen politischen Klima Iannaccone, Giuseppe (Hg.) (2010): »Introduzione«, in: Petrolio e assenzio. La ribellione in versi (1870–1900). Roma (Salerno), S. 7–49, S. 8ff., 23. Diese oft als vereinfachend kritisierte These geht davon aus, dass die globalen, politischen und wirtschaftlichen Konflikte im 21. Jahrhundert zunehmend durch den Zusammenprall unvereinbarer Kulturen wie etwa dem ›Westen‹ und Afrika ausgetragen werden – ein Aspekt, der auch bei Rapisardi aufscheint. Zur These von Huntington s. Huntington, Samuel P. (1993): »The Clash of Civilizations«, in: Foreign Affairs, 72, Nr. 3, S. 22–49, S. 22: »It is my hypothesis that the fundamental source of conflict in this new world will not be primarily ideological or primarily economic. The great divisions among humankind and the dominating source conflict will be cultural. […] The clash of civilizations will dominate global politics.« Auf diese Weise werden die Grenzen einer Perspektive sichtbar, die sich vom Standpunkt eines Intellektuellen her formuliert, der einen idealisierten Humanismus und einen utopischen Pazifismus vertritt. Zum Paternalismus der sozialistischen Lyriker, zu denen Piromalli auch Rapisardi zählt, und zu dessen utopischen Idealen, s. Piromalli,
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Der in Deutschland beinahe unbekannte Dichter Giovanni Camerana (1845–1905)36 schreibt zwei Gedichte mit Lazarus-Bezug. In dem ersten Gedicht mit dem Titel A Giuseppe Giacosa (1875) kommt Lazarus in einem fingierten Zwiegespräch des lyrischen Ichs vor, das als allegorische Auseinandersetzung mit der Dichtung und dem eigenen lyrischen Werk interpretiert werden kann.37 Er fungiert als Metapher für einen Dichter, der seine Inspiration verloren hat, produktionslos und lethargisch geworden ist und sich wie ein »Lazzaro bianco« und eine »povera larva oscura« fühlt. Erst der Ruf »risorgi!« – eine Referenz auf den Prätext – bringt ihn zu seiner Vokation zurück (»nacqui poeta«) und lässt in ihm den Willen entstehen, durch sein poetisches Werk ewigen Ruhm (»la mia corona«) zu erlangen (Camerana 1968: 124f.). Während im ersten Gedicht der religiöse Kontext ausgespart wird, ist im zweiten Gedicht Lazzaro (1899) der Bezug auf das Johannesevangelium deutlich erkennbar: In quel tempo la voce Sua tuonò: ›Lazzaro! Vieni fuora!‹ Oh, non comparve Larva più bianca fra le bianche larve Como quella che al grido si drizzò
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Antonio (1991): »›Giustizia‹ di Mario Rapisardi«, in: Zappulla Muscarà, Sarah (Hg.): Mario Rapisardi. Catania (Maimone), S. 27–37, S. 27f. Rapisardi will die soziale Ungleichheit durch eine Revolution der Armen beenden (Giarrizzo 1991: 23). Zu Camerana gibt es kaum Forschungsliteratur. Ein aktuellerer Beitrag ist Schrader, Sabine (2013): La Scapigliatura. Schreiben gegen den Kanon. Italiens Weg in die Moderne. Heidelberg (Winter). Für einen Überblick über die Forschungsliteratur vgl. ebd.: 107 und Finzi, Gilberto (1968a): »Bibliografia«, in: Camerana, Giovanni: Poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Torino (Einaudi), S. XXIX–XXXI. Die an den Schriftsteller und Librettisten Giocosa gerichtete Widmung, selbstreferentielle und metapoetische Motive (»rime«, »poesia«, »poeta«, »verso« u.a.) sowie die Reflexion über die Aufgabe des Dichters lassen erkennen, dass das metaliterarische Thema der Poesie zentral ist. Zu den Zitaten s. Camerana, Giovanni [1875] (1968): »A Giuseppe Giacosa«, in: Poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Torino (Einaudi), S. 124–125, S. 124f. Cameranas Beeinflussung durch die Spätromantik zeigt sich in der Ausrichtung auf das Thema der Dichtung sowie in den zahlreichen romantischen Motiven in dem Gedicht (Nacht, Mond, Tod, Ruinen, Gespenstisches, Traum, Schlaf, Dunkelheit und Natur). Zu Cameranas Verortung zwischen Spätromantik und Scapigliatura vgl. Barberi Squarotti, Giorgio (1962): »Il lungo inverno di Camerana«, in: Il verri, 7 (4), S. 132–143, S. 132. Zur Konzentration auf die Themen Tod, Desillusionierung, Melancholie und noia s. Schrader 2013: 104.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Dal buio speco, e lenta camminò. Tale il quadridüan, raggiando, apparve Dai limbi emerso delle morte larve; Così al sol dei viventi egli tornò. Alla queta ei tornò sua Betanìa, Tornò ai purpurei vespri, alla dolcezza Dei colloquii di Marta e di Maria. Noi, la voce del Dio non chiama!… L’ugna Contro la pietra sepolcral si spezza Orribilmente, nella inutil pugna.38 Es handelt sich um ein Sonett in endecasillabi mit umarmenden Reimen in den Quartetten und Kettenreimen in den Terzetten. Die ersten drei Strophen enthalten mehrere Hinweise auf den Intertext der Bibel: Die wörtliche Rede ist ein Zitat aus dem Johannesevangelium, die laute Stimme, mit der Jesus Lazarus ruft, die Personen Marta und Maria, der Ort Bethanien und die Auferweckung nach vier Tagen (»quadridüan«) sind Bestandteil des Prätextes. Es wird eine vergangene Zeit (»quel tempo«) evoziert, in der der Mensch auf die Hilfe Gottes vertrauen konnte und Wunder wie die Auferweckung des Lazarus noch möglich waren. Die vierte Strophe konstituiert einen markanten Gegensatz zu dieser Gewissheit: Durch den indirekt formulierten Vorwurf, dass Gott den Menschen allein gelassen habe (»non chiama«), wird deutlich, dass die Menschen zu Cameranas Zeit auf sich selbst gestellt sind und vergeblich auf göttliche Rettung und Gnade hoffen (»inutil«). Der unnütz am Grabstein kratzende und daran zerbrechende Nagel ist ein Symbol für die Hoffnungslosigkeit des damaligen Menschen. Es suggeriert, dass sich die Menschheit (»noi«) in einer ausweglosen Situation befindet. Der Schreck (»orribilmente«) erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass das Dasein als ein Schwebezustand zwischen Leben und Tod empfunden wird. In der letzten Strophe wird eine glaubenskritische Position eingenommen, die mit der religionskritischen Ausrichtung der Scapigliati vereinbar ist, zu denen auch Camerana gerechnet wird (Barberi 1962: 132).39 Stilistisch wird die 38 39
Camerana, Giovanni [1899] (1968a): »Lazzaro«, in: Poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Torino (Einaudi), S. 170. Die Scapigliatura (von italienisch scapigliato, ›zerzaust‹) ist eine literarische Avantgardebewegung von ca. 1958 bis 1980, die ihr Zentrum in Mailand hat. Ihre Hauptvertreter
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Erschütterung des Glaubens und die daraus resultierende Orientierungslosigkeit des Menschen, von denen das zweite Terzett handelt, in den Inversionen (»Noi, […] non chiama«, »L’ugna […] si spezza«) und dem unkorrekten Sprachgebrauch in Vers 12 angezeigt. Beides sind Veränderungen der herkömmlichen syntaktischen und sprachlichen Strukturen und zeugen als solche von einem Verlust von Ordnung und Sicherheit. Auch die Exclamatio (»Noi […]!«) macht deutlich, dass es sich um eine erschütternde Erfahrung handelt. Dies wird zudem durch die Vokalverteilung im letzten Vers erkennbar. Während durch die dunklen Vokale ›o‹ und ›u‹ die Negativität der Erfahrung unterstrichen wird, entsteht durch das ›i‹ in »orribilmente« und »inutil« ein spitzer, durchdringender Klang, der ein Gefühl des Unwohlseins vermittelt. Betrachtet man das Sonett unter dem Aspekt der gegensätzlichen Isotopien von Leben und Tod, durch das es strukturiert ist, so fällt auf, dass die Isotopie Tod auf eindrucksvolle Weise überwiegt. Es dominieren Motive wie Dunkelheit (»buio«), Larve (»larve«), Vorhölle (»limbi«), Blässe (»bianca«) und Langsamkeit (»lenta«), die auf den Tod verweisen. Mit der Höhle (»speco«) und dem Grabstein (»pietra sepolcral«) kommen Todesmotive vor, die sich auf den Prätext beziehen. Dieser Befund überrascht, wird doch das Thema der Auferweckung von den Toten und einer Rückkehr ins Leben behandelt (»al sol dei viventi egli tornò«). Davon zeugt die Insistenz auf das Motiv der Wiederkehr, die sich darin zeigt, dass das passato remoto »tornò« in drei aufeinanderfolgenden Versen wiederholt wird und dabei an syntaktisch drei verschiedenen Stellen auftaucht: am Satzende, in der Mitte und am Satzbeginn. Doch nur das erste Terzett entwirft ein positives Bild der Rückkehr ins Leben, indem es beschreibt, wie Lazarus zu seinen Schwestern zurückkehrt, wo ihn die früheren Annehmlichkeiten erwarten (»dolcezza«, »colloquii«). Damit wird ein Aspekt thematisiert, der in der Bibel ausgespart bleibt, da man dort nicht erfährt, wie es Lazarus nach seiner Auferweckung ergangen ist. Durch die Alliteration ›la‹ und die jeweilige Positionierung am Versanfang wird Lazarus mit einer Larve in Relation gesetzt (»Lazzaro« – »larva«, Vers 2 und 3). Die Metapher der Larve verweist auf einen Zustand der Latenz. In ihr drückt sich die Zerrissenheit des Lazarus aus, der als Toter zu den Lebenden
sind u.a. Emilio Praga, Ugo Tarchetti und Arrigo Boito. Eine Einordnung der Scapigliati ist schwierig, da sie sich durch große Heterogenität auszeichnen, zwischen regelkonformem und regelwidrigem Schreiben stehen, ihre Werke Versatzstücke aller Art kombinieren, intermediales und intertextuelles Arbeiten im Vordergrund stehen und außerdem kein poetologisches Programm vorliegt (Schrader 2013: 7ff.).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
zurückkehrt. Durch die Wiederholungen und Repetitionsfiguren40 entsteht ein Eindruck von Zirkularität und Ausweglosigkeit, der in Verbindung mit den zahlreichen Todesmotiven deutlich macht, dass der Tod ein immerwährender Zustand ist, dem man nicht entrinnen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Erweckung des Lazarus noch wundersamer. Lazzaro stellt in dem Gedicht eine Gegenfigur zum modernen Menschen dar und dient dazu, die Gottverlassenheit einer ganzen Epoche zu symbolisieren. Denn während jener durch Gott erlöst wird, bleibt dieser in seiner aussichtslosen Situation gefangen. Der religiöse Mythos der Auferstehung funktioniert hier ex negativo, da er aufzeigt, dass die Gegenwart nicht länger anhand früher geltender Modelle erklärt werden kann und ehemalige Sicherheiten wegfallen. Damit folgt das Gedicht Cameranas Aufruf, die Kunst von alten Mythen und traditionellen Erzählmustern zu befreien, um stattdessen die zeitgenössische Wirklichkeit zu beschreiben.41 Anhand der LazarusMetapher wird offengelegt, dass religiöse Mythen in der Moderne ihre Gültigkeit verloren haben. Sebastiano Sattas (1867–1914) Lazarus-Gedicht Natale di Lazzaro (1903) gehört zu der Reihe Antelucane und erscheint 1910 in der Sammlung Canti barbaricini. Das Gedicht ist das erste von dreien, in denen Satta das Leben seines Freundes,
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Neben lautlichen Ähnlichkeiten wie Lautüberschneidungen (»la«, »arv« in »Lazzaro«, »comparve«, »larva«, »larve«, »apparve«) und der Konzentration auf den Vokal a, fallen die zahlreichen Repetitionsfiguren in den ersten beiden Strophen auf. In Vers drei verbinden sich Epanalepse bzw. Repetitio und Kyklos (»Larva […] larve«, »bianca fra le bianche«), wodurch die Todesthematik in den Vordergrund rückt. Während an entsprechender Stelle das Wort ›larve‹ im zweiten Quartett als verzögerte Epipher wiederkehrt, sind die Versanfänge in Zeile fünf und sieben parallel gestaltet. Auf diese Weise werden Lazarus und die Larve inhaltlich und lautlich präsent gehalten. Vgl. Camerana, Giovanni (1869): »Pubbliche esposizioni di belle arti. Società promotrice in Torino«, in: Arte in Italia, S. 77, 130. Zitiert nach Schrader, Sabine (2006): »Neue Mythen – Alte Medien? Zum ›Malerischen‹ in den Gedichten von Giovanni Camerana«, in: Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hg.): Alte Mythen – Neue Medien. Heidelberg (Winter), S. 19–31, S. 19f. und zur Einordnung Cameranas in die Scapigliatura sowie zu seinen Forderungen für eine neue Kunst abseits der klassischen und nationalen Mythen s. ebd.: 19ff., 30. Zur Protesthaltung der scapigliati insgesamt und der Cameranas vgl. ferner Finzi, Gilberto (1968): »Introduzione«, in: Camerana, Giovanni: Poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Torino (Einaudi), S. V–XXI, S. Vff.
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dem Bildhauer Francesco Ciusa, beschreibt.42 Meiner These nach steht Lazzaro in dem Gedicht jedoch nicht nur repräsentativ für den erfolglosen Künstler, dessen Werk von der Gesellschaft nicht anerkannt wird, sondern für die Ablehnung und Marginalisierung ganz Süditaliens im Zuge des Risorgimento und danach.43 Hier werden die ersten beiden Strophen des Gedichts wiedergegeben, das insgesamt aus zwei Sonetten (I, II) besteht: Vedi? è Natale: scende dai pertugi Del soffitto la luna e imperla un velo Sull’insonne occhio tuo. Negli stambugi, Se c’è la luna, vi si addoppia il gelo. Odi? Rombano, cantan con anelo Empito le campane, e tu trangugi Fiele, ed i tuoi pensier, neri segugi Arrandellati, abbaian contro il cielo. […]44
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Vgl. den Kommentar in Satta, Sebastiano [1903] (1993): »Il Natale di Lazzaro«, in: Canti barbaricini. Hg. v. Anna Luce Lenzi. Modena (Mucchi), S. 105–106, S. 105 sowie Manca, Dino (Hg.) (2020): Storia di Sardegna. I grandi personaggi. Sebastiano Satta. Sassari (La nuova Sardegna), S. 187. Vgl. dazu auch Lenzi, Anna Luce (1993): »Un poeta italiano di Barbagia«, in: Satta, Sebastiano: Canti barbaricini. Hg. v. Anna Luce Lenzi. Modena (Mucchi), S. IV–XXVI, S. XIII, XXf. Man kann die Lazarus-Metapher bei Satta außerdem als Bezug auf die marginalisierte Gesellschaftsschicht der neapolitanischen lazzaroni interpretieren. Näher zu diesen s. Croce, Benedetto (1912): La rivoluzione napoletana del 1799. Biografie, racconti, ricerche. Bari (Laterza), S. 28ff. Der pejorativ gebrauchte Begriff lazzarone mit der Bedeutung ›Schurke‹, ›Gauner‹, ›Lump‹ findet im 18. Jahrhundert eine weite Verbreitung, um die neapolitanischen Arbeiter zu bezeichnen. Näher zur Etymologie und Bedeutung von lazzarone: »lazzarone«, s.m. ›mascalzone, canaglia‹ […]. Accr. (diffusosi nel Settecento, nel sign. spreg. di ›appartenente al proletario napoletano‹ […] del nap. lazzaro (in sp. lázaro), nomignolo affibbiato dagli Spagnoli al plebeo, che seguiva Masaniello, applicando il sign. di ›pezzente‹, sviluppatosi in Spagna da quello orig. di ›lebbroso‹ […]«; »ladro, s.m. ›chi ruba o compie furti‹ (sec. XIII) […], agg. ›che ruba‹ (av. 1375, G. Boccaccio), fig. ›pessimo, brutto‹« […]; »ladrone«, s.m. ›ladro incallito, astuto‹, ›masnadiero, grassatore‹ (latrone) […]. Lat. latrone (m) ›brigante, grassatore‹«. Cortelazzo, Manlio/Zolli, Paolo (Hg.) (1983): Dizionario etimologico della lingua italiana. 3/I–N. Bologna (Zanichelli), S. 658, 646. Satta, Sebastiano [1903] (1993): »Il Natale di Lazzaro«, in: Canti barbaricini. Hg. v. Anna Luce Lenzi. Modena (Mucchi), S. 105–106, S. 105.
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Die tradierte Gedichtform des Sonetts gibt den Rahmen für eine Sozialkritik ab, die in Anlehnung an das Vorbild des Bettlers Lazarus aus dem Lukasevangelium formuliert wird.45 Im Mittelpunkt steht ein einsamer Lazzaro, der von der Gesellschaft ausgeschlossen ist. Während alle anderen gemeinsam Weihnachten und die Geburt Jesu feiern, befindet sich Lazzaro in seinem zugigen ›Kabuff‹ (»stambugi«) oder draußen in der kalten Nacht und hegt Groll (»fiele«). Es gibt ein Weihnachten, das die spießigen Bürger und Kleinbürger feiern (»Borghesi e filistei parlan fra loro/Di Gesù nato«), und es gibt ein einsames Weihnachten für Lazzaro, das ihm seine Ausgeschlossenheit noch mehr vor Augen führt. Durch den Kontrast, den die kurzen an ihn gerichteten deiktischen Fragen »Vedi?«, »Odi?« und die sich daran anschließenden längeren Sätze bilden, wird auf stilistischer Ebene deutlich, wie groß die Kluft zwischen Lazzaro und den anderen ist. Denn die syntaktische Knappheit der Fragen, die aus einem einzigen Wort bestehen, kontrastiert mit den melodischen und durch Enjambements, Alliterationen und Wiederholungen verbundenen Versen. Die betonte Form des »tu« verstärkt diesen Gegensatz. Die Verbindung von Weihnachten (»Natale«) und Lazzaro, die dem Gedicht seinen Titel gibt, ist ungewöhnlich, da Lazarus normalerweise die Tauschfigur für Jesu Tod und nicht für seine Geburt ist.46 Durch das Motiv des velo, das wie sudario auch ›Schweißtuch‹ bedeuten kann, wird eine Verbindung zum Lazarus aus dem Johannesevangelium geschaffen (Joh 11,44). Der Hund (»neri segugi«) wiederum ist ein Rückverweis auf Lukas und zugleich Ausdruck für Einsamkeit, Unwohlsein, Melancholie und Protest. Dieser gilt vor allem dem ›Himmel‹ (»abbaian contro il cielo«)47 und damit dem symbolischen Ort, an dem sich Gott
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Zu Sattas politischer Einstellung und seiner Nähe zum Sozialismus s. Lenzi 1993: XIff. und Lenzi, Anna Luce (1993a): »Nota biografica«, in: Satta, Sebastiano: Canti barbaricini. Hg. v. Anna Luce Lenzi. Modena (Mucchi), S. XXIX–XXXI, S. XXIXf. Zu sozialen und humanitären Aspekten in Sattas Gedichten, die oft mit satirischen Elementen verknüpft werden, vgl. Romagnino, Antonio (1988): »La socialità nella poesia di Sebastiano Satta«, in: Collu, Ugo/Quacquero, Angela M. (Hg.): Sebastiano Satta: dentro l’opera dentro i giorni. Nuoro (STEF), S. 97–101, S. 98f. Vgl. Frey, Jörg (2005): »Probleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflichter zur exegetischen Diskussion«, in: Frey, Jörg/Schröter, Jens (Hg.): Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament. Tübingen (Mohr Siebeck), S. 3–50, S. 25. Vgl. dazu Lenzis Kommentar zu Satta, Sebastiano (1993): »Il Natale di Lazzaro«, in: Canti barbaricini. Hg. v. Anna Luce Lenzi, Modena (Mucchi), S. 106. Zu den Todesbildern s. ebd.: 106.
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befindet. Das Bild des geschlagenen Hundes, der gegen den Himmel anbellt, steht zum einen für die Auflehnung gegen Gott, das Christentum und seine Traditionen, und zum anderen gegen die soziale Ungerechtigkeit, die – so wird suggeriert – nicht existieren würde, gäbe es einen gerechten Gott. Auch die singenden Kirchenglocken (»campane«), die für die anderen, nicht aber für Lazzaro, das freudige Weihnachtsfest einläuten, sind ein Symbol für die Institution der Kirche und das Christentum. Es zeigt sich, dass die christliche caritas, der gerade an Weihnachten Genüge getan werden sollte, zur hohlen Formel verkommen ist. Insofern wird in dem Gedicht neben der offen ausgesprochenen Sozialkritik eine unterschwellige Kritik an den christlichen Traditionen und Werten geäußert, die verloren gegangen sind. Diese Verbindung von Sozial- und Religionskritik ist bemerkenswert. Denn sie setzt sich von der Botschaft ab, die im Lukasevangelium vermittelt wird. Dort wird Lazarus im Jenseits für seine Leiden auf Erden entlohnt, während der Prasser für die Verletzung des Caritas-Gebots bestraft wird (Lk 16,22–31). Wie die Bilder des Todes und der Verzweiflung (»fantasma«, »ululo estremo«, »disperati volti«; Satta 1993: 105f.) suggerieren, kommt es bei Satta im Tod zu keinem Ausgleich mehr; Gerechtigkeit und die Entschädigung des Lazarus bleiben aus. Die Textanalysen haben demonstriert, dass Lazarus als ein Sprachrohr für die Kritik an Gesellschaft, Politik, Herrschaft und Kirche fungiert.48 Der deutliche sozial-, religions- und machtkritische Impetus, der den Texten innewohnt, stimmt mit einer Beobachtung Iannaccones überein. Sie besagt, dass sich in den Jahrzehnten nach der Einigung Italiens in der italienischen Literatur ein gesellschaftlicher Protest und eine Oppositionsbewegung von einer bisher nie dagewesenen Stärke äußern (Iannaccone 2010: 7f.). Insofern könnte die Rekurrenz auf die Lazarus-Figur Ausdruck für die bewegte Zeit des Risorgimento, seine Folgen und Langzeitwirkungen sein. Die gravierendsten sind die größer werdende soziale Ungleichheit sowie die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Süden und Norden.49 Vor diesem Hintergrund ist der häufige Bezug auf 48
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Die negative Stilisierung der Lazarus-Figuren und die Verurteilung der Auferstehung in den Gedichten kontrastiert mit der positiven Bewertung, die dem Wunder im Christentum üblicherweise zukommt. Hierzu zählt auch der Aspekt, dass die Auferstehung des Lazarus im Christentum stets mit Gottes Willen vereinbar erscheint und deshalb als richtig angesehen wird (Jankrift 2016: 52). Vgl. dazu Asor Rosa, Alberto (2009): Storia europea della letteratura italiana. III. La letteratura della Nazione. Torino (Einaudi), S. 6ff. und näher zum geschichtlichen Kontext Lill
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den Bettler Lazarus aufschlussreich, da er als allegorische Auseinandersetzung der Dichter mit Massenarmut, Hunger und Unterdrückung der Armen gelten kann. Im Anschluss an Butlers Begriff der ›Verwerfung‹ (foreclosure) als ein konstitutives Außen, das in der Gesellschaft verdrängt, gesperrt und verschwiegen wird, und im Sinne ihrer Notion der ›figuralen Gestalt‹, die zwar lebt, von der Gesellschaft jedoch nicht als Leben anerkannt wird, sind die Lazarus-Figuren und ihre geschwächten, malträtierten Körper Ausdruck normativer Kategorien, anhand derer in einer Gesellschaft über die Wertigkeit von Leben entschieden wird. Als soziale Randfiguren stellen sie Macht- und Ausschlussmechanismen infrage und markieren Zonen des Nicht-Lebbaren. Während die Referenz auf das Lukasevangelium dazu dient, die soziale Ungerechtigkeit in Italien anzuprangern, verfolgt die Auseinandersetzung mit dem Johannesevangelium einen anderen Zweck: Die religionskritische Umgestaltung der biblischen Lazarus-Episode legt nahe, dass die Institution der Kirche in Misskredit geraten ist und die biblischen Wundererzählungen nicht länger Trost und Hoffnung spenden können. Die Gedichte zeigen die Notwendigkeit auf, sowohl neue Erklärungs- und Deutungsmuster (Camerana) als auch innovative poetische Schreibweisen zu finden (Guerrini). Auffallend ist, dass gerade die strenge Form des Sonetts ein bevorzugtes Mittel darstellt, um auf verschiedene Weise mit der literarischen und christlichen Tradition zu brechen.
2. Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit 2.1 Auferstehungsmythen im italienischen Drama der Zwischenkriegszeit bei Borgese, Gallian und Pirandello Für das italienische Drama der Zwischenkriegszeit sind drei Autoren hervorzuheben, die sich mit ihren Werken auf Lazarus beziehen: Luigi Pi1980: 91ff. Zum politischen, sozialen und kulturellen Klima in Italien in der Zeit nach der Einigung und zu Protesthaltungen verschiedener Dichter in ihren Werken s. Iannaccone 2010: 8ff., 23. Zur Stellung des Südens vor und nach der Vereinigung sowie zur Auseinandersetzung süditalienischer Intellektueller mit den Problemen in ihrer Heimat vgl. ferner Lenzi 1993: XIIf. – Ein weiteres Gedicht mit Lazarus-Bezug ist A Gesù (1896) von Monticelli. Auch darin wird mit der Lazarus-Figur nach dem Vorbild des Lukasevangeliums operiert, um die Kluft zwischen Arm und Reich aufzuzeigen. Vgl. Monticelli, Carlo (1896): »A Gesú«, in: Canti sociali, zitiert nach Iannaccone 2010: 155f., 222.
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randello (1867–1936), Giuseppe Antonio Borgese (1882–1952) und Marcello Gallian (1902–1968). Bemerkenswert ist, dass die Lazarus-Figur sowohl bei antifaschistischen (Borgese) als auch faschistischen (Gallian) bzw. mit dem Faschismus sympathisierenden Autoren (Pirandello) vorkommt. Meine These ist, dass die Metapher verwendet wird, um gegensätzlichen politischen Haltungen Ausdruck zu verleihen. Mit seinem Drama Lazzaro (1926) behandelt Borgese das Thema der Auferstehung des Lazarus und ihrer Folgen aus zunächst rein christlicher Sicht.50 Dabei orientiert er sich deutlich am Prätext,51 verändert ihn aber zugleich, indem er unterschiedliche Quellen miteinander verknüpft und verschiedene Mythen fusioniert. Die These lautet, dass Borgese Alternativdiskurse schafft, für einen offenen und innovativen Umgang mit der Tradition plädiert und vor einem unreflektierten Umgang mit den Helden- und Erfolgsnarrativen von Gewalt und Repression warnt, wie sie in Mythen tradiert und später im Faschismus instrumentalisiert werden. Die Handlung des Dramas setzt nach Lazzaros Tod ein. Im Prolog wird geschildert, wie er beweint wird. Während Marta und Agar trauern, erweckt Maria Unmut, da sie keine Trauer anlegen will: »Mi vestirò a lutto quando saprò che mio fratello è morto.«52 Sie weigert sich, den Grabeingang zu verschließen und verstößt damit gegen geltende Riten und Gesetze.53 Denn insgeheim
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Eine Analyse des Dramas aus Sicht der Gender Studies wäre lohnenswert, da mit Maria und Agar ›starke‹ Frauen vorkommen, die sich ihren sozialen und genderspezifischen Rollen widersetzen. – Borgeses Werk Risurrezioni (1922) ist trotz seines vielversprechenden Titels nicht relevant. Es enthält vielmehr literaturkritische Analysen italienischer Werke und Autoren ab dem 19. Jahrhundert. Dafür belegt es, dass sich Borgese mit Mythologie befasst, ein Aspekt, der für Lazzaro ausschlaggebend ist. Vgl. Borgese, Giuseppe Antonio (1922): Risurrezioni. Firenze (Francesco Perrella), S. 123ff. So stellt er dem Prolog und jedem der insgesamt drei Akte Originalzitate aus dem Johannesevangelium voran, verortet die Handlung in derselben Zeit, in der die Auferstehungsepisode spielt, und integriert sowohl Geschehnisse als auch Personen, von denen im Johannesevangelium berichtet wird (Jesus, Lazarus und dessen Schwestern Maria und Marta, Pontius Pilatus u.a.). Daneben kommen nur wenige handlungstragende fiktionale Figuren vor, so etwa Agar, die bei Borgese Lazzaros spätere Ehefrau darstellt. Borgese, Giuseppe Antonio (1926): Lazzaro. Un prologo e tre atti. Milano (Mondadori), S. 22. Aus Gründen der Platzersparnis werden die Regieanweisungen nicht zitiert. Hier entfernt sich Borgese vom Prätext, in dem geschildert wird, dass das Grab schon verschlossen ist. – Das Wort legge ist ein Leitmotiv in dem Drama. In der Weigerung, sich den Gesetzen der Bestattung zu beugen, und in dem Konflikt, der daraus mit ihrer
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
hofft Maria, dass Jesus kommen und ihren Bruder wiedererwecken möge, was kurz darauf tatsächlich geschieht und als Botenbericht erzählt wird (Borgese 1926: 50). Um den wiedererweckten Lazarus nicht zu verunsichern, der glaubt, dass er nur lange geschlafen habe (»È stato lungo il sonno«, ebd.: 55), wird ihm verheimlicht, dass er tot war.54 Anders als in der Bibel wird das Missverständnis nicht sofort geklärt, sondern bewusst aufrechterhalten. Doch Lazzaro stößt bald auf die Wahrheit:55 Ero morto? […] Uh! nel mio sepolcro ho dormito… Nel delirio… così di notte… nel mio proprio sepolcro m’ero chiuso… ossesso… preda del demonio! Maledetta mia carne! Che nessuno veda mia vergogna! Che nessuno mi tocchi, contaminato!… Agar! (ebd.: 60f.) Die Ausrufe und elliptische Sprechweise machen den inneren Aufruhr und das Entsetzen deutlich, die Lazzaro erfassen, nachdem er versteht, dass er tot war und wiedererweckt wurde. Die zahlreichen Auslassungszeichen zeigen, dass Lazzaro von einer Erfahrung spricht, die ihm unverständlich und unzugänglich ist und für die er keine Worte findet. Die Motive des Fluchs (»maledetta«), des Teufels (»demonio«) und der Schande (»vergogna«) verdeutlichen, wie negativ er das Geschehene bewertet. Er fühlt sich kontaminiert (»contaminato«)
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Schwester erwächst, erinnert Borgeses Maria an Sophokles’ Antigone, die mit Kreons Gesetzen und ihrer Schwester Ismene in Konflikt gerät, da sie ihren Bruder beerdigen und damit dem Gesetz der Götter gerecht werden will. Vgl. Sophokles (2002): »Antigone«, in: Tragödien. Übersetzt v. Wolfgang Schadewaldt. Hg. v. Bernhard Zimmermann. Düsseldorf/Zürich (Artemis&Winkler), S. 133–190, 133ff. Da Maria, Marta und Agar wiederholt von Schlaf anstatt von Tod sprechen (ebd.: 56f., 62), wird an die metaphorische Sprechweise angeknüpft, die Jesus im Johannesevangelium seinen Jüngern gegenüber verwendet, wenn er über den Tod des Lazarus spricht (Joh 11,11). So ganz kann Lazzaro seinen Schwestern nicht glauben, dass er nur schlief, und fragt: »Così, vestito come un re, […] profumato di nardo, dormivo! Da quanto tempo? Dite…« (Borgese 1926: 56). Anders als im Prätext stinkt Lazarus nicht, sondern duftet. Durch den Nardengeruch wird die Nähe zwischen Lazzaro und Jesus unterstrichen, da dieser bei seinem zweiten Besuch von Maria gewaschen wird und dann ebenfalls nach Narde duftet. Mit dieser Szene spielt Borgese auf die Salbung und Fußwaschung Jesu durch Maria an (Joh 12,1). Zugleich wird hervorgehoben, dass Lazzaro wohlhabend ist. Er gilt als der reichste Mann in der Umgebung und kann sich das Öl leisten, das, wie schon in der Bibel steht, sehr kostbar ist (Borgese 1926: 224ff.).
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und begreift sogleich, dass er von nun an ›anders‹ ist und sich von den Menschen fernhalten muss (»nessuno«). Zu Beginn des ersten Akts erfährt man, dass Lazzaro mittlerweile geheiratet hat. Er lebt mit seiner Frau Agar und seinen Schwestern isoliert in seinem Haus, das ihm zum Gefängnis geworden ist (ebd.: 51). Allein die Nennung seines Namens verursacht bei ihm Unwohlsein, da er sich an Jesu Ruf erinnert fühlt (ebd.: 84, 134, 172). Agar beschwert sich bei ihm, dass Maria Gerüchte streuen würde: »dice che eri morto e che il mago di Nazaret ti ha suscitato dai morti« (ebd.: 83). Die Gerüchte schüren Verdacht und Neugier unter den Menschen, die von Lazarus wissen wollen, was er im Totenreich gesehen hat (ebd.: 80), doch er kann sich nicht erinnern (ebd.: 133). Der Hohe Rat (Sinedrio) sieht die allgemeine Ruhe gefährdet und will das Volk, das zunehmend an das Wunder (»miracolo«) und den ›jüdischen Verführer‹ glaubt, wieder unter Kontrolle bringen und den Skandal beenden (ebd.: 95). Einige seiner Vertreter suchen Lazzaro auf und wollen ihn dazu bewegen, zuzugeben, dass die Auferweckung eine Farce war und Maria ihn in Wirklichkeit lebendig im Grab eingeschlossen hat, um das Volk zu täuschen (ebd.: 130, 137). Sie werfen ihnen den ketzerischen Glauben an Jesus und Gesetzesbruch vor. Lazzaro befindet sich in einer Zwickmühle: Gesteht er, von Jesus wiedererweckt worden zu sein, so muss er sich vor dem Hohen Rat des Gottesverrats bezichtigen lassen und riskiert, getötet zu werden (ebd.: 128). Verleugnet er Jesus, gibt er ihn seinen Verfolgern preis (ebd.: 131ff.). Lazzaro wird also eine gewaltige Verantwortung übertragen, die er in der Bibel so nicht hat. Er wird zu einem wichtigen Entscheidungsträger bei der Frage, ob Jesus getötet wird.56 Der Akt endet damit, dass ein Pharisäer versucht, Lazzaro zu töten, dem es 56
Außerdem stilisiert ihn Borgese zu einem ›Auserwählten‹, zu einem Hoffnungsträger für das jüdische Volk, indem er ihn als Lazzaro Asmoneo zum Sohn Eleasars (Eleazàr) und zum letzten Überlebenden des jüdischen Herrschergeschlechts der Hasmonäer (Asmonei) macht, das Herodes ausgelöscht hat: »Tu eri il superstite, Lazzaro Asmoneo, ed eri la speranza« (ebd.: 119). Hier werden die Figur des Lazarus aus dem Johannesevangelium, Personen aus weiteren biblischen Geschichten (1. Makk 2,15–30) sowie der historische Kontext miteinander verknüpft und darüber hinaus mehrere Evangelien fusioniert. Denn Herodes kommt bei Matthäus und Markus, nicht aber bei Johannes vor. Eine weitere biblische Figur, die Borgese einflicht und mit der Geschichte um Lazarus verwebt, ist Salome: Maria wird vorgeworfen, mit Salome, die aus der inzestösen Verbindung ihrer Mutter Herodias mit Herodes Antipas stamme, getanzt zu haben (Borgese 1926: 138). Dadurch erhöht sich ihr Frevel, denn sie sündigt nicht nur gegen den ›wahren‹ und ›einzigen‹ Gott, indem sie an Jesus glaubt, zudem ist sie, so der indirekte Vorwurf, am Tod Johannes’ des Täufers mitverantwortlich, der auf Befehl des He-
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
gelingt, sich zu verteidigen und die Männer zu verjagen: »Mio è questo sangue che scorga. Mia è la vita. Io vivo!« (Borgese 1926: 141). Die Verteidigung des Lebens ist ein symbolischer Akt und suggeriert, dass Lazzaro zu alter Stärke zurückfindet. Doch er wehrt sich gegen sein Schicksal. Auf Marias Warnung, er habe das Wohl Jesu in der Hand, antwortet er: Che? questo? su me il peso di questo destino? della vita di quello che chiamate il Cristo io… arbitro? […] Quale delitto avevo dunque commesso prima d’essere generato perché divenissi più immondo di Giobbe, io… morto risuscitato, fiato pestifero di un sepolcro aperto? […] Perché, se è vero ch’io sono… risuscitato, e, al contrario, Gesù, come tu dici […] muore, sono io dunque il Cristo figliuolo di Dio? Io lo risusciterò? E se egli pure risuscita, sono io suo pari e fratello, un altro figliolo di Dio? Ecco dunque la bestemmia. Ed era meglio morire che vivere pieno del demonio (ebd.: 171, 176f.). Lazzaro wird mit Jesus gleichgesetzt und ironisch als ein weiterer Sohn Gottes bezeichnet.57 Seine Auferweckung und die Bürde, über Jesu Leben oder Tod richten zu müssen (»arbitro«) und an sein Schicksal gebunden zu sein, empfindet Lazzaro als Fluch und Gotteslästerung (»bestemmia«). Dabei lässt er Zweifel an Jesus erkennen (»quello che chiamate il Cristo«) und bezeichnet sein neues Leben als dämonisch (»del demonio«) und verpestet (»pestifero«). Er empfindet es als Last (ebd.: 179) und fragt sich, welches Verbrechen (»delitto«) er begangen habe, um auf diese Weise bestraft zu werden. Die zahlreichen Fragen lassen sein Unverständnis und seine Ohnmacht deutlich werden.58 Am Ende des zweiten Akts erscheint Jesus Lazzaro als Vision und er bittet ihn, ihn sterben zu lassen (»O Cristo, fammi morire per sempre«, Borgese
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rodes nach Salomes Tanz enthauptet wird (Mk 6,22–28). Auch hier schreibt Borgese die biblischen Geschichten um und schafft Verbindungen, die im Prätext nicht bestehen. Damit könnte Borgese auf die bibelexegetische These anspielen, die in Lazarus eine Tauschfigur für Jesus sieht (Frey 2005: 25). Wie schon Govoni lässt Borgese Lazzaro als Tauschfigur für Jesus auftreten: »mentre quello che gli ha reso il respiro e gli ha svegliato il sangue nelle vene dice che la sua vita non è più sua« (Borgese 1926: 153; andere Stellen sind ebd.: 198, 205). Borgese übernimmt eine weitere typische Stilisierung, da er Lazzaro als Sünder auftreten lässt (ebd.: 132, 153). Schließlich vergleicht sich Lazzaro mit dem alttestamentarischen Hiob (italienisch Giobbe; ebd.: 183, 191), den Gott durch mehrere Strafen prüft und der ein Symbol für großes Leid und Gottesfurcht ist (Hiob 1–37). Indem Borgese die alttestamentarische Hiobsgeschichte mit der Auferstehungsepisode vermischt, fusioniert er verschiedene biblische Figuren und Erzählungen auf innovative Weise.
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1926: 210). Der dritte Akt spielt nach der Kreuzigung und Auferstehung Christi. Agar bittet Lazzaro darum, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Nun hält ihn nichts mehr in Bethanien und er verlässt es zusammen mit Maria und Marta. Sie erhalten Kunde, dass Christus in den Himmel aufgestiegen ist, und preisen ihn. Doch ist das Ende allzu plakativ: Lazzaro hat seine Zweifel offenbar beseitigt und sich in sein Schicksal gefügt, obwohl er Agar verloren hat (ebd.: 239). Die letzten Worte des Stücks besiegeln seinen Glauben an Christus (»Io credo. Il Cristo è in me. Io sono tuo, Gesù«, ebd.: 260f.) und markieren eine Kehrtwende, die jedoch nicht zu überzeugen vermag. Stattdessen schafft Borgese mit Lazzaro eine ambivalente Figur, die sich nicht so recht in den christlichen Diskurs fügen will, den das Drama vordergründig aufwirft.59 Denn obwohl sich Borgese am Prätext orientiert, schreibt er den Bibeltext um. Dies geschieht, indem er sich auf zahlreiche historische und biblische Figuren und Vorkommnisse bezieht, sich unterschiedlicher Quellen (Bibel, Tora, Mythologie, Historie, Philosophie) sowie bekannter Mythen (Auferstehungsund Erlösermythos, Satan, Engel, Mythos des Großen Roms) bedient und diese auf ungewöhnliche Weise miteinander in Relation setzt.60 Exemplarisch für 59
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Daher ist seine Version der biblischen Auferstehungsgeschichte nicht unbedingt ›christianisierend‹, wie d’Amico behauptet. D’Amico, Alessandro (2007): »Notizia«, in: Pirandello, Luigi: Maschere nude. Vol. IV. Hg. v. Alessandro d’Amico. Milano (Mondadori), S. 161–177, S. 166. In dem Stück treten biblische Geschichten und Figuren aus dem Alten und Neuen Testament auf (Adam, Abraham, Herodes, Hiob, Mose, Ruth, Procula u.a.), ferner aus den Apokryphen (Salomon, Tochter der Herodia (=Salome)) und der Tora (Hillel). Darüber hinaus werden Figuren aus der griechischen und römischen Mythologie (Orpheus, Venus, Adonis, Herkules, die Sibyllen), historische Figuren (Herodes, Cäsar, Pontius Pilatus, seine Frau Claudia (Procula), das Geschlecht der Hasmonäer) und zahlreiche Orte verwendet, die aus der Bibel bekannt sind (Golgata, Jericho, Bethanien, Jerusalem u.a.) oder aus der Mythologie (Zypern). Zudem integriert Borgese musikalische Elemente aus der jüdischen Volkstradition wie Noten, Melodien und Liedtexte (Borgese 1926: 16, 159f.). Auch der Mythos des unbesiegbaren großen Roms wird bedient und es werden Personen genannt, die zum antiken Rom und dem Imperium gehören wie Augustus, Antonius und Tiberius (ebd.: 195ff.). Wie am Beispiel der biblischen Figur Lazarus, der das Christentum repräsentiert, der römischen Claudia, die das antike Rom vertritt, und der paganen Figur Agar, die aus Zypern stammt und für die Mythologie steht, belegt werden kann, verbindet Borgese unterschiedlichste Bereiche (zu Claudia und Agar s. ebd.: 193ff., 232ff.). Zwar überwiegen starke und mächtige Persönlichkeiten wie biblische Stammesväter oder römische Kaiser, jedoch erscheinen diese nur im Hintergrund, während Borgese die vermeintlich schwächeren oder einfache, volksnahe Figuren als moralische Sieger hervorgehen lässt, weswegen hier der Heldendiskurs
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
das Verfahren der Mythenfusion ist die Verbindung christlicher und mythologischer Auferstehungsmythen.61 Durch diese komplexe Gemengelage aus verschiedenen Intertexten und Mythen zum Thema der Auferstehung widersetzt sich Borgese komplexitätsreduzierenden Sichtweisen auf diesen Mythos und seiner einseitigen und demagogischen Auslegung, wie sie etwa durch die faschistische Propaganda unter Mussolini erfolgt. Darüber hinaus nimmt Borgese mit seinem Lazarus-Drama den aufkommenden Faschismus vorweg. In Goliath. The March of Fascism (1937), das im amerikanischen Exil entsteht,62 bringt er den Faschismus mit Mythen in Verbindung, die schon mit dem antiken Rom, dem Christentum und dem italienischen Dichtervater Dante geschaffen wurden; zugleich behauptet er,
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durchbrochen wird. – Zum bedenklichen christlichen bzw. gnostischen Erlösermythos vgl. Frey, Jörg (1997): Die johanneische Eschatologie. Band I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus. Tübingen (Mohr), S. 118. So bezieht sich Borgese auf die alt- und neutestamentarischen Auferweckungsgeschichten von der Tochter des Jaïrus (Mt 9,23–26, Mk 5,39–43, Lk 8,39–56), die Erweckung des Sohnes der Witwe von Sarepta durch den Propheten Elia (1. Kön 17,17–23) und die Auferweckung des Lazarus (Joh 11) (Borgese 1926: 86, 135). Er verweist mehrfach auf den Orpheus-Mythos, der aus der griechischen Mythologie stammt (ebd.: 36, 135f.), verwendet den Begriff der Palingenese (palingenesi) (ebd.: 195) und erwähnt mythologische Götterfiguren, die aus dem Totenreich wiederkehrten (ebd.: 193). Schließlich referiert er auf den von Platon im 10. Buch der Politeia beschriebenen Mythos des armenischen Kriegers (ebd.), der nach 12 Tagen von den Toten aufersteht und vom Jenseits berichtet. Der Platon-Verweis erfolgt indirekt durch die Figur der Claudia. Zu Platon s. Platon (2000): Der Staat. Politeia. Griechisch-deutsch. Übersetzt v. Rüdiger Rufener. Hg. v. Thomas A. Szlezák. Düsseldorf/Zürich (Artemis&Winkler), S. 867/614e: »Ich werde dir indes, so fuhr ich fort, nicht eine Geschichte erzählen, wie sie Alkinoos zu hören bekam, sondern die eines tapferen Mannes, des Er, der ein Sohn des Armenios war und aus Pamphylien stammte. Dieser Er war im Kriege gefallen. Als man nun nach zehn Tagen die schon verwesten Leichen aufhob, da fand man ihn noch unversehrt und brachte ihn nach Hause, um ihn zu bestatten; doch am zwölften Tage, als er bereits auf dem Scheiterhaufen lag, wurde er wieder lebendig und erzählte nun, was er im Jenseits gesehen hatte.« Näher zur Einordnung und Interpretation dieser Passage bei Platon s. Männlein-Robert, Irmgard (2013): »Katabasis und Höhle: Philosophische Entwürfe der (Unter-)Welt in Platons ›Politeia‹«, in: Notomi, Noburu/Brisson, Luc (Hg.): Dialogues on Plato’s ›Politeia‹ (Republic). Sankt Augustin (Academia Verlag), S. 242–251, S. 244. Borgese gilt als dezidiert antifaschistisch; so sei er ein »oppositore ufficiale del fascismo.« Bonnet, Nicolas (2012): »Le ultime cause perse di Giuseppe Antonio Borgese«, in: Laboratoire italien. Politique et société, 12, S. 125–138, S. 125.
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dass der Faschismus diese Mythen, die seit jeher Teil der kulturellen Identität Italiens sind, für seine Zwecke wiederbelebt und instrumentalisiert (Borgese 1937: 45ff., 151ff., 219ff., 306ff.). Mit Blick auf die Interpretation des Orpheus-Mythos in Goliath63 repräsentiert die Auferweckung des Lazarus im Drama eine implizite Warnung: Sie steht für eine Rückkehr in das Alte, das eigentlich beendet sein sollte, und damit für das gefährliche Verharren in der Vergangenheit. Anhand der biblischen Figur des Lazarus übt Borgese Kritik am Umgang Italiens mit seinem politischen, religiösen und kulturellen Erbe. Mit seinem Stück zeigt er auf visionäre Weise, wie die Strategien der Macht, Unterdrückung und Kontrolle, auf denen seiner Ansicht nach der Katholizismus beruht, zugleich Mittel sind, die der Faschismus unter Mussolini zur Anwendung bringen wird (Borgese 1937: 306, 311f.).64 Ein weiteres Drama der Zwischenkriegszeit mit Lazarus-Bezug ist Gallians La casa di Lazzaro (1929), das als politisches Werk interpretiert werden kann.
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»The ancient fable of Orpheus taught the same lesson: the poet who turned his head to look after his spouse, or the memory of the past, which was silently following him, forfeited both her resurrection and his own life« (Borgese 1937: 44). Borgese interpretiert den Orpheus-Mythos als Gefahr, in der Gegenwart zu versagen, wenn man sich nur am Tradierten orientiert und die Geister der Vergangenheit auferstehen lässt: »Both entities [ancient Roman imperialism and the Church] were driven mad by a necromantic obsession, by the impossible desire of resurrecting what was dead« (ebd.: 306). – Zu Borgeses Kritik an der Politik Italiens und dem imperialistischen Vorgehen Mussolinis und außerdem zu den Widersprüchen in Borgeses politischer Haltung s. Bonnet 2012: 125ff. und Borgese, Giuseppe Antonio (1939–1940): »Political creeds and machiavellian heresy«, in: The American Scholar, 9, S. 31–50, dann übersetzt von Giulio Vallese und Teil von Vallese, Gulio (Hg.) (1953): Scritti di sociologia e politica in onore di Luigi Sturzo. Vol. I. Bologna (Zanichelli), S. 211–232, zitiert nach Bonnet 2012: 126. Vgl. ferner Gerbi, Sandro (1997): »Giuseppe Antonio Borgese politico«, in: Belfagor, 52, S. 43–69, S. 45ff. Zu Borgese als Literaturkritiker s. Parisi, Luciano (1999): »La critica militante di Giuseppe Antonio Borgese«, in: Italian Studies, 54, 1, S. 102–117, S. 103ff.; zu seinem Kunst- und Literaturverständnis ebd.: 110ff. In Goliath konstatiert Borgese, dass der Faschismus und die katholische Kirche mit den Lateranverträgen von 1929 eine ungleiche Allianz eingehen: »in the alliance of Fascism with Catholicism, Fascism was the horseman and Catholicism the horse« (ebd.: 313 und vgl. ebd.: 368). Er kritisiert die katholische Kirche aufs Schärfste, da sie sich dem Faschismus andiene (ebd.: 315). Die Religionskritik, die in Lazzaro bereits erkennbar ist, radikalisiert sich in Goliath.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Als der Dreiakter erscheint, ist Gallian überzeugter Faschist.65 Die vertretene These lautet, dass Gallian auf das biblische Thema der Auferstehung zurückgreift, um die Erneuerung und Wiedergeburt Italiens zu propagieren, die der Faschismus verspricht vorzunehmen. Hierbei nimmt er die Bibelepisode zum Ausgangspunkt, um eine dezidiert antichristliche und antibürgerliche Lazarus-Version zu präsentieren.66 Das Stück beginnt damit, dass sich Lazzaros Mutter mit allen Mitteln dagegen wehrt, dass die Totengräber den Leichnam fortschaffen. Sie verweigert nicht nur Gottes Willen oder christliche Erklärungsversuche überhaupt, sondern widersetzt sich dem Tod als solchem, da sie den Tod ihres Sohnes nicht akzeptiert und ihn durch Salben konservieren will (Gallian 1956: 16). Die Figur der Mutter kommt im Prätext nicht vor und wurde von Gallian ergänzt. Sie verschärft das antagonistische Verhältnis der Figuren untereinander und erweist sich als Lazzaros Verbündete. Mutter und Sohn stehen als antibürgerliche, ungläubige und rebellische Figuren den Schwestern Marta und Maria gegenüber, die zunächst christliche Werte zu vertreten scheinen. Doch schon bald zeigt sich, dass Maria falsch und egoistisch ist.67 Mit einer deutlich antireligiösen 65
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Ab 1920 schließt sich Gallian D’Annunzio bei der Besetzung von Fiume an, 1922 nimmt er an Mussolinis Marsch auf Rom teil, und als Sympathisant der faschistischen squadristi unterstützt er deren gewaltsame Aktionen gegen politische Gegner wie Kommunisten, Sozialisten oder das Bürgertum. Er publiziert in faschistischen Zeitschriften und schreibt politische Pamphlete. Zu Gallians Verbindungen zum Faschismus s. Franchi 1989: 210ff.; Colombani 2008: 209ff. und Buchignani, Paolo (1984): Marcello Gallian. La battaglia antiborghese di un fascista anarchico. Roma (Bonacci Editore), S. 19ff., 49ff. Sein politisches Credo widerruft Gallian zeitlebens nicht (Colombani 2008: 209). Auf ästhetischer Ebene ist das Drama ebenfalls interessant, da es intertextuelle Verweise enthält: Marta lacht ständig, selbst bei den unpassendsten Gelegenheiten (vgl. Gallian, Marcello [1929] (1956): La casa di Lazzaro. Roma (L’angioliere), S. 27). Dies erinnert an Eugene O’Neills Drama Lazarus laughed (1925). Darin lacht der wiederauferweckte Lazarus unentwegt und scheinbar ohne Grund. Zum Inhalt und der Interpretation des Stücks s. Hennigfeld 2016b: 134ff. Ein weiterer intertextueller Verweis erfolgt durch einen Bauern, der vor Hunger eine Blume isst (Gallian 1956: 18). Darin ist ein Bezug auf Pirandellos Theaterstück L’uomo dal fiore in bocca (1923) zu vermuten, in dem die Blume eine Metapher für den Tumor und den späteren Tod des Protagonisten ist. Durch die intertextuellen Verweise verhandelt Gallian die Themen von Leben und Tod, um die es in den meisten Lazarus-Texten primär geht, auf einer metapoetischen Ebene. »Voi non sapete che bene mi abbia fatto la morte di mio fratello, un gran bene e lo ringrazio…« (ebd.: 23). Sie richtet ihre Aussage an einen unbekannten Mann (uomo), der sich als Freund von Lazzaro ausgibt, ohne ihn tatsächlich zu kennen. Aufgrund meh-
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Position demontiert Gallian Figuren, die positiv und religiös wirken, und entlarvt auf diese Weise die Scheinheiligkeit des Katholizismus. Am Ende des ersten Akts ertönen zwei Donnerschläge und Lazzaro, den ein Unbekannter (sconosciuto) an der Hand mit sich führt, erscheint: (Lazzaro ha la faccia secca dei morti, una parrucca rossa, un vestito nuovo; le scarpe nuove scricchiolando e, sul vestito, pezzi di fiori e di ghirlande a casaccio. Nella mano, un rosario. Cammina come un automa.) Lazzaro: Luce, luce! (grida cercando di alzare le mani e allora si accorge di avere un rosario attaccato alle dita: scuote la mano come per gettare in terra un serpente) – Che cos’è questo? Sconosciuto: Avrai la luce (gran luce) Ora cosa vuoi? Lazzaro: Ho fame! Tanta fame! […] Fame! (abbraccia la tavola) Chi mi insegna a mangiare e a bere? Ho sete e fame! (ebd.: 24) Es ist davon auszugehen, dass der Unbekannte Jesus darstellen soll. Dieser wird nicht einmal mit einem Namen bedacht, was neben Lazzaros unspektakulärer Auferweckung, die abseits der Bühne stattfindet und in der Regieanweisung abgehandelt wird, sowie der darauffolgenden Verbannung Jesu von der Bühne, deutlich macht, wie unwichtig die Figur ist. Lazzaro ist nicht in Grabtücher gebunden und trägt kein Schweißtuch über dem Gesicht wie im Prätext (Joh 11, 45), sondern hat eine rote Perücke auf dem Kopf und ist mit Blumen und Girlanden geschmückt. Durch diese lächerliche Aufmachung wird die Auferstehung parodiert.68
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rerer Anleihen an die Darstellung im Johannesevangelium kann der Mann als JesusParodie interpretiert werden, auch da er die christlichen Werte der caritas, Barmherzigkeit und des Mitleids ironisiert (ebd.). Außerdem legt ihm Gallian die ketzerische Frage nach Gottes Existenz in den Mund (»Dio? Dio? Dov’è Dio?«, ebd.). Lazzaro erinnert hier aufgrund seiner Erscheinung und seines zunächst holzschnittartigen Verhaltens an eine komische Figur aus den Komödien des Seicento (etwa der Commedia dell’arte). Da bei ihm Körperlichkeit, Leiblichkeit und die triebhaften Bedürfnisse von Essen, Trinken, Schlafen und Sex im Vordergrund stehen, kann er als ein Vertreter des Comödien-Stils (frühe Neuzeit bis Ende des 19. Jahrhunderts) nach Baumbach interpretiert werden und fungiert als sozialkritisches und antireligiöses Moment. Zum Comödien-Stil s. Baumbach, Gerda (2012): Schauspieler. Historische Anthropologie
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Das Zitat beschreibt, wie sich Lazzaro, der vorerst noch ganz unter dem Einfluss Jesu zu stehen scheint (»automa«), emanzipiert, indem er den Rosenkranz (»rosario«) auf den Boden schmettert und sich auf diese Weise von Jesus und dem Katholizismus lossagt. Anhand des Vergleichs mit der Schlange (»serpente«), die im christlichen Kontext für Sünde, das Böse und Verführung steht und auf die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies verweist, erhält der Rosenkranz eine negative Konnotation. Der religiöse Diskurs wird unterminiert und es wird suggeriert, dass der katholische Glaube sündhaft ist. Lazzaro ist wie ein Neugeborenes, das auf die Welt kommt (Gallian 1956: 24) und seinen körperlichen Gelüsten auf dringliche Weise Ausdruck verleiht (»fame!«). Er muss erst wieder lernen, wie man isst und trinkt, da er soziale Konventionen offensichtlich vergessen hat. Im Laufe des zweiten Akts kristallisiert sich immer mehr heraus, dass Lazzaro nach seiner Auferweckung stark verändert ist. In seiner einfachen Sprache und dem infantilen Verhalten gleicht er einem Kind, das die Nähe der Mutter braucht und ständig auf der Suche nach ihr ist (»devo trovare mia madre […]. Dov’è mia madre?«; »provo un strano bisogno di mia madre«, ebd.: 34ff.). Er scheint nach der Auferweckung seine Wurzeln verloren zu haben. Doch ist seine Kindlichkeit nicht rein naiv, sondern kann unmittelbar ins Sexuelle und Gewaltsame umschlagen. Nach seiner Auferweckung verspürt Lazzaro einen unmittelbaren Lebensdrang, der sich in Durst, einem unstillbaren Hunger (»Io ho sempre fame, una fame rabbiosa«, ebd.: 29) und einem unersättlichen se-
des Akteurs. Band 1. Schauspielstile. Leipzig (Leipziger Universitätsverlag), S. 185. Außerdem kann man in Lazzaros Beschreibung eine bizarre Mischung aus Clown, Arlecchino und einer Karikatur des Bürgers erkennen, der zwar neue Kleidung und Schuhe trägt, die auf seinen finanziellen Wohlstand schließen lassen, aber nicht damit umzugehen weiß (»scricchiolano«) und keinen Geschmack besitzt (»a casaccio«). Bereits hier wird Gallians radikale Ablehnung des geldorientierten Bürgertums erkennbar, die sich im gesamten Stück niederschlägt. Zu Gallians Haltung dem Bürgertum gegenüber vgl. Colombani 2008: 211 und Buchignani, Paolo (2012): »Il fascismo rivoluzionario di Marcello Gallian«, in: Cremante, Renzo (Hg.) (2012): L’avanguardia radicale di Marcello Gallian. Bologna (CLUEB), S. 33–82, S. 33. Stagnitti sieht in der Diskreditierung bürgerlicher Werte den Versuch, sich gegen die Literatur des 19. Jahrhunderts zu wenden, die als spießig und bürgerlich abgetan wird. Vgl. Stagnitti, Barbara (2005): »Marcello Gallian tra le pagine di ›900‹«, in: Rivista di letteratura italiana, 23/1–2, S. 423–426, 424f. – Hier sind Verbindungen zwischen Gallian und Ungaretti belegt (s. dazu ferner Franchi 1989: 218f.). Zur profaschistischen Haltung beider Autoren vgl. Colombani 2008: 211.
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xuellen Verlangen äußert.69 Er widersetzt sich Standesgrenzen und verletzt alle gesellschaftlichen, familiären und menschlichen Regeln und Normen zugunsten der Befriedigung seiner triebhaften Gelüste. Diese zeugen von einer neuen Lebenslust, wohingegen die Angst vor der Nacht und dem eigenen Blut (ebd.: 42f.) darauf zurückzuführen ist, dass Lazzaro den Tod fürchtet. Gallian lässt mit Lazzaro buchstäblich einen neuen Menschen erstehen: Lazzaro: […] ma io amo come non ho amato mai. Io desidero tutto, io voglio tutto, anche quel che gli uomini disprezzano, forse quanto gli uomini non vogliono: ché io vedo il mondo nuovo. Vorrei che tutti mi amassero, spaventosamente. […] Non era così prima. Mi sembra anche ch’io debba rimettere in ogni modo un certo tempo perduto (ebd.: 33). Das Zitat belegt Lazzaros schier unersättliche Gier nach dem Leben. Aus einer übergeordneten Position heraus, die ihn von allen anderen Menschen unterscheidet, formuliert er in autoritärem Ton einen Totalitätsanspruch (»tutto«, »tutti«). Besonders fallen hierbei die Betonungen des Ich-Prinzips (»io«) und des Willens (»voglio«) sowie deren Verbindung auf. Die Motive der Veränderung (»non era così prima«, »mai«) und Erneuerung (»nuovo«) weisen auf einen Wandel hin, der im Begriff ist, sich zu vollziehen. In dem Totalitätsanspruch, dem Führerprinzip (»io«, »tutti mi amassero«) und den Motiven des Wandels kann man eine auffällige Nähe zur faschistischen Rhetorik und Symbolik erkennen. Gallian bedient sich zahlreicher Mittel und Motive, die Mussolini in seiner bedeutenden Rede vom 23. März 1919 verwendet,70 mit der dieser zur 69
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Dieses wird v.a. durch dicke Frauen hervorgerufen (»mi piacciono le donne alte, grosse, enormi, da abbattere a pugni d’amore […]. Ingrassate d’amore come ingrossa il fattore le vacche«, ebd.: 30), die Fruchtbarkeit und Lebenslust symbolisieren. Doch auch das magere, schon verlobte Dienstmädchen ist vor Lazzaro nicht sicher, und selbst vor der eigenen Schwester Marta macht er nicht Halt: »vorrei stringerti così e abbracciarti forte ancora e baciarti« (ebd.: 33). Sie wird am 24.3.1919 in der faschistischen Zeitung Il popolo d’Italia gedruckt; verfügbar unter: http://teca.bsmc.it/pub/images/materiale_a_stampa/periodico/Popolo%2 0d%60Italia(Il)/CUB070699; letzter Zugriff: 4.5.2021. Die folgenden Zitate beziehen sich mit der Angabe Mussolini 1919 auf diese Quelle. Die Rede, die Mussolini auf der Piazza San Sepolcro in Mailand hält, bildet die Grundlage des sogenannten Sansepolcrismo, einer frühen Phase des Faschismus (Gentile 2005: 21), dem Gallian nahesteht (Colombani 2008: 209). Der Sansepolcrismo versteht sich als antiklerikal, antidogmatisch, republikanisch und will radikale Reformen durchsetzen (Gentile 2005: 22). Die-
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Bildung der fasci di combattimento aufruft. Er übernimmt von Mussolini folgende Aspekte, die sich allesamt in der Figur des Lazzaro wiederfinden lassen: Individualismus (individualismo), Vitalismus (vita), Wille (volontà), Mut (coraggio), Agitation (agitazione), Aktivität (attività), Wandel (trasformarsi), Revolution (rivoluzione), Erneuerung (rinnovamento), Wiederaufbau (ricostruzione) und Erschaffung (creazione). Darüber hinaus reaktiviert er die Metaphern von Leben (vita) und Blut (sangue) sowie die ablehnende Haltung dem Bürgertum, Vatikan und den Katholiken gegenüber.71 Lazzaro, der eine Schreckensherrschaft nicht ausschließt (»spaventosamente«), etabliert ein neues Weltbild, das sich an den Prinzipien Leben, Wille, Übermaß und am darwinistischen Recht des Stärkeren orientiert. Das Motiv der Auferstehung wird bei Gallian zur Metapher für den Umsturz, den der Faschismus bringen will. Dieser versteht sich als Zäsur und Beginn einer neuen Ära, die durch Lazzaro repräsentiert wird (»mondo nuovo«). Insofern verkörpert Lazzaro als wiederauferstandener Mensch den neuen faschistischen Menschen, der aus Italien eine starke Nation machen und es zu alter Größe zurückführen soll (Mussolini 1919).72
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ser Haltung verleiht Gallian in seinem Drama anhand von Lazzaro Ausdruck. Mussolinis kämpferische Ansage »siamo dei dinamici e vogliamo prendere il nostro posto che deve essere sempre all’avanguardia« (Mussolini 1919), die sich gegen alles Alte und Konservative richtet, und die »dittatura della volontà«, die er mit dem Faschismus errichten will (»noi vogliamo«, ebd.), werden von Gallian auf Lazzaro projiziert (»io voglio tutto«). – Zu Mussolinis wachsender Ablehnung des Bürgertums, das in den späten 1930er Jahren zum erklärten Feind des Faschismus wird, s. Mussolini, Benito (1959): Opera omnia. Vol. XXIX. Firenze (La Fenice), S. 187–188, zitiert nach Franchi 1989: 225. Zunächst verfolgt der nicht gläubige Mussolini eine Strategie der Annäherung an die katholische Kirche, da er sich auf diese Weise Zuspruch in der Bevölkerung erhofft und zugleich einen Weg sieht, die Kirche für seine Zwecke zu instrumentalisieren und seine Macht zu stärken (Gentile 2005: 211). Lazzaro steht insofern für die Wiedergeburt und Umstrukturierung eines ganzen Volkes: »Le fascisme devra travailler à former les futures générations. Il s’agit de créer un Italien nouveau, mais aussi un homme nouveau« (Colombani 2008: 212). Zur faschistischen Vision, einen neuen Menschen zu schaffen, um die Nation zu erneuern, und zu weiteren faschistischen Mythen s. Esposito, Fernando (2015): Mythische Moderne. München (Oldenbourg Wissenschaftsverlag), S. 229 und Gentile 2005: 215f. Gentile beschreibt das Selbstverständnis der squadristi, das Lazzaro zu vertreten scheint: »Lo squadrista incarnava il mito della giovinezza e della vitalità del fascismo contrapposto alla senilità e alla viltà dell’uomo borghese, liberale e democratico, disprezzato perché considerato dubbioso, pavido, tollerante, ipocrita, senza fede, senza vitalità, senza volontà di lotta e di azione« (ebd.: 248). Zum Konnex von verherrlichtem
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Wie wenig vermeintlich Schwächere mit ihren Rechten und Gefühlen bei diesem Prozess wiegen, zeigt die folgende Szene: Lazzaro überrascht mehrere Männer, die eine Frau vergewaltigen wollen. Anstatt der Frau zu helfen, will Lazzaro sie nun selbst vergewaltigen: »Ora tu darai a me quel che tu dài in un giorno a cento del paese […]. Mi darai quel che basterebbe a cento uomini messi assieme. A me solo« (Gallian 1956: 39). Lazzaro ist unersättlich und totalitär; er droht mit unverhohlener Gewalt und maßt sich an, so potent wie hundert Männer zusammen zu sein, was mit dem faschistischen Konzept der Virilität in Zusammenhang gebracht werden kann. Bei den katholischen Prozessionen, die im Dorf abgehalten werden, spielt die Frau die Rolle der Madonna.73 Ihre Vergewaltigung durch Lazzaro ist ein symbolischer Gewaltakt gegen die Frau, die Schwachen und die Religion zugleich; auf allegorische Weise stellt sie dar, wie der Faschismus mit politischen Gegnern verfährt, weswegen die Frau als Allegorie der Italia interpretiert werden kann. Das Stück endet damit, dass Mastro Giovanni, der das Kleinbürgertum, Falschheit und Geldgier repräsentiert, und der Lazzaro töten wollte, Selbstmord begeht: »Avevi ragione, Lazzaro. Ma io non ho la forza di fare quello che fai tu: tu hai una forza che non è tua. Io non so vivere. […] Tu che devi vivere fino alla fine dei secoli, tu che Dio ha chiamato come esempio della sua forza« (ebd.: 54). Der befürchtete Umsturz, in dem man die faschistische Revolution mit der Vernichtung aller bürgerlichen Werte vermuten kann, ist eingetroffen, und Lazzaro fungiert in seiner beispiellosen Stärke (»forza«) als ihr Anführer. Er markiert einen sozialen, politischen und moralischen Neubeginn und die Geburt einer neuen Zivilisation. Das Drama kann als Ausdruck von Gallians Vorstellung von der faschistischen Literatur gelesen werden.74 Neben dem Ideal des superuomo (Colombani
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Individuum, Heroik, Revolte und Gewalt, als ein Mittel, die gewünschte Veränderung umzusetzen, der bei weiteren faschistischen Autoren vorkommt, vgl. Chiantera-Stutte, Patricia (2002): Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931. Frankfurt/New York (Campus Verlag), S. 135. Das Seidenkleid, das sie trägt (ebd.), symbolisiert Unbeflecktheit, Unschuld und Reinheit. Da eine Revolution laut Gallian nicht ohne die Kunst vonstattengehen kann, stellt das Ende, so eine weitere These, die faschistische Revolution des Theaters in Aussicht, die Gallian anstrebt. S. zur Revolution des Theaters bei Gallian Colombani 2008: 209ff. und zu seinem Kunstverständnis Gallian, Marcello (1935): »Storia del fascismo«, in: Mussolini, Benito: La dottrina del fascismo. Milano (Hoepli), S. 41–150, S. 68 (zitiert nach Colombani 2008: 212) sowie: »Io scrivo come fossi in guerra: ho già scritto altrove…
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
2008: 215; Buchignani 1984: 36), der alle Gesetze bricht (Borgese 1937: 220) und der durch Lazzaro repräsentiert wird, zeigen dies deutliche Anleihen an D’Annunzios Lazarus-Drama La figlia di Iorio (1904). Daraus übernimmt Gallian die Macht und Gewalt der Lazarus-Figur, die ländliche Verortung von Handlung und Personen, die Vergewaltigungsszene sowie die Konfrontation von strengem Glauben und antichristlicher Haltung. Überhaupt orientiert sich Gallian politisch und literarisch an D’Annunzio, der eine Art ästhetische Galionsfigur des Faschismus darstellt.75 Pirandellos Drama Lazzaro. Mito in tre atti (1929) stammt aus einer späteren Schaffensphase und gehört zu der Trilogie der sogenannten Mythen (miti), die Pirandello mit La nuova colonia (1928) als sozialen, mit Lazzaro als religiösen
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che la letteratura fascista è questa e nessun’altra, perché sincera, immediata, violenta, nuova«. Gallian, Marcello (1928): I segreti di Umberto Nobile. Roma (Pinciana), S. XV, zitiert nach Franchi 1989: 214. Damit handelt Gallian im Sinne von Mussolini, der sich ab 1932 für die Entstehung einer neuen faschistischen Literatur und Kunst einsetzt (vgl. dazu Colombani 2008: 212). Zum faschistischen Theater und den faschistischen Mythen, die darin zum Ausdruck kommen, s. Santuccio, Maria Elena (2008): »Mito e antimito nell’Italia fascista: La trilogia pirandelliana dei miti e il Teatro Nazionale e Fascista di Propaganda«, in: Italien Studies, 63, 1, S. 85–104, S. 89ff. Typisch für das faschistische Theater sei die christliche Symbolik; so werde etwa das Thema der Wiedergeburt als eine Erneuerung des Protagonisten durch den Faschismus inszeniert, die eintrifft, wenn er sich von einer alten Sünde befreit und Buße getan hat (ebd.: 90). Zu D’Annunzio als Kriegsheld (des Ersten Weltkriegs), seiner Bedeutung für die Gesellschaft, Politik und Literatur seiner Zeit sowie seiner Nähe zum Faschismus s. Esposito 2015: 101f., 110ff. und Gentile: »Per moltissimi fascisti, almeno fino al 1921, il vero duce era D’Annunzio« (Gentile 2005: 138). Zu D’Annunzio als Schöpfer zahlreicher nationaler Mythen, die später zum festen Repertoire der faschistischen Propaganda gehören, s. Santuccio 2008: 87. – La casa di Lazzaro wurde oft als ein religionskritisches Drama eingestuft. Zu den Reaktionen auf die Uraufführung s. Franchi 1989: 229; Buchignani 1984: 20ff. Dabei wird jedoch übersehen, dass es ein brisantes politisches Werk darstellt. Gallian versieht die biblische Geschichte mit einer subversiven politischen Bedeutung. Er handelt damit gemäß Emilio Gentiles These, nach der der Faschismus die Religion politisiert und sich als religione fascista zu eigen macht (Gentile 2005: 217). Aufschlussreich in Bezug auf die Motive der Auferstehung, Erneuerung und kathartischen Reinigung sind Gentiles Beobachtungen zum Eigenverständnis der Faschisten sowie zu ihren Symbolen und Metaphern. Sie begreifen sich als neue Menschen, die durch das Feuer des Kriegs gereinigt und wiedergeboren wurden und nach Jahrhunderten der moralischen Dekadenz ein neues Italien schaffen wollen (ebd.: 215).
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und mit I giganti della montagna (1931) als künstlerischen Mythos verfasst.76 Es steht in Frage, ob das Drama, in dem der Mythos des auferweckten Lazarus reaktiviert wird, in einen Zusammenhang mit der faschistischen Propaganda und Politik gebracht werden kann. In der Forschung wurde die Möglichkeit eines solchen Nexus oft genug übersehen oder gar bestritten.77 Dabei weist Pirandello selbst auf eine bestehende Relation hin. In einem Brief vom April 1929, also fünf Jahre nachdem er seine faschistische Erklärung abgibt, bittet er seine Muse, die Schauspielerin Marta Abba, die weibliche Hauptrolle der Sara zu übernehmen, und führt aus: »Dicendo che sarebbe tempo di fare udire una voce coraggiosa su la vita e la morte, sul Dio dei vivi e il Dio dei morti (proprio il Fascismo e il Vaticano) […]«.78 Pirandellos Aussage legt nahe, dass es sich bei 76
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Vgl. Lombardinilo, Andrea (2010): »Pirandello e il mito della religione. Note interpretative su ›Lazzaro‹«, in: Pirandelliana: rivista internazionale di studi e documenti, 4, S. 103–117, S. 104 sowie Rössner, Michael (1980): Pirandello Mythenstürzer. Fort vom Mythos – Mit Hilfe des Mythos – Hin zum Mythos. Wien/Graz/Köln (Hermann Böhlaus), S. 235. – In der Forschung wurde Lazzaro häufig als eine Auseinandersetzung mit archetypischen Mythen verstanden (ebd.: 104). Meda korreliert die Figuren bspw. mit C. G. Jungs Archetypen. Vgl. Meda, Anna (1993): »›Lazzaro‹ e la riscrittura pirandelliana del mito biblico«, in: Quaderni d’italianistica. Vol. XIV, Nr. 1, S. 41–56, S. 46ff. Dieser Aspekt wird hier nur insofern von Bedeutung sein, als dass der Rückgriff auf archetypische und moderne Mythen ein typisches Phänomen des Faschismus ist (Meier 2002: 79). Im Rückgriff auf das Mythenverständnis von Georges Sorel und Gustave Le Bon setzt Mussolini Mythen gezielt ein, um die Bevölkerung zu instrumentalisieren und einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Le Bon geht davon aus, dass neue Ideen nur dann ins Kollektivbewusstsein eingehen, wenn sie Mythen werden, und Sorel verfolgt den Gedanken, dass Mythen auf den Instinkt einwirken und so zu Handlungen anregen. Vgl. dazu Santuccio 2008: 86f. und die dort aufgeführten, von Mussolini rezipierten Werke Lois psychologiques de l’évolution des peuples (1894) von Le Bon und Réflexions sur la violence (1906) von Sorel. Dies gilt für Pirandellos Leben und Werk. Vgl. Milone, Pietro (2012): »Pirandello e il fascismo. Processi, inquisizioni, dogane e sequestri«, in: Pirandelliana. Vol. 6, S. 69–78, S. 71. Zu Pirandellos Verhältnis zum Faschismus s. ebd.: 69ff. und die dort aufgeführte Bibliographie. Zu den Widersprüchen in der Haltung zu den Faschisten vgl. Santuccio 2008: 95 und Thomas, Johannes (1983): »Dialektik der Dekadenz. Faschismus und utopische Rettung bei Luigi Pirandello«, in: Italienische Studien, 3, S. 73–93, S. 74f.: Pirandello widerruft seine faschistische Erklärung zwar nie, distanziere sich aber von den Faschisten. Vgl. ferner Mariani, Umberto (1999): »A will to believe: Religion in Pirandello’s late plays«, in: Forum Italicum: A Journal of Italian Studies. Vol. 33, 2, S. 393–401, S. 394. Pirandello, Luigi (1995): Lettere a Marta Abba. Hg. v. Benito Ortolani. Milano (Mondadori), S. 154, zitiert nach Lombardinilo 2010: 110. Der Brief belegt, dass Pirandello in
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Lazzaro um eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus (Dio dei vivi) und der katholischen Kirche (Dio dei morti) handelt. Anhand der Gegenüberstellung von Sara und Diego wird nun untersucht, ob sie als Repräsentanten des Faschismus bzw. der Kirche interpretiert werden können. Sara ist die zentrale Figur des Dramas; sie ist positiv charakterisiert, besitzt hohe Redeanteile, steht mit allen wichtigen Figuren in Verbindung und in ihr konzentrieren sich die wesentlichen Handlungsstränge. Sie ist in Konflikt mit Diego Spina, ihrem Ehemann, den sie verlassen hat, da er nicht bereit war, zum Wohl der gemeinsamen Kinder Lia und Lucio von seinen rigiden religiösen Prinzipien abzurücken. Lucio verbleibt im Priesterseminar, in das er schon als Junge geschickt wurde, und Lias Gesundheit verschlechtert sich so sehr, dass sie mit gelähmten Beinen an den Rollstuhl gefesselt ist. Sara zieht auf das familieneigene Gut, das sie fortan mit dem Bauern Arcadipane bewirtschaftet, der ihr neuer Partner geworden ist. Gleich zu Beginn der Handlung geschieht ein erstes Wunder (»miracolo«). Durch eine Adrenalinspritze erweckt der Arzt Gionni Lias totes Kaninchen Lazzaro seinen Zeitgenossen durch die Kritik an Kirche und Vatikan aufzeigen will, wie antiquiert ihr Verhältnis zur Religion ist. Lombardinilo interpretiert den Brief anders und sieht in dem Theaterstück einen Beitrag zur Versöhnung von katholischer Kirche und Staat (ebd.: 109). Aufgrund der zahlreichen antireligiösen und antiklerikalen Elemente in Lazzaro ist diese These nicht haltbar, und auch die Interpretation des Endes als Triumph der carità (ebd.: 117) ist naiv. Außerdem kann man Lombardinilo den Vorwurf der biographischen Werkdeutung machen. Pirandellos Gegenüberstellung des Dio dei vivi und Dio dei morti sieht er in Lazzaro als Kontrast von vita und forma umgesetzt (ebd.: 112), übersieht jedoch, dass sich Pirandello auf den Faschismus bezieht. Laut Milone ist der Briefwechsel mit Abba ein Zeugnis für Pirandellos Nähe zum Faschismus (Milone 2012: 71). Gleichwohl gibt es Beiträge, die sich mit Pirandellos Verhältnis zum Faschismus auseinandersetzen. Neben Santuccio untersucht Angelini, inwiefern La nuova colonia und I giganti della montagna mit diesem in Zusammenhang stehen; Lazzaro jedoch thematisiert sie nicht. Sie stellt fest (anders als ich in Bezug auf Lazzaro), dass sich die ›mythische Struktur‹ von Pirandellos Mythen aufgrund ihrer Ambiguität nicht mit ideologischen Positionen verbinden lasse. Vgl. Angelini, Franca (1992): »Fondazione e creazione: da ›La nuova colonia‹ a ›I giganti della montagna‹«, in: Lauretta, Enzo (Hg.): Pirandello e la politica. Atti del convegno internazionale XXVIII (Agrigento, 7.–10.12.1991). Milano (Mursia), S. 89–108, S. 91. Argenteri konstatiert, dass sowohl die Meinung, Pirandello sei Faschist, als auch die, er sei keiner gewesen, grobe Vereinfachungen sind. Vgl. Argenteri, Letizia (1996): »Pirandello and Fascism«, in: Mediterranean Studies. Vol. 6, S. 129–136, S. 131. Bis heute wird kontrovers diskutiert, in welcher Beziehung Pirandello zum Faschismus stand (s. dazu den Forschungsüberblick bei Santuccio 2008: 85ff.).
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wieder zum Leben: »Viva? Oh Dio! Sì sì! […] Ed è resuscitata?«79 Diego verurteilt die Auferweckung und fordert Gionni auf, das Kaninchen in sein Labor zurückzubringen: Non può esser vero! Lei, mi scusi Dottore, non deve, non deve… – […] dire codeste enormità alla mia figliuola! […] Sono informato! Si leggono purtroppo nei giornali, queste e altre simili prodezze. E so lo scempio che lei fa di codeste bestiole nel suo laboratorio. Ne ho orrore. […] Io so che Dio solo può, per un miracolo, richiamare da morte a vita (ebd.: 188ff.). Bei seinem ersten Auftritt erscheint Diego in Begleitung von Monsignore Lelli, was sogleich seine Nähe zur katholischen Kirche deutlich macht. Die äußere Beschreibung Diegos weist auf die Folgen hin, die sein strenger Glaube und seine entbehrungsreiche Lebensweise, die sich an religiösen Dogmen orientiert, hinterlassen haben. Er ist verhärmt, sein zerfurchtes Gesicht, sein Körper und sein ganzes Wesen sind von Verzicht und Selbstkasteiung geprägt. Jedes Leben scheint aus dem kalten Blick gewichen zu sein und ein Feuer brennt in seinen unruhigen Augen, das auf Jähzorn und seinen fanatischen Glauben schließen lässt. Diego und Gionni verkörpern die zwei konträren Bereiche von Wissenschaft (Medizin) und Glaube (Kirche), die einen der grundlegenden Konflikte in dem Drama darstellen. Diego wertet die Versuche, die Gionni als Arzt in seinem Labor vornimmt, als Verunstaltung und Gemetzel (»scempio«) ab. Die Wiedererweckung des Kaninchens ist für ihn eine Ungeheuerlichkeit (»enormità«) und ein Sakrileg, denn allein Gott kann und darf ein solches Wunder vollbringen (»Dio solo può«). Zugleich zeigt die Reaktion Diegos dogmatisches Wesen. Es ist für ihn ausgeschlossen, von seinen lebensverneinenden Prinzipien abzurücken, um Lia die Freude an ihrem Kaninchen zu lassen. Eher ist er bereit, sein eigenes Kind den drakonischen Regeln und Gesetzen zu opfern, die er sich und seiner Familie auferlegt hat: »Non ha bisogno di nulla, la mia figliola; solo di raggiungere, quando a Dio piacerà, ciò che in terra non ha potuto avere« (ebd.: 197). Mit seinem streng katholischen und letztendlich menschen- und lebensverachtenden Glauben, der Ausgerichtetheit auf das Jenseits, der Verneinung sowie Unterdrückung jedes menschlichen Gefühls zugunsten von Dogmen, Prinzipien und Idealen, seiner von christlichem
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Pirandello, Luigi [1929] (2007): »Lazzaro«, in: Maschere nude. Vol. IV. Hg. v. Alessandro d’Amico. Milano (Mondadori), S. 179–244, S. 187f.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Vokabular und Leidensmotiven durchzogenen Sprache (»strazio«, »martirio«, »peccato«, ebd.: 197ff.) sowie durch sein herrisches Verhalten repräsentiert Diego die negativen Seiten des Katholizismus und der Institution der katholischen Kirche, deren Oberhaupt der Vatikan ist. Insofern kann er als Vertreter des Dio dei morti gelten. Mit den Dualismen von Wissenschaft/Religion, Gott/Mensch, Diesseits/ Jenseits, Glaube/Häresie, Restriktion/Freiheit, Gesundheit/Krankheit, Leben/Tod, Stadt/Land, Institution/Intuition, Vater/Mutter, Vernunft/Gefühl und Ernst/Komik enthält das Drama zahlreiche Gegensätze. Die dialektische Grundstruktur wird durch das antagonistische Verhältnis verstärkt, das zwischen Diego und Sara herrscht. Vergleicht man ihren jeweils ersten Auftritt, wird der Kontrast offensichtlich: Sullo sfondo del cielo infiammato, Sara, tutta rossa e col manto nero, sembra un’irreale apparizione di ineffabile bellezza: nuova, sana, potente […]. Sara: Non c’è più un palmo che non sia coltivato […] l’orto, la vigna, il frutteto: uh, frutta per tutte le voglie! Abbiamo trovato l’acqua, sai? […] Una ricchezza. Ha rinfrescato e rinnovato tutto. Tre vivai grandi sempre pieni, e scorre per le zane da per tutto, allegra […]. Diego: Ma sta’ zitta! Che vuoi parlare tu di vita e di morte? Ti sei dimenticata che la vita vera è di là? Quand’è finita la carne… Sara: Io so che ce l’ha pur data Dio, anche questa di carne, perché la vivessimo qua, in salute e letizia! E nessuno può saper meglio d’una madre! Volevo la gioja, io, la gioja e la salute per i miei figli! E anche la ricchezza, sì: per loro, non per me (io ho fatto e faccio la contadina!). E se tu lasci il podere per i tuoi figli – guarda – sarò felice d’aver lavorato con queste braccia – lavorato davvero, sai! – a renderlo ricco come ora è, per loro! (ebd.: 199ff.) Vor dem Hintergrund von Pirandellos Metapher des Dio dei vivi, mit der er den Faschismus bezeichnet, ist Saras Auftritt aufschlussreich. Farbsymbolisch in Szene gesetzt, erscheint sie bei Sonnenuntergang vor einem flammenden Himmel in Rot und Schwarz gekleidet. Die Farben symbolisieren Leben und Tod, wobei Schwarz zugleich die Farbe des Faschismus ist. Das Feuer symbolisiert gleichsam Leben, kathartische Reinigung und Neuerstehung und ist
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deshalb ein beliebtes Motiv der faschistischen Rhetorik (Gentile 2004: 217).80 Dies gilt ebenso für den Mythos der ›Großen Mutter‹, den Sara verkörpert (»madre«), sowie für die Sonne als Symbol des Lebens, mit dem sie verglichen wird (»Pare un sole!«, Pirandello 2007: 196).81 Nachdem Sara sich von Diego und seinem repressiven Glauben befreit hat und aufs Land gezogen ist, erblüht sie, wirkt jünger und ist schön wie nie zuvor (»tanto più bella«, Pirandello 2007: 222). Wie die Motive des Lebens, der Entstehung und die positiven Gefühlsausdrücke (»letizia«, »gioja«, »felice«) zeigen, gedeiht und fruchtet alles, was sie anfasst (»rinfrescato e rinnovato«). So ist das Gut unter der körperlichen Arbeit zu einem ertragreichen Paradies auf Erden (»paradiso terrestre«, ebd.: 197) geworden, auf dem Wein – als Symbol für das Leben – Obst und Gemüse wachsen und sogar eine Wasserquelle (ein weiteres Lebenssymbol) sprudelt. Sara hat Arcadipane zwei gesunde kräftige Söhne geboren (ebd.: 197, 222), die das Gegenteil von ihren kränklichen und sensiblen Kindern mit Diego sind. Sie symbolisiert die Prinzipien Mutter, Fruchtbarkeit, Natur, Ursprung und Liebe und verkörpert laut Meda den Mythos der Wiedergeburt (Meda 1997: 44). Als Bild des Lebens (»vita«), der Erneuerung (»nuova«), Gesundheit (»sana«) und Stärke (»potente«) fügt sich Sara in das Verständnis, das der Faschismus von sich als Erneuerung und vitale Kraft hat (Gentile 2004: 248). In ihr verbinden sich die christlichen Motive des Segens (»ribenedetta«, Pirandello 2007: 219), der Auferstehung (»rinascere«, ebd.: 202) und des Wunders (»sembra ch’abbia ancora venti anni! […] Un miracolo«, ebd.: 198) mit paganen archetypischen Prinzipien und den faschistischen Mythen der Verjüngung und Wiedergeburt.82 Sie stellt eine symbolische Auferstehungsfigur dar und repräsentiert den Faschismus als Dio dei vivi.
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Deutlich wird dies bei D’Annunzio, der das »Motiv des kathartischen Feuers und des Feueropfers exzessiv […] verwende[t]« und das Feuer als »Wiedergeburt der Nation« versteht (Esposito 2011: 126, 135f.). Schon in D’Annunuzios La figlia di Iorio (1904) scheint der Konnex von Opfer, Gewalt, Tod, Erlösung und Reinigung durch das Feuer auf, allerdings lässt sich aufgrund des frühen Publikationsjahres noch keine Verbindung zur faschistischen Rhetorik nachweisen. Zum Mythos der ›Großen Mutter‹ und weiteren faschistischen Symbolen und Mythen wie den Mythen der Erneuerung, Belebung, Verjüngung sowie zum Jugendkult, vgl. hier und im Folgenden Meier 2002: 19ff., 79. Zu den faschistischen Mythen der neuen Zivilisation und neuen Frau, zum neuen Mann und zur Idee, sich einen Platz an der Sonne zu sichern, s. Santuccio 2008: 88. Hier unterscheidet sich meine Lesart von der Santuccios, die in Sara als Gegnerin des Patriarchats das Gegenteil des faschistischen männlichen Heldenmodells sieht. Sie
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Saras Wandlung (»sono un’altra!«, Pirandello 2007: 222) ist in Bezug auf den pirandellianischen Dualismus von vita und forma und ferner für die faschistischen Konzepte von Leben und Umgestaltung bedeutsam.83 Denn sie sagt sich von allem los, was bei Pirandello die negativ konnotierte forma ausmacht, die das Leben (vita) begrenzt und als Konvention, Regel oder Norm von Diego repräsentiert wird.84 Nachdem Sara Diego mitgeteilt hat, dass Lucio, der sich in einer Glaubenskrise befindet, das Priesterseminar verlassen hat, stürzt Diego entsetzt davon und wird von einem Auto angefahren; Augenzeugen behaupten sogar, dass er sich absichtlich vor das Auto geworfen hat. Ein herbeigerufener Arzt untersucht den Körper, der keinerlei Verletzung aufweist, und stellt Diegos Tod fest (»È morto«, Pirandello 2007: 206). Der zweite Akt beginnt damit, dass Gionni Sara auf dem Gut aufsucht. In der Zwischenzeit hat er Diego, wie ehemals das Kaninchen, mit einer Adrenalinspritze zurück ins Leben geholt.85 Gionni bittet darum, Diego, der (wie schon Lazzaro bei Borgese) seine Erinnerung verloren hat, nichts von seiner Auferweckung zu sagen, da er befürchtet, damit eine
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unterstellt Pirandello eine antimythische Haltung, die mit der Ideologie des Faschismus kontrastiere (Santuccio 2008: 96). Näher zu diesem zentralen Dualismus bei Pirandello vgl. Moldovan, Julia (2020): Der Raum als poetologische Kategorie im italienischen Roman von Verga bis Pasolini. Berlin (ESV), S. 71f. und Rössner 1980: 245. Pirandello beschreibt den Dualismus und das Konzept des Lebensflusses in seinem Essay Umorismo (1908): »La vita è un flusso continuo che noi cerchiamo d’arrestare, di fissare in forme stabili e determinate«. Pirandello, Luigi (1977): L’umorismo, in: Saggi, poesie, scritti varii. Hg. v. Manlio Lo Vecchio-Musti. Milano (Mondadori), S. 15–160, S. 151. »L’odio di quelle chiese, di quelle case, e il tribunale […]! Un bisogno mi prese, un bisogno d’essere selvaggia; […] la vita, la vera vita, fuori della città maledetta, la terra; questa vita che ora sento« (Pirandello 2007: 219). Saras Rebellion gegen tradierte Institutionen, ihre Lebensemphase und die Tatsache, dass sie ihren Besitz und die gehobene soziale Stellung verlässt, um Bäuerin zu werden und von ihrer Arbeit zu leben (ebd.: 196ff.), können mit Mussolinis frühen Vorstellung des Faschismus in Relation gebracht werden. Er plädiert für die Gleichheit aller, wendet sich von der herrschenden Elite und ihren Traditionen inklusive Feudalismus und Vatikan ab, richtet sich an das Volk und die Arbeiter und wertet die Arbeit auf (vgl. Mussolini 1919 und ferner Gentile 2005: 39). Neben einigen lustigen religionskritischen Passagen am Anfang, ist der Umstand komisch, dass Diego auf dieselbe Weise wiedererweckt wird, wie zuvor das Kaninchen, ebenso wie die inflationäre Verwendung des Wortes ›Wunder‹ (»miracolo«), mit dem Pirandello die biblischen Wunder der Heilung (Lia) und der Auferstehung (Kaninchen, Diego) parodiert.
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Krise auszulösen: »Gridò al sacrilegio per una coniglietta resuscitata, figùratevi ora, se venisse a sapere…« (ebd.: 213). Die Auferstehung ist in aller Munde (»tutti gridano al miracolo della resurrezione«, ebd.: 210) und jeder scheint eine ganz eigene Erklärung zu haben: Während Gionni sie als Ergebnis der Medizin versteht, ist sie anderen Beweis dafür, dass es keinen Gott und kein Jenseits gibt, da sich Diego ansonsten daran erinnern würde (ebd.: 230ff.). Am Ende des zweiten Akts erscheint Diego, schreckensbleich und mit leerem Blick; er hat von seiner Auferweckung erfahren. Wie so viele von Pirandellos Figuren, die die Wahrheit erkannt haben und bemerken, dass ihr vorheriges Leben nichts als Lüge und Illusion war,86 droht Diego wahnsinnig zu werden: »Sì, sì, sono pazzo! […] Non ho più ragione, più ragione di nulla! Posso far tutto!« (Pirandello 2007: 240f.). Außer sich, versucht er Arcadipane mit einem Schuss zu töten, verfehlt ihn aber. Überzeugt davon, dass es Gott und ein göttliches Urteil nicht gibt, verliert er jede Hemmung: »Perché io sono stato morto – voi lo sapete, l’avete visto tutti, – morto, – morto, – […] – morto, – […] Morto, l’anima mia, l’anima mia, dov’è stata, nel tempo che sono stato morto?« (ebd.: 242). Die Gedankenstriche zeigen, dass Diego überfordert ist und um Worte ringt; sein komplettes Weltbild ist zerrüttet.87 Lucio hingegen, der seinen Glauben wiedergefunden hat, sieht in der Auferstehung einen Gottesbeweis, da Gott (als Prinzip des Lebens)88 Diego die Chance gegeben hat, geistig wiederzuerstehen und ein neuer Mensch zu werden: »perché tu risorga dalla tua morte, padre. Vedi? Tu avevi chiuso gli occhi alla vita, credendo di vedere l’altra di là […]. Vivere, padre: in Dio, nelle opere che farai. Alzati e cammina, cammina nella vita« (ebd.: 243). Dies ist weniger eine Referenz auf die Bibel und den Ruf, mit dem Jesus Lazarus ins Leben zu-
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Diese Thematik kommt schon in Il fu Mattia Pascal (1904) und Uno, nessuno e centomila (1926) vor. Ein weiterer Verweis auf Pirandellos letzten Roman ist das Armenhaus, wobei der Umstand, dass Diego offiziell tot ist, aber lebt, auf die Figur Mattia Pascal verweist (näher dazu vgl. Moldovan 2020: 132ff., 188ff.). Wie die Wiederholung des Todesmotives belegt, ist der durch den Vatikan institutionalisierte Katholizismus als Dio dei morti tot. Zu Pirandellos Antiklerikalismus s. Rössner 1980: 53ff., 238, zu seinem Verhältnis zur Religion und den durchweg negativ charakterisierten Kirchenrepräsentanten bei Pirandello, vgl. Mariani 1999: 394f. Der Monsignore aus Lazzaro ist ein solches Beispiel. Für Lucio ist Gott das Leben: »il vero risorgere della morte: negarla in Dio, e credere in questa sola Immortalità […] credere in questo eterno presente della vita, ch’è Dio« (Pirandello 2007: 215).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
rückholt (Hennigfeld 2016b: 140), sondern vor allem ein Appell, dem Faschismus als Dio dei vivi zu folgen. Pirandello lässt mit Diego-Lazzaro einen »Lazzaro moderno […] un Lazzaro dei nostri giorni«89 erstehen, dem die Stütze des Glaubens weggebrochen ist und der nun seine Hoffnung in ein zweites, besseres Leben setzt. Dieses weist aufgrund der Motive von Erneuerung und Wiedergeburt eine bedenkliche Nähe zum faschistischen Lebenskonzept auf. Diegos Auferweckung und Saras Erblühen symbolisieren den Sieg des Faschismus im Sinne der vita über den Katholizismus, den Pirandello im Vatikan als lebensbegrenzende forma verkörpert sieht. Auch das letzte Wunder – Lia erhebt sich aus dem Rollstuhl und läuft in die Arme ihrer Mutter, die sie zu sich ruft: »Mamma, mamma, chiama la tua figlia! […] Cammina… cammina… Miracolo« (Pirandello 2007: 244) – lässt sich in dieser Weise als Sieg des Lebens interpretieren. Das offene und ambivalente Ende90 vermittelt damit nicht die naive Vorstellung, dass »the law of love must rule the world« (Mariani 1999: 399), sondern enthält, so wie das Drama überhaupt, eine politisch-soziale Botschaft, die sich in vielen Punkten mit den Mythen und Versprechen des Faschismus deckt. Insofern ist Pirandellos Reaktivierung des Lazarus-Stoffs problematisch. Zugleich entfernt sich Pirandello mancherorts deutlich von der faschistischen Ideologie, etwa dann, wenn er sich der Verherrlichung des superuomo verschließt und psychische Gewalt abwertet, indem er den Tyrannen Diego mit seiner herrschsüchtigen Lebens-
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Pirandello trifft diese Aussage in einem Interview von Romano Drioli, das am 12.6.1926 in der Gazzetta del Popolo erscheint; zitiert nach Meda 1993: 41, 54f. Milone beobachtet, dass Pirandello die sein gesamtes Werk kennzeichnende Ambiguität gezielt einsetzt, um Lücken und Widersprüche entstehen zu lassen, und darin seine politische Polemik auszudrücken. Zugleich habe man Pirandello aufgrund seiner Ambiguität oft missverstanden (Milone 2012: 75f.). Santuccio interpretiert die Ambiguität in Pirandellos Mythen als Gegenentwurf zu den faschistischen Mythen, die auf Vereinheitlichung und kollektive Übereinstimmung abzielten (Santuccio 2008: 86, 99ff.). Diese Interpretation übersieht, dass Pirandello sehr wohl faschistische Mythen aufnimmt und positiv konnotiert, so etwa die Mythen der Mutter, Neuerstehung/ Wiedergeburt, Jugend oder des Lebens. Auch werden in Lazzaro mythische und archaische Elemente vereinnahmt, was Meier zufolge typisch für den Faschismus ist (vgl. hierzu Meier 2002: 80). Sie spricht von einem naiven Umgang der italienischen Schriftsteller mit dem Mythos, was zeige, dass Italien eine »faschistische Konsensgesellschaft« (ebd.) gewesen sei. Opposition käme erst ab 1943 verstärkt auf (vgl. ebd.: 147ff.).
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weise kläglich scheitern lässt. Dies könnte darauf hinweisen, dass er die Unmenschlichkeit des Faschismus bereits vorausahnt.
2.2 Lazarus als Auseinandersetzung mit Leben, Krieg und Tod in der Prosa von Boine, Rebora und Govoni Giovanni Boine (1887–1917) ist vor allem wegen seiner Discorsi militari (1915) bekannt, in denen Krieg und Militär theoretisch erörtert werden und die nach ihrem Erscheinen in Italien zum ›Beststeller‹ avancieren.91 Weniger rezipiert und fast in Vergessenheit geraten sind seine Erzählungen.92 Zu diesen gehört L’agonia (1913), in der es um einen jungen Mann geht, der aufgrund einer schweren Krankheit ein Schweizer Sanatorium93 aufsucht und dort von einem ›Bösen‹ (Male) heimgesucht wird, gegen das er anzukämpfen beginnt:
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Vgl. Bertone, Giorgio (Hg.) (1977): »Introduzione«, in: Boine, Giovanni: Scritti inediti. Genova (il melangolo), S. I–LII, S. XLII. Näher zu Boines Discorsi militari s. Luperini, Romano (1976): »Capitolo II. Gli espressionisti e moralisti della ›Voce‹. 6. Giovanni Boine«, in: Angelini, Franca/Luperini, Romano u.a. (Hg.) (1976): Il Novecento. Dal decadentismo alla crisi dei modelli. Vol. IX. Tomo I. Roma/Bari (Laterza), S. 73–89, S. 89 und Perolino, Ugo (2015): »Esercito e nazione nei ›Discorsi militari‹ di Giovanni Boine«, in: Italies. Littérature – Civilisation – Société, 19, S. 57–66. Boine schätzt den Krieg vorerst positiv ein: »credo alla sanità di questi terremoti umani che dissanguano ma rinsanguano e traggon fuori dai corpi e dalle anime le energie dormenti […]. E credo nella profonda fecondità di ogni lotta.« Boine, Giovanni (1910): »Lettera 21, 10.8.1910«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1982): Carteggio I. Giovanni Boine – Giuseppe Prezzolini (1908–1915). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 30–38, S. 31f. Die kriegsbejahende Ansicht widerspricht Boines Darstellung der vom Krieg in Libyen gemarterten Körper in L’agonia. Vgl. Curi, Fausto (1997): »›Sul discrimine dei mondi‹. Premessa a Boine«, in: Benvenuti, Giuliana/Curi, Fausto (Hg.): L’esperienza religiosa e altri scritti di filosofia e di letteratura. Bologna (Edizioni Pendragon), S. 9–22, S. 9ff. Die Erzählungen gelten als philosophisch und hybrid. Vgl. Benvenuti, Giuliana (1997): »Introduzione. ›Cor meum inquietum est Domine!‹«, in: Benvenuti, Giuliana/Curi, Fausto (Hg.): L’esperienza religiosa e altri scritti di filosofia e di letteratura. Bologna (Edizioni Pendragon), S. 23–70, S. 41. Das Sanatorium ist ein beliebter Schauplatz in Prosawerken des frühen 20. Jahrhunderts (z.B. bei Rimbaud und Dostojewski; s. dazu Benvenuti 1997: 67); oder man denke an Cendrars Moravagine (1917/1926) und Manns Der Zauberberg (1924). Darin begegnet Hans Castorp der Lazarus-Figur bei seinen Besuchen, die er bei den ›Moribunden‹ im Sanatorium Berghof macht: »Aber auf Nummer fünfzig lag Frau von Mallinckrodt […] mit schwarzen Augen und goldenen Ringen in den Ohren, kokett, putzsüchtig und dabei ein weiblicher Lazarus und Hiob […].« Mann, Thomas [1924] (2014): Der Zauberberg.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Ed il male! Perché era il male che lo stringeva qui. […] Lotta contro un nemico, contro un invadente straniero (è che cos’è dunque ciò?) […] C’è un Male, un funebre iddio contro a me inerme e d’altro paese. C’è dunque qualcosa al di là di me, diverso da me […]. Poiché, sì, sono io stesso la libertà e la gioia; e quest’altro è il meccanismo e la morte. Ed io son la creazione ed esso è il disfacimento; io son l’anima lieve ed esso il peso che affonda. Io sono il lievito. Io sono il lievito in ogni cosa, agito ogni cosa e do vita, come un vento che passa sconvolge e solleva. Io creo, io illumino e rompo la caligine intorno. […] Ond’ecco ch’io non mi stanco, io non mi sazio di dire ammirato la strapotenza mia. Ecco che come di colpo io disconfino il limite stretto delle cose consuete (nell’arte) e te le impregno dinnanzi dell’universo enorme; ecco che come io ti riempio di brividi e palpiti la crassa torpidità della vita (la libero), e, naturalmente, per spirituale forza io la trasformo e l’allargo (Lazzaro putrefatto e giacente, popolazione di morti che si leva e getta il sudario) […].94 Hier prallen die dualistischen Konzepte von Leben (»vita«) und Tod (»morte«), Bewegung und Stillstand, Freiheit (»libertà«) und geregeltem Ablauf (»meccanismo«), Schöpfung (»creazione«) und Auflösung (»disfacimento«), Grenzüberschreitung (»disconfino«) und Begrenzung/Grenze (»limite«), Enge (»stretto«) und Weite (»allargo«) aufeinander.95 Wie den zahlreichen betonten
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Frankfurt a.M. (Fischer), S. 430f. Wie Borgese in Lazzaro (1926), bringt auch Mann Lazarus mit Hiob in Relation. Außerdem ist L’agonia eine Auseinandersetzung mit Boines eigener Tuberkuloseerkrankung und seinem Aufenthalt in einem Sanatorium in Davos 1912. Zum autobiographischen Hintergrund der Erzählung s. Benvenuti 1997: 64ff. und zu Boines Krankheit Prezzolini, Giuseppe (1971): »Prefazione«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1982): Carteggio I. Giovanni Boine – Giuseppe Prezzolini (1908–1915). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. VII–XVI, S. VIII und Boines Briefe wie z.B. Boine, Giovanni (1912): »Lettera 14, 20.11.1912«, in: Marchione, Margherita/ Scalia, S. Eugene (Hg.) (1983): Carteggio II. Giovanni Boine – Emilio Cecchi (1911–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 14. Die Angst vor der Krankheit und einem moralischen und körperlichen ›Male‹ lässt Boine zeitlebens nicht los und schlägt sich in zahlreichen seiner Werke nieder. Vgl. dazu Amoretti, Giovanni Vittorio (1979): »Prefazione«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.): Carteggio IV. Giovanni Boine – Amici della ›Voce‹ – Vari (1904–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. VII–XLI, S. XXIX. Boine, Giovanni [1913] (1997): »L’agonia«, in: L’esperienza religiosa e altri scritti di filosofia e di letteratura. Hg. v. Giuliana Benvenuti u. Fausto Curi. Bologna (Edizioni Pendragon), S. 199–213, S. 202. Die Dualismen verweisen auf einen Gedankenkomplex, der sowohl Boines Denken als auch sein literarisches Werk bestimmt: die Gegensätze von Religion und Philosophie,
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Formen (»io«) und der Isotopie des Lebens (»vita«, »palpiti«) zu entnehmen ist, kommt ein Ich zu Wort, das als absolute Kraft (»strapotenza«) und als Prinzip ›Leben‹ (»vita«) interpretiert werden kann. Dieses Leben ist einerseits mit Bergsons élan vital (Curi 1997: 15)96 positiv als Bewegung, Fluss und schöpferisches Prinzip zu verstehen (»do vita«). Andererseits ist das Ich Ausdruck eines unkontrollierbaren zerstörerischen ›Male‹, das Teil des Menschen selbst ist, jedoch als fremdartig und feindlich begriffen wird (»nemico«, »d’altro paese«), gegen das er ankämpft (»lotta«), aber wehrlos ist (»inerme«). In ihm wirken widerstrebende Kräfte, die einen permanenten inneren Kampf verursachen, der letztlich zur Zersplitterung des Ichs führt. Stilistisch schlägt sich dies in der Vorsilbe »dis-« nieder, die eine Zustandsveränderung ausdrückt.97 Ein Brief von Boine aus dem Jahre 1914 ist für die Interpretation von L’agonia hilfreich. Darin heißt es: »periodi in cui agonizzo, muoio, mi disfaccio, mi par di sentire per tutt’il corpo giù fino alle cavità buie dell’anima l’aggrovigliarsi
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Gut und Böse, Ordnung und Chaos, von Bewusstem und Unbewusstem (s. dazu Benvenuti 1997: 31, 42, 52). Ihre Unvereinbarkeit, aber auch Boines eigene Zerrissenheit und seine wachsenden Zweifel am Katholizismus (ebd.: 30ff.), verursachen einen existentiellen Schmerz (»dolore«), dessen Ausdruck L’agonia schlussendlich ist. Boines Schrift L’esperienza religiosa enthält zentrale Aspekte seines kontrastreichen Denkens. Boine, Giovanni [1911] (1997): »L’esperienza religiosa«, in: L’esperienza religiosa e altri scritti di filosofia e di letteratura. Hg. v. Giuliana Benvenuti u. Fausto Curi. Bologna (Edizioni Pendragon), S. 99–138; s. dazu auch Prezzolini 1971: VIII und Luperini 1976: 74. Zur Auseinandersetzung mit Bergson vgl. Boine, Giovanni (1913): »Lettera 88, 3.4.1913«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1982): Carteggio I. Giovanni Boine – Giuseppe Prezzolini (1908–1915). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 77–90, S. 83. Im Inneren des Ichs wohnt ein ›Unbekanntes‹ (»che cos’è dunque ciò?«), das weder fassbar noch benennbar ist. Die existentielle Angst (»angoscia«) rührt daher, dass der Mensch keine Worte dafür findet (Boine 1997: 202). An anderer Stelle schreibt Boine diesbezüglich: »La mia angoscia in questo punto consiste […] ch’io non ho il nome, ch’io non so nominare. Mugghia dentro di me […] qualcosa che non può aver alcun nome…« (Boine 1911/1997: 131). In L’agonia führt Boine mit der Instanz des Unbewussten und der Spaltung des Ichs in einen bewussten und einen unbewussten, latenten Teil Kategorien an, die – u.a. durch Freuds psychoanalytischen Studien begünstigt – ab Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund treten (vgl. dazu Curi 1997: 11, 14 und näher zu Freuds Latenzbegriff s. das Kapitel I, 1.1 in dieser Arbeit). In L’agonia schlägt sich die Konzentration auf die unbewussten Teile des Subjekts und dessen Spaltung diskursiv in parataktischen Sätzen, dem stream of consciousness und inneren Monolog nieder. Außerdem hebt Boine die grammatikalische und syntaktische Ordnung oftmals auf und nimmt abrupte Wechsel zwischen Er- und Ich-Perspektive vor.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
dei vermini, il fermentare della putredine.«98 Die Motive des Todes, der Qual, Auflösung, Fäulnis und der Würmer, die hier symbolisch für Tod und langsame Zersetzung stehen, und das Motiv der dunklen Höhle sind mit der LazarusMetapher vereinbar, wie sie Boine in L’agonia verwendet. Lazarus repräsentiert darin ein ganzes Volk von Toten (»popolazione di morti«), das sich von seinem Siechtum (»giacente«) und seiner inneren und äußeren Fäulnis (»putrefatto«) befreit und zurück ins Leben kehrt (»si leva«), indem es das Leichentuch (»sudario«) wegwirft und so den Tod abschüttelt. Tatsächlich scheint Lazarus in L’agonia mit dem Thema des Kriegs in Zusammenhang zu stehen, der recht unvermittelt durch einen Verweis auf Italiens Kriegserklärung an Libyen im Jahre 1911 zur Sprache kommt.99 Gegen Ende der Erzählung wird der Krieg immer häufiger thematisiert, wobei die entscheidende Passage, wie schon zuvor die Lazarus-Referenz, in Klammern verschoben wird.100 Durch die Motiv- und Klangähnlichkeiten der beiden Textstellen sowie anhand des typografischen Mittels der Klammer werden Lazarus und der Krieg in Bezug gesetzt. Zugleich wird durch die Klammer suggeriert, dass sie nicht zum offiziellen Diskurs gehören. Offensichtlich kommt mit dem Thema der im Krieg ermordeten Menschen Latentes und Unausgesprochenes zur Sprache, wobei die Fragen, was der Grund für den Krieg ist und worin sein Sinn besteht, unbeantwortet bleiben. Eine weitere Auffälligkeit von L’agonia besteht darin, dass die Kriegsmetaphorik den gesamten Text durchzieht (»vittoria«, »lottare«, »battaglia«, »guerra«, »colpirlo«, »invadente«, ebd.: 202f., 210ff.). So ist das, was in der Forschungsliteratur stets als innerer Kampf des Kranken gegen Krankheit und das ›Böse‹ interpretiert worden ist (Amoretti 1979: XXXIII; Benvenuti 1997: 43), tatsächlich eine versteckte Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die LazarusMetapher ist nicht zuletzt Ausdruck eines kollektiv Latenten und Unbewuss-
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Boine, Giovanni (1914): »Lettera 351, 27.8.1914«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1979): Carteggio IV. Giovanni Boine – Amici della ›Voce‹ – Vari (1904–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 367–373, S. 371f. 99 »[…] e c’era una guerra a più vastamente agitare tutta la nazione sua« (Boine 1997: 210 und s. dort auch den Kommentar der Herausgeber hinsichtlich der historischen Einordnung). 100 »La guerra s’allargava […] (Diecimila morti! Capì che s’eran accumulati in gran mucchio dieci mila morti. Membra lacerate gemiti e sangue. Diecimila morti inerti, distesi: perché?)« (ebd.: 210ff.).
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ten und verweist auf den Umgang der Gesellschaft mit kriegerischer Gewalt und ihren millionenfachen Opfern.101 Wie Cicala/Rossi gezeigt haben, ist die Lazarus-Figur für den Dichter Clemente Rebora (1885–1957) und dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit und Person von großer Bedeutung.102 Lazarus kommt zwar nicht wörtlich in seinen Gedichten vor (auch wenn durchaus themenverwandte Motive darin enthalten sind),103 ist jedoch in seinem gesamten Schaffen eine Konstante und findet sich in verschiedenen Texten, Briefen, auf Handzetteln und in 101
Erneut verwendet Boine die Lazarus-Figur 1913, als er sich gegen seine Kritiker wendet, denen er Traditionalismus und mangelnde Handlungsfähigkeit vorwirft. Anstatt neue künstlerische und literarische Formen zuzulassen, die zu einer Belebung der Kunst und Gesellschaft führen könnten, verharrten sie im Alten und in einer beschränkten bürgerlichen Ideologie. Hier ist die Lazarus-Metapher Teil einer literarischen und ästhetischen Kampfansage, eines Appells, die Literatur, Kultur und Gesellschaft Italiens wiederzubeleben: »domando: è con questa novità di magie che volete rifare in Italia il miracolo del Lazzaro morto-putrefatto-risorto?«, Boine, Giovanni (1913): »Epistola al ›Tribunale‹«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1982): Carteggio I. Giovanni Boine – Giuseppe Prezzolini (1908–1915). Appendice. Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 185–199, S. 193. Mit dieser Ansicht findet sich Boine auf einer Linie mit der Zeitung La Voce, die dazu aufruft, Italien zu modernisieren. Vgl. zu La Voce Kapp, Volker (Hg.) (3 2007): Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 314ff. und Hösle 2 1990: 67. Lazarus kommt außerdem in Boines Text Circolo (1917) vor: »Dal profondo sepolcro Lazzaro, ecco, ad ogni mattina!«, Boine, Giovanni (1917): »Circolo«, S. 179–182, zitiert nach Vigorelli, Giancarlo (1971): »Ritratto di Boine«, in: Vigorelli, Giancarlo (Hg.): Giovanni Boine. Il peccato e altre opere. Parma (Guanda), S. IX–LVI, S. XLVIII. 102 Vgl. Cicala, Roberto/Rossi, Valerio (2015): »Lazzaro in guerra. Esperienza e trasfigurazione della trincea in Clemente Rebora (con frammenti inediti)«, in: Cuadernos de Filología Italiana, 22, S. 137–154 und Cicala, Roberto/Rossi, Valerio (2015a): »L’attesa di Rebora. Fonti dei ›Canti anonimi‹ e frammenti inediti a cavallo della grande guerra (con un nuovo documento per la lettura di ›Dall’imagine tesa‹)« [sic!], in: Aevum, Sett.–Dic., 89, Fasc. 3, S. 783–802. 103 Folgende Gedichte und Texte sind hier zu nennen: »Viatico«, in: Poesie varie (1913–1918), S. 178; »Voce di vendetta morta«, in: Poesie varie (1913–1918), S. 181; »Dall’imagine tesa« [sic!], in: Canti anonimi (1920–1922), S. 143; »Stralcio«, in: Prose liriche (1915–1917), S. 216–218; »Perdono?«, in: Prose liriche (1915–1917), S. 219; »Fantasia di carnevale«, in: Poesie sparse (1913–1927), S. 166–170. Sie finden sich bei Rebora, Clemente (2 1982): Le poesie. 1913–1957. Hg. v. Vanni Scheiwiller. Milano (All’insegna del pesce d’oro). Die Werke enthalten Motive wie Krieg, Gewalt, Tod, Grab, Schlaf, Wiedergeburt, Auferstehung, Schwelle, Rückkehr (aus dem Krieg), Erinnerung, die Unmöglichkeit zu
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Notizen.104 Die Figur steht bei Rebora in direkter Relation mit dem Krieg und der eigenen traumatischen Erfahrung während der Grande Guerra (Cicala/Rossi 2015: 140; Cicala/Rossi 2015a: 793f.).105 Nachdem Rebora 1915 im Schützengraben durch eine Haubitze schwer verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert wird, erleidet er ein psychisches Trauma, verbringt mehrere Jahre in psychiatrischer Behandlung (Cicala/Rossi 2015: 141)106 und unterzieht sich einer Elektroschock-Therapie.107 In einer handschriftlichen Notiz erinnert er sich mit einem Abstand von 15 Jahren daran zurück: »Ho compreso perché il Signore, a me ancora ignoto, mi avesse lasciato cadere vilmente in amore e in trincea, là dove, disceso all’ospedale, ebbi la nozione-visione di essere Lazzaro.«108
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sprechen, Blut, Agonie, Dunkelheit, Einsamkeit und lassen sich mit dem Kriegsthema verbinden. Zum ersten Mal erwähnt Rebora Lazarus in einem Brief vom 2.2.1916 an Boine (Cicala/ Rossi 2015: 150), welcher ebenfalls auf die Figur rekurriert. Der Brief ist abgedruckt als Rebora, Clemente (1916): »Lettera 510, 6.2.1916«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1979): Carteggio IV. Giovanni Boine – Amici della ›Voce‹ – Vari (1904–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 547: »Se il vivere ha significato qualcosa, i miei occhi ancora sbarrati lo testificano, e (se mi sarà dato) faranno vedere, da Lazzaro amore.« Wie die Briefkorrespondenz belegt, verbindet Rebora und Boine eine tiefe Freundschaft. Außerdem lieben beide Lydia Natus (der Rebora seine Übersetzung Lazzaro widmet), tauschen sich über ihre Werke aus und stehen der Zeitung La Voce nahe, die an der politischen Debatte über den Krieg teilhat. Während Rebora tendenziell unpolitisch ist und sich gegen Krieg und Gewalt positioniert, versteht ihn Boine zur Zeit der Discorsi militari (1915) noch als ›soziale Arznei‹ (vgl. D’Angelo 2017: 84ff., 97ff. und zu Lydia ebd.: 138ff.). Die Aufsätze sind hilfreich, da in ihnen viele Lazarus-Zitate von Rebora enthalten sind und erörtert wird, welche Bedeutung die Figur für ihn in unterschiedlichen Lebensphasen hat und wie sie immer mehr in den christlich-religiösen Kontext rückt. Giovannini erwähnt mit Verweis auf Reboras Übersetzung von Andreevs Erzählung Lazarus, dass Rebora die Figur verwendet, um sich als Kriegsheimkehrer zu beschreiben (vgl. Giovannini 2004: 349). Vgl. hierzu und zu Reboras Biographie D’Angelo, Fiammetta (2017): La grande guerra di Clemente. Itinerarium Poësis in Deum. Roma (Edizioni Studium), S. 104ff. In seinem Bericht davon an Boine verwendet er die Lazarus-Figur. Vgl. Rebora, Clemente (1916): »Lettera 510, 6.2.1916«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1979): Carteggio IV. Giovanni Boine – Amici della ›Voce‹ – Vari (1904–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 547. Reboras Notizen befinden sich im Archivio Storico dell’Istituto della Carità in Stresa, sind unter der Signatur ASIC REB zusammengefasst und werden auf diese Weise in der For-
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Der Vergleich mit Lazarus hat eine doppelte Bedeutung. Zum einen spielt Rebora auf seine physische und psychische Genesung an. Lazarus wird hier zur Metapher für einen Menschen, der nach einer traumatischen Kriegserfahrung ins Leben zurückfindet.109 Zum anderen versieht Rebora seine spätere Konversion – er wird zum strenggläubigen Katholiken und 1936 zum Priester110 – durch den Bezug auf Lazarus rückwirkend mit einer heilsgeschichtlichen Bedeutung. Diese drückt sich in der Hoffnung aus, dass die gesamte Menschheit, so wie er selbst, nach der furchtbaren Erfahrung des Ersten Weltkriegs mit Gottes Hilfe gerettet und erlöst werden kann, um einen »itinerario di salvezza« (Cicala/Rossi 2015: 140) zu beschreiten. Die Vision, Lazarus zu sein, bedeutet für Rebora die Befreiung von Laster und Gewalt (»amore«, »trincea«) und eine Hinwendung an Gott (»Signore«). Er übernimmt damit einen Aspekt, der schon in mittelalterlichen Lazarus-Stilisierungen vorkommt, in denen dieser als Sünder erscheint: »Lazzaro è la figura del peccatore, morto alla Grazia, sepolto nelle conseguenze e schiavo nelle fasce del peccato« (ASIC REB 42, 65).111 Rebora begreift den Krieg selbst als Sünde; er bedeutet für ihn den Triumph des Bösen und die Auflösung aller Werte.112 Insofern ist Lazarus bei Rebora
schung zitiert. Der Handzettel folgt der Signatur 42, Nr. 65; zitiert nach Rossi/Cicala 2015: 138. 109 »Lazzaro […] che diviene metafora di un uomo nuovo, in grado di emergere dal fango e dalla ›melma‹« (Cicala/Rossi 2015: 140). Ähnlich schätzt Lydia Natus, Reboras damalige Lebensgefährtin, dessen Rückkehr von der Front ein: »e se Ella lo aveva visto cambiato nei primi mesi di suo ritorno dalla morte alla vita – ora – credo, non lo troverebbe tanto migliorato; ci sono dei momenti ancora adesso, che – creda – abbiamo paura, io ed i suoi intimi amici che esso venga colpito da un altro choc nervoso al cervello […].« Abgedruckt als Natus, Lydia (1916): »Lettera 592, 6.10.1916«, in: Marchione, Margherita/Scalia, S. Eugene (Hg.) (1979): Carteggio IV. Giovanni Boine – Amici della ›Voce‹ – Vari (1904–1917). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 622–623, S. 622. 110 Vgl. Cacciaglia, Norberto (2001): »L’›itinerarium‹ in deum di Clemente Rebora«, in: Rizzo, Gino (Hg.): L’identità nazionale nella cultura letteraria italiana. Atti del 3. congresso nazionale dell’ADI (Lecce–Otranto, 20–22 Settembre 1999). Tomo II. Lecce (Mario Congedo Editore), S. 165–190, S. 187. 111 Zitiert nach Cicala/Rossi 2015: 139. Auch sie verweisen auf das Thema der Sünde, das Rebora mit Lazarus kombiniert (ebd.: 151). 112 Vgl. Giovannini, Carmelo (1994): »Il segreto di Clemente Rebora. Introduzione«, in: Giovannini, Carmelo (Hg.): Arche di Noè. Le prose fino al 1930. Milano (Jaca Book), S. 13–48, S. 46.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
eine ambivalente Metapher, die sowohl das Schlechte des Kriegs als auch die Hoffnung auf Erlösung und Erneuerung zum Ausdruck bringt.113 In Reboras Arche di Noè sul sangue wird Lazarus mit dem Ersten Weltkrieg in Bezug gesetzt. Der Text, der zu den sogenannten ›prose liriche‹ gehört, erscheint am 9.5.1917 in der kurz zuvor gegründeten Zeitschrift Brigata:114 113
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Diese Ambivalenz bleibt erhalten. So versteht Rebora Lazarus wahlweise als Sünder und als Bild für die Gefangenheit des Ichs oder aber als positives Erwachen, als Buße und Eintritt in (göttliches) Licht: »Levato dall’antro buio del peccato, come Lazzaro, alla luce«; »Lazzaro per permissione di Dio, caduto nel peccato« (beides ASIC REB 52); »La resurrezione di Lazzaro simboleggia altresì il sacramento della Penitenza« (ASIC Reb 42/A, n. 95), zitiert nach Cicala/Rossi 2015: 151; »uscire dal cieco carcere dell’io, come Lazzaro, alla Verità fraterna« (Rebora, Clemente (1926): »Lettera, 23.12.1926«, in: Marchione, Margherita (Hg.) (1976) Lettere I. (1893–1930). Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 524–525, zitiert nach Rossi, Valerio (2008): »Dal mondo antico all’imminenza di Dio: le postille di Rebora all’›Odissea‹«, in: Cicala, Roberto/Langella, Giuseppe (Hg.): A verità condusse poesia. Per una rilettura di Clemente Rebora. Novara (Interlinea), S. 105–116, S. 112). In der Forschung wird die Lazarus-Metapher unterschiedlich interpretiert: Während Del Serra und Lollo sie als Ausdruck für Reboras Entfremdung von der Literatur sehen, steht Lazarus laut D’Angelo für emotionale Versteinerung. Vgl. D’Angelo 2017: 420; Del Serra, Maura (1976): Lo specchio e il fuoco. Milano (Vita e Pensiero), S. 119 und Lollo, Renata (1978): »La prima guerra mondiale nella ricerca interiore di Clemente Rebora«, in: Rivista Rosminiana di Filosofia e Cultura, LXXII 3, S. 281–306, S. 299; letztere werden zitiert nach D’Angelo 2017: 420. Tatsächlich finden sich bei Rebora beide Aspekte. Indifferenz und Lebensunfähigkeit werden in den Briefen jener Zeit thematisiert: »Io sono tanto fuori dalla conoscenza e dal gusto […]. Un po’ come Lazzaro, a chi m’invita vado infinitamente spersonato – gravitante soltanto nell’essenza tremenda delle cose.« Rebora, Clemente (1917): »Lettera 489«, in: Giovannini, Carmelo (Hg.) (2004): Epistolario Clemente Rebora. Volume I. 1893–1928. L’anima del poeta. Bologna (Edizioni Dehoniane Bologna), S. 355–356, S. 355. Hier spielt Rebora auf Andreevs Erzählung Lazzaro an, die er aus dem Russischen ins Italienische übersetzt (zu letzterem vgl. Cicala/Rossi 2015a: 794; Giovannini 2004: 355). Andreevs Lazarus ist nach seiner Auferweckung verändert, er gleicht einer Leiche und bringt Zerstörung und Tod unter die Menschen. Vgl. Andreef, Leonida (= Andreev, Leonid)/Rebora, Clemente (1919): Lazzaro e altre novelle. Firenze (Vallecchi). Der Vergleich besagt, dass sich Rebora nach seiner Kriegserfahrung verändert hat; er ist ähnlich gleichgültig und einsam geworden wie Andreevs Lazarus. Wenige Monate später heißt es: »dopo che fui Lazzaro, mi torna arduo ›comportarmi in società‹ e dare un senso e un valore a uomini e cose!« Rebora, Clemente (1918): »Lettera, 19.12.1918«, in: Giovannini, Carmelo (Hg.) (2004): Epistolario Clemente Rebora. Volume I. 1893–1928. L’anima del poeta. Bologna (Edizioni Dehoniane Bologna), S. 415–416, S. 416. Sie verfolgt den Anspruch, ein Gegenpol zu anderen Zeitschriften zu sein, denen vorgeworfen wird, den Krieg zu verschweigen. S. Giovannini, Carmelo (1994a): »Rebora
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Accogli, Brigata, una parola – da uno che spersonato nel male del tempo rimane tuttavia insanabilmente uomo […]. [N]on sempre è dato di fare e star zitti – eppoi è cosa tanto innocua e civile, mentre scoppiano cuori e granate, che riconforta. […] E forse è caduto il vento di guerra, e l’urto si è ringoiato come agitazione – la quale formerà le ondate più vaste e terribili, che sogliono crescere e rovinare quando la tempesta ha persa in rabbia la sua voglia. E capisco come in tale mare saliente, chi possa bràncoli a modo suo verso una tavola di salvezza – e si moltiplichino così le arche di noè […] vincendo la nausea e il pericolo di questo mare – che è saliente di sangue davvero; e non per imagine [sic!] di predicatore. Ora, Brigata, vuoi accogliere questa parola da un Lazzaro, che chiamato venne a te senza intenzione né parte? vuoi generosamente prendere l’iniziativa di un esempio – o, non potendo, morire? tagliar netto alla ›boria‹ […].115 Rebora verbindet gleich zwei bekannte biblische Figuren mit seinem zeitlichen Kontext: Lazarus und Noah. Lazarus verkörpert einen Menschen, der vom Krieg gezeichnet ist (»male del tempo«) und sich selbst verloren hat (»spersonato«). Zugleich funktioniert er als Latenzindikator und zwar in dem Sinne, dass er etwas aufzeigt (»indice«), das hinter der gängigen Meinung verborgen ist und aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen bleibt (»tacita coscienza diffusa«). Er prangert an, dass der Krieg verschwiegen (»vuoto incosciente ›di ciò che sta succedendo‹«) oder durch Heuchelei (»simulare«), Hochmut (»vanità«, »boria«), Heroismus und Propaganda entleert und instrumentalisiert wird. Gegen diese nivellierende Ansicht wendet sich Rebora als Lazarus mit der Botschaft an seine Zeitgenossen, dass in Zeiten des Kriegs Menschlichkeit gewahrt werden solle und seine Generation eine besondere Verantwortung habe. Wie in anderen Werken Reboras dieser Jahre dominieren die Wortfelder ›Mensch‹ (»uomo«, »umanità«) und ›Krieg‹ (»guerra«, »guerriglie«, »milizie«), die er auf überraschende Weise miteinander verbindet (»scoppiano cuori e granate«).
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collaboratore de ›La Brigata‹«, in: Giovannini, Carmelo (Hg.): Arche di Noè. Le prose fino al 1930. Milano (Jaca Book), S. 197–208, S. 199. Rebora schreibt dazu: »La Brigata è la sola oggi che mi dia fiducia d’onestà, e nella quale non abbia vergogna di scrivere, mentre si muore.« Rebora: Lettere I, n. 472, zitiert nach ebd.: 199. Rebora, Clemente [1917/1919] (2 1982): »Arche di Noè sul sangue«, in: Scheiwiller, Vanni (Hg.): Le poesie. 1913–1957. Milano (All’insegna del pesce d’oro), S. 222–223, S. 222f. Die nachfolgenden Primärtextzitate beziehen sich auf die zuletzt genannte Stelle.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Die zweite, titelgebende Bibelreferenz bezieht sich auf die Geschichte von Noah (Gen 6–9).116 Rebora behält zwar die Isotopie der Sintflut bei (»ondate«, »tempesta«, »mare«), löst sich aber ansonsten vom Prätext. Denn es existiert nicht mehr bloß eine Arche, die den Wasserfluten zu strotzen und ein ganzes Menschengeschlecht zu retten vermag. Statt der großen ›Urarche‹ treiben nun viele kleine Archen (»arche«) auf einem stürmischen Meer aus Blut (»sangue«), die den einsam umherirrenden Menschen nur dürftigen Schutz bieten können (»bràncoli«, »tavola di salvezza«). Die semantische Verschiebung von Wasser (Prätext Bibel) zu Blut (Rebora) und die Verwendung von Motiven, die eine wachsende Gewalt bezeichnen (»urto«, »agitazione«, »crescere«, »rabbia«, »saliente«), demonstrieren, dass der Krieg eine noch größere Herausforderung darstellt als die Sintflut. Im Unterschied zu Noah können die Menschen weder auf die Hilfe Gottes vertrauen, noch die Hoffnung hegen, es verberge sich ein versteckter Sinn hinter dem Krieg. Die zahlreichen negativ konnotierten Wörter (»terribili«, »nausea«, »pericolo«) verstärken diesen Eindruck. Hier zeigt Reboras drastische Bildsprache, die den Krieg als Blutmeer darstellt, in dem sich die Menschen gegenseitig gefährden (»si insidino vicendevolmente«), anstatt einander zu helfen, dass sie als egoistische und unmenschliche Einzelkämpfer nicht in der Lage sein werden, ihre Menschlichkeit zu bewahren und die Katastrophe unbeschadet zu überstehen (»rovinare«).117 Im Text wird zugleich die Frage aufgeworfen, wie sich Kunst und Literatur in jener Zeit verhalten. Diese fungierten als Korrektiv (»correttivo«), da sie denjenigen, die aufgrund des Kriegs weinten und stürben, als leibhaftig gewordenes Vergnügen und Leben eine andere Realität aufzeigten. Damit trü-
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In der Genesis wird berichtet, wie Gott eine Sintflut über die Erde schickt, um die Menschheit zu vernichten, da sie schlecht sei. Noah überlebt, da er von Gott gewarnt wird. Er befiehlt ihm, eine Arche zu bauen, um sich vor der Sintflut zu retten. Nachdem alles schlechte Leben ausgelöscht worden ist, soll so ein neues Menschengeschlecht erschaffen werden (Gen 6–9). Die Frage, die sich vor dem biblischen Hintergrund aufdrängt, nämlich, ob der Krieg so wie die Sintflut eine Strafe Gottes sei, wird bei Rebora ausgeblendet. Darin erkennt man bereits Reboras Menschheitskonzept. Es wird von einem Lazarus repräsentiert, der dazu auffordert, menschlich und ethisch zu bleiben, und der ein Beispiel (»esempio«) dafür ist, dass Menschlichkeit trotz allem nicht stirbt (»insanabilmente uomo«). Ob die Metapher hier allerdings einen »recupero del proprio io« auszudrücken und eine »figura di un Lazzaro richiamato alla vita« (Cicala/Rossi 2015: 149f.) darzustellen vermag, wie Cicala/Rossi annehmen, ist fraglich. Zu stark wird der Fokus auf die negativen Aspekte und die zerstörerischen Auswirkungen des Kriegs gelenkt.
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gen sie zur allgemeinen Tendenz bei, den Krieg und seine negativen Folgen auszublenden und aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Reboras Appell richtet sich also ebenfalls an die Vertreter von Literatur, Kultur und Kunst. Ihr Bemühen, sich vor den Wasserfluten auf die kleinen Archen zu retten, symbolisiert den Versuch, die Literatur und Kunst vor den Gefahren des Werteverfalls, den der Krieg bedeutet, zu retten und sie als eine gewaltlose und moralische Alternative vorzuschlagen. Auch unter diesem Aspekt ist die Lazarus-Metapher interessant. Aufgrund der traumatischen Kriegserfahrung ist Rebora die Fähigkeit, zu schreiben, abhandengekommen: »Si vive e si muore come uno sputerebbe: i cadaveri insepolti […]. Non so più scrivere né esprimere«.118 Das Zitat gibt Aufschluss darüber, wie im Krieg Leben und Tod zusammenfallen und ethische Maßstäbe außer Kraft gesetzt werden. Lazarus ist eine Kontrastfigur zu den Leichen, die nicht begraben werden, und prangert die Kriegsgräuel an. Er wirft die Frage auf, ob und auf welche Weise Kommunikation und Schreiben nach einer solchen Extremerfahrung möglich sind. Corrado Govoni (1884–1965) verwendet die Lazarus-Metapher mehrfach. Vor allem für seine Gedichte bekannt (er schreibt u.a. erotische Sonette),119 wird Govoni zwischen crepuscolari und futuristi situiert, von denen er sich nach dem Krieg jedoch entfernt (Capello/Civitarese 2010: 59). Stattdessen verfasst er Prosawerke wie Il libro del bambino (1919), das bei damaligen Lesern wie auch in der späteren Forschung weitestgehend unbeachtet bleibt.120 Das Werk ist eine Sammlung von Erzählungen für Kinder, die mit La resurrezione di Lazzaro eine 118
Rebora, Clemente (1915): »Lettera a Livinia Mazzucchetti, 3.12.1915«, in: Giovannini, Carmelo (Hg.) (2004): Epistolario Clemente Rebora. Volume I. 1893–1928. L’anima del poeta. Bologna (Edizioni Dehoniane Bologna), S. 306, zitiert nach Cicala/Rossi 2015a: 792. 119 Vgl. Capello, Francesco/Civitarese, Giuseppe (2010): »Changing styles, affective continuities and psychic containers: Corrado Govoni’s early poetry«, in: The Journal of Romance Studies, 10 (3), S. 55–74, S. 59 und Capello, Francesco (2009): »The city as a fragmented mirror of poetry: Corrado Govoni’s early works (1903–1915)«, in: The Modern Language Review. Vol. 104, Nr. 2, S. 401–420, S. 401. Hier finden sich weitere Informationen zum crepuscolarismo (dt. ›Dämmerdichtung‹), einer literarischen Strömung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht und vom französischen Symbolismus beeinflusst ist (ebd.: 401f.). Zu Govoni als Dichter s. Peritore 1954: 655ff. und Pietropaoli, Antonio (2003): Poesie in libertà. Govoni Palazzeschi Soffici. Napoli (Guida), S. 14ff. 120 Vgl. dazu die Einleitung (ohne Titel) von Sanguineti, Edoardo (1985), in: Govoni, Corrado (1919): Il libro del bambino (Nachdruck der Ausgabe Milano (Rizzoli) 1919). Bergamo (Bolis), S. 3–14, S. 3.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Art Nacherzählung und Weiterführung der Lazarusgeschichte nach Johannes enthält.121 Im ersten Teil der Erzählung wird mittels einer Prolepse von Lazarus’ nahendem Tod berichtet, den Jesus vorausahnt. Dieser verfällt in eine große Traurigkeit, begibt sich jedoch erst nach Bethanien, als er seinen Freund tot wähnt.122 Anders als im Johannesevangelium (Joh 11,14), ist sich Jesus nicht sicher, dass Lazarus gestorben ist, er vermutet es nur (»credo«). Wie in der Bibel ruft Jesus den Toten mit den Worten »Lazzaro, vieni fuori!« (Govoni 1919: 24) und dieser erscheint: »pallido e smorto come una larva« (ebd.). Die Beschreibung deutet an, ebenso wie die Metapher der Larve, die Govoni mehrmals verwendet (ebd.: 25, 27), dass Lazarus den Tod nicht abschütteln kann.123 Solange Jesus bei Lazzaro, Maria und Marta weilt, bleibt dessen Veränderung (»profondo mutamento«, ebd.: 25) unbemerkt, doch sobald Jesus sie verlässt, wird offenbar, dass er verwandelt ist. Ihm haftet eine »tinta cadaverica« an, er wird von Fieber, Unruhe und Übelkeit (»nauseato«) geplagt, ist willenlos, spricht wenig und seine Stimme ist »lenta e sotterranea«; seine Handlungen und Bewegungen sind mechanisch und er hat jede Freude am Leben verloren (ebd.: 25ff.). Lazzaros Wesen hat sich ebenso gewandelt wie sein Äußeres: Sein Haar ist weiß geworden, die blutleeren kalten Hände gleichen denen eines Toten, er magert ab, wobei sein Bauch immer größer wird, was ihm ein groteskes Aussehen verleiht. Er ist eine fleischgewordene Erscheinung des Verfalls und des Todes, die er nun auf seine Umgebung überträgt: No, egli che aveva gustato il sonno divino senza coscienza della materia inerte; […] che aveva cioè incominciato a vivere la vera, l’unica, l’eterna vi121
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Ob es sich dabei tatsächlich um »una nuova biblia puerorum« (ebd.: 10) handelt, scheint aufgrund der zahlreichen Ausschmückungen, mit denen Govoni die Leerstellen, die im Prätext bestehen, versieht, und der nicht kindgerechten Botschaft fraglich. – Die Erzählung ist in vier Teile unterteilt, von denen sich der erste unter Bezug auf Originalzitate an die biblische Episode anlehnt und in den übrigen beschrieben wird, was nach der Wiederauferweckung geschieht. Anders als in der Bibel, liegt der Fokus auf den Folgen, die sich für Lazarus mit seiner Erweckung ergeben. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass bei Govoni die Gefühle und Gedanken der Handelnden im Mittelpunkt stehen, während sie im Prätext weitestgehend ausgeblendet werden. Vgl. Govoni, Corrado [1919] (1985): »La resurrezione di Lazzaro«, in: Il libro del bambino (Nachdruck der Ausgabe Milano (Rizzoli) 1919). Bergamo (Bolis), S. 23–30, S. 24. Charakterisierungen wie »debole convalescente«, »fantasma«, »cadavere vivente«, »spettro« sowie seine ständige Müdigkeit und Trägheit (»torbida sonnolenza«) bestätigen diesen Eindruck (ebd.: 27ff.).
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ta senza volontà e senza agitazione della natura; no, non poteva più rassegnarsi alla miserabile condotta umana di tutti i giorni, a coricarsi tutte le sere nel gelido letto, come in una morbida bara dalla quale bisognava rialzarsi tutte le mattine. Non poteva più sopportare coi suoi poveri occhi morti la vista delle brutte, orribili cose del giorno: la luce che mostrava la sporcizia della strada, il fango, l’usura della soglia, il pattume delle foglie putrefatte (ebd.: 26f.). Lazzaro versteht den Tod als eigentliches Leben (»la vera, l’unica, l’eterna vita«), das in seiner Bewegungslosigkeit, Ruhe, Ewigkeit und dem als angenehm empfundenen Zustand der Bewusstseinsleere mit der zirkulären immergleichen Existenz auf Erden kontrastiert, die ihm unerträglich geworden ist. In dieser Perspektive werden das irdische Leben und die menschliche Existenz abgewertet und der Tod aufgewertet. Es kommt zu einer Umkehrung gängiger Konzepte und ihrer jeweiligen Konnotation. Dies zeigt sich gleichsam darin, dass der Tod durch Motive des Lebens (»vivere«, »vita«) und das Leben wiederum durch Todesmotive (»bara«) charakterisiert wird. Seine Begegnung mit dem Tod (»sonno divino«) führt Lazzaro die Schlechtigkeit und Sinnlosigkeit des irdischen Lebens vor Augen (»inesistenti e privi di significato«, ebd.: 27).124 Wie viele der in dieser Arbeit behandelten literarischen Lazarus-Figuren, empfindet er seine Auferweckung als Strafe und macht Jesus stumme Vorwürfe: »Lazzaro che lo guardava sempre fissamente, col suo sguardo fisso ed implacabile di estinto infelice, interrogandolo: – Perché? Che cosa ti avevo fatto? Perché?« (ebd.: 29). Doch die eigentliche Blasphemie, die Govonis Text enthält, drückt sich in der folgenden skandalösen Behauptung aus: »Gesù l’aveva invidiato, e gli aveva preso il posto nell’infinito« (ebd.).125 Mit dem Vorwurf, Jesus sei aus Neid gestorben, um Lazarus seinen Platz im Jenseits zu rauben, werden die christlichen Werte des Mitleids,
124 Der Zitatabschnitt ist (wie der Text überhaupt) mit Todes- und Vanitasmotiven gespickt, die in der Beschreibung des wiedererweckten Lazarus und seiner Umgebung vorkommen (»inerte«, »usura«, »fango«, »putrefatte«). Die Sicht des Lazarus reaktiviert die Weltvorstellung des Barock und suggeriert, dass das Leben vergänglich und erbärmlich (»miserabile«) ist und nur der Tod Rettung bietet. 125 Die in der Bibelexegese bestehende Ansicht, Lazarus fungiere als Tauschfigur für Jesus und seine Auferstehung sei eine Präfiguration der Auferstehung Christi, wird hier auf höhnische Weise umgedeutet. Zum ersten Aspekt vgl. Frey 2005: 25. Frey erörtert die Begriffe ›Stellvertretung‹ und ›Sühne‹ im Zusammenhang mit dem Tod Jesu und geht der Frage nach, inwiefern Jesus für die Menschen stirbt (ebd.: 39f.).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
der caritas, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Nächstenliebe verhöhnt. Wie bereits bei Guerrini erscheint Jesus als Egoist, der andere für seine Zwecke ausnutzt. Nachdem Lazzaro begriffen hat, warum er wiedererweckt wurde, verschlechtert sich sein Zustand dramatisch. Er stirbt und sein Leid wiederholt sich. Jesus fügt ihm, aber auch Maria und Marta, die nun ein weiteres Mal um ihren Bruder trauern müssen, doppelten Schmerz zu. Jesus wird zum Täter und Lazzaro zu seinem Opfer. Dieses Ende kontrastiert auf drastische Weise mit der biblischen Geschichte und ihren gängigen Interpretationen. In der Erzählung Deformazione, die zu der Sammlung La santa verde (1919) gehört, greift Govoni die Lazarus-Metapher erneut auf. Aus der Perspektive eines demiurgischen ›Ich‹ wird beschrieben, wie aus dem Chaos Leben entsteht. Das Ich erzählt von drei Lebensformen (sogenannten ›materializzazioni‹), die es als Kröte, Stein und Rose annimmt. Der Text ist interessant, da darin die biblische Lazarus-Figur mit antiken Vorstellungen über den Ursprung der Welt verknüpft wird: Anche quando non vissi come aggregato di atomi, esistetti pur sempre come possibilità organica e spirituale; benchè il senso misterioso della mia origine materiale si perda nella più profonda notte dell’infinito cosmico e del tempo, dove la lotta eterna di giganti instancabili tra il caos e l’ordine, sprizzano nel nulla scintille di soli e sciami di mondi. […] era qualcuno che batteva sul mio cuore colpi potenti, che mi comandavano imperiosamente, come a Lazzaro in decomposizione nel suo sepolcro: – Sorgi! Vieni fuori! –126 Der im Text angesprochene Jemand (»qualcuno«) ist ein ›Steinklopfer‹, der den Stein mit seinen Schlägen zerstört und die Lebensform vernichtet, die das Ich vorübergehend angenommen hat. Wie bei den anderen ›Materialisierungen‹ ist es der Mensch, der Tod und Verderben bringt. Der Vergleich mit Lazarus ist
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Govoni, Corrado (1919a): »Deformazione«, in: La santa verde. Ferrara (Taddei), S. 233–245, S. 233, 239. Weitere Bezüge, nun auf den armen Lazarus aus dem Lukasevangelium, kommen in den Gedichten Voglio bene alla terra und L’usignolo e gli ubbriachi vor. Zu den Gedichten s. Arnaldi, Maria Paola (1991): »La terra esiliata: incontro ideale con Corrado Govoni«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 20, Nr. 1, S. 153–166, S. 157.
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ungewöhnlich, da Jesu Ruf »Sorgi! Vieni fuori!« als Störung wahrgenommen wird.127 In der Erzählung werden unterschiedliche Themenfelder miteinander verknüpft: einerseits die Themen Entstehung/Ursprung/Kosmos/Leben/Demiurg und andererseits die Themen Tod/Zersetzung/Mensch/Kultur. Die LazarusMetapher gehört zur zweiten und negativ besetzten Isotopie, der ebenso die Motive des Verfalls, des Todes, der Zerstörung und des Abjekten angehören. Dem ersten, positiv besetzten Wortfeld ist ein ganzer philosophischer Komplex zuzuordnen, der sich Fragen des Lebens und dessen Ursprungs widmet und eine Referenz auf die Philosophie Platons zu sein scheint. Denn mit den Motiven Kosmos (»cosmico«), Wandel, Leben/Existenz (»esistetti«), Sein und Werden, Ursprung (»origine«), Zeit (»tempo«) und Überzeitlichkeit (»eterna«), Astronomie (»soli«, »sciami di mondi«) oder den Gegensätzen von Chaos (»caos«) und Ordnung (»ordine«), Körper und Geist bzw. Organischem (»organica«) und Spirituellem (»spirituale«) werden zahlreiche Themen aufgeführt, die Platon in seinem Spätwerk Timaios (360–350 v. Chr.) erörtert.128 127
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Namentlich kommt Lazarus nur in der zitierten Passage vor, doch ist er indirekt durch zahlreiche Motive präsent, die auf die Bibelstelle verweisen: Wunder (»miracolo«), Wiedergeburt/Auferstehung (»rivivo«, »destare«, »destai«), Höhle/Loch (»caverne«, »buchi«), Dunkelheit (»tenebre«), Grab (»sepolcro«, »mia tomba«, »sepolto«, »cimiteri«), Tod (»morte«), Grabstein (»pietra sepolcrale«), Beerdigung (»funerale«), Sarg (»bara«), Stein (»sasso«, »pietra«) oder der Zustand, lebendig begraben zu sein (»sepolto vivo«) (Govoni 1919a: 234ff.). Wie schon in Govonis La resurrezione di Lazzaro sind viele Todes- und Vanitasmotive enthalten (»polvere«, »fango«, »pallido«, »muffa«, »vermi«, »umido«, ebd.: 236ff.). Daneben finden sich auffallend viele Motive, die mit Kristeva als Ausdruck des Abjekten (Ekel) zu interpretieren sind (»ribrezzo«, »vomito«, »escrementi«, »nausea«, »saliva«, »schifoso«, »verme nauseoso«, »massa molle e puzzolenta [sic!] di sozzo«, »sostanze melmose e di liquido«, ebd.: 237ff.). Kristeva bestimmt den Ekel als Gewaltakt. Vgl. Kristeva, Julia (1980): Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris (Seuil), S. 11. Die ›Materialisierung‹ als Rose ist eine Mischung aus Ekel und Gewalt und kann als Vergewaltigung der Rose durch eine Nacktschnecke interpretiert werden (Govoni 1919a: 241ff.). Zugleich ist die Passage aufgrund ihrer Thematik und Motive eine Auseinandersetzung mit der romantischen Dichtung. Vgl. Platon (6 2011): Timaios, in: Werke in acht Bänden. Griechisch-Deutsch. Siebter Band. Hg. v. Gunther Eigler. Übersetzt v. Hieronymus Müller u. Friedrich Schleiermacher. Darmstadt (wbg), S. 31ff./26dff. Näher zu Timaios s. Mannsperger, Dietrich/Nesselrath, Heinz-Gunther (2016): »Timaios«, in: Kindler Klassiker Philosophie. Werke aus drei Jahrtausenden. Stuttgart (Metzler), S. 556–557. Weitere Aspekte lassen vermuten, dass sich Govoni auf Platon beruft: Es kommen zentrale platonische Begriffe wie Idee (»idea«), Bewusstsein (»coscienza umana«), Mensch, Seele, Ich (»uomo, anima, io«), Geist (»spiri-
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Auf diese Weise wird die Lazarus-Figur aus dem christlichen in den philosophischen Diskurs überführt und Teil einer Reflexion über den Ursprung und die Entstehung von Leben, die sich an die Philosophie Platons anlehnt und dabei deutlich von der christlichen Lehre über die Entstehung der Welt absetzt. Nicht Gott ist ihr Schöpfer, wie in der Genesis beschrieben, sondern ein Demiurg, der, ähnlich wie bei Platon (Platon 6 2011: 33–41/28b–31b), als göttliches Prinzip des Ursprungs und Werdens zu verstehen ist. Anhand der LazarusMetapher wird vorgeführt, dass der Mensch jede Lebensform unterordnet, beherrscht und vernichtet.129
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to«) und Ursprung (»origine«, »primordi dell’età«) vor, Platons Lehrer Sokrates wird genannt und es werden die Dualismen Chaos und Kosmos oder Materie und Idee einander gegenübergestellt, die der platonischen Lehre entlehnt sind (Govoni 1919a: 234ff.). Mit dieser Darstellung entfernt sich Govoni von der in Timaios entwickelten Vorstellung, ein Demiurg habe eine gute Welt erschaffen. Vgl. dazu Platon 6 2011: 33ff./27cff. und Freihoffer, Dieter (2016): »Arthur Oncken Lovejoy«, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindler Klassiker Philosophie. Werke aus drei Jahrtausenden. Stuttgart (Metzler), S. 420–421, S. 420. – Ein weiteres Prosawerk der Zwischenkriegszeit, das mit der Figur des Lazarus operiert, ist Storia di Cristo (1921) von Giovanni Papini (1881–1956). Darin kommen sowohl der wiedererweckte Lazarus nach Johannes als auch der arme Lazarus nach Lukas vor. Papini fusioniert die drei biblischen Auferweckungen, die Jesus vornimmt und von denen die Evangelisten berichten: 1. Die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11–17), 2. Die Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mt 9,23–26, Mk 5,39–43, Lk 8,39–56) und 3. Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11). Vgl. Papini, Giovanni [1921] (1923): Storia di Cristo. Firenze (Vallecchi), S. 162ff., 207f. Die als Zeichen des Mitleids stilisierten Auferstehungsepisoden verfolgen ein didaktisches Ziel und können als Ausdruck für Papinis Versuch gelten, seine eigene Bekehrung und Konversion vom Atheismus zum Katholizismus auf die Gesellschaft Italiens zu übertragen. Näher zur Bedeutung Papinis für seine Zeit und La Voce s. Kapp 3 2007: 316 und Hösle 2 1990: 67. Das dreiteilige Prosawerk von Bacchelli, das zwischen 1938 und 1940 entstanden und in den 50er-Jahren zusammengefasst erschienen ist, enthält drei Lazarus-Figuren, die in Bezug mit der Kriegsthematik stehen. Die Handlung spielt zur Zeit des Risorgimento, ist mit den Kämpfen um die Vereinigung Italiens verknüpft und erstreckt sich bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Mit Blick auf die Entstehungszeit und die behandelte Thematik kann hier die Hypothese formuliert werden, dass die Lazarus-Figuren, die bei Bacchelli in verschiedenen Generationen auftauchen, als Wiederkehr eines kollektiv Verdrängten zu verstehen sind. Zu den Romanen selbst s. Bacchelli, Riccardo [1938–1940] (1979): Il mulino del Po. Dio ti salvi (I). La miseria viene in barca (II). Mondo vecchio sempre nuovo (III). Milano (Mondadori).
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3. Übergang und Nachkriegszeit 3.1 Lazarus zwischen Erinnerung und Verdrängung in der Nachkriegslyrik Italiens (Negri, Quasimodo, Montale, dell’Arco, Guidacci, Ungaretti, Sereni) Die Dichterin Ada Negri (1870–1945)130 rekurriert in ihrem Gedicht Alba auf die Lazarus-Metapher. Das Gedicht gehört zu der Lyriksammlung Il dono (1935), die Teil ihres Alterswerks ist,131 und stellt sich als eine Reflexion über Leben und Tod dar: Un altro giorno, dunque? Le campane mi dicono: ›Sei viva.‹ Ma nel sonno ero morta, ero morta – e questo lento rinvenire è il risorgere di Lazzaro dal sepolcro di pietra. Ecco: ritrovo me stessa: col mio corpo e col mio nome […] torna la pena che un clemente oblio m’avea tolta nel sonno: tutto torna come fu ieri, come pur sarà domani. Io, sempre. Io sola. Io, che non posso mutare, perché Dio così m’ha fatta nella sua volontà. Meglio era forse non ridestarsi: lungo l’acque cieche dell’immemore sonno al cieco fiume affluir nella morte. Ma non può morir chi vuole. […]132
130 Negri pflegt eine Freundschaft zu Mussolini, dem sie tief verbunden ist. Dies belegen ihre Briefe, in denen sie Mussolini in christlich-devoter Sprache huldigt. Vgl. Guida, Patrizia (2002): »Ada Negri: una scrittrice fascista?«, in: Quaderni d’italianistica. Vol. 23, Nr. 2, S. 45–58, S. 46f. Negri war in der Zeit des Faschismus eine vom Regime angesehene Dichterin. Vgl. Zampa, Giorgio (1984): »Introduzione«, in: Montale, Eugenio: Tutte le poesie. Hg. v. Giorgio Zampa. Milano (Mondadori), S. IX–LIV, S. XXIV. 131 Vgl. Baroni, Giorgio (2013): »›Tu sarai lui, ed egli sarà te‹: Ada Negri e il dono«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 42, Nr. 3, S. 33–38, S. 33. 132 Negri, Ada [1935] (3 1966): »Alba«, in: Poesie. Hg. v. Claudio Mariotti u. Mario Martelli. Milano (Mondadori), S. 771–772, S. 771. Die folgenden Primärtextzitate beziehen sich auf ebd.: 771f.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Mit dem Titel Alba (dt. ›Morgenröte‹, ›Tagesanbruch‹) bedient sich Negri eines typischen Symbols des Faschismus. Da sie zugleich die Lazarus-Metapher verwendet, wird der faschistische Mythos einer Erneuerung und Wiedergeburt Italiens mit dem christlichen Auferweckungsmythos in Zusammenhang gebracht. Diskursiv kommt die Bedeutung dieses Themas durch die Wörter mit der Vorsilbe »ri-« zum Ausdruck, die eine Wiederholung, Wiederherstellung, Wiederkehr oder Erneuerung benennen (»rinvenire«, »risorgere«, »ritrovo«, »ridestarsi«, »ritornar«). Die inhaltliche Struktur des Gedichts ist antithetisch und basiert auf zwei Hauptdualismen: Einerseits werden Leben und Tod gegenübergestellt, andererseits das lyrische Ich und Gott. Jenes begreift das Erwachen aus dem Schlaf (»sonno«) zunächst als Rückkehr ins Leben (»sei viva«) und vergleicht es mit der Auferstehung des Lazarus (»risorgere di Lazzaro«), der aus seinem Grab tritt (»sepolcro di pietra«). Durch die Lebenssymbole des starken Herzens (»tenace cuore«) und des Pochens (»palpitar«) wird suggeriert, das lyrische Ich empfinde sein Erwachen als positiv. Es scheint sich selbst wiederzufinden (»ritrovo me stessa«, »senso«, »mio corpo«, »mio nome«), worauf auch die Possessivpronomen hinweisen. Dieser Eindruck zerstreut sich jedoch, da der Schlaf mit dem Tod gleichgesetzt (»ero morta«) und mit weiteren Todessymbolen wie dem Vergessen (»oblio«), dem Fluss und mit Wasser (»acque cieche«, »cieco fiume«) in Bezug gebracht wird. Letztere lassen mythologische Jenseitsvorstellungen wie den Hades und die Flüsse der Unterwelt aufleben, wobei gerade Lethe das Vergessen symbolisiert.133 Durch die zahlreichen Todesmotive wird eine negative Semantik geschaffen, die auf auffällige Weise mit den positiv konnotierten Motiven des Sonnenaufgangs und des Erwachens kontrastiert, die eigentlich eine Rückkehr ins Leben symbolisieren. Vor diesem Hintergrund ist das zyklische Weltbild, das in dem Gedicht zum Ausdruck kommt (»tutto torna come fu ieri«, »legge per cui s’alterna con la notte il giorno«), negativ zu bewerten. Zusammen mit den Wortwiederholungen (»torna«, »ero morta«, »giorno«), Anaphern, Alliterationen und Parallelismen symbolisiert es die Determiniertheit des Menschen (»che non posso mutare«), seine Abhängigkeit von Gott (»sua volontà«) und seine immergleiche
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Zum Unterweltstrom Lethe, der den Seelen der Toten Vergessen spendet, sowie zur griechischen Gottheit Lethe in der Mythologie s. Weinrich 3 2000: 18f. Zur Etymologie des griechischen lethe s. ebd.: 15f. Zum Konnex von Vergessen, Unverborgenheit und Latenz s. die Kapitel I, 1.1 und I, 1.2 in dieser Arbeit.
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einsame Existenz auf Erden (»io, sola«). Das lyrische Ich empfindet sein Leben als Last (»pena«, »m’imponi«) und wartet auf die Erlösung durch den Tod, die nur von Gott gegeben werden kann (»non può morir chi vuole«). Am Ende wendet es sich ihm mit einem Gebet zu (»ti prego«) und bittet demütig um die Kraft, das Leben als göttliche Prüfung (»prova«) anzunehmen – wobei mit dem Topos der prova eine Referenz auf Petrarcas berühmtes Proömialsonett erfolgt (»per prova intenda amore«, Petrarca 2015: 5) –, um die ihm verbliebenen Tage in christlicher Mildtätigkeit (»pietà«) und innerem Frieden (»pace«) in Erwartung des Todes auszuharren (»attenda«). Dieses Konzept widerspricht der Lebensemphase und dem Menschenbild des Faschismus, das das Individuum als selbstständigen, vitalen, starken und tatkräftigen Helden feiert. Wie die stark religiös gefärbte Sprache und die vielen christlichen Motive zeigen (»campane«, »Ave Maria«, »Dio«, »anima«, »pena«, »prova«, »pietà« u.a.), beschreibt das Gedicht eine christlich motivierte Abwendung vom Leben hin zu einer Ausgerichtetheit auf den Tod und das Jenseits.134 Insofern werden die beiden Auferstehungsmotive der Morgenröte und der Wiedererweckung des Lazarus in den Kontext der Lebensverachtung überführt (»Meglio era forse non ridestarsi«). In Negris Lazarus-Gedicht und in der Lebensmüdigkeit, die es zum Ausdruck bringt, wird eine späte Abkehr von der faschistischen Ideologie und Lebensemphase sichtbar, die darauf hindeutet, dass in der damaligen Zeit keine Hoffnung mehr auf ein erfülltes Leben besteht und eine moralische Rettung nur noch durch eine Abwendung von der Gegenwart erfolgen kann.135 Die in Negris Spätwerk erkennbare Tendenz, sich von der Realität und zeitgenössischen Gegenwart zu distanzieren, um sich auf sich selbst zu besinnen, erfährt mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit einen deutlichen 134
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Indem der Tod eine Aufwertung gegenüber dem irdischen Leben erfährt, das lediglich Pein und Vergänglichkeit bedeutet, während der Tod die Befreiung von Leid bringt, wird auf ein typisch barockes Motiv rekurriert. Die Lebensverachtung kontrastiert mit dem Titel der Gedichtsammlung, der Baroni zufolge als ›Gabe‹ und ›Geschenk‹ (»dono«) dem Leben huldigt (Baroni 2013: 33). Dass die demütige Hinwendung des lyrischen Ichs zu Gott eine literarische Pose darstellen könnte, wird durch das Gedicht Rimorso suggeriert, das Alba unmittelbar vorangeht. Ähnlich wie in Alba gibt das lyrische Ich darin vor, Reue (»rimorso«) ob seines vertanen Lebens zu empfinden. Dies kann als Referenz auf den giovenile errore verstanden werden, von dem Petrarca im Proömialsonett des Canzoniere retrospektiv berichtet (Petrarca 2015: 5).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Wandel. Intellektuelle, Dichter, Schriftsteller und Künstler melden sich zu Wort und betonen die Rolle, die Kunst und Literatur bei der Aufarbeitung der Vergangenheit haben. Salvatore Quasimodo, Nobelpreisträger (1959), Begründer des ermetismo und einer der bedeutendsten Dichter des Novecento,136 formuliert in seinem Vortrag Sulla poesia contemporanea von 1946 einen dringenden Appell: Oggi, poi, dopo due guerre nelle quali l’›eroe‹ è diventato un numero sterminato di morti, l’impegno del poeta è ancora più grave, perché deve ›rifare‹ l’uomo, quest’uomo disperso sulla terra […] quest’uomo che aspetta il perdono evangelico tenendo in tasca le mani sporche di sangue. Rifare l’uomo: questo il problema capitale. […] Rifare l’uomo, questo è l’impegno.137 Quasimodo bricht mit einer heroisierenden Kriegsrhetorik und dem Heldendiskurs, indem er konstatiert, dass der Krieg keine Helden, sondern Opfer und Tote hervorbringt (»numero sterminato di morti«). Nach den beiden Weltkriegen und den Gräuel des Holocausts lastet auf der gesamten Menschheit eine universelle, unabgegoltene Schuld. Mit dem Bild der blutbeschmutzten Hände (»mani sporche di sangue«), die versteckt werden, um göttliche Absolution und Vergebung (»perdono«) zu erhalten, kritisiert er Geschichtsrevisionismus, Verdrängung, Verleugnung und die Rehabilitierung von Tätern aufs Schärfste. Nach dem Krieg sei es notwendig, den Menschen wiederherzustellen, ja sogar neu zu erschaffen (»rifare l’uomo«), wobei die Dichtung (»poesia«) eine solche Herausforderung bewältigen könnte. Denn jeder neue Dichter sei ein Akt der Unruhe und Gewalt (»atto di ›disordine‹«, »atto di violenza«, Quasimodo 10 1996: 265f.), der mit dem Vorangegangenen breche. Als Mensch seiner Zeit (»uomo del suo tempo«, ebd.: 265) sei er dafür verantwortlich, mit seinem
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Dazu und zu Quasimodos hermetischer Dichtung, von der er sich von 1936 bis 1942 löse, um eine sozial engagierte Lyrik zu schreiben, s. Finzi, Gilberto (2015): »Introduzione«, in: Quasimodo, Salvatore: Tutte le poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. V–XVIII, S. VIIIff. Die schwer verständliche, dunkle Lyrik des ermetismo, zu dessen Vertretern neben dem frühen Quasimodo Ungaretti und Montale gezählt werden, wurde oft als eine Flucht vor und Abkehr vom Faschismus und der Diktatur Mussolinis interpretiert (ebd.: V). Zum Klima der Erneuerung in Italien s. ebd.: XIV. Quasimodo, Salvatore [1946] (10 1996): »Sulla poesia contemporanea«, in: Poesia e discorsi sulla poesia. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. 265–273, S. 273. Pavese ruft ebenfalls dazu auf, nach dem Krieg zur Menschlichkeit zurückzukehren. Vgl. Pavese, Cesare: »Ritorno all’uomo«, in: L’unità di Torino, 20. Mai 1945.
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Werk einen moralischen Beitrag zur Wiederherstellung des Menschen zu leisten.138 Quasimodo fordert eine neue Dichtung, die auf den Zusammenbruch der Gesellschaft, die Selbstverlorenheit des Menschen sowie den Sicherheitsund Werteverlust reagiert, die Folgen von Krieg, Gewalt und Tod sind.139 1953 stellt er in Discorso sulla poesia fest: »la guerra muta la vita morale d’un popolo, e l’uomo, al suo ritorno, non trova più misure di certezza.«140 Da der Krieg die Welt zerstört und jede Moral irreversibel nivelliert habe, könne der Mensch bei seiner ›Rückkehr‹ (»ritorno«) auf nichts Bekanntes oder Gegebenes mehr zurückgreifen. Das Motiv der Rückkehr ist mehrdeutig und könnte sich auf die Kriegsheimkehrer und zugleich auf den Menschen per se beziehen, der nach einer Zeit der Entfremdung und existentiellen Heimatlosigkeit (im Sinne Heideggers)141 in die Gegenwart zurückkehrt, wo er sich mit der neuen Realität konfrontiert sieht, die der Krieg hinterlassen hat. Meine These lautet, dass Quasimodo das in den Vorträgen theoretisch erörterte Thema des Menschen, der verändert aus dem Krieg wiederkehrt und sich einer moralischen Revision zu unterziehen hat, in dem Gedicht Di un altro Lazzaro behandelt.142 Das Gedicht gehört zu der Sammlung Giorno dopo giorno 138
Zwar könne der Dichter Tod und Schmerz nicht lindern, aber er könne sie benennen und die Gesellschaft durch seine Stimme (»la voce necessaria dei poeti«, ebd.: 267) und Anklage verändern. 139 Das Konzept der engagierten Literatur (»impegno«) erinnert an Sartres écrivain engagé, der, indem er schreibt, handelt und die Wirklichkeit verändert. Vgl. Sartre, JeanPaul (2013): Solutions, III. Littérature et engagement. Février 1947–avril 1949. Paris (Gallimard), S. 27f. Anders als für Quasimodo ist für Sartre (später revidiert er diese Ansicht) zunächst nur die Prosa, nicht aber die Lyrik, zweckgerichtet und zwar in dem Sinne, dass jene als engagierte Literatur die Welt verändern kann und den Leser beeinflusst. Vgl. dazu auch Spies, Marion (5 2013): »Sartre, Jean-Paul«, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart (Metzler), S. 672–673. 140 Quasimodo, Salvatore [1953] (10 1996): »Discorso sulla poesia«, in: Poesia e discorsi sulla poesia. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. 283–293, S. 283. 141 S. Heidegger, Martin [1947] (1976): »Brief über den Humanismus«, in: Hermann von, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Gesamtausgabe. Band 9, Wegmarken. Frankfurt a.M. (Klostermann), S. 313–364, S. 341. 142 Über seine Übersetzung des Johannesevangeliums aus dem Griechischen ins Italienische sagt Quasimodo: »L’ho tradotto durante la guerra proprio per una ricerca mia personale.« Offensichtlich dient ihm die Auseinandersetzung mit der Bibel gerade in der schwierigen Kriegszeit als persönliche Orientierung. Das Interview zu Quasimodos Lyrik und seiner Übersetzung des Johannesevangeliums mit Claudio Casoli ist verfügbar unter: https://www.jesus1.it/ges%C3%B9-arte-e-letteratura/letteratura/quasimodo-s
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
(1947), die in der Forschung als Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt verstanden wird:143 Di un altro Lazzaro Da lontanissimi inverni, percuote un gong sulfureo il tuono sulle valli fumanti. E come in quel tempo, si modula la voce delle selve: ›Ante lucem a somno raptus, ex herba inter homines, surges.‹ E si rovescia la tua pietra dove esita l’immagine del mondo.144 Der Titel enthält mit Lazarus eine Referenz auf das Johannesevangelium, zugleich macht er deutlich, dass ein ›anderer‹ Lazarus als derjenige der Bibel gemeint ist (»altro«). Man kann dies so verstehen, dass dieser zweite Lazarus den von Gewalt und Krieg gezeichneten Menschen verkörpert, der nun neu erstehen muss. Zu Beginn werden durch die unbestimmten Zeit- und Ortsangaben eine lang vergangene Zeit (»lontanissimi inverni«) und ein Ort in der Natur evoziert. Durch den melodischen, ruhigen und fließenden Sprachduktus, die Enjambements und das Versmaß des endecasillabo erhält das Gedicht eine besondere Musikalität und es entsteht der Eindruck von Zeitlosigkeit.145 alvatore-1901-1968/; letzter Zugriff: 6.1.2023. Hier merkt Quasimodo an, dass Dichter eine »funzione sociale e politica […] sotterranea« hätten. Quasimodo übersetzt das Johannesevangelium von 1943 bis 1945. Vgl. dazu Finzi, Gilberto (2015a): »Cronologia«, in: Quasimodo, Salvatore: Tutte le poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. XIX–XXIV, S. XXII und zur Übersetzung selbst s. Quasimodo, Salvatore (1950): Il vangelo secondo Giovanni. Tradotto dal greco. Milano (Mondadori). 143 »[…] per questo canto umano, indifeso, pieno di dolore e di forza, che i venti testi di ›Giorno dopo giorno‹ furono accolti come un grande esito della poesia della guerra e della Resistenza«. Finzi 2015: XIII und vgl. Vallese, Giulio (1947): »Poesia di Salvatore Quasimodo«, in: Italica. Vol. 24, Nr. 3, S. 238–243, S. 241f. Quasimodo nimmt nicht aktiv an der Resistenza teil, äußert seine regimekritische Haltung aber in Zeitschriften oder durch den Beitritt in den PC (Finzi 2015a: XIXff). 144 Quasimodo, Salvatore [1947] (2015): »Di un altro Lazzaro«, in: Tutte le poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. 143. 145 Das Motiv des Schwefels (»sulfureo«, dt. ›schwefelartig‹) könnte auf die vulkanischen Inseln Siziliens anspielen und damit auf Quasimodos Heimat, die er in seinen Gedichten häufig behandelt. Die Themen der Erinnerung und der mythischen Vergangenheit,
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Wie häufig bei Quasimodo, überlagern sich auch in diesem Gedicht verschiedene Zeitebenen, was Ausdruck eines Unbehagens ist, das die Kriegsund Nachkriegsgeneration bestimmt und ihr problematisches Verhältnis mit der Vergangenheit repräsentiert. Denn die ferne, unbestimmte Zeit wird in Quasimodos Gegenwart überführt und mit dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang gebracht. Das Motiv des Schwefels könnte eine Referenz auf den Teufel und das Böse sein und deutet auf eine latente Gefahr hin, die kurz vor der Eruption steht. Damit wiederum könnte der Krieg gemeint sein, der nun thematisiert wird: Während der Donnerschlag (»tuono«) die Gewalt, den Lärm und das Einschlagen von Bomben symbolisiert, spielen die rauchenden Täler (»valli fumanti«) auf die Zerstörung von Leben durch den Krieg an.146 Der schwefelartige Gong (»gong sulfureo«), der als Donnerschlag auf die rauchenden Täler einschlägt (»percuote«), ist als Bild für einen Bombenangriff zu verstehen. Die Isotopie der Gewalt (»percuote«, »raptus«, »rovescia«) verweist ebenfalls auf den Krieg. Mittels der zeitlichen Angabe »come in quel tempo« werden eine vergangene und eine gegenwärtige Zeit miteinander in Bezug gesetzt, wobei unklar ist, auf was sich »quel tempo« bezieht. Kryptisch ist auch die Wortverbindung »voce delle selve«. Das Wort »selve« ist mehrdeutig: Als Wald (»selva«) könnte es auf Dantes Verstrickung im Sündenwald anspielen und mittels des intertextu-
die für immer verloren ist, sind typisch für seine Lyrik. Zu Sizilien als verlorene Heimat und zu Quasimodos Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, s. Wehle, Winfried (2013): »Identità ›in absentia‹. Sulla lirica di Salvatore Quasimodo«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 42, Nr. 3, S. 207–219, S. 208; Vallese 1947: 239; Finzi 2015: X, XV und Martini, Alessandro (2015): »›Nell’occhio che riscopre la luce‹. Tempo, storia e memoria nella poesia di Salvatore Quasimodo«, in: Romanische Studien, 2, S. 137–146, S. 137. In einer Dichtung, die Ausdruck einer nie abgeschlossenen »ricerca di una dimensione esistenziale completa« (ebd.) ist, kontrastiert die Vergangenheit (Sizilien) mit Quasimodos Gegenwart, die Unruhe, Unwohlsein und Schmerz bedeutet, die Folgen des Zweiten Weltkriegs sind (ebd.: 137f.). Zu Erinnerung, Vergangenheit, Geschichte und Gegenwart bei Quasimodo s. ebd. 146 Das Motiv des Rauchs – als Ergebnis von Kriegsschäden durch Bombeneinschläge – kommt in der Sammlung häufiger vor. In dem Gedicht Elegia ist der Bezug zur Zerstörung durch den Krieg deutlich herausgestellt: »Gelida messaggera della notte,/sei ritornata limpida ai balconi/delle case distrutte, a illuminare/le tombe ignote, i derelitti resti/della terra fumante […]«. Quasimodo, Salvatore [1947] (2015): »Elegia«, in: Tutte le poesie. Hg. v. Gilberto Finzi. Milano (Mondadori), S. 142.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
ellen Bezugs auf Dantes Commedia147 den zeitgenössischen Menschen thematisieren, der durch Krieg, Gewalt und Tod in einen sündhaften Zustand geraten ist. Das Motiv der Stimme (»voce«) erinnert an die Stimme Jesu, der Lazarus zuruft, aus seinem Grab zu kommen. Der Bezug zum Prätext ergibt sich anhand des anschließenden lateinischen Ausspruchs, mit dem auf die Auferweckung des Lazarus angespielt wird. Zugleich ruft das Motiv den Appell des Dichters aus Poesia contemporanea in Erinnerung und kann als Hinweis auf seine Pflicht gelten, durch seine Gedichte den Krieg zu benennen und den Toten und Opfern eine Stimme zu geben. Mit dem plötzlichen Sprachwechsel vom Italienischen ins Lateinische als einer alten, mythischen Sprache wird auf die vergangene Zeit zu Gedichtbeginn zurück verwiesen.148 Gleichzeitig muss der Leser einen verloren gegangenen, oft nicht mehr erkennbaren Sinn rekonstruieren. Der entrissene Schlaf (»somno raptus«) als ein Erwachen, das Gras (»erba«), das als Erde auf den Tod und das Grab des Lazarus verweist, und schließlich das Motiv der Auferstehung (»surges«) sind Referenzen auf das Johannesevangelium. Das Licht (»lucem«) wiederum könnte als christliches Motiv auf das Leben, auf Jesus und die Anwesenheit Gottes hinweisen; dann wäre die Präposition »ante« nicht zeitlich als ein ›davor‹, sondern bildlich als ›im Angesicht Jesu/Gottes‹, ›vor Gott‹, zu verstehen. Man kann die lateinische Passage wie folgt interpretieren: Mit neuer Hoffnung, die durch das Licht symbolisiert wird, ersteht
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»Nel mezzo del cammin di nostra vita/mi ritrovai per una selva oscura/che la diritta via era smarrita.« Alighieri, Dante (1985): La divina commedia. Inferno. Hg. v. Natalino Sapegno. Firenze (La nuova Italia), I, 2, S. 4. Als literarischer Fachbegriff für eine Sammlung von Gedichten oder Bemerkungen eines Autors (»selve«) stellt das Wort ein metapoetisches Element dar. Zu »selva«/»selve« s. Zingarelli, Nicola (Hg.) (12 2013): Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana. Bologna (Zanichelli), S. 1725. 148 Man kann darin eine Referenz auf Quasimodos Auseinandersetzung mit der lateinischen und griechischen Dichtung vermuten, die er ins Italienische übersetzt. Zu den Übersetzungsarbeiten s. Finzi 2015: XII. In dem Gedicht wird so ein Zusammenhang zwischen Krieg, Dichtung und Lazarus geschaffen. Dieses subtile, aber auch verdunkelnde Verfahren erinnert an Quasimodos frühe hermetische Gedichte, mit denen Di un altro Lazzaro aufgrund der Leerstellen, der abstrakten und schwer verständlichen Bildlichkeit sowie der verknappten Sprache Ähnlichkeit hat. Da Lazarus nach der wörtlichen Benennung durch den Titel im Gedicht selbst nur noch indirekt vorkommt, ist er darin als etwas Unterschwelliges enthalten. Insofern schreibt er sich in die »poesia come una topografia di falle, fessure e lacune« (Wehle 2013: 218) ein, die Wehle zufolge kennzeichnend für Quasimodo ist.
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der zeitgenössische Mensch aus Tod und Kriegsgewalt, um wieder Mensch zu werden und unter die Menschen zurückzukehren (»inter homines«). Auf unterschwellige Weise werden in dem Gedicht die desaströsen Folgen des Kriegs angesprochen, der den Menschen so sehr zerstört hat, dass eine ethische Auferstehung und eine Rückkehr zum Mensch-Sein notwendig werden. Inwiefern der Krieg Anlass ist, das Konzept der Menschheit zu überdenken, macht das Ende deutlich: Denn vor dem wiederauferstandenen und aus dem Krieg zurückgekehrten Lazarus-Menschen, dessen Grab (»la tua pietra«) kippt, umfällt und sich umkehrt (»si rovescia«), zögert die Welt (»esita l’immagine del mondo«). Dies suggeriert, dass sich mit dem Zweiten Weltkrieg der Zweifel tief in die Existenz eingeschrieben hat. Das Motiv des Kippens legt nahe, dass der Mensch die Kriegslast nicht loswerden wird, wobei die Possessiv-Form (»tua«) ein Hinweis darauf ist, dass jeder seine Kriegsbürde selbst schultern muss. Durch die Anrede ›Du‹ wird der Leser direkt angesprochen und zum Nachdenken und Handeln motiviert. Darin äußert sich der soziale Impetus von Quasimodos Nachkriegslyrik. Das Gedicht lässt offen, ob der Lazarus-Mensch, nunmehr lediglich ein Bild, ein Abbild oder ein Schatten seiner selbst (»immagine«) – mehrere Interpretationen sind hier möglich –, nach dem Krieg jemals wieder ganz Mensch sein und zu sich zurückfinden kann. Der Gedichtband La bufera e altro (1956) von Eugenio Montale (1896–1981)149 vereint Gedichte, die Montale zwischen 1940 und 1954 schreibt. Auf den Zweiten
149 Mit Quasimodo verbindet Montale neben einer Freundschaft die antifaschistische Haltung. Bei beiden wird mit Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Wendung erkennbar, die sich von einer verschlossenen Lyrik hin zu einer offeneren Dichtung vollzieht, die nun auf die historische Realität und das Leid des Menschen ausgerichtet ist. Vgl. Zampa 1984: XLIV und Zampa, Giorgio (1984a): »Note ai testi«, in: Montale, Eugenio: Tutte le poesie. Hg. v. Giorgio Zampa. Milano (Mondadori), S. 1056–1147, S. 1097. Die »Note ai testi« werden von dem Herausgeber aus folgender Ausgabe übernommen: Montale, Eugenio (1980): L’opera in versi. Hg. v. Rosanna Bettarini u. Gianfranco Contini. Torino (Einaudi). Zu den Verbindungen zwischen Montale, Quasimodo und Ungaretti s. Finzi 2015: V, VIII, XIVff. und Zampa 1984: XIV. Vgl. zu Montales Bedeutung für die italienische Lyrik ebd.: IXff.; zu seiner regimekritischen Position und dem Widerstand, der in seinen Gedichten zum Ausdruck kommt, ebd.: XII, XXXIVff.; Carpi, Umberto (1971): Montale dopo il fascismo dalla ›Bufera‹ a ›Satura‹. Padova (Liviana), S. 91ff. und Montale, Eugenio [1945] (1995): »Il fascismo e la letteratura«, in: Auto da fé. Cronache in due tempi. Milano (Mondadori), S. 12–17. Darin rechnet Montale mit faschistischen und faschismusnahen Autoren und Dichtern ab, u.a. mit D’Annunzio und Pirandello.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Weltkrieg weist sowohl der Entstehungszeitraum als auch der Titel des Gedichtbands hin, der Luciano zufolge eine Metapher für den Krieg ist (Luciano 2018/2019: 283).150 Mit dem Motiv des Sturms (»bufera«) werden insofern die Unruhe, Umwälzungen und Gewalt thematisiert, die der Krieg bedeutet. Das Gedicht Voce giunta con le folaghe (1947), das zum fünften Teil Silvae aus Bufera gehört, enthält zwar keinen direkten Lazarus-Verweis, kann jedoch aufgrund der geschilderten ›Auferstehung‹ eines Toten mit der Figur in Relation gebracht werden: Voce giunta con le folaghe Poiché la via percorsa, se mi volgo, è più lunga del sentiero da capre che mi porta dove ci scioglieremo come cera, ed i giunchi fioriti non leniscono il cuore ma le vermene, il sangue dei cimiteri, eccoti fuor dal buio che ti teneva, padre, erto ai barbagli, […] L’ombra che mi accompagna alla tua tomba, vigile […] l’ombra non ha più peso della tua da tanto seppellita, i primi raggi del giorno la trafiggono, farfalle vivaci l’attraversano, la sfiora la sensitiva e non si rattrappisce. L’ombra fidata e il muto che risorge, quella che scorporò l’interno fuoco e colui che lunghi anni d’oltretempo (anni per me pesante) disincarnano, si scambiano parole che interito sul margine io non odo; l’una forse ritroverà la forma in cui bruciava
150 Für eine Übersicht über den Forschungsstand zu La bufera e altro und allgemein zu den darin behandelten Themen der Erinnerung, Zeugenschaft und Anklage sowie zur Nachkriegsrealität, die als Zustand der Angst und Unruhe verstanden wird, vgl. Carpi 1971: 73ff., 79ff.
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amor di Chi la mosse e non di sé, ma l’altro sbigottisce e teme che la larva di memoria in cui si scalda ai suoi figli si spenga al nuovo balzo.151 In dem Gedicht, das hier auszugsweise wiedergegeben wird und das insgesamt aus fünf jeweils elfzeiligen Strophen in versi sciolti besteht, herrscht eine düstere Stimmung. Durch zahlreiche negativ konnotierte Motive, den Schauplatz des Friedhofs (»cimiteri«), Referenzen auf die Unterwelt (»semisommerse«) und das Jenseits (»lunghi anni d’oltretempo«), das Motiv der Schwere (»pesante«) bzw. Last (»carico«) und die zahlreichen Todessymbole wie das Grab (»tomba«, »seppellita«), Dunkelheit (»buio«), Schatten (»l’ombra«), Blut (»sangue«) sowie die Farbe schwarz (»nere«) wird eine zutiefst negative Semantik geschaffen, der zu entnehmen ist, dass das Gedicht eine Auseinandersetzung mit dem Krieg darstellt. Es überwiegen kryptische Bilder und Metaphern (»sentiero da capre«, »cera«, »vermene«), die ein Verständnis erschweren. Tatasciore zufolge handelt es sich hierbei um intertextuelle Referenzen auf Dantes Purgatorio.152 Der Intertext des Purgatorio, in dem bei Dante die Sünder angesiedelt sind, ist aufschlussreich, da durch ihn suggeriert wird, dass die Menschen, die den Krieg überlebt haben, Sünder sind und sich eine universelle Schuld aufgeladen haben, von der sie geläutert werden müssen. Zugleich kommen mit dem Grab (»tomba«), der Höhle (»fossa«), dem Friedhof und der Auferstehung (»risorge«) mehrere Motive vor, die mit der Auferweckung des Lazarus in Verbindung gebracht werden können. Die Aussage »eccoti fuor dal buio« verweist auf den Ruf, mit dem Jesus Lazarus auffordert, aus seinem Grab zu treten (»Lazzaro, vieni fuori!«, Gv 11,43). In Montales Gedicht richtet sich dieser Ruf an eine Person, die ›Vater‹ (»padre«) genannt wird und die einen auferstandenen Stummen bezeichnet (»il muto
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Montale, Eugenio [1947] (1984): »Voce giunta con le folaghe«, in: Tutte le poesie. Hg. v. Giorgio Zampa. Milano (Mondadori), S. 258–259, S. 258. Die Primärtextzitate im Folgenden beziehen sich auf ebd.: 258f. Näher zu Bufera als Ausdruck einer Krise, in der sich die Welt befinde, sowie zu den Themen der Absenz und des Todes, die darin behandelt werden, s. Zampa 1984: XLff. Insgesamt sei Dantes Purgatorio ein wichtiger Intertext des Gedichts, in dem eine ›purgatoriale‹ Stimmung aufkomme. Vgl. Tatasciore, Enrico (2006): »›Ezekiel saw the Wheel…‹, ›Voce giunta con le folaghe‹: Frammenti di una riflessione sulla memoria«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 35, Nr. 2, S. 75–99, S. 87, 82ff. Allgemein zu Dantes Einfluss bei Montale s. Zampa 1984: XIII.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
che risorge«). Der tote Vater steht weniger für den 1931 gestorbenen Vater Montales, wie Campeggiani behauptet,153 sondern für eine Vergangenheit, die gleichermaßen individuell und kollektiv ist. Denn er verkörpert alle Väter, die im Krieg sterben mussten und ihre Kinder und Familien alleine ließen, die jetzt den Verlust ertragen müssen (»vuoto«). Das Motiv zeigt, dass dem Nachkriegsmenschen Schutz, Sicherheit, Geborgenheit, Familie, Ursprung, Heimat und Vertrauen abhandengekommen sind, die der nun tote Vater einst symbolisierte. Wie schon in anderen Gedichten aus Bufera suchen das lyrische Ich Personen aus der Vergangenheit heim.154 Die zahlreichen Verben mit der Vorsilbe »re-«/»ri-« (»ritorni«, ritroverà«, »ritrovarci« u.a.) weisen hier darauf hin, dass das Thema der Rück- und Wiederkehr zentral ist. Die Metapher des Friedhofbluts (»sangue dei cimiteri«) wiederum benennt das Grauen des Kriegs, zu dessen Opfern auch der angesprochene Vater gehört.155 Zugleich ist der wiederauferstandene ›Vater‹, den das lyrische Ich aus dem Dunkeln treten sieht, eine Latenzfigur. Insgesamt kommen in dem Gedicht auffällig viele Motive vor, die auf etwas Latentes verweisen (»larva«, »ombra viva«, »vuoto inabitato«, »letargo«, »oscuro senso«). Die Latenzfiguren, unter ihnen die in den italienischen Texten bemerkenswert oft vertretene Larve, zeigen, dass die Geister der Vergangenheit als Schatten, Wiedergänger und Auferstandene in die Gegenwart einbrechen und verhindern, dass man mit dem Vergangenen abschließt. Als etwas Latentes sind sie in der Gegenwart vorhanden und formulieren durch ihr Schweigen eine stumme Anklage, die sich an
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Vgl. Campeggiani, Ida (2015): »John Donne e il barocco ne ›La bufera e altro‹. Parte I«, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia. Serie 5, Vol. 7, Nr. 1, S. 37–69, S. 61. So stellt Tatasciore für Montales Gedicht Ezekiel fest, dass darin ein Geist der Vergangenheit wiederkehrt, und in Proda di Versilia werde der Krieg durch Figuren aus der Vergangenheit aufgerufen (Tatasciore 2006: 75f.). Bezüglich Voce giunta con le folaghe kommt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich, da er darin »il problema morale della conservazione memoriale« (ebd.: 76), das der Krieg aufwirft, erörtert sieht. Die in der Forschung oft vertretene These, dass in dem Gedicht Clizias Wiederkehr thematisiert wird (ebd.: 85ff.), ist für meine Analyse jedoch unerheblich. Zu Irma Brandeis, die als Clizia in Montales Gedichten vorkomme, s. Ioli, Giovanna (1983): »Rassegna di studi montaliani da ›Satura‹ a ›Altri versi‹«, in: Lettere italiane. Vol. 35, Nr. 2, S. 200–267, S. 201. Tatasciore bringt das Symbol des pflanzlichen Bluts (»le vermene, il sangue dei cimiteri«) mit den Selbstmördern aus Dantes Inferno in Relation (Tatasciore 2006: 89f.).
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Julia Moldovan: Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹
die Überlebenden und die Nachkriegsgeneration richtet. Hier kann von Latenz im Sinne Gumbrechts gesprochen werden, die als ein Unbehagen ohne Begriffe und als eine Folge des Unverarbeiteten aus dem Zweiten Weltkrieg in der Gegenwart spürbar wird (Gumbrecht 2012: 14, 38f., 48f., 239, 306). Durch die zahlreichen Wiederholungsmotive und die Latenzfiguren wird ein ›unabgegoltenes Vergangenes‹ sichtbar, das auf ein zurückliegendes traumatisches Ereignis wie den Zweiten Weltkrieg schließen lässt, das nicht direkt benannt werden kann und deshalb als »larva di memoria« immer wiederkehrt. Wie das Leitmotiv des Schattens (»l’ombra«) deutlich macht, das Tod und Latenz zugleich repräsentiert, sind Tod und Vergangenheit ein ständiger Begleiter des lyrischen Ichs (»L’ombra che mi accompagna«). Während es versucht, das Vergangene wiederzubeleben, sichtbar zu machen (»si svela«), mit ihm in Kontakt zu treten und zu kommunizieren, bleibt der Auferstandene stumm und entzieht sich ihm (»riluttante«, »respinge«). Hier kommt unterschwellig das Thema der Verdrängung zur Sprache. Darüber hinaus wird deutlich, dass zwischen den Toten und den Lebenden ein unüberbrückbarer Abgrund klafft und keine Kommunikation möglich ist. Denn das lyrische Ich weiß zwar, dass die Schatten der Vergangenheit und der wiederauferstandene Vater Worte miteinander wechseln, aber es kann sie nicht hören (»si scambiano parole che interito sul margine io non odo«). Die Beziehungen sind gekappt, die Kriegsopfer bleiben stumm und auf der Vergangenheit lastet ein schweres Schweigen (»anni per me pesante«).156 Das Wortfeld der Erinnerung (»memoria«, »ricordato«, »rammento«, »reminiscente«, »ricordo«) ist in dem Gedicht zentral. Anhand der Erinnerungsmotive wird versucht, etwas, das verloren gegangen ist, wiederzufinden oder ins Gedächtnis zurückzurufen. Das Verhältnis zur Zeit erweist sich hierbei als komplex und widersprüchlich, da ständig zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gewechselt wird.157 Es prallen unterschiedliche Zeitebenen aufein156
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Zur Präsenz und Gegenüberstellung von einem lyrischen Ich und einem Du in Bufera, die beide Ausdruck eines Transzendenten und von überindividuellen Botschaften seien, die schwer oder nicht kommunizierbar sind, s. Comparini, Alberto (2013): »Montale, la poesia moderna e l’autobiografia in versi«, in: Studi Novecenteschi. Vol. 40, Nr. 85, S. 105–128, S. 112ff. Zur Kategorie der Zeit bei Montale vgl. Blasucci, Luigi (2002): »Percorso di un tema montaliano: il tempo«, in: Italianistica: Rivista di letteratura italiana. Vol. 31, Nr. 2/3, S. 35–49. – Polizoes meint, dass Montales Rekurs auf religiöse und christliche Thematiken Ausdruck einer Hoffnung in einer Welt ohne Hoffnung sei. Polizoes, Elias (2009): »Allegory at the Limits of Classicism: Eugenio Montale’s ›La bufera e altro‹«, in: Forum
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
ander, die nicht in Einklang zu bringen sind. Die komplexe Zeitstruktur manifestiert sich in den unterschiedlichen Zeitstufen der Gegenwart, der Zukunft sowie der näheren (passato prossimo) und fernen Vergangenheit (passato remoto). Auch die Verben mit der Vorsilbe »dis-« (»disincarnano«, »distaccarti«, »dissolve«), die eine Trennung oder Entzweiung ausdrückt, weisen auf das problematische Verhältnis zur Zeit hin und bringen die innere Zerrissenheit des Ichs sowie sein Unvermögen, sich einer bestimmten Zeit zugehörig zu fühlen, zum Ausdruck. Zugleich handelt es sich um Zäsurtopoi, die gemeinsam mit den Motiven der Gewalt (»trafiggono«, »balzo«, »si rompe«) auf den Bruch hindeuten, den der Zweite Weltkrieg bedeutet. Stilistisch manifestiert sich der Bruch mit der Welt durch die zahlreichen Einschübe, die parataktische Struktur des Gedichts, den weitgehenden Verzicht auf Interpunktion und die durch »e«/»ed« scheinbar beliebig aneinandergereihten Bilder, die oft nicht zueinander passen wollen. Fragmente und Nicht-Zusammengehöriges werden in assoziativer und abstrakter Weise verbunden, wodurch das Verständnis erschwert wird und der Eindruck entsteht, die Welt, sowie die Worte an sich, hätten ihren inneren Zusammenhalt und die Bindung zueinander verloren. Das Gedicht belegt, dass der Krieg als NichtSprechen, Latenz, Unabgegoltenes, Verdrängung und ständige Wiederkehr im kollektiven Gedächtnis erhalten bleibt.158 Mario dell’Arco (eigentlich Mario Fagiolo; 1905–1996) ist ein römischer Dichter, der aufgrund seiner Dialektdichtung mit Trilussa und Belli gleichgesetzt
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Italicum, 43 (2), S. 405–417, S. 405. Im Rekurs auf Luperini interpretiert er Montales Referenzen auf Homers Odyssee und Dantes Commedia in Bufera als Versuch, durch eine demythologisierende Darstellung der Intertexte sowie der christlichen Tradition ein Abbild davon zu geben, wie die Realität Europas in den 40er- und 50er Jahren war (ebd.: 405ff.). Dies bestätigt folgender Auszug aus Montales Gedicht Nel silenzio (1970) aus der Sammlung Satura (1971): »Anche i morti si sono messi in agitazione./Anch’essi fanno parte del silenzio totale./Tu stai sotto una lapide. Risvegliarti non vale/perché sei sempre desta. Anche oggi ch’è sonno/universale.« Montale, Eugenio [1970] (1984): »Nel silenzio«, in: Tutte le poesie. Hg. v. Giorgio Zampa. Milano (Mondadori), S. 414. Das Gedicht ist aufgrund der ähnlichen Thematik eine Referenz auf La voce giunta con le folaghe. Mit dem Grabstein (»lapide«), dem Wiedererwachen (»risvegliarti«) und Erwecken (»desta«) werden erneut Motive gebraucht, die an die Auferweckung des Lazarus erinnern. Auch die Todessymbolik (»morti«, »sotto«) ist vorhanden. Montale kritisiert den Umgang mit der Erinnerung an den Krieg und dessen Opfern sowie die kollektive Verdrängung, die als allgemeines Phänomen (»silenzio totale«, »sonno universale«)
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Julia Moldovan: Lazarus, Latenz und die ›Larve der Erinnerung‹
wird.159 1950 erscheint sein Gedichtband Tormarancio,160 in dem folgendes im Romanesco verfasstes Lazarus-Gedicht enthalten ist: Lazzaro M’hai fatto co la fanga: come speri che m’entri er celo drento a li pensieri? Mejo, Signore, che nun passi; mejo che nun te fermi. Dormo, terra sotto a la terra, co lo stormo de li vermini addosso. E nun me svejo.161
angeprangert wird. Der Rückgriff auf ein Thema, das Montale bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit behandelte, zeigt, dass das offiziell als aufgearbeitet geltende Thema des Kriegs als kollektiv Verdrängtes wiederkehrt. Die Figur Clizia repräsentiert in Montales Gedichten daher nicht nur die persönliche Erinnerung, sondern ein kollektiv Unbewältigtes. Schon 1945 macht Montale deutlich, dass der Faschismus irreparable Schäden in der italienischen Gesellschaft und Literatur angerichtet hat, indem er das, was kollektiv als richtig und wahr angesehen wurde, Lügen gestraft und damit für lange Zeit zerstört hat (Montale 1995: 15). Die Jahre des Faschismus beschreibt er als »ore dell’oscuramento e dell’errore« (ebd.). 159 Zur Einordnung von dell’Arcos Werk vgl. Onorati, Franco/Marconi, Carolina (Hg.) (2006): Studi su Mario dell’Arco. Roma (Gangemi). Zu dell’Arcos Biographie und den Kriegsjahren, die er abseits von Rom auf dem Land verbringt, s. Marconi, Carolina (2005a): »Biografia«, in: dell’Arco, Mario: Tutte le poesie romanesche. 1946–1995. Hg. v. Carolina Marconi. Roma (Gangemi), S. 360–369, S. 362. Zu verschiedenen Dokumenten aus dieser Zeit sowie einem Überblick über die Forschungsmeinungen zu dell’Arco s. Onorati, Franco (2005): »La fortuna critica di Mario dell’Arco«, in: dell’Arco, Mario: Tutte le poesie romanesche. 1946–1995. Hg. v. Carolina Marconi. Roma (Gangemi), S. 373–387, S. 374ff. 160 Der Titel bezieht sich mit sozialkritischem Impetus auf einen römischen Vorort (vgl. Marconi 2005a: 363f. und Mariani, Gaetano (1957): »Poesia romanesca di Mario dell’Arco«, in: Letterature moderne, 7, S. 739–750, S. 744). Laut Mariani fragt Tormarancio danach, warum das Schlechte die Unschuldigen treffe. Er zeigt, dass dell’Arcos Dichtung Bezüge zu Govoni und Rebora aufweist (ebd.: 742), was bemerkenswert ist, da diese ebenfalls auf die Lazarus-Metapher rekurrieren. 161 Dell’Arco, Mario [1950] (2005): »Lazzaro«, in: Tutte le poesie romanesche. 1946–1995. Hg. v. Carolina Marconi. Roma (Gangemi), S. 50. Das Gedicht wird 1983 in Vangelo secondo Mario dell’Arco mit Änderungen neu herausgegeben. Vgl. hierzu Marconi, Carolina (2005): »Schede dei libri e note«, in: dell’Arco, Mario: Tutte le poesie romanesche. 1946–1995. Hg. v. Carolina Marconi. Roma (Gangemi), S. 346–359, S. 349.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Gleich zu Beginn werden mit dem Titel und dem ersten Vers zwei wichtige biblische Figuren eingeführt: Lazarus aus dem Neuen Testament und Adam aus dem Alten Testament. Auf diese Weise werden die Themen des Lebens (Adam) und des Todes sowie der Rückkehr ins Leben (Lazarus), um die es in dem Gedicht primär geht, miteinander verbunden. Die Referenz auf Adam erfolgt durch das Motiv des Schlamms (»la fanga«), das auf die Entstehung des Menschen in der Genesis anspielt (Gen 2,7).162 Der Schlamm verweist auf die Erdgebundenheit des Menschen, dem der Himmel (»er celo«) als Sitz Gottes entgegengesetzt wird. Und so richtet sich das lyrische Lazarus-Ich mit der rhetorischen Frage an Gott, wie er denn hoffen könne, dass ein aus Schlamm geformter Mensch an ihn glauben werde (»che m’entri er celo drento a li pensieri?«). Darin kommt die Abwesenheit Gottes zum Ausdruck. Sie manifestiert sich ebenso darin, dass das Gedicht keine Antwort auf die Frage des lyrischen Ichs enthält. Außerdem drückt sich die Abwesenheit in den Negationen aus, die mit Gott (»Signore«) in Bezug stehen und die auf dessen physische Absenz hinweisen (»che nun passi«, »che nun te fermi«). Die Verhältnisse scheinen sich umgekehrt zu haben: Nicht Gott sagt dem Menschen, was er zu tun hat, sondern der Mensch erteilt Gott Ratschläge, was er besser (»mejo«) machen könnte. Lazarus verweigert die Auferstehung, die eigentlich göttlicher Wille wäre. Diese Umkehr ist Zeichen für die Umwälzung, die der Zweite Weltkrieg bedeutet. Die Absenz Gottes und die Einsamkeit des Menschen sind weitere Motive, die auf eine Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinen Folgen schließen lassen. Gottes Mission ist fehlgeschlagen: Lazarus wurde nicht erweckt und ihm wurde kein neues Leben geschenkt, stattdessen siecht er gottverlassen und von Würmern zerfressen unter der Erde. Die Todessymbole der Würmer (»vermini«), der Erde (»terra«) und des Schlafs (»dormo«) zeigen auf makabre Weise, dass die Existenz des Menschen nach dem Krieg mehr dem Tod als dem Leben gleicht. Der Mensch bedarf keines Gottes mehr und kann nicht mehr an einen solchen glauben, da der Krieg offengelegt hat, dass Gott nichts gegen Tod, Verbrechen und Massenvernichtung ausrichten kann und insofern keinen Sinn erfüllt. Die von Leibniz angestoßene Theodizee-Frage findet hier eine negative Antwort. Stilistisch kommen die Nichtigkeit und Ausweglosigkeit des Menschen in den zahlreichen Verneinungen (»nun«), Wortwiederholungen (»che«, »terra«), 162
Vgl. Costa, Claudio (2006): »Il problema del Padre nel transito dall’ultimo Trilussa al primo Dell’Arco«, in: Onorati, Franco/Marconi, Carolina (Hg.) (2006): Studi su Mario dell’Arco. Roma (Gangemi), S. 87–102, S. 99.
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Parallelismen (»che nun«), Alliterationen und dem Kyklos (»Mejo […] mejo«) zum Ausdruck. Auch das Reimschema (aabccb) mit den beiden abschließenden umarmenden Reimen verdeutlicht, dass das Ich in seinem unglücklichen todesähnlichen Zustand gefangen ist (»nun me svejo«). Mit der Abwesenheit Gottes referiert dell’Arco auf ein Thema, das in der Literatur während und nach dem Zweiten Weltkrieg zentral geworden ist.163 Insofern ist das Gedicht ein weiteres Beispiel dafür, dass Lazarus die menschliche Existenz nach dem Krieg darstellt. Es handelt sich um eine Existenz, die zwischen Leben und Tod oszilliert und die so sehr aus den Fugen geraten ist, dass Religion und Glaube keine Sicherheiten und moralischen Orientierungen mehr zu geben imstande sind. Die katholische Dichterin Margherita Guidacci (1921–1992) verfasst mit Morte del ricco (1954) ein Werk in Versen, das sich an den Traditionen des Oratoriums und der Heiligendarstellung orientiert und zugleich Anklänge an ein Theaterstück hat.164 Vordergründig erzählt Morte del ricco die Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus aus dem Lukasevangelium nach (Lk 16,19–31). Meine These ist, dass die Parabel dazu herangezogen wird, um auf verschlüsselte Weise das Leid des Zweiten Weltkriegs zum Thema zu machen. Der folgende Ausschnitt beschreibt die Wehklagen des reichen Prassers, der im Höllenfeuer
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»La scomparsa di Dio […] è, invece, il risultato di un dissolvimento, della perdita di ogni funzione vitale legata alla divinità; è il segno di un decesso, del crollo del concetto stesso di trascendenza […].« Luciano, Alberto (2018/2019): »La morte di Dio nella poesia del ʼ900: da Quasimodo a Zanzotto«, in: Poetology and Criticism/Poetologia e critica. Italian Poetry Review, XIII–XIV, S. 257–286, S. 257f. Montale behandelt den Tod Gottes ebenfalls: Montale, Eugenio [1970] (1984): »La morte di Dio«, in: Tutte le poesie. Hg. v. Giorgio Zampa. Milano (Mondadori), S. 327 und vgl. Alberto 2018/2019: 260. Laut Onorati beinhaltet Tormarancio eine »laica riflessione sulla ›morte di Dio‹« (Onorati 2005: 383). 164 Vgl. Lombardi, Sara (Hg.) (2015): Margherita Guidacci. Lettere a Mladen Machiedo. Firenze (Firenze University Press), S. 26. In dem Text sprechen mehrere Personen, darunter ein Chor, der schon ein wichtiges Element antiker Theaterstücke ist. Guidacci bezeichnet das Werk als »semi-drammatico« und legt in Bezug auf die Lukasparabel dar: »Era un tema bruciante in un’epoca in cui cominciava una presa di coscienza sociale.« Guidacci, Margherita (1999): »Poesia come un albero«, in: Prose e interviste di Margherita Guidacci. Hg. v. Ilaria Rabatti. Pistoia (CRT), S. 151–152, zitiert nach Lombardi 2015: 27. Guidacci bezieht das Thema also auf ihre Zeit und verbindet es mit der Frage nach einer Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Schuld, die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders dringlich ist.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
schmort und bitter bereut, dass er sich zu Lebzeiten gegenüber Lazarus nicht besser verhalten hat: […] O notte rossa e mia terribile sete! Ruota di chiodi acuminati, piombo fuso, flagello, sale gettato nella mia gola come su un campo maledetto; ghiaia bianca e sottile che si riversa come una spuma arida da una cava nell’ardore di mezzogiorno; furibondo coltello, dente aguzzo che dilania, stella di punte roventi, cardo di mille spine, mia sete inestinguibile! Ho spartito la carne dei fratelli e bevuto il loro sangue: questo è il fuoco che mi brucia e lo zolfo che m’invischia nella tenebra senza speranza dove anche la memoria ha il sapore del sangue (nulla potrà addolcirlo, nessuna droga mascherarlo; nessuno, nessuno può toglierlo). Lasciate che ora e sempre risuonino nel mio cuore i guaiti dei miei cani che ebbero pietà di Lazzaro, ed invano il rimorso mi consumi come invano bramo udire la voce dell’acqua!165
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Ursprünglich als Guidacci, Margherita (1954): Morte del ricco: un oratorio. Firenze (Vallecchi). Das Werk ist vergriffen und wird nach der Version in Auszügen zitiert, die sich in Quasimodos Anthologie der italienischen Nachkriegslyrik befindet: Guidacci, Margherita [1954] (1958): »Morte del ricco«, in: Poesia italiana del dopoguerra. Hg. v. Salvatore Quasimodo. Milano (Schwarz Editore), S. 175–180, S. 180. Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die Primärtextzitate im Folgenden auf ebd.: 175ff. Wie schon bei den anderen Autoren bestehen zwischen den Dichtern, die auf Lazarus rekurrieren, Querverbindungen; so steht Guidacci direkt oder durch ihr Werk in Verbindung mit Quasimodo, Montale und Ungaretti. Zu Guidacci und Ungaretti s. Pieracci Harwell, Margherita (1993): »L’opera di Margherita Guidacci«, in: Città di vita: rivista bimestrale di teologia, filosofia e arte. Bd. 48, Heft 3, S. 205–237, S. 213ff.; zu Montale s. Lombardi 2015: 15f. Die religiöse Dichterin behandelt häufig Themen wie Schmerz und Tod. Vgl. dazu Biasin, Gian-Paolo (1971): »Diario di una poetessa inquieta«, in: Forum Itali-
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Während im Prätext nur ein einziges und stets auf den Prasser bezogenes Motiv vorkommt, das Gewalt und Leid beinhaltet, nämlich tormento, findet sich bei Guidacci eine breite Variation des Gewaltmotivs.166 Das Leitmotiv der ›roten Nacht‹ (»notte rossa«), das sich auf das Höllenfeuer bezieht, in dem der Prasser Qualen leidet, ist aufgrund der Farbsymbolik (Rot), die für Blut und Gewalt steht, mit dem Krieg in Relation zu bringen (»notte vischiosa di sangue/e di liquido fuoco«, ebd.: 177).167 Anhand der Feuersymbolik wird ein Zusammenhang zwischen der Hölle aus dem Lukasevangelium und dem historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs hergestellt (»sangue«, »rosso«, »fuoco«, »inferno«). Der Krieg selbst und die Gewalt, die er verursacht, kommen in der Kriegsmetaphorik und den militärischen Ausdrücken zur Sprache (»piombo«, »campo«, »passo fiero«, »dove siete caduti«). Auffällig sind die zahlreichen Waffenmotive (»furibondo coltello«, »punte roventi«, »dente aguzzo«, »mille spine«), die ebenfalls auf den Kriegskontext hinweisen. Darüber hinaus referieren die Waffen auf die Passion Christi. Denn die scharfen Dornen, Stacheln und Spitzen stehen in Zusammenhang mit der Metapher der »ruota di chiodi« (›Nagelkreis‹), die aufgrund der Kreisform und der cum. A Journal of Italian Studies. Vol. 5, Nr. 3, S. 456–458, S. 456. Vgl. zu Guidaccis Leben, Werk und dem Rekurs auf biblische Figuren wie Hiob und Adam Pieracci Harwell 1993: 205ff., 216ff., 227ff.; zur Auseinandersetzung mit der Bibel Lombardi 2015: 16. 166 Es werden so unterschiedliche Facetten wie Entsetzen, Grausamkeit, Angst, Qual und Schmerz angesprochen (»affanno«, »terrore«, »paura«, »gemendo«, »atroce«, »grido«, »piaghe«, »crudele«, »dilania«, »furore«, »flagello«, Guidacci 1958: 175ff.). Daneben bestehen mit der Isotopie des Todes (»tenebra«, »morte«, »perdita«, »sepolcro«, »funerale«, »ultimo«, »vermi«, »fango disfatto«, »notti oscure«, »eternità«, »profondo del lago«, »mortalità«, »fiume«), der Klage (»grido«, »lamento«, »imploraste«, ebd.: 177f.) und der Erinnerung bzw. Vergangenheit (»rammento«, »avi miei«, »tempo«, »radici«, »lunghi anni«, »memoria«, »sempre«, ebd.: 177ff.) Bezüge auf den Krieg und sein Fortleben im kollektiven Gedächtnis. 167 Dass die ›rote Nacht‹ als Metapher für den Krieg gelten kann, zeigt folgende Aussage Guidaccis: »Ai poeti del dopoguerra che non vogliano eludere una realtà umana e storica, la direzione è segnata dal fatto di venire, appunto dopo quella guerra. Essi non devono dimenticarne l’insegnamento: i limiti e i patimenti fisici, le angosce […]. I giovani poeti dovrebbero far loro un’espressione di Hesse che definisce la speranza dopo l’immensa notte: ›Il nostro mattino è fra laghi di dolore – dove l’uomo va incontro ad altri uomini‹«. In: Frattini, Alberto (1986): Poesia nuova in Italia. Milano (IPL), S. 151f., zititert nach Pieracci Harwell 1993: 206f. (Die Hervorhebung ist von mir). Die Stelle zeigt, dass sich Guidacci mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt und dazu auffordert, den Krieg nicht zu vergessen, sondern als Lehre präsent zu halten. Dieser Anspruch findet sich in Morte del ricco wieder.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Nägel die Dornenkrone aufruft, die Jesus kurz vor seiner Kreuzigung aufgesetzt wird (Joh 19,2). Auch der »cardo di mille spine« als stacheliges Gemüse mit tausend Dornen und die »stella di punte roventi« als ein Stern aus glühenden heißen Spitzen beziehen sich auf die Dornenkrone und symbolisieren das Leid Christi. Der dürre, trockene Schaum (»spuma arida«) und das Salz, das der Prasser in seinem Rachen spürt und das seinen unstillbaren Durst (»mia sete inestinguibile«) nur noch verstärkt, sind eine Anspielung auf den mit Essig getränkten Schwamm, der dem gekreuzigten Jesus gereicht wird, um ihn zu verhöhnen, nachdem er um Wasser bittet (Joh 19,28–29).168 Während die Motive der Dornenkrone und des ungestillten Dursts nahelegen, dass das Leid des Prassers mit der Passion Christi vergleichbar ist, wird durch die Kriegsund Gewaltthematik ein Nexus zum Zweiten Weltkrieg hergestellt. Auf diese Weise werden der Krieg und die Passion Christi, die im christlichen Kontext das größtmögliche menschliche Leid bedeutet, gleichgesetzt. Im Gedicht werden aber nicht nur Lazarus und Jesus fusioniert; auch die beiden Lazarus-Episoden aus dem Lukas- und Johannesevangelium werden miteinander verschmolzen.169 Dieses komplexe Verfahren zeigt, dass nach
168 Zum Thema des Wassers bei Guidacci, das ebenfalls in Morte del ricco vorkommt, s. Tartuferi, Irene (2018): »Dire l’indicibile: Maria Maddalena de’ Pazzi e Margherita Guidacci. Parte prima«, in: Città di vita: rivista bimestrale di teologia, filosofia e arte. Bd. 73, Heft 3, S. 272–287, S. 279ff. Anders als sonst bei Guidacci, ist das Wasser in Morte del ricco jedoch kein positives Symbol, das das Leben, Reinigung oder Erneuerung darstellt (ebd.: 279), sondern steht für Privation und Strafe. 169 Eine weitere Überblendung findet durch die Worte des Prassers »Ho spartito la carne dei fratelli e bevuto il loro sangue« statt. Es handelt sich um eine mehrschichtige intertextuelle Referenz auf das Neue Testament, die einerseits die Wunder aufruft, die Jesus mit der Teilung des Brotes (Joh 6,10–14; Luk 9,14–17) und der Verwandlung von Wasser zu Wein vollbringt (Joh 2,1–12). Andererseits wird der Zweifel an Jesus und der Wiederauferstehung thematisiert, den die Juden in der Bibel äußern, worauf Jesus ihnen antwortet: »Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken« (Joh 6,54). Ich zitiere hier und an anderen Stellen nach: Die Bibel. Die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Köln (Naumann&Göbel) 1964, S. 109. Bei Guidacci beziehen sich die Worte jedoch auf Lazarus, den der ungläubige Prasser zu Lebzeiten gedemütigt hat. Da dem Prasser Worte in den Mund gelegt werden, die im Prätext Jesus spricht, findet eine Überblendung der beiden Figuren statt. Außerdem wird ein Zusammenhang zwischen der Parabel (Lukas) und der Wiederauferweckung von den Toten (Johannes) hergestellt, die wiederum mit dem von Jesus auferweckten Lazarus (Johannes) in Bezug steht.
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dem Zweiten Weltkrieg neue und vielschichtige Ausdrucksformen notwendig sind, um seine Widersprüchlichkeit und Grausamkeit wiederzugeben. Zugleich weisen der Rekurs auf die Lukasparabel und die Konzentration auf die Figur des sündigen, ungläubigen Prassers darauf hin, dass der christliche Glaube mit dem Krieg in seinen Grundfesten erschüttert wurde und das katholische System von Bestrafung und Belohnung als Hölle und Paradies in eine Legitimierungskrise geraten ist und überdacht werden muss. Der Prasser, der das Fleisch der Brüder verteilt und ihr Blut getrunken hat, gesteht mit diesen Worten seine eigene Schuld und Grausamkeit (»Ho spartito la carne dei fratelli e bevuto il loro sangue«). Er repräsentiert das kollektive schlechte Gewissen (»la memoria ha il sapore del sangue«), das sich der Mensch aufgrund des Kriegs aufgeladen hat. Diese Schuld ist durch nichts wiedergutzumachen; sie ist untilgbar (»nulla potrà addolcirlo«, »nessuno può toglierlo«, »invano il rimorso«). Lazzaro selbst kommt nicht zu Wort; er ist lediglich als stummer Schatten, Unbemerktes und schlechtes Gewissen in der Erinnerung des Prassers präsent (»Venivi silenzioso/come l’ombra«, »discretamente«, »tu non fossi piú d’un’ombra«, »senza badarti«, »questo è il fuoco che mi brucia«, Guidacci 1958: 179f.). Durch sein Schweigen und seine Absenz wird er zu einer Latenzfigur, die das Ungesagte und Ungesehene symbolisiert. Lazzaro wird durch den Chor seiner Kinder vertreten (»coro dei figli di Lazzaro«, ebd.: 175). Diese, so die abschließende Interpretation, stehen als Kinder des Lazarus für die Kinder all jener, die im Krieg litten und ermordet wurden. Sie formulieren ihre Anklage als Stellvertreter für die Opfer, die selbst stumm bleiben und nicht mehr sprechen können. Zugleich tragen sie als Nachkriegsgeneration die Verantwortung für die kollektive Erinnerung an den Krieg und seine Opfer. Giuseppe Ungaretti (1888–1970) ist einer der bedeutendsten italienischen Dichter des 20. Jahrhunderts und hinterlässt ein umfangreiches Œuvre.170 170 Der junge Ungaretti ist interventista und meldet sich freiwillig zum Krieg, an dem er 1915–1918 als Soldat teilnimmt. In seiner frühen Dichtung (Il porto sepolto, 1916; Allegria di naufragi, 1919), die um die Themen Krieg, Zerstörung, Angst und Trauer kreist, verarbeitet er diese Erfahrung. In Mussolini und dem Faschismus sieht er lange eine positive Entwicklung. Vgl. dazu Gennaro, Rosario (2016): »La Grande Guerra e l’italianità: Il discorso nazionale di Giuseppe Ungaretti«, in: Forum Italicum. Vol. 50 (1), S. 69–86, 80. Diese Tatsache wird oft verschwiegen, sodass sich bis heute »l’immagine di poeta puro« erhalten hat, die Ungaretti im literarischen Bewusstsein Italiens zukomme. S. Luperini, Romano (2004): »Letteratura e identità nazionale: La parabola
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Das Gedicht Per sempre (1959) aus dem Gedichtband Il taccuino del vecchio (1960), das Ungaretti seiner verstorbenen Frau widmet, gehört zu seinem Alterswerk.171 Das Thema des Gedichts ist die unmögliche Kommunikation zwischen Lebenden und Toten: Per sempre Senza niuna impazienza sognerò, Mi piegherò al lavoro Che non può mai finire, E a poco a poco in cima Alle braccia rinate Si riapriranno mani soccorrevoli, Nelle cavità loro Riapparsi gli occhi, ridaranno luce, E, d’improvviso intatta
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novecentesca«, in: Luperini, Romano/Brogi, Daniela (Hg.): Letteratura e identità nazionale nel Novecento. Lecce (Manni), S. 7–33, S. 10 und Gennaro 2016: 70. Näher zu Ungarettis Leben und Werk vgl. Piccioni, Leone (2005): »Prefazione«, in: Vita d’un uomo. Tutte le poesie. Hg. v. Leone Piccioni. Milano (Mondadori), S. XIII–LV, S. XIIIff. und in ebd.: Piccioni, Leone (2005a): »Cronologia«, S. LVII–LXIII; Ossola, Carlo (2016): Ungaretti, poeta. Venezia (Marsilio), S. 251ff.; Ossola, Carlo (1975): Giuseppe Ungaretti. Milano (Mursia), S. 9ff. und Güntert, Georges (2016): »Giuseppe Ungaretti«, in: Kindler Kompakt. Italienische Literatur 20. Jahrhundert. Ausgewählt v. Gerhard Wild. Stuttgart (Metzler), S. 73–75. Näher zu den Kriegsgedichten und zu Briefen, in denen Ungaretti seine Kriegserfahrung schildert, s. Verdino, Stefano (2015): »Ungaretti e il sentimento della guerra«, in: Cuadernos de Filología Italiana. Vol. 22, S. 181–194. Hier sind Beziehungen zu Papini belegt (ebd.: 182ff.). Dokumente, die Ungarettis Kriegsbejahung zeigen, finden sich bei Ossola 2016: 254; dort sind Ungarettis Beziehung zu Mussolini, seine Arbeit für die damals faschistische Gazzetta del popolo und seine Aufnahme in die von Mussolini gegründete Accademia d’Italia belegt (ebd.: 254ff.). S. ferner Brose, Margaret (1998): »Dido’s Turn: Cultural Syntax in Ungaretti’s ›La Terra Promessa‹«, in: Annali d’Italianistica. Vol. 16, S. 121–143, S. 121ff., 125. Repräsentativ dafür, dass Ungarettis Nähe zum Faschismus oft verschwiegen wird, ist Tuscanos Interpretation von Il Dolore (1947), die er als Ausdruck für Kriegsleiden versteht, ohne Ungarettis Verbindung zu Mussolini zu erwähnen. Vgl. Tuscano, Pasquale (1981): »Ungaretti e l’esperienza della seconda guerra mondiale: osservazioni su alcuni momenti de ›Il Dolore‹«, in: Bo, Carlo u.a. (Hg.): Atti del convegno internazionale su Giuseppe Ungaretti. Urbino 3–6 ottobre 1979. Vol. 2. Urbino (4Venti), S. 1379–1384. Vgl. Becker von, Peter (2020): »Echo der Wiedererweckten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.2020, S. 16.
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Sarai risorta, mi farà da guida Di nuovo la tua voce, Per sempre ti risento.172 Wie schon bei Montale ist Ungarettis Gedicht dialogisch aufgebaut: Das lyrische Ich wendet sich an ein nicht näher bestimmtes ›Du‹ (»tua«, »ti«), das allerdings nicht zu Wort kommt. Dadurch wird deutlich, dass die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten nicht möglich ist. Die Motive der Auferstehung (»risorta«), Wiedergeburt (»rinate«) und der Höhle (»cavità«) rufen die Auferweckung des Lazarus in Erinnerung. Auffallend sind in dieser Hinsicht die zahlreichen Verben, die mit der Vorsilbe »ri-« gebildet sind und eine Wiederholung, Erneuerung oder Wieder- und Rückkehr bezeichnen (»rinate«, »riapriranno«, »riapparsi«, »ridaranno«, »risorta«, »risento«). Durch diese Verben und das Wiederholungsmotiv »di nuovo« (dt. ›erneut‹, ›von Neuem‹) wird eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen, die zeigt, dass das Thema der Erinnerung virulent ist. Die zahlreichen Futurformen (»piegherò«, »sarai« u.a.) lassen hingegen eine Ausrichtung auf die Zukunft erkennen. Durch das titelgebende »per sempre«, das im letzten Vers wiederkehrt, und das Motiv des geduldigen Ausharrens (»niuna impazienza«) entsteht der Eindruck von Ewigkeit und Unendlichkeit.173 Das Gedicht bringt eine hoffnungsvolle Stimmung zum Ausdruck, die durch die vielen positiv konnotierten Wörter wie z.B. das Licht (»luce«), das Leben und Erneuerung symbolisiert, sowie eine positive Richtungs- und Bewegungssymbolik der Öffnung (»riapriranno«) und des Oben (»cima«) entsteht. Auch das Wortfeld der Hilfe (»soccorrevoli«, »guida«) ist positiv besetzt. Mittels seiner Vorstellungskraft (»sognerò«) evoziert das lyrische Ich ein Du, das zunächst nur als Bruchstück vorhanden und in einzelne Körperteile zergliedert ist (»braccia«, »mani«, »occhi«, »voce«). Erst nach und nach (»poco a poco«) wird das Du greifbarer, bis es die zuvor geschlossen Augen 172 173
Ungaretti, Giuseppe [1959] (2005): »Per sempre«, in: Vita d’un uomo. Tutte le poesie. Hg. v. Leone Piccioni. Milano (Mondadori), S. 286. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den ruhigen, getragenen Rhythmus des Gedichts, der durch die Enjambements, Wortwiederholungen, die konstant wiederkehrenden zweisilbigen Wörter (»cima«, »poco«, »loro«, »mani«, »luce«, »voce« u.a.) sowie den melodischen und weichen Klang der reimlosen Verse erzeugt wird. Insofern spiegelt sich die im Titel benannte Überzeitlichkeit auf metrisch-rhythmischer und lautlicher Ebene wider. Im Unterschied zu Ungarettis früher Lyrik, die oft fragmentarisch ist (Güntert 2016: 75), wirkt Per sempre einheitlich.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
als Zeichen für die Rückkehr ins Leben öffnet und als intaktes Ganzes wieder auferstanden sein wird (»intatta sarai risorta«) – denn das lyrische Ich projiziert die phantasierte Auferstehung und Wiedergeburt des Du als Wunsch und Hoffnung in die Zukunft. Die Hilfsgeste, mit der es dem Du seine Hände reicht (»mani soccorrevoli«), wird später erwidert, da die Stimme des Du das Ich fortan als ein Wegweiser in die Zukunft geleiten wird (»mi farà da guida«).174 Der Dualismus von Fragmentierung und Ganzheit legt nahe, dass es um einen Prozess der Rehabilitierung, Heilung und Ganzwerdung geht. Dieser betrifft das Du und das Ich gleichermaßen, da dieses erst durch jenes komplementiert wird, sodass neben der Wiederkehr eines/einer anderen die eigene Wiederherstellung thematisiert wird. Der Gipfel, der als »cima« im Italienischen u.a. ›Baumkrone‹ bedeutet, ruft die Baummetaphorik und den Komplex des Daphne-Mythos auf. Da dieser als Metamorphose und Verwandlung der Nymphe in einen Lorbeerbaum selbst eine Art Wiedergeburt darstellt,175 wird das Thema der Auferstehung auch intertextuell präsent gehalten. Ungaretti setzt Frau und Baum in Bezug und überblendet sie. Die ›wiedergeborenen Arme‹ des Du (»braccia rinate«), die das Ich ergreift, sind ein Zeichen dafür, dass das Du aufersteht. In der Geste der Handreichung verbinden sich auf diese Weise literarische Tradition (Du) und zeitgenössische Wirklichkeit (lyrisches Ich). Darüber hinaus bestehen hier aufgrund der Motive, der Baummetaphorik und des reaktivierten Daphne-Mythos Bezüge auf Petrarcas Canzoniere und die petrarkistische Liebeslyrik.176 174
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Der letzte Vers beinhaltet einen Tempuswechsel vom Futur zum Präsens; der Hilfe und der Anwesenheit des Du versichert, wendet sich das Ich voller Hoffnung wieder der Gegenwart zu. Zum Daphne-Mythos s. Ovidius Naso, Publius (14 1996): Metamorphosen. Lateinischdeutsch. In deutsche Hexameter übertragen v. Erich Rösch. Hg. v. Niklas Holzberg. Zürich/Düsseldorf (Artemis&Winkler), S. 29ff. Die fragmentarische Darstellung und die Körperteile, anhand derer das Du beschrieben wird, rufen den Kontext der petrarkistischen Lyrik und den Intertext des Canzoniere auf. So weisen die Arme, Hände und Augen des Du bei Ungaretti auf Petrarcas Laura zurück. Diese erscheint in den Gedichten des Canzoniere ähnlich fragmentiert und wird anhand einzelner Körperteile beschrieben; gerade die bei Ungaretti thematisierten Augen, Hände und Arme sind zentrale Motive der petrarkistischen Frauendarstellung (zur letzteren vgl. Hennigfeld 2008: 51ff.), ebenso wie die Baummetaphorik und die Überblendung von Baum und Frau, wie sie bei Ungaretti vorkommen. Insofern sind hier Bezüge auf den Canzoniere zu vermuten, umso mehr, da Petrarca für Ungaretti eine zentrale Referenz darstellt. Vgl. zum letzten Aspekt Ossola 2016: 99ff. und die übernächste Fußnote.
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In dem Gedicht gibt es noch weitere intertextuelle Bezüge. So wird der Orpheus-Mythos aufgerufen (Becker 2020: 16), der in der Symbolik der Unterwelt und des Todes mitschwingt. Das Motiv des ›Führens‹ (»guida«) weist ebenfalls auf Orpheus hin, der Eurydike aus dem Hades geleiten will. Der Themenkomplex verweist ferner auf Dantes Inferno, in dem ›Dante‹ von Virgil durchs Jenseits geführt wird.177 Durch die intertextuellen Referenzen wird aufgezeigt, dass es nach Zeiten des Kriegs und des Umbruchs der Rückbesinnung auf die literarische Tradition bedarf, um die Gegenwartsdichtung in ein neues Verhältnis zur unmittelbaren Vergangenheit und eigenen Zeit zu setzen.178 Vittorio Serenis erster Gedichtband erscheint 1941. Noch im selben Jahr wird Sereni einberufen, 1943 gerät er in Kriegsgefangenschaft und verbringt daraufhin die Jahre bis Kriegsende in nordafrikanischen Gefangenenlagern. Seine dritte Gedichtsammlung Gli strumenti umani wird erstmals 1965 veröffent-
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Zu Orpheus s. Ovidius Naso, Publius (13 1992): Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. In deutsche Hexameter übertragen u. hg. v. Erich Rösch. München/Zürich (Artemis&Winkler), S. 358ff. und zum Inferno und Vergil als Führer s. Dante 1985: I, 61ff., S. 10ff. Zum Thema der Erinnerung in Ungarettis Spätwerk und zu Bezügen auf Leopardi und Petrarca vgl. Güntert 2016: 74f. und Piccioni 2005: XXXV; zu Manzoni s. Pasinetti, Mariachiara (2012): »La memoria e il canto. Un’eco manzoniana nella poesia di Ungaretti«, in: Lettere italiane. Vol. 64, Nr. 4, S. 624–629, S. 624ff. und Livi, François (2001): »Ungaretti: autobiografia e memoria letteraria. ›Giorno per giorno‹ e ›La lampe de terre‹ di Henri Thuile«, in: Lettere Italiane. Vol. 53, Nr. 3, S. 354–376, S. 354ff. In Ragioni d’una poesia (1949/1969) behauptet Ungaretti, dass ein Nexus zwischen seiner persönlichen Kriegserfahrung und der Erinnerung durch Dichtung besteht: »Le mie preoccupazioni in quei primi anni del dopoguerra […] erano tutte tese a ritrovare un ordine […]. La memoria a me pareva, invece, una àncora di salvezza: io rileggevo umilmente i poeti che cantano.« Ungaretti, Giuseppe [1969] (2005): »Ragioni d’una poesia«, in: Vita d’un uomo. Tutte le poesie. Hg. v. Leone Piccioni. Milano (Mondadori), S. LXV–CI, S. LXXI. Zu diesen Dichtern gehören für Ungaretti Dante, Petrarca, Jacopone, Guittone, Tasso, Cavalcanti und Leopardi. Für eine kritische Lektüre des Essays s. Peterson, Thomas (2001): »The Ethics and Pathos of Ungaretti’s ›Ragioni d’una poesia‹«, in: Annali d’Italianistica. Vol. 19, S. 171–187. Cilibertos Auslegung des Essays hingegen kann man vorwerfen, dass sie naiv ist und übersieht, dass es problematisch ist, nach dem Faschismus eine ›unschuldige‹ Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition ungebrochen fortzuführen, ohne sich kritisch mit der Vergangenheit befassen zu wollen. Vgl. Ciliberto, Giorgio (2017): »Le poetiche ungarettiane secondo ›Ragioni di una poesia‹: dal realismo metrico al surrealismo«, in: Campi immaginabili: rivista semestrale di cultura, 56/57, I/II, S. 236–246, S. 236f.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
licht und enthält Gedichte, die Sereni zwischen 1945 und 1965 verfasst.179 Eines davon ist Sopra un’immagine sepolcrale, das sich mit den Opfern des Kriegs auseinandersetzt: Sopra un’immagine sepolcrale Il sorriso balordo che mi fermò tra le lapidi e le croci, nella piccola selva dei morti innocenti, delle vite appena accese e spente nel candore era la stessa mia stupefazione che avesse in tanti anni fatto così poca strada. O dormiente, che cosa è sonno? Il sonno… E qui egli sta tra i pargoli innocenti stupefatto nel marmo come se un Tu dovesse veramente ritornare a liberare i vivi e i morti. E quante lagrime e seme vanamente sparso.180 Der Bezug auf die Lazarus-Thematik ist indirekt durch die zahlreichen Todesmotive wie das Grab (»sepolcrale«), den Grabstein (»lapidi«), das Kreuz (»croci«), den Schlaf (»dormiente«, »sonno«) sowie das Motiv der Rückkehr (»ritornare«) gegeben. Auch die Steinmetaphorik (»lapidi«, »marmo«) verweist auf den biblischen Prätext, da sie den Stein aufruft, mit dem das Grab des Lazarus verschlossen wurde; umso mehr, da hier ein Friedhof evoziert wird, auf dem sich zahlreiche Kriegsopfer befinden. Bei diesen handelt es sich um Kinder (»pargoli innocenti«), die unschuldig ermordet wurden. Das Motiv der Unschuld ist zentral und tritt zwei Mal wörtlich in Vers drei und Vers neun auf und ist außerdem als »candore« vorhanden, das neben ›Unschuld‹ auch
Vgl. hierzu sowie zu Serenis Werk und Leben allgemein die Seiten des Archivio Vittorio Sereni; abrufbar unter: https://www.archiviovittoriosereni.it/opere/gli-strumenti-uma ni/; letzter Zugriff: 25.12.2023. 180 Sereni, Vittorio [1965] (2013): »Sopra un’immagine sepolcrale«, in: Poesie e prose. Hg. v. Giulia Raboni. Milano (Mondadori), S. 218. 179
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›Reinheit‹ bedeutet. Hier wird die Grausamkeit des Kriegs beklagt, der erbarmungslos jeden trifft und selbst vor den Unschuldigsten keinen Halt macht. Und so klagt das lyrische Ich darüber, dass das kurze Leben der Kinder, kaum dass es beginnen konnte, schon wieder enden musste (»vite appena accese e spente«). Die Tränen am Gedichtende (»lagrime«) deuten auf den Schmerz und die Trauer hin, die der Krieg verursacht, die Samen (»seme«) wiederum auf das Leben, das keine Möglichkeit hatte, zu entstehen. Das mit diesen Motiven in Bezug gesetzte Partizip »sparso« ist doppeldeutig und kann neben ›verstreut‹ auch ›vergossen‹ heißen. Als solches verweist es auf das unnütz (»vanamente«) vergossene Blut der Menschen, die im Krieg gestorben sind. Der Übergang von Leben und Tod, der zu Beginn angesprochen wird, kehrt später als Gegenüberstellung von Lebenden und Toten wieder (»vivi e morti«). In beiden Fällen sind die Grenzen zwischen diesen Zuständen unüberbrückbar und es ist unmöglich, die Toten zurückzuholen oder ihnen nachträglich Gerechtigkeit zukommen zu lassen (»liberare«), ebensowenig können die Lebenden von ihrer Qual befreit werden – der Tod, der ebenso als Schlaf (»sonno«) omnipräsent ist, erweist sich als unerschütterliche Tatsache und betrifft sowohl die Toten als auch die (Über-)Lebenden. Der Vers in Kursivschrift »O dormiente, che cosa è sonno?« ist ein Zitat aus einem Text von Leonardo da Vinci, in dem er sich mit den Fragen des Lebens und des Todes auseinandersetzt und dabei den Schlaf mit dem Tod gleichsetzt.181 Insofern wird die Allmacht des Todes zusätzlich intertextuell verbürgt. Als Grenz- und Schwellenfigur, und da es mit dem Motiv der Rückkehr assoziiert wird, kann das Du, das das lyrische Ich evoziert und von dem es sich wünscht, es vermittele zwischen den unüberbrückbaren Sphären von Leben und Tod, als Lazarus-Figur interpretiert werden. Doch die Rückkehr dieses Lazarus-Du ist reines Wunschdenken, was sich ferner an der grammatikalischen Form des congiuntivo perfetto (»dovesse«) ablesen lässt, und wird nicht eintreten. Ähnlich wie in Ungarettis Gedicht, adressiert das lyrische Ich ein Du, das Rettung und Linderung bringen soll. Die Adressierung des ›Du‹ symbolisiert die Suche nach einem Gesprächspartner und Gegenüber, die jedoch, da das ›Du‹ selbst nicht zur Sprache kommt, inexistent sind. Dies ist Ausdruck für
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Da Vinci, Leonardo (1915): »Massime e pensieri. Dell’anima«, in: Leonardo prosatore. Hg. v. Giuseppina Fumagalli. Milano/Roma/Napoli (Società Editrice Dante Alighieri), S. 329–343, S. 341. Dieses Werk enthält verschiedene Prosatexte und zahlreiche Aphorismen von Leonardo da Vinci.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg und macht deutlich, dass jeder bei dem Versuch, sich mit Trauer, Leid, Tod und Krieg auseinanderzusetzen, auf sich allein gestellt ist. Das Motiv des Erstaunens (»stupefazione«), welches das lyrische Ich angesichts des Todes unschuldiger Kinder verspürt, findet sich in variierter Form als »stupefatto« wieder. Doch mehr als ein Erstaunen, das vor dem Hintergrund, dass hier der Tod Unschuldiger thematisiert wird, fast unangebracht naiv und verschleiernd wirkt, drückt es die Ohnmacht der Überlebenden angesichts von Tod und Gewalt aus. Eine weitere Reaktion, die sich nicht in die beschriebene Situation fügen will und deplatziert wirkt, ist das Lächeln (»sorriso«), mit dem das Gedicht eröffnet wird. Das Lächeln erscheint im Zusammenhang mit den Motiven der Betäubung (»balordo«) und des Stillstands (»mi fermò«). Diese sind gemeinsam mit den Motiven des Steins und des Erstaunens ein weiterer Ausdruck von Ohnmacht, Entsetzen und Versteinerung zu interpretieren. Sie deuten darauf hin, dass die Menschen nach den Gräuel des Zweiten Weltkriegs in eine Schockstarre geraten sind, die sie daran hindert, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Die Verdrängung, der problematische Umgang mit Traumatischem und die Hilflosigkeit, die Serenis Gedicht verhandelt, erinnern an die ›Empathie-Blockaden‹, die Assmann als eine allgemeine Reaktion nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt, mit der die Menschen versuchen, den Krieg und die Erinnerung daran auf Distanz zu halten (Assmann 2015: 18ff.). Auf einer allegorischen Ebene thematisiert das Gedicht insofern sowohl die Gewalt des Kriegs als auch die Gefahr, ihn und seine desaströsen Folgen auszublenden – ein Aspekt, auf den außerdem die Aposiopese und die Leerstelle, die nach dem Auslassungszeichen (»…«) entsteht, hindeuten. Indem die Dichterinnen und Dichter in ihren Werken nach dem Zweiten Weltkrieg auf Mythen und Gründungstexte der antiken, italienischen und europäischen Dichtung und auf die Bibel rekurrieren, befragen sie den Ursprung der eigenen literarischen und kulturellen Identität – und finden dabei ganz unterschiedliche Lösungen. So wird bei Montale deutlich, dass literarischer Kanon und Tradition keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung stellen, um die Nachkriegsrealität zu begreifen. Ungaretti hingegen versucht durch die Reaktivierung der Intertexte eine Anleitung für den Umgang mit der Gegenwart zu finden, die vom Krieg erschüttert worden ist. Bei ihm drückt sich die naive
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Hoffnung aus, dass Literatur eine ›heilende Wirkung‹ hat.182 Das Thema der Abwesenheit, die Latenzmetaphern, Referenzen auf Dantes Inferno und Purgatorio, die Todes- und Unterweltssymbolik, das Wortfeld der Erinnerung (mit der Vorsilbe »ri-«) und die Motive der Zerstückelung, die in den untersuchten Gedichten immer wieder aufgegriffen und variantenreich dargestellt werden, zeigen, dass der Krieg untilgbare Spuren in der Nachkriegslyrik hinterlassen hat und ein inhaltlich beherrschendes Thema darstellt. Wie die zahlreichen Bezüge auf Lazarus belegen, eignet sich die Metapher in besonderer Weise dazu, die traumatische Kriegserfahrung zu versprachlichen.183
3.2 Lazarus als Moralisierung und Satire bei Malaparte und Fo Von Gramsci abfällig als ›Chamäleon‹ bezeichnet,184 steht Curzio Malaparte (1898–1957), der eigentlich Curt Erich Suckert heißt, zwischen unterschiedlichen literarischen und politischen Richtungen.185 Mit sechzehn Jahren
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Diese Perspektive erinnert an Ettes Vorstellung von einem ›Überlebenswissen‹, das in der Literatur gespeichert und bewahrt werde. Vgl. Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (Über-Lebenswissen II). Berlin (Kadmos), S. 15. 183 Andrea Zanzottos Ecloga I (1962), Aldo Palazzeschis San Lazzaro degli Armeni (1968), Franca Romagnolis Privilegio und Alberico Salas Mattino (beide aus den 70er Jahren) sind weitere Gedichte, die Lazarus-Referenzen enthalten. Da eine Verbindung zur Kriegs- und Latenzthematik nicht unmittelbar gegeben ist, sind sie für die vorliegende Forschungsfrage jedoch nicht relevant. Weitere neuere Publikationen, in den Lazarus zwar vorkommt, aber eine andere thematische Ausrichtung annimmt, sind etwa Pinketts, Andrea G. [1992] (2009): Lazzaro, vieni fuori. Milano (Feltrinelli) und die Comicserie von Capone; Capone, Ade (1992ff.): Lazarus Ledd. Bosco (Star Comics). 184 S. Gramsci, Antonio (1973): Sul fascismo. Hg. v. Enzo Santarelli. Roma (Editori riuniti), S. 414, zitiert nach Cadeddu, Alice (1989): »Curzio Malaparte und ›Die Revolte der heiligen Verdammten‹. Ein Beispiel italienischer Antikriegsliteratur«, in: Junk, Claudia/ Schneider, Thomas F. (Hg.): Krieg und Literatur/War and Literature. Osnabrück (V&R unipress), S. 47–69, S. 51ff. 185 Eine Kategorisierung seiner schillernden Person und des umfangreichen Werks, das literarische, dramatische, lyrische Texte, journalistische Arbeiten, Reise- und Kriegsberichte, Pamphlete, Drehbücher und Film umfasst, gilt als unmöglich. Auch in politischer Hinsicht entzieht sich Malaparte einer festen Zuschreibung. Vgl. dazu, zu Malapartes Person und Werk hier und im Folgenden Arndt, Astrid (2005): Ungeheure Größen: Malaparte – Céline – Benn. Wertungsprobleme in der deutschen, französischen und italienischen Literaturkritik. Tübingen (Niemeyer), S. 33ff; Cadeddu 1989: 51ff.; Martellini, Luigi (2009): »Introduzione«, in: Malaparte, Curzio: Opere Scelte. Hg. v. Luigi Martellini. Milano (Mondadori), S. XLIII–LXXVI, S. XLIIIff.; Martellini, Luigi (2009a): »Cro-
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
meldet er sich als interventista 1914 freiwillig und kämpft bis zum italienischen Kriegseintritt auf der Seite Frankreichs und anschließend für Italien. Malaparte ist Faschist der ersten Stunde, unterstützt den gewaltverherrlichenden squadrismo ebenso wie die faschistischen Kriege und Interventionen.186 Nach dem Sturz des Regimes wendet er sich dem Kommunismus zu, wobei sein Ersuch um die Aufnahme in den PCI abgelehnt wird.187 Politisch enttäuscht, propagiert er fortan die Autonomie des Intellektuellen, wobei er seine faschistische Vergangenheit verschweigt und sich nachträglich als Antifaschist und Regimegegner stilisiert.188 nologia«, in: Malaparte, Curzio: Opere scelte. Hg. v. Luigi Martellini. Milano (Mondadori), S. LXXIX–CII, S. LXXIXff.; Liesegang, Torsten (2011): »Einleitung«, in: Liesegang Torsten (Hg): Curzio Malaparte. Ein politischer Schriftsteller. Würzburg (Königshausen&Neumann), S. 7–25, S. 7ff. sowie Laforgia, Enzo (2011): Malaparte. Scrittore di guerra. Firenze (Vallecchi), S. 10ff. 186 Er unterhält Kontakte zu Mussolini, tritt 1922 in den Partito Nazionale Fascista (PNF) ein, betätigt sich als Gründer und Herausgeber faschistischer Zeitschriften und hat regimenahe Positionen inne, bis er 1933 aus der Partei ausgeschlossen und mit der Verbannung (confino) belegt wird. Mussolini persönlich setzt sich für die Abmilderung der Strafe ein. 1940, als Italien in den Krieg eintritt, wird Malaparte einberufen und beginnt als Kriegsberichterstatter für den Corriere della sera zu arbeiten. Er provoziert durch Pamphlete, in denen er das Kriegsleid fern jedes Heroismus darstellt und mit Kriegsmythen bricht (Viva Caporetto!, 1921 bzw. La rivolta dei santi maledetti, 1923). Damit eckt er bei den Eliten, aber auch den Faschisten an, die Kriegsmythen gezielt für ihre Zwecke einsetzen (vgl. hierzu Cadeddu 1989: 58ff.). Die Pamphlete lösen einen Skandal aus, führen zu Malapartes Suspendierung vom Diplomatendienst und machen ihn bekannt. Er rechnet darin mit der italienischen Niederlage von Caporetto ab, die den Soldaten angelastet wird. Doch nicht sie seien schuld, sondern die unfähigen Befehlshaber, die Eliten und das Bürgertum, da sie die Soldaten in Materialschlachten schickten. Malapartes provokante These ist, dass nicht Deutschland oder ÖsterreichUngarn Italiens Feinde waren, sondern die Mächtigen und die Befehlshaber Italiens selbst (vgl. ebd.: 53ff., 60). 187 Moravia spricht sich vehement gegen eine solche aus (s. dazu Arndt 2005: 49). Zum Verhältnis zwischen Moravia und Malaparte s. Baldasso, Franco (2017): »Curzio Malaparte and the Tragic Understanding of Modern History«, in: Annali d’Italianistica. Violence Resistance Tolerance Sacrifice in Italy’s Literary&Cultural History. Vol. 35, S. 279–303, S. 280. Zu Malaparte und dem Faschismus vgl. Arndt 2005: 39ff. 188 Vgl. ebd.: 74f. und Liesegang 2011: 11ff., 23. Malaparte wirft den italienischen Nachkriegsautoren (u.a. Moravia und Vittorini) Heuchelei und Konformismus vor (Martellini 2009a: LVI). Zu Malapartes konfliktgeladenem Verhältnis zu den Faschisten, seinem Wirken zwischen Erstem Weltkrieg und den 50er Jahren sowie zur Kritik an Gesellschaft, Kirche und der neuen demokratischen Regierung ab 1948, deren Vertretern er
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In seinen beiden Kriegsromanen Kaputt (1944) und La pelle (1949) setzt sich Malaparte vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg und der Besatzung Italiens durch die Alliierten auseinander.189 1945 beginnt er mit der Arbeit an dem Film Il Cristo proibito, der erneut den Zweiten Weltkrieg zum Thema hat.190 In derselben Schaffensphase arbeitet er an einem weiteren Film, in dem Lazarus eine besondere Rolle spielt und den er La carne umana nennt. Wie viele andere, wird das Projekt nicht realisiert, und auch das Drehbuch bleibt unvollendet.191 Dennoch ist es ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die Lazarus-Metapher mit dem Kriegskontext verbunden wird. Denn Malaparte erörtert anhand des biblischen Prätextes die Fragen von Schuld, Verantwortung, Kollaboration, Widerstand, Moral, Opfer und Repression im Zweiten Weltkrieg.192 vorwirft, bruchlos vom Faschismus zum Antifaschismus übergegangen zu sein, s. Laforgia, Enzo (2013/2014): »Curzio Malaparte e l’Italia del secondo dopoguerra«, in: NeMLa. Vol. XXXVI, S. 173–194, v.a. S. 177ff. Eine offizielle Entschuldigung seitens Malaparte aufgrund seiner Involviertheit in den Faschismus bleibt zeitlebens aus (ebd.: 174). War er während des ventennio fascista und der Nachkriegszeit noch ein Protagonist des kulturellen und politischen Lebens (Martellini 2009: XLIV), gerät Malaparte nach seinem Tod in Vergessenheit (Arndt 2005: 34f.). Heute stellt er eine der »kontroversesten Figuren« (Cadeddu 1989: 52) der italienischen Literaturgeschichte dar und ist verstärkt ins Interesse der Forschung gerückt (vgl. Liesegang 2011: 7f.). 189 Die Romane lösen aufgrund der Brutalität und Amoralität, mit denen er den Krieg schildert, einen Skandal aus; La pelle wird vom Vatikan auf den Index gesetzt, was jedoch nicht verhindert, dass das Werk ein Sensationserfolg wird (vgl. dazu Martellini 2009a: LXVIIff.; Arndt 2005: 52ff.). 190 Vgl. Malaparte, Curzio (1951): Il Cristo proibito. Es ist sein einziger realisierter Film. Er behandelt mit den Themen Zweiter Weltkrieg, Faschismus, Antifaschismus, Widerstand, Kriegsfolgen, Kollaboration, Verrat, Schuld, Sühne, Rache, Opfer, Kriegsgefangenschaft und dem Kriegsheimkehrer Bruno zahlreiche Aspekte, die für das Forschungsthema relevant sind. Ebenfalls bemerkenswert ist die christliche Symbolik in dem Film; Lazarus kommt darin jedoch nicht vor. 191 Vgl. Palazzeschi, Aldo (2001): Cinema. Hg. v. Maria Carla Papini. Roma (Edizioni di storia e letteratura), S. 66 sowie Costa, Antonio (2001): »›Prospettive‹ (1937, Nr. 2): Le verità sul cinema di Curzio Malaparte«, in: Studi Novecenteschi. Vol. 28, Nr. 61, S. 31–43, S. 33 und zu Malapartes filmtheoretischen Überlegungen ebd.: 38ff. Problematisch sind hier das Lob für Goebbels Propaganda und Malapartes antisemitische Kommentare zum jüdischen Film (ebd.: 39). – Insgesamt gibt es kaum Forschungsliteratur zu Malapartes Drehbuch. 192 Da er damit zentrale Themen aus Kaputt, La pelle und Il Cristo proibito aufgreift, steht La carne umana in einem intertextuellen und intermedialen Zusammenhang mit Malapartes prominenten Werken über den Krieg. Zudem stellt er beiden Werken dasselbe Zitat
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Neben dem Drehbuch zu La carne umana existieren zwei Paratexte, in denen Malaparte sich zu Inhalt, Aufbau, Figuren und zur Intention des geplanten Films äußert. Er legt darin dar, dass er anhand der biblischen Geschichte um Maria Magdalena, der Schwester des Lazarus, ein Abbild seiner Zeit zu geben beabsichtigt, die er wie folgt charakterisiert: »un tempo di profonde trasformazioni morali e sociali, di profondo travaglio economico, di corruzione di costumi, di violenze d’ogni genere, di odio civile etc.«193 Folglich versetzt Malaparte Maria, die er als »peccatrice moderna« (Malaparte 1994a: 507) bezeichnet, aus dem biblischen Kontext in seine Gegenwart, um die korrupte Kriegsund Nachkriegszeit darzustellen. Da Maria Magdalena in der Bibel nicht die Schwester des Lazarus ist, verändert er die Vorlage des Prätextes und fusioniert verschiedene Marienfiguren.194 Zugleich überträgt Malaparte den geschichtlichen Hintergrund des Prätextes auf seine Epoche, da die römische Obrigkeit aus der Bibel die nationalsozialistische oder sowjetische Besetzung während des Zweiten Weltkriegs symbolisieren soll (»questa occupazione straniera è identificata esplicitamente con quella hitleriana o con quella sovietica«, Malaparte 1994a: 507). Problematisch sind die Überblendung und Gleichsetzung von nationalsozialistischer mit sowjetischer Besatzung bzw. der Nazis mit den Kommunisten (ebd.: 509). Wenn Malaparte außerdem behauptet, dass das Grauen des Kriegs alle Menschen getroffen hätte (»Gli orrori ai quali abbiamo tutti assistito, e che tutti aus Aischylos’ Agamemnon voran (»Se rispettiamo i templi e gli Dei dei vinti, i vincitori si salveranno«) und greift auf die Metapher der »carne umana« zurück, die er schon in La pelle verwendete. Vgl. Malaparte, Curzio (2015): La pelle. Storia e racconto. Hg. v. Caterina Guagni u. Giorgio Pinotti. Milano (Adelphi), S. 12, 20. Zugleich unterscheiden sich La carne umana und Il Cristo proibito von den Romanen, da sie ein religiöses Fundament haben und das christliche Martyrium erneuern. Zum Film s. Arndt 2005: 56f. – La carne umana wird aufgrund der dialogischen Form in diesem Kapitel zum Nachkriegstheater behandelt. 193 Malaparte, Curzio [1950] (1994a): »La carne umana. Trama del film«, in: Malaparte. Volume IX. 1950. Fuoco umido. La carne umana. L’altra coscienza. 1951. Hg. v. Edda Ronchi Suckert. Firenze (Ponte alle Grazie), S. 505–512, S. 506. Der zweite, dem Drehbuch vorangestellte Text ist Malaparte, Curzio [1950] (1994b): »La carne umana«, in: Malaparte. Volume IX. 1950. Fuoco umido. La carne umana. L’altra coscienza. 1951. Hg. v. Edda Ronchi Suckert. Firenze (Ponte alle Grazie), S. 513. Das Drehbuch wird wie folgt zitiert: Malaparte, Curzio [1950] (1994c): »La carne umana«, in: Malaparte. Volume IX. 1950. Fuoco umido. La carne umana. L’altra coscienza. 1951. Hg. v. Edda Ronchi Suckert. Firenze (Ponte alle Grazie), S. 514–560. 194 Maria Magdalena kommt vor bei: Mt 27,56–61; Mk 15,40–47; Lk 24,10; Joh 20,1–18.
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abbiamo più o meno sofferto«, ebd.) und dass es nur deswegen möglich gewesen sei, da die Welt auf materialistischen und nicht mehr christlichen Werten basiert, dann verweigert er eine Stellungnahme zu seiner faschistischen Vergangenheit und betreibt Geschichtsrevisionismus. In den Paratexten und La carne umana ist eine Ausrichtung auf christliche Werte bemerkbar. Deutlich erkennbar ist außerdem der Anspruch, das Publikum moralisch zu erziehen. Malaparte bedient sich dazu christlicher Motive und Stilisierungen, die er der Gewalt und Verrohung durch den Krieg entgegenhält.195 Er setzt seine Hoffnungen auf eine gewaltfreie Revolution, die durch Lazzaro repräsentiert wird und aus der heraus eine neue Menschheit entstehen soll: »una rivoluzione senza odio e senza violenza, una rivoluzione pacifica, morale e non materiale« (ebd.: 511). Es besteht ein eklatanter Gegensatz zwischen der christlichen Ausrichtung und der Brutalität der in La carne umana geschilderten Ereignisse, die sich zwischen Verrat, Korruption, Kollaboration, Vergewaltigung und Prostitution abspielen. Diese beiden konträren Ausrichtungen werden durch Maria Maddalena und Lazzaro verkörpert. Bereits bei ihrer jeweiligen Einführung wird die Gegensätzlichkeit der Figuren erkennbar. Maria, aufreizend gekleidet (»appare con le spalle nude, i seni appena nascosti«, Malaparte 1994c: 515), befindet sich mit Offizieren und Militärs in einem Tanzlokal, trinkt Champagner und begibt sich schließlich auf die Bühne, um einen Striptease vorzuführen (ebd.: 516).196 Dies zeigt die Frivolität der Figur sowie die Dekadenz einer gan195
Das ›Böse‹ und ›Schlechte‹ (male), das der Krieg in die Welt gebracht habe, sei konkreter und moralischer Natur zugleich (Malaparte 1994a: 508). Erst wenn die Menschen aufhörten, einander Gewalt zuzufügen und menschliche Brüderlichkeit (fraternità umana) walten ließen, könnten sie erlöst werden und es herrschten Freiheit und Gerechtigkeit (ebd.: 512). Hierin entfernt sich Malaparte von seiner früheren Erwartung, dass Krieg und Faschismus eine Revolution in Gang setzen und ein neues Italien schaffen würden (Cadeddu 1989: 55). Das Beispiel von Jesu Opfer, durch das die Menschen erlöst werden, bietet ihm eine Anleitung, um die moralischen und ideologischen Probleme seiner Zeit zu bewältigen (Malaparte 1994a: 506). Malapartes Verhältnis zur Religion ist unorthodox (Martellini 2009: XLIV). Dennoch bezieht er sich durchgängig auf christliche Symbole wie z.B. das Opfer (Baldasso 2017: 281ff.). Während Malaparte in Viva Caporetto! bzw. La rivolta dei santi maledetti das Opfer der Soldaten für ihr Land ablehnt (Cadeddu 1989: 58), nähert er sich in Il Cristo proibito und La carne umana einer heilsgeschichtlichen Perspektive an, die im Tod eines Menschen, der, wie Christus, für andere stirbt, ein sinnvolles Opfer sieht (Malaparte: 1951; Malaparte 1994a: 512). 196 Die nächste Szene spielt auf Marias Anwesen, wo sie ein Fest gibt. Maria und ihr Haus sind durch zahlreiche Vanitasmotive in Szene gesetzt (Luxus, Kunst, Skelett, Totenkopf,
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zen Epoche, die mit ihrer Vergnügungslust das memento mori und das Gebot der caritas verlacht. Lazzaro hingegen befindet sich bei seinem ersten Auftritt im Bett, das er aufgrund seiner Krankheit nicht mehr verlassen kann: Maddalena: Sei molto buono con me, Lazzaro… Ma io invece sono così egoista… Non penso che a divertirmi… invece di stare qui, vicino a te… Lazzaro: Tu mi sei sempre vicina, Maria. Non devi aver rimorsi… Tu vivi anche per me. Vivi per tutti e due. Non mi accorgo nemmeno d’essere malato, quando so che ti diverti. Maddalena: Tu sei troppo buono con me, Lazzaro; dovresti essere più severo… come Marta… Marta non mi perdona… Dice che è il mio egoismo che ti fa soffrire. […] Una volta somigliavo a te. Ero il tuo ritratto. Avevo la tua stessa bocca, i tuoi occhi, il tuo sorriso… […] Se vuoi non uscirò più di casa… Non andrò più a divertirmi finché non sarai guarito… Lazzaro: Io non guarirò mai! Maddalena: Perché parli così, Lazzaro? Guarirai, saremo felici… Lazzaro: Io sono felice, Maria… So che sono malato, che non guarirò mai, so che debbo morire. È per questo che sono felice! […] Neppure se io guarissi tu saresti felice. È perché non sai di essere malata che non sei felice. […] Lo sai che cos’è il male? Che cos’è la carne malata? […] Tu non sai d’essere malata. Sei orgogliosa, ma ti disprezzi… (ebd.: 524ff.) Als »giovane pallido, magro« (ebd.: 524) unterscheidet sich Lazzaro von seiner schönen Schwester nicht nur körperlich, sondern vor allem charakterlich und moralisch. Während er gut ist (»buono«) und sich Maria gegenüber verständnisvoll und altruistisch verhält, ist sie egoistisch und vergnügungssüchtig (»egoista«, »divertirmi«). Lazzaro wird mit Krankheit, Leid und Tod assoziiert (»malato«, »soffrire«, »morire«), Maria mit dem Leben (»vivi«). Dennoch ist er glücklich (»sono felice«) und sie unglücklich. Denn während Lazzaro zwar körperlich schwach, moralisch jedoch integer ist, ist Maria moralisch krank (»malata«). Ihr ›krankes Fleisch‹ (»carne malata«) ist eine Metapher für Schuld Nacktheit, Perlen). – Die Anweisungen für Regie und Kameraführung werden in den Zitaten nicht aufgeführt.
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und ihre Verstrickung mit dem ›Bösen‹ (»il male«) und darüber hinaus für die moralische Krankheit einer ganzen Gesellschaft. Durch ihre Prostitution symbolisiert sie die Sündhaftigkeit einer Gesellschaft, die durch Korruption und Kollaboration mit den Faschisten und den Nazis in die Machenschaften der sozialen, politischen und militärischen Eliten verwickelt ist.197 Maria sieht den Grund für Lazzaros Leid in ihrem Egoismus und ihrer Vergnügungssucht (»è il mio egoismo che ti fa soffrire«). Schließlich, als sich ihre innere Wandlung schon vollzogen hat, gibt sie sich sogar die Schuld an seinem bevorstehenden Tod: »È colpa mia. Anche Lazzaro sa che è colpa mia. Che muore per colpa mia. Il suo sguardo non mi abbandona mai. Mi fissa con occhi pieni di rimprovero. […] Il suo male è la punizione dei miei peccati« (ebd.: 559). Lazzaro ist das Opfer von Marias Kollaboration mit der machthabenden Elite: Mit seiner (körperlichen) Krankheit büßt er für ihre (moralische) Schuld, und mit seinem Tod erlöst er sie von ihrer Sünde. Indem er sich für Maria opfert und sie von jeder Schuld und Verantwortung freispricht (»non devi aver rimorsi«), tritt er als Sinnbild der caritas und des christlichen Opfers auf. Insofern dient Lazarus als eine Metapher für die Opfer, die Krieg, Gewalt, Kollaboration und Unmenschlichkeit hervorbringen. Die unauslöschbare Erinnerung an Lazzaros vorwurfsvollen Blick zeigt, dass Maria ihre Schuld weder vergessen noch verdrängen kann. Ihre innere Zerrissenheit (travaglio), die sich auf dem Widerspruch zwischen Gut und Böse, Kollaboration und daraus resultierendem Schuldempfinden gründet, wird zum Ausdruck einer vom Krieg gezeichneten und moralisch zerstörten Welt, die sich zwischen Verdrängung und Schuldeingeständnis bewegt. In den gegensätzlichen Wortfeldern von Körper (»carne«, »bocca«, »occhi«) und einem am christlichen Wertekanon orientierten Geist (»rimorsi«, »soffrire«, »perdona«), schlagen sich dieser Konflikt und Marias Gewissenskrise gleichermaßen nieder. Letztere drückt sich in dem obigen Zitat außerdem in den zahlreichen Auslassungszeichen in Marias Redeanteilen aus. Mit der negativen Darstellung der Vertreter von Bürgertum, Finanzwesen und Militär, die durch Frivolität, Egoismus, Geldgier, Falschheit und Heuchelei charakterisiert sind (Malaparte 1994b: 517; Malaparte 1994c: 551f.), betreibt Malaparte eine harsche Kritik an Kapitalismus und Materialismus. Er macht
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Als Mätresse verkehrt sie mit ranghohen Militärs und den Besatzern, tanzt auf ihren prunkvollen Festen, nimmt Geschenke an, lässt sich von ihnen hofieren und richtet selbst Feste für die Mächtigen aus (ebd.: 516ff., 531). Ähnlich wie die Prostituierten ist sie daher »carne da soldati« (ebd.: 543).
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
deutlich, dass den Eliten daran gelegen ist, Fremdbesatzung, Korruption und Kollaboration möglichst lange aufrecht zu erhalten, da dadurch Handelsgeschäfte begünstigt, Machtinteressen gesichert und die Massen unter Kontrolle gehalten werden. Dies zeigt sich unter anderem in einer Rede, die ein dicker Reicher während eines üppigen Banketts hält: »Finché durerà l’occupazione straniera, i morti di fame non ci fanno paura. […] Mill’anni dovrebbe durare l’occupazione straniera, per tenere a freno queste canaglie!« (ebd.: 554). Die Szene greift die Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus auf. Wie schon beim Lazarus aus dem Johannesevangelium, zieht Malaparte den Lazarus aus der Lukasparabel (der nicht namentlich, sondern als anonymer ›Armer‹ stellvertretend für alle Armen steht) dazu heran, um die Amoralität und den Egoismus der Eliten während des Zweiten Weltkriegs darzustellen. Ihnen hält er die Botschaft Jesu entgegen (ebd.: 553f.). Die Armen sind Opfer von Gewalt, Krieg und Repression. Sie sind anonymes Menschenmaterial und auf ihre ›bloße Haut‹ sowie ihr ›nacktes Leben‹ reduziert (»un mucchio di carne, di povera carne umana«, ebd.: 536). Als ungeschütztes, nacktes Leben, das ohne Rechtfertigung getötet werden kann, lassen sich die Armen mit Agambens homo sacer in Verbindung bringen.198 In einer biopolitischen Perspektive werden sie als Opfer von Prostitution, Vergewaltigung, Verfolgung und Gewalt durch die herrschenden Eliten zu Einsatzorten der biopolitischen Macht und Manipulation. Sie repräsentieren den Menschen, der durch totalitäre Macht von seinen Rechten enthoben, seiner Würde beraubt und auf sein politisches Leben (bíos) reduziert ist.199 198 Vgl. Agamben 2005: 82ff. und zum Begriff des ›bloßen Lebens‹ (nuda vita), den Agamben bei Benjamin entlehnt, Benjamin 1977: 199f. sowie das Kapitel I, 2.2 in dieser Arbeit. Zur auf Aristoteles zurückgehenden Unterscheidung von bíos und zoé bei Agamben s. Borsò, Vittoria (2010): »Benjamin – Agamben. Biopolitik und Gesten des Lebens«, in: Borsò, Vittoria u.a. (Hg.): Benjamin – Agamben. Politics, Messianism and Kabbalah. Würzburg (Königshausen&Neumann), S. 35–48, S. 41. 199 Auch die Prostitution kann als biopolitisches Ergebnis des Kriegs und der Fremdbesatzung interpretiert werden. Durch die Körpermetaphorik, die schon im Titel La carne umana enthalten und im gesamten Drehbuch zentral ist, wird aufgezeigt, dass der nazifaschistische Krieg als biopolitische Macht- und Repressionsstrategie funktioniert. Zur These, dass Malaparte in seinen Kriegsromanen Kaputt und La pelle die biopolitischen Folgen des totalen Kriegs behandelt und aufzeigt, dass die Werte des bürgerlichen Europas zusammengebrochen sind, s. Baldasso 2017: 281. Baldasso bedient sich des Konzepts des »bare life« und fokussiert in seiner Analyse von Malaparte eine biopolitische Perspektive, geht jedoch nicht auf La carne umana ein. Malaparte zeige anhand der Massenvernichtung und Perfektion, mit der die »technocratic Nazi power«
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Die Razzien des Militärs, die Brutalität, mit der die Soldaten gegen das Volk vorgehen, die Verfolgung, der Abtransport, die Gefangennahme, Misshandlung und Vergewaltigung der Prostituierten (Malaparte 1994c: 536ff.) erinnern an die Abtransporte der Juden in die Arbeits- und Konzentrationslager durch die Nazis. An einer Stelle wird der Vergleich mit Buchenwald direkt gezogen: »Applauditemi, razza di schiavi, e io vi darò tutto quello che vorrete. Volete che vi mandi a Buchenwald, o preferite che vi mandi in Siberia? […] Finirete a Buchenwald, finirete in Siberia, se continuerete a piegare la schiena davanti a me!« (ebd.: 536). Auf zynische Weise wird suggeriert, dass die Menschen selbst an ihrem Leid schuld seien, da sie weder eine klare politische Position beziehen (gegen die Nazis oder die Kommunisten) noch Widerstand gegen die Besatzung leisten. Stattdessen akzeptieren sie diese ohne zu protestieren: »ecco l’eroe che vi meritate. È lui che fa da padrone in casa vostra, lui, lo straniero, lui, l’oppressore, e voi lo servite […]. Ho calpestato in piedi la giustizia e la libertà; ho massacrato donne, vecchi e bambini. E voi mi applaudite!« (ebd.: 534). Durch diese Darstellung werden die Grenzen zwischen Opfer und Täter, zwischen Schuld und Unschuld durchlässig; eine eindeutige Kategorisierung wird verhindert. Vielmehr zeigt sich, dass nicht die fremden Besatzer, die Faschisten und Nazis allein die Verantwortung für die katastrophalen Bedingungen in Italien und die Erniedrigung der Menschen tragen, sondern die Italiener selbst, die mit den Besatzern kollaborieren oder sie passiv erdulden.200 La carne umana ist eine entmythisierende und entheroisierende Darstellung des Zweiten Weltkriegs, die auf provokante Weise die Frage nach einer Kollektivschuld stellt, die nach dem Krieg auf der ganzen Menschheit lastet. Der Nobelpreisträger Dario Fo (1926–2016) gehört zu den marxistischen Dramenautoren der Nachkriegszeit und ist laut Ortolani »der bedeutendste Vertreter des politischen und militanten Theaters in Europa« und ferner ein »unermüdliche[r] Zerstörer von Mythen und Legenden«.201 Davon zeugt Fos (ebd.: 282) ausgeführt werde, dass eine Rückkehr zu menschlichen Werten, wie sie die Narrative der Resistenza, der Katholiken und der Kommunisten nach dem Krieg enthielten, unmöglich sei (ebd.: 282f.). 200 Wie in früheren Werken, dekonstruiert Malaparte Gründungsmythen, etwa den Mythos der Resistenza, auf den sich das antifaschistische Italien der Nachkriegszeit beruft (zu erstem s. Arndt 2005: 36). 201 Ortolani, Olivier (1985): Dario Fo. Theater und Politik. Eine Monographie. Berlin (BasisVerlag), S. 7. Als Autor, Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner, Sänger, Theaterforscher, Theaterleiter und politischer Agitator sei seine Bedeutung für das alternative Theater
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Theaterstück Mistero buffo, das ein Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit seinem Zeitgeschehen sowie seiner Hinwendung zur Volkskultur ist und 1969 uraufgeführt wird.202 Schon der Titel ist ambivalent: Zum einen bezieht er sich auf die mittelalterlichen Mysterienspiele, die ab dem 2. Jh. n. Chr. als ›misteri‹ bezeichnet wurden, zum anderen wird durch das Adjektiv buffo in der Bedeutung ›grotesk‹ auf das ironisch-groteske Volkstheater angespielt,203 sodass zwei Traditionen vereint werden, die ursprünglich nicht zusammengehören. Das Stück besteht aus neun sketchartigen Szenen, die jeweils von erklärenden Erläuterungen umrahmt werden; Resurrezione di Lazzaro stellt die achte Szene dar.204 Die prologartigen Kommentare machen den spielerischen kaum zu überschätzen (ebd.). Fos Anfänge entstammen der mündlichen und volkstümlichen Tradition der fabulatori (Geschichtenerzähler), die mit ihren oft absurden und grotesken Geschichten versteckte Satiren auf die Mächtigen und Herrschenden liefern (ebd.). Sind Fos Theaterstücke von 1959 bis 1967 noch dem bürgerlichen Theater verpflichtet, wendet er sich ab 1968 der Arbeiter- und Volkskultur zu. Es ist die Zeit der chinesischen Kulturrevolution, der 68er-Bewegung, der Arbeiter- und Studentenunruhen, des Prager Frühling und der Proteste gegen den amerikanischen Imperialismus in Vietnam (ebd.: 16f.). Vgl. ferner Hösle, Johannes (1999): Die italienische Literatur der Gegenwart: Von Cesare Pavese bis Dario Fo. München (Beck), S. 215ff. Mit seinen Theaterstücken reagiert Fo auf diese Ereignisse (ebd.: 215). Aufgrund der politischen Brisanz werden die Stücke in vielen Ländern verboten; die USA untersagt Fo und seiner Frau Franca Rame 1980–1986 sogar die Einreise (Scuderi 2003: 276). Vgl. zu Fos ›politischem Theater‹ Farrell, Joseph (2020): Fo politico: guerriero fuori regola. Milano/Udine (Mimesis), S. 66ff. und zu Fos Erfolg Scuderi, Antonio (2003): »Unmasking the Holy Jester Dario Fo«, in: Theatre Journal. Vol. 55, Nr. 2, S. 275–290, S. 275. 202 Mit dem Ziel, einen satirischen Blick auf seine Gegenwart zu werfen und ihre Widersprüche zu entlarven, lässt Fo darin die Tradition der mittelalterlichen Mysterienspiele und die oral-volkstümliche Tradition der giullari (Gaukler) aufleben (vgl. dazu Ortolani 1985: 32). Näher zum giullare s. Soriani, Simone (2000): Dario Fo. Dalla commedia al monologo (1959–1969). Corazzano (Titivillus), S. 357ff. Zum mittelalterlichen giullare als Kritiker der Mächtigen – eine Tradition, die Fo weiterführe – vgl. Soriani, Simone (2019): »›Mistero buffo‹ tra immaginario grottesco e performance giullaresca«, in: Lavinio, Cristina (Hg.): Oralità narrativa, cultura popolare e arte: Grazia Deledda e Dario Fo. Atti del convegno, Nuoro, 10–11 dicembre 2018. Cagliari (Aipsa), S. 157–176, S. 157f., 160ff. und Soriani 2000: 355. 203 Vor Beginn des Theaterstücks klärt ein Schauspieler das Publikum über diese Hintergründe auf. Vgl. Fo, Dario: (1977): Le commedie di Dario Fo. Band V. Hg. v. Franca Rame. Torino (Einaudi), S. 5. Näher zum Titel und zu Fos Auseinandersetzung mit der Volkskultur s. Soriani 2019: 157f., 160ff. 204 In der Vorbemerkung zu Resurrezione di Lazzaro heißt es, dass das Wunder aus der Perspektive des Volks dargestellt wird. Vgl. Fo, Dario: [1969] (1977): »Resurrezione di
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und subversiven Charakter von Fos Theaters deutlich. Denn bei diesen handelt es sich um Metalepsen im Sinne Genettes,205 da Fo, der später selbst das Stück spielen wird, sein Publikum direkt adressiert und so aus der Fiktion heraustritt und deren Illusionscharakter vor Augen führt. Anschließend heißt es: – […] Non arriva? Non è ora per ’sto miracolo? – Non c’è qualcuno che conosca questo Gesú Cristo, che possa andare a chiamarlo, che noi siamo arrivati, no? Non si può sempre aspettare per i miracoli, no? […]
Lazzaro«, in: Le commedie di Dario Fo. Band V. Hg. v. Franca Rame. Torino (Einaudi), S. 96–104, S. 97. Da die Szene wie ein Stehgreiftheater konzipiert sei (ebd.: 96) und auf einer Art canovaccio basiere, also einem losen Handlungsgerüst, bei dem der Schauspieler improvisiert, wird der Einfluss durch die Tradition der Commedia dell’arte erkennbar. Zu Fos Auseinandersetzung mit der Commedia dell’arte s. Ortolani 1985: 13f. und diesbezüglichen Interviews von Fo und Rame s. Fo, Dario (1977): Dario Fo parla di Dario Fo. Hg. v. Erminia Artese. Cosenza (Lerici), S. 12ff. Zu Residuen dieser Tradition in Fos Theater vgl. Fido, Franco (1995): »Dario Fo e la Commedia dell’Arte«, in: Italica. Vol. 72, Nr. 3, S. 298–306, S. 299ff. Von Resurrezione di Lazzaro existieren zwei Versionen: eine hochsprachliche (auf die sich im Folgenden bezogen wird) und eine Version, die sich an der Kunstsprache der giullari anlehnt, die eine Mischung aus italienischen Dialekten darstellt und die Fo bei den Aufführungen von Mistero buffo rezitiert. Zu letzterem vgl. Staffler, Hermann (2020): »Fo, Dario: Mistero Buffo«, in: Kindlers Literatur Lexikon online. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart (Metzler): https://doi.org/10.1007 /978-3-476-05728-0_3606-1; letzter Zugriff: 25.12.2023 sowie die Definition, die Fo 1991 während einer Aufführung von Resurrezione di Lazzaro gibt: https://www.youtube.com/ watch?v=gKdKu8h-NXg; letzter Zugriff: 25.12.2023 (die Quelle wird als Fo: 1991 zitiert). Zur Kunstsprache des grammelot, wie sie Fo nennt, s. auch Valeri, Walter (2004): »Il teatro epico di Dario Fo e Franca Rame nelle classi di italiano in Nord America«, in: Italica. Vol. 81, Nr. 4, S. 504–520, S. 507f. und Soriani 2000: 385ff. Fo beziehe sich auf teils erfundene oder von ihm selbst verfasste Quellen, von denen er behauptet, sie sind mittelalterliche Originalmanuskripte; er sei ein »professional liar« und fälsche Fakten (s. dazu Scuderi 2003: 279, 275ff.). 205 Genette definiert Metalepsen wie folgt: »personnages échappés d’un tableau, d’un livre, d’une coupure de presse, d’une photographie, d’un rêve, d’un souvenir, d’un fantasme etc. Tous ces jeux manifestent par l’intensité de leurs effets l’importance de la limite qu’ils s’ingénient à franchir au mépris de la vraisemblance, et qui est précisément la narration (ou la représentation) elle-même; frontière mouvante mais sacrée entre deux mondes: celui où l’on raconte, celui que l’on raconte.« Genette, Gérard (1972): Figures III. Paris (Seuil), S. 245.
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– Gesú! Gesú, facci il miracolo dei pesci e dei pani come l’altra volta che erano cosí buoni! […] – Boia! Guarda! Hanno alzato la pietra, c’è il morto, è dentro boia, (è) il Lazzaro che puzza! Cos’è ’sto tanfo? […] – È pieno di vermi, di tafani! Oheu! Sarà almeno un mese che è morto quello, s’è disfatto! Oh, che carognata che gli hanno fatto! Uh che scherzo! Non ce la fa ’sta volta, poveretto! – Di sicuro non ce la fa, non ci riesce! Impossibile che sia buono di (che riesca a) tirarlo fuori (resuscitarlo)! È marcito! C he scherzo! Oh disgraziati! Gli hanno detto tre giorni che era morto! È un mese almeno! C he figura! Povero Gesú! – Io dico che è capace ugualmente! Quello è un santo che fa il miracolo anche dopo un mese che è marcito! – Io dico che non è capace! – Vuoi far scommessa? […] – Ohia! Alzati, Lazzaro! – Oh! Glielo può dire e anche cantare, solo i vermi di cui è pieno vengono fuori!… Alzarsi?… – Zitto! Si è montato (alzato, messo) in ginocchio! – Chi? Gesú? – No! Lazzaro! Boia, guarda! […] – Oh, guarda! Va, va, è in piedi, va, va, cade! Va, va su, è in piedi!… – Miracolo! Oh! Miracolamento. Oh Gesú, dolce creatura che sei, che io non credevo! […] (Fo 1977: 98ff.) Schon an den Anfangsworten kann man erkennen, dass es sich um eine Satire auf das biblische Wunder handelt. Die erste Figur, die auftritt, ist ein Zuschauer, der wissen will, ob er sich auf dem Friedhof befindet, wo die ›Auferstehung des Lazarus‹ (»il resuscitamento del Lazzaro«)206 aufgeführt werden soll. Hier werden der zur Bühne umfunktionierte Friedhof entsakralisiert und das größte Wunder Jesu zu einem Spektakel degradiert, dem die Leute in Erwartung eines Zeitvertreibs beiwohnen: Es wird Eintritt verlangt (»dieci soldi per entrare«), um Preise gefeilscht und Rabatt gewährt (»Facciamo due«); die Zuschauer suchen das Grab des Lazarus, es werden Sardellen feilgeboten, Stühle vermietet, das Ende vorweggenommen; die Menschen drängen und schubsen, um besser zu sehen (»Lasciatemi guardare!«). Auf diese Weise verschwimmen 206 Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die folgenden Primärtextzitate auf das letzte lange Zitat im Fließtext.
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die Ebenen zwischen Prätext und seiner Neuinterpretation, Prosa und Drama, biblischen Figuren, Schauspielern, fiktionalem und realem Publikum sowie zwischen Bühne und Realität.207 All dies zeigt, dass es auf einer metapoetischen Ebene auch um die Frage geht, wie Theater funktioniert. Einer idealisierten Vorstellung, die das Theater als reine Kunst betrachtet, wird durch eine Kommerzialisierung entgegenwirkt: Verkauf, Gewinn, Profit und Egoismus unter den Menschen (»Sono arrivato io prima, e voglio stare davanti! Non m’importa se tu sei piccolo!«) stehen im Vordergrund, und schließlich werden sogar Wetten darauf abgeschlossen, ob es Jesus gelingen wird, Lazarus wiederzuerwecken (»Vuoi far scommessa?«). Die Kommerzialisierung des Wunders (»Due soldi o non si vede il miracolo«, »Fa i soldi con i miracoli«) macht deutlich, dass das Theater nichts anderes als ein Geschäft (affare) ist: »tutto è mercato e tutto è lo spettacolo« (Fo: 1991).208 Außerdem wird suggeriert, dass das Theater eine ›Illusionsmaschine‹ ist, das das Wunder ebenso erzeugt und für ihre Zwecke instrumentalisiert, wie die Religion.209 Jesus und das biblische Wunder unterliegen einer satirischen Dekonstruktion. Alleine die Frage, ob es Jesus gelingen wird, das Wunder zu vollbringen, ist blasphemisch (»Zitto! Blasfemo«). Für die Zuschauer, die des Wartens leidig geworden sind (»Non è ora per ’sto miracolo?«) und sich darüber beschweren, dass das Wunder nicht pünktlich vollbracht wird (»Non si può aspettare sempre per i miracoli, no?«), stellt dieses ein alltägliches Ereignis dar, das stets 207 Man kann hier mit Brecht von Verfremdungseffekten sprechen, die zur Folge haben, dass mit der Illusion des Theaters als geschlossene Welt gebrochen und die ›vierte Wand‹, die Publikum und Schauspieler voneinander trennt, eingerissen wird. Ähnlich wie beim Comödien-Stil nach Baumbach, wird eine Fiktionsebene aufgebaut und unterlaufen, sodass das Schauspiel eine »Praxis des doppelten Ortes« (Baumbach 2012: 422) darstellt. Fo äußert sich dazu wie folgt: »distruggere il solito diaframma che esiste a teatro, cioè questa specie di cortina, questa terza o quarta parete che blocca il rapporto« (zititert nach Soriani 2000: 282). Fos Theaterstücke seien aufgrund des storytellings von Brecht beeinflusst (Scuderi 2003: 277). Zu Brechts Verfremdungseffekten s. ebenso Hiebel, Hans (1994): »Sprachrealismus und Verfremdung: Ödön von Horváths Dramaturgie zwischen personaler und auktorialer Perspektiventechnik«, in: The German Quarterly. Vol. 67, Nr. 1, S. 27–37, S. 27ff. 208 Zudem wird das bürgerliche Theater verhöhnt und sich von bürgerlichen Werten entfernt: Denn es treten Personen auf, die Analphabeten sind, sich des Dialekts und vulgärer Ausdrücke bedienen (»boia«, »tanfo«), keine Bibelkenntnis oder Ehrfurcht vor Gott haben und Konventionen verletzen. 209 Für diesen Hinweis danke ich Gero Faßbeck.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
wiederholt werden kann (»il miracolo di un altro«, »come l’altra volta«). Nicht nur Jesus als Urheber des Wunders ist also austauschbar, auch der Gegenstand ist beliebig, denn ob das Wunder der Fisch- und Brotvermehrung vollbracht (»facci il miracolo dei pesci e dei pani«)210 oder Lazarus von den Toten erweckt wird, scheint nebensächlich zu sein. Wie die zahlreichen Motive des Sehens und Schauens demonstrieren (»avete visto«, »occhi«, »fammi vedere«, »voglio vedere«, »guarda!«), ist es wichtiger, dem Spektakel als solchem beizuwohnen – eine religiöse Bedeutung und die belehrende Funktion des Wunders entfallen ganz. Als Jesus auftritt, wird er von den Zuschauern nicht erkannt, die ihn mit Markus oder Johannes verwechseln und rätseln, wer er nun sei (»Quel ragazzino?«).211 Indem Fo die Distanz zwischen Jesus und den Menschen verringert und ihn als ihresgleichen auftreten lässt, knüpft er an die Tradition des komischen Volkstheaters an, das Jesus als menschlich versteht.212 Während Jesus Mühe hat, Lazarus von den Toten zu erwecken (»non ci riesce«), spotten die Zuschauer, dass eher als Lazarus die Würmer aufstehen, mit denen er bedeckt ist. Jesus bleibt stumm und die Worte, die er in der Bibel spricht und die dort das Wunder konstituieren, werden bei Fo vom Publikum übernommen (»Alzati, Lazzaro!«). Entsprechend dieser spöttischen Herabsetzung, wird das Wunder nicht direkt dargestellt, sondern von einem Zuschauer als Botenbericht wiedergegeben (»Hanno alzato la pietra, c’è il morto, è den-
210 Es handelt sich um eine Anspielung auf die Speisung der Fünftausend, von denen die vier Evangelisten erzählen (Mk 6,30–44; Mt 14,13–21; Lk 9,10–17; Joh 6,1–13). 211 Durch die Behauptung, dass Jesus stets in Begleitung seiner Jünger auftritt, da er ›ein bisschen verrückt‹ ist und nicht alleine gelassen werden darf (Fo 1977: 102), wird die Distanz zwischen ihm und den Zuschauern aufgehoben. Hier könnte man mit Bachtin von einer Familiarisierung der Autorposition gegenüber dem Helden sprechen, die typisch für die ›Karnevalisierung‹ der Literatur ist. Vgl. dazu Sasse, Sylvia (2010): Michael Bachtin zur Einführung. Hamburg (Junius), S. 173. 212 S. dazu Fos Erklärungen in Mistero buffo: »perché l’attore, il comico, voleva che l’interesse del pubblico fosse accentrato non tanto verso il divino, ma verso l’uomo« (Fo 1977: 27). Laut Scuderi liebt das Volk Jesus und hasst den alttestamentarischen Gott, da dieser Paternalismus, Dogma und Machtstrukturen der Kirche repräsentiert; Scuderi, Antonio (1996): »Subverting Religious Authority: Dario Fo and Folk Laughter«, in: Text and Performance Quarterly, 16, S. 216–232, S. 217ff. Zu Jesus als Gegenfigur zum Klerus s. Soriani 2019: 165ff.; Soriani 2000: 341; zur Tradition des komischen Volkstheaters Scuderi 1996: 218 und zur Tradition des Komischen Baumbach 2012: 99ff., 246ff.
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tro boia, (è) il Lazzaro«). Außerdem kommt es zu einer Verwechslung von Jesus und Lazarus (»Chi? Gesù?«/»No! Lazzaro!«).213 Auch der biblische Lazarus wird parodiert: Als Lazzaro endlich aus dem Grab tritt, ist er von einem bestialischen Gestank umgeben (»Lazzaro che puzza! Cos’è ’sto tanfo?«), mit Würmern und Bremsen übersät (»pieno di vermi, di tafani«), bereits zerfallen (»disfatto«) und vermodert (»marcito«), sodass er nicht drei Tage, sondern mindestens einen Monat tot gewesen zu sein scheint (»almeno un mese che è morto«). Die Zuschauer ergreifen sogleich Partei für Jesus, da sie ihn als Opfer eines bösen Scherzes wähnen und nun darum bangen, ob es ihm gelingen wird, Lazarus zu erwecken, um so sein Gesicht zu wahren (»Che scherzo! Non ce la fa!«, »Povero Gesú!«). Die Verbindung von Scherz und Wunder ist außergewöhnlich und widerspricht der Konvention. Fo greift an dieser Stelle auf die Tradition der Mysterienspiele zurück, in denen sich burleske und ernste religiöse Szenen abwechseln,214 und verändert sie zugleich, indem er den Fokus auf das Lächerliche lenkt. Schließlich gelingt die Auferweckung doch; Lazarus wankt, richtet sich auf, fällt, wankt erneut und steht endlich auf eigenen Beinen (»Miracolo! Oh! Miracolamento«). Auf satirische Weise führt dieses doch fragwürdige Beispiel für Jesu Wunderkraft dazu, dass Nichtgläubige konvertieren (»dolce creatura che sei, che io non credevo!«). Nun wird die Aufmerksamkeit wieder von Jesus und Lazarus abgelenkt und auf einen Zuschauer gerichtet, dem seine Geldbörse gestohlen wurde. Das Stück endet damit, dass sich die an Jesus gewendeten Bravorufe mit den Rufen nach dem Dieb abwechseln (»Gesú! Bravo!… Ladro«). In seiner eigenwilligen Neuinterpretation der Auferweckung des Lazarus stellt Fo dem biblischen Mythos eine alternative Version gegenüber, die sich der offiziellen Lesart durch die Kirche widersetzt, welche das Wunder als übernatürliches Ereignis (»evento sopranaturale«, Fo 1977: 97) erscheinen lässt. Das Wunder dient nicht mehr dazu, die Macht Gottes vor Augen zu führen, von der die katholische Kirche ihre Legitimation ableitet und aus der heraus ihr paternalistisches und repressives Verhältnis dem einzelnen Menschen gegenüber
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Die Verwechslung von Personen ist ein typisches Motiv des komischen Theaters und der Commedia dell’arte. Vgl. Rarbien, Dierk (1970): Die komische Figur in der neueren Oper und die Commedia dell’arte. München (Schön), S. 135 und zur Commedia dell’arte Tessari, Roberto (2013): La Commedia dell’Arte. Genesi d’una società dello spettacolo. Bari (Laterza), S. 33ff. 214 Vgl. Russo, Anna (1998): Bertolt Brecht und Dario Fo. Wege des epischen Theaters. Stuttgart/Weimar (Metzler), S. 105f.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
resultiert (Scuderi 1996: 217f.). Da Fo im Gegenteil Schwierigkeiten, Zweifel sowie die Möglichkeit des Scheiterns und die menschliche Fehlbarkeit Jesu betont, aber auch seine Lächerlichkeit demonstriert, unterminiert er die institutionalisierte und kanonisierte Darstellung des Wunders als ›Erfolgsgeschichte‹ und wirkt einer Mythen- und Legendenbildung entgegen. Mit Bezug auf Gramscis marxistische Theorie der Hegemonie versteht Fo solche Narrative als Produkte der Mächtigen, durch die alles Einfache degradiert wird (Scuderi 2003: 279; Scuderi 1996: 230). Um dem Volk seine Würde wiederzugeben, hält er diesen autoritären Diskursen ein subversives folk laughter entgegen.215 Hierin ist Bachtins Einfluss auf Fo erkennbar (ebd.: 217): Laut Bachtin bedeuten der mittelalterliche Karneval und die volkstümliche Lachkultur eine (vorübergehende) Umkehr von Hierarchien und Machtstrukturen und eine Suspension der Ordnung.216 Fos provokante und lustige Reinterpretation des biblischen Wunders konstituiert im Sinne Bachtins eine Gegenordnung zur offiziellen Lesart und zur christlich-katholisch fundierten Kultur. Anhand von Jesus und Lazarus wird gezeigt, dass selbstlegitimierende religiöse Diskurse wie Wundererzählungen in Fos Zeit unglaubwürdig geworden sind und ausgedient haben. Lazzaro ist daher keineswegs nur eine groteske Figur und als Verkörperung von Leben und Tod »un simbolo stesso del tempo che distrugge e rigenera« (Soriani 2019: 171), sondern steht für den spöttischen Protest gegen die göttliche Ordnung, da er sich nur widerwillig von Jesus erwecken lässt und als Negativbeispiel eines gelungenen Wunders fungiert. Seine Beschreibung als vermoderter und stinkender Auferweckter symbolisiert die Korruption des paternalistischen Kle-
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»[…] subversion and inversion of social status and power hierarchy, which Fo exploits as a means of unmasking the hoax of hypocrisy and unveiling the self-serving notions of reality imposed by official cultures« (Scuderi 1996: 217). Vgl. Bachtin, Michail M. [1965] (1984): Rabelais and His World. Übersetzt v. Hélène Iswolky. Bloomington (Indiana University Press), S. 275; Lachmann, Renate (1988/1989): »Bakhtin and Carnival as Counter-Culture«, in: Cultural Critique. Nr. 11, S. 115–152, S. 118ff. Dazu und zu Bachtins Rezeption s. Sasse 2010: 160ff. Allgemein zu Karneval, Groteskem, Subversion und Hierarchienumkehr sowie zu diesen Aspekten bei Fo und in Verbindung mit Bachtin s. Soriani 2019: 162ff. Das Volkslachen unterminiert die offiziellen Diskurse der Macht (s. dazu Lachmann 1988/1989: 119f., 124), da es Autoritäten und vermeintliche Wahrheiten umkehrt und Gegendiskurse und Ambivalenz schafft (»shift of authorities and truths, a shift of world orders«). Bachtin, Michail M. [1963] (1984): Problems of Dostoevsky’s Poetics. Hg. u. übersetzt v. Caryl Emerson. Minneapolis (Minnesota Press), S. 127, zitiert nach Lachmann 1988/1989: 123.
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rus, der in eine Legitimationskrise geraten ist. In dieser religionskritischen Haltung besteht eine Referenz auf Pirandellos Lazzaro.217
3.3 Lazarus und die Wiederkehr des Verdrängten bei Silone und Moravia Bei Ignazio Silone (1900–1978; eigentlich Secondino Tranquilli) sind Leben, literarisches Werk und Politik eng miteinander verknüpft.218 Dies gilt ebenso für den Roman Una manciata di more (1952), in dem der Autor seine Erfahrungen mit dem PCI verarbeitet und anhand des Protagonisten Rocco de Donatis austrägt, in welchem die Forschung gemeinhin ein alter ego Silones sieht.219 Der Roman spielt in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit und beschreibt den Umbruch vom Faschismus zum Kommunismus; er kann als eine Bestandsaufnahme der damaligen politischen und
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Zur Darstellung von Klerus und Kirche in Pirandellos Drama vgl. das Kapitel III, 2.1 in dieser Arbeit. Silone ist Sozialist und begründet 1921 die Kommunistische Partei Italiens (PCI) mit; als sie 1925 von der faschistischen Regierung verboten wird, arbeitet er im Untergrund weiter und bleibt ein hoher Funktionär des PCI, bis er mit der Partei bricht und 1931 ausgeschlossen wird. Anschließend begibt er sich in die Schweiz, wo er als politischer Flüchtling im Exil lebt. Dort verfasst er Der Fascismus [sic!]. Seine Entstehung und seine Entwicklung (1934) und Die Schule der Diktatoren (1938), in denen er sich theoretisch mit dem Faschismus auseinandersetzt. Vgl. dazu Martelli, Sebastiano/Di Pasqua, Salvatore (1988): Guida alla letteratura di Silone. Milano (Mondadori), S. 9 sowie Falcetto, Bruno (2011): »Introduzione«, in: Silone, Ignazio: Romanzi e saggi. Vol. 2. 1945–1978. Hg. v. Bruno Falcetto. Milano (Mondadori), S. XI–XXXVIII; Falcetto, Bruno (2011a): »Cronologia«, in: Silone, Ignazio: Romanzi e saggi. Vol. 2. 1945–1978. Hg. v. Bruno Falcetto. Milano (Mondadori), S. XXXIX–LXXXII; Biocca, Dario (2005): Silone. La doppia vita di un italiano. Milano (Rizzoli), S. 270ff. und Müller, Olaf (2008): »Ignazio Silone und Siegfried Kracauer: Faschismusanalyse im transnationalen Exildialog«, in: Baty-Delalande, Hélène/Boyer-Weinmann, Martine (Hg.): Das Münchner Abkommen und die Intellektuellen: Literatur und Exil in Frankreich zwischen Krise und Krieg. Tübingen (Narr), S. 119–140, S. 122ff. Zu Silones theoretischen Schriften und dem Exil s. Holmes, Deborah (2016): Ignazio Silone in Exile. Writing and Antifascism in Switzerland 1929–1944. Aldershot (Ashgate), S. 147ff. Zur Einordnung von Der Fascismus s. Franzinelli, Mimmo (2002): »Introduzione«, in: Silone, Ignazio: Il fascismo. Origini e sviluppo. Übersetzt v. Marina Buttarelli. Milano (Mondadori), S. IX–XLVII. Vgl. Libera, Vittorio (1983): »Introduzione«, in: Silone, Ignazio: Una manciata di more. Milano (Mondadori), S. VII–XXIII, S. XVII.
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sozialen Situation in Italien gelten, vereint er doch zentrale Fragen und Probleme jener Zeit. Die Handlung ist in den Abruzzen (Silones Heimat) situiert, wobei die karge und vom Weltgeschehen abgeschottete Gegend den Rahmen für die Konflikte und Kämpfe abgibt, die sich zwischen Arm und Reich, Besitzern, Machthabern, ehemaligen Faschisten, Mitgliedern des PCI und dem einfachen Volk abspielen.220 In den meisten Forschungsbeiträgen bleibt das Werk auf seinen sozialpolitischen Inhalt reduziert, obwohl ein beträchtlicher, bisher jedoch kaum beachteter Teil die Folgen thematisiert, die der Zweite Weltkrieg, die nazifaschistische Herrschaft und der Holocaust für die Gesellschaft bedeuten. Bei Silones Auseinandersetzung mit der biblischen Lazarus-Figur werden einige dieser Aspekte literarisch verarbeitet. Im Kampf gegen staatliche, religiöse und politische Gewalt und Unterdrückung durch das Herrschergeschlecht der Tarocchi, die Polizei, die katholische Kirche, den Faschismus und später den PCI wird der ehemalige Partisanenkämpfer Rocco von Martino, Stella, Massimiliano und Lazzaro unterstützt. Obwohl Lazzaro eine Schlüsselfigur darstellt (was alleine daran zu erkennen ist, dass Silone den Roman ursprünglich La tromba di Lazzaro nennen wollte; Libera 1983: XVI),221 kommt er erst relativ spät zur Sprache. Auch sein wich220 Hierbei zeigt sich eine Positionierung zugunsten der armen Menschen und gegen Machthaber, Staat, repressive Kirche, Institutionen und Partei, was dem Roman einen sozialpolitischen Impetus verleiht. Dies entspricht der Erkenntnis, die Silone nach seiner moralischen Krise und Abkehr vom PCI erlangt, und nach der nicht die Politik, sondern das Schreiben das einzige probate Mittel darstellt, um gegen Faschismus und Unterdrückung zu kämpfen (Libera 1983: XIII). Zu zentralen Themen in Silones Werk und zum Etikett des ›politischen Schriftstellers‹, das ihm anhaftet, s. Giannantonio, Valeria (2004): La scrittura oltre la vita. Studi su Ignazio Silone. Napoli (Loffredo), S. 30ff. 221 Im Unterschied zur Bedeutung, die Libera Lazzaro und der Trompete zuspricht, in der er sogar den Protagonisten des Romans sieht (Libera 1983: XVI), nimmt Lazzaro für Giannantonio eine Nebenrolle ein (Giannantonio 2004: 107) – eine Behauptung, die aufgrund Lazzaros zentraler Stellung nicht haltbar ist. Zur Trompete, die während des Faschismus verstummt und bei der Befreiung wieder erklingt und den Kampf für Gerechtigkeit symbolisiert, vgl. Libera 1983: XVI. – Silone gebraucht die Lazarus-Metapher erneut in der Erzählung Polikusc’ka, die Teil seines autobiographischen Werks Uscita di sicurezza von 1965 ist. In dem Text, mit dem sich Silone auf eine Erzählungen von Tolstoi bezieht, kehren Lazzaro, die Trompete sowie zahlreiche Motive und Themen wieder, die schon im Roman zentral sind (Krieg, Erdbeben, der Widerstand gegen die Reichen, Kritik an Macht, Kirche und Gesellschaft u.a.). Im Unterschied zum Roman spielt der Zweite Weltkrieg eine untergeordnete Rolle und Lazzaro erscheint v.a. als Vertreter der Bauern. Vgl. Silone, Ignazio (1965): »Polikusc’ka«, in: Uscita di sicurezza. Firenze (Vallecchi), S. 43–54.
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tigster Besitz, eine Trompete (tromba), ist als versteckte und vergrabene Trompete bis kurz vor Romanende nur in absentia vorhanden. Meine These ist, dass Lazzaro und seine Trompete Latenzindikatoren darstellen und Metaphern für den Widerstand gegen Macht und Tyrannei sind. Durch Lazzaro und die Trompete werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Bezug gesetzt.222 In der Vergangenheit ließ Lazzaro seine Trompete erklingen, um die Bauern zu versammeln, ihnen Mut zu machen und zum Widerstand gegen die Unterdrücker aufzufordern (ebd.: 125).223 Lazzaros Trompete wird so zum Schrecken der Reichen und Mächtigen und symbolisiert den Widerstand der Armen; auch da sie oft mit Motiven in Verbindung gebracht wird, die eine Form der Rebellion ausdrücken (»rifiuto«, »sfida«, »spavalde«, Silone 2011: 60ff.). Als die Faschisten an der Macht sind, versteckt Lazzaro die Trompete und wird alsbald von den Autoritäten und den Tarocchi aufgefordert, das Versteck preiszugeben. Da er sich weigert, wird er mit der Verbannung belegt und muss das Dorf verlassen (ebd.: 60). Daraufhin werden die Dorfbewohner von der Polizei drangsaliert und nach dem Verbleib der Trompete befragt; als Martino protestiert, wird er ebenfalls verbannt. Es folgt eine Zeit der allgemeinen Verdrängung: »Dopo il bando di Lazzaro e di Martino […] per qualche tempo di sera le piazze e le strade rimasero deserte. Ci vergognavamo, semplicemente.
222 Außerdem werden anhand von Lazzaro und seiner Trompete die einzelnen Handlungsstränge und die zentralen Themen des Romans, die sich zwischen Krieg, Widerstand, Resistenza, Wiederaufbau, Gesellschaft, Politik, Macht, Religion und Tradition bewegen, miteinander verbunden. Da beide in den zwei Binnengeschichten des Romans vorkommen, fungieren sie ferner als metapoetisches Bindeglied zwischen verschiedenen Erzählebenen. Die erste Binnengeschichte beschreibt, wie Lazzaro während Volksunruhen und einer Hungersnot für die Polizei arbeitet und wie ein Mädchen, das bei Ausschreitungen verletzt worden war, in seinen Armen stirbt, während er es ins Krankenhaus bringen will. Auf die Bedeutung dieser Binnengeschichte gehe ich später ein. Die zweite Binnengeschichte ist ein Beispiel für Usurpation, Ausbeutung, Repression und Ungerechtigkeit. Vgl. zu den Textstellen Silone, Ignazio [1952] (2011): »Una manciata di more«, in: Romanzi e saggi. Vol. 2. 1945–1978. Hg. v. Bruno Falcetto. Milano (Mondadori), S. 6–280, S. 121ff., 231ff. 223 »La tromba veniva suonata per chiamare i cafoni a riunirsi, quando c’era un motivo. Ogni volta era la paura lo smarrimento l’incubo dei galantuomini, specialmente dei Tarocchi. Certe sere […] sembrava la tromba del giudizio« (ebd.: 55). Als »tromba del giudizio« steht die Trompete im biblischen Kontext für die Apokalypse sowie das Jüngste Gericht (Offb.) und symbolisiert die Hoffnung der Armen und Unterdrückten, es möge ein Ausgleich geschaffen werden und Gerechtigkeit walten.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
Fu una specie di coprifuoco volontario […] evitavamo di parlare dell’accaduto« (ebd.: 62). Wie die Motive der Ausgangssperre (»coprifuoco«), des Schweigens, der Leere, Scham, Verbannung und des Vermeidens (»evitavamo«) demonstrieren, bedeutet die Zeit, in der Lazzaro und die Trompete versteckt und die Faschisten an der Macht sind, eine Phase der Latenz, Verdunklung, Verdrängung, des Verschweigens und Vergessens.224 Solange das faschistische Regime besteht, bleiben Lazzaro und die Trompete unauffindbar und werden lediglich in der widersprüchlichen und fragmentarischen Erinnerung der Figuren evoziert (»Non fu Lazzaro? Ne sei sicuro? Mi pare che tu perda la memoria«, ebd.: 61; »Che anno era? Chi lo sa? La mia memoria dovete sapere, non è nulla di speciale«, ebd.: 122). Lazzaro steht für eine ungesicherte und fragmentarische Erinnerung an die Zeit des Faschismus, die als etwas Latentes im kollektiven Gedächtnis erscheint. Obwohl gerätselt wird, ob Lazzaro tot ist oder noch lebt (»Si parlò della sua morte«, »È una favola […] Lazzaro non è morto«, ebd.: 101), besteht immer die Hoffnung, er werde wiederkehren: »Tornerà Lazzaro, vedrai. Tornerà con la sua tromba. Avrai giustizia« (ebd.: 236). Mit Gumbrecht kann man hier von einer Hoffnung auf Entbergung der Latenz und die damit einhergehende Erlösung sprechen (Gumbrecht 2012: 45, 245f.). Auch Massimiliano hat lange auf die Rückkehr seines Freundes gewartet. Als Mussolini gestürzt wird und die neue Regierung in Kraft tritt (Silone 2011: 96), ahnt er Lazzaros Wiederkehr voraus: Egli aveva visto uno sconosciuto aggirarsi nelle vicinanze. Lo sconosciuto procedeva tra i cespugli e le ombre delle rocce con un andare cauto di talpa in un terreno smosso. Chiamato, era sparito. […] L’uomo uscí dall’oscurità e avanzò come un blocco di roccia che si fosse staccato dalla montagna, assumendo forma, forza umana. […] Gli fu passato il boccale pieno. Egli si pulí le labbra col dorso d’una mano, poi sollevò il boccale. A lungo si sentí il vino gorgogliare per la sua gola assetata. […] ›Misi da parte questo vino l’anno che tu partisti‹ gli disse Massimiliano. ›Non l’ho mai toccato prima d’oggi.‹ ›Abbiamo cercato di contare gli anni‹ disse Baldassare, ›ma non ci siamo riusciti‹ (ebd.: 102ff.).
224 An vielen weiteren Stellen werden Lazzaro und die Trompete mit Motiven verknüpft, die auf etwas Verborgenes, Geheimes oder Verlorenes verweisen (»irreperibile«, »nascondiglio della tromba«, »perduta«, »nascosta«, »segreto«, »notte«, »introvabile«, »dissotterrare«, Silone 2011: 60ff., 98ff., 277ff.).
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An dieser Stelle erscheint Lazzaro als Latenzfigur, da er vorerst ohne Namen bleibt und als ein Unbekannter (»sconosciuto«) auftritt, der wie ein Maulwurf (»talpa«) zwischen Schatten (»ombre«) umherschleicht und wieder verschwindet (»sparito«). Lazzaros nächtliche Rückkehr, das plötzliche Heraustreten aus der Dunkelheit (»oscurità«) und seine Präsenzwerdung (»assumendo forma«) bedeuten eine Sichtbarwerdung und markieren das Ende der totalitären Herrschaft durch die Faschisten und der damit einhergehenden Latenzzeit.225 Zugleich ruft Lazzaros Rückkehr die Auferweckung des Lazarus aus der Bibel auf; auch die im Johannesevangelium vorhandenen Motive des Steins und der Höhle kommen vor (»rocce«, »blocco«, »roccia«, »grotta«, ebd.: 98ff.). Vor diesem Hintergrund kann Lazzaros Wiederkehr als eine Rückkehr zu Leben und Hoffnung interpretiert werden. In diesem Zusammenhang ist das Motiv des Weins von Relevanz: Wein ist ein Symbol für das Leben und bedeutet im religiösen Kontext die leibliche Gegenwart Christi.226 Als Lazzaro den Wein trinkt, wird er von seinem Durst, der für sein Exil steht, befreit und wiederbelebt (»il vino gorgogliare per la sua gola assetata«). Das Rot, das in der Farbsymbolik des Weins aufscheint, ist zugleich die Farbe des Kommunismus. Bereits hier wird angedeutet, dass der Machtwechsel von Faschisten zu Kommunisten keine Besserung bringen wird, sondern nur eine andere Form der Herrschaft und Repression darstellt. Insofern bedeutet der symbolische Akt des Weintrinkens einerseits die Wiederbelebung Lazzaros und andererseits das Erstarken der Kommunistischen Partei: »Il vecchio stregone se n’è andato. […] Ne verrà un altro? […] Morto un papa, se n’è sempre fatto un altro« (Silone 2011: 99). Der ›alte Zauberer‹, mit dem Mussolini gemeint ist, wird durch einen anderen Machthaber ersetzt, der, wie sich zeigen wird, in der tyrannischen und bürokratischen Apparatur der Kommu-
225 Später erschallt die Trompete als Zeichen der Gerechtigkeit und des Widerstands, bevor sie erneut verschwindet, womit suggeriert wird, dass in Zeiten, in denen der PCI an der Macht ist, Tyrannei und Drangsal zurückgekehrt sind (ebd.: 244, 276ff.). 226 Vgl. Hörisch, Jochen (2 2012): »Wein«, in: Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart (Metzler), S. 480–481. Es handelt sich um einen Wein, den Massimiliano seit Lazzaros Verbannung aufbewahrt hat und den er nun zur Feier anbietet. Symptomatisch ist, dass sich niemand daran erinnern kann, wie viele Jahre seither vergangen sind. Die ausgesetzte Zeit bezieht sich auf die verdrängten Kriegsjahre unter faschistischer Herrschaft bis 1943, die folglich erneut unter dem Vorzeichen der Verdrängung stehen.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
nistischen Partei besteht (ebd.: 106ff.).227 In dieser determinierten und zirkulären Existenz ist Lazzaro ein Hoffnungsträger und Widerständler (ebd.: 277), dem seine Trompete als eine Art magisches Instrument eine besondere Kraft verleiht. Lazzaro, der vor jeder Bestechung gefeit ist, repräsentiert ein archaisches Prinzip des Guten, Menschlichen und des Glaubens, das noch nicht von Machtstreben und Geld korrumpiert wurde: »Egli è un fenomeno arcaico. È un uomo d’una arretratezza spaventosa. Egli non crede che al Pater Noster. […] Lazzaro è un uomo di terra e di chiesa. Nient’altro« (ebd.: 117ff.).228 Mehrfach wird von den verschiedenen Repräsentanten der Macht versucht, Lazzaro und die Trompete für sich zu vereinnahmen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Nach den bereits erwähnten polizeilichen Vernehmungen haben es auch die Kommunisten auf die Trompete abgesehen. Oscar, ein hoher Funktionär des PCI, will Lazzaro dazu bewegen, seine Trompete auf dem Kapitolsplatz in Rom zu spielen, um der Kommunistischen Partei zu mehr Ansehen zu verhelfen: »A meno che […] la tromba non passi al servizio del Partito. […] Porteremmo Lazzaro alla tribuna del prossimo congresso del Partito. Gli faremmo suonare la tromba dal balcone del Campidoglio, a Roma« (Silone 2011: 117).229 Partei, Tribüne, Kapitol und Rom als Hauptstadt des antiken und modernen Italiens sind Symbole der Macht, der Lazzaro unterworfen werden soll.230 Hier wird ersichtlich, dass er und seine Trompete dazu dienen, die geheimen Grundlagen von Macht und
227 Verbildlicht wird der Regimewechsel durch die Zerstörung der Mussolini-Statue mit einem Hammer, der neben der Sichel auf rotem Grund eines der Embleme des Kommunismus ist. Massimilianos verzweifelte Frage, ob sich denn nie etwas ändern werde (ebd.: 99), führt den Determinismus und die Ausweglosigkeit der Armen vor Augen, für die alles immer gleich bleibt. 228 Zu Silones Verhältnis zur Religion und Kirche vgl. Giannantonio 2005: 31f. 229 An dieser Stelle erscheint die Trompete als Symbol für das Massenkommunikationsmedium Radio, da sie wie eine Art Lautsprecher oder Verstärker zu Propagandazwecken eingesetzt werden soll. Für diesen Hinweis danke ich Gero Faßbeck. 230 Selbst psychologische Manipulation und Bestechung gehören zum Inventar des PCI: »Lo si può convincere. Gli si può spiegare l’ideologia, il programma del Partito. La nostra irresistibile espansione mondiale. […] Cosa può costare quella maledetta tromba? Gli avete offerto del denaro?« (ebd.: 117f.) Es handelt sich um Beispiele, die zeigen sollen, dass Macht, Herrschaft und Politik durch Usurpation, Diebstahl, Befragungen, Kontrolle, Propaganda, Bestechung, Korruption, Lügen, Manipulation, psychische und physische Folter etabliert und durchgesetzt werden (ebd.: 107ff.).
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Herrschaft, die normalerweise versteckt gehalten werden, offenzulegen und zu hinterfragen.231 Silones Macht- und Herrschaftskritik geht so weit, dass er die Taten der Faschisten und Nazis mit denen der Kommunisten gleichsetzt: »›Dobbiamo lottare per un mondo nuovo‹ diceva Stella. ›Per un mondo dove non siano possibili tragedie come quelle dei campi di concentramento.‹ ›Il guaio è‹ diceva Rocco, ›che quelle tragedie stanno succedendo proprio nel mondo nuovo‹« (Silone 2011: 128).232 Stella ist ein Opfer des nationalsozialistischen, kommunistisch-stalinistischen und religiösen Terrors zugleich. Als Jüdin musste sie mit ihrem Vater aus Wien nach Italien fliehen, wo sie bei Giuditta und Zaccaria Zuflucht findet und aufwächst, bevor sie sich in Rocco verliebt und ihm in den PCI nachfolgt (Silone 2011: 32ff.). Während Rocco sich aus moralischen Gründen zunehmend von der Kommunistischen Partei entfernt, bleibt Stella eine glühende Verfechterin, bis sie selbst zum Opfer wird und beinahe an den Folgen der Beschattung, Befragung und psychischen Misshandlung durch den PCI zerbricht (ebd.: 182ff.). Anhand von Adele, der biederen Schwester des Priesters Don Nicola, Roccos Kindheitsfreund, wird wiederum dargestellt, wie religiöse Macht durch die katholische Kirche auf Andersgläubige wie die Juden ausgeübt wird. Diese müssen laut Adele von ihrer ›falschen Religion‹ zum Ka-
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Bedeutsam ist in diesem Kontext die Trompete als ein Attribut von Klio, welche die Muse der Geschichte und Geschichtsschreibung ist. Vgl. hierzu Brodersen, Kai/ Zimmermann, Bernhard (2015) (Hg.): Kleines Lexikon mythologischer Figuren der Antike. Stuttgart (Metzler), S. 116. Lazzaros Trompete symbolisiert den Wunsch nach einer neuen Geschichtsschreibung, bei der die undurchsichtigen Machenschaften der Politik durch Wahrhaftigkeit und eine unverstellte Darstellung geschichtlicher Ereignisse ersetzt werden sollen. – Die Trompete kommt öfter in der Bibel vor: Nachdem sieben Posaunen erklingen, fällt die Stadt Jericho (Jos 6,1–20). Die auf dieses Ereignis anspielenden »Jericho-Trompeten« kommen im Zweiten Weltkrieg als Sirenen an deutschen Kampfflugzeugen zum Einsatz. Vor diesem Hintergrund kann die Trompete bei Silone als Fanal, als Aufbruch und Kampf gegen die politischen Mächte des Faschismus und Kommunismus interpretiert werden. Auf diesen Zusammenhang hat mich Ursula Hennigfeld aufmerksam gemacht. 232 Das Fortleben der nationalsozialistischen Konzentrationslager als sowjetische Gulags, auf die Rocco anspielt, kann mit Agambens These in Verbindung gebracht werden, die in dem Lager den Nomos der Moderne und »[lo] spazio politico in cui ancora viviamo« (Agamben 1995: 185) sieht. Demnach sind die KZs keine Ausnahmen, sondern zur Norm gewordene Ausnahmezustände, die bis heute existieren, etwa als Extremformen im ehemaligen Jugoslawien (ebd.: 188ff., 197).
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tholizismus konvertieren (ebd.: 163ff.). In seiner Antwort vergleicht Don Nicola nationalsozialistische und kirchliche Gewalt miteinander: Stella è stata scacciata con la violenza dalla sua casa e dal suo paese. […] È stata scacciata da quella città cattolica, da quella capitale d’un paese cattolico. Con la violenza. Ora è qui tra noi, è un’orfana. Ma centinaia di migliaia di suoi correligionari sono tuttora perseguitati depredati uccisi bruciati vivi. Secondo un mio umile ma irremovibile modo di sentire, un cristiano, un uomo fornito di senso di carità e di pudore, in presenza di quella derelitta creaturina, non può che vergognarsi e tacere (ebd.: 164f.). Als Opfer von Gewalt (»violenza«) und Verfolgung (»scacciata«) repräsentiert Stella die von den Katholiken und Nazis verfolgten und in den KZs ermordeten Juden (»uccisi bruciati vivi«). Die Metapher der Waise (»orfana«), die sie nach dem Tod ihres Vaters tatsächlich ist, verdeutlicht, dass den Juden ihre Heimat, Familien, Rechte und ihr Besitz geraubt worden sind (»depredati«, »derelitta«). Obwohl Don Nicola sich auf Stellas Seite schlägt und es ablehnt, sie zu konvertieren, äußert er etwas zutiefst Problematisches, wenn er sagt, dass man auf die Verfolgung und Ermordung der Juden mit Scham (»vergognarsi«, »pudore«) und Schweigen (»tacere«) zu reagieren habe. Dies enthebt die Christen, deren Repräsentant Don Nicola als katholischer Priester ist, aber auch den Menschen überhaupt, von der Verantwortung, auf den Holocaust zu reagieren, zu handeln und Stellung zu beziehen. Damit wird einer Kultur des Schweigens und Verdrängens Vorschub geleistet, die bedenklich ist. Am Ende des Romans taucht Stella in einem Albtraum Lazzaros auf; sie nimmt darin die Gestalt des blutenden Mädchens an, das Lazzaro nicht retten konnte und das in seinen Armen stirbt (ebd.: 121ff.). Das Mädchen, das an der Gewalt anderer zugrunde geht, ist ein Sinnbild der Unschuld: »Quel sangue caldo innocente bagnava le braccia, il petto, inondava tutto il corpo di Lazzaro« (ebd.: 122f.). Dieses Bild wird nun auf Stella als verfolgte Jüdin übertragen, sodass Lazzaros Albtraum – mit Freud interpretiert – ein verdrängtes kollektives Tätertrauma darstellt, das als Reaktion auf ein einschneidendes, aber vermeintlich folgenloses Ereignis nach einer Zeit der Latenz reaktiviert wird.233 Weiter mit Freud gelesen, ist der Albtraum Ausdruck eines kollektiven Unbewussten, das so lange latent war, bis es durch den aktiven Vorgang der Ver-
233 Die Textstellen zu Freud sind: Freud 1939: 139ff., 181f. und Freud 1992: 42ff. Näher zu Freud und seinem Latenzbegriff vgl. das Kapitel I, 1.1 in dieser Arbeit.
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drängung manifest wird. Er macht das kollektive schlechte Gewissen und die kollektive Schuld sichtbar, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Latenz und Unverarbeitetes in der Gesellschaft fortbestehen und an die Oberfläche drängen. Die Körpermetaphorik zeigt die Gesellschaft als einen Körper, der sich mit dem Blut Unschuldiger beschmutzt hat und die Geister der Vergangenheit, die ihn heimsuchen, nicht abschütteln kann. Eine ähnliche Funktion übernehmen die anonymen Kriegsheimkehrer (reduci), die den Roman bevölkern (Silone 2011: 104, 119, 123, 229, 243). Durch ihre stumme Anwesenheit formulieren sie eine Anklage, und durch ihre verstümmelten Körper sowie ihre Nutzlosigkeit für die Allgemeinheit (»reduci disoccupati«, »reduci senza lavoro«, ebd.: 155, 215) wird die Frage aufgeworfen, wie die Reintegration von Kriegsopfern in die Gesellschaft gelingt. Der Roman La ciociara von Alberto Moravia (1907–1990) erscheint 1957.234 Die Handlung spielt während des Zweiten Weltkriegs im von Nazis und Faschisten besetzten Süditalien. Es wird geschildert, wie die Ich-Erzählerin Cesira
234 Von den italienischen Literaturkritikern und im Ausland wird er mit Begeisterung aufgenommen, die katholische Kirche hingegen erlässt aufgrund des pornographischen und moralisch bedenklichen Inhalts eine Anzeige. Zu dieser und weiteren Anschuldigungen, die die Kirche erhebt, vgl. Casini, Simone (2004a): »Note ai testi. La ciociara«, in: Moravia, Alberto: Opere/3. Romanzi e racconti. 1950–1959. Tomo II. Hg. v. Simone Casini. Milano (Bompiani), S. 2150–2167, S. 2160ff.; näher zum Hintergrund des Werks ebd.: 2150ff. und zur Entstehungsgeschichte des Romans, an dem Moravia bereits ab 1945 arbeitet, sowie zu Vorläufern wie der Erzählung La ciociara (1954) aus den Racconti romani, s. Tornitore, Tonino [1997] (2015): »Introduzione«, in: Moravia, Alberto: La ciociara. Hg. v. Tonino Tornitore. Milano (Bompiani), S. XV–XXXIII, S. XVff. Moravia verarbeitet in dem Roman Erfahrungen von 1943 bis 1944: Um einer Gefangennahme zu entgehen, flieht er mit Elsa Morante aus Rom in die Ciociaria (Tornitore 2015: XVIII). Vgl. zu Moravias Leben Romano, Eileen (2015): »Cronologia«, in: Moravia, Alberto: La ciociara. Hg. v. Tonino Tornitore. Milano (Bompiani), S. XLVII–LVII, S. L; Casini, Simone (2004): »Cronologia«, in: Moravia, Alberto: Opere/3. Romanzi e racconti. 1950–1959. Tomo I. Hg. v. Simone Casini. Milano (Bompiani), S. LV–CX, S. LXXIVff.; Locantore, Maura (2016): »Quaderni neri e quaderni rossi: l’affresco della guerra nelle pagine di Moravia e Pasolini«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 167–182, S. 172ff. und D’Isa, Dina (2016): »Il cinema di Moravia tra realismo e psicoanalisi«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 71–79, S. 75. Der Roman wird 1960 als La ciociara von
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mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Rosetta das von Bombenangriffen erschütterte Rom verlässt, um in der Berggegend Ciociaria Zuflucht zu suchen. Dort freunden sie sich mit Michele, einem jungen Intellektuellen und Antifaschisten, an. Als Italien befreit ist und das Schlimmste überstanden scheint, wird Rosetta vergewaltigt. Gebrochen kehren die beiden Frauen nach Rom zurück. Cesira erinnert sich an Michele, der von deutschen Soldaten ermordet wurde, und begreift nun den Sinn der Lazarus-Passage, die Michele ihnen einst aus dem Johannesevangelium vorgelesen hatte. Die Lazarus-Metapher übernimmt eine wichtige Funktion und erscheint an zwei zentralen Stellen im Roman; sie stellt einen inhaltlichen Höhepunkt dar (4. Kapitel) und kehrt am Ende wieder (11. Kapitel). Da Cesira erst nach den dramatischen Ereignissen und der Gewalt, die ihr, Rosetta und Michele widerfahren ist, den Sinn der Lazarus-Parabel versteht, beschreibt diese zugleich einen Erkenntnisgewinn und eine Bewusstwerdung. Meine These lautet, dass der Roman eine Allegorie für die kollektive Verdrängung und das Verschweigen von Kriegsgewalt ist. Anhand der Lazarus-Metapher wird aufgezeigt, dass es erst möglich ist, zu einem neuen menschenwürdigen Leben zurückzukehren, wenn der Schmerz, die Gewalt und ihre Opfer thematisiert und nicht weiter verdrängt werden.235 De Sica verfilmt, die Hauptrollen übernehmen Sophia Loren als Cesira und Jean-Paul Belmondo als Michele. Die Lazarus-Passage ist darin enthalten. Vgl. De Sica, Vittorio (1960): La ciociara (Film). Näher zum Verhältnis von Moravias Roman und De Sicas Film s. La Rosa, Giovanni (2016): »Dalla ›Ciociara‹ a ›Two Women‹: ai confini della lirica«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e La ciociara. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 147–154. 235 Moravia selbst verweist auf die Aspekte der Kollektivität (»collettivo«) und des Bewusstseins (»consapevolezza«), wenn er im Klappentext über La ciociara schreibt: »è anche soprattutto la descrizione di due atti di violenza, l’uno collettivo e l’altro individuale, la guerra e lo stupro. Dopo la guerra e dopo lo stupro né un paese né una donna sono più quello che erano prima. Un cambiamento profondo è avvenuto, un passaggio si è verificato da uno strato di innocenza e integrità a un altro di nuova e amara consapevolezza.« Moravia, Alberto [1957] (2015): La ciociara. Hg. v. Tonino Tornitore. Milano (Bompiani). Krieg und Vergewaltigung sind Gewaltakte, die individuelle und kollektive Traumata verursachen und eine ganze Gesellschaft nachhaltig verändern (»cambiamento«). Mit den Motiven der Unschuld (»innocenza«) und Integrität (»integrità«) spielt Moravia auf Rosetta an, die bis zu ihrer Vergewaltigung Unschuld, Perfektion und das Gute symbolisiert. Zum Hintergrund des Klappentext und der problematischen Körpermetaphorik, die Frauen- und Volkskörper verbindet und Italien als Kriegsopfer stilisiert, s. Frömmer, Judith (2019): »Buchstäblich auferstehen?
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Mit Cesira als Hauptperspektivträgerin werden die Geschehnisse aus der beschränkten, oft naiven Sicht einer einfachen Frau wiedergegeben, die als Tochter von Bauern in den Bergen aufwächst, bevor sie sich in Rom zu einer gewieften Gemischtwarenhändlerin hocharbeitet. Die Ich-Erzählerin ist nach eigenen Angaben ungebildet, unwissend, kann kaum lesen, und ihr fehlt jedes Verständnis für das Kriegsgeschehen und die Politik (»non pretendo di comprendere«, Moravia 2015: 103). Die Ambivalenzen, Widersprüche, Fehlentscheidungen, Inkohärenzen, falschen Prognosen sowie die Vermischung von Traum und Realität, die Cesiras Erinnerungen enthalten (ebd.: 18, 20, 96, 104, 180, 299), sind – so eine weitere These – Ausdruck dafür, dass das Erzählen über den Zweiten Weltkrieg und die erlittene Gewalt nicht widerspruchsfrei möglich ist. Es kann weder mit den Maßstäben von ›wahr‹ und ›unwahr‹ erfasst, noch mit dem Begriff eines ›realistischen Erzählens‹ bestimmt werden, und ist zwangsläufig perspektivisch, subjektiv und fragmentarisch. Daher ist der Roman entgegen vieler Forschermeinungen nicht der ›realistischen Literatur‹ zuzurechnen,236 sondern zeigt im Gegenteil die Grenzen einer solchen Erzählweise und überhaupt von Genres wie Memoiren oder Kriegsbericht auf. Der männliche Protagonist Michele ist ein Mann der Literatur, der Ideen, des theoretischen Wissens und die einzige intellektuelle Figur im Roman, sodass er eine Gegenfigur zu Cesira darstellt (»Eravamo due donne ignoranti e lui era un uomo che aveva letto molti libri e sapeva molte cose«, Moravia 2015: 104).237 Im vierten Kapitel liest Michele die Lazarus-Geschichte aus der Bibel vor: Moravias sacrificum litterae in ›La ciociara‹«, in: Dünne, Jörg/Hahn, Kurt/Schneider, Lars (Hg.): Lectiones difficiliores – Vom Ethos der Lektüre. Tübingen (Narr), S. 343–352, S. 345. 236 Diesbezügliche Einschätzungen kommen von D’Isa 2016: 71, 75; Biasin, Gian Paolo (1975): »Lucia secondo Moravia«, in: Il verri, 11, S. 56–68, S. 56 und Valesini, Carla (2016): »›La ciociara‹: storia di una realtà ›aumentata‹. Intervista a L. Rino Caputo«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 269–276, S. 269f. Zum realistischen Erzählen und dem Problem der Begriffsbestimmung s. Faßbeck, Gero (2021): Wirklichkeit im Wandel. Schreibweisen des Realismus bei Balzac und Houellebecq. Bielefeld (transcript), S. 21ff. 237 Michele vereint in sich die Rollen des Vaters, Ehemanns, Bruders, Sohnes und des Heiligen (ebd.: 298). Er verkörpert daher die notwendige Stütze, die Frauen während des Kriegs in einem Mann finden und deren Abwesenheit Cesira für sich und Rosetta zu Beginn beklagt (ebd.: 27, 57). Eine Untersuchung aus Sicht der Gender Studies dieser und weiterer paternalistischer und machistischer Strukturen, nach denen die Frau erst mit Mann vollständig und beschützt ist, wäre lohnenswert.
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Ricordo benissimo quella scena perché mi è rimasta impressa nella memoria, non so perché, forse perché Michele in quell’occasione rivelò un aspetto del suo carattere che non conoscevo. Rivedo noi due e la famiglia di Paride, seduti torno torno il fuoco semispento, sui ceppi e sulle panche, quasi al buio […]. Poiché sono sicura che l’episodio di Lazzaro è conosciuto da tutti coloro che leggeranno questi miei ricordi, io non lo trascriverò qui, anche perché Michele lo lesse senza aggiungerci niente; quanto a quelli che non lo conoscono, possono andare a leggerselo nel Vangelo. Mi limiterò ad osservare, invece, che via via che Michele andava avanti nella lettura […] sembrava invece commuoversi per quel miracolo al quale non credeva. Anzi, quando fu giunto alla frase: ›E Gesù disse: io sono la resurrezione e la vita‹, si interruppe un momento e tutti potemmo vedere che si era interrotto perché non poteva più andare avanti per via che piangeva. Io capii che lui piangeva a causa di quello che leggeva e che, come ci fu chiaro in seguito, egli riferiva in qualche modo alla nostra condizione […]. Quella donna voleva scusarsi per il fumo con Michele, per cortesia, ma lui, ad un tratto, si asciugò le lacrime e saltò su a gridare in maniera imprevista: ›Macché fumo e macché capanna… io non vi leggerò più perché voi non capite… ed è inutile cercare di far capire a chi non potrà mai capire. Intanto però ricordatevi questo: ciascuno di voi è Lazzaro… e io leggendo la storia di Lazzaro ho parlato di voi, di tutti voi… di te Paride, di te Luisa, di te Cesira, di te Rosetta e anche di me stesso e di mio padre […] e dei tedeschi e dei fascisti che stanno giù a valle e insomma tutti quanti… siete tutti morti, siamo tutti morti e crediamo di essere vivi… finché crederemo di essere vivi perché ci abbiamo le nostre stoffe, le nostre paure, i nostri affarucci, le nostre famiglie, i nostri figli, saremo morti… soltanto il giorno in cui ci accorgeremo di essere morti, stramorti, putrefatti, decomposti e che puzziamo di cadavere lontano un miglio, soltanto allora cominceremo ad essere appena vivi…‹ (ebd.: 124). Das Zitat belegt zweierlei: Erstens macht es deutlich, wie ambivalent Cesiras Erzählen ist, zweitens wird der Konnex erkennbar, der zwischen der LazarusMetapher, dem Zweiten Weltkrieg, Tod, Literatur sowie Erinnerung besteht. Dem Abschnitt geht ein Gespräch voraus, das zeigt, dass außer Michele keiner der Anwesenden die Lazarus-Geschichte kennt (obwohl zuvor Gegenteiliges behauptet wird). Nun aber setzt Cesira genau das Wissen, das ihr selbst fehlt, bei ihrem Leser voraus (»l’episodio di Lazzaro è conosciuto da tutti«); sei
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dies nicht der Fall, solle er die Stelle einfach selbst nachlesen (»andare a leggerselo nel Vangelo«).238 Da die Lazarus-Geschichte ausgespart wird, entsteht eine Leerstelle, die nahelegt, dass etwas verhandelt wird, das nicht restlos kommunizierbar ist. Neben dem wiederholten Motiv des Nicht-Verstehens (»non capite«, »mai capire«), sprechen dafür die Auslassungszeichen, die in Micheles wörtlicher Rede vorkommen. Offensichtlich gelingt es ihm nicht, sich seinem Publikum zu erklären, was auf ein Kommunikationsproblem schließen lässt. Die Zäsurtopoi (»interruppe«, »interrotto«) betonen den Bruch und die Distanz. Mit der Dunkelheit (»buio«, »oscurità«), dem halberloschenen Feuer (»fuoco semispento«), der Versunkenheit (»sommersa«) und dem Rauch (»fumo«) kommen weitere Motive vor, die auf etwas Verborgenes, schwer Vermittelbares und Unverständliches hindeuten. Zugleich handelt es sich hier um Metaphern für die verzerrte Wahrnehmung, mittels derer Cesira und die Bergbewohner die politischen Hintergründe und das Kriegsgeschehen bewerten.239 Der Prätext der Bibel und die Lazarus-Episode werden indirekt durch die Motive des Evangeliums (»Vangelo«), des Wunders (»miracolo«), des Stinkens (»puzziamo«), des Todes (»morti«), der Verwesung (»decomposti«) und der Leiche (»cadavere«) aufgerufen. Michele überträgt die Lazarus-Geschichte auf
238 Cesiras widersprüchliche Erzählweise schwankt zwischen angeblichem Verstehen (»sono sicura«, »capii«, »chiaro«) und Nicht-Wissen (»non so perché«, »non conoscevo«) und gleicht aufgrund von Erinnerungslücken und falschen Aussagen (ebd.: 103, 254ff.) der eines unreliable narrator. Turchetta kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, sieht aber v.a. in Cesiras Sprache, Mündlichkeit und Vulgarität einen Beweis für ihr unzuverlässiges Erzählen. Vgl. Turchetta, Gianni (2016): »I paradossi di Cesira: La saggezza di un narratore inattendibile«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 225–241, S. 226ff. Cesiras Erzählstimme ist also denkbar ungeeignet, um das Kriegsgeschehen ›realistisch‹ und objektiv darzustellen. 239 Die Motive kommen in dieser Zusammenstellung öfter vor: »Quanto ne parlai degli alleati […] la sera nella capanna di Paride, quasi al buio, col fumo che ci faceva lacrimare, davanti il fuoco semispento oppure ancora di notte« (Moravia 2015: 97). Hier, wie auch im Zitat im Fließtext, sind die Motive der Nacht, Dunkelheit, erschwerten Sichtbarkeit, tränenden Augen und des Rauches Metaphern für die unreflektierte, von der faschistischen Propaganda beeinflussten Wahrnehmung, mit der Cesira und die Bergbewohner Politik und Krieg betrachten: »non mi sono mai occupata di politica, pensavo, in fondo, che, se i giornali approvavano sempre il governo, dovevano averci le loro buone ragioni e non stava a noialtri, poveretti e ignoranti, giudicare di cose che non capivamo« (ebd.: 101).
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den Kriegskontext, sodass sie die Funktion einer Parabel annimmt.240 Mittels der Klimax (»morti, stramorti, putrefatti, decomposti«) und der superlativischen Hyperbel stramorti (wörtlich übersetzt ›übertot‹, ›mehr als tot‹) wird auf das Übermaß und die Allgegenwärtigkeit des Todes und der Verwesung aufmerksam gemacht, die sogar den Zustand des biblischen Lazarus übertreffen. Dieses Bild symbolisiert den moralischen Niedergang und die innere Leere der Menschen während des Kriegs. Auffallend sind die vielen Motive, die mit Literatur und Lektüre in Bezug stehen (»trascriverò«, »lesse«, »lettura«, »leggeva«, »leggendo«, ebd.: 121ff.) und die hier und im Roman überhaupt als Sprechen über Literatur, Lesen, Bücher, Wissen und Wahrheit leitmotivisch zum Einsatz kommen. Es werden literarische Gattungen angeführt (»storia«, »romanzo«, »storia d’amore«, ebd.) und insgesamt kommen metapoetische und selbstreferentielle Kommentare (ebd.: 85, 123, 125, 254) sowie Prolepsen vor (ebd.: 20, 23, 25, 51, 68, 85f., 100, 116, 179, 199, 202f., 254, 258), die zeigen, dass auf einer Metaebene die Funktionsweise von Literatur thematisiert wird. Neben der Isotopie des Lesens bzw. der Literatur ist das Wortfeld der Erinnerung zentral (»ricordo«, »rivedo«, »ricordi«, »memoria«, »ricordatevi« sowie die Vorsilben »ri-«/»re-«). La ciociara erweist sich hier als ein Metaroman241 über das Gelingen und Scheitern von Literatur, Lektüre und Erinnerung angesichts von Kriegsgewalt. Mit der Lazarus-Parabel wird die Frage aufgeworfen, inwiefern uns literarische und kollektive Mythen und Erzählungen in Not- und Krisenzeiten als 240 Dabei spielt er auf die Besetzung Italiens, die Schlacht von Anzio (ebd.: 98) und die unmittelbare Nähe der Front bei Garigliano an, an der die Engländer gegen die Nazis und Faschisten kämpfen (»tedeschi e fascisti che stanno giù a valle«). Indem er sie alle, Deutsche, Italiener, Nazis ebenso wie Faschisten, mit dem toten Lazarus vergleicht, hebt er nationale Unterschiede auf und wirkt dem traditionellen Freund-Feind-Schema entgegen. Dies widerspricht seiner Überzeugung, da er die Faschisten und v.a. die Nazis als Feinde und Unmenschen sieht: »Loro [i nazisti] si sono messi fuori dell’umanità, come le bestie selvagge« (ebd.: 173). 241 In seiner Interpretation der Lazarus-Passage sowie des Werks überhaupt stellt Klinkert die These auf, dass Moravias Roman, indem er divergierende Konstruktionen und Wahrnehmungen von Realität präsentiert, zu einem Mittel der Erkenntnis werde (strumento conoscitivo). Außerdem verhandele der Roman das Verhältnis von Realität und Fiktion, was gerade in der Lazarus-Passage zum Ausdruck komme. Vgl. dazu Klinkert, Thomas (2015): »Costruzioni di realtà nella ›Ciociara‹ di Moravia«, in: Angelo Fàvaro (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. III. Atti del convegno internazionale, Fondi, 10 maggio 2013. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 113–123, S. 114, 120ff.
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Beispiel dienen können, um Hoffnung zu schöpfen und einen Weg aus der Krise herauszufinden. Micheles Versuch, seine Zuhörer durch das Beispiel von der Auferweckung des Lazarus aufzurütteln und dazu aufzufordern, die Hoffnung nicht aufzugeben, sich zu ändern und ein besseres Leben zu leben, versagt jedoch angesichts der Ignoranz und des Desinteresses seines Publikums (Moravia 2015: 122ff.). Die Übertragung der biblischen Lazarus-Parabel auf die aktuelle Situation schlägt fehl, da die anderen den Sinn der Lektüre nicht begreifen oder nicht einmal zuhören: »Restammo tutti quanti al buio, stupefatti« (ebd.: 124). Die erlöschende Öllampe (ebd.), mit der die Episode endet, ist mit Bezug auf Platons Sonnengleichnis, in dem das Licht u.a. für Erkenntnis steht,242 als mangelndes Wissen zu verstehen. Dieses Bild steht paradigmatisch für die politische Unwissenheit der Bergbewohner und die Abgeschnittenheit der Bergwelt von dem Kriegsgeschehen, wohin die Informationen über den Krieg nur sporadisch, verspätet und durch Mundpropaganda verzerrt gelangen (Moravia 2015: 98ff., 159, 171). Obwohl es sich um einen Roman über den Zweiten Weltkrieg handelt, werden kaum Angaben über die Ermordung der Juden gemacht; das Thema der Shoah bleibt bis auf wenige lapidare Verweise auf die Konzentrationslager (ebd.: 158f., 164f.) ausgespart.243 Vor dem Hintergrund, dass wiederholt antisemitische (»un ebreo del ghetto, con […] il naso ricurvo«, »l’ebreo errante«, ebd: 60, 146) und rassistische Stereotype (ebd.: 211, 239, 238f.) vorkommen, ist dies höchst problematisch.244 Die Bedeutung von Micheles Worten zu Lazarus erklärt sich näher im Vergleich mit einer Stelle, an der er Kritik an Obrigkeit, Autoritäten, Institutionen, Kapitalismus und der herrschenden Klasse übt. Micheles Machtkritik wendet sich vor allem gegen die Nationalsozialisten und Faschisten, aber auch insgesamt gegen die Vertreter der Elite sowie gegen alle Menschen, die 242 Vgl. Platon (2011): Politeia. Der Staat, in: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Band 4. Übersetzt v. Friedrich Schleiermacher. Hg. v. Gunther Eigler. Darmstadt (wbg), S. 535ff. 243 Bedenklich ist Cesiras Aussage, nach der Frauen ohne Haare ihre Schönheit verlieren und hässlich werden (ebd.: 175), was als Anspielung auf die kahlgeschorenen Köpfe der Frauen und Männer in den Konzentrationslagern verstanden werden kann. 244 Außerdem bricht der Roman einerseits zwar mit den üblichen Freund-Feind-Schemata, indem er den Menschen in einem universellen Leid zeigt und die Deutschen als Menschen wie andere darstellt (ebd.: 198), andererseits werden durch die Vergleiche der Nazis mit Tieren und Bestien (ebd.: 170, 179, 223) problematische Feindbilder aufrechterhalten.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
dem Geld und Materialismus verfallen sind (ebd.: 151, 163).245 Er setzt seine Hoffnungen – wobei mit der Hoffnung (speranza) ein weiteres (eschatologisches) Leitmotiv genannt ist (ebd.: 30, 143, 157, 192, 230, 234, 254, 273, 301) – auf die einfachen Menschen, auf das Volk und die Bauern: »con voialtri contadini invece si può ricominciare daccapo […], farne degli uomini nuovi« (ebd.: 105). Die Lazarus-Metapher bedeutet also ebenso die Hoffnung darauf, neue Menschen und eine bessere Welt mit positiven Werten zu schaffen: »un mondo nuovo, con più giustizia, più libertà e più felicità che in quello vecchio« (ebd.: 168).246 Tränen und Blut sind Leitmotive des Romans. Als Blutstränen (»lacrime di sangue«, Moravia 2015: 121) sind sie eine Metapher für die Kriegsgewalt und rufen die Passion Christi auf (nur dass bei Moravia die Erlösung entfällt) und damit den gesamten christlich-religiösen Komplex, der eine wichtige Rolle im
245 Das Thema des Geldes und Profits ist im Roman zentral; viele der Figuren profitieren vom Krieg (ebd.: 97). Mit Marx gelesen wird der Mensch zur Ware (Tornitore 2015: XXXII). Die Frau ist Ware und Tauschobjekt etwa dann, wenn Concetta Rosetta an die Faschisten ›verkaufen‹ will, um ihre Söhne zu retten (Moravia 2015: 54). Auch Cesira vertritt als bottegaia das Prinzip des Geldes und Kapitalismus (»il denaro come la cosa più preziosa«, ebd.: 13). Ihre geldorientierte Denkweise, mit der sie im Krieg zunächst einen Vorteil für sich sieht (ebd.: 11), macht sie zu einer ambivalenten Figur. Michele hingegen ist bereit, für seine Ideen und Ideale zu sterben (ebd.: 141). Doch erweisen sich seine idealistischen Vorstellungen und sein Opfer für die Unschuldigen als nutzlos: Weder kann er Rosettas Vergewaltigung vermeiden (die nur herausgezögert wird, ebd.: 223), noch kann er die Bauern vor den Deutschen retten (ebd.: 283); am Schluss wird er mit ihnen erschossen. Die überhebliche intellektuelle Perspektive, die auf Theorien und Idealen basiert, aber am realen Leben vorbeigeht (ebd.: 104, 220), scheitert. Micheles Brille (»occhiali forti da miope«, ebd.: 67) kennzeichnet ihn als Intellektuellen und ist, gemeinsam mit den Tränen, die er oft vergießt, eine Metapher für eine verstellte Sicht. 246 Wie schon bei Rebora, Borgese, Gallian und Pirandello wird anhand von Lazarus der Wunsch formuliert, nach dem Krieg möge sich eine politische, soziale und moralische Wiedergeburt ereignen. Fàvaro bringt den Aspekt der ›neuen Welt‹ mit der Deklaration der Menschenrechte vom 10.12.1948 in Relation. Vgl. Fàvaro, Angelo (2016a): »Introduzione – ›La ciociara‹, il romanzo per ›un mondo nuovo‹«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. IV. Atti del convegno internazionale, Fondi, 9 maggio 2014. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 13–37, S. 15. Das neue Leben, das nach dem Krieg beginnt, ist auch Thema in anderen Texten von Moravia. Vgl. z.B. Moravia, Alberto (2015): »Vita nella stalla«, in: La ciociara. Hg. v. Tonino Tornitore. Milano (Bompiani), S. V–IX, S. IX.
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Text spielt.247 Aufschlussreich sind die christlichen Motive des Martyriums, des Opfers und das agnus dei, die auffallend oft in Verbindung mit Rosetta auftauchen (Moravia 2015: 126, 135, 202, 254, 267, 270f.).248 Sie selbst ist eng mit dem Komplex der Religion verbunden, da sie ihr Leben ihrer Schutzherrin Madonna anvertraut, als gläubig, naiv und unschuldig beschrieben (Moravia 2015: 84ff., 108, 136) und als Heilige (»figlia santa«, ebd.: 21) charakterisiert wird. Ihre Vergewaltigung wird durch zahlreiche Prolepsen vorweggenommen, so etwa in der Schlachtung einer Ziege.249 Die Vergewaltigungsszene weist an-
247 Neben der Auferweckung des Lazarus (ebd.: 122ff.) kommen die Sintflut (»Diluvio Universale«, ebd.: 134), die wie in der Bibel 40 Tage andauert, die Geburt Jesu (ebd.: 169), der Hahnenschrei (ebd.: 28) und damit eine Anspielung auf die Verleugnung Jesu durch Petrus, der Garten Gethsemane und der Verrat durch Judas (ebd.: 27) sowie die Apokalypse (ebd.: 211) vor: Auf einer Metaebene wird gewissermaßen eine Kurzversion des Lebens und Leids Christi gegeben. Die entsprechenden Bibelstellen sind: 1. Mos 7,1–25 (Sintflut), Lk 2,1–20 (Jesu Geburt), Joh 11,1–45 (Auferweckung des Lazarus), Mk 14,27–31; Mt 26,31–35; Lk 22,31–34; Joh 13,36–38 (Verleugnung des Petrus), Mk 3,19; Mt 10,4; Lk 6,16; Lk 22; Joh 6,71 (Verrat des Judas), Offb (Apokalypse). Unter besonderer Berücksichtigung der Motive von Schuld und Verleugnung (Hahnenschrei, Judas), Strafe und Katharsis (Sintflut), Geburt und Auferstehung (Geburt Jesu, Lazarus) und schließlich Gerechtigkeit und Hoffnung (Offenbarung/Apokalypse) werden zentrale Bibelpassagen und Momente aus der Passion Christi mit der individuellen Kriegserfahrung Cesiras korreliert. Diese Verschmelzung suggeriert, dass ihre Erfahrung von Krieg und Gewalt mit dem Leid Christi vergleichbar ist. Auf diese Weise wird ein profanes Ereignis mit einer religiösen und eschatologischen Symbolik unterlegt. 248 Zur Semantik von Lamm, Ziege, Schaf und Zicklein, mit denen Rosetta oft verglichen wird, s. Biasin 1975: 57, 63. Er bringt Rosetta mit dem sakralen Oper und dem Sündenbock (bouc émissaire) nach Girard in Verbindung (ebd.: 60). Näher zu Girard s. das Kapitel III, 1.1 in dieser Arbeit. Auch Fàvaro weist auf den Komplex von Opfer, Opferlamm, Märtyrer und Ritus hin und interpretiert die Lazarus-Stelle als Ausdruck von Verzeihen und Mitleid. Fàvaro, Angelo (2015): »Introduzione. ›La ciociara‹ di Alberto Moravia, o del perdono e della comprensione«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. III. Atti del convegno internazionale, Fondi, 10 maggio 2013. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 13–28, S. 14ff. 249 In Bezug auf Rosetta sind Cesiras Prognosen ebenfalls falsch: »Figlia d’oro, staʼ tranquilla, che la Madonna ti vede e ti sente e non permetterà che ti succeda niente di male« (ebd.: 20). Denn Rosetta wird ausgerechnet in einer Kirche vor einer Madonnenstatue mehrfach von marokkanischen Soldaten vergewaltigt (ebd.: 266), die auf Seite der Alliierten kämpfen. Dies zeigt, dass der Krieg alles bisher Gekannte aufhebt, sodass einstige Stützen wie der Glaube keinen Halt mehr bieten. Zugleich wird deutlich, wie brüchig die Dichotomie von Freund und Feind ist, da Rosetta gerade von den Soldaten vergewaltigt wird, die als Befreier Italiens angesehen werden. Laut Frömmer
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
hand der jeweils verwendeten Symbolik und Motivik deutliche Analogien zur Schlachtungsszene auf (Moravia 2015: 266f.), auch wird Rosetta erneut mit einem Lämmchen (»capretto«, ebd.: 267) verglichen. So wird sie zur Figuration des Opferlamms, das für die Sünden der Menschen büßt. Dies wird durch die Farbsymbolik unterstrichen, die sich in der Vergewaltigungsszene auf Rot, Weiß und Schwarz konzentriert: Die marokkanischen Soldaten werden vor allem durch Schwarz und dunkle Farben beschrieben, die Gefahr, Bedrohung und das Böse (»male«, ebd.: 266) symbolisieren.250 Rosetta hingegen erscheint in Weiß und hellen Farben (»ventre bianco come il marmo«, »pelo biondo«, »d’oro«, ebd.). Das Blut (»sangue«) auf ihrem Körper, der durch Symbole der Reinheit und Kostbarkeit (»nuda«, »marmo«) charakterisiert ist, symbolisiert die Gewalt, die sie erfahren hat. Zugleich ähnelt die Szene einer früheren voyeuristischen Zurschaustellung von Rosettas nacktem Körper durch Cesira,251 was auf die Mitschuld der Mutter an der Vergewaltigung anspielt.252 Während Rosettas Vergewaltigung ist Cesira bewusstlos (ebd.: 266), wodurch abermals eine Leerstelle entsteht, die Ausdruck von Latenz und der Verdrängung ist, die sich später ereignen wird und die bereits in der Unbeweglichkeit und im Schweigen Rosettas antizipiert wird (»lei mi guardava con occhi spalancati, senza dir parola né
spielt Moravia hier auf die sogenannten ›Marocchinate‹ an: die Massenvergewaltigungen von Frauen durch Goumiers, also z.B. marokkanische Kolonialtruppen, die Teil der französischen Armee waren und unter General Alphonse Juin für die Alliierten kämpften (Frömmer 2019: 344). 250 Die Soldaten sind als das ›Fremde‹ Ausdruck einer Destabilisierung von Ordnung im Sinne von Waldenfels (Waldenfels: 1990: 31f.). Bei Moravia werden sie wie folgt beschrieben: »tanto era scuro«, »occhi neri«, »mantellina scura«, »viso scuro«, »denti neri«, »penombra« (Moravia 2015: 265f.). 251 Cesira hindert Michele nicht daran, in ihre Hütte einzutreten, wo sich die nackte Rosetta gerade wäscht. Ihr Blick gleicht dem eines männlichen Voyeurs und enthält zugleich inzestuöse Elemente. Mit der Absicht, Rosetta zu einem begehrenswerten Sexualobjekt für Michele zu machen, stellt sie ihre eigene Tochter zur Schau und sexualisiert ihren nackten Körper in einer Symbolik, die zwischen weiblichem Lustobjekt und jungfräulicher Unschuld schwankt (ebd.: 126). 252 In der Metapher des Schlachters wird dieser Aspekt von Cesira selbst angesprochen: »lei disse: ›Sì mamma‹ proprio come un agnello che viene condotto al macello e non lo sa e lecca la mano che lo trascina verso il coltello. Purtroppo questa mano era la mia e io non sapevo che proprio io di mia iniziativa, la portavo al macello« (ebd.: 254). Erneut taucht das Motiv des Nicht-Wissens (»non sapevo«) auf, mit dem Cesira ihre Schuld zu tilgen versucht.
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muoversi«, »stava ferma e non parlava«, ebd.: 267). Bald nach der Vergewaltigung rät Cesira ihrer Tochter, nie mehr über das Geschehene nachzudenken, und leistet auf diese Weise der Verdrängung Vorschub: »tu non devi pensarci a quello che è successo nella chiesa; non devi pensarci mai più« (ebd.: 274). Rosettas Antwort, »[s]e non vuoi che io ci pensi, comincia tu a non parlarmene« (ebd.), begründet einen Pakt des Schweigens zwischen den Frauen. Rosetta ist nach ihrer Vergewaltigung traumatisiert und verändert; sie ist gleichgültig, gefühlslos, apathisch (»era sempre dello stesso umore apatico, indifferente, distante«, ebd.: 274) und gibt sich wahllos fremden Männern hin, da sie nunmehr im Sex das einzige Vergnügen findet (ebd.: 302).253 Cesira reagiert auf Rosettas verändertes Verhalten mit Ohnmacht und Sprachlosigkeit, sodass sie in ihrer Funktion als Mutter versagt. Anstatt zu erkennen, dass Rosetta versucht, sich nach der Vergewaltigung eine neue Identität zuzulegen, um sich zu schützen, sieht sie in ihrer Tochter eine Nymphomanin mit einem sexualisierten Körper (ebd.: 288). Indem Cesira Rosetta als ›Nutte‹ (»puttana«, »mignotta«, ebd.: 290, 292) brandmarkt und ihr mehrfach verbale und physische Gewalt zufügt (»le zompai addosso, l’acchiappai per il collo, la sbattei sul materasso e presi a darle tanti schiaffi«, ebd.: 292), perpetuiert sie das Verhalten der Vergewaltiger und wird selbst zur Täterin, während sie Rosetta erneut zum Oper macht.254 Die gestörte Kommunikation der beiden Frauen, die zuvor unzertrennlich waren und keine Geheimnisse voreinander hatten, ist die Folge von Verschweigen und Verdrängung der Gewalt sowie des daraus hervorgegangen Traumas. Nach der Vergewaltigung treten auffällig viele Negationen auf und
253 Psychologisch lässt sich Rosettas Verhalten als Hypersexualität bezeichnen (»faccio l’amore dove posso e con chi posso«, ebd.), die in einem Kontrast zu ihrer früheren Jungfräulichkeit und dem Desinteresse an Männern steht. Die Hypersexualität ist auf eine Variation des Stockholm-Syndroms zurückzuführen (Tornitore 2015: XXX), mit dem Rosetta das erlittene Trauma zu bewältigen versucht, die erfahrene Gewalt und Erniedrigung aber wiederholt (»lo lasciava fare con aria di compiaciuta sottomissione«, »a lei, a quanto pareva, piaceva di essere trattata come un cane«, »desiderare di essere di nuovo trattata a quel modo che l’avevano trattata i marocchini«, Moravia 2015: 290, 297). 254 Dieses Verhalten zielt auf eine Täter-Opfer-Umkehr ab, in der Psychologie auch victim blaming genannt (zu letzterem s. Volbert 2014: 1642; Marsovszky 2013: 50f.), und aktiviert einen psychologischen Mechanismus, der bei Überlebenden des Zweiten Weltkriegs und bei ehemaligen KZ-Häftlingen häufig aufkommt. Vgl. hierzu das Kapitel I, 2.3 in dieser Arbeit.
III. Literaturwissenschaftliche Textanalysen
es häufen sich Motive, die auf eine beeinträchtigte Kommunikation zwischen Cesira und Rosetta sowie auf die Unfähigkeit, zu Sprechen, verweisen (»silenzio«, »dir nulla«, »non diceva niente«, »non ero più capace di parlare«, »finii per addormentarmi«, »non potevo fare niente né dire niente«, »tenni gli occhi chiusi«, Moravia 2015: 288ff.). Das Schweigen, die Verdrängung, gestörte Kommunikation und Täter-Opfer-Umkehr bringen auf allegorische Weise den kollektiven Umgang mit den Traumata des Zweiten Weltkriegs, das kollektive Schweigen und Verschweigen der Shoah und der Kriegsgräuel zum Ausdruck. In einem Traum erscheint Cesira Michele, der sie mit Worten, die sie nicht hören und verstehen kann, von ihrem Suizidversuch abbringt: »Lui aprì la bocca e disse qualche cosa che non udivo niente; ed era proprio come quando si cerca di udire qualche cosa che ci sta dicendo una persona da dietro il vetro di una finestra e si vede che muove la bocca« (ebd.: 299). Der im Traum von den Toten zurückgekehrte Michele wird hier zu einer Lazarus-Figuration255 und steht für eine unmögliche Kommunikation sowie für die Kluft, die unsichtbare Grenze, die zwischen den Opfern des Kriegs und denen existiert, die ihn überlebt haben. Wie schon bei Silone können Freuds Beobachtungen zu den Themen Latenz, Verdrängung und Traum erneut zur Textinterpretation herangezogen werden. Denn mit Freud gelesen, bedeutet der Cesira im Traum erschienene Michele die Wiederkehr eines unbewältigten Verdrängten. Der Traum und der darin geschilderte Suizidversuch bringen eine latente Schuld zum Ausdruck, die sich im Unbewussten manifestiert. Am Romanende, als sich mit Rosettas befreiendem Gesang, ihren endlich fließenden Tränen und der Rückkehr der Frauen nach Rom eine Besserung andeutet (ebd.: 312), erinnert sich Cesira an Michele und die Lazarus-Parabel: »il passo di Lazzaro era buono anche per noi, poiché grazie al dolore, eravamo alla fine, uscite dalla guerra che ci chiudeva nella sua tomba di indifferenza e di malvagità ed avevamo ripreso a camminare nella nostra vita« (ebd.: 314). Nun könnte man diese Worte, die sich mit den Motiven des Grabs, des Lebens und des Heraustretens eindeutig auf den Prätext beziehen, so wie Tornitore (Tornitore 2015: XXXII) in dem Sinne interpretieren, dass Micheles Prophezeiung sich erfüllt hat und die Frauen aufgrund des erlittenen Schmerzes (»dolore«)
255 Auch Rosetta wird indirekt mit Lazarus korreliert: Als sie sich das erste Mal einem Mann hingibt, bleibt sie drei Nächte lang fort, kehrt mit neuen Kleidern und einem ›anderen‹, plötzlich sexualisierten Körper zurück (ebd.: 287ff.). Später empfindet Cesira Rosetta als innerlich tot (»era morta«, ebd.: 298).
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aus ihrer Totenstarre erwacht und wie Lazarus wiedererweckt worden und ins Leben zurückgekehrt sind.256 Doch dieser allzu versöhnliche Schluss unterschlägt, dass Rosettas Trauma noch nicht aufgearbeitet wurde und dass die Folgen des Kriegs und dieser selbst, um mit Cesiras Worten zu enden, als Latenz erhalten bleiben werden: »la guerra è la guerra; cioè che la guerra, anche quando è finita, continua ad esserci e come una bestiaccia moribonda« (Moravia 2015: 301). Insofern kommen hier vielmehr Verdrängungs- und Verschweigungstendenzen zum Ausdruck, die bereits auf eine problematische Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit vorausweisen.
256 Von Vicinos Interpretation, derzufolge die beiden Frauen und die Menschheit an sich am Schluss ›auferstehen‹ und wieder zu sich finden, distanziere ich mich ebenfalls. Vgl. Vicino, Caterina (2015): »Di terra, storia, poesia nel romanzo moraviano sulla guerra«, in: Fàvaro, Angelo (Hg.): Alberto Moravia e ›La ciociara‹. Letteratura. Storia. Cinema. III. Atti del convegno internazionale, Fondi, 10 maggio 2013. Avellino (Edizioni Sinestesie), S. 185–192, S. 187. Überzeugender hingegen ist Frömmers Interpretation, die in Rosettas Vergewaltigung die »lange Tradition weiblicher Gründungsopfer« sieht, die im Sinne von Girard als violence fondatrice ein Ausdruck der politischen und sozialen Neuordnung nach dem Krieg sei (Frömmer 2019: 348).
Zusammenfassung
Lazarus kommt in der Bibel an zwei Stellen vor; während er im Lukasevangelium (Lk 16,19–31) im Zusammenhang mit dem Thema der Gerechtigkeit erscheint, berichtet das Johannesevangelium davon, wie Jesus den toten Lazarus wieder zum Leben erweckt (Joh 11,12). Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie das hohe Aufkommen der ursprünglich aus der Bibel stammenden Figur in der italienischen Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zu erklären ist. Im Anschluss an Hennigfeld werden diese Figuren als Latenzindikatoren verstanden, die in historischen Schwellenphasen vermehrt zum Einsatz kommen und mit deren Hilfe traumatische Erfahrungen thematisiert bzw. thematisierbar werden. Die Ausgangshypothese lautet, dass Lazarus refunktionalisiert und herangezogen wird, um sich mit den Themen Krieg, Krise, Shoah, Gewalt, Macht, Verdrängung, Vergessen, Erinnerung, Unsagbarkeit, Latenz und mit (kollektiven) Traumata auseinanderzusetzen. Um diese These zu überprüfen, werden verschiedene philosophische und literaturtheoretische Schriften aus dem 20. Jahrhundert untersucht, die mit Lazarus operieren und einen Bezug zu den oben genannten Themen aufweisen. Darüber hinaus erfolgt eine profunde philologische Analyse ausgewählter Werke der Lyrik, Prosa und des Dramas, die zwischen 1875 und 1969 entstanden sind und in denen Lazarus eine wichtige Rolle spielt. Behandelt werden Texte von Gabriele D’Annunzio, Olindo Guerrini/Lorenzo Stecchetti, Mario Rapisardi, Sebastiano Satta, Giuseppe Antonio Borgese, Marcello Gallian, Luigi Pirandello, Giovanni Boine, Clemente Rebora, Corrado Govoni, Ada Negri, Salvatore Quasimodo, Eugenio Montale, Mario dell’Arco, Margherita Guidacci, Giuseppe Ungaretti, Vittorio Sereni, Curzio Malaparte, Dario Fo, Ignazio Silone und Alberto Moravia. Entsprechend der Ausgangsthese stehen Werke im Mittelpunkt, die vor, während oder nach historischen Umbruchszeiten verfasst worden sind. Betrachtet wird hierbei der Zeitraum,
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der die Jahre nach dem Risorgimento, den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zu den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten umfasst. Um sich dem für die Forschungsfrage zentralen Begriff der Latenz zu nähern, wird dieser im ersten Kapitel zunächst in seinen verschiedenen Bedeutungen umrissen und anschließend theoretisch erörtert. Hierbei fördert bereits die etymologische Betrachtung interessante Erkenntnisse zutage: Aus dem lateinischen latens entwickeln sich ab dem 14. Jahrhundert im Italienischen und Spanischen mit latente und später im Französischen und Englischen mit latent Begriffe heraus, die mit den Aspekten des Geheimen, des Dunklen bzw. Verdunkelns, des Versteckten und Nicht-Sichtbaren in Relation stehen. Zusammengefasst beschreibt Latenz etwas, das existiert, aber im Verborgenen liegt und sich unter bestimmten Umständen zeigen kann. In diesem Sinne enthält Latenz zugleich schon die Möglichkeit ihrer ›Entbergung‹ bzw. Sichtbarmachung. Dies erklärt, warum gerade eine detaillierte und tiefgehende philologische Textanalyse, wie sie sich diese Arbeit zum Ziel setzt, eine geeignete Herangehensweise ist, um die verborgenen, nicht direkt zugänglichen Schichten von Latenzphänomenen herauszuarbeiten. Obschon Diekmann/Khuana eine ›Latenz der Latenz‹ supponieren und konstatieren, dass es keine allgemeine Theorie gebe, zeigt ein Blick auf einschlägige Lexika, dass ›Latenz‹ kein isoliertes Phänomen darstellt, sondern in unterschiedlichen Disziplinen Relevanz besitzt und etwa in der Philosophie, Medizin, Psychologie und Soziologie vorkommt. Während Latenz in Tacitus’ Begriff der arcana imperii als die geheimen Grundlagen von Herrschaft eine politische Funktion erhält, dient sie Nietzsche zur Bestimmung des schlechten Gewissens. Bei Bloch bedeutet Latenz ein ›Noch-Nicht‹ der Zukunft, das gegenwärtig spürbar ist, und bei Heidegger kommt sie indirekt in der Gegenüberstellung von seinem Begriff der Wahrheit als aletheia und ›Verborgenheit‹ vor. Im Rekurs auf Heidegger verwendet Agamben Latenz als Abgrenzung zur ›Illatenz‹ und stellt die Vermutung auf, dass Latenz ihre Wirkung in der Literatur und Dichtung besonders gut entfalte. Aus den verschiedenen Positionen zum Thema Latenz wird die Hypothese abgeleitet, dass Latentes jenseits des Bewusstseins erscheint und einer Entschlüsselung bedarf. Wie sich zeigt, ist dies ein Gedanke, der auch bei Sigmund Freud zentral ist. Dieser stellt einen Zusammenhang von Hysterie, Trauma und Latenz fest, der auf größere Kontexte übertragbar ist: So könne ein einschneidendes Ereignis nach einer Latenzzeit ein verdrängtes kollektives Tätertrauma reaktivieren, wenn sich das ›Urereignis‹ in ähnlicher Form wiederhole. Darüber hinaus geben Freuds Traumdeutung (1900) und seine
Zusammenfassung
Schriften über das Unbewusste (1915) Leitgedanken für die Textanalysen an die Hand. Zum einen verdeutlichen sie, dass latente Inhalte, die verdrängt oder unterdrückt werden, und manifeste Inhalte, die erinnerbar sind, nie deckungsgleich sein können, sondern Lücken und Verschiebungen enthalten. Zum anderen wird die Notwendigkeit deutlich, psychische Vorgänge, die als solche unbewusst sind, durch eine analytische Arbeit an Symptomen und Träumen zu rekonstruieren, um sie erschließbar zu machen. Denn laut Freud zeigt sich Latentes nicht von selbst, sondern muss aktiv hervorgebracht werden, indem gegen Abwehrmechanismen und Verdrängungstendenzen gearbeitet wird. Die hieraus generierte und anhand der Lazarus-Texte belegte These lautet, dass Literatur zu einer solchen Hervorbringung von Latentem beitragen kann. Der Zusammenhang zwischen Latenz und Traumata wird von neueren Studien der Neurowissenschaft belegt. In The Body Keeps the Score (2014) macht Bessel van der Kolk die Beobachtung, dass von Gewalt und Krieg traumatisierte Menschen eine unüberwindbare Kluft (gap) zwischen ihrem Leben vor dem Initialtrauma und danach empfinden und darüber hinaus Probleme haben, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren. Wie die Textanalysen demonstrieren, treten beide Phänomene bei einer Vielzahl der literarischen Lazarus-Figuren nach ihrer Wiedererweckung auf. Vor dem Hintergrund, den Freud und van der Kolk jeweils skizzieren, können die von Gewalt gezeichneten literarischen Lazarus-Figuren als Ausdruck für latente individuelle sowie verdrängte kollektive Tätertraumata interpretiert werden, die durch die Erfahrung von Krieg und Gewalt ausgelöst wurden und für die die Gesellschaft noch keine adäquaten Antworten und Reaktionsweisen gefunden hat. Der Blick auf Judith Butlers Schriften, die in den Beiträgen zum Thema ›Latenz‹ bisher kaum Beachtung gefunden haben, macht den engen Zusammenhang zwischen Latenz und biopolitischer Macht sichtbar. Butler zufolge ist der Körper ein Mittel biopolitischer Macht, da er durch Regulierungsmechanismen kontrolliert wird, die unsichtbar bleiben. Überträgt man diesen Gedanken auf die literarischen Texte, so sind die veränderten, abnormen, geschwächten oder kranken Körper der Lazarus-Figuren Ausdruck latenter biopolitischer Macht- und Kontrollmechanismen. Sie zeigen, so lautet eine weitere These dieser Untersuchung, die zerstörerischen Folgen im Verborgenen agierender Machtverfahren auf, die in öffentlichen Diskursen ausgeblendet werden, wie zum Beispiel bei einseitigen Darstellungen von Siegergeschichten. Butlers Begriff der ›Verwerfung‹ (foreclosure) als ein konstitutives Außen, das in der Gesellschaft verdrängt wird und ungesagt bleibt,
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und ihre Notion der ›figuralen Gestalt‹ erlauben es, die Lazarus-Figur als einen Ausdruck von gesellschaftlichen Maßstäben und normativen Kategorien zu verstehen, anhand derer in einer Gesellschaft über die Wertigkeit von Leben entschieden wird. Als solche stellen die literarischen Lazarus-Figuren, die zumeist als Grenzgänger auftreten, am Rande der Gesellschaft stehen und sowohl gängigen sozialen als auch normativen Zuschreibungen zuwiderlaufen, allgemeine Bewertungsmaßstäbe auf den Prüfstein und machen deutlich, dass die Definition von ›lebenswertem Leben‹ sozial- und machtpolitischen Interessen unterliegt. Insgesamt macht der Überblick (I, 1.1) über verschiedene Theorien und Überlegungen zur Latenz in der Philosophie (Nietzsche, Bloch, Heidegger, Agamben), Psychologie/Neurowissenschaft (Freud, van der Kolk) und den Gender Studies (Butler) zahlreiche forschungsrelevante Zusammenhänge sichtbar, die als Leitkategorien für die späteren philologischen Textanalysen dienen. Dazu zählen mitunter die Relation zwischen Latenz, Verdrängung und Traumata, der Zusammenhang zwischen Latenz und Macht bzw. deren verborgenen Funktionsweisen und Mechanismen sowie der Zusammenhang von Latenz, Literatur und Sprache. Es kristallisiert sich heraus, dass die interdisziplinäre Disposition und der begriffliche Facettenreichtum ›Latenz‹ zu einer besonders anschlussfähigen und vielseitig anwendbaren Analysekategorie machen. Als fruchtbar erweist sich außerdem Gumbrechts kulturwissenschaftlich fundierter Latenzbegriff als Gefühl des Unbehagens und unzugänglicher Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, welcher anhand von Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart (2012) in Kapitel I, 1.2 erörtert wird. Das hohe Aufkommen von Latenzfiguren wie Lazarus sowie die zahlreichen Grenzund Schwellenfiguren, die in literarischen, literaturtheoretischen und philosophischen Texten gleichermaßen vorkommen, belegen Gumbrechts These, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Latenzphase eingetreten sind, die wir bis heute nicht verlassen haben. Des Weiteren zeigen die in den literarischen Texten und Gedichten auffallend häufig in Verbindung mit Lazarus vorkommenden Motive der Gewalt, Verdrängung, der Frage nach Schuld und der Unmöglichkeit, zu kommunizieren oder sich zu erinnern, dass Teile der kollektiv verdrängten, unverarbeiteten, aber latent fortbestehenden Kriegsvergangenheit mittels Literatur zum Ausdruck gebracht und thematisierbar werden. Als ein wichtiges Ergebnis der Textanalysen ist in diesem Kontext festzuhalten, dass die Latenz- und Lazarus-Figuren einerseits zwar als eine indirekte Aufforderung zu verstehen sind, sich mit der verdrängten Vergangenheit ausein-
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anderzusetzen und diese aufzuarbeiten, andererseits jedoch selbst Leerstellen, Uneindeutigkeiten und Ambivalenz schaffen und sich auf diese Weise oftmals einer konkreten Antwort oder Position entziehen. Gerade in der italienischen Nachkriegslyrik nimmt die Lazarus-Metapher vielschichtige, voraussetzungsreiche und kryptische Ausformungen an, die das Verständnis erschweren, aufmerksame Leser voraussetzen und eine Dechiffrierung notwendig machen. Als solche verweigern die Gedichte eindeutige Stellungnahmen ebenso wie unterkomplexe Antworten. Darüber hinaus kommt in vielen der analysierten Texte und Gedichte der Nachkriegszeit ein Unbehagen zum Ausdruck, das mit Gumbrechts Definition von Latenz in Verbindung zu bringen ist. Außerdem zeigt die Tatsache, dass viele der literarischen Lazarus-Figuren mehreren zeitlichen Ebenen zugleich angehören und einer Vergangenheit entstammen, die anderen nicht verständlich oder erschließbar ist, dass sie Latenzen im Sinne Gumbrechts konstituieren, da sie eine Präsenz der Vergangenheit darstellen, die gleichzeitig gegenwärtig und unzugänglich ist. In Kapitel I, 2.1 erfolgt ein Forschungsüberblick zu den Themen Leben und Schreiben in Extremsituationen, der Spannung zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit sowie zum Gedächtnisdiskurs. Hierbei zeigt sich, dass Kommunikation, Sprache und Literatur bei Extremerfahrungen eine elementare Rolle spielen. Im Rückgriff auf Forschungsbeiträge zur KZ-Literatur und zu den Themen Zeugenschaft und Erinnerung wird herausgearbeitet, dass in Extremsituationen wie Tod oder Gewalt oftmals ein Bezug auf Literatur erfolgt und diese selbst zur Überlebensstrategie werden kann. Dies suggeriert, dass Metaphern, Symbole und besondere poetische oder narrative Verfahren immer dann vermehrt zum Einsatz kommen, wenn unsere Sprache versagt und nicht ausreicht, um Traumatisches in Worte zu fassen. In Kapitel I, 2.2 werden Beiträge von Giorgio Agamben, Hannah Arendt und Roberto Esposito beleuchtet, die sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten von Leben und dessen Regulierung durch Macht und Politik beschäftigen. Biopolitik stellt das biologische Leben in den Mittelpunkt und macht damit etwas sichtbar und diskursivierbar, das zuvor den Geheimnissen der Macht unterstand. Aus den biopolitischen Ausführungen und mit Blick auf u.a. Agambens Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita (1995) wird deutlich, dass historische und politische Krisen Notstandsordnungen und Ausnahmezustände begünstigen, aus denen wiederum die Produktion von Schwellen- und Grenzfiguren resultiert. In Auseinandersetzung mit den Notionen von ›Ausnahme‹, ›homo sacer‹, ›nacktem Leben‹ und dem ›Impersonalen‹ geraten Figurationen der Latenz, der Schwelle und Grenze sowie
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des ›Dritten‹ in den Fokus, die wichtige Rückschlüsse auf Lazarus zulassen. Anhand von Agambens Rekurs auf Primo Levi und dessen Ausführungen zum sogenannten ›Muselmann‹ als ein Produkt des KZs wird demonstriert, dass dieser als Latenzfigur fungiert und für etwas Unausgesprochenes steht, das als Larve im kulturellen Gedächtnis weiterlebt, ohne sichtbar zu sein. Der ›Muselmann‹ stellt sowohl Grenzen als auch herkömmliche Begriffe in Frage und repräsentiert das Verborgene der Macht. Ergiebig ist ferner Arendts Hauptwerk The Origins of Totalitarianism (1951), das sich dem Zusammenhang von Terror, politischer Macht, Totalitarismus und Schwellensituationen des menschlichen Lebens widmet und dabei den Begriff der Latenz und die Metapher des Lazarus aufgreift. Denn zum einen geht Arendt davon aus, dass totalitäre Macht aus der Latenz als einem Verborgenen heraus agiert, und zum anderen versieht sie die biblische Figur mit einer politischen Valenz, indem sie die vollständige Vernichtung des Menschen und die Außerkraftsetzung jeglichen Rechts im KZ mit der Lazarus-Metapher beschreibt. Ihre These, dass Holocaust-Überlebende, nachdem sie dem Grauen des KZs entkommen sind und dadurch wie Lazarus von den Toten ›auferstehen‹, ihre frühere Persönlichkeit zurückerhalten, ist jedoch fraglich und wird von den literarischen Texten widerlegt. Esposito ist in Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale (2007) daran gelegen, Leben, das außerhalb der Norm steht, sichtbar und beschreibbar zu machen. Seine Kategorien des Impersonale und der Terza persona verdeutlichen, dass es dazu neuer Begriffe bedarf, die sich abseits von binären Denkmustern konfigurieren. Die literaturtheoretischen und autobiographischen Schriften Dello scrivere oscuro/L’altrui mestiere (1985) und I sommersi e i salvati (1986) von Primo Levi, die in Kapitel I, 2.3 erörtert werden, verhandeln mit der Frage, wie verständliche Sprache beschaffen sei und welche Funktion Literatur bei kollektiven Verstehensprozessen übernimmt, ein grundlegendes Thema dieser Arbeit. Mit dem scrivere oscuro, worunter Levi eine verdunkelnde Ausdrucksweise meint, die etwa durch eine hohe Metapherndichte Verständnis und Kommunikation erschwere, thematisiert er eine Form von Latenz, die sich als etwas Unzugängliches und Ungesagtes bemerkbar macht und deren Anwesenheit wir als unangenehm wahrnehmen. Die Metaphern der Gorgo Medusa und der Larve, auf die Levi im Kontext der nationalsozialistischen Konzentrationslager und der Frage danach, wie man Zeugnis über sie ablegt, rekurriert, belegen, dass bei dem Versuch, eine Grenz- und Schwellenerfahrung zu kommunizieren, die andere nicht erlebt haben, stets etwas Latentes und Unerklärliches zu-
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rückbleibt. Dennoch verwirft Levi den Topos der ›Unsagbarkeit‹ und tritt vehement für eine offene Kommunikation ein. Seine metapoetischen Überlegungen unterstreichen die Wichtigkeit von Sprache und führen vor Augen, dass der Mensch sich erst als Teil einer Gemeinschaft fühlt, wenn er mit dieser zu sprechen und zu kommunizieren vermag. Wie in Kapitel I, 2.4 dargelegt wird, bedient sich Emil Cioran in seinen philosophischen Schriften Amurgul gîndurilor (Gedankendämmerung) von 1940 und Précis de décomposition (1949) der Lazarus-Metapher, um den modernen Menschen in seiner Ausweglosigkeit und existentiellen Heimatlosigkeit zu beschreiben. Es stellt sich heraus, dass die Motive der Scham, Gefühlslosigkeit, Leblosigkeit und des Desinteresses, die Cioran in Verbindung mit Lazarus aufführt, auch in den literarischen Texten häufig verwendet werden, um Lazarus zu charakterisieren. Die Motivanalogien legen zum einen nahe, dass Heimatlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Bindungsverlust universelle Gefühle sind, die die Menschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs empfinden. Zum anderen verdeutlichen sie, dass sich die Bereiche der Philosophie und der Literatur aufeinanderzubewegen, indem sie dieselben drängenden Fragen diskutieren. Dahingehend zeichnet sich ab, dass nur eine umfassende transdisziplinäre Reflexion Antworten auf die offenen Fragen, die Widersprüchlichkeit, den Sinnverlust und den moralischen Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg zu geben imstande ist. In Kapitel II, 1 erfolgt eine historische Kontextualisierung Italiens in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die eine Einordnung der literarischen Werke vor ihrem jeweiligen geschichtlichen und politischen Hintergrund ermöglichen soll. Zugleich machen die in Kapitel II, 2 vorgestellten Definitionen, die Hayden White, Michel de Certeau, Carlo Ginzburg und Benedetto Croce von Historiographie als einer Narration geben, deutlich, dass Geschichtsschreibung nicht rein objektiv ist, sondern narrative Elemente und darüber hinaus machtpolitische Komponenten enthält und – laut Croce – eine ethisch-politische Dimension hat. Daraus erwächst die Aufgabe, historiographische Quellen kritisch und verantwortungsvoll zu rezipieren. Als wichtig erweist sich dieser Aspekt bei der Betrachtung verschiedener Positionen innerhalb der italienischen Faschismusdebatte. Denn überraschenderweise ist die Lazarus-Figur ein zentraler Referenzpunkt in den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Debatten Italiens und wird von Gino Gori, Claudio Treves und Antonio Gramsci teils mit einer deutlich polemischen Ausrichtung benutzt, um Kritik an ihrer Zeit zu üben. In diesem Zusammenhang wird die These aufgestellt, dass Lazarus häufig mit dem Wunsch nach einer
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Erneuerung und ›Neugeburt‹ Italiens in Verbindung steht – eine Vermutung, die durch die literarischen Texte eine Bestätigung findet. In der italienischen Kriegsdebatte zieht Gori die Lazarus-Metapher heran, um den ›richtigen‹ Krieg zu legitimieren und Gewalt zu sublimieren. Gerade die interventisti als Kriegsbefürworter sehen im Krieg ein heilendes Mittel, um zu einer neuen nationalen Stärke und einheitlichen italienischen Identität nach den Idealen des Risorgimento zu gelangen (Gennaro 2016: 69ff.).1 Bei Gramsci wiederum stellt Lazarus eine ambivalente Figur dar, die entweder Widerstand oder im Gegenteil den Zustand politischer Untätigkeit ausdrückt. Im III. Kapitel werden die italienischen Lazarus-Texte einer eingehenden literaturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen. Den Anfang machen in Kapitel III, 1.1 vier Werke von D’Annunzio, welcher auffallend oft auf Lazarus rekurriert, der bei ihm in der Prosa, Lyrik und im Drama vorkommt, ohne dass dies bisher von der Forschung berücksichtigt worden wäre. In der Lyriksammlung Canto novo (1882/1896) wird ein Lazarus evoziert, der sich vordergründig an der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus aus dem Lukasevangelium zu orientieren scheint, tatsächlich jedoch ein elitäres Kunst- und Subjektverständnis repräsentiert, durch das die christliche Botschaft der caritas subtil unterlaufen wird. In der Erzählung Lazzaro aus der Sammlung Terra Vergine (1882) und dem Text La parabola dell’uomo ricco e del povero Lazaro (1898) führt D’Annunzio diese Unterminierung fort, indem er das sozialkritische Stratum der biblischen Parabel mit Ambivalenz belegt, Lazarus als Verlierer auftreten lässt und die Bibel-Passage letztendlich in einen rassistischen Diskurs umschreibt. In dem Drama La figlia di Iorio (1904) hingegen repräsentiert Lazarus Macht und sprachliche Gewalt, wobei letztere mit Foucault interpretiert einen Machteffekt und Kontrollakt darstellt, anhand derer Lazarus Kommunikation reguliert. Auch nach dem Tod bleiben seine Gesetze erhalten, da Lazarus’ Verhalten von seinem Sohn perpetuiert und das ›Fremde‹ im Sinne Girards als Sündenbock (bouc émissaire) aus der archaischen Gesellschaft verbannt wird. Kapitel III, 1.2 ist Lazarus-Gedichten aus dem ausgehenden Ottocento gewidmet. Im Rekurs auf die Lyrik des französischen Dichters Soulary entwirft Guerrini in seinem Gedichtband Postuma (1877) eine zutiefst negative Sicht auf die Auferweckung des Lazarus, die einer Blasphemie gleichkommt. In einem elaborierten Spiel aus intertextuellen Referenzen wird das Lazarus-Gedicht schließlich sogar Teil einer hedonistischen Darstellung, die auf parodistische 1
Vgl. Gennaro, Rosario (2016): »La Grande Guerra e l’italianità: Il discorso nazionale di Giuseppe Ungaretti«, in: Forum Italicum. Vol. 50 (1), S. 69–86, S. 69ff.
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Weise mit Petrarcas Vorbild des Canzoniere bricht. Rapisardi wiederum lässt Lazarus in dem Gedicht Espiazione (1896) im Kontext der Kolonialkriege Italiens erscheinen, setzt den religiösen mit dem politisch-sozialen Diskurs in Bezug und verhandelt auf allegorische Weise das Machtverhältnis zwischen Italien und Afrika. Während die Metapher in Cameranas erstem Lazarus-Gedicht Giuseppe Giacosa (1875) Teil einer metapoetischen Reflexion über die Dichtung ist, stellt Lazarus in dem zweiten Gedicht Lazzaro (1899) eine Gegenfigur zum zeitgenössischen Menschen dar, die offenlegt, dass religiöse Mythen in der Moderne ihre Gültigkeit verloren haben. In dem Gedicht Natale di Lazzaro (1903) verbindet Satta Sozial- und Religionskritik auf eine bemerkenswerte Weise. Die Gedichtanalysen demonstrieren, dass Lazarus als Sprachrohr für die Kritik an Gesellschaft, Politik, Herrschaft und Kirche fungiert. Während die Referenz auf das Lukasevangelium dazu dient, die soziale Ungerechtigkeit in Italien anzuprangern, legt die religionskritische Auseinandersetzung mit dem Lazarus aus dem Johannesevangelium nahe, dass die Institution der Kirche in Misskredit geraten ist und die biblischen Wundererzählungen nicht länger Trost und Hoffnung spenden können. Kapitel III, 2.1 behandelt Auferstehungsmythen im italienischen Drama der Zwischenkriegszeit bei Borgese, Gallian und Pirandello. Die vertretene These lautet, dass Lazarus den gegensätzlichen politischen Haltungen von Faschismus und Antifaschismus Ausdruck verleiht. In dem Drama Lazzaro (1926) fusioniert Borgese christliche und mythologische Auferstehungsmythen, wodurch er sich komplexitätsreduzierenden Auslegungen des Auferstehungsmythos widersetzt, wie sie durch die faschistische Propaganda erfolgt. Auf visionäre Weise zeigt er, dass Macht, Unterdrückung und Kontrolle, auf welchen er den Katholizismus gegründet sieht, zugleich Mittel sind, die Mussolini zur Anwendung bringen wird. Gallian greift in La casa di Lazzaro (1929) auf das biblische Thema der Auferstehung zurück, um die Erneuerung und Wiedergeburt Italiens zu propagieren, die der Faschismus verspricht vorzunehmen. In einer bedenklichen profaschistischen Perspektive verkörpert Lazarus als Wiedererweckter und durch die emphatische Verherrlichung von Leben, Kraft und Virilität den neuen faschistischen Menschen, der aus Italien eine starke Nation machen und es zu alter Größe zurückführen soll. Pirandellos Lazzaro. Mito in tre atti (1929) reaktiviert den biblischen Auferstehungsmythos auf eine eigenwillige Weise. In Absetzung von der gängigen Forschung wird das Drama als versteckte Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf der einen Seite und der katholischen Kirche auf der anderen Seite interpretiert, die durch die Gegenüberstellung der Antagonisten Sara, als Prinzip des Lebens, und der
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Lazarus-Figur Diego, als Prinzip des Todes, ausgetragen und darüber hinaus mit dem pirandellianischen Dualismus von vita und forma verknüpft wird. In Kapitel III, 2.2 werden Lazarus-Figuren in der Prosa von Boine, Rebora und Govoni in den Blick genommen. In Boines Erzählung L’agonia (1913) ist die Lazarus-Metapher Ausdruck eines kollektiv Latenten und Unbewussten und verweist auf den Umgang der Gesellschaft mit kriegerischer Gewalt und ihren Opfern. Rebora verwendet die Lazarus-Figur mehrfach: Lazarus wird bei ihm mit dem Motiv der Sünde verknüpft, stellt eine Metapher für einen Menschen dar, der nach einer traumatischen Kriegserfahrung ins Leben zurückfindet, oder prangert die Kriegsgräuel an und formuliert die Frage danach, wie Kommunikation und Schreiben nach der Extremerfahrung des Kriegs möglich sind (Arche di Noè sul sangue, 1917). In Corrados Il libro del bambino (1919) erfolgt eine Umschreibung der biblischen Auferstehungsgeschichte, wobei christliche Werte verhöhnt werden und Lazarus sich am Ende als ein Opfer von Jesu Egoismus entpuppt. In der Erzählung Deformazione (1919) wird Lazarus in eine philosophische Auseinandersetzung überführt, die sich an Platons Philosophie anlehnt und deutlich von der christlichen Lehre über die Entstehung der Welt absetzt. Kapitel III, 3.1 untersucht Lazarus-Gedichte der italienischen Nachkriegslyrik, wobei es mit Negris Gedicht Alba außerdem ein Gedicht der Zwischenkriegszeit enthält. Darin drückt Lazarus eine Lebensmüdigkeit aus, die als späte Abkehr von der faschistischen Ideologie interpretiert wird. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs fordert Quasimodo in Sulla poesia contemporanea (1946) und später in Discorso sulla poesia (1953) eine neue Dichtung, die auf den Zusammenbruch der Gesellschaft, die Selbstverlorenheit des Menschen sowie den Sicherheits- und Werteverlust reagiert, die Folgen von Krieg, Gewalt und Tod sind. Die These lautet, dass diese Themen in seinem Gedicht Di un altro Lazzaro (1947) literarisch verhandelt werden. Lazarus dient hier dazu, das Konzept der Menschheit zu überdenken und die Frage aufzuwerfen, ob nach dem Krieg eine ethische Auferstehung und eine Rückkehr zum Mensch-Sein möglich sind. Montales Gedicht Voce giunta con le folaghe (1947) enthält Motive, die auf die Auferweckungsepisode im Johannesevangelium anspielen und zugleich eine zutiefst negative Semantik schaffen, die nahelegt, dass das Gedicht eine Auseinandersetzung mit dem Krieg darstellt. Die vielen Motive der Erinnerung und zahlreiche Latenzfiguren, unter ihnen die Larve, die als »larva di memoria« auftritt, machen ein ›unabgegoltenes Vergangenes‹ sichtbar, das auf ein zurückliegendes traumatisches Ereignis wie den Zweiten Weltkrieg schließen lässt. Auch der Intertext des Purgatorio
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von Dante erweist sich als relevant, da er suggeriert, dass die Menschen, die den Krieg überlebt haben, Sünder sind, die sich eine universelle Schuld aufgeladen haben, von der sie sich läutern müssen. In dell’Arcos Lazzaro (1950) repräsentiert Lazarus die menschliche Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Nichtigkeit, Ausweglosigkeit, Negation und Glaubensverlust geprägt ist. In Morte del ricco (1954) zieht Guidacci die Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus heran, um auf verschlüsselte Weise das Leid des Zweiten Weltkriegs zum Thema zu machen, das durch Motivanalogien mit der Passion Christi in Relation gebracht wird. Ungarettis Gedicht Per sempre (1959) wiederum enthält ein Zwiegespräch, das zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Erinnerung und Zukunft changiert und an dessen Ende eine Wiedergeburt bzw. Auferstehung evoziert wird, die Anleihen an die Mythen von Orpheus und Daphne und darüber hinaus an die Liebeslyrik Petrarcas erkennen lässt. Serenis Sopra un’immagine sepolcrale (1965) enthält mehrere Referenzen auf die biblische Lazarus-Figur und setzt sich mit dem Thema der unschuldigen Opfer auseinander, die der Zweite Weltkrieg gefordert hat. Kapitel III, 3.2 behandelt Lazarus-Werke von Malaparte und Fo. Malapartes La carne umana (1950) erweist sich als eine entmythisierende und entheroisierende Darstellung des Zweiten Weltkriegs, die anhand der Lazarus-Figur auf provokante Weise die Frage nach einer Kollektivschuld stellt. Während sich Lazarus als ein Opfer von Egoismus und Kollaboration entpuppt, sind die Armen mit Agamben als homines sacri zu interpretieren, die zu Instrumenten biopolitischer und nazifaschistischer Macht gemacht werden. Fo wiederum unterminiert durch seine komische Reinterpretation des biblischen Auferstehungsmythos in dem Stück Resurrezione di Lazzaro (1969) die institutionalisierte und kanonisierte Darstellung des Wunders als ›Erfolgsgeschichte‹ und wirkt einer Mythen- und Legendenbildung entgegen. Lazarus symbolisiert den spöttischen Protest gegen die göttliche Ordnung und die katholische Kirche zugleich und fungiert außerdem als Negativbeispiel eines gelungenen Wunders. Im Sinne von Bachtin kommt es sowohl zu einer Suspension der Ordnung als auch zu einer Umkehr gängiger Hierarchien, was in dem veränderten Verhältnis zwischen Lazarus und Jesus ersichtlich wird. In dem letzten Analyse-Kapitel III, 3.3 werden italienische Prosawerke der Nachkriegszeit betrachtet. Silones Roman Una manciata di more (1952), der ursprünglich den Titel La tromba di Lazzaro tragen sollte, ist eine herrschaftskritische Abrechnung mit dem Kommunismus als repressiver Machtform. Lazzaro und seine Trompete dienen dazu, die geheimen Grundlagen von Macht offenzulegen. Hinter der politischen Ebene verbirgt sich außerdem eine Auseinan-
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dersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und den Fragen, wie die Gesellschaft mit kollektiven Traumata umgeht, welche Formen der Erinnerung oder aber der Verdrängung sie anwendet und wie sie Schuld begegnet. Lazarus steht hier für eine ungesicherte und fragmentarische Erinnerung an die Zeit des Faschismus, die als etwas Latentes im kollektiven Gedächtnis erscheint. Seine Albträume, in denen Gewalt, Tod, Schuldgefühle und Ohnmacht ein wichtiges Thema sind, demonstrieren dies auf eine eindrucksvolle Weise. Mit Freud interpretiert, sind sie Ausdruck kollektiver Tätertraumata, die nach einer Zeit der Latenz reaktiviert werden. Anhand der Ich-Erzählerin Cesira wird in Moravias Roman La ciociara (1957) deutlich, wie ambivalent und ungesichert das Erzählen des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung daran sind, weswegen der Roman entgegen zahlreicher Forschungsmeinungen nicht der ›realistischen Literatur‹ zuzurechnen ist. Das Werk erweist sich als ein Metaroman über das Gelingen und Scheitern von Literatur, Lektüre und Erinnerung angesichts von Kriegsgewalt. Anhand von Lazarus wird die Frage aufgeworfen, inwiefern uns literarische und kollektive Mythen und Erzählungen in Not- und Krisenzeiten als Beispiel dienen können, um Hoffnung zu schöpfen und einen Weg aus der Krise zu finden. Das Schweigen, die Verdrängung, gestörte Kommunikation und Täter-Opfer-Umkehr, die nach Kriegsende die Beziehung von Cesira und ihrer von Soldaten vergewaltigten Tochter prägen, bringen auf allegorische Weise den Umgang mit den Traumata des Zweiten Weltkriegs sowie das kollektive Schweigen zum Ausdruck. Das in der Forschung meist versöhnlich verstandene Romanende deutet in Wirklichkeit darauf hin, dass die Folgen und Traumata des Kriegs als Latenz erhalten bleiben werden und keine Aufarbeitung stattfindet. Betrachtet man die Entstehungs- und Publikationsdaten der LazarusWerke, so kann man zwei Kristallisationszeiten feststellen, in denen besonders oft auf die Figur rekurriert wird: Es handelt sich hierbei jeweils um die Zeit nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies legt nahe, dass Lazarus vermehrt dazu herangezogen wird, um die katastrophalen Folgen des Kriegs zu thematisieren und eine Antwort auf die Frage zu geben, wie das Leben nach dem Krieg weitergehen kann. Darüber hinaus kommt Lazarus in der italienischen Literatur auffallend häufig in den Jahren vor, in denen sich der Faschismus unter Mussolini immer weiter etabliert. Daraus ist zu schließen, dass zentrale Themen aus den zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Debatten mittels Lazarus in der Literatur aufgegriffen werden und die Figur eine wichtige Funktion dabei übernimmt, die außerliterarischen Entwicklungen in Italien kritisch zu reflektieren. Zugleich ist Lazarus
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auch häufig in philosophischen, politischen und sozialkritischen Schriften jener Zeit vertreten, woraus die These abzuleiten ist, dass Literatur, Politik und Gesellschaft gerade in Umbruchszeiten aufeinander referieren und in einem engen Austausch stehen. Wie demonstriert wird, ist Lazarus hierbei eine allgemeine Referenz und bildet daher so etwas wie einen Knotenpunkt, der verschiedene Diskurse miteinander verbindet. Paradox ist, dass der Gottesglaube durch den Zweiten Weltkrieg schwer erschüttert wird, aber viele Dichter und Schriftsteller in ihren Werken dennoch auf die Bibel und die Lazarus-Figur rekurrieren. Dies macht den Widerspruch deutlich, der zwischen dem Wunsch besteht, auf alte Sicherheiten zurückgreifen zu können, und der Erkenntnis, dass diese weggebrochen sind und nicht mehr zur Erklärung der Welt ausreichen. Dementsprechend wird Lazarus in der Literatur meist verfremdet und in deutlicher Absetzung vom Prätext dargestellt, etwa indem das Wunder der Auferweckung als Strafe für Lazarus umgedeutet wird (Guerrini, Borgese, Govoni). Dies kann mit Gumbrechts Beobachtung in Verbindung gebracht werden, die besagt, dass die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sehnsucht nach Strafe empfinden, die von einer begangenen Schuld loskaufen soll. Oder aber Lazarus und das Wunder der Auferstehung werden parodiert und satirisch umgeschrieben (Gallian, Fo) und auf unkonventionelle Weise mit eigentlich Unvereinbarem wie dem hedonistischen Liebesdiskurs in Verbindung gebracht (Guerrini). Darüber hinaus wird Lazarus häufig verwendet, um Kritik an der Religion und der katholischen Kirche zu üben (Gallian, Pirandello, dell’Arco, Fo). Der vermoderte und stinkende Lazzaro bei Fo etwa symbolisiert die Korruption des paternalistischen Klerus, der in eine Legitimationskrise geraten ist. Auch andere Texte legen offen, dass die selbstlegitimierenden religiösen Wundererzählungen unglaubwürdig geworden sind und ausgedient haben (D’Annunzio, Guidacci). In mehreren Texten symbolisiert Lazarus die Gottverlassenheit einer ganzen Epoche (Camerana, dell’Arco). Für die problematische Beziehung zur Kirche und Religion spricht außerdem, dass Lazarus und Jesus häufig in einem antagonistischen Verhältnis stehen und Lazarus Kritik an Jesus übt (Guerrini, Borgese). Zugleich kommen in einigen Texten rassistische und antisemitische Stereotype zum Ausdruck (Gori, D’Annunzio, Guerrini), die Zeugnis davon ablegen, dass hinter dem Deckmantel der Religion problematische Ideologisierungsabsichten formuliert werden. Erfolgt der Bezug auf die Parabel aus dem Lukasevangelium, dann erhält die Lazarus-Metapher die Funktion einer Sozial-, Macht- und Herrschaftskri-
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tik (Rapisardi, Camerana, Satta, Guidacci, Malaparte). Eine These ist hier, dass Lazarus langfristige Folgen der italienischen Vereinigung wie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie das Gefälle zwischen Nord- und Süditalien ausdrückt, das durch das Risorgimento noch verstärkt wurde. Teilweise werden die Lazarus-Figuren aus dem Johannes- und Lukasevangelium fusioniert und mit weiteren biblischen Figuren in Bezug gesetzt, was als Ausdruck für die wachsende Komplexität und die Notwendigkeit, neue Ausdrucksformen zu schaffen, interpretiert wird, um die Grausamkeit und Widersprüchlichkeit des Kriegs wiederzugeben. Dadurch bezeugen die Texte eine weitere These von Gumbrecht, der zufolge sich nach dem Zweiten Weltkrieg unser Verhältnis zur ›Realität‹ und ›Wahrheit‹ geändert habe (Gumbrecht 2012: 158). Die ambivalenten, verfremdeten und parodierten Lazarus-Figuren sowie die zahlreichen Fragen, die ihnen in den Mund gelegt werden und die zumeist unbeantwortet bleiben, belegen insofern die Unmöglichkeit, eindeutige Antworten auf drängende Fragen zu finden (ebd.). Vielmehr zeigen sie auf, dass unsere Existenz unsicher und alte ›Wahrheiten‹ prekär geworden sind, sodass nicht nur eine Revision vergangener moralischer und menschlicher Maßstäbe notwendig wird, sondern auch neue ästhetische und literarische Formen gefunden werden müssen, die auf den totalen Zusammenbruch reagieren und die zunehmende Vielschichtigkeit von historischen Krisen- und Umbruchszeiten auszudrücken vermögen. Die oftmals gebrochenen, einsamen, anonymen und marginalisierten Lazarus-Figuren sind insofern zugleich als ein Appell zu verstehen, unser Handeln und Denken im Angesicht von Gewalt, Krieg und Unmenschlichkeit zu reflektieren, unsere Werte auf den Prüfstein zu stellen und adäquat auf die veränderte Wirklichkeit zu reagieren. Die zahlreichen intertextuellen Referenzen, etwa auf Dantes Commedia, sowie der Bezug auf Mythen (Auferstehungsmythen, Orpheus) und Gründungstexte der antiken und europäischen Tradition wiederum machen deutlich, dass der Ursprung der literarischen und kulturellen Identität nach dem Krieg neu befragt werden muss. Es fällt auf, dass die italienischen Lazarus-Texte oft mit der Metapher der Larve (larva) operieren, die immer wieder verwendet und mit dem Thema der Erinnerung in Verbindung gebracht wird (Camerana, Govoni, Montale). Schon bei Levi und Agamben kommt die Larve in Auseinandersetzung mit der Frage vor, wie man Auschwitz und den Holocaust bezeugt und kommuniziert. Beide, die Larve und Lazarus, werden als Latenzindikatoren interpretiert, die Ausdruck für die kollektive Verdrängung von Krieg und Gewalt und darüber hinaus das kollektive schlechte Gewissen sind, das als Trauma und Unabgegoltenes immer wieder an die Oberfläche drängt. Gerade in ihrer ursprünglichen
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Bedeutung als Phantasma, Geist eines Toten oder Schatten, Maske und Gespenst (Zingarelli 12 2013: 1232) ist die Larve Ausdruck dafür, dass der Tod allgegenwärtig ist und in unterschiedlichen Formen und Gestalten wiederkehrt, ohne dass wir uns seiner stummen und schreckenerregenden Präsenz entledigen könnten. Für diese These spricht, dass die Larve in den italienischen Texten häufig mit einer negativen Konnotation belegt, mit dem Tod korreliert und mit den Aspekten des Untilgbaren sowie Unsagbaren in Verbindung gebracht wird und außerdem ein unbestimmtes, nicht benennbares Unbehagen ausdrückt. Die Larve steht insofern für die paradoxe Situation, der sich die Nachkriegsgesellschaft und die Folgegenerationen gegenübersehen und die darin besteht, Tod und Gewalt als allgegenwärtige Drohung und Präsenz zu empfinden, ohne sie und das Unbehagen, das sie hervorrufen, versprachlichen zu können oder anderen zu kommunizieren. Da die Larve außerdem eine Verwandlung und Zustandsveränderung repräsentiert, die in den italienischen Texten und Gedichten jedoch gerade nicht eine positive Entwicklung darstellt, sondern im Gegenteil zumeist Regression, Lethargie oder Verharren bedeutet, drückt die Metapher zugleich aus, dass der Mensch in seiner Situation und Existenz gefangen ist und die Gesellschaft solange in Stillstand verharrt, bis sie endlich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Durch die Metaphern des Lazarus und der Larve sowie verschiedene literarische Latenzfiguren werden die Themen von Krieg, Gewalt und Tod im gesellschaftlichen und literarischen Diskurs präsent und offen gehalten, wobei Alternativen zur offiziellen Erinnerungspolitik geschaffen werden, welche der Verdrängung und dem Vergessen Vorschub leistet. Doch nicht alle literarischen Lazarus-Texte sind Ausdruck für Widerstand gegen Gewalt und Vergessen. Denn als ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen kann festgehalten werden, dass die Lazarus-Metapher häufig im Kontext von Politik und Ideologisierungen erscheint. Lazarus wird herangezogen, um sowohl faschistischen als auch antifaschistischen Positionen Ausdruck zu verleihen. Neben Autoren wie Borgese oder Silone, die anhand von Lazarus antifaschistische Haltungen ausdrücken und vor Machtmissbrauch und Tyrannei warnen, dient die Metapher Gallian und Pirandello im Gegenteil dazu, den faschistischen Mythos der Wiedererweckung und Neuentstehung Italiens zu propagieren und sich auf problematische Weise in den faschistischen Lebensdiskurs einzuschreiben. Insgesamt ist festzuhalten, dass Lazarus eine ambivalente Figur darstellt, die sowohl Negatives als auch Positives verkörpern kann. Meist entzieht sich Lazarus jedoch einer genauen Definition und changiert zwischen un-
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terschiedlichen, teils widersprüchlichen Bedeutungen, wobei die Grenzen zwischen ›Täter‹ und ›Opfer‹ öfter verschwimmen (Malaparte, Silone, Moravia). So kann Lazarus einerseits als Ausdruck einer ethischen und politischen Erneuerung und ›Neugeburt‹ sowie eines individuellen Neuanfangs, der nach einem tiefgreifenden Ereignis stattfindet, interpretiert werden. Oder er dient hingegen dazu, die katastrophalen Folgen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs sowie die enttäuschten Hoffnungen darzustellen. Insofern werden die Spannungen, Leerstellen, Uneindeutigkeiten, Missverständnisse, Brüche und offenen Fragen, die laut Labahn in der johanneischen Wundererzählung zu Lazarus enthalten sind (Labahn 1999: 388ff.), in der Literatur aufgegriffen, weitergeführt und oftmals sogar intensiviert. Dies demonstriert einmal mehr, dass die Lazarus-Texte weniger konkrete Handlungsanweisungen formulieren, sondern im Gegenteil Fragen aufwerfen, die keine pauschalen Antworten zulassen und stattdessen zum Nachdenken und Überdenken des eigenen Handelns und individueller wie kollektiver Moralvorstellungen anregen sollen. Das Wortfeld der Erinnerung (memoria), das Motiv der Rückkehr, die zahlreichen Repetitionsfiguren (Alliteration, Parallelismus, Anapher, Epipher, Kyklos usw.) oder die anonymen Kriegsheimkehrer in den Texten und Gedichten machen deutlich, dass das Thema der Erinnerung zentral ist. Die Träume und Albträume (Silone, Moravia) verweisen wiederum auf verdrängte Traumata und die kollektive Schuld, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Latenz und Unverarbeitetes in der Gesellschaft fortbestehen. Im Sinne Freuds sind sie ein typischer Ausdruck für das Aufschieben, Verdecken und Sträuben gegen eine bewusste und oft schmerzvolle Aufarbeitung der Vergangenheit. Auch Schweigen und Kommunikationsprobleme (Montale, Sereni, Silone, Moravia) bringen auf allegorische Weise das kollektive Verschweigen der Shoah und der Kriegsgräuel zum Ausdruck. Themen wie Unwissenheit, NichtKommunikation, Drohungen, Lügen, verbotenes Sprechen, Scham (vergogna), Schuld (colpa) oder Wahrnehmungsmetaphern wie Brille, Rauch und Dunkelheit, die für eine verzerrte Wahrnehmung und verstellte Wirklichkeit stehen, zeigen auf bedenkliche Weise auf, dass die Themen des Kriegs und des Holocausts der Tabuisierung, Verzerrung und Umdeutung sowie dem Gebot des Schweigens oder Wegsehens unterstehen. Durch die Isotopien der Gewalt und Zerstörung, Todessymbole, Bezüge auf die Unterwelt, die Farbsymbolik von Rot und Schwarz, Zäsurtopoi, Motive wie Nacht, Einsamkeit und Blutstränen schaffen die Texte eine negative Semantik, die demonstriert, dass das Thema des Kriegs allgegenwärtig ist. Nur wenige der Lazarus-Texte,
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die nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst wurden, bieten humorvolle und lustige Variationen und Neuinterpretationen des Sujets an (Fo), oder nutzen den Auferstehungsmythos, um einen hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft zu werfen (Ungaretti). Bemerkenswert ist ferner, dass die Themen Sprache, Literatur, Lesen, Dichtung und Kommunikation in den Werken, die nach dem Ersten (Rebora) und v.a. nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind (Quasimodo, Montale, Moravia), eine wichtige Rolle spielen. Dies führt zu der abschließenden These, dass gerade nach Kriegen und Umbrüchen vermehrt über den Sinn, die Funktion und die Verantwortung von Literatur und Dichtung reflektiert wird. Dafür spricht außerdem, dass die Werke der Nachkriegsliteratur besonders viele intertextuelle Verweise enthalten (dell’Arco, Guidacci, Ungaretti, Sereni), was eine metapoetische und selbstreferentielle Ausrichtung erkennen lässt. Dies führt nochmals vor Augen, dass die Lazarus-Metapher im besonderen Maße dafür geeignet ist, die Wichtigkeit von Literatur für die Gesellschaft hervorzuheben und darüber Aufschluss zu geben, wie kollektive Erinnerung im Medium der Literatur funktioniert und welche Formen sowie Strategien einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um traumatische Ereignisse zu reflektieren und zu bewältigen.
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Literaturverzeichnis
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