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Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Band 229
Transparenz contra Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft Beiträge auf der 16. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2014 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von
Hans Herbert von Arnim
Duncker & Humblot · Berlin
HANS HERBERT v. ARNIM
Transparenz contra Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 229
Transparenz contra Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft Beiträge auf der 16. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2014 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservice GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-14743-4 (Print) ISBN 978-3-428-54743-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84743-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Das Thema Transparenz in Politik und Verwaltung ist von hoher Aktualität: Informationsfreiheitsgesetze, die der Bund und viele Bundesländer in den letzten Jahren erlassen haben, gewähren den Bürgern bisher unbekannte Auskunftsansprüche gegenüber den staatlichen Stellen. Die neuen Gesetze kehren das bisherige RegelAusnahme-Verhältnis um: Nunmehr ist der Staat grundsätzlich zu Transparenz verpflichtet und muss die Geheimhaltung rechtfertigen. Ein paradigmatischer Wandel vom geschichtlich tradierten Grundsatz des Amtsgeheimnisses zu einem „gläsernen Staat“ des heutigen Informationszeitalters scheint im Gange zu sein. Die daran geknüpften Erwartungen sind hoch: Die neue Transparenz soll Staat und Bürger näher bringen und die zivilgesellschaftliche Beteiligung sowie die demokratische Kontrolle des staatlichen Handelns verstärken. Doch hält die Praxis, was die Theorie verspricht? Nehmen die Bürger ihre neuen Informationsrechte tatsächlich in Anspruch und erhalten sie die ersuchten Auskünfte? Wie ist die Spannung etwa mit den ebenfalls verstärkten Datenschutzansprüchen von Privaten oder mit den Anforderungen einer wirksamen Terrorabwehr aufzulösen? Wie lässt sich Transparenz dort herstellen, wo die Akteure die Öffentlichkeit gezielt meiden, etwa im Bereich der Geheimdienstaktivitäten, der politischen Entscheidungen in eigener Sache oder des Lobbying? Diese und weitere daraus resultierende Fragen wurden auf der 16. Demokratietagung erörtert. Die Auswahl der Referenten spiegelt das Bestreben aller Speyerer Demokratietagungen wider, theoretische und praxisorientierte Perspektiven einzubeziehen, um einen fruchtbaren Austausch zwischen den verschiedenen Wissenschaftszweigen, der Praxis und der Zivilgesellschaft zu ermöglichen. Dieser Band enthält die Referate in zum Teil erheblich erweiterter Fassung und macht sie damit der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Mein besonderer Dank gilt Herrn Ministerialrat Dr. Stefan Brink für die Anregung zu dieser Tagung und die Unterstützung bei ihrer Vorbereitung sowie Herrn Kiraly für die Hilfe bei Durchführung der Tagung und die redaktionelle Betreuung dieses Bandes. Speyer, im April 2015
Hans Herbert von Arnim
Inhaltsverzeichnis Joachim Wieland Begrüßung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ein paradigmatischer Wandel vom Amtsgeheimnis zum gläsernen Staat? . . . . .
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Peter Schaar Zwischen Öffentlichkeit und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Patrick Ernst Sensburg Die Kontrolle der Geheimdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Rossi Informationsfreiheit – Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Leif Lobbyismus und Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Martin Tillack Wer nutzt die Informationsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Herbert von Arnim Die geheimen Regeln der Macht jenseits der offiziellen Fassade . . . . . . . . . . . .
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Guido Strack Whistleblowing – Öffentlichmachen von Missständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Edgar Wagner Die Geschichte der Öffentlichkeit in Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Begrüßung Joachim Wieland Es ist mir ein eine Freude, Sie alle zur Demokratietagung 2014 in Speyer begrüßen zu dürfen. Die Wissenschaftliche Weiterbildung ist neben Forschung und Lehre eine der zentralen Aufgaben, die der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer gesetzlich zugewiesen sind. Seit mehr als 60 Jahren haben unsere Weiterbildungsveranstaltungen sich als hervorragende Plattform für den Transfer neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis bewährt. Sie stellen horizontal sowie vertikal einen kontinuierlichen Ideenaustausch in Sachen guter Verwaltung sicher. Gleichzeitig hat die Weiterbildung ihren großen Wert auch für die Entwicklung der Wissenschaft bewiesen. Sie generiert äußerst wichtige Impulse, die zunächst für unsere Forschung und dann für unsere Lehre äußerst fruchtbar sind. Die in der Weiterbildung geführten Diskussionen und erarbeiteten Lösungen stellen die besten Rückmeldungen und zukunftsorientierten Anforderungsdefinitionen aus der Verwaltungspraxis dar, die sich eine Universität für Verwaltungswissenschaft nur wünschen kann. Aus diesem Grund pflegen wir das Feld der Weiterbildung in ganz besonderem Maße und sind stolz darauf, dass sich Jahr für Jahr fast zweitausend Führungskräfte aus allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, aus Wirtschaft, Politik und aus dem tertiären Sektor dafür entscheiden, eines unserer vielfältigen Angebote wahrzunehmen. Das Spektrum unserer Angebote reicht recht weit und umfasst sowohl Spezialveranstaltungen etwa zum Luftverkehrsrecht oder zur digitalen Sicherheit als auch Überblicksveranstaltungen zum Beispiel zur Public Corporate Governance. Gefragt sind aber auch Veranstaltungen zur Vermittlung besonderer Führungskompetenzen. In diesem breiten Angebot nimmt die Speyerer Demokratietagung eine Sonderrolle ein. Die inzwischen zum 16. Mal durchgeführte Tagung hat sich unter der wissenschaftlichen Leitung von Hans Herbert von Arnim in gewissem Sinn zum Flaggschiff unserer Weiterbildungsveranstaltungen entwickelt und schließt an prominenter Stelle unser Jahresprogramm im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung ab. Ihr Ziel ist es, sich Themen zuzuwenden, die einerseits langfristig für unser Gemeinwesen und das Gemeinwohl grundlegende Problemfelder berühren und ande-
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rerseits von hoher Aktualität sind. So hat sich die Demokratietagung in den vergangenen Jahren der Bezahlung und Versorgung von Politikern und Managern, dem Thema Volkssouveränität, Wahlrecht und direkte Demokratie, Systemmängeln in Demokratie und Marktwirtschaft sowie der Integrität in Staat und Wirtschaft gestellt. Stets ist es gelungen, die führenden Experten für eine Teilnahme zu gewinnen, und stets war der ideelle Ertrag der Tagung außergewöhnlich hoch. In diesem Jahr widmet sich die Demokratietagung dem Thema „Transparenz contra Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft“. Das ist ein Thema, das vor dem Hintergrund der NSA-Abhöraffäre, zunehmender Digitalisierung und der „Geheimsache NSU“ von größerer Aktualität kaum sein könnte. Transparenz von Politik und Verwaltung, also die Eröffnung von Möglichkeiten für den Bürger, Ein- und Durchblick in Entscheidungsprozesse zu erhalten, ist im Kern ein zentrales demokratisches Recht, das seine verfassungsrechtlichen Wurzeln in der Volkssouveränität und in den daraus resultierenden Kontrollrechten hat. Neben der bloßen Überprüfung inhaltlicher Richtigkeit ermöglicht Transparenz eine wirksame politische Bürgerteilhabe, die für den Zusammenhalt und das Funktionieren eines demokratisch verfassten Gemeinwesens grundlegende Bedeutung hat. All dies scheint heute jedoch neu überdacht werden zu müssen. In Echtzeit operierende elektronische Massenmedien, neue global vernetzte Kommunikationstechniken, vor 20 Jahren noch unvorstellbare Interaktionsmentalitäten sowie sehr weitgehende rechtliche Informations- und Datenschutzansprüche stellen bezüglich des Transparenzprinzips ein völlig neugestaltetes Umfeld dar, das eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit tradierten Auffassungen notwendig macht. Ein Blick in das Programm der heutigen Tagung zeigt die Diversität und Komplexität des Problemfeldes: • Die Ambivalenz von Öffentlichkeit und Datenschutz in einer Zeit, in der die Gesellschaft geradezu eine digitale Kulturrevolution durchläuft, • der Widerspruch zwischen der Informationsfreiheit und der Notwendigkeit zur Geheimhaltung, die sich etwa aus geheimdienstlicher Tätigkeit ergeben kann, • und die überkommenen Regeln politischer Machtausübung vor dem Hintergrund der heutigen Folgedimensionen von Whistleblowing zeigen, dass sich im Augenblick etwas verändert, dass etwas in Bewegung geraten ist, was lange Zeit als unverrückbar gegolten hat. Und dies betrifft nicht nur die Grenze zwischen Staat und Bürger, die letztlich der Gegenstand dieser Tagung ist, sondern dies gilt auch für das Individuum bezüglich der Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit. Erweist sich die Transparenzgesellschaft daher vielleicht letztendlich nur als ein „Mythos“, wie es unlängst unweit von hier auf dem Hambacher Schloss der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit bewusst sehr provozierend formuliert hat? Wie auch immer diese Frage zu beantworten ist, jedenfalls ist
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eine Auseinandersetzung mit den Chancen, Risiken und Grenzen staatlicher Transparenz überfällig. Hierzu möchte diese Speyerer Demokratietagung ihren Beitrag leisten.
Ein paradigmatischer Wandel vom Amtsgeheimnis zum gläsernen Staat? Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sehr geehrte Damen und Herren, um dem Thema meines Vortrages gerecht werden, um also von einem paradigmatischen Wandel überhaupt reden zu können, ist naturgemäß ein kurzer Rückblick in die einschlägige rechtspolitische Vergangenheit unerlässlich. In der neueren Literatur, die sich mit der Zweck- und Sinnhaftigkeit des Amtsgeheimnisses oder mit dessen Gegenstück, der absoluten Transparenz staatlichen Handelns befasst, wird häufig darauf hingewiesen, dass die Geheimhaltung des Staatshandelns in Deutschland eine bis in die Gegenwart hineinreichende und, vor allem, fraglos unterstellte Selbstverständlichkeit gewesen sei. So wird nicht selten der Eindruck erweckt, als entspräche es einer Art politischen Mentalität, einer ausgeprägten Staatsehrfurcht der Deutschen, im Handeln des Staates etwas prinzipiell Geheimnisvolles, etwas vor der breiten Öffentlichkeit unbedingt zu Verbergendes zu sehen. Als ein Beleg für diese These, die ich hier weder näher erörtern noch bewerten möchte, wird oft der deutsche Soziologe Georg Simmel angeführt, der in seinem mit „Soziologie“ betitelten und 1908 erschienenen Standardwerk, geschrieben habe, dass „das Geheimnis, (…) das Verbergen von Wirklichkeiten eine der größten Errungenschaften der Menschheit (…)„ und eine Form des Handelns sei, „ohne die angesichts unsres sozialen Umgebenseins gewisse Zwecke überhaupt nicht erreichbar (seien)“ Nun, sehr geehrte Damen und Herren, was manche der heutigen Autoren übersehen oder übergehen, ist, dass der Soziologe Georg Simmel mit dieser emphatischen Lobpreisung des Geheimnisses, weniger das Amtsgeheimnis, wohl aber das identitätsstiftende, private Geheimnis, das individualisierende Fürsichbehalten und Fürsichbehaltenkönnen in den Blick nimmt. In wunderschön formulierten Sätzen bricht Simmel eine Lanze für die Privatheit. So schreibt er: „Die fruchtbare Tiefe der zwischenmenschlichen Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene täglich von neuem zu erobern reizt, ist nur der Lohn jener Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere Privateigentum (des anderen) respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen lässt.“
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Völlig anders wird allerdings die Tonlage Georg Simmels, wenn es um das geheime Handeln des Staates geht. In kritischer Absicht erwähnt er, dass unter dem englischen König Georg III. (1738 – 1820) die englischen Parlamentsverhandlungen geheim waren. Presseverlautbarungen, die Verhandlungen des englischen Parlaments zum Gegenstand hatten, wurden strafrechtlich verfolgt und ausdrücklich als Verletzung der parlamentarischen Privilegien geahndet. In der Vergangenheit hätten die Regierungen aufs ängstlichste darauf geachtet, etwa die Beträge der Staatsschulden, die Steuerverhältnisse und die Kopfzahl des Militärs geheim zu halten. Eine Praxis, die Simmel zu der spöttisch vorgetragenen Bemerkung veranlasst, dass die Gesandten in dieser Zeit vielfach „nichts Besseres zu tun hatten, als zu kundschaften, Briefe zu unterschlagen, Personen, die irgendetwas wussten, bis zu dem Dienstpersonal herunter zum Ausplaudern zu bringen.“ Nun aber seien im Zuge historischer Entwicklungen und der Modernisierungsschübe, die die Staaten, nicht zuletzt auch das deutschen Kaiserreich, durchlaufen haben sowie der damit verbundenen Verwaltungsrationalisierung die Staaten in abnehmendem Maße auf Geheimhaltung angewiesen. Die fortschreitende kulturelle Differenzierung führe letztlich dazu, dass die Angelegenheiten der Allgemeinheit künftig immer öffentlicher, die der Individuen hingegen immer sekreter werden. Und in Zukunft werde, so Simmel, das Öffentliche immer öffentlicher und das Private immer privater werden. Endlich wird (ich zitiere) „Alle Demokratie die Publizität für den an sich wünschenswerten Zustand halten, von der Grundvoraussetzung aus: dass jeder diejenigen Ereignisse und Verhältnisse, die ihn angehen, auch kennen solle – da dies die Bedingung davon ist, dass er über sie mit zu beschließen hat, und jedes Mitwissen enthält auch schon die psychologische Anreizung mittun zu wollen.“ Ganz ähnlich sieht das auch Georg Simmels Professorenkollege und Freund Max Weber. Zwar sei, so führt Max Weber in seiner 1921 posthum erschienenen Aufsatzsammlung Wirtschaft und Gesellschaft aus, bürokratische Verwaltung ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit Ausschluss der Öffentlichkeit. Dies gelte vor allem für die Schnittstelle von Öffentlichem und Privatem, besonders also dann, wenn private Belange, wie etwa Geschäftsgeheimnisse, Gegenstand bürokratischer Behandlung sind. Jedoch, so Max Weber ähnlich kritisch wie Georg Simmel, weit über solche Gebiete rein sachlich motivierter Geheimhaltung hinaus, wirke auch das reine Machtinteresse der Bürokratie als solches. So sei der Begriff des „Amtsgeheimnisses“ eine spezifische Erfindung der Bürokratie und nichts werde von ihr mit solchem Fanatismus verteidigt, wie eben diese, außerhalb jener spezifisch qualifizierten Gebiete rein sachlich nicht motivierbare Attitüde. Damit haben wir, sehr geehrte Damen und Herren, am Beispiel zweier renommierter deutscher Geisteswissenschaftler skizzenhaft die Eckpunkte zusammen, die fortan den wissenschaftlichen und politischen Diskurs über Geheimhaltung, ihre Rationalität und ihre Grenzen, bis in unsere Gegenwart hinein bestimmen. Wie die zitierte Bemerkung Georg Simmels schon andeutet, der zufolge die Demo-
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kratie der Publizität bedarf, um dem Souverän Einsichten in jene Angelegenheiten zu vermitteln, über die er demokratisch zu entscheiden hat, reichen die Wurzeln dieses Diskurses bis tief in die europäische Aufklärung. Ich will das hier nicht vertiefen und nur mit ein paar Worten auf Immanuel Kant verweisen. Für den war Publizität nicht allein ein unter republikanischen Gesichtspunkten notwendiger und wünschenswerter Zustand, deren „Durchsetzung oder Verhinderung der eigentliche Kampfplatz der Auseinandersetzungen zwischen Restauration und Liberalismus“ war (E.G. Mahrenholz). Vielmehr wurde Publizität bei Kant geradezu zu einem, ja, zu dem Prinzip des Rechts erhoben, was in dem oft zitierten Satz „Alle auf Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, ist unrecht“ zum Ausdruck kommt. Nebenbei erlaube ich mir an dieser Stelle den Hinweis, dass die unter dem Titel „Der geheime Staat“ im Internet frei zugängliche Habilitationsschrift des in Erlangen-Nürnberg lehrenden Rechtswissenschaftlers Bernhard W. Wegener keine Wünsche offen lässt, wenn man sich über Informationsfreiheit und deren historische und philosophische Genese näher informieren möchte. I. Informationsfreiheit in Europa: Gesetzliche Grundlagen Im nächsten Abschnitt meines Vortrages, sehr geehrte Damen und Herren, möchte ich Ihnen die auf europäischer und nationaler Ebene geltenden Rechtsgrundlagen zur Informationsfreiheit in der gebotenen Kürze skizzieren. 1. Europarat In Europa stammt die älteste übernationale Initiative, der Öffentlichkeit einen möglichst unbeschränkten Zugang zu Informationen und Dokumenten des Staates und seiner Verwaltung gesetzlich einzuräumen, von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Sie hatte bereits im Jahre 1979 die Empfehlung 854 (1979) beschlossen, in der das Ministerkomitee des Europarats aufgefordert wurde, „die Mitgliedstaaten (…) aufzufordern ein System der Informationsfreiheit, das heißt, des Zugangs zu Regierungsakten einzuführen.“ In ihm sollte unter anderem „das Recht, von Regierungsbehörden und Regierungsstellen Informationen zu verlangen und zu erhalten, das Recht auf Einsichtnahme und Korrektur persönlicher Akten, das Recht auf eine Privatsphäre und das Recht auf schnelle Maßnahmen vor den Gerichten in diesen Angelegenheiten (…)“ festgeschrieben werden. Das Ministerkomitee griff die Initiative der Parlamentarischen Versammlung auf und verabschiedete am 25. November 1981 die an die Mitgliedstaaten gerichtete Empfehlung R (81) 19. Dort sollte unter anderem geregelt werden, dass (1) der Zugang zu behördlichen Informationen nicht vom „berechtigten Interesse“ des Antragsteller abhängig gemacht werden darf, (2) die Ablehnung eines Informationsersuchens unter Angabe ihrer gesetzlichen Grundlagen begründet werden muss und
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(3) Rechtsmittel zur Anfechtung eines ablehnenden Bescheides der Behörde zugelassen werden müssen. Im Lichte der inzwischen in vielen Mitgliedstaaten erlassenen Informationsfreiheitsgesetze wurde die Empfehlung des Ministerkomitees am 21. Februar 2002 neu gefasst und als Empfehlung R (2002) 2 verabschiedet. Neben einer weiteren Konkretisierung der Anforderungen an eine Informationszugangsgesetzgebung wurde in ihr erstmals ein Zusammenhang zwischen Informationsfreiheit und den Grundrechten, wie sie etwa in den Artikeln 6, 8 und 10 der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der EMRK, normiert sind, hergestellt. Als vorläufig letzte Initiative des Europarats kann der Entwurf einer die Mitgliedstaaten bindenden Konvention über den Zugang zu Dokumenten angesehen werden, die am 18. Juni 2009 in Tromsö verabschiedet wurde, aber bisher nur von sechs Staaten ratifiziert und deshalb noch nicht in Kraft getreten ist. 2. Europäische Union Ausgangspunkt der Informationsfreiheitsgesetzgebung auf EU-Ebene ist die Verordnung VO (EG) Nr. 1049/2001, die vom Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission verabschiedet und am 3. Dezember 2001 in Kraft getreten ist. Danach gilt grundsätzlich ein Recht auf Zugang zu den Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rats und der Europäischen Kommission. Jeder Unionsbürger, sowie jeder, der seinen Wohn- oder Geschäftssitz in der Europäischen Union hat, kann dieses Recht mit gewissen Einschränkungen in Anspruch nehmen. Dies gilt nicht nur für Dokumente, die bei den Organen selbst erzeugt werden, sondern auch für jene, die von außen in die Geschäftsgänge der Organe eingehen. Außerdem sind die Organe verpflichtet, für große Teile ihres Informationsbestandes elektronische Register zu führen, auf die seitens der Öffentlichkeit zugegriffen werden kann. Hinsichtlich der Möglichkeiten, Informationsbegehren begründet abzuwehren, unterscheidet sich die genannte Europäische Verordnung inhaltlich und strukturell nur unwesentlich von den entsprechenden Regelungen des deutschen Informationsfreiheitsgesetzes. Ein von der Kommission 2008 vorgelegter Vorschlag zur Reform der Transparenzverordnung ist auf großen Widerstand des Europäischen Parlaments gestoßen, das seinerseits einen Gegenentwurf (Cashmen-Report) erarbeitete, der im Dezember 2011 vom Parlament mehrheitlich verabschiedet wurde. Danach sollte der Informationszugang erweitert und der Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf alle Behörden der EU ausgeweitet werden. Rat und Kommission haben die Vorschläge jedoch auf Eis gelegt. II. Nationale und deutsche Regelungen Hinsichtlich der Informationsfreiheit bildet das in Schweden bereits 1766 in die Verfassung aufgenommene Öffentlichkeitsprinzip eine absolute historische Ausnah-
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me. Jede Akte, die von einer schwedischen staatlichen oder kommunalen Behörde geführt wird, ist mit einigen Unterbrechungen seitdem für jedermann und zwar ohne Begründung und Beschränkung einsehbar. Der Schutz persönlicher Daten, wie etwa der Schutz persönlicher Einkommens-, Steuer- oder Sozialverhältnisse sind dem schwedischen Recht unbekannt. In anderen europäischen Staaten wurde die Informationsfreiheit 1966 in Finnland, 1979 in Frankreich, 1986 in Griechenland, 1987 in Österreich, 1990 in Italien, 1995 in den Niederlanden und Belgien und 2004 in der Schweiz auf einfachgesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Ebene geregelt. In Deutschland wurde das Informationsfreiheitsgesetz als Bundesgesetz erst am 01. Januar 2006 in Kraft gesetzt. Nun ist es nicht so, wie Sie vermutlich alle wissen, dass vor der Verabschiedung des Informationsfreiheitsgesetzes in Deutschland und anderswo den Bürgerinnen und Bürgern die Einsicht in oder Informationen aus Behördenakten grundsätzlich verwehrt gewesen sei. Es gab immer schon und es gibt immer noch eine Reihe spezialgesetzlicher Regelungen, die ein Recht auf Information, insbesondere ein Recht auf Einsicht in Behörden- und Gerichtsakten kodifizieren. Zu denken wäre etwa an die §§ 147, 385, 397 und 406 der Strafprozessordnung, die allesamt Akteneinsichtsrechte der als Beschuldigte, Opfer oder als Privat- und Nebenkläger an einem Strafprozess beteiligten Personen zum Inhalt haben. Andere Beispiele sind der § 299 der Zivilprozessordnung, der § 100 der Verwaltungsgerichtsordnung sowie der § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, die die Akteneinsichtsrechte der Parteien im Zivilprozess und der Beteiligten in Verwaltungsprozessen regeln. Im Übrigen alles Regelungen, die als unabhängige Rechte neben den durch das Informationsfreiheitsgesetz gewährten Rechten nach wie vor nicht nur eigenständige Bedeutung und Bestand haben, sondern, mit Ausnahme des genannte § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und des § 25 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch, dem Informationsfreiheitgesetz vorgehen. Unterstützung verdient die oft erhobene Forderung, das Verhältnis der Spezialgesetze zum IFG klarzustellen und eindeutige Verweisungsregelungen vorzusehen. Das fundamental neue am Informationsfreiheitsgesetz ist, dass das Recht auf Information nun jedem, Jedermann, zusteht und nicht, wie in den eben genannten Beispielen, von einer persönlichen Verfahrensbeteiligung, oder einem „berechtigten Interesse“ des Auskunftsersuchenden abhängig ist. Der § 1 Absatz 1 IFG sagt: „Jeder hat (…) gegenüber den (…) Behörden einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen.“ Außerdem, auch das eine gewisse Neuerung, ist die Gewährung des Informationsrechts nun grundsätzlich nicht mehr vom Ermessen der um Information nachgesuchten Behörde abhängig. Natürlich kann auch nach Maßgabe des Informationsfreiheitsgesetzes die um Information ersuchte Behörde ein Informationsbegehren ganz oder teilweise ablehnen. Allerdings kann sie dies nur dann, wenn sie einen der im Informationsfreiheitsgesetz in den §§ 3 bis 6 IFG abschließend aufgeführten Gründe geltend machen kann. So können, beziehungsweise müssen Informationsbegehren von der Behörde abgelehnt werden, um
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§ gemäß § 3 IFG den Schutz besonderer öffentlicher Belange, § gemäß § 4 IFG den Schutz des behördlichen Entscheidungsprozesses, § gemäß § 5 IFG den Schutz personenbezogener Daten und schließlich § gemäß § 6 IFG den Schutz des geistigen Eigentums und von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sicherzustellen. In der Praxis geht es seit dem Inkrafttreten der Transparenzverordnung um die Auslegung und die von vielen Bürgern geforderte restriktive Anwendung der Ausnahmetatbestände. III. Informationsfreiheit und Rechtsprechung Sehr geehrte Damen und Herren, im vorletzten Abschnitt meines Vortrages möchte ich nun einige Anmerkungen zu der die Informationsfreiheit tangierenden Rechtsprechung machen. Dabei werde ich mich auf die deutsche Rechtsprechung, das heißt, auf die des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts beschränken, und aus der letztgenannten nur zwei Einzelentscheidungen etwas näher behandeln. 1. Bundesverfassungsgericht Zunächst also zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Zum Amtsgeheimnis generell hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits sehr früh, nämlich am 28. April 1970 in einem Urteil geäußert, das wir heute wahrscheinlich Whistleblower-Urteil nennen würden. (BVerfGE 28, 191) Mit Blick auf die hier zu behandelnde Informationsfreiheit ist das Urteil allerdings nur insofern interessant, als das Gericht dort dem Amtsgeheimnis genau jene Unfraglichkeit beizumessen scheint, wie sie von den am Anfang meines Vortrages erwähnten Kritikern der deutschen Bürokratie vorgehalten wurde. Das Gericht sagt nämlich (ich zitiere) „Es bedarf keiner näheren Begründung, dass die öffentliche Verwaltung nur dann rechtstaatlich einwandfrei zuverlässig und unparteiisch arbeiten kann, wenn sichergestellt ist, dass über die dienstlichen Vorgänge von Seiten der Behördenbediensteten nach außen grundsätzlich Stillschweigen bewahrt wird.“ Wichtiger als das, ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Laufe seiner Rechtsprechung eine Reihe von Organstreitverfahren durchgeführt hat, in denen es um das Amtsgeheimnis, im Kern aber um die Frage ging, ob und inwieweit die Exekutive berechtigt ist, Informationsbegehren anderer Verfassungsorgane mit Berufung auf das Amtsgeheimnis abzuweisen. Weil in diesen Verfahren nicht die Verfassungskonformität des Informationsfreiheitsgesetzes, sondern das Rechtsverhältnis der staatlichen Verfassungsorgane untereinander zur verfassungsrechtlichen Bewertung und Klärung anstand, sind diese Urteile des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht unmittelbar auf die Auslegung des Informationsfreiheitsgesetzes anwendbar. Gleichwohl kann sich aus den hier zu betrachtenden Entscheidungen des Bundesverfas-
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sungsgerichts eine gewisse Relevanz für die Auslegung des Informationsfreiheitsgesetzes ergeben. Und zwar vor allem dann, wenn und soweit das Gericht in seinen Entscheidungen Informationen oder Informationsbereiche identifiziert, auf die selbst andere Verfassungsorgane keinen Zugriff beanspruchen können und die deshalb erst recht vor dem Zugriff seitens der Öffentlichkeit geschützt sind. Als Ausgangspunkt der insofern hier bedeutsamen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann dessen Urteil zum Flick-Untersuchungsausschuss vom 17. Juli 1984 (BVerfGE 67, 100) herangezogen werden. Gegenstand dieses Verfahrens war die Frage, ob die Bundesregierung dadurch gegen Art. 44 GG verstoßen hat, dass sie die vom Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages (dem sogenannten Flick-Ausschuss) angeforderten Akten unter Berufung auf das Steuergeheimnis nur unvollständig vorgelegt hat. Im Ergebnis kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass die Bundesregierung mit der Weigerung, die vom Untersuchungsausschuss verlangten Akten vollständig herauszugeben, gegen Artikel 44 des Grundgesetzes verstoßen hat. Neben diesem Urteil kommt das Gericht in seinen obiter dicta nun zu einer Reihe von Feststellungen, die auch für die Anwendung und Auslegung des Informationsfreiheitsgesetzes bedeutsam sind: So sagt das Bundesverfassungsgericht zunächst einschränkend, dass sich (ich zitiere): „nur unter ganz besonderen Umständen Gründe finden lassen (dürften), dem Untersuchungsausschuss Akten unter Berufung auf das Wohl des Bundes vorzuenthalten, die „sich insbesondere aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz ergeben (können).“ Denn, so fährt das Gericht fort: „Die Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung voraus, der einen auch von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt.“ Zur Frage nach den Inhalten, also zu der Frage danach, welche Informationen und Vorgänge dem insoweit absolut geschützten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung unterfallen, nennt das Bundesverfassungsgericht beispielhaft „die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und ressortinternen Abstimmungsprozessen vollzieht. Demnach erstreckt sich laut Bundesverfassungsgericht die Kontrollkompetenz des Bundestages gegenüber der Bundesregierung „grundsätzlich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge“. Und vor allem enthält diese Kontrollkompetenz des Bundestages „nicht die Befugnis, in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorgänge einzugreifen.“ Und selbst bei abgeschlossenen Vorgängen „(…) sind Fälle möglich, in denen die Regierung aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung geheim zu haltende Tatsachen mitzuteilen nicht verpflichtet ist.“ Mit dem Hinweis auf einen „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung“ entsteht nach diesem Urteil nun zunächst das Bild eines absolut unantastbaren und abwägungsfesten Informationsbereichs, der aus verfassungsrechtlichen Gründen
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dem Zugriff anderer von vorneherein verschlossen ist. Erhebliche Modifizierungen dieses Bildes vom unantastbaren Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung haben sich in der Folge durch zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2009 ergeben. (BVerfGE 124, 78 vom 17. Juni 2009 und BVerfGE 124, 161 vom 1. Juli 2009) In dem hier zuerst zu behandelnden Organstreitverfahren zwischen Bundestag und Bundesregierung ging es um die Frage, ob die Aussagebeschränkungen, die die Bundesregierung den geladenen Zeugen im Untersuchungsausschuss „Geheimgefängnisse“ auferlegt hatte, mit dem Grundgesetz, genauer, mit Art. 44 GG vereinbar waren. Die Antragsgegnerin, die Bundesregierung, hatte von der Genehmigung, vor dem Untersuchungsausschuss als Zeuge auszusagen, Vorgänge ausgenommen, die, so wörtlich, dem Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung zuzurechnen sind. Dies betrifft, so führt die Bundesregierung ihre Begründung weiter, „insbesondere Angaben über die Willensbildung der Bundesregierung durch Erörterungen im Kabinett oder ressortübergreifende und -interne Abstimmungsprozesse zur Vorbereitung von Kabinett- und Ressortentscheidungen sowie Angaben und Erklärungen, die unter Geheimhaltungsgrade fallen, weil besondere Gründe des Wohls des Bundes (…) entgegenstehen, insbesondere wenn Nachteile für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für ihre Beziehungen zu anderen Staaten zu besorgen sind.“ Der eine oder andere von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, mag bemerkt haben, dass die Bundesregierung zur Begründung des über die Untersuchungsausschuss-Zeugen verhängten partiellen Aussageverbots fast wörtlich die oben angeführten obiter dicta aus der damals schon 25 Jahre alten Flick-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts übernommen hatte. Dieses unter rechtspolitischer Perspektive möglicherweise als geschickt anzusehende Vorgehen der Bundesregierung, konnte allerdings das Bundesverfassungsgericht nicht überzeugen. Um es also vorweg zu nehmen: Im Ergebnis des Organstreitverfahrens stellte das Gericht fest, dass die Begründung des partiellen Aussageverbots den Anforderungen des Grundgesetzes nicht genügt, das verhängte Aussageverbot gegen Art. 44 GG verstößt und somit verfassungswidrig sei. Der zweiten in unserem Zusammenhang bedeutsamen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag ein von einigen Abgeordneten und einer Bundestagsfraktion angestrengtes Organstreitverfahren zu Grunde. Es richtete sich gegen die nach Rechtsauffassung der Antragsteller unzureichende Beantwortung zweier Kleiner Anfragen, in denen von der Bundesregierung Auskunft darüber verlangt wurde, ob und welche Informationen durch den Bundesnachrichtendienst (BND) über Abgeordnete des Deutschen Bundestages gesammelt, gespeichert oder weitergegeben würden oder worden seien. Die Bundesregierung hatte Antworten auf diese Fragen abgelehnt und dies damit begründet, dass durch die Offenlegung von Einzelheiten zu Arbeitsweise, Strategien, Methoden und Erkenntnisstand die Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste gefährdet seien. Auch hier, sehr geehrte Damen und Herren, kann ich den Verfahrensausgang vorweg nehmen. Das Gericht
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entschied, dass die Bundesregierung die Antragsteller und den Deutschen Bundestag in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 dadurch verletzt hat, dass sie die erbetenen Auskünfte unter Berufung auf verfassungsrechtlich nicht tragfähige Erwägungen verweigert hat. In unserem Zusammenhang wichtiger als der Ausgang der beiden Verfahren sind allerdings die vom Bundesverfassungsgericht als Entscheidungsgründe oder obiter dicta niedergelegten Erwägungen. Bei deren Darstellung lehne ich mich an einen Aufsatz von Sigrid Emmenegger an, der unter dem Titel „Die Stärkung des Parlaments in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ in einem 2011 in Berlin erschienenen Aufsatz-Sammelband veröffentlich wurde. Das Bundesverfassungsgericht knüpft zwar in beiden Verfahren an die im Flick-Verfahren entwickelten Formeln an. Um dann allerdings einschränkend festzustellen, dass parlamentarische Informationsrechte in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge nicht grundsätzlich immer dann ausscheiden, wenn es sich um Akten aus der Willensbildung der Regierung einschließlich der vorbereitenden Willensbildung innerhalb der Ressorts und der Abstimmung zwischen ihnen, handelt. Damit wird das suggestive Bild von einem unantastbaren Kernbereich an zentraler Stelle durch den eher nüchternen Begriff der „regierungsinternen Willensbildung“ ersetzt. Für abgeschlossene Vorgänge, gibt es danach keinen umgrenzten exklusiven Bereich mehr, der von den Zugriffsrechten des Parlaments per se ausgeschlossen wäre. Nach wie vor räumt das Gericht ein, dass der Informationsanspruch zwar Beschränkungen unterliege, soweit der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betroffen sei, um dann allerdings zu sagen, dass die nähere Grenzziehung aber der Würdigung im Einzelfall bedürfe. Es sei, so das Gericht, unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände zu prüfen, ob zu erwarten ist, dass die Herausgabe von Informationen die Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung der Regierung beeinträchtigen würde. Dies erfordere eine Abwägung zwischen gegenläufigen Belangen und um diese Abwägung nachvollziehbar zu machen, sei gegebenenfalls eine entsprechend substantiierte Begründung erforderlich. Insofern trage die Regierung eine besondere Darlegungslast. Nicht das informationsersuchende Parlament muss sein Informationsinteresse begründen, sondern umgekehrt die Regierung ihre Informationsverweigerung. Auf erhöhte Darlegungspflichten der Bundesregierung verweist das Gericht auch für die Fälle hin, wo die Informationsverweigerung mit dem Staatswohl und der Geheimhaltungsbedürftigkeit begründet wird. Auch in diesen Fällen rechtfertigen nur ganz besondere Umstände eine Informationsverweigerung und die seien nicht schon dann gegeben, wenn es sich um Informationen handelt, deren Bekanntwerden der Regierung Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Nach alledem, sehr geehrte Damen und Herren, hat sich der Ausgangspunkt der Flickentscheidung in der weiteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eindeutig zugunsten erhöhter Transparenz verschoben. Die Regel besagt nicht mehr, dass Vorgänge aus dem Kernbereich der Regierung dem Zugriff des Parlaments entzogen sind, sondern sie liegt nun umgekehrt in der Feststellung, dass Vor-
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gänge aus dem Bereich der regierungsinternen Willensbildung grundsätzlich dem Zugriff unterliegen und der Regierung, falls sie den Zugriff verweigern will, erhebliche Begründungs- und Darlegungspflichten auferlegt sind. 2. Bundesverwaltungsgericht Und nun einige Ausführungen zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: Wie schon gesagt, will ich hier nur zwei allerdings richtungsweisende Entscheidungen zwar nicht erschöpfend aber doch etwas näher erläutern. Zwei Entscheidungen, die stellvertretend für die Tendenz vieler anderer Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen können. Zunächst eine Entscheidung aus dem Jahre 2009 (BVerwGE 7 C 21.08 vom 29. Oktober 2009) zum § 3 Nr. 4 des Informationsfreiheitsgesetzes. Hintergrund des Revisionsverfahrens beim Bundesverwaltungsgericht war der Antrag eines Redakteurs einer Fachzeitschrift für Ausländerrecht. Er hatte unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz vom Auswärtigen Amt die Ablichtung eines ausländerrechtlich relevanten Dokuments verlangt, das von der Behörde als Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch – eingestuft worden war. Mit Verweis auf diese Einstufung und dem Hinweis, dass sich ein Bekanntwerden des Dokuments auf die im Verantwortungsbereich des Amtes liegenden ausländerrechtlichen Verfahren nachteilig auswirken würde, hatte das AA den Antrag abgelehnt. Nach erfolglosem Widerspruch hatte daraufhin der Redakteur beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage erhoben und beantragt, das Auswärtige Amt zur Aufhebung seiner entgegenstehenden Bescheide und zur Herausgabe des verlangten Dokuments zu verpflichten. Mit der Begründung, dass bereits die Einstufung des verlangten Dokuments als Verschlusssache einen Anspruch auf Informationszugang ausschließe, hat das zuständige Verwaltungsgericht jedoch die Klage des Redakteurs abgewiesen. Eben wegen seiner Einstufung als Verschlusssache unterliege, so das Verwaltungsgericht, das verlangte Dokument der Geheimhaltungs- und Vertraulichkeitspflicht im Sinne des § 3 Nr. 4 des Informationsfreiheitsgesetzes. Die Frage, ob die Einstufung als Verschlusssache durch die Behörde gerechtfertigt war, sei in diesem Zusammenhang nicht zu prüfen und für das Verfahren unerheblich. In der daraufhin vom Kläger in Anspruch genommenen Sprungrevision, die wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen worden war, hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings gegenteilig entschieden und das Verfahren zur erneuten Beschlussfassung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Der Gesetzgeber habe in der Begründung des Informationsfreiheitsgesetzes dargelegt, dass die Rechtmäßigkeit der Herausgabeverweigerung eines als Verschlusssache deklarierten Dokuments in einem in-camera-Verfahren nach § 99 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) überprüft werden könne. Daraus ergebe sich, dass allein die formelle Einstufung des verlangten Dokuments als Verschlusssache nicht ausreiche, das Informationsbegehren des Klägers abzuweisen. Vielmehr müsse das entschei-
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dende Gericht prüfen, ob die Einstufung in materiell-rechtlicher Hinsicht den Anforderungen der Verschlusssachenanweisung genügt. Das zweite Verfahren, das ich Ihnen skizzieren möchte, stammt aus dem Jahre 2011 (BVerwGE 7 C 4.11 vom 3. November 2011). Ausgangspunkt war der Antrag eines Rechtsanwalts auf Zugang zu Stellungnahmen, die das Bundesministerium der Justiz in zwei Petitionsverfahren gegenüber dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages abgegeben hatte. Das Bundesministerium der Justiz lehnte den Antrag des Rechtsanwalts mit der Begründung ab, dass es mit der Erarbeitung und Abgabe von Stellungnahmen im Petitionsverfahren nicht Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrgenommen, sondern Regierungstätigkeit ausgeübt habe. Insofern könne das Ministerium in diesem Verfahren nicht als informationspflichtige Behörde im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 des Informationsfreiheitsgesetzes angesehen werden. Das angerufene Oberverwaltungsgericht widerspricht dieser Auffassung des Bundesministeriums der Justiz und führt insbesondere aus, dass das Bundesministerium der Justiz zu den auskunftspflichtigen Behörden im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes gehöre. Die vom Ministerium geltend gemachte Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Regierungshandeln sei im Gesetz nicht angelegt und auch nach dem Zweck des Gesetzes nicht gerechtfertigt. Auch komme es nicht darauf an, dass das Ministerium mit der Abgabe von Stellungnahmen gegenüber dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine verfassungsrechtliche Verpflichtung erfülle. Und endlich, so das Gericht, stünden die im Gesetz vorgesehenen Versagungsgründe dem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Insbesondere könne sich das Bundesministerium der Justiz hier nicht auf den Schutz der Vertraulichkeit von Beratungen berufen. Mit der gleichen Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht eine Revision des Oberverwaltungsgerichtsurteils schließlich abgelehnt. IV. Fazit Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte das Fazit meines Vortrages auf drei Punkte konzentrieren: 1. Inanspruchnahme der Informationsfreiheit Über die Zahl der auf der Basis des IFG bei den deutschen Bundesbehörden gestellten Anträge führt das Bundesinnenministerium eine umfassende Statistik. Danach wurden an die Geschäftsbereiche der Bundesministerien im Jahre 2011 insgesamt 3.280, im Jahre 2012 insgesamt 6.077 und im Jahre 2013 insgesamt 4.736 Anträge auf Informationszugang nach dem IFG gestellt. Von den 4.736 Anträgen entfielen allein auf das Bundesfinanzministerium 1.390, auf das Wirtschaftsministerium 662 und auf das Arbeitsministerium 507 Anträge. Von der Gesamtheit der Anträge wurden 786 von den ersuchten Behörden abgelehnt. Das entspricht einer durchschnittlichen Ablehnungsquote von 16,6 %, die beim Bundesarbeitsministerium
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mit 24 % und beim Bundesfinanzministerium mit 20,1 % überdurchschnittlich hohe und beim Bundesministerium der Justiz mit 7,4 % und Bundesministerium für Entwicklung mit 0 % äußert niedrige Werte aufweist. Auf EU-Ebene hatten die drei Organe, Parlament, Rat und Kommission im Jahre 2012 zusammen etwa 8.000 Informationsbegehren nach Maßgabe der Europäischen Transparenzverordnung zu bearbeiten, wovon die weitaus meisten Anträge, nämlich etwa 66 %, bei der Kommission gestellt wurden. Etwa 87 % der Anträge wurden positiv beschieden. Kritisch angemerkt wird zuweilen die Tatsache, dass die meisten aller Auskunftsersuchen einzelfallbezogen sind und vorwiegend aus professionellen Gründen und Interessen (etwa seitens der Rechtsanwaltschaft und des Fachjournalismus) gestellt werden. Ob daraus zu schließen ist, dass die gesetzlich geregelte Informationsfreiheit einen eher nachrangigen Beitrag zur demokratischen Meinungsbildung breiter Bevölkerungskreise liefert, ist fraglich. Ich teile diese von einigen vertretene Auffassung nicht. Transparenz trägt in jedem Fall zu mehr Vertrauen der Bürger in politische Entscheidungsabläufe bei. Auch muss berücksichtigt werden, dass die europäischen wie auch die deutschen Behörden nach Inkrafttreten der Informationsfreiheitsgesetze schon aus Arbeitsentlastungsgründen ihre Internetangebote an ständig verfügbaren und ständig aktualisierten Informationen erheblich ausgeweitet haben. 2. Rechtsprechung stärkt die Informationsfreiheit In der Rechtsprechung ist eine deutliche Tendenz dahingehend auszumachen, dass die zur Durchsetzung von Informationsansprüchen eingeschalteten Gerichte mit ihren Entscheidungen die Informationsfreiheit stärken. Das gilt für das Bundesverfassungsgericht, für das Bundesverwaltungsgericht, für den Europäischen Gerichtshof und selbst für die allerdings nur geringe Anzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Diese Tendenz korrespondiert mit den von allen Gerichten durchweg höher geschraubten Anforderungen an die Begründungen und Begründungspflichten der Behörden, falls diese die Herausgabe verlangter Informationen verweigern wollen. Pauschale Hinweise auf die öffentliche Sicherheit, interne Behördenberatungen, betroffene Drittinteressen oder Geheimhaltung reichen nicht aus. Eine gewisse Ausnahme davon scheinen allerdings die Fälle zu bilden, in denen sich das Informationsbegehren auf noch nicht abgeschlossene Behördenvorgänge bezieht und mit ihm zusätzlich Bereiche des Persönlichen, des geschäftlichen oder privaten, tangiert sind. Wo also die Ansprüche auf Informationsfreiheit mit den Ansprüchen auf Schutz persönlicher Daten und Informationen in Kollision geraten. Das vor zwei Tagen vom Bundesverfassungsgericht gefällte Urteil zur Informationsfreiheit bei Rüstungsgüterexporten (BVerfG 2 BvE 5/11 vom 21. 10. 2014) ordnet sich in diese Linie ein. Mit Bezug auf die Gewaltenteilung und besonders Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen wird den Abgeordneten nur der Zugang zu den Informatio-
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nen über den Beschluss, ob ein Rüstungsexport genehmigt wurde oder nicht, gewährt. Und die Bundesregierung muss ihre Entscheidung gegenüber dem Parlament nicht begründen. 3. Paradigmenwechsel Nach alledem scheint die eingangs meines Vortrags erwähnte Prognose Georg Simmels, wonach das Öffentliche immer öffentlicher und das Private immer privater wird, eine Bestätigung zu erfahren. Das Amtsgeheimnis wird mit allerdings zunehmend höher werdenden Begründungspflichten und Begründungslasten erhalten bleiben. Einen Paradigmenwechsel vom Amtsgeheimnis zum gläsernen Staat wird es voraussichtlich nicht geben. Wohl aber wird sich das Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehren. Wenn die Geheimhaltung staatlichen Handelns einst die Regel, deren Publizität die Ausnahme war, so wird in Zukunft die Publizität des staatlichen Handelns die Regel und dessen Geheimhaltung die Ausnahme sein. Eine Entwicklung, die unbedingt zu begrüßen ist.
Zwischen Öffentlichkeit und Datenschutz Peter Schaar In der parlamentarischen Beratung über das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG) wurde auch über die Frage diskutiert, ob es sinnvoll sei, den Bundesbeauftragten für den Datenschutz mit der zusätzlichen Aufgabe des Schutzes der Informationsfreiheit zu betrauen. Zu den Kritikern einer solchen Zusammenfassung beider Aufgaben gehörte auch der damalige Bundesinnenminister Otto Schily, der bekanntlich dem gesamten Vorhaben eines Jedermannanspruchs auf Zugang zu staatlichen Informationen skeptisch gegenüber stand. In der Brust des Bundesbeauftragten – so seine Befürchtung – könnten da „zwei Seelen in einer Brust“ wohnen: „Als Anwalt sei er ja auch skeptisch gegenu¨ ber dem Anspruch der Staatsanwaltschaft gewesen, die objektivste Behörde der Welt zu sein, die sozusagen auch die Verteidigung u¨ bernehmen kann. Deshalb sage ich, es ist schwierig, dem Datenschutzbeauftragten zugleich das Feld der Information zu u¨ bertragen. Er kann da in einen Konflikt kommen. Er mu¨ sste dann fu¨ r sich diesen Interessenkonflikt ausgleichen.“1 Gleichwohl hat der Deutsche Bundestag, aus dessen Mitte der Gesetzentwurf vorgelegt worden war, auf der letzten Plenartag Sitzung seiner 15. Legislaturperiode das Gesetz beschlossen – einschließlich der umstrittenen Zusammenführung der Aufgaben der Kontrolle über die Einhaltung der Vorschriften über den Datenschutz und des Informationsfreiheitsgesetzes bei einem Beauftragten. Ab dem 1. Januar 2006 hatte ich also auch darüber zu wachen, dass die öffentlichen Stellen des Bundes die Informationsfreiheit gewährleisten. Auch wenn ich im Nachhinein feststellen kann, dass es während der knapp acht Jahre meiner gleichzeitigen Amtszeit als Datenschutz- und Informationsfreiheitsbeauftragter nur in wenigen Fällen zu einem Konflikt der beiden Aufgabengebiete gekommen ist, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es beim Datenschutz und bei der Informationsfreiheit um unterschiedliche Schutzgüter geht. Während bei der Informationsfreiheit die Transparenz staatlichen Handels im Mittelpunkt steht, ist es die grundlegende Aufgabe des Datenschutzes, die Vertraulichkeit persönlicher Informationen sicherzustellen – auf den ersten Blick sicherlich ein Widerspruch. Auf den zweiten Blick erschließt sich jedoch, dass die beiden Bereiche nicht soweit voneinander entfernt sind.
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Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Protokoll v. 17. 12. 2004, S. 13963.
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I. Vom Schutz der Privatsphäre zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung In ihrem Aufsatz „The Right to Privacy” formulierten die amerikanischen Juristen Warren und Brandeis im Jahr 1890 ein „Recht, allein gelassen zu werden“ (Right to be le(f)t alone). Angesichts der kurze Zeit zuvor erfundenen Fotografie und ihrer Verwendung in den Massenmedien zur Verbreitung von Aufnahmen aus dem Privatleben der Abgebildeten ging es Ihnen dabei um den Schutz der Privatsphäre gegen das Eindringen in geschützte Räume unter Verwendung technischer Mittel: „That the individual shall have full protection in person and in property is a principle as old as the common law; but it has been found necessary from time to time to define anew the exact nature and extent of such protection. Political, social, and economic changes entail the recognition of new rights, and the common law, in its eternal youth, grows to meet the demands of society. The press is overstepping in every direction the obvious bounds of propriety and of decency. Gossip is no longer the resource of the idle and of the vicious, but has become a trade, which is pursued with industry as well as effrontery. To satisfy a prurient taste the details of sexual relations are spread broadcast in the columns of the daily papers. …The intensity and complexity of life, attendant upon advancing civilization, have rendered necessary some retreat from the world, and man, under the refining influence of culture, has become more sensitive to publicity, so that solitude and privacy have become more essential to the individual; but modern enterprise and invention have, through invasions upon his privacy, subjected him to mental pain and distress, far greater than could be inflicted by mere bodily injury.“2 Dieser Privacy-Ansatz sollte seinerzeit gewährleisten, dass das Privatleben nicht an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Er ist angesichts der heutigen technischen Möglichkeiten, Daten über die private Lebensgestaltung mit modernen technischen Mitteln (Smartphone, Internet, eingebaute Chips) zu erfassen, immer noch hochaktuell. Gleichwohl: Datenschutz umfasst inzwischen sehr viel mehr als den Schutz der Privatsphäre. Zwar räumt das Bundesverfassungsgericht dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung dem Privatsphärenschutz seit langem verfassungsrechtlichen Rang ein, besonders akzentuiert in Urteil zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelungen zur akustischen Wohnraumüberwachung („Großer Lauschangriff“) vom 3. März 2004.3 Bereits in seiner Volkszählungsurteil von 1983 hatte das Gericht aber die Existenz eines „Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung“ festgestellt, das über den reinen Privatsphärenschutz hinausgeht: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als 2 3
Warren and Brandeis, The Right To Privacy, 4 Harvard Law Review 193 (1890). BVerfG, 1 BvR 2378/98 v. 3. 3. 2004, 2. Leitsatz.
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Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“4 Mit diesem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung formulierte das Bundesverfassungsgericht einen über den Schutz der Privatsphäre hinausgehenden, erweiterten Datenschutzbegriff. Der Datenschutz soll dem Einzelnen die Möglichkeit erhalten, selbst über die Erhebung und Verwendung seiner persönlichen Daten zu entscheiden. Die Verwirklichung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung setzt Transparenz über die Datenverarbeitung voraus. Auf dieser Linie liegt es, dass das einfachgesetzliche Datenschutzrecht (etwa §§ 6 Abs. 1, 19, 34 BDSG) dem Betroffenen ein Recht auf Zugang zu den eigenen Informationen einräumt. Der Auskunftsanspruch über die zur eigenen Person gespeicherten Daten ist ein unabdingbares persönliches Datenschutzrecht. Zudem enthalten die datenschutzrechtlichen Vorschriften weitere Benachrichtigung- und Informationspflichten zum Umgang mit den jeweiligen personenbezogenen Daten, die ebenfalls der Transparenz des Verarbeitungsprozesses dienen. Selbst bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen – etwa bei der Telekommunikationsüberwachung – müssen die Sicherheitsbehörden die Betroffenen im Regelfall nachträglich über die Tatsache und den Umfang der Datenerhebung informieren (§ 101 Abs. 4 StPO). Aber auch abseits der individuellen Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten müssen die Verantwortlichen privaten und öffentlichen Stellen bestimmte Informationen über den Datenverarbeitungsprozess bereitstellen. Sie haben den Betroffenen bereits vor der Erhebung persönlicher Daten über die Tatsache, die Rechtsgrundlage und die näheren Umstände der Datenerhebung und -verarbeitung zu informieren (etwa § 4 Abs. 3 BDSG). Schließlich müssen sie Verzeichnisse über die von Ihnen zu verantwortenden Datenverarbeitungsprozesse führen und öffentlich bereitstellen (§ 4 g Absätze 2, 2a BDSG). Nur wenn der Betroffene darüber Bescheid weiß, von wem und für welchen Zweck personenbezogene Daten erhoben werden, kann er darüber bestimmen, wer was über ihn wissen soll, kann also sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch wahrnehmen. Nur der informierte Betroffene kann seine Rechte auf Korrektur fehlerhafter Daten und auf Löschung unzulässig gespeicherter Daten auch durchsetzen. Datenschutz und Transparenz sind – in diesem Sinne verstanden – keine absoluten Gegensätze. Auch in anderer Hinsicht gibt es durchaus Berührungspunkte zwischen beiden Gebieten. Sowohl beim Datenschutz als auch beim An4
BVerfG, 1 BvR 209/83 v. 15. 12. 1983, Rz. 154.
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spruch auf Informationszugang gegenüber öffentlichen Stellen geht es um Machtbegrenzung, insbesondere in Bezug auf staatliches Handeln. II. Transparenz als Regel Das Recht auf Zugang zu bei staatlichen Stellen vorhandenen Informationen wirkt sich auf das klassische Machgefüge demokratischer Rechtsstaaten aus. Die Wurzeln des Informationsfreiheitsrechts reichen weiter zurück als diejenigen des Datenschutzes – entsprechende Ansprüche gibt es in Schweden bereits seit dem 18 Jahrhundert. Neben die durch Parlamente und Gerichte ausgeübte Kontrolle tritt mit den Informationsfreiheitsgesetzen ein neues „Jedermannrecht“ auf Informationszugang, das nicht an eine bestimmte Rolle oder Funktion des Berechtigten gebunden ist. Anders als beim verwaltungsrechtlichen Anspruch auf Einsicht in Verwaltungsakten (§ 29 VwVfG) und beim datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruch (§§19, 34 BDSG) ist der Anspruch auf Zugang zu staatlichen Informationen nach den IFG nicht auf Verfahrensbeteiligte bzw. von der Datenerfassung Betroffene beschränkt. Jedermann (natürliche und juristische Personen) kann diesen Anspruch geltend machen. Erklärtermaßen sollen die Informationsfreiheitsgesetze das Regel-AusnahmeVerhältnis von Geheimhaltung und Transparenz staatlichen Handelns umkehren. Während zuvor galt, dass die Behörden die Informationen, die Ihnen im Rahmen ihrer Tätigkeit zufließen, geheim zu halten haben (Amtsgeheimnis), sollen diese Informationen nach den Informationsfreiheitsgesetzen grundsätzlich für jedermann einsehbar sein. Der beantragte Informationszugang darf nur verweigert werden, soweit ein gesetzlich normierter Ausnahmetatbestand gegeben ist. Auch wenn diese allgemeine Zugangsmöglichkeit zu Informationen von vielen Behördenmitarbeitern immer noch vornehmlich als zusätzliche Belastung oder gar Bedrohung wahrgenommen wird, darf doch nicht übersehen werden, dass die mit den Informationsfreiheitsgesetzen bewirkte zusätzliche Transparenz das Vertrauen in behördliche Entscheidungsprozesse stärken kann und dass sie dazu beitragen kann, den verwaltungsinternen Umgang mit Informationen effizienter zu gestalten. Das zentrale Motiv für die Einführung allgemeiner Informationszugangsansprüche war und ist die verbesserte Nachvollziehbarkeit und Kontrolle von Verwaltungshandeln. Die Aussage des Urvaters des US-Datenschutzes, Louis D. Brandeis, ist weiterhin aktuell: „Publicity is justly commended as a remedy for social and industrial diseases. Sunlight is said to be the best of disinfectants.“5 Die Verfassung des Landes Brandenburg von 1992 subsumiert den Anspruch auf Informationszugang unter die politischen Gestaltungsrechte: „Jeder hat nach Maßgabe des Gesetzes das Recht auf Einsicht in Akten und sonstige amtliche Unterlagen der Behörden und Verwaltungseinrichtungen des Landes und der Kommunen, soweit 5 Brandeis, Other People’s Money — and How Bankers Use It, Harpers Weekly, No. 20, 1913.
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nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegenstehen.“6 Diese Regelung war eine Schlussfolgerung aus den Erfahrungen in der dahin geschiedenen DDR. Während die Stasi ziemlich erfolgreich an der umfassenden Transparenz der Bürgerinnen und Bürger arbeitete, wurde die Einsichtnahme in die Staatsinterna nach Kräften verhindert. Folglich war es für das neue ostdeutsche Bundesland naheliegend, nicht nur den Datenschutz, sondern auch den Anspruch auf Informationszugang verfassungsrechtlich abzusichern. Ein derartiges explizites verfassungsrechtlich garantiertes Informationszugangsrecht fehlt im Grundgesetz. Entsprechende Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes, die auf dem Runden Tisch zur Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung diskutiert wurden7, fanden nicht die erforderlichen verfassungsändernden Mehrheiten. Trotzdem ist es angebracht zu untersuchen, in welchem Verhältnis der Informationszugangsanspruch zu den klassischen Grund- und Freiheitsrechten steht. In besonderer Weise gilt dies für Art. 5 Abs. 1 GG, der jedem das Recht garantiert, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Bezüglich der bei staatlichen Stellen vorhandenen Informationen drängt sich geradezu die Frage auf, inwieweit der Staat diese Informationen allgemein zugänglich machen muss, auch ohne dazu explizit per Gesetz verpflichtet zu sein. Schließlich wird die Erhebung, Verarbeitung und Aufbereitung der entsprechenden Daten durch die Allgemeinheit, durch den Steuerzahler finanziert und die Informationen dienen der Erledigung öffentlicher Aufgaben. Deshalb gehört die Praxis, bei der Verwaltung vorhandene Informationen grundsätzlich geheim zu halten – das Amtsgeheimnis – auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand. Nicht die Bereitstellung von Informationen, sondern deren Verweigerung durch öffentliche Stellen bedarf m. E. einer ausdrücklichen Begründung. Die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der meisten Bundesländer tragen dieser Forderung dem Grunde nach Rechnung. Allerdings sind die Ausnahmetatbestände in den meisten dieser Gesetze so umfangreich, dass sie den Blick auf den Grundsatz der Zugänglichkeit staatlicher Informationen für die Öffentlichkeit weit gehend wieder verstellen, den sie gerade erst eröffnet haben. Die umfangreichen und komplizierten Ausnahmebestimmungen führen zudem dazu, dass ein großer Teil des mit der Bearbeitung von Informationszugangsanträgen verbundenen Aufwands erst dadurch entsteht, dass die Behördenmitarbeiter die Anträge mit den vielfältigen Ausnahmebestimmungen abgleichen müssen. Wenige, leichter verständliche Ausnahmeregeln,
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Art. 21 Abs.4 der Brandenburgischen Landesverfassung v. 20. 8. 1992 (GVBl. I/92, [Nr. 18], S. 298). 7 Vgl. etwa Art. 35 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs der Arbeitsgruppe Verfassungsreform des „Zentralen Runden Tischs“ der DDR v. April 1990, http://www.documentarchiv.de/ddr/ 1990/ddr-verfassungsentwurf_runder-tisch.html; vgl. auch den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000 v. 5. 11. 1993.
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die sich auf das notwendige Maß reduzieren, könnten den Verwaltungsaufwand deshalb verringern. III. Informationszugang zu personenbezogenen Daten Die eingangs angesprochene Kontroverse hinsichtlich der Zusammenfassung der Aufgaben des Informationsfreiheits- und des Datenschutzbeauftragten findet seine materiell rechtliche Entsprechung im Informationsfreiheitsgesetz, das hierfür einen besonderen Ausnahme- und Prüfvorbehalt vorsieht. Im Hinblick auf das Verhältnis von Informationsfreiheit und Datenschutz ist § 5 IFG beachtlich: „Zugang zu personenbezogenen Daten darf nur gewährt werden, soweit das Informationsinteresse des Antragstellers das schutzwürdige Interesse des Dritten am Ausschluss des Informationszugangs überwiegt oder der Dritte eingewilligt hat. Besondere Arten personenbezogener Daten im Sinne des § 3 Abs. 9 des Bundesdatenschutzgesetzes dürfen nur übermittelt werden, wenn der Dritte ausdrücklich eingewilligt hat“ (§ 5 Abs.1 IFG-Bund). Auch wenn diese Interessenabwägung an andere Bestimmungen erinnert, die in vielen Bereichen des Datenschutzrechts vorgesehen sind (z. B. § 28 Abs. 2 BDSG), ist jedoch Hinblick auf das allgemeine Zugangsrecht zu Informationen eher ein Fremdkörper. § 1 IFG-Bund definiert den Informationszugangsanspruch als Jedermannsrecht. Anders als im Verwaltungsverfahrens- und Datenschutzrecht muss der IFG-Antragsteller eigentlich kein eigenes Interesse darlegen. Andererseits verlangt die in § 5 Abs. 1 IFG-Bund vorgesehener Interessenabwägung genau dies: Nur wenn der Antragsteller ein Informationsinteresse hat und dieses das Interesse der Betroffenen am Schutz ihrer personenbezogenen Daten überwiegt, dürfen die Daten herausgegeben werden. Zwar enthalten die weiteren Bestimmungen von § 5 entsprechende Regelvermutungen (etwa im Hinblick auf Namen, Titel, akademischen Grad, Berufs- und Funktionsbezeichnung, Büroanschrift und -telekommunikationsnummern von Bearbeitern, Gutachtern und Sachverständigen). Bei beantragtem darüber hinausgehenden Informationszugang muss jedoch konkret und individuell zwischen den konkurrierenden Belangen abgewogen werden, was wiederum eine Begründungspflicht beim Antragsteller auslöst. Die individuelle Interessenabwägung hat zudem zur Folge, dass die herausgegebenen Informationen vom Antragsteller gegebenenfalls nicht an Dritte weitergegeben oder außerhalb eines bestimmten Kontextes verwendet werden dürfen. Dies widerspricht – wie auch bestimmte andere Ausnahmebestimmungen im IFG, etwa Regelungen, die den Schutz von Urhebern gewährleisten sollen – dem Gedanken eines allgemeinen Informationszugangs.
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IV. Informationszugang: Wie geht es weiter? Auch wenn der Start Deutschlands in die Informationsfreiheit verspätet und teils holprig erfolgte, besteht nicht unbedingt Grund zum Pessimismus. Immerhin gibt es inzwischen in den meisten Bundesländern Informationsfreiheitsgesetze und es ist zu hoffen, dass die noch bestehenden weißen Flecken auf der Landkarte der Informationsfreiheit in absehbarer Zeit geschlossen werden. So haben in Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen die Landesregierungen entsprechende gesetzliche Regelungen angekündigt. Nur Bayern und Sachsen verweigern sich (bislang) diesem Vorhaben grundsätzlich. Ich halte diese Verweigerung auch deshalb für sehr verwunderlich, weil es in Bayern (und teilweise auch in Sachsen) sehr weit gehende direkte Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung gibt. Volksentscheide und Volksgesetzgebung und vergleichbare Instrumente auf kommunaler Ebene setzen informierte Bürgerinnen und Bürger voraus. Der Anspruch auf Informationszugang gegenüber öffentlichen Stellen kann hier einen wesentlichen Beitrag zur Versachlichung der Debatten leisten. Andererseits gibt es auf Landesebene auch positive Beispiele. Beachtlich ist hier neben dem Berliner und dem Bremischen Informationsfreiheitsgesetz vor allem das neue Hamburgische Transparenzgesetz8, das die Behörden zur aktiven Bereitstellung einer Vielzahl von Informationen aus öffentlichen Registern verpflichtet. Im Regelfall sollen die Informationen sogar in einer Weise bereitgestellt werden, dass sie automatisiert weiterverarbeitet werden können. Dieses Gesetz greift in vorbildlicher Weise die Idee von Open Data auf. Open Data ist auch ein Thema für E-Government Projekte, die allerdings weitgehend ohne Bezugnahme auf das Informationszugangsrecht vorangetrieben werden.9 Auf internationaler Ebene sollte Deutschland seine zögerliche Haltung endlich aufgeben. Sowohl die entsprechende Konvention des Europarats10 als auch die von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Mexikos initiierte Open Government Partnerschaft11 bieten hier gute Plattformen. Ob Deutschland diesen Initiativen beitreten wird, ist indes offen.
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Hamburgisches Transparenzgesetz (HmbTG), HmbGVBl. v. 6. 7. 2012, S. 271. Vgl. etwa § 12 Bundesgesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung (eGovG). 10 Vgl. Entschließung der 17. Konferenz der Informationsfreiheitsbeauftragten am 3./ 4. Dezember 2008, Die neue Konvention des Europarats zur Informationsfreiheit so bald wie möglich unterzeichnen und ratifizieren. 11 Vgl. http://www.opengovpartnership.org/. 9
Die Kontrolle der Geheimdienste Patrick Ernst Sensburg I. Einleitung Die Sicherheit unserer Gesellschaft, die Sicherheit unserer Daten, die Sicherheit der intimsten Informationen über jeden von uns interessiert heutzutage mehr als jemals zuvor.1 Nicht erst seit dem 11. September 2001 steht die Politik vor neuen Herausforderungen.2 Nicht mehr Staaten allein sind Akteure der internationalen Politik. Plötzlich gehen Gefahren von nicht-staatlichen Gruppierungen aus. Während man zuerst von asymmetrischen Gefahren sprach,3 wird spätestens seit dem Konflikt in der Ukraine von hybriden Kriegsführungen gesprochen.4 Dies alles findet heute in einem digitalen Rahmen statt. Sicherheit in der Gesellschaft zu garantieren ohne dabei die Freiheit des Bürgers einzuschränken, ist eine schwierige Aufgabe geworden, die viele Staaten zu lösen suchen. Gerade die Digitalisierung unserer Welt ist dabei eine Herausforderung, die in allen Lebensbereichen für ein völliges Umdenken sorgt. Mögen Daten das neue Gold oder Öl der Wirtschaft sein oder werden, sind Viren, Würmer und Trojaner vielleicht die neuen Langstreckenraketen und Tarnkappenbomber einer modernen Kriegsführung. Die Masse an Daten, die wir alle tagtäglich produzieren, ist interessant. Sie ist interessant für Unternehmen wie Google und Facebook, die ihre Firmenphilosophie
1
Vgl. Dennis-Kenji Kipker/Friederike Voskamp, PRISM und staatliche Schutzpflichten – ein politisches Märchen?, in: Peter Gola/Andrea Jaspers/Rolf Schwartmann/Gregor Thüsing (Hrsg.), Zeitschrift für Datenschutz, Informations- und Kommunikationsrecht (RDV) 2014, S. 84 – 86; John Bohannon, The end of privacy, in: Martin Enserink/Gilbert Chin (Hrsg.), The end of privacy. From big data to ubiquitous Internet connections, technology empowers researchers and the public – but makes traditional notions of privacy obsolete, Washington D.C. 2015, S. 492 – 494. 2 Patrick Ernst Sensburg, Die neue Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland – fließende Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit, in: ders. (Hrsg.), Die neue Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 2010, S. 5 – 15. 3 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg, 2002; ders., Asymmetrien und neue Konfliktformen. Gefahren für unsere Sicherheit, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Hamburg 2009, S. 205 – 224. 4 Frankfurter Rundschau, Die Bundeswehr braucht ein neues Buch, 21. 01. 2015, S. 5.
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gerade auf die Herrschaft über Daten und Informationen gründen.5 Im digitalen Zeitalter gilt „Wissen ist Macht“ uneingeschränkt und vielleicht noch augenscheinlicher als jemals. Ein fast gleiches Interesse haben aber auch manche Geheimdienste, die den stetig wachsenden Pool von Daten gerne als Steinbruch für ihre Zwecke nutzen möchten. Ist das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit aus den Fugen geraten? Mit einem einfachen „ja“ oder „nein“ lässt sich diese Frage sicherlich nicht beantworten. Scheinbar „ja“, glaubt man den Enthüllungen von Edward Snowden aus dem Jahr 2013. Am 06. Juni 2013 veröffentlichten der britische Guardian und die amerikanische Washington Post geheime Dokumente der National Security Agency (NSA), die ein weltweites Netz von Spionagesystemen beschreiben.6 Die eingestuften Dokumente der NSA, die die massenhafte Datensammlung der Geheimdienste von USBürgern offenbaren sollen, wurden von Snowden preisgegeben. Daraufhin wird gegen ihn am 21. Juni 2013 beim United States District Court for the Eastern District of Virginia in den USA Klage eingereicht. Snowden flieht über Hongkong nach Moskau ins Exil, wo er sich immer noch aufhält.7 II. Der NSA-Untersuchungsausschuss Die Bürger oder gleich die ganze Nation müsse geschützt werden, in dem Terroristen oder Gefährder rechtzeitig identifiziert werden, lautet die Argumentation mancher politischer Entscheidungsträger in den USA, um die Datenerfassung der NSA und anderer amerikanischer Dienste zu rechtfertigen.8 Schnell zeigte sich aber auch, dass die Veröffentlichungen von Edward Snowden kein ausschließlich amerikanisches Thema bleiben sollten. Denn aus den Dokumenten von Snowden ergab sich der Verdacht, dass auch wir in Deutschland nicht vor den Eingriffen der NSA verschont geblieben sind. Teilweise wurde die Vermutung geäußert, dass die NSA massenhaft Daten in Deutschland abgreift, teilweise auch in Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst (BND).9 Am 23. Oktober 2013 wird dann sogar öffentlich, 5 Vgl. Ralf Kaumanns/Veit Siegenheim, Appel. Google. Facebook. Amazon. Strategien und Geschäftsmodelle einfach auf den Punkt gebracht, in: Landesanstalt für Medien NordrheinWestfalen (Hrsg.), Düsseldorf 2012, S. 5 ff. 6 The Washington Post, A-Section. Lawmakers defend, criticize NSA collection of phone logs, 07. 06. 2013; The Guardian, Revealed: NSA collecting phone records of millions of Americans daily, 05. 06. 2013. 7 Vgl. Marcel Rosenbach/Holger Stark, Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung, München 2014, S. 56 ff. 8 Vgl. z. B. Richard A. Clarke/Michael J. Morell/Geoffrey R. Stone/Cass R. Sunstein/Peter Swire, The NSA Report, Princeton 2014 S. 112 f. oder Glenn Greenwald, Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und ihre Folgen, München 2014, S. 142. 9 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, NSA „totalitärer Ansatz“ vorgeworfen, 04. 07. 2014, S. 2.
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dass nicht nur unsere aller Handys in Gefahr sind, sondern womöglich auch das Handy der Bundeskanzlerin abgehört wurde.10 Nachdem die Reichweite des Skandals in der Wahlkampfphase des Sommers 2013 noch nicht überschaubar war, war man sich im Rahmen der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD schnell einig, dass „weitere Aufklärung, wie und in welchem Umfang ausländische Nachrichtendienste die Bürgerinnen und Bürger und die deutsche Regierung ausspähen“ zu erfolgen habe. Dies wurde unter der Überschrift „Konsequenzen aus der NSA-Affäre“ auch so im Koalitionsvertrag festgehalten.11 Der Deutsche Bundestag setzte dann – nach einer anfänglichen Debatte über Reichweite und Auftrag – am 20. März 2014 den sogenannten NSA-Untersuchungsausschuss ein, um genau diese Aufklärung zu betreiben.12 Seine Aufgabe ist es: 1. Ausmaß und Hintergründe der Ausspähungen durch die Dienste der sog. FiveEyes-Staaten in Deutschland aufzuklären. 2. Zu ermitteln, inwieweit die deutschen Dienste hieran beteiligt waren und ob gesetzliche Regelungen dabei durch sie verletzt wurden. 3. In einem dritten Komplex soll der Untersuchungsausschuss Empfehlungen abgeben, wie die Telekommunikation von Bürgerinnen und Bürgern, von Unternehmen und von staatlichen Stellen besser geschützt werden kann. Aus den Erkenntnissen werden sehr wahrscheinlich Vorschläge zu gesetzlichen Änderungen folgen. 1. Die Sachverständigenanhörungen Seit April 2014 hat der Untersuchungsausschuss 11 Sachverständige zu juristischen und technischen Hintergründen gehört. a) Anhörungen zum Verfassungs- und internationalen Recht Zur rechtlichen Lage in Deutschland haben u. a. die ehemaligen Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier und Wolfgang Hoffmann-Riem aufgezeigt, wo sie Lücken in den rechtlichen Handlungsgrundlagen des BND sehen und an welchen Stellen der Gesetzgeber nachsteuern müsse. In seinen Ausführungen stellte Papier u. a. fest, dass auch die Nachrichtendienste an Art.10 GG gebunden sind, wenn sie die grenzenüberschreitende Telekommunikation überwachen: „Art. 10 GG schützt als Menschenrecht und damit gemäß seinem weiten personellen Schutzbereich nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer. Das gilt uneingeschränkt für die Telekommunikationsverkehre von Deutschen und Ausländern im deutschen Staatsgebiet, aber 10
Vgl. Focus, Heiße Luft, keine Fakten, 24. 11. 2014, S. 67. Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, 16. Dezember 2013, S. 104. 12 BT-Drucks. 18/843. 11
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auch für solche, bei denen ein Endpunkt im Ausland, der andere im Inland liegt. Sofern beide Endpunkte des Telekommunikationsverkehrs im Ausland liegen, sind die den Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis vornehmenden deutschen Behörden grundsätzlich ebenfalls an Art. 10 GG gebunden. […] Das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann, wenn eine im Ausland stattfindende Telekommunikation durch Erfassung und Auswertung im Inland hinreichend mit inländischem staatlichen Handeln verknüpft ist“.13 Papier leitete aus seiner Argumentation weiterhin ab, dass den Staat eine Verpflichtung treffe, die Kommunikationsstruktur im Lande so auszugestalten, dass diese insbesondere auch den grundrechtlichen Schutz aus Art. 10 GG gewehrleiste. Sowohl Papier, Hoffmann-Riem und auch der dritte Sachverständige Matthias Bäcker waren darüber hinaus der Ansicht, dass ausländische Nachrichtendienste zur heutigen Zeit kein Recht hätten, in Deutschland Kommunikationsdaten abzufangen. Hiervon abweichend wurde das Handeln des BND durch Stefan Talmon völkerrechtlich als legitimes Mittel zur Erlangung von Erkenntnissen für die Lagebeurteilung und die Entscheidungsfindung im politischen Bereich angesehen.14 Er wies darauf hin, dass eine entsprechende Regelung im Völkergewohnheitsrecht und auch eine erforderliche Verbotspraxis und Rechtsüberzeugung für die Herausbildung eines völkerrechtlichen Verbots fehle. Talmon wies außerdem auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hin, die Spionage als „ein völkerrechtlich zulässiges – weil nicht verbotenes – amtliches Handeln von Amtsträgern“ eines anderen Staates erklärt.15 Einem völkerrechtlichen Verbot stehen zum einen die Rechtsüberzeugung der Staaten (opinio juris) eines völkergewohnheitsrechtlichen Erlaubnistatbestandes und zum anderen der sog. „Lotus-Grundsatz“ entgegen.16 Letzterer beruhe auf der Annahme, dass jegliches staatliches Handeln völkerrechtlich erlaubt sei, sofern es nicht ausdrücklich verboten ist. Begründet wird dies in der staatlichen Souveränität und der daraus resultierenden Handlungsfreiheit der Staaten.17 Im Ergebnis kann hier festgehalten werden, dass Spionage im Heimatland fast immer als legitim eingeschätzt wird, das Land, welches ausspioniert wird, Spionage aber immer als Straftat bewertet. Hält man an dieser völkerrechtlichen Einordnung 13
Vgl. BVerfGE 100, 313 ff. Vgl. Deutscher Bundestag, Sachverständigengutachten gemäß Beweisbeschluss SV-4 des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode, http:// www.bundestag.de/blob/282872/2b7b605da4c13cc2bc512c9c899953c1/mat_a_sv-4 – 2_tal mon-pdf-data.pdf, abgerufen am 29. 01. 2015. 15 BGHSt 37, 305 (308) = NJW 1991, 929 (930). 16 Zum sog. Lotus-Grundsatz näher: Armin von Bogandy/Markus Rau, The Lotus, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL) VI, Oxford 2012, S. 946 ff. 17 Vgl. Deutscher Bundestag, Sachverständigengutachten gemäß Beweisbeschluss SV-4 des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode, http:// www.bundestag.de/blob/282872/2b7b605da4c13cc2bc512c9c899953c1/mat_a_sv-4 – 2_tal mon-pdf-data.pdf, abgerufen am 29. 01. 2015. 14
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fest, wird der Gesetzgeber zu klären haben, ob Ausländer bei der Auslandsüberwachung über die Menschenwürde, die Verhältnismäßigkeit und das Willkürverbot hinaus grundrechtlichen Schutz genießen. Dies würde nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes dann auch entsprechende Eingriffsgrundlagen z. B. im BND-Gesetz erfordern – anders, als dies derzeit der Fall ist. b) Anhörungen zu den technischen Möglichkeiten In einem zweiten Anhörungsblock sollte geklärt werden, ob die Dokumente von Edward Snowden nach Ansicht von Sachverständigen authentisch sind. Durch die Anhörung konnte der Untersuchungsausschuss auch ein Gefühl dafür gewinnen, was heutzutage technisch alles realisierbar ist. Die Sachverständigen bewerteten die Enthüllungen von Snowden durchaus als plausibel. Besonders empfahlen sowohl Michael Waidner, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie, der Sicherheitsforscher Sandro Gaycken und Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, einen allgemein höheren Grad an Verschlüsselung. Würden alle Nutzer ihre Nachrichten mit dem aktuell besten Stand der Verschlüsselung verschlüsseln, dann könnte man die NSA „totrüsten“, so Frank Rieger in der Anhörung. Eine entsprechende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung würde den Preis der Überwachung so hoch treiben, dass eine flächendeckende Spionage nicht mehr betrieben werden könnte.18 Im Zusammenhang mit der Sicherheitsüberprüfung von IT-Produkten empfahlen die Sachverständigen neben einer effektiven Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschiedene Maßnahmen. Besonders hervorzuheben scheinen folgende Maßnahmen zu sein: 1. Der Aufbau und der Betrieb einer europäischen Prüfeinrichtung für IT-Sicherheit und Sichtbarmachung ihrer Prüfergebnisse in der Öffentlichkeit. 2. Die Forschung und Entwicklung von effektiven und effizienten Prüfmethoden für IT-Sicherheit, die von der Prüfeinrichtung (und anderen) angewendet werden. 3. Die europaweite Verpflichtung für staatliche Einrichtungen, nur solche informations- und kommunikationstechnischen Produkte einzusetzen, die positiv überprüft wurden.19 Abschließend stellten die Sachverständigen fest, dass unstreitig ist, dass auch andere Staaten, neben den Five-Eyes-Saaten, spionieren. Genannt wurden China, Russland oder Frankreich. Die Liste ließe sich aber sicherlich noch fortsetzen. Der größte Teil des Ausspähens von Daten erfolgt aber vermutlich durch Strukturen der organisierten Kriminalität im Rahmen von Wirtschaftsspionage. Der nordrhein-westfäli18
Vgl. Zeit Online, Überwachung. Wir können die NSA „totrüsten“, http://www.zeit.de/pol citik/deutschland/2014 – 06/nsa-ausschuss-bnd-ueberwachung, abgerufen am 29. 01. 2015. 19 Deutscher Bundestag, Sachverständigengutachten gemäß Beweisbeschluss SV-1/2 des 1. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode, https://www. bundestag.de/blob/285122/2f815a7598a9a7e9b4162d70173ecedb/mat_a_sv-1 – 2-pdf-data.pdf, abgerufen am 03. 02. 2015.
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sche Verfassungsschutz geht davon aus, dass in Nordrhein-Westfalen bereits jedes zweite Unternehmen Ziel von Ausspähattacken geworden ist.20 Der Bund schätzt den jährlichen Schaden für die deutsche Wirtschaft durch Spionage auf 50 Mrd. Euro. Die Wirtschaft hält diese Schätzung für untertrieben und geht von rund 100 Mrd. Euro Schaden jährlich aus.21 Dem lässt sich vermutlich nur durch verbesserten Datenschutz und mehr Datensicherheit entgegnen. 2. Die Zeugenanhörungen Am 3. Juli 2014 befragte der Untersuchungsausschuss die ersten Zeugen. Als ehemalige Mitarbeiter der NSA konnten William Binney und Thomas Andrews Drake dem Untersuchungsausschuss wichtige Einblicke in die Arbeit der NSA und auch in die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den amerikanischen Diensten geben. Es waren die ersten und bisher die einzigen Zeugen aus den USA. Zwar haben weitere Vertreter, z. B. von Google oder Facebook angekündigt, dass sie vor dem Untersuchungsausschuss aussagen wollen, jedoch hat sich der Ausschuss in einem ersten Themenblock seit September 2014 zuerst den deutschen Diensten gewidmet. Es wird nun also derzeit beleuchtet, welche Rolle die deutschen Dienste im Rahmen der Ausspähungen gespielt haben und ob sich der Vorwurf bestätigen lässt, dass auch sie an massenhafter Datenüberwachung beteiligt sind. Da es sicher schwieriger sein wird, Aktenmaterial und Zeugen der Five-Eyes-Staaten zu bekommen, ist der Ansatz, mit den deutschen Diensten zu beginnen folgerichtig. Durch die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse werden zugleich Anknüpfungspunkte für die Untersuchung der Tätigkeit der ausländischen Dienste geschaffen. 3. Der Blick auf die deutschen Dienste Seit September 2014 widmet sich der Untersuchungsausschuss der Aufklärung, ob deutsche Dienste massenhaft Daten ausgespäht haben. Die Arbeit konzentriert sich zum einen auf die Auswertung umfangreichen Aktenmaterials von über 1.800 Aktenordnern des BND und anderer Behörden, von denen rund 750 Aktenordner als vertraulich oder höher eingestuft sind. Zum anderen werden Zeugen, insbesondere des BND oder der Deutschen Telekom AG geladen. Hierbei ist beachtlich, dass in den bisher 11 Zeugensitzungen Mitarbeiter des BND in öffentlicher Sitzung aussagen, die unterhalb der Abteilungsleiter-Ebene sind. Diese Offenheit ist neu in einem Untersuchungsausschuss und nicht zuletzt Resultat der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum BND-Untersuchungsausschuss, die für den damaligen Un20
Vgl. Ministerium für Inneres und kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2013, Düsseldorf 2014, S. 323 ff. 21 Vgl. Center for Strategic and International Studies, Net Losses: Estimating the Global Cost of Cybercrime, Santa Clara 2014. S. 1 – 24, http://csis.org/files/attachments/140609_rp_ economic_impact_cybercrime_report.pdf.
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tersuchungsausschuss leider zu spät kam, heute aber glücklicherweise Berücksichtigung findet.22 Nur wenige Beobachter hatten sich wohl vor dem Untersuchungsausschuss vorstellen können, dass Mitarbeiter des BND über konkrete Projekte der Geheimdienste in öffentlicher Sitzung detailliert berichten. Ohne abschließend auf einzelne Erkenntnisse eingehen oder sie bewerten zu können, konnten bereits einzelne Fehler in der Arbeit des BND aufgezeigt werden. Insbesondere die behördliche Datenschutzbeauftragte des BND – Frau Dr. F. – machte dies deutlich. Belege für ein massenhaftes Ausspähen von Daten durch den BND konnten bisher aber nicht gefunden werden. Dies betonte auch der frühere Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) Peter Schaar in seiner Zeugenvernehmung.23 Dass hier zum einen politisch auch eine andere Bewertung vorgenommen werden kann, ist in einer laufenden Untersuchung nicht ungewöhnlich. Es kann aber den Blick auf die Frage schärfen, ob nicht für die Zukunft die Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr), die G 10-Kommission und die Datenschutzbeauftragten verbessert werden sollte. III. Ausblick Die Arbeit des Untersuchungsausschusses ist komplex und wird voraussichtlich noch bis Ende 2016 oder Anfang 2017 dauern. Zum Schluss wird ein Abschlussbericht erstellt, der die Ergebnisse der Untersuchungsausschussarbeit formuliert und Handlungsempfehlungen ausspricht, wie mehr Datensicherheit erreicht werden kann. Diese Empfehlungen werden sich größtenteils an den Gesetzgeber wenden, aber auch an Bürgerinnen und Bürger und die deutsche Wirtschaft. Mit den gewonnenen Erkenntnissen soll die Gesellschaft zukünftig sicherer gestaltet werden ohne dabei die Freiheit des Menschen einzuschränken. Dies alles muss der NSA-Untersuchungsausschuss in einem Umfeld ermitteln, das keinen abgeschlossener Untersuchungskomplex darstellt, wie bei anderen Untersuchungsausschüssen. Die Arbeit der Nachrichtendienste findet täglich weiter statt und vor dem Hintergrund der aktuellen Bedrohungslagen wird ihre Kontrolle nicht einfacher. Auch, wenn man davon ausgeht, dass nachrichtendienstliche Zusammenarbeit notwendig ist und dies auch die digitale Kommunikation einschließen muss, dann muss sie gleichwohl demokratisch legitimiert und kontrolliert sein. Sie muss in gesetzlichen Rahmen erfolgen und die Verhältnismäßigkeit von geschützten Rechtgütern und der Intensität der Eingriffe wahren. Nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts24 und des Europäischen Gerichtshofs25 zur Vorratsdatenspeicherung 22
BVerfGE 124, 78 ff. Deutscher Bundestag, Peter Schaar: Sicherheitsdienste effektiver beaufsichtigen, http:// www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw03_pa_1ua/352812, abgerufen am 03. 02. 2015. 24 BVerfGE 125, 260 – 385. 25 EuGH, 08. 04. 2014, Az. C – 293/12, C – 594/12. 23
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wird auch der NSA-Untersuchungsausschuss diese Fragestellungen mit Blick auf nachrichtendienstliche Tätigkeit zu beantworten haben.
Informationsfreiheit – Anspruch und Wirklichkeit Matthias Rossi I. Informationsfreiheit Im antithetisch formulierten Oberthema dieser Speyerer Demokratietagung „Transparenz contra Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft“ scheint die Informationsfreiheit ein erkennbares Ausrufezeichen hinter die Transparenz zu setzen. Informationsfreiheit – im Kontext dieses Bandes begrifflich unpräzise verstanden als die Summe aller gesetzlichen Vorschriften, die ein voraussetzungsloses Recht auf Zugang zu Informationen der Verwaltung einräumen1 – zielt auf Transparenz des Staates, macht sie zum Grundsatz und die Geheimhaltung zur rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme. Sie will endgültig mit der Arkantradition brechen und sie dauerhaft in die Vergangenheit verbannen. „Geheimhaltung war gestern, heute ist Transparenz“, proklamieren die Informationsfreiheitsgesetze, deren bloße Existenz unabhängig von ihrer normativen Reichweite und ungeachtet auch ihrer praktischen Effizienz mindestens als Synonym für eine „bessere“ Demokratie, zuweilen gar als konstitutive Voraussetzung einer Demokratie betrachtet wird. Indes gibt es „die“ Informationsfreiheit in Deutschland allenfalls als Idee bzw. als Struktur, nicht hingegen als ein singuläres, ein homogenes oder auch nur kohärentes Recht. Vielmehr sind es im föderal und funktional geteilten Gewaltensystem verschiedene Bestimmungen, die die Zugänglichkeit amtlicher Informationen regeln. Im Ergebnis sichern drei besondere Bereiche des Informationsfreiheitsrechts die Zugänglichkeit amtlicher Informationen, neben denen das allgemeine Informationsfreiheitsrecht steht: Das Umweltinformationsrecht, das ursprünglich nur in Umsetzung einer Umweltinformationsrichtlinie der EU, mittlerweile auch in Umsetzung der völkerrechtlichen Aarhus-Konvention erlassen wurde und aus kompetenzrechtlichen Gründen auf ein Umweltinformationsgesetz des Bundes sowie auf 16 Umweltinformationsgesetze der Länder verteilt ist; das Verbraucherinformationsrecht, das im Unterschied zum Umweltinformationsrecht (bislang) weder europa- noch völkerrechtlich determiniert ist und aufgrund einer umfassenden Bundeskompetenz in einem einzigen Verbraucherinformationsgesetz (sowie im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch) geregelt ist; sowie jüngst das Geodatenzugangsrecht, das in Umsetzung
1 Zur Terminologie vgl. Rossi, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2, 3. Aufl. 2013, § 63 Rn. 3.
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der INSPIRE-Richtlinie der EU2 im Geodatenzugangsgesetz des Bundes sowie in den Geodateninfrastrukturgesetzen der Länder verankert ist. Wo diese besonderen Regelungen nicht anwendbar sind, weil weder Zugang zu Umwelt- noch zu Verbraucherinformationen oder zu Geodaten begehrt wird, greift das allgemeine Informationsfreiheitsrecht.3 Entsprechend der föderalen Kompetenzverteilung ist es in einem Informationsfreiheitsgesetz des Bundes sowie mittlerweile in elf Landesgesetzen geregelt.4 Ergänzt werden diese Regelungen durch das auch für die Länder geltende Informationsweiterverwendungsgesetz, das zwar keinen originären Zugangsanspruch normiert, jedoch eine diskriminierungsfreie Zugänglichkeit sichert. Diese Zerfaserung des Informationsfreiheitsrechts auf insgesamt fünf Bundesgesetze,5 42 Landesgesetze6 drei Richtlinien7 und zwei Verordnungen8 auf Ebene der EU erschwert sowohl abstrakt die Bestimmung des Transparenzmaßes „des Staates“ als auch konkret die Handhabung des Informationsfreiheitsrechts im Einzelfall. Die kommunalen Informationsfreiheitssatzungen, die sich namentlich etwa in Bayern durchsetzen,9 sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Wenn also im Folgenden Anspruch und Wirklichkeit der Informationsfreiheit gegenüber gestellt werden, dann kann dies im Rahmen dieses Beitrags schon deshalb nur auf abstrakt-struktureller Ebene erfolgen, weil sich weder der normativ begründete Anspruch noch die empirisch gemessene Wirklichkeit „der Informationsfreiheit“ verallgemeinernd bestimmen lassen. II. Wirklichkeit der Informationsfreiheit Namentlich die „Wirklichkeit“ des Informationsfreiheitsrechts ist wegen der föderalen und sektoralen Ausdifferenzierung des Informationsfreiheitsrechts nicht zu fassen. Die in der Rechtswissenschaft so beliebte Methode, die Realität des Gesetzesvollzugs durch eine Auswertung der Gerichtspraxis und diese schlicht mit einer juris-Abfrage zu erfassen, ist generell und so auch in Bezug auf das Informationsfrei2 Richtlinie 2007/2/EG vom 14. 3. 2007 zur Schaffung einer Geodateninfrastruktur in der Europäischen Gemeinschaft (INfrastructure for SPatial InfoRmation in the European Community), ABl. vom 25. 4. 2007 Nr. L 108. 3 Eine graphische Übersicht über das Informationsfreiheitsrecht findet sich bei Rossi, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2, 3. Aufl. 2013, § 63 Rn. 23. 4 In Baden-Württemberg und Niedersachen darf ein Informationsfreiheitsrecht nach den letzten Regierungswechseln erwartet werden. 5 IFG, UIG, VIG, GeoZG, IWG. 6 Alle Länder haben ein Umweltinformations- sowie ein Geodatenzugangsgesetz, in elf Ländern gibt es darüber hinaus ein allgemeines Informationsfreiheitsgesetz, wobei in Schleswig-Holstein das UIG im Informationszugangsgesetz (IZG) mit dem allgemeinen Informationsfreiheitsrecht zusammengefasst ist. 7 RL 2003/4/EG (Umweltinformationsrichtlinie); RL 2003/98/EG (Weiterverwendungsrichtlinie); RL 2007/2/EG (INSPIRE-Richtlinie). 8 VO 1049/2001 (Transparenzverordnung); VO 1367/2006 (Aarhus-Verordnung). 9 Vgl. hierzu etwa Schrader, BayVBl. 2012, 289.
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heitsrecht ungeeignet. Sie fokussiert einseitig auf die streitigen Fälle und zeichnet schon wegen dieser pathologischen Perspektive ein tendenziell düsteres Bild, das die tägliche Praxis des Informationsfreiheitsrechts nicht hinreichend widerspiegelt. Erforderlich wäre eine ebenen- und gesetzesübergreifende empirische Untersuchung des Informationsfreiheitsrechts, die aber nicht vorliegt. Stattdessen gibt es nur zahlreiche gesetzesbezogene Einzeluntersuchungen und Einzelbewertungen. 1. Bundesebene Auf Bundesebene sind zunächst in Bezug auf das IFG die Tätigkeitsberichte des/ der BfDI aus den Jahren 200710, 200911, 201112 und 201313 sowie vor allem der im Auftrag des Innenausschusses des Deutschen Bundestages erstellte Evaluationsbericht des Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation aus dem Jahre 201214 zu nennen. Auch das – zwischenzeitlich novellierte15 – VIG wurde auf Bitten des Bundestages und Bundesrates im Jahre 2010 evaluiert.16 Hinsichtlich des UIG des Bundes liegt eine offizielle Erhebung – soweit ersichtlich – nicht vor. Allerdings hat das UfU (Unabhängiges Institut für Umweltfragen) in den Jahren 200817 und 201318 eine Studie erstellt. Auch haben sich einige rechtswissenschaftliche Disser10 Schaar (Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit), 1. Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2006 und 2007, abrufbar unter: http:// www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Taetigkeitsberichte/_functions/TB_IFG_table.html. 11 Schaar (Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit), 2. Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2008 und 2009, abrufbar unter: http:// www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Taetigkeitsberichte/_functions/TB_IFG_table.html. 12 Schaar (Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit), 3. Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2010 und 2011, abrufbar unter: http:// www.bfdi.bund.de/DE/Infothek/Taetigkeitsberichte/_functions/TB_IFG_table.html. 13 Voßhoff (Beauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit), 4. Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2012 und 2013, abrufbar unter: http://www.bfdi. bund.de/DE/Infothek/Taetigkeitsberichte/_functions/TB_IFG_table.html. 14 Ziekow/Debus/Musch, Evaluation des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes – Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG) im Auftrag des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, 2012, abrufbar unter: http://www.bfdi.bund.de/Shared Docs/Downloads/DE/Informationsfreiheit/EvaluierungsberichtIFG.html?cms_sortOrder= score+desc&cms_templateQueryString=Evaluierungsbericht. 15 Zur Novelle Prommer/Rossi, GewArch 2013, S. 1 ff. 16 Deutscher Bundestag, Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Evaluation des Verbraucherinformationsgesetzes, BT-Drs. 17/1800. 17 Sperfeld/Cerny, Praxis des Umweltinformationsrechts in Deutschland – Eine Evaluation aus Bürgersicht anhand der Methode der retrospektiven Gesetzesfolgenabschätzung, 2008, abrufbar unter: http://www.ufu.de/de/projekte-umweltrecht/buergerrechte/umweltinformations gesetz/evaluation-uig-2008.html. 18 Matthes/Sperfeld/Zschiesche, Praxis des Umweltinformationsrechts in Deutschland – Evaluation der Praxis des Umweltinformationsrechts, Berlin 2013, abrufbar unter: http://www. ufu.de/de/projekte-umweltrecht/buergerrechte/umweltinformationsgesetz/evaluation-uig-2013. html.
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tationen dem UIG empirisch genähert.19 Eine gesetzesübergreifende Gesamtbewertung aller drei bzw. einschließlich des GeoZG und des IWG vier bzw. fünf Gesetze auf Bundesebene existiert dagegen nicht. 2. Landesebene Ähnlich verhält es sich auf Landesebene. Hier gibt es zum Teil Tätigkeitsberichte der Landesbeauftragten für die Informationsfreiheit, die sich meist aber nur auf das jeweilige allgemeine Informationsfreiheitsrecht beziehen.20 Denn wie auf Bundesebene erstreckt sich der Zuständigkeitsbereich der Beauftragten regelmäßig nur auf das allgemeine, nicht hingegen auf das Umweltinformationsrecht. Dies verzerrt das Bild von der „Wirklichkeit“ des Informationsfreiheitsrechts umso mehr, als die Umweltinformationsgesetze namentlich in der bau- und umweltrechtlichen Verwaltungspraxis eine erhebliche, die Bedeutung der allgemeinen Informationsfreiheitsgesetze marginalisierende Rolle spielen dürften. Generell scheint die Landesebene mit ihrem mehrstufigen Verwaltungsunterbau sehr viel geeigneter für einen realistischen Befund der informationsfreiheitsrechtlichen Praxis als die Bundesebene. Denn jedenfalls bei pauschaler Betrachtung verfügen die Bundesbehörden mangels weitreichenden Vollzugsbefugnissen über deutlich weniger Informationen als die kommunalen und unteren Landesbehörden. Zudem gelten für die obersten und auch für viele oberen Bundesbehörden meist eine Reihe von Besonderheiten, auch wenn die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts diese zunehmend nivelliert. 3. EU-Ebene Schließlich werden auch auf Ebene der EU Tätigkeitsberichte erstellt,21 die sich aber ausschließlich auf die Transparenzverordnung beziehen und also nicht alle Möglichkeiten des freien Informationszugangs erfassen. Sie beschränken sich zudem zwangsläufig auf das Binnenrecht der EU und erfassen insoweit nicht die praktisch relevanteren Vorschriften für die Mitgliedstaaten.
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Vgl. bspw. Schmillen, Das Umweltinformationsrecht zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 2003; Tolkmitt, Das neue Umweltinformationsrecht, 2008. 20 Die Tätigkeitsberichte, sofern sie mit jenen zum Datenschutz zusammenfallen, sind beim ZAfTDa (Zentralarchiv für Tätigkeitsberichte des Bundes- und der Landesdatenschutzbeauftragten und der Aufsichtsbehörden für den Datenschutz) abrufbar, siehe http://www.thm. de/zaftda/tb-bundeslaender. 21 Berichte der Kommission über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/transparency/access_docu ments/reports_de.htm.
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4. Gemeinsame Tendenzen Zusammenfassen lassen sich all diese partiellen Teilbeobachtungen und -evaluierungen nicht, ohne zugleich auch ihren jeweiligen konkreten Aussagewert zu schmälern. Gleichwohl lassen sich gewisse Tendenzen erkennen. So fallen zunächst die geringen absoluten Zahlen auf, in denen vom jeweiligen Zugangsrecht Gebrauch gemacht wird. Sie bewegen sich zwischen einem oberen dreistelligen und einem unteren vierstelligen Bereich. Von den Evaluationen wird dies bereits als Sieg der Informationsfreiheit, jedenfalls aber als Indiz dafür gewertet, dass „das Informationsfreiheitsrecht“ greife. Gemessen an den hehren Zielen der Informationsfreiheit, die ganz überwiegend in einen engen, zum Teil gar in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip gebracht werden, ist indes eine bescheidenere Bilanz zu ziehen.22 Jeder einzelne Zugangsantrag mag für den jeweiligen Antragsteller von essentieller Bedeutung sein. Doch gemessen an den Millionen von Antragsberechtigten und an der Unzahl von Verwaltungsinformationen überrascht dann doch, dass diese geringe Nachfrage als Beleg für die Effizienz (wie im Übrigen auch für die Notwendigkeit) des Informationsfreiheitsrechts betrachtet wird. Umgekehrt darf nicht übersehen werden, dass die Bedeutung eines Rechts nicht daran gemessen werden kann, ob und wie oft es in Anspruch genommen wird. Entscheidend ist vielmehr die durch die bloße Existenz des Rechts vermittelte Möglichkeit seiner Inanspruchnahme. Gemeinsam ist den Teilbeobachtungen und -evaluationen auch, dass sie das Verhältnis von erfolgreichen und abgewiesenen Zugangsanträgen nicht nur beschreiben, sondern häufig auch bewerten. Aus der rein quantitativen Gegenüberstellung wird dann zumeist abgeleitet, dass die Zahl der Ausnahmen und Beschränkungen immer noch zu hoch und ihr Anwendungsraum zu weit seien. Inhaltliche Gesichtspunkte bleiben bei solchen politischen Pauschalbewertungen außen vor. Nachvollziehbar sind solche Folgerungen nicht, die ganz offensichtlich das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung missachten. Denn Zugangsanträge, die auf solche Informationen gerichtet sind, die nach den gesetzlichen Vorschriften nicht herauszugeben sind, müssen erfolglos bleiben. Die Wirksamkeit des Informationsfreiheitsrechts manifestiert sich nicht allein in der Zahl positiv beschiedener Zugangsanträge, sondern bemisst sich ganz im Sinne der allgemeinen Gesetzesbindung auch daran, dass die gesetzlichen Ausnahmen und Beschränkungen Beachtung finden. III. Anspruch der Informationsfreiheit Trotz des grundsätzlichen Befundes der Wirksamkeit des Informationsfreiheitsrechts werden allenthalben Enttäuschungen formuliert. Soweit sie von potentiellen Antragstellern artikuliert werden, kulminieren sie in dem Ruf nach einem Informationsfreiheitsrecht der dritten Generation, das nach dem Prinzip der begrenzten Ak22
Skeptisch insoweit Wewer, Verwaltung & Management 2014, S. 1 ff.
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tenöffentlichkeit und dem reaktiven Informationsfreiheitsrecht durch eine proaktive Transparenzverpflichtung der Verwaltungen gekennzeichnet sein soll und dementsprechend unter der Bezeichnung „Transparenzgesetz“ firmiert. Hamburg hat ein solches Transparenzgesetz bereits erlassen,23 andere Länder werden nachziehen,24 auch wenn sich eine aktive Informationsverpflichtung in Flächenländern mit zahlreichen kleinen Kommunen sehr viel schwerer realisieren lässt als in einem Stadtstaat von begrenzter Größe. Soweit die Enttäuschungen von Mitarbeitern der informationsverpflichteten Stellen vorgetragen werden, zielen sie tendenziell eher auf eine Beschneidung des Informationsfreiheitsrechts, jedenfalls aber auf eine Präzisierung und Klarstellung der gesetzlichen Bestimmungen. Unabhängig von ihrer politischen Stoßrichtung indizieren die Enttäuschungen, dass Anspruch und Wirklichkeit der Informationsfreiheit auseinanderklaffen. Ursächlich dafür ist nicht in erster Linie der Vollzug des Informationsfreiheitsrechts durch die Verwaltung und schon gar nicht seine Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Zwar ist z. T. eine sehr restriktive Praxis der anspruchsverpflichteten Stellen im Umgang mit dem Informationsfreiheitsrecht zu beobachten. Namentlich das Urheberrecht wird häufig zu Unrecht als Grund für die Verweigerung des Informationszugangsrechts bemüht, sei es aus Unsicherheit, sei es aus Bequemlichkeit. Doch soweit die restriktive Handhabung zugleich rechtswidrig ist, wird die Verwaltungspraxis durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit korrigiert, die sich in Deutschland bislang ausgesprochen informationsfreundlich präsentiert hat. Allein auf der Ebene des Europarechts hat der EuGH mit seiner Figur der „allgemeinen Vermutung“ die Beweislast zwischen dem zugangsbegehrenden Antragsteller und dem zugangsgewährenden- bzw. verwehrenden Organ faktisch umgekehrt und dadurch jedenfalls im Wettbewerbsrecht eine Rechtsprechung contra legem entwickelt.25 Ursächlich für die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit sind vielmehr vor allem strukturelle Gründe sowie eine unzutreffende Bewerbung des Informationsfreiheitsrechts, wie einige Beispiele zeigen sollen: 1. Ideologische Überhöhung Informationsfreiheit im Sinne eines grundsätzlichen Anspruchs auf Zugang zu Informationen der Verwaltung ist ein Instrument zur Herstellung, jedenfalls aber zur Gewährleistung der Transparenz der Verwaltung. Bei diesem instrumentellen Verständnis belassen es die Begründungen der Gesetze aber nicht. Nach ihrem Verständnis endet die Zielsetzung der Informationsfreiheit nicht bei der Gewährleistung der Zugänglichkeit. Vielmehr sollen die zugänglichen Daten erstens zur Kontrolle der 23
Vgl. hierzu Caspar, ZD 2012, S. 445 ff. einerseits und Wewer, Verwaltung & Management 2014, S. 1 ff., andererseits. 24 Diskutiert werden solche Gesetze etwa in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und auch Baden-Württemberg. 25 Kritisch hierzu etwa Wolff, DVBl 2013, 1502 ff.
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Verwaltung, zweitens zur Partizipation an Verwaltungsentscheidungen und drittens zu deren Akzeptanz im Sinne eines „plébiscite de tous les jours“ genutzt werden. Im besonderen Informationsfreiheitsrecht kommt eine Verwendung der Daten zugunsten des Umweltschutzes bzw. zugunsten des Verbraucherschutzes hinzu. Insbesondere die allgemeinen Zielsetzungen der Kontrolle, der Partizipation und der Akzeptanz stehen in der Konsequenz der demokratie-theoretischen Begründung des Informationsfreiheitsrechts. Danach soll der freie Informationszugang vor allem ein Instrument für politisch motivierte und interessierte Bürger sein, um Verwaltungsentscheidungen kontrollieren bzw. im Vorfeld beeinflussen zu können. Obwohl sich diese Zielsetzungen im Gesetzestext nicht wiederfinden, wird ihnen in Literatur und Rechtsprechung mitunter ein Gewicht beigemessen, das in der Abwägung mit entgegenstehenden grundrechtlich geschützten Interessen zu überwiegen scheint. Das Informationsfreiheitsrecht ignoriert insofern das persönliche Interesse eines jeden Antragstellers und abstrahiert es zu einem allgemeinen Interesse an Kontrolle, Partizipation und Legitimationsvermittlung. Diese Art der ideologischen Überhöhung ist nicht nur grundsätzlich zu bedauern, sie muss vor allem im konkreten Fall zu Unsicherheiten führen, wenn der jeweiligen anspruchsverpflichteten Stelle das egoistische Interesse des individuellen Antragstellers bekannt ist und sie gleichwohl nicht das persönliche, sondern nur ein abstrahiertes Interesse in eine etwaig gebotene Abwägung einstellen muss, das sie zudem nicht hinreichend gewichten kann. Dieser mögliche Widerspruch zwischen dem individuellen Zugangsinteresse im konkreten Fall und seiner abstrakt-theoretischen Überhöhung muss sich freilich nicht immer zu Gunsten des Informationszugangs auswirken. Ebenso gut sind Fälle denkbar, in denen ein individuelles Interesse von solchem Gewicht und vor allem überhaupt wägbar ist, so dass es sich gegenüber Ausnahmen und Beschränkungen durchzusetzen vermag, während das Rekurrieren auf ein abstraktes Informationsinteresse im Dienste einer wie auch immer definierten Demokratie zu diffus bleibt, um sich gegenüber entgegenstehenden Belangen durchzusetzen. Entscheidend ist vielmehr schon auf grundsätzlicher Ebene, dass das Informationsfreiheitsrecht mit der Partizipation, der Kontrolle und der durch Akzeptanz vermittelten Legitimation Zielsetzungen verfolgt, die es nicht gewähren kann: Räumt der Gesetzgeber den Einzelnen einen zweckunabhängigen Zugangsanspruch zu Informationen der Verwaltung ein, endet seine Steuerungsfähigkeit bei dem Zwischenziel der Herstellung von Transparenz. Er kann durch die Gewährung von Informationszugangsrechten in gewissen Grenzen die grundsätzliche Öffentlichkeit der Verwaltung herstellen. Doch wie und wozu die zugänglichen Informationen verwendet werden, hat er – bewusst – nicht geregelt. Ob, in welchem Ausmaße und mit welcher Absicht die Berechtigten von ihrem Informationsanspruch Gebrauch machen, entzieht sich daher weitgehend dem Einfluss des Gesetzgebers. Die von den Gesetzen und Gesetzesbegründungen vorgegebenen Ziele allgemeiner Informationszugangsrechte stehen insofern in gewissem Maße im Widerspruch zur Zweckunabhängigkeit
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deren Gewährleistung, denn die logische Konsequenz der voraussetzungslosen, zweckunabhängigen Einräumung eines allgemeinen Informationszugangsanspruchs ist, dass das im konkreten Einzelfall individuell bestimmte Ziel des informationsbegehrenden Bürgers nicht mit den abstrakt verfolgten Zielen des informationszugangsgewährenden Gesetzgebers kongruieren muss. Die Gewährleistung von allgemeinen Informationszugangsrechten ist insofern in besonderer Weise durch ihren indirekten Charakter gekennzeichnet, ist als indirektes Steuerungsinstrument zu klassifizieren. Gerade deshalb sind die Ziele des Gesetzgebers von den Wirkungen der Gesetze zu unterscheiden, sind Enttäuschungen strukturell vorprogrammiert, wenn diese Unterscheidung nicht gemacht wird. Denn wegen dieses möglichen Unterschiedes von Funktionen und Wirkungen beschreiben die gesetzlichen Ziele des Informationsfreiheitsrechts letztlich nur Möglichkeiten: Das allgemeine Informationszugangsrecht zielt auf Kontrolle und gewährt doch nur Kontrollierbarkeit, es zielt auf Partizipation und gewährt doch nur Partizipationsoptionen, es zielt auf eine wirtschaftliche Nutzung der Information und gewährt doch nur deren Nutzbarkeit, es zielt auf eine gute Verwaltungspraxis und ermöglicht diese doch nur.26 Ob und inwieweit es das Verwaltungshandeln durch eine potentielle Akzeptanz zudem auch materiell legitimiert, mag je nach primär politik- oder eher rechtswissenschaftlicher Perspektive unterschiedlich beurteilt werden. Die gebotene Entideologisierung des Informationsfreiheitsrechts und die notwendige Abkopplung der individuellen Zugangsinteressen von generellen Zielsetzungen muss und soll nicht zu einem Bedeutungsverlust des Informationsfreiheitsrechts führen. Im Gegenteil offenbart eine solche Perspektive, dass die Wirkungen des Informationsfreiheitsrechts über die politischen Zielsetzungen des Gesetzgebers hinaus gehen. Das Informationsfreiheitsrecht entfaltet schlicht Grundrechtsgebrauch ermöglichende Wirkungen, es wirkt freiheitsermöglichend und freiheitserweiternd. Es differenziert nicht danach, ob die erlangten Informationen zu politischen oder zu anderen Zwecken verwendet werden, etwa zu wirtschaftlichen Zwecken oder auch zu Zwecken, die sich grundrechtlich allein unter die allgemeine Handlungsfreiheit fassen lassen. Das Informationsfreiheitsrecht ist insoweit indifferent. Bei der Abwägung mit privaten Belangen Dritter stehen sich insoweit zwei grundsätzlich gleich gewichtige Interessen gegenüber, ohne dass die Zugänglichkeit durch seine vermeintlich demokratische Begründung ein besonderes Gewicht erhielte.27 2. Voraussetzungsvoller Zugangsanspruch Ein weiterer Grund für erwartbare Enttäuschungen vom geltenden Informationsfreiheitsrecht liegt darin begründet, dass es als voraussetzungslos kommuniziert wird, obwohl es voraussetzungsvoll ist. Die vom Gesetzgeber propagierte und zur 26
So schon Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004, S. 92 f. Rossi, in: Hecker u. a. (Hrsg.), Aktuelle Rechtsfragen und Probleme des Informationszugangs, UTR 108, S. 197, 221 f. 27
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Abgrenzung des Informationsfreiheitsrechts von anderen Zugangsansprüchen auch von Wissenschaft und Rechtsprechung übernommene Charakterisierung des Informationsfreiheitsrechts fokussiert verkürzend nur auf die anspruchsbegründenden Voraussetzungen und blendet die anspruchsbeschränkenden, jedenfalls aber die anspruchsausschließenden Voraussetzungen aus.28 Bei solcher Betrachtung muss jede Zugangsverweigerung als Verletzung des subjektiven Rechts empfunden werden, auch wenn sie materiell dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Vorzugswürdig ist es dagegen, die anspruchsausschließenden und -beschränkenden Tatbestandsmerkmale als negative Anspruchsvoraussetzungen mit in den Blick zu nehmen. Dies folgt regelmäßig schon aus den anspruchsnormierenden Formulierungen, die etwa wie § 1 Abs. 1 S. 1 IFG davon sprechen, dass der Anspruch „nach Maßgabe dieses Gesetzes“ gewährt wird. Das Informationsfreiheitsrecht gewährt einen subjektiven Anspruch insofern zwar unabhängig von persönlichen, nicht aber unabhängig von sachlichen Voraussetzungen. Dementsprechend hängt der Erfolg eines Antrags davon ab, dass keine Ausnahmen und Beschränkungen vorliegen. Die Gesetzgeber haben insoweit keine allgemeine und unbeschränkte Transparenz von Behördeninformationen angeordnet, sondern nehmen vielmehr bestimmte Informationen von dem Zugangsanspruch aus. Dabei bedienen sie sich unterschiedlicher Regelungstechniken. Für einen Teil der Informationen wird der Anspruch schon tatbestandlich ausgeschlossen („Der Anspruch besteht nicht …“), für einen anderen Teil wird eine negative Bescheidung des Anspruchs vorgegeben („Der Anspruch ist abzulehnen …“), empfohlen („Der Antrag soll abgelehnt werden …“) oder ermöglicht („Der Anspruch kann abgelehnt werden …“). Es würde den gesetzgeberischen Willen in unzulässiger Weise verkürzen, blendete man solche anspruchsausschließenden bzw. anspruchsbegrenzenden Regelungen bei der Frage aus, welche Informationen der Allgemeinzugänglichkeit unterfallen und welche nicht. Dies gilt insbesondere auch für die gesetzesgebundenen Gewalten, die die gesetzlichen Vorgaben für den Ausgleich zwischen der Transparenz der Verwaltung sowie dem freien Informationszugang auf der einen Seite und öffentlichen bzw. privaten Interessen auf der anderen Seite nicht im konkret-individuellen Fall durch eigene Wertungen unterlaufen dürfen. 3. Quantitative Betrachtungen Vor diesem Hintergrund erlauben empirische Erhebungen über den Erfolgsquotient von Zugangsanträgen keine Aussage über das Maß an Transparenz, denn sie fokussieren verkürzend auf den grundsätzlichen Zugangsanspruch und blenden die rechtstaatlich gebotenen Ausnahmen aus. Dies wird bei der Bewertung des Informationsfreiheitsrechts, jedenfalls bei seiner politischen Bewertung, regelmäßig übersehen. Sie erwecken den Eindruck, als ob dem Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis des Informationsfreiheitsrechts erst dann hinreichend Rechnung getragen ist, wenn eine entsprechende Erfolgsquote erreicht wird. Nur vereinzelt wird erkannt, dass 28
Näher Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, S. 161, 195 ff.
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in jedem einzelnen Fall eine qualitative Betrachtung erforderlich ist, so dass nicht von vorneherein ausgeschlossen werden kann, dass sogar in der Mehrzahl der Fälle eine Ausnahme von der Regel in Betracht kommt.29 4. Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis Doch das vom Informationsfreiheitsrecht geschaffene und es charakterisierende Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis von Informationszugang zu Informationsrestriktion ist kein formales, ist vor allem kein numerisches, das sich in der Erfolgsquote von Zugangsanträgen widerspiegeln könnte. Es ist vielmehr in erster Linie ein prozedural und darüber hinaus ein inhaltlich zu bestimmendes Verhältnis. Prozedural wirkt sich der Grundsatz auf die Beweislast aus. Dass nicht der Antragsteller ein Zugangsinteresse, sondern die Behörde einen Ausschlussgrund darzulegen hat, ist der eigentliche Paradigmenwechsel zwischen dem Prinzip der beschränkten Aktenöffentlichkeit und der Informationszugangsfreiheit. Inhaltlich wirkt dieser Paradigmenwechsel zum einen dadurch fort, dass sämtliche Informationsfreiheitsgesetze die Zugänglichkeit soweit wie möglich anordnen und insofern auch ein teilweiser Zugang zu bewilligen ist. Zum anderen wirkt das intendierte Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis als Auslegungsregel in die Interpretation der anspruchsausschließenden bzw. -beschränkenden Bestimmungen hinein. Allerdings wirkt dieses Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis erst im Anwendungsbereich des IFG, nicht jedoch für die Frage, ob der Anwendungsbereich des IFG eröffnet ist. Indem die Gerichte aber zuweilen von den normierten Ausnahmen auf die Eröffnung des Anwendungsbereichs schließen, verdoppeln sie die Wirkung des Grundsatz-Ausnahme-Verhältnisses: Die Ausnahmebestimmungen werden zunächst instrumentalisiert, um den Anwendungsbereich zu eröffnen, und sie werden im eröffneten Anwendungsbereich sodann eng ausgelegt. Dies verkehrt den Willen des Gesetzgebers in sein Gegenteil, der bestimmte Informationen dadurch vor einer Preisgabe schützen wollte, dass er sie von vorneherein aus dem Anwendungsbereich ausgenommen hat und zur Sicherheit noch eine Ausnahmeklausel geschaffen hat. Dieser Intention kann nur mit einer strengen Alternativität Rechnung getragen werden: Entweder ist der Anwendungsbereich des IFG eröffnet, dann in der Tat sind die Ausnahmebestimmungen eng auszulegen; oder der Anwendungsbereich ist nicht eröffnet, so dass es auf eine enge oder weite Auslegung des Anwendungsbereichs nicht ankommt. In keinem Fall aber darf das Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis als formal-numerisches verstanden werden, das erst bei einer bestimmten Quote von erfolgreichen Zugangsanträgen gewahrt werde. Der Erfolg eines Zugangsantrags hängt von den inhaltlichen Voraussetzungen und also von seinem Antragsgegenstand ab. Ist die Mehrheit von Zugangsanträgen auf unzulässige Antragsgegenstände gerichtet, ist die Er29
VG Frankfurt, NVwZ 2008, 1384, 1385.
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folgsquote zwangsläufig kleiner als die Zahl der abgelehnten Anträge. Sie mag dann als rechtspolitische Forderung nach einer Aufweichung der gesetzlichen Ausnahmebestimmungen instrumentalisiert werden, kann aber nicht Vollzugsdefizite des geltenden Informationsfreiheitsrechts identifizieren. 5. Grundrechtlicher Grundsatz des Geheimnisschutzes Dritter Auch bei entsprechenden rechtspolitischen Forderungen nach einer Ausweitung des Informationsfreiheitsrechts durch eine Aufweichung seiner Ausnahmebestimmungen sind Enttäuschungen aber erwartbar. Denn die Propagierung eines dem Informationsfreiheitsrecht zu Grunde liegenden Grundsatz-Ausnahme-Verhältnisses täuscht darüber hinweg, dass es dem Gesetzgeber wegen der grundsätzlichen Freiheitsvermutung der Grundrechte und der Wirkrichtung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips verwehrt ist, grundrechtlich geschützte Informationen Dritter im Grundsatz offen zu legen. Ein solcher Vorrang missachtete das Verhältnis zwischen grundrechtlich geschützter Freiheit und staatlich vorgenommenen Eingriffen, das eben vor allem durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip geschützt wird. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verlangt, „dass eine Grundrechtsbeschränkung von hinreichenden Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt wird, das gewählte Mittel zur Erreichung des Zwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zumutbaren noch gewahrt ist.“30 Weil also nicht der Bürger den Gebrauch seiner Freiheit, sondern umgekehrt der Staat die Beschränkung dieser Freiheit begründen muss, streitet das Verhältnismäßigkeitsprinzip stets zu Gunsten des Grundrechtsgebrauchs. Das von Informationsfreiheitsgesetzen intendierte Grundsatz-Ausnahme-Verhältnis von Öffentlichkeit zu Geheimhaltung beschränkt sich deshalb stets, auch wenn dies in den einzelnen Gesetzen nicht immer hinreichend zum Ausdruck kommt, auf das bipolare Verhältnis zwischen einem zugangsbegehrenden Bürger und der zugangsgewährenden Verwaltung. Hier steht es dem Gesetzgeber aufgrund seiner – im Wesentlichen nur kompetenzrechtlich begrenzten – Verfügungsbefugnis über „seine“ Informationen frei, das Maß der Geheimhaltung zu bestimmen und eine grundsätzliche Zugänglichkeit von Verwaltungsinformationen zu normieren.31 Sobald aber grundrechtlich geschützte Belange Dritter ins Spiel kommen, ist der Gesetzgeber durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben daran gehindert, entsprechende Informationen im Grundsatz freizugeben. Denn ansonsten würde sich die Darlegungs- und Beweislast von der durch die Zugangsgewährung in Grundrechte eingreifenden Behörde auf den durch diese Grundrechte geschützten Bürger übertragen. In 30
So treffend BVerfGE 78, 77 (85). A.A. Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 340; deutlicher noch ders., ThürVBl. 2003, S. 193 (200); vgl. auch Partsch, NJW 1998, S. 2559 (2559 f.). 31
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geheimnisschützende Grundrechte Dritter darf aber nur soweit eingegriffen werden, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht entgegensteht.32 6. Bedeutung des Zugangszwecks Enttäuschungen sind zudem erwartbar, wenn einerseits die Zweckunabhängigkeit des Zugangsanspruchs als Besonderheit herausgestellt wird, andererseits aber die Offenlegung des Zugangsinteresses verlangt wird, sobald abwägungsrelevante Interessen Dritter betroffen sind. Dies jedenfalls ist die Regelung in § 7 Abs. 1 S. 3 IFG, der für mehrpolige Informationsverhältnisse eine obligatorische Begründung verlangt. Die Bestimmung durchbricht den Grundgedanken des Informationsfreiheitsrechts, nach dem der Zugangsanspruch gerade unabhängig von einem bestimmten Zweck bestehen soll. Diese innergesetzliche Inkonsequenz ist rechtlich grundsätzlich zulässig, erscheint aber nicht hinreichend durchdacht. Vordergründig mag die Bestimmung eine bessere Abwägung zwischen dem konkret-individuellen Zugangsinteresse auf der einen Seite und entgegenstehenden Belangen Dritter auf der anderen Seite erlauben. Doch letztlich trägt diese Überlegung nicht, weil die Behörde mit der individuellen Zugänglichkeit von Informationen zugleich auch über die Allgemeinzugänglichkeit der Informationen entscheidet. Denn erstens wird sie schon durch den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung verpflichtet, etwaige nachfolgende Zugangsanträge gleich zu bescheiden, zweitens verlangt namentlich das IWG einen diskriminierungsfreien Zugang zu amtlichen Informationen und drittens verliert die Behörde jedenfalls faktisch das Verfügungsrecht über die bereit gestellten Informationen, so dass sie mit einer vollständigen Publikation durch den Antragsteller rechnen muss. Insofern spielt das individuelle Zugangsinteresse keine oder allenfalls eine indizierende Rolle. 7. Geringe Informationsqualität Schließlich divergieren Anspruch und Wirklichkeit des Informationsfreiheitsrechts auch deshalb, weil die zugänglichen Informationen regelmäßig von geringer Qualität sind. So sie „nur“ zur Kontrolle der Verwaltung begehrt werden, mögen sie diesem Zwecke zwar genügen. Doch für andere, für weitergehende Verwendungszwecke erweist sich das Informationsfreiheitsrecht eher als Fundgrube denn als Fachhandel.33 Denn die zugänglichen Daten fallen in der Regel nur als Nebenprodukt der Aufgabenerfüllung der anspruchsverpflichteten Stellen an. Die Behörden sammeln Daten grundsätzlich nicht als Selbstzweck, sondern verwenden sie zu einem 32
Vgl. BVerfGE 32, 373 (381); 80, 367 (374). Dies galt und gilt auch für das Verhältnis zwischen dem Informationsinteresse der Presse und Geheimschutzinteressen von Dritter: Dem privaten Interesse kommt von vorneherein ein größeres Gewicht zu. Vgl. Windsheimer, Information als Interpretationsgrundlage, S. 173 f.; Schröer-Schallenberg, Informationsansprüche der Presse gegenüber Behörden, S. 133, m.w.N. 33 Vgl. hierzu schon Rossi, NVwZ 2013, 1263, 1265.
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bestimmten sachlichen Zweck – im Rahmen einer Eröffnungs- oder einer laufenden Kontrolle oder im Zusammenhang mit der planenden Verwaltungstätigkeit. Weil die Daten bei den Behörden grundsätzlich nur als Nebenprodukt ihrer Aufgabenerfüllung anfallen, richtet sich der informationsfreiheitsrechtliche Zugangsanspruch regelmäßig nur auf vorhandene Informationen. Die Behörden trifft grundsätzlich weder eine Informationsbeschaffungs- noch eine besondere Informationsaufbereitungspflicht. Den Wünschen der Antragsteller können sie insoweit häufig nicht gerecht werden. Sie generieren und archivieren Daten nur nach ihren eigenen spezifischen Bedürfnissen und nach den Regeln der Aktenführung, nicht hingegen nach etwaigen und im Vorhinein ja auch in ihrer Vielfalt nicht vorhersehbaren Wünschen potentieller Antragsteller. Zudem schulden die informationspflichten Stellen den Antragstellern grundsätzlich keine individuelle Erläuterung. Sie sind allerdings verpflichtet, ihr Informationssystem von vornherein so anzulegen, dass sich der Bürger aus den abgelegten Daten relativ einfach eine Meinung bilden kann. Die grundsätzliche Zugänglichkeit aller Informationen ist insoweit von vornherein bei der Aktenführung zu berücksichtigen. Betreibt eine Behörde kein ordentliches Informationsmanagement, kann sie sich bei einem individuellen Zugangsantrag jedenfalls nicht auf den Ausnahmetatbestand des unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwandes berufen. Auch bei einem ordentlichen Informationsmanagement besteht indes keine Garantie dafür, dass es sich bei den zugänglichen Daten um vollständige und aktuelle Informationen handelt. Vollständigkeit wird nur in Bezug auf den Informationsbestand der jeweiligen Behörde geschuldet. Ob und wo zu dem betreffenden Sachverhalt weitere Informationen existieren, wird durch die Bescheidung eines Zugangsantrags nicht abschließend beantwortet. Bewusst sein sollte den Antragstellern auch, dass sich der Inhalt und die Bedeutung von Informationen im Laufe der Zeit verändern können. Dies mag insbesondere bei solchen Informationen bedacht werden, die die Behörden im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Eröffnungskontrolle einholen und zur Grundlage ihrer Entscheidung machen. Schließlich leidet das Qualitätsniveau der zugänglichen Daten darunter, dass es im Informationsfreiheitsrecht keine Gewähr für die Richtigkeit der Informationen gibt.34 Anders als etwa die Richtigkeit von Grundbüchern vermutet wird und insofern ein öffentlicher Glaube besteht,35 bezieht sich die „Beweiskraft“ im Informationsfreiheitsrecht nur auf die bloße Existenz von Informationen, nicht auf deren Inhalt. Die Behörden trifft deshalb keine Amtspflicht, den Inhalt der preiszugebenden Informationen zu überprüfen, so dass ein durch eine falsche Information verursachter Schaden grundsätzlich nicht über einen Amtshaftungsanspruch ersetzt werden kann.
34 35
Explizit etwa § 7 Abs. 3 S. 2 IFG. Vgl. §§ 891 ff. BGB.
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8. Offener Kontrollmaßstab Die Wirklichkeit der Informationsfreiheit wird ihrem postulierten Anspruch auf eine Kontrolle der Verwaltung in vielen Fällen nicht gerecht werden können. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie beginnen bei dem Umstand, dass die Kontrolle der Verwaltung durch Informationsfreiheit in ihrer Wirksamkeit von Instrumenten abhängt, deren Ineffizienz die vermeintlichen Kontrolldefizite erst ausgelöst haben.36 Sie setzen sich fort in der Offenheit des Kontrollmaßstabs. Denn während die durch allgemeine Informationszugangsfreiheit ermöglichte Kontrolle der Verwaltung nicht auf einen bestimmten Kontrollmaßstab festgelegt ist, bestimmen sich die materiellen Verwaltungsentscheidungen in einem Rechtsstaat primär nach dem Maßstab des Rechts. Soweit der Ruf nach allgemeiner Informationszugangsfreiheit auch als Forderung zu verstehen ist, das Rechtsstaatsprinzip als leitende Maxime für die Verwaltungskontrolle durch das Demokratieprinzip abzulösen, das primär politische Maßstäbe bereit hält, wird die Wirklichkeit des geltenden Informationsfreiheitsrechts so lange als defizitär empfunden werden, wie der Maßstab der Rechtmäßigkeit nur tendenziell in den Hintergrund gerückt, nicht völlig verdrängt wird. Auch insofern verspricht die politische Bewerbung des Informationsfreiheitsrechts mehr als es in einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen leisten kann. 9. Harmonisierung des Informationsfreiheitsrechts Als letztes Beispiel für das strukturell bedingte Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des geltenden Informationsfreiheitsrecht sei die eingangs skizzierte Zerfaserung des Informationsfreiheitsrechts in Deutschland benannt. Denn weil die einzelnen Informationsfreiheitsgesetze nur in ihrer Grundstruktur übereinstimmen, hinsichtlich der konkreten Voraussetzungen aber mitunter erheblich voneinander divergieren, ohne zudem ihren jeweiligen Anwendungsbereich klar voneinander abzugrenzen, wird das Informationsfreiheitsrecht sowohl von potentiellen Antragstellern wie von den anspruchsverpflichteten Stellen als defizitär empfunden. Hier ist zwar nicht unbedingt ein Kodifizierungs-, gleichwohl aber ein Harmonisierungsbedarf erkennbar,37 dem sich die beteiligten Gesetzgeber in Bund und Ländern bspw. durch ein Mustergesetz nähern sollten. IV. Freiheitliches Verständnis des Informationsfreiheitrechts Die wenigen und keinesfalls abschließenden Beispiele für die strukturbedingten Enttäuschungen von der Wirklichkeit der Informationsfreiheit gegenüber den an sie gestellten Ansprüchen stellen aber nicht nur die konkreten gesetzlichen Ausgestaltungen, sondern das hinter ihnen stehende „Steuerungskonzept der informierten Öf36 37
Näher Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, S. 235 ff. Vgl. hierzu Rossi, ZRP 2014, S. 201 ff.
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fentlichkeit“ insgesamt in Frage. Soweit es nur auf Partizipationsmöglichkeiten und auf Kontrollmöglichkeiten der einzelnen Bürger zielt und insofern Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten auch jenseits von offiziellen Ämtern und tradierten politischen Parteien eröffnet, dürfte es kaum in Frage zu stellen sein. Doch soweit ihm das Leitbild eines engagierten Bürgers zu Grunde liegt, der Rechte verliert, wenn er sie nicht wahrnimmt, sind Fragen aufgeworfen, die nicht hinreichend beantwortet werden. Ist der einzelne Bürger tatsächlich verpflichtet, mindestens aber doch angehalten, aus seiner staatsbürgerlichen Verantwortung heraus an einer Verwaltungsentscheidung teilzuhaben und aktiv an hoheitlichen Entscheidungsprozessen mitzuwirken?38 Gibt es eine Bürgerpflicht zur partizipativen Demokratie? Und muss die passive Mehrheit hinnehmen, was sich aus dem Engagement einer aktiven Minderheit ergibt, weil jeder Einzelne sich hätte einbringen, sich hätte positionieren können? Hier sind noch grundlegende Diskussionen im Verhältnis zwischen der partizipativen und der repräsentativen Demokratie zu führen. Dabei möchte man dem „Steuerungskonzept der informierten Öffentlichkeit“ nicht nur die Realität, sondern vor allem auch das grundgesetzliche Konzept der individuellen Freiheit entgegenhalten, das erstens keine Priorität von „politischen“ Grundrechten gegenüber anderen Grundrechten statuiert, das zweitens jeweils auch negative Freiheiten grundrechtlich schützt, so dass drittens keine Nachteile erdulden muss, wer sich auf die Arbeitsteilung einer repräsentativen Demokratie verlässt. Vor allem aber muss die grundsätzliche Frage gestellt und beantwortet werden, wer nach dem „Steuerungskonzept der informierten Öffentlichkeit“ eigentlich wem gegenüber verantwortlich ist. Es scheint, als ließen sich Anspruch und Wirklichkeit der Informationszugangsfreiheit deutlich besser in Einklang bringen, wenn das Informationsfreiheitsrecht von seiner demokratietheoretisch aufgeladenen Ideologisierung befreit und stärker freiheitlich gedacht wird. Wenn nicht jeder Antragsteller als Anwalt des Demokratieprinzips und des Gemeinwohls, sondern als Subjekt begriffen und behandelt wird, dessen individuelle Interessen im Rahmen der grundrechtlichen Freiheitsverbürgung in einen Ausgleich mit Belangen Dritter zu bringen sind, dann werden sich die gegenläufigen Interessen zwischen Transparenz und Geheimhaltung in Staat, Verwaltung und Wirtschaft wie von unsichtbarer Hand lösen lassen.
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243.
So etwa Martin, Das Steuerungskonzept der informierten Öffentlichkeit, 2012, S. 122 u.
Lobbyismus und Transparenz Thomas Leif Das Zustimmungs-Fundament der parlamentarischen Demokratie scheint immer poröser zu werden: ein Bundestag, der um öffentliche Beachtung ringt, eine stetig sinkende Wahlbeteiligung, ein grassierendes Desinteresse Mandate und Funktionen zu übernehmen und schließlich eine Diskurs-Allergie der Regierenden, die das Interesse der Bürger an der ,öffentlichen Sache‘ lähmt. Der ehemalige erste Mann im Staat, Christian Wulff hatte diese Zeichen schon früh erkannt. Deshalb wollte er seine Amtszeit dem Thema „Zukunft der Demokratie“ widmen. Er sorgte sich vor allem um das „mangelnde Interesse vieler Bürger, sich in den Kommunen zu engagieren.“ Auch das schlechte Image der Politiker motivierte ihn zu seiner ungewöhnlichen programmatischen Schwerpunktsetzung. „Heute begleitet die Politiker viel Häme, viel Spott und viel Misstrauen – mehr als früher.“ Ungewöhnlich klar analysierte der ehemalige Bundespräsident: „Der Graben zwischen Wählern und Gewählten wird größer.“ Vertrauensverlust und Wahlverweigerung gegenüber Politik und Parlament einerseits, Passivität, Beteiligungs-Abstinenz, Desinteresse und Anspruchsdenken der Bürger andererseits. Die Kerze der Demokratie brennt also von zwei Seiten und offenbar können weder (etablierte) Institutionen noch (charismatische) Leitfiguren eine überzeugende Perspektive zur Stabilisierung und Revitalisierung gelebter Demokratie in funktionierenden Strukturen bieten. Zum nüchternen Lagebild gehört auch, dass Wulffs Entscheidung, die Bedrohung der Demokratie in Deutschland zu ,seinem‘ Thema machen zu wollen, kaum öffentliche Resonanz fand. Dieses Aufmerksamkeitsdefizit sollte im März 2011 behoben werden. Unter dem Dach der Bertelsmann-Stiftung und der Schirmherrschaft des damaligen Bundespräsidenten tagte das größte „Ersatz-Parlament“ aller Zeiten mit mehreren 1.000 Beteiligten. Ein gigantischer PR-Coup – und auch ein Zeichen, dass das und der orientierungslose Souverän mit einem großen Demokratie-Spektakel abgelenkt wird. Selbst die Verantwortlichen in der Bertelsmann-Stiftung waren vom Ergebnis dieses Großprojektes enttäuscht. Der damalige Bundespräsident flüchtete sich – entgegen der in systematischer Vorbereitung vereinbarten Absprachen – in wolkige Absichtserklärungen und enttäuschte das ambitionierte „Bürger-Parlament“ mit unverbindlichen Beruhigungsfloskeln. Das Ende eines anspruchsvollen, am Ende aber gescheiterten Projekts. Möglicherweise hatte dieses Scheitern einen zentralen Grund: Eine wichtige Ursache für den parlamentarischen Bedeutungsverlust wird in Deutschland regelmä-
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ßig ausgeblendet: der zunehmende Einfluss des Lobbyismus auf Regierung und Parlament und die eng verzahnte, routinierte Kooperation von Politikern mit Lobbyisten. Zwar werden bedrohliche Einflusszonen der „Stillen Macht“ vom Bundestagspräsidenten, früheren Verfassungsrichtern und Spitzenpolitikern gelegentlich aufgegriffen, aber besonders der beharrliche Druck der Finanzlobby im Schatten der Banken- und Schuldenkrise fördert bei interessierten Bürgern ernsthafte Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Parlamentsbetriebs. Das lautlose Mitregieren, die stille Beteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen und die beachtliche Gestaltungs- und Verhinderungsmacht der „Fünften Gewalt“ kann offenbar – allen Widerständen zum Trotz – nicht mehr von der politischen Agenda verdrängt werden. Die Vertrauens- und Handlungskrise von Parlament und Regierung ist eng verbunden mit den öffentlich nicht sichtbaren und nicht legitimierten Einflusszonen des wachsenden Lobby-Marktes. Souveränitätsverzicht und Gestaltungsnotstand der Politik verbindet sich mit einem Bedeutungsverlust der Parlamente und einer Diskurs-Allergie der politischen Klasse. Vor diesem Hintergrund stellt sich sowohl aus der Perspektive mancher Lobbyisten als auch von Politikern verstärkt die Frage nach der sinnvollen Regulierung des Lobbyismus. (Kolbe/Hönigsberger/Osterberg 2011). Der direkte Wechsel von zwei Kanzleramtsministern, mehreren Ministern, einem halben Dutzend Staatssekretären und dutzenden Spitzenkräften aus Politik und Ministerialbürokratie hat das Phänomen von der Latenz- in die Sichtbarkeits-Zone positioniert. Lobbyismus ist die zielgerechte Beeinflussung von Entscheidungsträgern und die organisierte Interessenvertretung gegenüber Regierung, Parlament, politischen Akteuren und Medien. Ziel des Lobbyismus ist die möglichst lautlose Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen vorwiegend jenseits der öffentlichen Beobachtung in informellen Verhandlungen mit Politikern in Regierung, Ministerialbürokratie und Parlament. Im Kern geht es um die Beeinflussung von Gesetzen und Regeln oder die Verhinderung beziehungsweise Abschwächung von politischen Vorhaben. Das Spektrum der eingesetzten Mittel und Instrumente zur Durchsetzung dieser Ziele – von legitimen Anhörungen bis zu negativem campaigning oder direkten Absprachen in Grauzonen – ist schier unbegrenzt (Leif/Speth 2003/2006)1.
1 Besonders im Politikfeld „Landwirtschaft und Verbraucher“ sowie „Gesundheit“ wird selbst in den zuständigen Parlamentsausschüssen eine besonders hohe Lobbydichte festgestellt. Patrick Ahlers, FDP und Lobbyist der Lebensmittelbranche steht für eine besondere Synergie: Er nahm selbst an nicht-öffentlichen Sitzungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher teil. Offenbar kein Einzelfall. Auch der Vorgang, dass ein Lobbyist der Futtermittelindustrie ausgerechnet in der Hochphase der Futtermittelskandale zum Staatssekretär im zuständigen Fachministerium avancierte, illustriert den Lobbyeinfluss. Das gleiche gilt für den zuständigen Fachausschusses im Deutschen Bundestag, in dem eine große Zahl von Akteuren mitwirkt, die auch nebenberuflich Lobbyinteressen vertreten.
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I. Die Infrastruktur des Berliner Lobbyismus Die 2.180 (Stand: 2014) in Berlin beim Bundestag eingetragenen Lobbyorganisationen mit mehr als 5.000 Ausweisen, die ihnen den freien Zugang im Bundestag ermöglichen, haben sich in den vergangenen Jahren weiter professionalisiert. Ihre Drähte in die Fraktionen sind so gut, dass Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktionen ihnen im Bedarfsfall noch weitere Hausausweise für den freien Zutritt zum Bundestag zur Verfügung stellen. Im Zuge der Banken- und Finanzkrise ist zudem eine radikalisierte Arbeitsweise und Forderungsdichte öffentlich erkennbarer. Hintergrundgespräche mit zentralen Akteuren und die Auswertung interner Strategiepapiere – dies ist fast die einzige belastbare Informationsquelle – bestätigten den Trend, dass die Berliner Top-Lobbyisten in der Regel über eine bessere Ressourcen-Ausstattung als etwa Parlamentarier, Fraktionen und Ministerbüros verfügen. Ein besonderes Kennzeichen der Branche ist die hochkarätige Repräsentanz aller parlamentarischer Farben – von Schwarz, Rot, Gelb bis zu Grün – die den Mitarbeitern der potenten Lobby-Büros in Berlin und Brüssel den persönlichen Zugang zu ihren Adressaten erleichtern soll. Erfahrene Lobbyisten aus dem einflussreichen Kreis des Collegiums, in dem sich 46 (Stand 7/2014)Vertreter vor allem der DAX-Unternehmen jenseits öffentlicher Beobachtung koordinieren, sehen folgenden Trend: „Es gibt einen Generationswechsel. Jüngere Lobbyisten verfolgen mit einem punktgenauen, eher technokratischen Stil ihren jeweiligen Business Case.“ Business Case – so die heutige Praxis-Definition von Lobbyisten – ist die gezielte Einflussnahme auf Parteien, Parlament und Regierung mit dem Ziel, die eigene Gestaltungs- und Verhinderungsmacht im Gesetzgebungsprozess mit allen Mitteln auszuspielen. Zentrales Anliegen der Lobbyisten ist es, alle Faktoren, Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen eines Entscheidungsfindungsprozesses frühzeitig zu identifizieren und entsprechend zu steuern. Bilanziert man die Einschätzungen führender Lobbyisten, so kann man festhalten, dass die Beschaffung von ExklusivInformationen, der Aufbau von Kontakten zu Spitzenakteuren und Meinungsführern in der Politik mit dem Ziel der Verhinderung oder Mitgestaltung von Initiativen und Gesetzen die Arbeit bestimmt. Lobbyisten verstehen sich als Vetospieler mit beachtlicher „Feuerkraft“, die zudem die Klaviatur der Medienkooperation und Beeinflussung beherrschen. Die traditionell eingespielte Kooperation und selbstverständliche Dienstleistungserwartung vieler Politiker sowie der meist überhöhte Respekt von Ministerialbürokratie, Regierungsvertretern und Abgeordneten gegenüber den „WirtschaftsVertretern“, haben in den vergangenen Jahren den Blockade- und (Gestaltungs-) spielraum der Lobbyisten weit ausgedehnt. Diese reibungslose, oft symbiotische Zusammenarbeit wurde auch durch eine schleichende Veränderung des „Geschäftsmodells Politik“ unter der rot-grünen Bundesregierung forciert (Kaspari/Schröder 2008; Siefken 2007). Wer in den Fraktionen Top-Kontakte zu Lobbyisten pflegt und über
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einen Direktzugang verfügt, genießt in der Fraktionshierarchie einen besonderen Status. Konflikte sollen nicht gegen die Industrie, sondern von Anfang an möglichst im Konsens mit ihr geregelt werden. Die zunehmende Komplexität von Politikfeldern, die oft verwirrende Rechtslage, die wachsende Expertokratie und die internationale Verflechtung fördert zudem die selbstverständliche Akzeptanz von Lobbyvertretern. Deren Votum wurde und wird von Entscheidungsträgern auch als „Kläranlage der Vielstimmigkeit“ und als „Frühwarnsystem“ wahrgenommen, um vorab das zu erwartende Protest- und Klagepotential der betroffenen Wirtschaftssektoren auszuloten. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es im Berliner Betrieb eine Vielzahl formeller und informeller Gesprächsforen: mindestens fünf Landesvertretungen laden Lobbyisten meist kurz vor den Bundesratssitzungen zu vertraulichen Runden ein; nahezu alle Spitzenpolitiker stehen den Lobbyzirkeln „Collegium“ und „Adler-Kreis“ (36 Mitglieder) zum ausführlichen Austausch zur Verfügung; die SPD-Fraktion lädt Lobbyisten zum regelmäßigen „Lobby-Frühstück“; Minister(präsidenten), Generalsekretäre uvm. reden stundenlang selbst im kleinen Lobbyisten-Kreis von sechs Personen offener als in jedem Journalisten-Hintergrundgespräch, das „unter drei“ klassifiziert ist. Die Vertrauensbasis scheint hier ungewöhnlich tief zu sein. II. Das Instrumenten-Set der Lobbyisten Neun typische Handlungs- und Argumentationsmuster prägen die Einflusspraxis des Lobbyismus. Lobbyisten arbeiten stets mit einem ähnlichen Instrumentarium und einem überschaubaren Set an grundsätzlichen Argumenten. Dazu gehören: § Die frühzeitige Beschaffung aller vertraulichen und „geheimen“ Informationen und Referentenentwürfe zum jeweiligen Fachgebiet sowie die Präsentation direkter Reaktionen von Einzelkorrekturen bis hin zur Neufassung von Gesetzen und Initiativen; die Auslotung juristischer Gegenwehr für die jeweilige Argumentation nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“. Der Lobbyismus-Dienstleister Hubert Koch geht davon aus, dass „etwa ein Drittel“ der Berliner Lobbyisten Gesetzesentwürfe bereits im „Frühstadium“ v o r den festgelegten Fristen erhält. § Die Instrumentalisierung von vertrauten Kontaktpersonen auf allen politischen Ebenen, bevorzugt im Spitzenfeld der Bundesregierung, der Ministerialbürokratie und den Fraktionsspitzen. § Der Aufbau eines dichten Kontaktsystems zum direkten Umfeld der handelnden Spitzenakteure, der Verbände, der Fachleute in Wissenschaft und Medien. § Engste Tuchfühlung und intensive Kontaktdichte mit allen politischen Akteuren, um jederzeit interventions- und kontaktfähig zu sein; Aufbau und Pflege von Interventionspersonen in Parteien, Fraktionen und Regierung, die in akuten Konfliktsituationen unbürokratisch und „zeitnah“ den Zugang zum jeweiligen politisch verantwortlichen Spitzenpersonal herstellen können.
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§ Betonung des TINA-Prinzips (there is no alternative) als Grundachse der gesamten Kommunikation in Konfliktfragen um vermeintliche oder tatsächliche Belastungen für die Wirtschaft und den Wirtschaftsstandort Deutschland. § Die Drohung mit Arbeitsplatzverlusten oder Verlagerung von Jobs ins Ausland – begründet mit der Gefährdung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Abgeordnete aus den Wahlkreisen großer Industriefirmen sind hier die erste Adresse. § Die Drohung, Forschung und Entwicklung zu reduzieren und ins Ausland zu verlagern. § Die Drohung mit öffentlichen Kampagnen, besonders vor wichtigen (Wahl-)Terminen die Regierung anzugreifen sowie mit rigiden Medienangriffen oder den schonungslosen Mitteln des negative campaignings – also der gezielten Reputationsschädigung etwa über flächendeckende Anzeigenschaltungen – zu reagieren. § Die Fähigkeit und Bereitschaft, Konfliktdiskurse in der Öffentlichkeit über den besonderen Zugang und die so genannte „orchestrierte Kommunikation“ zu initiieren. Lobbyismus ist ohne die intensive Kooperation mit den Medien undenkbar (vgl. Leif 2010; tageszeitung 2011).
III. Forschungsstand Der Forschungsstand ist Not leidend, da der Zugang zu den Akteuren versperrt und gesichertes Quellenmaterial rar ist. Die überwiegende meist empiriefreie, dafür aber normativ aufgeladene Fachliteratur zum Thema Lobbyismus – meist von auftragsorientierten Dienstleistern – folgt bis heute dem Klischee der Normalität der Interessenvertretung, der sinnvollen Kooperation und der tradierten Routine des Parlamentsbetriebs. Das sorgfältig komponierte Bild der an das „Pluralismus-Prinzip“ gekoppelten Partnerschaft in Harmonie, der pragmatischen Zweckgemeinschaft und konfliktfreien Zusammenarbeit wurde jahrzehntelang von beiden Seiten – von Politikern und Lobbyisten – gepflegt. Die Literaturlage ist in der von der seit Jahren akzeptierten „Omerta-Kultur“ geprägt. Die sehr überschaubare wissenschaftliche Literatur ist im Kern von der These der Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit von Lobbyismus im parlamentarischen System geprägt. Die Literatur aus der Sicht der Akteure im Umfeld der Dienstleister konzentriert sich auf die oberflächliche best practise im Umgang mit Politikern bei gleichzeitiger Ausklammerung aller heiklen Grenzfragen. Sehr wenige, empirisch gesättigte Diplomarbeiten oder Dissertationen haben einzelne Sektoren des Lobbyismus ausgeleuchtet, aber kaum öffentliche Beachtung gefunden. Der Grund für diese schwache analytische Durchdringung eines relevanten Faktors im politischen Prozess hat zwei schlichte Gründe. Lobbyisten geben (in der Regel) keine Auskunft und Sozialwissenschaftlern fehlen die Rechercheinstrumente und die Hartnäckigkeit, an substantielle Informationen und Dokumente heranzukommen, die nicht öffentlich zugänglich sind. Eine für die Durchdringung des Lobby-Komplexes notwendige offensive und konsequente Informationsbe-
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schaffung gehört in der Breite nicht zu den selbstverständlich praktizierten Arbeitstechniken sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Folge: das Themenfeld bleibt in seiner Brisanz und Reichweite weitgehend unbeachtet und in der notwendigen Analysetiefe – gemessen an seiner faktischen Bedeutung – vernachlässigt. IV. Lobbyismus in der Demokratie – zu den Legitimationsquellen und zur verfassungsrechtlichen Grundierung des Lobbyismus Demokratie – verstanden als „Herrschaft des Volkes“ – ist in Deutschland wesentlich durch die Bestimmungen des Grundgesetzes geprägt. In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es einfach und klar: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat.“ Volkssouveränität, Repräsentativsystem, Mehrheitsprinzip und natürlich das Pluralismusprinzip sind hier verankert. Artikel 9 des Grundgesetzes sagt: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Aus diesem Artikel können Interessenverbände und Lobbygruppen ihre Beteiligungsrechte ableiten, sofern ihre „Zwecke und Tätigkeiten“ nicht den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bundesregierung sehen die Mitwirkung von Interessenverbänden ebenfalls vor. Mit Stellungnahmen in Anhörungen oder Enquete-Kommissionen können sie ihre Positionen formal einbringen. Die sehr unterentwickelten demokratietheoretischen Debatten rund um die Anatomie und Wirkkraft des Lobbyismus sind meist vom jeweiligen normativen Standort geprägt. Folgende Merkposten – sozusagen die Summe hinter der Klammer der Praxiserfahrungen – illustrieren die wesentlichen Konfliktdimensionen: Lobbyismus – unausgesprochen – als notwendiges Gegengewicht zur ausufernden Macht des Parteienstaates: Über die Aktivitäten der Lobby würden die sonst unterrepräsentierten Argumente vor allem der Wirtschaft als Kontrollfilter im politischen Entscheidungsprozess wirken. Diese normativen Aussagen stehen im direkten Kontrast zum zunehmend kritischeren Meinungsbild der Bürger.2 Die Tatsache, dass Interessengruppen in der Praxis keineswegs gleichgewichtig vertreten sind, findet bei den Lobbyismusbefürwortern kaum Beachtung. Jene Gruppen, die sich nicht oder nur marginal organisieren lassen, etwa von Initiativen, Vertretern der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen, sind gegenüber finanz- und ressourcenstarken Lobbyorganisationen strukturell benachteiligt. Das Grundproblem der Asymmetrie der Organisationsressourcen und Zugänge zu den „Entscheidern“ blenden die Befürworter eines unbegrenzten Lobbyismus meist aus. Diese Asymmetrie verstärkt jedoch die ohnehin gravierenden Ungleichgewichte: Starke 2 Bereits im August 2002 antworteten bei einer Umfrage von infratest dimap „Wie groß ist der Einfluß der Lobby auf Entscheidungen der Politik?“ zwei Drittel der Bürger mit „sehr groß“ (31 %) und groß (41 %); nur 18 % sahen den Einfluss als gering an, 4 % sahen keinen Einfluss. Vergleichbare Umfragen hatten auch in den folgenden Jahren eine ähnliche Tendenz.
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Interessen werden in diesem Prozess stärker, schwächere Interessen dadurch noch schwächer. Für die theoretische Annahme, die miteinander konkurrierenden Interessen glichen sich – sozusagen in naturwüchsiger Balance – aus und das Gemeinwohl werde nicht beeinträchtigt, sondern ausbalanciert, gibt es keine empirisch belastbaren Belege; die Durchsetzung oder Beachtung von (meist wirtschaftlichen) Partikularinteressen – wie im Fall der seit Jahren verhinderten Bankenregulierung – dient zudem nicht automatisch dem Gemeinwohl.3 Selbst unter den maßgeblichen Lobbyisten in Berlin dominiert die Einschätzung, das die Banken- und Versicherungslobby in den vergangenen Jahren „über-lobbyiert“ habe und damit die Spielräume der anderen Branchen geschmälert habe. Die innere Ordnung der Lobby-Organisationen müsste ebenfalls demokratischen Ansprüchen und Standards – etwa bezogen auf Transparenz und internes Controlling, etc. – genügen, um sich überhaupt auf das Pluralismusprinzip stützen zu können. Von Parteien und ihren Mandatsträgern werden – quasi als Voraussetzung zur Mitwirkung an demokratischen Prozessen – Finanzberichte, Nebentätigkeitserklärungen und öffentliche Parteitage sowie umfassende Öffentlichkeit als selbstverständlich vorausgesetzt. Die häufig vorgetragene Hypothese, der Einfluss der Lobby entziehe sich auf Grund der systemimmanenten Notwendigkeit von Diskretion und Vertraulichkeit der öffentlichen Kontrolle, ist fragwürdig. Denn Pluralismus funktioniert nur auf Grundlage von Kontrolle, Transparenz, Öffentlichkeit und Beteiligung. Diese zentralen Leitbilder werden jedoch von mächtigen Lobbygruppen explizit – quasi als identitätsstiftendes Merkmal – ausgeblendet. Organisierte Interessen verlangen also demokratisches Gehör und prägenden Einfluss auf die Gesetzgebung, obgleich sie die demokratischen Mindeststandards, nämlich Transparenz, Öffentlichkeit und Beteiligung, für sich selbst explizit ausschließen. Diese Blockadehaltung gegenüber der Öffentlichkeit wird konsequent betrieben. Aus diesem Spannungsverhältnis wächst ein massives Legitimationsdefizit der Gestaltungsansprüche des Lobbyismus. Sehen wir uns die pluralistische Landkarte im Idealzustand an: Pluralismus als zentrales Leitbild moderner Demokratien kennzeichnet demnach ein System, in dem die Zentrierung politischer und staatlicher Macht durch die Schaffung eines Gestaltungsraums für Gegenmacht eingehegt und „gezähmt“ werden soll. Im Idealfall ist staatliches Handeln ein Resultat des öffentlich ausgetragenen Meinungskampfes, des politischen Ideenwettbewerbs und der transparenten Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren und Lobbygruppen an Entscheidungen von Parlament und Regierungen. Eine offene, argumentative Auseinandersetzung zwischen den Interes3
Vertreter des Bundesverbandes deutscher Banken räumen intern ein, dass sie im Zuge der Finanzmarktkrise und den blockierten Regulierungen „überlobbyiert“ haben und dies langfristig zu ungünstigen Ergebnissen für die Banken führen wird. Eine breit angelegte „Entschuldigungskampagne“ der Banken wurde im Zuge dieser „Erfolge“ in letzter Minute wieder gestoppt.
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sengruppen ist zudem wesentlicher Teil der politischen Willensbildung, die vom Pluralismus der Interessen getragen wird. Soweit die Theorie. In dieser Grundierung des Lobbyismus wird jedoch ein wesentlicher Kritikpunkt vernachlässigt: Wie ist der selbstgesteckte Anspruch des gelungenen, für die Bürger nachvollziehbaren Interessenausgleichs zu bewerten, wenn Lobbygruppen diese Grundannahmen nicht erfüllen? Wenn sie im Stillen wirken, anonym agieren, beträchtliche geheim gehaltene Ressourcen zur (medialen) Flankierung ihrer Einflusszonen nutzen und sogar Lobbyinteressen verpflichtete Vertreter in Regierung und Parlament platzieren – oder frühere Minister und Staatssekretäre in großer Zahl direkt als Spitzenlobbyisten bei großen Konzernen anheuern? Wenn sie jede Rückfrage mit Hinweis auf die Vertraulichkeit ihrer Geschäftspolitik abwehren? Was viele Abgeordnete gelegentlich hinter vorgehaltener Hand zugeben, verschweigt die zunehmend mächtigere und selbstbewusster auftretende Lobby. „Unsere Arbeit ist prinzipiell nicht öffentlichkeitsfähig.“, bekennt ein führender Lobbyist des Chemieriesen Altana. Ein anderer Lobbyismusprofi, Peter Köppl sagt frank und frei: „Lobbying ist vom Grundgedanken her non-public“ (Köppl 2003: 107). Weil Lobbyisten grundsätzlich nicht und nur in sehr seltenen Ausnahmen über ihre Arbeit sprechen (Leif/Speth 2003, 2006) und auch Politiker einen realistischen Einblick in den parlamentarischen Maschinenraum verweigern, entsteht in der Öffentlichkeit ein unklares Bild des realen Lobbyeinflusses. Der zentrale Vorwurf: Öffentlichkeit ist für die Demokratie schlichtweg konstituierend. Es gehört aber zur DNA des Lobbyismus quasi klandestin und in wichtigen Fragen de facto konspirativ zu arbeiten – also ähnlich abgeschottet wie ein Geheimdienst. Offiziell wird das mit der gebotenen Vertraulichkeit begründet, tatsächlich geht es um die Wahrung des Grundsatzes: Macht ist die Schaffung von Ungewissheitszonen. Die Nicht-Öffentlichkeit sichert die Handlungsspielräume und Entscheidungsoptionen aller Beteiligten. Indem sich die Lobbyisten als Vetospieler im parlamentarischen Prozess von der Öffentlichkeit und damit von der öffentlichen Kontrolle absetzen, verstoßen sie gegen ein grundlegendes demokratisches Prinzip. Mit diesem Arbeitsprinzip verwirken sie dann aber das Recht, sich auf pluralistische Beteiligungsrechte zu beziehen, deren Grundprinzipien sie ja explizit ablehnen. Denn Pluralismus kann nur funktionieren, wenn deren Akteure öffentlich agieren und die Bürger im Zweifelsfall nachvollziehen können, wer was und wie politisch durchgesetzt hat. Hier hätte die Politik die Verantwortung, den Einfluss des ungezügelten Lobbyismus zu thematisieren und mit eindeutigen, wirksamen Regeln einzugrenzen und zu kontrollieren. Zur Beantwortung der zentralen Spannungsfrage zwischen legitimer Mitwirkung im Meinungs- und Entscheidungsmarkt und illegitimer Einflussnahme sind folgende Argumente zu berücksichtigen: Die „etablierte“ Pluralismus-Literatur geht meist von einer naiv- folkloristischen Betrachtung aus, ohne den konkreten Lobby-Einfluss in den einzelnen Politikfeldern auszuloten. Tatsächlich haben sich Ausmaß, Intensität, Ressourcenausstattung und Professionalität des Lobbyismus in den vergangenen
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Jahren so stark verändert, dass sich die im Rahmen der pluralistischen Aushandlungsdemokratie unterstellten Vorteile für das politische System längst zu einem demokratischen Malus entwickelt haben. Die indirekten Effekte eines einflussreichen, unregulierten Lobbyismus, nämlich die gezielte Distanzierung und Imageverletzung von (geschwächten) Parteien, (ausgezehrtem) Parlament und (überforderter) Regierung, wird im Zuge der Banken- und Finanzmarktkrise intensiver öffentlich wahrgenommen. Die eingeführten Argumentationsmuster der Lobby gegenüber Politik und Parlament verlieren zunehmend ihre „Feuerkraft.“ Auf die wiederholten Klischees „Die unfähigen, überforderten Politiker, die langwierigen Entscheidungen, die überbordende Bürokratie, die hohen Diäten etc.“ folgen immer häufiger gezielte Rückfragen zu den Ursachen und Wirkungen dieser Tendenzen. Die genauen Gründe für die programmatische und personelle Auszehrung der politischen Klasse, den weitgehenden Verlust der Artikulationsfunktion des Parlaments, die reduzierte Integrationsfunktion und die freiwillige Abhängigkeit von den Vorgaben der Regierung und der Administration werden in der öffentlichen Debatte nicht mehr ausgeblendet (Knobloch 2011, Kurbjuweit 2014). Selbst die Summe aller vorliegenden Untersuchungen zur Demokratiezufriedenheit4 führen bis heute zwar noch nicht zu einem nennenswerten Analyse- und Reflexionsdruck der Politiker. Auch die Medienkritik verschärft sich; mittlerweile folgt auf die „Politikverdrossenheit“ die „Medienverdrossenheit“ (vgl. NDR-Studie zur Glaubwürdigkeit der Medien 12/2014). Zur Unterdrückung der Wahrheit in der Öffentlichkeit – eine Analyse von Prof. Paul Kirchhof – kommt ein weiteres Phänomen: Politik und Gesellschaft leiden nicht nur an einem Wahrnehmungsdefizit, sondern auch an Analyse-Abstinenz und Reflexionsschwäche. Demokratische Systeme lernen langsam; aber – so scheint es – wächst die Skepsis bezogen auf die eingefahrenen demokratischen Rituale und die skizzierten Fehlentwicklungen. Wirksame Beteiligungsrechte der Bürger, bessere Kontrollen der parlamentarischen Prozesse und des Regierungshandelns sind nicht mehr für politische Akademien reservierte Themen (Leif 2009). Lobbyismus ist kein neues Phänomen. Industrie, Unternehmen und Verbände erkannten schon früh die strategischen Vorteile der geschickten Platzierung ihres Personals in Spitzenfunktionen der Ministerien. Was heute unter dem Begriff „Lobbyismus“ verhandelt wird, wurde seit den fünfziger Jahren im Feld der „Verbändeforschung“ diskutiert. Der praktische Lobbyismus kann am Fallbeispiel der Deutschen Bahn anschaulich illustriert werden. Gut ein Dutzend ehemalige Spitzenpolitiker von 4 Gut ein Drittel der Bevölkerung fühlt sich von demokratischer Beteiligung abgekoppelt und hat kein Vertrauen in die Demokratie. Drei Viertel haben nur ein (sehr) niedriges Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Parteien (Embacher 2009); Im November 2010 sahen 79 % der Bürger ihre Interessen durch die Politik nicht ausreichend berücksichtigt. Ähnliche – zum Teil noch gravierendere Ergebnisse – finden sich auch in den monatlichen Analysen der etablierten Institute.
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CDU und SPD haben über Jahre, lange vor Ex-Kanzleramtsminister Roland Pofalla, die Lobbyarbeit für die Bahn betrieben. Ihr Profil: Sie waren führende, meist Wirtschafts- und Verkehrspolitiker auf Bundes- und Landesebene und sie setzten anschließend ihr know-how als Spitzen-Lobbyisten bei der Deutschen Bahn ein. Ihre zentrale Aufgabe: die lange Zeit politisch favorisierte Privatisierung der Bahn als Leitidee in die Parteien, den Verkehrsausschuss und die Regierung zu tragen. Mit dieser Privatisierungspolitik beschäftigte sich – im Sinne dieser Strategie – zudem der zuständige Verkehrsausschuss über Jahre. Dieses „Projekt“ des Bahnmanagements wurde unter der Regie einer Unternehmensberatung professionell orchestriert. Ein Lehrstück des Lobbyismus und am Ende ein Fallbeispiel für eine umgekehrte Rotation: Noch am Tag seiner „Entlassung“ heuerte DB Vorstandschef Hartmut Mehdorn bei der Unternehmensberatung Roland Berger an. Das über Jahrzehnte zementierte Bild des mit dem Parlament quasi naturwüchsig verwobenen Lobbyismus bekommt nun zunehmend Risse. Der Grund: die Macht der Lobbyisten wird immer mehr Bürgern, aber auch Politikern und Verfassungsrichtern im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise unheimlich. Der Einfluss der Lobbyisten über zahlreiche Kanäle und auf vielen parlamentarischen Spielflächen wirft für interessierte Bürgerinnen und Bürger die Frage auf, in welchem Maße die etablierte Politik freiwillig ihre Autonomie aufgibt und damit klassische parlamentarische Aufgaben, nicht nur der Gesetzgebung, ohne Not schwächt oder gar aushebelt. Diese Entwicklung wird schon seit längerem auch vom Bundesverfassungsgericht registriert. „Verfassungsrichter Papier warnt vor Lobbyismus“ titelte die Börsenzeitung Anfang März 2010. Diese brisante politische Bilanz des Ex-Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVG) mit der Kernthese „Lobbyismus ist eine latente Gefahr für den Rechtsstaat“ (Börsenzeitung 2010) hätte die politische Klasse in Berlin eigentlich alarmieren müssen. Aber das Interview des konservativen, mit hoher Reputation ausgestatteten Verfassungsrichters schaffte es nicht einmal in die Agenturen oder die Pressespiegel der Parteien. Die Politik könne sich natürlich den Lobbyisten zu „Informationszwecken“ bedienen, räumt Papier ein. „Übertreibungen sollte man allerdings Einhalt gebieten und insbesondere die inhaltliche Formulierung der Gesetze in der Hand der Politik und vor allem des Parlaments und der Regierung belassen. Bürger wählen ja ein Parlament, damit dieses Gemeinwohlinteressen und nicht Partikularinteressen vertritt.“ Papiers Kollegin, die frühere Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt, spricht in diesem Zusammenhang von einer „schleichenden Unterwanderung der demokratischen Entscheidungsfindung“. Sie richtet den Focus ganz besonders auf die zahlreichen externen Kommissionen der Regierung. Wenn man berücksichtigt, dass Verfassungsrichter in der Regel vorsichtig argumentieren, zumal öffentlich, gewinnen diese Einschätzungen an Relevanz.
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V. Der Methoden-Mix der Lobbyisten Der Eindruck der Dominanz von lobbyistisch geprägten Partikularinteressen hat sich nicht nur unter Verfassungsrichtern verdichtet. Sechs grundlegende, sich wechselseitig verstärkende Tendenzen, haben in den vergangenen Jahren das weitgehend unkontrollierte Macht- und Gefahrenpotential des Lobbyismus öffentlich sichtbarer gemacht und eine spürbare, irritierende Nervosität in Teilen der politischen Klasse ausgelöst. Die dokumentierte Tätigkeit von EU-Abgeordneten als Lobbyisten und die intensive Lobbytätigkeit im Umfeld der Banken- und Finanzkrise hat die Sensibilität der Öffentlichkeit noch einmal erhöht (WDR 2011). Zwar ist derzeit noch keine politische Leitfigur erkennbar, die die gebündelte Kritik öffentlich wirksam artikuliert, aber im Zuge der selbst von selbstkritischen Lobbyisten aus dem Bankensektor diagnostizierten „Überlobbyierung“ wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis dieser Themenkomplex von der Latenzphase in die Sichtbarkeitsphase übergeht. Dabei werden folgende Aspekte bedenklicher Lobbyaktivitäten eine wesentliche Rolle spielen: Die Formulierung von Gesetzen, Verordnungen oder Textbausteinen für Gesetze durch externe Anwaltskanzleien stellen die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments in Frage. Teilweise wurden Kanzleien beauftragt, die gleichzeitig von diesen Gesetzen direkt betroffene Mandanten – etwa aus dem Banken- oder Energiesektor – vertreten. In den beiden vergangenen Legislaturperiode waren Großkanzleien an mindestens 17 Gesetzes- und Verordnungsentwürfen beteiligt; ein Rettungsschirm zur Wahrung der Interessen der Finanzindustrie. Das Gesetz zum Geschäftsmodell von Hedgefonds wurde von Vertretern des Bankenverbandes wesentlich geprägt. Die Platzierung von sogenannten „Leihbeamten“ in den Ministerien. Dieser vom früheren Personalvorstand der Deutschen Bank und dem damaligen Innenminister Otto Schily vor 10 Jahren eingefädelte „Seitenwechsel“ wurde im April 2008 in einem Bericht des Bundesrechungshofs akribisch dokumentiert und das entsprechende „Risikopotential“ für die Unabhängigkeit der staatlichen Verwaltung taxiert. Über den Haushaltsausschuss wurden die Ministerien nach einer langwierigen öffentlichen Diskussion gezwungen, diese zweifelhaften Lobbyreferenten aus der Industrie wieder auszumustern. Scheinbar ging danach alles seinen parlamentarischen Gang: Das zuständige Innenministerium muss dem Haushaltsausschuss regelmäßig berichten, welche Lobbyisten noch in den Ministerien arbeiten. Doch selbst diese „amtlichen“ Berichte sind lückenhaft und unvollständig. Ein aktuelles Gutachten attestiert dem Personalaustauschprogramm der Bundesregierung sogar „Verfassungswidrigkeit“. In einer 73-seitigen Studie mit dem Titel „Der vorübergehende Seitenwechsel aus der Privatwirtschaft in den Staatsdienst“ untersuchte Prof. Dr. Bernd Hartmann das seit 10 Jahren praktizierte „Personalaustausch-Programm“ der Bundesregierung. Dieses – auch vom Bundesrechnungshof kritisierte – Programm ermöglicht Lobbyisten den befristeten Seitenwechsel (vorgesehen sechs Monate, in der Praxis oft länger als 2 Jahre) in Ministerien. Hartmanns Bewertung: „Ich halte das Programm, wie
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es derzeit stattfindet für verfassungswidrig. Es verstößt gegen das Grundgesetz. Das Grundgesetz normiert einen Staat, der im Interesse der Allgemeinheit tätig wird. Wenn jetzt von Arbeitgebern entsandte private Arbeitnehmer im Ministerium wie Beamte tätig werden, entsteht der Interessenskonflikt, dass die im Interesse ihres Arbeitgebers, im privaten Interesse tätig werden und nicht im Interesse der Allgemeinheit.“ Weiter sagte er: „Es verstößt gegen das Rechtsstaatprinzip, weil das Rechtsstaatsprinzip eine neutrale Verwaltung will. Der Staat muss dem allgemeinen Interesse dienen und nicht den privaten Interessen der entsendenden Arbeitgeber.“ Der Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ulrich Battis kritisierte das sogenannte „Seitenwechsler-Programm“ ebenfalls scharf: „Das Problem ist natürlich, dass es hier zu Durchstechereien kommt, dass hier unzulässiger Lobbyismus gemacht wird. Kurz, dass man sogar das Ministerium kapert.“ Das für das Personalaustausch-Programm zuständige Bundesinnenministerium (BMI), das dieses Programm gemeinsam mit der Deutschen Bank entwickelt hatte, reagierte bislang nicht auf die Kritik. (Vgl.www.swr.de/leiftrifft) Offenbar hatte der hessische Rechnungshofpräsident Manfred Eibelshäuser Recht, als er später das Leitbild seiner unverzichtbaren Behörde definierte: „Der Rechnungshof ist in seiner Unabhängigkeit ein Kamel: Er kann immer da das Gras wegfressen, wo es Interessengruppen gerne wachsen lassen würden.“ Der direkte Wechsel von mehreren Spitzenlobbyisten aus der Atomindustrie, der Privaten Krankenversicherungen und der Finanzwirtschaft in Leitungsebenen verschiedener Ministerien der christlich-liberalen Koalition wurde zum Normalfall erklärt. Die bruchlose Platzierung von Toplobbyisten in Toppositionen etwa als Abteilungsleiter an der Spitze von Ministerien nährte den Verdacht der offenen Klientelpolitik und der Verlagerung von Lobbymacht in die politische Administration. Der rasche Wechsel von zwei Ministern im Kanzleramt, drei weiteren Ministern und einem halben Dutzend Staatssekretären in den Lobbyismus hat die Problematik der Seitenwechsler sichtbar gemacht. Ein dichter empirischer Beleg für die Verschmelzungsthese zwischen Politik und Lobbyismus. Fragwürdige Praktiken der Politikfinanzierung über Sponsoring, Spenden, bezahlte Reden – verbunden mit tatsächlichen oder unterstellten direkten Gegenleistungen – führte zum weit verbreiteten Eindruck, dass Lobbyisten sich den Zugang zur Politik über eine „gezielte Landschaftspflege“ kaufen können. Die Ausdehnung dieser Grauzone in Verbindung mit der Praxis der Politikfinanzierung katalysiert die auf anderen Feldern wahrgenommene Ausdehnung des Lobby-Einflusses. Entsprechende Angebote seien „zweifellos unmoralisch.“ Der Fall „Mövenpick“ und die gleichzeitige Reduzierung der Hotelsteuer bleiben sozusagen – exemplarisch – in Erinnerung. Im Detail sind diese Entwicklungen auf www.abgeordnetenwatch.de dokumentiert. Der direkte Wechsel von Ministerpräsidenten, Ministern, Staatssekretären und Spitzenpolitikern als Lobbyisten und Berater – ohne ausreichende Abkühlungsphase – in Lobbypositionen der Industrie hat in den vergangenen Jahren massiv zugenom-
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men. In Einzelfällen – wie etwa bei Volker Hoff, dem hessischen Ex-Minister für den Bundesrat und Europa – wollte der Politiker als Cheflobbyist zu Opel wechseln und trotzdem sein Landtagsmandat behalten. Die hohe Zahl von Lobbyisten aus den früheren rot-grünen Regierungen irritierte nicht nur die Altvorderen, für die sich dieser Wechsel nicht mit der parlamentarischen Ehre verträgt. Durch diesen Verschmelzungsprozess – immerhin von fast einem Drittel ehemaliger Spitzenpolitiker – wird zumindest der Eindruck erweckt, dass sich die unterschiedlichen Funktionen und Rollen zwischen Parlamentariern bzw. Regierungsvertretern und Lobbyisten zunehmend auflösen.5 Die offensiv von den Banken geforderten und von der Politik in einem atemberaubenden Tempo realisierten hunderte milliardenschweren „Rettungsaktivitäten“ im Zuge der Finanzkrise oder die verstärkte Finanzierung des „notleidenden Gesundheitssystems“ aus Steuermitteln u.v.m. haben tiefe Zweifel hinterlassen. Die Ergebnisse dieser Politik vermitteln zunehmend den Eindruck, dass die „Lobby als Fünfte Gewalt“ Spitzenpolitiker und Parlamentarier in der Wirtschaftskrise massiv unter Druck gesetzt, attackiert und so zu günstigen Entscheidungen für einzelne Interessengruppen bewegt hat. Warum wechseln so viele Politiker in das andere Lager der Lobby? Dies hat im Wesentlichen fünf Gründe, die die Praxis des Lobbyismus und den Nutzen für ehemalige Parlamentarier und Regierungsvertreter6 anschaulich erklären: § Das wichtigste Kapital für Lobbyisten sind ihre beachtlichen Ressourcen, Netzwerke, Kontakte in die Administration und die Spitzenpolitik. Darüber verfügen nicht nur Minister, Staatssekretäre und Fachsprecher (Obleute etc.) der Fraktionen (Zugang). § Besonders wichtig ist zudem die Kenntnis des realen politischen Prozesses. Wie funktioniert Politik tatsächlich, wie laufen Entscheidungsverfahren jenseits der Sozialkunde-Prosa, wie sortiert sich eine Koalition? Das wissen langjährige Politiker aus erster Hand (Entscheidungswege/Strategien). § Die zentrale Tugend wirksamer Politiker ist die „Beharrlichkeit“. Parlamentarisch erworbene Belastungsfähigkeit in endlosen Nachtsitzungen bildet diese Qualität aus. Beharrlichkeit ist eine Primärtugend und ein zentrales Profilmerkmal von Lobbyisten (Arbeitsstil).
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Vgl. dazu Seitenwechsel aus jüngster Zeit: Georg Brunnhuber, früher Sprecher der CDULandesgruppen im Bundestag, wechselte als Cheflobbyist zur Deutschen Bahn, der finanzpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, Leo Dautzenberg, ging als Lobbyist zu evonik; ExRegierungssprecher Thomas Steg zu VW, der langjährige Staatssekretär Bernd Pfaffenbach zu JP Morgan, Werner Schappauf zur Investmentbank Bank of America. 6 Laut einer Studie der Organisation „Lobby Control“ arbeiten 15 von 63 Ministern und Staatssekretären aus der früheren rot-grünen Koalition heute in Positionen mit „starkem Lobbybezug“ (www.lobbycontrol.de). Hier werden zusätzlich die aktuellen Fälle von Seitenwechslern dokumentiert.
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§ Indem seriöse Politiker „eingekauft“ werden, mildern die Auftraggeber die latent spürbare Skepsis oder gar Aggression gegen einen überbordenden Lobbyismus. In ihren Parteien zivilisieren die Seitenwechsler dieses Distanzklima und verbreiten die Normalität solcher Wechsel. Sie wirken als Konfliktdämpfer, weil sie mit alten Freunden und Kollegen bereits viele Konfliktsituationen „bestanden“ und bewältigt haben (Gewöhnung). § Zudem symbolisieren die Seitenwechsler für andere „Parlamentskollegen“ und deren Mitarbeiter (etwa Büroleiter) potentielle Exit-Strategien (nach dem Motto: „Der hat es geschafft.“) aus dem nicht selten trostlosen Parlamentsgeschäft, das selbst für ambitionierte Kandidaten nur wenige Karrierechancen bereithält (Aufstiegschancen). Aber nicht nur die Bequemlichkeit der Parlamentarier stützt den Lobbyeinfluss. Nicht wenige Politiker, Minister und Spitzenbeamte fühlen sich durch die Aufmerksamkeit der Lobbyisten in ihrer Rolle aufgewertet. Ihre oft persönlich empfundene Einflusslosigkeit im streng hierarchischen parlamentarischen Betrieb wird durch den engen Austausch mit Lobbyisten etwas gedämpft. Lobbyisten werden heute von den Parlamentariern oft als Partner und zuverlässige Dienstleister wahrgenommen und regieren in Berlin meist lautlos, aber effizient mit. Nicht selten sind es frühere Fraktionskollegen, die den Kontakt zu ihren Ex-Kollegen in ihrer „neuen“ Rolle suchen. Das hier gepflegte Klima der Kooperation hat sich bis heute weiter stabilisiert. Im Gegensatz zur häufig vorgetragenen These des Gegensatzes von Lobbyisten und Politikern ist die Praxis eher von einem konstruktiven Einvernehmen von Lobbyisten und Politikern bis hin zu einer selbstverständlichen Kooperation geprägt. Dies ist der Befund nach ausführlichen (informellen) Gesprächen mit zahlreichen Lobbyvertretern, Ministern und Staatssekretären aus der ersten Reihe. Lobbyisten, Berater, Abgeordnete, Ministerialbürokratie, Minister und zahlreiche Medienvertreter sehen sich in einem geschlossenen Informations- und Beratungskreislauf integriert. Sie bilden eine Community. Neu ist, dass Politiker proaktiv und routiniert die engen Kooperationsbeziehungen zur Politik intensiv pflegen und die jeweilige juristische und politische „Expertise“ offensiv nutzen. In einmaliger Offenheit hat Peter Friedrich, Ex-Bundestagsabgeordneter und Ex-SPD-Generalsekretär aus Baden-Württemberg, diesen Verschmelzungsprozess analysiert: „Der Lobbyist wird zum scheinbaren Helfer des Abgeordneten oder Beamten, er unterstützt ihn mit Argumenten, Formulierungshilfen, Studien. Alles hilfreiche Dinge, um selbst im politischen Wettbewerb zu bestehen. Die eigenen Interessen und Ziele verschmelzen mit denen der Lobby.“ Solche nüchternen Selbstreflexionen gestandener Parlamentarier veranlassen nicht nur Richter des Bundesverfassungsgerichts zu eindeutigen Mahnungen. Auch im Parlament sind diese Signale angekommen. Mehrere Initiativen, etwa die Einführung eines verbindlichen Lobby-Registers, das auf die Stärkung der parlamentarischen Autonomie und die Abwehr bzw. Kontrolle nicht legitimierter Einflussfaktoren abzielte, blieben bislang jedoch auf der ganzen Linie erfolglos.
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Sowohl Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte im Zuge der Verhandlungen zu den EU-Rettungsschirmen massiv die Aushebelung der üblichen parlamentarischen Entscheidungswege und mahnte mehr Beratungs- und Diskussionszeit an. Intern verweist er übrigens regelmäßig auf den Lobbyeinfluss gegenüber der Regierung. Ex-Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) sieht durch diese Entwicklungen sogar die „Legitimation der Politik“ gefährdet. Auf europäischer Ebene hat sich zudem ein fraktionsübergreifendes Bündnis organisiert, das den Einfluss der Finanzlobby begrenzen will. Die skizzierte Praxis kann mittlerweile nicht mehr einen Ausnahmestatus oder Einzelfallcharakter reklamieren. Weitere Fallbeispiele haben Öffentlichkeit und Medien in den vergangenen Jahren für die Gefahren eines weitgehend unkontrollierten Lobbyismus sensibilisiert. Auffallend ist jedoch, dass die parlamentarische Auseinandersetzung mit den skizzierten Tendenzen noch sehr schwach ausgeprägt ist. In den öffentlichen Debatten zum wachsenden Einfluss von Lobbygruppen treten führende Politiker in eigener Sache eher defensiv auf, verweisen auf den vermeintlichen Einzelfallcharakter der dokumentierten Fälle und setzen weiter auf den Nutzen des Lobbyismus zur Optimierung der parlamentarischen Arbeit. Für die FDP bleiben Lobbyisten Verbündete und Partner. Die SPD changiert zwischen Einzelinitiativen versprengter Abgeordneter aus der zweiten Reihe und gelegentlicher, nur rhetorisch aufgeladener Kritik. Die Grünen haben zwar eine Anhörung zum Lobbyeinfluss durchgeführt, aber das Thema rangiert eher am Ende der Bedeutungsskala politischer Themen. Die Fraktion der Linken stellt zwar regelmäßig Kleine Anfragen, springt aber ebenfalls von Einzelfall zu Einzelfall, ohne das Thema in den parlamentarischen Kontext zu stellen. Ein besonderer Tatendrang zur Stärkung des Parlaments gegenüber Lobbygruppen aus den Fraktionen im deutschen Bundestag ist also nicht festzustellen. Gleichwohl bleiben diese zaghaften Versuche der öffentlichen Thematisierung nicht ohne Wirkung. Die Verlagerung der Gesetzesarbeit in externe Anwaltskanzleien hatte bislang zwar kein nachhaltiges Nachspiel im Parlament, mehrere Parlamentarische Geschäftsführer unterschiedlicher Fraktionen gehen aber davon aus, dass dieses höchst umstrittene Instrument „künftig nicht mehr – oder nur in sehr geringem Maße genutzt werden wird.“Anders als im Fall der Leihbeamten wird in diesem Konfliktfeld offenbar die „informelle Lösung“ bevorzugt. Zwar gibt es immer wieder rhetorisch scharf formulierte Warnzeichen, wie von Ex-SPD-Chef Kurt Beck auf dem Arbeitgebertag 2008 in Berlin. „Wir werden vor dem Lobbyismus in Deutschland nicht einknicken“, formulierte er in ungewöhnlicher Klarheit. Doch spürbare Konsequenzen nach der entlastenden Empörung gegenüber dem Druck der Lobbyisten in der Grauzone der Macht, sind kaum erkennbar. Auch die scharfe Abgrenzung gegenüber den offensiv vorgetragenen Lobbyinteressen der Banken von Becks Nachfolger im SPD-Vorsitz, Sigmar Gabriel, klingen ungewöhnlich: „Wir müssen das Kasino schließen und aufhören, Klientelpolitik zu machen und den Lobbyinteressen nachzugeben“ (Gabriel/Schmidt/Rasmussen 2010).
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In solchen und vergleichbaren Formulierungen zeigt sich wohl eine Entlastungsrhetorik: Konkrete Aktivitäten, die der höchst erfolgreichen Lobbypolitik etwa der Banken, eindämmen könnten, sind in der parlamentarischen Praxis jedoch nicht zu registrieren. Immer wieder sind kleine Strohfeuer der Erregung festzustellen, wenn Extremfälle – wie der geplante (aber nicht vollzogene) Wechsel des CDU-Politikers und früheren parlamentarischen Geschäftsführers Norbert Röttgen in die Geschäftsführung des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) – bekannt wurden. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, verglich im Juli 2009 in einer Talkshow den Einfluss der Medizinlobby sogar mit dem der italienischen Mafia. Eine empörte Reaktion seiner Mitdiskutanten war nicht zu vernehmen. Diese Mischung aus resignativem Trotz, politischer Kapitulation und eingespielter Routine prägt die immer noch passive Haltung gegenüber übermächtigen und offensiv auftretenden Lobbyisten. Überforderung und die Gewöhnung aus Angst vor medialer Gegenwehr – wie mit der Kampagne nach dem plötzlichen Ausstieg der Bundesregierung aus der Atomenergie – sind an die Stelle der Empörung getreten. Der Drehtür-Effekt von der Politik zur Wirtschaft schadet dem Ansehen der Politik, weil so sichtbar belegt wird, dass persönliche Interessen offenbar verbindliche Grundwerte und die Ehre des Amtes überlagern. Auch diese Haltung fördert das Misstrauen in die Integrität und Unabhängigkeit der Politik. Ohne eine wirksame gesetzlich geregelte „Abkühlungsphase“ nach dem Ausscheiden aus der Politik wird man solche Wechsel nicht reduzieren können. Entsprechende, grobe Vereinbarungen der Großen Koalition von Ende 2014 sehen eine Karenzzeit von einem Jahr vor. Eine Initiative des früheren Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion, Christian Lange, mit dem Ziel einen „Verhaltenskodex für ehemalige Mitglieder der Bundesregierung“ einzuführen, blieb erfolglos. Zwar lud der Innenausschuss am 15. 06. 2009 zu einer Sachverständigenanhörung ein, ein entsprechender Antrag zur Formulierung eines Verhaltenskodex wurde am 02. 07. 2009 mit den Stimmen der SPDFraktion abgelehnt. Einen Brief des SPD-Politikers an die Bundeskanzlerin beantwortete der Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium Dr. Christoph Bergner im Januar 2010. Der „Beauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten“ gibt in seiner Antwort zu erkennen, dass die Bundesregierung auch mit Blick auf die im Grundgesetz geschützte Freiheit der Berufsausübung (Art.12 GG) einem „Verhaltenskodex“ keine Chance gibt. „Ein Verhaltenskodex wäre zudem rechtlich unverbindlich und könnte in praktisch wichtigen Fällen keine hinreichenden Sanktionsmöglichkeiten bieten.“ Diese Antwort der Bundesregierung illustriert einen Grundkonflikt. Regelungen, die den Lobbyeinfluss begrenzen oder einhegen könnten, werden strikt abgelehnt, ihre praktische Umsetzung bezweifelt. Diese Position dokumentiert den Status quo und lässt nicht vermuten, dass hier nur ein minimaler Handlungsspielraum zu erwarten ist.
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VI. Wirksame Instrumente für eine Revitalisierung des Parlaments Die vorgetragenen Fallbeispiele zum weitgehend unbedenklich wahrgenommenen Einfluss von Lobbyisten haben gezeigt, dass in Deutschland erhebliche Transparenz- und Informationsdefizite in diesem Feld festzustellen sind. Auch scheint die Sensibilität der politischen Klasse bezogen auf den Einfluss nicht legitimierter Interessengruppen auf den Gesetzgebungsprozess insgesamt noch unterentwickelt zu sein. Die unter anderem von Verfassungsrichtern diagnostizierten Gefahren für die Demokratie durch einen ungezügelten Lobbyismus werden von vielen politischen Akteuren nicht wahrgenommen. Deshalb wären folgende praktische Vorschläge möglicherweise geeignet, um die „Privatisierung der Demokratie“ und das weitere Aufweichen des Primats der Politik aufzuhalten. Adressaten für notwendige Regelungen sind nicht nur Parlament und Regierung, sondern auch die führenden Lobby-Akteure selbst und nicht zuletzt die Bürger. Fünf Vorschläge könnten die parlamentarische Autonomie und damit die Legitimation der politischen Akteure stärken: Erstens: Der Bundestag sollte einen „Lobby-Beauftragten“ bestellen, der – analog zu den Rechten des Wehrbeauftragten – alle hier skizzierten für den parlamentarischen Prozess gefährlichen Tendenzen beobachtet, sichtet, analysiert und in einem Jahresbericht bewertet. Diese Funktion könnte beispielsweise ein erfahrener Parlamentarier übernehmen, der zudem wirksame Transparenzregeln vorantreibt und als Ombudsmann seiner Kollegen hohe Reputation genießt. Die Etablierung eines mit genauen und umfangreichen Daten gespeisten „Lobbyregisters“ mit detaillierten Selbstauskünften wäre ein zentrales Aufgabenfeld für diese unabhängige „Kläranlage des Parlaments.“ Transparenz ist kein Selbstzweck, nur ein anspruchsvolles Informationsprofil lobbyistischer Arbeit verspricht präventive Wirkung. Hier wäre eine praktische Umsetzung denkbar: 15 von 30 befragten DAX-Konzernen unterstützen – laut einer Welt-Umfrage vom 24. 06. 2010 ein Lobbyregister und sind demnach bereit, Details zu Budgets und Themen der Lobbyarbeit – offen zu legen. Den Auftakt für diesen Reformprozess könnte eine „Enquete-Kommission – Legitime und nicht legitime Einflussnahme von Lobby-Organisationen auf Parlament und Regierung“ bilden. Hilfsweise – sozusagen als kleine Lösung – wäre ein „Tag des Parlaments“ sinnvoll, an dem sich alle Parlamentarier in Rede und Gegenrede mit den Herausforderungen des Lobbyismus beschäftigen sollten und den Bürgern nachvollziehbare Reformideen zur Selbstbehauptung des Parlaments präsentieren könnten. Zweitens: Gesetze aus der Mitte der Bundestagsfraktionen müssten künftig ausschließlich von den Parlamentariern geschrieben und verantwortet werden. Das gleiche gilt für die Bundesregierung und deren Referenten. Gesammelter „Sachverstand von außen“ und „Expertise“ der Fachkreise müssen Abgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung selbst fachlich prüfen und gewichten. Die Ressourcen dafür stehen ihnen über die Ministerialbürokratie, Fachausschüsse und den wissenschaftlichen Dienst zur Verfügung. Ergänzend sollten die Mittel für ein grundlegend verbessertes parlamentarisches Wissensmanagementsystem bereitgestellt werden, damit zumin-
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dest Fachpolitiker ihre ureigensten Aufgaben sachgerechter erfüllen können. Allen Gesetzen (und Entwürfen) sollte ein Deckblatt beigefügt werden, das die „legislativen Fußspuren“ dokumentiert, die Lobbyisten mit ihren Gesetzesformulierungen hinterlassen haben. Dieser wirksame Selbstschutz wird sogar von führenden Lobbyorganisationen wie dem Verband der forschenden Arzneimittelhersteller unterstützt. Die Regelung des sogenannten „Drehtür-Mechanismus“ – dem bruchlosen Wechsel von Regierungsfunktionen in den Lobbyismus – muss präzise geregelt werden, da sonst das Vertrauen in die Integrität des Regierungshandelns schwindet. Nicht umsonst wurde für Mitglieder in Parlament und Regierung das System der sogenannten „Übergangsgelder“ sowie auskömmliche Pensionsregelungen beschlossen. Schließlich muss auch der Umgang der Ministerialbürokratie mit Lobbyisten normiert werden. Da einige Ministerien – wie etwa das Verteidigungsministerium – hier bereits sinnvolle Regelungen vorgenommen haben, ist kein Grund ersichtlich, warum diese wichtige Klärung von anderen Ministerien weiter ignoriert werden kann. Drittens: Die Lobbyisten müssten ihre geheime Hinterzimmerpolitik und ihre tradierte Kultur der Intransparenz aufgeben. Sie müssen selbst die Grenzen ihrer Arbeit in einem eigenen Kodex oder einer Charta – quasi einer Handwerksordnung – definieren. Sie sollten darin verbindlich auf illegale Einflussnahme, auf politischen Druck gegen Abgeordnete und politische Akteure, auf frisierte Studien oder gar die Gewährung von Privilegien und Spenden an potentielle Partner in der Politik verzichten. Über ihre Arbeit und ihre Spuren im Politikbeeinflussungs-Prozess sollten sie öffentlich berichten, damit die Macht der „Fünften Gewalt“ wenigstens in Ansätzen überprüfbar und transparenter wird. Die Entwicklung selbst weicher Regelungen ist intern in den Berliner Lobbykreisen – von einschlägigen Vereinigungen wie dem „Collegium“ über den „Adler-Kreis“ bis zur „Jungen Lobby“ – höchst umstritten. Die Tendenz bezogen auf wirksame Selbstregulierung – so eine Umfrage – ist noch überwiegend negativ. Denn die gesamte Branche lebt bislang von gezielter Intransparenz. Selbst für Handwerker gelten die Regeln der Handwerksrolle; Ärzte schwören einen Eid; Journalisten müssen Sanktionen des Deutschen Presserates hinnehmen. Selbst die Werbung hat sich einen Ethikkodex verordnet; die PR Industrie folgt formal dem „Code of Lissabon.“ Die Reichweite solcher Kodices ist sicher begrenzt, aber die Debatten um solche Regelungen im Vorfeld fördern die Schärfung des Selbstverständnisses und dienen als Kontrollinstrument in Krisenzeiten und Warnschilder vor Grenzüberschreitungen.7 Viertens: Bürger und Bürgerinnen müssten auf allen denkbaren Diskursforen den Einflussverlust des Parlaments bei gleichzeitigem Machtzuwachs der Lobby gegenüber „ihren“ Abgeordneten konkret ansprechen, etwa im Wahlkreis oder auf öffentlichen Veranstaltungen. Parteien könnten gezwungen werden, sich etwa in einem großen Leitantrag auf Parteitagen mit dem Lobbythema zu beschäftigen. Allen Ver7 Michael Wedell propagiert als Lobbyist für den Metro-Konzern das Konzept des „responsible lobbying“, das vor allem die Prinzipien der Offenheit gegenüber den Partnern in der Politik und der Nachhaltigkeit postuliert.
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antwortlichen muss klar werden: Der Beruf des Abgeordneten ist eine Ehre in der Demokratie und keine Plattform zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Die Demokratie lebt vom Mitmachen und Einmischen. Die von Demoskopen und Wahlforschern hinreichend dokumentierte Politikdistanz und Politikverachtung und Kritik am eingespielten Politikprozess muss die Abgeordnetenbüros und Parteizentralen erreichen und zu wirksamen Gegenmaßnahmen und Beteiligungsformen führen.8 Fünftens: Um die Asymmetrie zwischen den Möglichkeiten der „Wirtschaft“ und der „Zivilgesellschaft“ auszugleichen, müssen Fonds zur Verfügung stehen, die die Finanzierung von externem Sachverstand garantieren. Die Bedeutung der unabhängigen Gegenexpertise und des wissenschaftlichen Faktenchecks wird künftig immer wichtiger, um Verhandlungsprozesse und den Austausch von Argumenten rational zu unterlegen. Im Zusammenhang mit den Anhörungen zu „Stuttgart 21“ wurde dieses Modell in Ansätzen bereits praktiziert. Dies sind nur fünf pragmatische, gleichwohl aber praktisch schwer durchsetzbare Schritte. Sinnvolle Korrekturen sind möglich und notwendig, um die Autonomie des Parlaments zu festigen. Reformen würden vertrauensbildend wirken, den Parlamentarismus vitalisieren, das Primat der Politik wieder zu einer Renaissance führen und so die Demokratie mit Sauerstoff versorgen.
VII. Ein Fazit in zehn Thesen 1.
Die fehlende Transparenz als identitätsstiftendes Merkmal des Lobbyismus widerspricht demokratischen Grundprinzipien. Damit steht die Demokratiefähigkeit in Frage. Die von Lobbyisten reklamierten Beteiligungsrechte im Rahmen der pluralistischen Aushandlungsdemokratie stehen im Widerspruch zu ihrer prinzipiellen Abschottung gegenüber der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit – und die damit verbundene Kontrollmöglichkeit ist im demokratischen Prozess schlichtweg konstituierend und unverzichtbar als Zugangsberechtigung zur Beteiligung u. a. am Gesetzgebungsprozess.
2.
Das größte Problem ist die Machtasymmetrie zwischen Lobbyismus und Politik. Finanzielle und personelle Ressourcen, professionelle Organisationsmacht, Erfahrungswissen, Strategiekompetenz und exklusive Zugangsmöglichkeiten zu Entscheidungsträgern etc. verschärfen die ohnehin vorhandenen Machtasymmetrien.
3.
Lobbyisten und Politiker sind de facto Partner in einer symbiotischen Beziehung. Zwar grenzen sich selbst Spitzenpolitiker scharf von der lobbyistischen Übermacht ab; jenseits dieser Entlastungsrhetorik schauen sie aber zu Lobby8
Im Dezember 2011 beschloss die SPD auf ihrem Berliner Parteitag einen Katalog mit mehr Mitwirkungsrechten der Parteibasis und von Nichtmitgliedern. Der vorangegangene Diskussionsprozess zeigte jedoch, dass substantielle innerparteiliche Beteiligungsrechte nur sehr langsam und gegen erheblichen Widerstand vieler Funktionäre und Amtsträgter durchsetzbar sind.
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isten auf und pflegen im parlamentarischen und administrativen Alltag eine zunehmende Verschmelzung. 4.
Die Bedeutung der Medien für die Entfaltung des Lobbyismus wächst. Lobbyisten gelingt es zunehmend über „gekaufte Kommunikation“ ein geschicktes Aufmerksamkeitsmanagement und ein wirksames Agenda-Setting und Agenda-Cutting zu betreiben. Die größte Korruptionsgefahr im Journalismus erfolgt durch effektive Informanten. Lobbyisten gehören zu diesem Kreis.
5.
Alle Initiativen zur Kontrolle, Begrenzung oder Einhegung des Lobbyismus wurden bislang von Politik und Parlament torpediert. Wirksame Transparenzregeln, interne Verhaltenskodices und die Wahrung des „Primats der Politik“ sind allein mit parlamentarischen Initiativen offenbar nicht durchsetzbar.
6.
Die Sozialwissenschaften und die Medien haben den Wirkungswandel des Lobbyismus weder begleitet noch analysiert. Es fehlen offenbar die Instrumente und eine Kultur der nachhaltigen Informationsbeschaffung. Sie vermittelt immer noch überwiegend „Parlamentsfolklore“. Die Langzeitwirkung kritischer, wissenschaftlicher Diskurse würde notwendige Debatten und konstruktive Lösungen beflügeln.
7.
Lobbyismus ist ein attraktives Auffangbecken und Arbeitsfeld für Politiker. Weil alle Parteien von diesem lukrativen Arbeitsmarkt profitieren und sich Informationsvorteile von diesen „Leiharbeitern“ versprechen, funktioniert dieses System bislang ohne nachhaltige Abkühlungszeit.
8.
Lobbyismus lebt von Mythen – gestützt auf erhebliche Wissenslücken. Das konstruierte Image von Lobbyisten als vermeintlich „interessenfreie“ Informanten, als rationale Experten und intelligente Politikvermittler, ist auch eine Reaktion auf die wahrgenommene Schwäche von Regierungspolitikern und Parlamentariern. Es gibt eine weit verbreitete, (unreflektierte) Haltung zum tatsächlichen Einfluss und Wirkungskreis der Lobby. Dieser „blinde Fleck“ führt langfristig zu Funktionsstörungen des „politischen Herz-Kreislaufsystems.“
9.
Es besteht zunehmend die Tendenz der „Über-Lobbyierung“ und damit die Gefahr, dass der Primat der durch Wahlen legitimierten Politik noch weiter in den Hintergrund tritt. Die so forcierte Krise des Politischen ist gleichzeitig eine Krise der gesellschaftlichen Politikfähigkeit, weil die Frage der Legitimation von politischen Akteuren immer massiver in Frage gestellt wird.
10. Das heißt: Lobbyismus in der Realität – nicht im Lehrbuch der Lobbyisten – bedeutet eine zunehmende Gefährdung demokratischer Prozesse und eine Einflussreduktion des Parlaments. Auch wenn die Fakten, Belege und Tendenzen für diesen Befund derzeit nur von ehemaligen Verfassungsrichtern und Ex-Politikern analysiert werden. Aber auch für sie gilt: Politik zu betreiben ist das Bohren dicker Bretter. Der einzige Unterschied: beim Lobbyismus hat man es nicht mit Holz, sondern mit Stahlbeton zu tun.
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Literatur Die Börsenzeitung, Interview mit Hans-Jürgen Papier, Bundesverfassungsgericht: Lobbyismus ist eine latente Gefahr für den Rechtsstaat, 02. 03. 2010. Embacher, Serge, 2009: Demokratie! Nein Danke? Demokratieverdruss in Deutschland, in: FES-Studie, Bonn. Gabriel, Sigmar/Schulz, Martin/Rasmussen, Poul Nyrup 2010: Nur zuschauen ist nicht genug, in: Süddeutsche Zeitung, 15. 03. 2010, 18. Kaspari, Nicole/Schröder, Gerhard, 2008: Political Leadership im Spannungsfeld zwischen Machtprozessen und politischer Verantwortung, Frankfurt am Main. Kolbe, Andreas/Hönigsberger, Herbert/Osterberg, Sven, 2011: Marktordnung für Lobbyisten – Wie Politik den Lobbyeinfluss regulieren kann, Frankfurt am Main. Leibovich, Mark, 2014: Politzirkus Washington, Wer regiert eigentlich die Welt? Stuttgart, 2014 (sagas.edition) Leif, Thomas, 2009: angepasst und ausgebrannt, Politik in der Nachwuchsfalle, München. Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hrsg.), 2003: Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden. – (Hrsg.), 2006: Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden. Siefken, Sven T., 2007: Expertenkommissionen im politischen Prozess: Eine Bilanz zur rot-grünen Bundesregierung 1998 – 2005, Wiesbaden.
Internetquellen Knobloch, Peter, 2011: Angriff auf die Demokratie, in: Der Freitag, http://www.freitag.de/kul tur/1150-angriff-auf-die-demokratie Leif, Thomas, 2010: Bestellte Wahrheiten, in: http://www.netzwerkrecherche.de/Projekte/PREinfluss-Zurueckdraengen/Bestellte-Wahrheiten/ (Stand: 10. 03. 2012). Dokumente zum Lobbyismus sowie zahlreiche Interviews auf der Webside zum Film: „Leif trifft: Lobbyisten. Die stille Macht im Land.“ (SWR 3. 12. 2014) www.swr.de/leiftrifft
Wer nutzt die Informationsfreiheit? Hans-Martin Tillack Wer nutzt das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, kurz IFG? Man muss nur leicht zuspitzen, um auf diese Antwort zu kommen: Fast niemand. Als das IFG am 1. Januar 2006 in Kraft trat, war Deutschland eines der letzten Länder der westlichen Welt, das ein Jedermann-Recht auf Einsicht in Behördenakten schuf. Die USA führten ihren „Freedom of Information Act“ (FOIA) 1966 ein, also 40 Jahre früher. In Schweden wurde mit der „Tryckfrihetsförordning“ sogar bereits anno 1766 das Recht für jeden Bürger etabliert, Einsicht in Akten von Reichstag und Reichsrat zu verlangen. Und die Deutschen? Konnten sie es kaum erwarten, nun ebenfalls in die Behördenakten zu blicken? Nein, den allermeisten war es gleichgültig. Das legen jedenfalls die vom Bundesinnenministerium veröffentlich Statistiken über die Zahl der Anträge bei den Bundesministerien und ihren nachgeordneten Behörden nahe. Gingen 2006, also im ersten Jahr nach Inkrafttreten, noch 2.278 Anfragen ein, waren es in den folgenden vier Jahren jeweils deutlich unter 2.000. Erst im Jahr 2011 stieg die Zahl etwas, auf nun 3.280. 2012 waren es dann sogar 6.077 Anträge – doch im Jahr 2013 fiel die Zahl wieder auf nun 4.736 zurück. Das sind im internationalen Vergleich lächerlich niedrige Zahlen (auch wenn in den Statistiken des Innenministeriums einige IFG-Anträge unberücksichtigt blieben, die etwa an auf Bundesebene organisierte öffentlich-rechtliche Körperschaften wie den Bundesverband der AOK gingen). Schaut man auf der FOIA-Website der amerikanischen Bundesverwaltung nach, erfährt man, dass dort im Jahr 2013 insgesamt 704.394 Anträge gestellt wurden. Rechnet man das um, ging in den USA eine Anfrage pro 453 Einwohner ein – in Deutschland hingegen lediglich eine pro 17.103 Einwohner. In den USA nutzen die Bürger die Informationsfreiheit folglich 37 mal so häufig wie die Deutschen. In den deutschen Behörden mögen das manche womöglich sogar mit Erleichterung registrieren. Es beweist, wie fehlgeleitet die Warnungen vor Einführung des IFG waren. Die Arbeit der Verwaltung drohe durch einen Strom von Bürgeranfragen paralysiert zu werden, hatten manche gewarnt – völlig zu unrecht. Aus Sicht des Gesetzgebers müssen nun eher die geringen Nutzerzahlen erschrecken. Das IFG sollte ja – so seinerzeit die Gesetzesbegründung – die „Transparenz“ der Bürokratie erhöhen und die „Kontrolle von Regierungshandeln“ durch die Bürger erleichtern. Diese Ziele sind gefährdet, wenn das Gesetz kaum in Anspruch genommen wird.
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Nun muss man den Kontext betrachten. Wie bereits erwähnt: In den USA existiert das entsprechende Gesetz bereits seit 1966. Es ist überdies nach mehreren Novellen deutlich großzügiger als bei uns ausgelegt. Das deutsche IFG existiert erst seit neun Jahren und es ist nach den Maßstäben des angelsächsischen und skandinavischen Raums restriktiv. Dennoch ist die geringe Resonanz auf das IFG ein Phänomen, das nach weiteren Erklärungen ruft. Wirklich verlässliche Statistiken, wer im Detail hinter den – wenigen – deutschen IFG-Anfragen steckt, gibt es nach meiner Kenntnis nicht. Es kann sie nicht geben, weil die Antragsteller nicht verpflichtet sind, den Grund ihres Interesses anzugeben. Sicher ist, dass gelegentlich Unternehmen oder auch Rechtsanwälte IFG-Anträge einreichen – letztere etwa im Auftrag geprellter Anleger, die zum Beispiel bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) Akteneinsicht zu dubiosen Finanzunternehmen erbaten. Die Bafin lehnte solche Anträge ab, worauf die Antragsteller vor Gericht zogen. Zu den Nutzern gehören aber auch Wissenschaftler sowie Organisationen wie Greenpeace, die Deutsche Umwelthilfe oder Transparency International sowie Projekte wie Netzpolitik. Und seit dem Jahr 2011 gibt es vielleicht nicht zufällig einen Anstieg der Antragszahlen. Seitdem ist nämlich das Portal FragdenStaat online, das Bürgern hilft, IFG-Anfragen zu stellen und zu verfolgen, wie die Behörden mit den Anträgen anderer Interessenten umgehen. Auch Bundestagsabgeordnete zählten bereits zu den Nutzern des IFG. Und natürlich sind Journalisten unter ihnen. Im Mai 2012 legte das Institut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung Speyer (FÖV) im Auftrag des Bundestages eine ausführliche Evaluation des IFG des Bundes vor. Demnach wurden „von den meisten der interviewten Behörden neben Rechtsanwälten oder Rechtsanwälten im Auftrag von Privaten oder Unternehmen“ in der Tat Journalisten als Hauptinteressenten genannt. Laut der Evaluationsstudie waren im Jahr 2006 unter den Antragstellern bei den Bundesbehörden 67 Journalisten. Die Zahl stieg in den folgenden Jahren etwas an – doch angesichts von allein 4.600 beim Bundestag akkreditierten Journalisten ist auch das Interesse der Medienvertreter am IFG offenkundig gering. Insgesamt 92 Anträge von Journalisten registrierte die Bundesregierung für das Jahr 2006. Einige unter ihnen baten also mehrfach um Zugang zu amtlichen Informationen. Sicher ist: Gut 30 dieser Anträge des Jahres 2006 kamen von mir. Darum fühle ich mich befugt, im Folgenden über meine eigenen Erfahrungen mit dem IFG zu berichten. Ich stellte meine ersten Anfragen bereits am 2. Januar 2006 – etwa beim Verkehrsministerium nach Starts und Landungen von in den USA registrierten Flugzeugen, die vom Europarat als mögliche CIA-Flieger eingestuft waren, außerdem nach Unterlagen zu Kontakten des ehemaligen Kanzleramtschefs Frank-Walter Steinmeier mit US-Offiziellen im Zusammenhang mit der Debatte um CIA-Entführungen
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sowie beim Landwirtschaftsministerium nach Listen der Empfänger von EU-Agrarsubventionen. Die „Zeit“ hat vor einiger Zeit interne Protokolle einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe der Bundesregierung für den „Erfahrungstausch IFG“ publik gemacht. Im ersten Protokoll dieser Arbeitsgruppe vom 11. Januar 2006 heißt es: „Pressevertreter von stern und Bild haben sich bereits an mehrere Ressorts gewandt.“ Es klingt fast so, als seien die Beamten ein bisschen erschrocken. Als bestätige das ihre schlimmsten Befürchtungen. Aber erstaunlich ist ja eher, dass es zunächst nur stern und Bild waren, die es überhaupt versuchten, das neue Gesetz in der Praxis zu erproben. Für die Bundesministerien war das IFG nach eigenen Angaben eine „Zäsur“. Sie hatten sich selbst in der rot-grünen Regierungszeit jahrelang erfolgreich gegen mehr Offenheit gewehrt. Bereits 1998 hatten SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag die Schaffung eines Informationsfreiheitsgesetzes vereinbart, doch weil der Widerstand in den Bundesministerien zu groß war, bedurfte es im Jahr 2005 – in den letzten Tagen der rot-grünen Koalition – eines Entwurfs der Bundestagsfraktionen der beiden damaligen Regierungsparteien, um das IFG endlich auf den Weg zu bringen. Das vermeintliche Recht der Bürokratie, Einsicht in die von ihr geführten Akten zu verweigern, galt auch vielen Bürgern der Bundesrepublik, Journalisten eingeschlossen, selbstverständlich. Man erlebte das, als Ende 2010 die von Wikileaks veröffentlichten Geheimdepeschen Furore machten. Selbst große liberale Zeitungen wie die „Zeit“ und die „Süddeutsche Zeitung“ schwangen sich zu enthusiastischen Verteidigungsreden für das Staatsgeheimnis auf. Das ist eine sehr deutsche Sicht. Wie wenig selbstverständlich behördliche Verschlossenheit anderswo akzeptiert wird, erfuhr ich in meinen Jahren als stern-Korrespondent in Brüssel von 1999 bis 2004. Ich kooperierte dort öfters mit einem Kollegen von der britischen „Sunday Times“. Relativ bald nach meiner Ankunft in Brüssel fragte er mich, ob es mir auch so oft passiere, dass mir die EU-Kommission die Herausgabe von Unterlagen verweigere. Ich verstand zunächst nicht, was er mit der Frage meinte. Auf die Idee, Behörden um die Freigabe von Dokumenten zu bitten, wäre ich von selbst nicht gekommen. Ich nahm an, dass Behörden das Recht hätten, ihre Papiere unter Verschluss zu halten – und dass wir Journalisten darauf angewiesen seien, interne Informanten ausfindig zu machen, die uns ab und zu ein Papier zustecken. Doch in Brüssel galt damals bereits für die EU-Institutionen eine Transparenzverordnung, die den Zugang zu Dokumenten regelte. Ich begann, diese Möglichkeit zu nutzen. Anfang 2005 war ich schließlich aus privaten Gründen häufig in London. Im Januar 2005 war gerade der britische „Freedom of Information Act“ in Kraft getreten. In den Zeitungen des Landes erschienen bereits in den ersten Tagen des Jahres regelmäßig Artikel auf Basis des neuen Gesetzes. Die Journalisten hatten ihre Anträge schon vor Inkrafttreten des Gesetzes eingereicht und bekamen darum in den ersten Januartagen ihre gewünschten Dokumente.
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Als knapp ein Jahr später das Inkrafttreten des deutschen IFG bevorstand, erwartete ich einen ähnlichen Ansturm der deutschen Journalistenkollegen auf diese neue Recherchemöglichkeit. Darum überlegte ich mir frühzeitig mögliche Themen und bereitete Anträge vor, die ich dann in den ersten Januartagen abschickte. Doch egal, ob es um die CIA-Maschinen ging oder um Frank-Walter Steinmeiers Terminkalender oder um die Agrarsubventionen – keiner meiner Anträge auf Akteneinsicht wurde bewilligt. In gleich zwei dieser Fälle konnte ich immerhin meine Redaktion überzeugen, den Rechtsweg beschreiten – dazu später mehr. Wiederholt nutzte ich auch die Möglichkeit, mich beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BFDI), damals noch Peter Schaar, zu beschweren. Er stellte sich öfters an meine Seite. Manchmal beeindruckten dessen Argumente die Ministerien, manchmal nicht. Hier zunächst einige Beispiele von Anträgen, mit denen ich keinen Erfolg hatte: § Der bereits erwähnte Terminkalender des früheren Kanzleramtschef Steinmeier: Der Zugang wurde abgelehnt, weil es sich um „keine amtlichen Informationen“ im Sinne des Gesetzes handele. § Die Flugdaten CIA-verdächtiger Jets: Sie wurden mir zunächst verweigert, „weil die Sorge besteht, dass eine nicht sach- und fachgerechte Interpretation der Daten zu einer Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen führen kann“. § Die Listen der vom Kanzleramt von 1990 bis 2005 gekauften oder geleasten Dienstfahrzeuge einschließlich der Kaufpreise beziehungsweise Leasingraten: Die Angaben zu den Kauf- oder Leasingpreisen wurden verweigert, weil es sich um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Hersteller VW, Daimler und BMW handele. Wie bekannt, zahlen Behörden in der Regeln nicht die Listenpreise, sondern genießen großzügige Rabatte, die die Autobauer ihren normalen Kunden ungern preisgeben. § Listen mit den Themen der jüngsten Berichte der Innenrevisionen aus etwa zehn Ministerien: Sie wurden mir in nahezu allen angefragten Ressorts verweigert. Das Bundesfinanzministerium sprach zum Beispiel davon, dass diese Berichte ein rein „internes Steuerungsinstrument“ seien. Sie unterlägen einem „besonderem Amtsgeheimnis“. Im Jahr 2007 erbat ich von den Bundesministerien und dem Kanzleramt die Namen derjenigen Firmen, bei denen Ministerialbedienstete genehmigte Nebentätigkeiten ausübten. Obwohl ich die Namen der betroffenen Mitarbeiter ausdrücklich nicht verlangt hatte, verweigerten die Ministerien die Herausgabe der verlangten Listen mit Verweis auf den Datenschutz. Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit vermochte die mir erteilten Ablehnungsbescheide „nicht nachzuvollziehen“. Ausgerechnet das Verteidigungsministerium hatte diese Firmennamen auf eine Abgeordnetenanfrage sehr wohl veröffentlicht. Dem Finanzministerium, damals noch von Peer Steinbrück (SPD) geführt, erteilte der Bundesbeauftragte in der Folge sogar eine formelle Rüge, nachdem es mir erklärt hatte,
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der „Arbeitsaufwand“ zur Beantwortung meiner Anfrage wäre zu hoch. Sie diene ohnehin nur „zur Befriedigung privater Informationsinteressen“ und sei daher mit dem „gesellschaftlichen Auftrag“ des Ministeriums „unvereinbar“. Dass die Behörden ihre Akten nicht als Privatbesitz, sondern im Auftrag der Öffentlichkeit verwalten, dass das IFG ja auch nach dem Willen des Gesetzgebers die Kontrolle der Verwaltung verbessern sollte, und dass insbesondere die Presse eine auch grundgesetzlich garantierte Kontrollfunktion ausübt – all das war im Hause von Peer Steinbrück offenbar Neuland. Ähnlich kontrollresistent zeigte sich der – als öffentlich-rechtliche Körperschaft dem IFG unterliegende – Bundesverband der AOK. Da ich im Jahr 2008 längere Zeit über dort aufgetretene Unregelmäßigkeiten recherchierte, beantragte ich bei dem Bundesverband Unterlagen zu sieben Vergabeverfahren sowie die Geschäftsordnung und Ausführungsordnung eines Lenkungsgremiums. Abgesehen von einer Akte zu einem der sieben Aufträge bekam ich von keiner der von mir erbetenen Unterlagen die gewünschten Kopien. Die Geschäftsordnung des Lenkungsgremiums durfte ich mir – teilweise geschwärzt – lediglich in den Räumen der AOK durchlesen, aber nicht kopieren, weil die Papiere angeblich „bei einer Veröffentlichung einen unrichtigen Eindruck hätten erwecken können“. Aus Sicht des BFDI war dies ein Verstoß gegen die Rechtslage. Es stehe nämlich „grundsätzlich nicht im Ermessen der informationspflichtigen“ Stellen, „in welcher Form die Einsicht gewährt wird“, schrieb mir der Bundesbeauftragte. Auch mein Versuch, die Fahrtenbücher der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) zu inspizieren, scheiterte. Wir waren seit Ende 2008 widersprüchlichen Angaben des Ministeriums zu ihren vom Steuerzahler finanzierten Heimfahrten zur Familie bei Hannover nachgegangen. Doch den Antrag auf Einsicht in die Fahrtenbücher lehnte das Ministerium ab. Die rechtlichen Argumente waren aus Sicht des Bundesbeauftragten Peter Schaar zumindest teilweise wenig überzeugend. Für seine Behörde war „in keiner Weise ersichtlich, wie die Fahrtenbücher der Fahrer der Ministerin politische Führungsentscheidungen darstellen sollen um dementsprechend einen Informationszugang auf Grund von Regierungstätigkeit zu verweigern“. Im Jahr 2010 erbat ich vom Kanzleramt eine Liste der Geschenke, die die Bundesminister in den Jahren zuvor gemäß Ministergesetz bei der Bundesregierung angemeldet hatten. Der Anlass war ein Upgrade der Fluglinie Air Berlin, das der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) zu unrecht angenommen hatte. Ich wollte mich nun überzeugen, wie die Geschenkannahme im Bundeskabinett gehandhabt wurde. Zunächst lehnte das Kanzleramt die Einsicht in die Liste ab. Man fürchtete einen Schaden für die internationalen Beziehungen. Die Beamten verwandten sechs Seiten auf ihre Begründung und schwangen sich zu einer beachtlichen Politpoesie auf. Auszug: „Der Austausch von Geschenken insbesondere beim Besuch anderer Staaten hat eine große historische Tradition und ist Teil des zwischenstaatlichen Zeremoniells. Diplomatische Geschenke sind Symbole des kul-
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turellen Austauschs zwischen Völkern und Nationen. Meist genießen sie höchste Wertschätzung beim Beschenkten und sind Anknüpfungspunkte für kulturübergreifende Beschäftigung mit dem Anderen.“ „Allerdings“, so das Kanzleramt in dem Schreiben weiter, könne die Entscheidung über die Geschenkeverwendung „aufgrund der vielfältigen Beziehungsverflechtungen unterschiedliche Auswirkungen auf das Verhältnis zum Gebenden oder zu Dritten haben. Eine Herausgabe der Entscheidung über die Verwendung der Geschenke kann sich deshalb nachteilig auf die (internationalen) Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und einzelnen Staaten oder Institutionen auswirken“. Nachdem unser Anwalt gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch eingelegt hatte, erhielten wir die Liste der Geschenke dann doch noch – wenn auch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Der weitgehend unspektakulären Aufstellung konnte man entnehmen, dass die damalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) 2001 als Trägerin eines Umweltpreises eine Kormoranstatuette im Wert von 750 Euro erlangt hatte, die aber in Bundesbesitz übergegangen sei. Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble hatten erhaltene Preisgelder gespendet. Das Informationsfreiheitsgesetz war also in Kraft. Aber immer wieder ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass einigen in den Bundesbehörden die neue Transparenzverpflichtung lästig war. Ein damaliger hoher Bediensteter des Bundespresseamts riet mir im Herbst 2007 sogar, generell keine weiteren IFG-Anfragen zu stellen. Diese verursachten nur unnötigen bürokratischen Aufwand – wogegen man mir als Journalist eines großen Magazins doch ohnehin informell sehr weitgehend Informationen überlasse. Man könnte es auch so formulieren: Der Presseamtsvertreter wollte die Überlassung von Informationen weiterhin als Gnadenrecht behandeln, nicht als einklagbares Recht. Pressestellen, egal ob in Bundesministerien oder anderswo, verteilen traditionell gerne Informationshäppchen als Gunstbeweis gegenüber Journalisten ihres Vertrauens. Das IFG macht Journalisten nun potentiell unabhängiger vom Wohlwollen der Pressesprecher. Dazu passt der vielsagende Versprecher einer Pressereferentin der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Die Referentin sprach einmal mir gegenüber vom „Informations- äh, Gleichstellungsgesetz“. Aber ich hätte mich nicht immer weiter auf das IFG berufen, wenn ich nicht auch Erfolge gehabt hätte, das erste mal Ende 2006 und Anfang 2007. Im November 2006 hatte ich bei allen 14 Bundesministerien sowie dem Kanzleramt die internen Listen ihrer privaten Sponsoren beantragt. Nach einigem Hin und Her und einigen Beschwerden bei Peter Schaar erhielt ich dazu von zunächst neun Ministerien Namenslisten beziehungsweise Einsicht in die Akten. Die Ergebnisse waren hochinteressant. So zeigte es sich, dass der Rüstungs- und Technologiekonzern EADS samt seiner Töchter das Verteidigungsministerium zwischen 2003 und 2006 mit Geld- und Sachleistungen im Wert von 87.000 Euro unter-
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stützt hatte, zum Beispiel für den „Ball der Luftwaffe“ oder den „Ball des Sanitätsdienstes“. EADS sowie die Tochterunternehmen übernahmen bei solchen Anlässen die Kosten für die Musik und die Bewirtung oder ermöglichten ein Feuerwerk. Ich hatte im August 2006 zu meiner Verblüffung festgestellt, dass zwar eine Regierungsvorschrift verlangte, die Sponsoren der Regierung „transparent zu machen“. Doch im öffentlichen Sponsoringbericht der Bundesregierung fehlten ausgerechnet die Namen der betreffenden Firmen. Wie sich später herausstellte, hatten die Ministerien intern gemeinsam verabredet, diese Vorschrift nicht umzusetzen. Meine IFG-Anträge hatten in diesem Fall deshalb Erfolg, weil die verlangten Informationen eigentlich bereits nach geltendem Recht hätten veröffentlicht werden müssen. Die Tür war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt. Mit Hilfe des IFG konnte man sie aufstoßen. Seit unserem Bericht im stern im Januar 2007 publiziert die Bundesregierung die Namen der Sponsoren nun übrigens von sich aus. Und EADS hat seitdem auch keine Bälle der Bundeswehr mehr finanziell unterstützt. Allerdings verlangten einige Ministerien teils hohe Gebühren bis zum Höchstsatz von 500 Euro für die Herausgabe der Sponsoringakten – und zwar genau die Ministerien, deren Daten besonders interessant waren. Das passt zu der Theorie eines Experten beim BFDI, wonach die Bundesministerien dazu neigen, die Gebühren umso höher ansetzen, je peinlicher ihnen die herausgegebenen Informationen sind. Es sind also eher Strafgebühren für ungebührliche Fragen. Im Juni 2007 beschäftigte ich mich auch mit dem Sponsoring beim Sommerfest des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Und ich erwähnte im stern, dass mir das Präsidialamt die Namen einiger Sponsoren ihrer Sommerfeste verweigert hatte, weil diese einer Veröffentlichung nicht zugestimmt hätten. Hier beschwerte ich mich ebenfalls beim Bundesbeauftragten. Es stellte sich heraus, dass einige der angeblichen Verweigerer die Nachfrage des Präsidialamtes gar nicht erhalten hatten. Auch Köhlers Beamte mussten nun eine Rüge des BFDI befürchten. Im August 2007 kam bei mir eine schriftliche Entschuldigung des Präsidialamtes an. Der stern habe sehr wohl – so räumte der Köhler-Justitiar ein – einen „Anspruch auf vollständige Übermittlung der Sponsorennamen“, jedenfalls „soweit es sich um juristische Personen handelt“ – also um Firmen und Verbänden, wie es hier der Fall war. Dass Schaars Beamte die Beschwerde aufgegriffen hatten, mag die Selbstprüfung im Präsidialamt beschleunigt haben. In den Jahren darauf trugen erfolgreiche IFG-Anfragen zu einer Reihe weiterer Artikel im stern bei. So erhielten wir vom Kanzleramt – wie auch auf Basis der EU-Transparenzverordnung parallel vom EU-Statistikamt Eurostat – Akten über die internen Diskussionen zur Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone. Noch nach dem Erscheinen unserer Story im Juni 2012 reichten wir dennoch auch eine Klage gegen das Kanzleramt vor dem Verwaltungsgericht Berlin ein. Die Behörde verweigert uns bis heute Einsicht in einen offenbar entscheidenden Briefwechsel kurz vor der Pro-Griechenland-Entscheidung des Europäischen Rates vom Juni
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2000 zwischen dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder und dem seinerzeitigen griechischen Premier Konstantinos Simitis. Auch unter Schröders Nachfolger Angela Merkel blockiert die Regierungszentrale die Herausgabe dieser Korrespondenz. Ihre Veröffentlichung ist angeblich „geeignet“, die politischen Verhältnisse in Griechenland „instabiler“ zu machen. Ebenfalls im Jahr 2012 erhielt ich umfassende Einsicht in Umfragen, die das Bundespresseamt regelmäßig bei den verschiedenen Meinungsforschungsinstituten in Auftrag gegeben hatte. Es zeigte sich, dass das Presseamt immer wieder auch nach Kompetenzwerten der Parteien fragte, was nach Ansicht des Bundesrechnungshofs nicht zulässig ist. Und im August 2014 musste das Kanzleramt auf Antrag des stern interne Unterlagen freigeben, die den früheren Amtschef Ronald Pofalla und die Deutsche Bahn AG betrafen. Sie belegten, dass der spätere Bahn-Lobbyist Pofalla bereits in seinem Regierungsamt immer wieder intensiv mit verschiedenen Fragen rund um die Deutsche Bahn befasst war. Sie zeigten überdies, dass Bahn-Chef Rüdiger Grube seinen Duzfreund Pofalla während dessen Amtszeit wiederholt für die Interessen der Bahn einspannte. Bundesbehörden wie das Kanzleramt bescheiden also inzwischen immer wieder IFG-Anfragen auch positiv. Es scheint so etwas wie eine Lernkurve zu geben. Aber diese Lernkurve zeigt leider immer wieder auch Ausschläge nach unten. Sie verläuft quasi im Zickzack. Etwa im Fall der Umfragen des Bundespresseamtes: Inspiriert durch unsere Recherchen zu den demoskopischen Aufträgen hatte auch der Grünen-Politiker Malte Spitz im Herbst 2012 Einsicht in Meinungserhebungen aus den Jahren 2011 und 2012 erbeten. Diese wurden ihm jedoch vom Bundespresseamt verweigert. Man könne einstweilen und auf absehbare Zeit die demoskopischen Studien aus diesen beiden Jahren nicht herausgeben, weil die Zahlen zunächst für das Kanzleramt und dessen „interne Willensbildung“ bestimmt seien, schrieben die Regierungsjuristen noch Mitte April 2013 an den Grünen-Politiker. Würden die Ergebnisse der Bürgerbefragungen jetzt bekannt, könnte eine „öffentliche Diskussion“ entstehen, die „eine einengende Vorwirkung“ auf die Beratungen der Regierung hätte: „Eine unvoreingenommene und unbeeinträchtigte Willensbildung innerhalb der Bundesregierung würde verhindert“. Erst nachdem Spitz sich an die Gerichte wandte, erhielt er im Sommer 2014 doch noch Einsicht in die erbetenen Umfrageergebnisse. Er überließ sie dem „Spiegel“, der nun ebenfalls – wie zwei Jahre zuvor der stern – die fragwürdigen demoskopischen Praktiken des Presseamtes thematisierte. Auf der Lernkurve kräftig nach unten ging es schließlich auch mit einer offenkundig politisch motivierten Einschränkung des IFG, die mit den Stimmen aller im Bundestag vertretenen Parteien im Juni 2013 beschlossen wurde. Um den Hintergrund zu erzählen, muss man etwas ausholen. Es geht um die Budgets der Fraktionen im Bundestag. An die 85 Millionen Euro Steuergeld fließen zur Zeit jährlich an die Abgeordnetengruppen – wohlgemerkt zusätzlich zu Diäten und Entschädigungen für die
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einzelnen Parlamentarier und zusätzlich zu den Mitarbeiterpauschalen der Parlamentarier. Mit den Staatsgeldern finanzieren die Fraktionen Werbung, die manchmal Parteienreklame sehr ähnelt, sowie Sonderzahlungen an um die 100 Inhaber höherer Fraktionsämter. Ihre Zahlung gilt als rechtswidrig. Dennoch weigerten sich die Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf unsere Anfrage hin mehrfach, die Höhe der Zulagen zu nennen. Ich richtete darum schließlich formelle IFG-Anfragen an die beiden Fraktionen, erhielt aber keine Antwort. Wir zogen vor das Verwaltungsgericht und hatten auch dort keinen Erfolg. Fraktionen seien kein Teil der staatlichen Verwaltung, befand das Berliner Verwaltungsgericht; das IFG gelte für sie nicht. Das Gericht ließ nicht einmal die Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht zu; wir klagten dort auf Zulassung, verloren aber im Februar 2013 auch dort. Doch mir war bekannt, dass der Bundesrechnungshof (BRH) verpflichtet ist, die Verwendung der Fraktionsmittel zu prüfen. Erst im November 2012 hatte das Bundesverwaltungsgericht der Klage eines Journalistenkollegen Recht gegeben und entschieden, dass auch der Bundesrechnungshof dem IFG unterliegt. Der stern beantragte darum im März 2013 Akteneinsicht in alle Prüfunterlagen, die beim Rechnungshof seit 1987 zu den Fraktionsbudgets angelegt worden waren. Der Rechnungshof ließ sich mit dieser Anfrage viel Zeit, teilte aber immerhin frühzeitig mit, dass es sich sehr umfangreiche Aktenbestände vorlägen. Insgesamt füllten die Prüfunterlagen des BRH zu den Fraktionsfinanzen für die Jahre seit 1987 „75 zum Teil umfangreiche Aktenbände“, so der Hof. Das musste uns überraschen, denn die Prüfbehörde hatte nie irgendwelche Mängelrügen zu diesen Budgets veröffentlicht – obgleich der Rechnungshof dazu nach einer 1989 vom Bundesverfassungsgericht gefällten Entscheidung verpflichtet war. Im Februar 2014 lehnte der Hof dennoch auch unseren Antrag auf Akteneicht endgültig ab. Er verwies darauf, dass die Fraktionen „übereinstimmend“ und mit triftigen Begründungen Einspruch eingelegt hätten. So beriefen sich die Fraktionen auf den „Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen“. So absurd das auch klingen mochte, der Hof machte sich dieses Argument zu eigen. „Die in den Prüfungsfeststellungen enthaltenen Ausführungen zur Personalausstattung, zum Beschaffungswesen und zur Bewirtschaftung von Mitteln“ der Fraktionen, so der Hof, könnten „durchaus in ihrer Vertraulichkeit mit ,Unternehmensinterna‘ vergleichbar sein“. Denn die „Konkurrenzsituation zwischen den Bundestagsfraktionen“ sei „in gewisser Weise auch mit der Konkurrenzsituation von Unternehmen vergleichbar“. Daher könnte sich die Wettbewerbssituation zwischen den Fraktionen „verzerren, wenn zum Beispiel Prüfberichte über die eine Fraktion bekannt würden, über die anderen aber nicht“. Mit der gleichen Begründung könnte man freilich verlangen, Strafurteile über einzelne Politiker geheim zu halten – oder Gerichtsentscheidungen gegen einzelne Unternehmen. Doch zusätzlich verwies der Rechnungshof in seinem negativen Bescheid darauf, dass sich im Juni 2013 die rechtliche Grundlage geändert habe. Für Unterlagen des Rechnungshofes sei das Informationsfreiheitsgesetz nun nicht mehr gültig. Abwei-
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chend von der bisherigen Rechtslage stehe es nun „im Ermessen“ des Hofes, ob er Prüfberichte freigebe oder nicht. In der Tat hatte eine ganz große Koalition aller Parteien im Juni 2013 – drei Monate nach dem stern-Antrag – von der großen Öffentlichkeit und auch von uns unbemerkt die Einsichtsrechte eingeschränkt. Angefügt an ein anderes Gesetz novellierten die Fraktionen im Huckepack-Verfahren die Bundeshaushaltsordnung. „Zum Schutz des Prüfungs- und Beratungsverfahrens“, so der Beschluss, den die Abgeordneten in einer Nachtsitzung einstimmig fassten, werde künftig vom Rechnungshof „Zugang zu den zur Prüfungs- und Beratungstätigkeit geführten Akten nicht gewährt“. Selbst bei endgültigen Prüfberichten stehe es ab nun im Ermessen des Hofes, ob er diese herausgebe. Noch kurz vor dem stern-Antrag hatten sich der Rechnungshof und die Abgeordneten des Rechnungsprüfungsausschusses des Bundestages auf eine andere Novellierung verständigt, die sehr viel weniger weitreichend gewesen wäre. Die „Herausgabe von Erhebungsunterlagen, Entwürfen und sonstigen Bestandteilen von Prüfungs- und Beratungsakten“ sollte demnach zwar künftig „ausgeschlossen“ werden. „Abschließend festgestellte Prüfungsergebnisse“ dagegen müssten „grundsätzlich herausgegeben“ werden. Eine solche „Ergebnistransparenz“ passte auch nach Ansicht des Rechnungshofes zur Praxis der Gerichte in Deutschland, bei denen ja ebenfalls zwar nicht die vorbereitenden Akten, aber sehr wohl „Urteile und Beschlüsse öffentlich“ seien. Am 22. März 2013 hieß der Rechnungsprüfungsausschuss dieses Ziel gut und empfahl eine schnelle Umsetzung. Doch spätestens Ende April 2013 erfuhren die Fraktionen im Bundestag von dem Wunsch des stern, die Rechnungshofberichte zu ihren Finanzen einzusehen. Glaubt man der jetzigen Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses, Bettina Hagedorn (SPD), dann hatten zu der Zeit bereits die damaligen Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen das Thema in die Hand genommen. Nun, im Mai und Juni 2013 kam überraschend die radikalere Änderung über den Umweg der Bundeshaushaltsordnung in Gang. Nun sollte es selbst bei den Prüfergebnissen ins Belieben des Rechnungshofes gestellt werden, ob er die Berichte herausgebe. Ermessensentscheidungen lassen sich übrigens vor Gericht nur schwer mit Erfolg angreifen. Mein Resümee lautet also so: Die Existenz des IFG ist ein Fortschritt. Es ermöglicht uns Journalisten im Einzelfall den Zugang zu größeren Aktenbeständen, den wir anderweitig nicht erhalten hätten. Freilich muss man viel Geduld mitbringen, denn die Verfahren sind zeitraubend und beanspruchen nicht selten mehrere Monate. Im Gesetz selbst fehlen feste Fristen, innerhalb der die Verwaltung Anträge bearbeiten muss. Lediglich eine Soll-Vorschrift verlangt die Bearbeitung innerhalb eines Monates. Der Faktor Zeit spielt erst recht eine Rolle, falls man den Rechtsweg beschreitet. Im Fall der CIA-Flüge hatten wir wie oben bereits erwähnt Anfang 2006 Klage ein-
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gereicht. Nach dem Gang durch die Instanzen erreichten wir Ende 2009 einen Teilerfolg vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Sache ging darauf zurück an das OVG Berlin-Brandenburg. Die Daten selbst erhielten wir im Jahr 2010. Für eine Veröffentlichung waren sie nicht mehr geeignet; das Thema hatte zu sehr an Aktualität verloren. Im Fall der Agrarsubventionen verklagten wir Mitte 2006 die in Bonn ansässige Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) auf Zugang zu dort gesammelten Daten. Hier dauerte es bis März 2011, bis wir uns vor dem Oberverwaltungsgericht durchsetzten. Solange es bei Subventionsempfängern um Firmen und andere juristische Personen gehe, könnten diese sich nicht auf den Datenschutz oder Betriebsgeheimnisse berufen. Auch hier blieb der Erfolg journalistisch fruchtlos. Inzwischen war nämlich auf EU-Ebene entschieden worden, die Namen der Subventionsempfänger generell zu veröffentlichen. Im Fall der Akten des Kanzleramtes zu Griechenlands Aufnahme in die EuroZone zogen wir Mitte 2012 vor das Verwaltungsgericht. Vor dieser Instanz sind wir Ende 2014 immer noch, weil das Kanzleramt mit einer bemerkenswerten Hinhaltetaktik das Verfahren verzögert. Aus journalistischer Sicht sind solche Wartezeiten eigentlich unzumutbar. Leider ist es bei IFG-Verfahren aber praktisch unmöglich, ein Eilverfahren zu beantragen. Nutzlos waren unsere Klagen dennoch nicht. Wir hatten beispielsweise im Fall der CIA-Flüge Auslegungsgrundsätze für das IFG erstritten, auf die wir uns später im Fall der Griechenland-Akten des Kanzleramtes berufen konnten. Die langen Wartezeiten sind nicht die einzigen Schwächen des IFG. Gerade für freie Journalisten wirken die teils hohen Gebühren abschreckend. Aus meiner Sicht sollten sie abgeschafft werden. Übrigens kennt selbst die EU-Verordnung über den Zugang zu Informationen keine Gebührenpflicht. Schließlich müsste bei einer Novellierung des Gesetzes die Liste der Ausnahmebestimmungen entrümpelt werden. Nach der heutigen Fassung sind ausgerechnet Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse besser geschützt als selbst Daten natürlicher Personen. Bei letzteren muss gegen das Informationsinteresse der Öffentlichkeit abgewogen werden, bei Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nicht. Solange das so bleibt, wird das IFG auch nur begrenzt bei der Korruptionsprävention helfen, wie sich das ursprünglich selbst das Bundeskriminalamt erhofft hatte. Kurz, das IFG bedarf der Reform. Doch die einzige Novellierung, die es seit seinem Bestehen erlebte, war – im Fall des Bundesrechnungshofes – ein erfolgreicher Versuch des Rollback. Das zeigt, wie sehr die Politik beim Thema Informationsfreiheit den Druck der Öffentlichkeit benötigt. Und natürlich braucht es weiter möglichst viele Journalisten, die ihr Recht auf Informationsfreiheit wahrnehmen und bei Bedarf auch einklagen.
Die geheimen Regeln der Macht jenseits der offiziellen Fassade Hans Herbert von Arnim Vorspruch Dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch verdanken wir das Wort von der „Postdemokratie“, in die sich westliche Demokratien seiner Ansicht nach allmählich verwandeln. Unter Postdemokratie versteht Crouch „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden“, die Wahlkämpfe aber „zu einem reinen Spektakel“ verkommen, bei dem nur noch Probleme diskutiert werden, welche die Politik zuvor selbst ausgewählt hat. „Die Mehrheit der Bürger“ spiele „dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle … Im Schatten dieser politischen Inszenierung“ werde „die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht; von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ Den Einfluss, den die Wirtschaft vor allem durch Lobbying ausübt, hat Thomas Leif geschildert. Ich möchte eine andere für Deutschland typische Problematik ansprechen, welche die Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair mit dem Terminus „Kartellparteien“ bezeichnen, deren Akteure aber ebenfalls das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Warum? Weil sie im eigenen Interesse miteinander kungeln: Das eine Mal kungeln Politiker mit Lobbyisten – Leif spricht von der symbiotischen Verbindung zwischen beiden, ja geradezu von Komplizenschaft. Das andere Mal bilden die Politiker – über die Fraktions- und Föderalismusgrenzen hinweg – eine Interessengemeinschaft, die den politischen Wettbewerb aufhebt, deshalb der Begriff „Kartell“. I. Gemeinwohlbindung von Amtsträgern: Norm und Wirklichkeit Offiziell lassen sich alle Inhaber staatlicher Ämter vom Gemeinwohl leiten. So heißt es in Sozialkundebüchern von Schulen und in Sonntagsreden von Politikern. Es ist zwar schwierig, positiv zu definieren, was Gemeinwohl konkret bedeutet, weil regelmäßig ein breites Band von auch noch Vertretbarem besteht. Negativ lässt sich aber sehr wohl eine Abgrenzung vornehmen: Amtsträger dürfen sich bei ihrem Handeln jedenfalls nicht am Erhalt der Macht oder am Gewinnen von Posten für sich oder ihre Gruppe oder Partei orientieren. Mit Wilhelm Busch gilt auch hier: „Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man lässt.“
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Doch Träger von politischen Ämtern sind regelmäßig auch Mitglieder einer Partei und oft hohe Parteifunktionäre. Das Wesen einer Partei besteht aber nun einmal im Gewinn der Macht und im Besetzen politischer Posten im Staat. Anders wäre politische Gestaltung ja auch nicht möglich. Regierungsmitglieder, Parlamentarische Staatssekretäre, Parlamentsabgeordnete, politische Beamte (und auch sonstige öffentliche Bedienstete, die ihren Posten den Parteien verdanken) haben also sozusagen zwei Hüte auf, den Amts- bzw. Mandatshut und den Parteihut. Inoffiziell und insgeheim spielt bei den Handlungen dieser Staatsfunktionäre immer auch das Machtmotiv mit herein, wenn es nicht sogar dominiert. Der kleine Mann würde sich wundern, wenn er wüsste, wie Politik wirklich ist, soll Karl Kraus einmal gesagt haben: nämlich genauso, wie er sie sich vorstellt. In der realen Welt der Politik geht es nicht nur und keineswegs immer vorrangig ums Gemeinwohl, sondern, zumindest auch, um die Eigeninteressen der Akteure an Macht, Posten und Geld. II. Wandel der Gewaltenteilung Dass der Kampf der Parteien um die Macht im Staat eine zentrale Rolle spielt und ganze Institutionen umkrempelt, zeigt sich am Verhältnis von Regierung und Parlament, das ja schließlich den Kern der grundgesetzlich vorgesehenen Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) darstellt. Mit Gewaltenteilung war zunächst der Gegensatz gemeint zwischen dem Parlament einerseits und der Exekutive, also Regierung und Verwaltung, andererseits. Von dieser Form der Gewaltenteilung kann aber „vernünftigerweise nicht mehr die Rede sein“ (Roman Herzog). Die eigentliche politische „Front“ verläuft im heutigen parlamentarischen System zwischen Regierung und Opposition. Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen im Parlament bilden politisch eine Einheit, die zusammen geschweißt wird durch den gemeinsamen politischen Willen zum Machterhalt. Damit ist die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren, im Wesentlichen auf die parlamentarische Opposition übergegangen. Wie aber, wenn die Opposition nur noch über ein Fünftel der Mandate verfügt, wie derzeit im Bundestag? Wichtige Minderheitsrechte, wie das Anrufen des Bundesverfassungsgerichts (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), kann eine solche Opposition gar nicht mehr wahrnehmen, weil dafür ein Viertel der Mandate erforderlich wäre. Hier stellt sich die Frage, ob die Opposition ihre Funktionen noch mit der nötigen Intensität erfüllen kann. Dieser Wandel der Gewaltenteilung ist dem aufmerksamen Zeitungsleser und Tagesschau-Gucker einigermaßen vertraut. Den Kampf zwischen Regierung und Opposition um die Deutungshoheit bei fast allen politischen Projekten kennt man ja. Immerhin besteht hier überhaupt noch eine politische Kontrolle zumindest durch einen Teil des Parlaments, die Opposition. Zusätzlich können Fehlentwicklungen auch bekämpft werden durch die Öffentlichkeit, sprich: die Medien, und durch die Bürger bei der nächsten Wahl. Das mag den Mangel der Opposition an Parlamentsmandaten bis zu einem gewissen Grad wettmachen.
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III. Auswüchse des Parteienstaates 1. Entscheidung des Parlaments in eigener Sache a) Das Problem Anders ist es aber, wenn das ganze Parlament gleichgerichtete Interessen verfolgt. Beispiele sind Diäten, staatliche Parteienfinanzierung, Ämterpatronage und Sperrklauseln, die kleinere politische Konkurrenten ausschließen. Hier entscheidet das Parlament in eigener Sache. Damit entfällt die Kontrolle durch die Opposition und weit gehend auch die Kontrolle durch die Wähler; welche Partei können sie mit dem Stimmzettel noch bestrafen, wenn die Etablierten an einem Strang ziehen, wenn sie nicht Außenseitern ihre Stimme geben wollen? Man spricht dann von der politischen Klasse. Damit sind die Politiker gemeint, die – über die Grenzen der Fraktionen und des Föderalismus hinweg – durch übereinstimmende Interessen an der Sicherung ihres Status auf Linie gehalten werden und zugleich die Möglichkeit haben, ihre Interessen unmittelbar in den Parlamenten durchzusetzen. Die einzelnen Abgeordneten können die Bürger ohnehin nicht auswählen, jedenfalls soweit ihre Partei sie auf sichere Listenplätze setzt oder in sicheren Wahlkreisen aufstellt. Die eigenen Interessen von Politikern und ihren Parteien an Macht, Posten und Geld wirken natürlich auch hier; sie treten hier aber nicht so deutlich in Erscheinung, weil die Betroffenen dies abstreiten und – mangels parlamentarischer Opposition und Wählerkontrolle – ihnen kaum jemand widerspricht. Dann sind die Öffentlichkeit und die Gerichte oft die einzigen Gegengewichte. Hinsichtlich der Transparenz hat das Bundesverfassungsgericht das in seinem Diätenurteil von 1975 folgendermaßen formuliert: Wenn „das Parlament in eigener Sache scheidet“, verlange „das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip (Art. 20 GG), dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich.“ Das Transparenzprinzip verlangt – wieder mit den Worten des Gerichts – „jede Veränderung in der Höhe der Entschädigung im Plenum zu diskutieren und vor den Augen der Öffentlichkeit darüber als einer selbstständigen politischen Frage zu entscheiden.“ Geboten ist also mindestens eine spezialgesetzliche Regelung gerade auch der Höhe der Zahlungen. Erhöhungen lediglich eines Haushaltstitels gehen im Haushaltsplan unter, können das Transparenzgebot also nicht erfüllen. Es handelt sich um eine besondere Form des Gesetzesvorbehalts. Und auch sonst nennen die Verfassungsgerichte das Kernproblem neuerdings beim Namen: Entscheidet das Parlament in eigener Sache, bestehe die Gefahr, dass die Eigeninteressen der Abgeordneten und ihrer Parteien dominieren und Gemeinwohlbelange nur vorgeschützt werden. Deshalb nehmen die Verfassungsgerichte es sich heraus, die Entscheidungen, die das Parlament in eigener Sache trifft, be-
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sonders intensiv zu prüfen. Und so geschieht es denn auch: in mehreren Diätenurteilen, im Parteienfinanzierungsurteil von 1992 und in den Urteilen zu den Sperrklauseln bei Kommunalwahlen und Europawahlen von 2008, 2011 und vom Februar 2014. Die Anforderungen, gerade auch die an Transparenz, werden allerdings vielfach unterlaufen. Das zeigt sich etwa bei der staatlichen Parteienfinanzierung. b) Verdeckte staatliche Parteienfinanzierung Über die staatliche Parteienfinanzierung entscheiden die Parteien im Bundestag selbst. Als diese Form der Subventionierung deshalb in den sechziger Jahren zu explodieren drohte, von der die Parlamentsparteien ihre außerparlamentarischen Konkurrenten auch noch ausgeschlossen hatten, erzwang das Bundesverfassungsgericht drei Vorkehrungen gegen ein Zuviel an Staatsgeld und die Diskriminierung kleinerer Parteien. Erstens: Die Staatsfinanzierung wurde durch Obergrenzen gedeckelt. Zweitens wurden außerparlamentarische Parteien an der Staatsfinanzierung beteiligt. Auch kleinere Parteien können seitdem staatliche Subventionen beanspruchen, wenn sie mindestens 0,5 % der Stimmen bei Bundestags- oder Europawahlen oder mindestens ein Prozent bei einer Landtagswahl erlangt haben. Drittens – und für uns von besonderem Interesse –: Eine Erhöhung der Staatsfinanzierung wurde nur im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, also nicht etwa nur durch einen Haushaltstitel, gestattet, um sie der öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Doch die Antwort der Parteien in den Parlamenten auf diese Rechtsprechung kam prompt. Sie flüchteten ins Geheime und schufen eine verdeckte Parteienfinanzierung: Die staatlichen Zahlungen an Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe Stiftungen, über deren Ausgestaltung und Höhe die Parteien in den Parlamenten ebenfalls selbst bestimmen, schossen geradezu in die Höhe. Sie kommen den Mutterparteien vielfach zu Gute, indem sie viele ihrer Aufgaben übernehmen und ihnen so Ausgaben ersparen. Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahe Stiftungen sind damit zum großen Teil zu funktionalen Äquivalenten der Parteien geworden. Dadurch ist eine verdeckte Staatsfinanzierung der Parteien in den Parlamenten entstanden, welche die politische Klasse bisher vor der Öffentlichkeit verborgen hat. Spektakuläre Skandale, wie der Finanzierungskandal der rheinland-pfälzischen CDU unter ihrem früheren Vorsitzenden Christoph Böhr, sind nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs, der aber unter der Decke versteckt ist. Der Fluss staatlichen Geldes wird dadurch erleichtert, dass für Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und Stiftungen im Bund und in vielen Ländern bisher keine der verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen beachtet wird, welche die eigentliche Staatsfinanzierung der Parteien in Grenzen hält. Das gilt vor allem für das Transparenzgebot. Wieviel Staatsgeld fließt, steht in keinem Gesetz. Erhöhungen verlangen deshalb keine Gesetzesänderung, sondern erfolgen – an der öffentlichen Kontrolle vorbei – lediglich durch Änderungen der Haushaltstitel. Dass die Erhöhung eines im Gesetz verankerten Betrages der öffentlichen Kontrolle in der Regel deutlich stärker ausgesetzt ist als die Erhöhung eines bloßen Haushaltstitels, die oft ohne jede Be-
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gründung erfolgt, und dies durchaus einen dämpfenden Effekt auf die Steigerungsrate besitzt, lässt sich auch empirisch belegen. Das gewaltige Umgehungsmanöver hat dazu geführt, dass die Finanzierung von Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeitern und parteinahen Stiftungen, die anfangs nur einen Bruchteil der Parteienfinanzierung ausgemacht oder gar nicht existiert hatte, die offene Staatsfinanzierung inzwischen weit überflügelt. Sie erhalten 2014 allein aus dem Bundeshaushalt rund 365 Mio. Euro pro Jahr (ohne die weiteren rund 330 Mio. Euro für Projekte der Stiftungen vor allem im Ausland). Das ist sehr viel mehr als die eigentliche Staatsfinanzierung der Parteien, die für ihre Organisationen im Bund und den Ländern bestimmt ist und 2014 rund 157 Mio. Euro beträgt. Allein für seine persönlichen Mitarbeiter verfügt jeder Bundestagsabgeordnete inzwischen über 21.000 Euro monatlich (einschließlich der Arbeitgeber-Sozialleistungen); das sind insgesamt 169 Mio. E, womit rund 4.400 Personen als Abgeordnetenmitarbeiter beschäftigt werden. Die Folge ist, dass das Geld „wie Manna vom Himmel fällt“, wie ein frisch gewählter Volksvertreter beim Eintritt in den Bundestag erstaunt feststellte. Hinzu kommen noch entsprechende Zahlungen für Fraktionen und Abgeordnetenmitarbeiter in den Bundesländern. Zudem werden die rund 1.500 Parlamentarier der Flächenländer voll alimentiert, obwohl sie, wie Landtagsdirektoren einräumen, nur einen Teilzeitjob ausüben. So können sie – mit den Worten eines früheren Bundestagspräsidenten – „tagein tagaus Parteiarbeit machen“, wenn sie nicht ohnehin noch einem privaten Beruf nachgehen und aus beiden Quellen Einkommen beziehen. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen, in denen 2014 Landtagswahlen stattgefunden haben, sind die Diäten rund doppelt so hoch wie in Hamburg, obwohl die Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft zusätzlich zu den Landesnoch kommunale Aufgaben wahrzunehmen haben. Der Einsatz der Ressourcen für die Belange der Parteien wird dadurch erleichtert, dass die Kontrollorgane geschwächt oder ganz entmachtet werden. So wird zum Beispiel dem Bundesrechnungshof die Prüfung der Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten vom Bundestag vorenthalten. Umso leichter können die Parteien die Mitarbeiter, die eigentlich zur Unterstützung des Abgeordneten „bei der Erledigung seiner parlamentarischen Arbeit“ bestimmt sind (§ 12 Abs. 3 Abgeordnetengesetz), vielfach für Partei- und Wahlkampfzwecke missbrauchen. Dass dies tatsächlich flächendeckend geschieht, hat eine Sendung des ARD-Fernsehmagazins Report Mainz kurz vor der Bundestagswahl 2013 bestätigt. Die überwiegend im Wahlkreis eingesetzten Mitarbeiter bilden auch sonst geradezu das Rückgrat der lokalen und regionalen Parteiorganisationen. c) Funktionszulagen Ein anderer Fall von Ausweichen in die Intransparenz sind die Funktionszulagen für bestimmte Abgeordnete. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Zulagen lediglich für den Parlamentspräsidenten, seine Stellvertreter und Fraktionsvorsitzender erlaubt, ansonsten aber verboten, jedenfalls solange die Abgeordneten voll be-
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zahlt werden. Das Verbot wird vom Bundestag und vielen Landtagen aber dadurch umgangen, dass nun die (vom Parlament großzügig finanzierten) Fraktionen die Zulagen zahlen, dabei aber verdecken, an welche Funktionsträger sie Zulagen in welcher Höhe leisten. Herr Tillack hat gestern geschildert, wie ihn der Gesetzgeber ausgebremst hat bei seinem Versuch, mit dem Informationsfreiheitsgesetz die entsprechenden Angaben herauszubekommen. 2. Ämterpatronage Auch die so genannte parteiliche Ämterpatronage (oder schlicht „Parteibuchwirtschaft“) gehört hierher. Genau genommen entscheiden auch hier die Parteien in eigener Sache. Ämterpatronage ist illegal und scheut deshalb ebenfalls das Licht der Öffentlichkeit. Die Bevorzugung von Parteimitgliedern bei der Einstellung oder Beförderung von Beamten, öffentlichen Angestellten, Richtern etc. widerspricht Art. 33 Abs. 2 GG und den Beamten- und Richtergesetzen. Nach diesen Vorschriften müssen Einstellungen und Beförderungen nach persönlicher Eignung und fachlicher Leistung erfolgen. Es gilt das Prinzip der „Bestenauslese“. Doch auch hier klaffen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auseinander. So heißt es etwa in einem jüngst erschienenen Beitrag über Parteien in der zurückhaltenden Sprache eines Staatsrechtslehrers: „Die in Bund und Ländern geübte Praxis [der parteipolitischen Ämterpatronage sei] noch weit von dem in Art. 33 Abs. 2 GG normierten Ziel entfernt.“ Parteibuchwirtschaft herrscht zwar zum Glück noch nicht überall, weitet sich aber leider immer mehr aus. Sie ist außerordentlich schädlich, weil sie das Vertrauen der Menschen in den Staat untergräbt, da auf diese Weise immer wieder Minderqualifizierte in gut besoldete Ämter berufen werden. Öffentliches Geld wird verschwendet, und Konkurrenten, die ohne oder mit dem falschen Parteibuch nicht zum Zuge kommen, obwohl sie in Wahrheit die Besserqualifizierten sind, werden frustriert. Das beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit des gesamten Dienstes. Ämterpatronage wird deshalb offiziell oft einfach geleugnet. Als die Grünen seinerzeit bei der Regierung von Helmut Kohl anfragten, wie man parteiliche Ämterpatronage erfolgreich bekämpfen könnte, antwortete die Regierung lapidar, Ämterpatronage existiere überhaupt nicht. Das wirkliche Ausmaß der parteilichen Durchdringung des öffentlichen Dienstes und der oberen Gerichte bleibt intransparent. Es gibt allerdings immer mal wieder unübersehbare Einzelfälle von rechtswidrigen Ernennungen. Ein Beispiel haben wir in Rheinland-Pfalz bei Bestellung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz erlebt. Von der Landesregierung wurde Ralf Barz, damals Präsident des Landessozialgerichts als Präsident des OLG Koblenz vorgeschlagen und dann auch vom Richterwahlausschuss mehrheitlich gewählt. Dagegen wehrte sich Hans-Josef Graefen, damals Landgerichtspräsident und CDU-Mitglied, mit einer Konkurrentenklage. Die beiden rheinland-pfälzischen Gerichte, das Verwal-
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tungsgericht und das Oberverwaltungsgericht, wiesen die Klage ab. Doch das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hob die Urteile auf und gab dem Kläger Graefen mit Urteil vom 4. 11. 2010 Recht. Graefen wurde Präsident des OLG Koblenz. Auch die zunächst geplante Auflösung des OLG Koblenz und seine Eingliederung ins halb so große OLG Zweibrücken, die allgemein als Racheakt gegen die Koblenzer Justiz verstanden wurde und deutschlandweit auf Protest gestoßen war, musste die Landesregierung abblasen. Konkurrentenklagen haben allerdings eine große Schwäche. Sie führen selbst im Erfolgsfall nur zur Aufhebung der rechtswidrigen Bestellung, nicht automatisch auch zur Ernennung des Klägers. In Koblenz allerdings wurde Graefen dennoch ernannt. Die Regierung war derart blamiert, dass ihr zur Befriedung des zerdepperten Terrains nur noch die Ernennung Graefens blieb. Ein weiterer Fall spielt ebenfalls in Rheinland-Pfalz: Zum Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts (und damit von Amts wegen auch zum Präsidenten des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofs) wurde im Juni 2012 der 46jährige Lars Brocker gemacht. Brocker war vorher stellvertretender parlamentarischer Geschäftsführer und Justiziar der SPD-Landtagsfraktion und dann Landtagsdirektor. Er besaß kaum Erfahrung als Richter. Aber er hatte ein großes parteiliches Verdienst. Er hatte nämlich die üppigen Funktionszulagen, die zum Beispiel die vielen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden im Bund und in den Ländern, auch in Rheinland-Pfalz, von ihren Fraktionen erhalten, in einer Fachzeitschrift gegen das Bundesverfassungsgericht verteidigt. Mit der Berufung Brockers an die Spitze des Landesverfassungsgerichts dürften jedenfalls die rheinland-pfälzischen Zahlungen vor einem verfassungsgerichtlichen Verdikt ein Stück sicherer geworden sein, obwohl das Bundesverfassungsgericht Extra-Gelder etwa an stellvertretende Fraktionsvorsitzende mittlerweile in vier Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt hat. Hier zeigt sich, dass die Parteien dazu neigen, besonders ihre institutionellen Kontrolleure parteipolitisch zu besetzen. Aber es gibt auch etwas, dass ich den BecketEffekt nennen möchte: Jean Anouilh hat in seinem Drama „Becket oder die Ehre Gottes“ geschildert, wie der vom König zum Erzbischof gemachte Becket schließlich den Belangen seines kirchlichen Amtes den Vorzug gab vor den Interessen desjenigen, dem er das Amt verdankte, nämlich dem König. Um ein solches amtsorientiertes Verhalten, welches das Grundgesetz zwingend verlangt, zu ermöglichen, sind Richter und Mitglieder der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder unabhängig gestellt. Denn sie sollen ja gerade auch diejenigen, die sie ernannt haben, kontrollieren. Ein gutes Beispiel ist der Präsident des Landesrechnungshofs Thüringen, Sebastian Dette. Er macht von seiner Unabhängigkeit wirklich Gebrauch, indem er die Funktionszulagen, wie es seines Amtes ist, als verfassungswidrig kritisiert und ihre Rückzahlung an den Landeshaushalt anmahnt. Dabei sieht er sich allerdings massivem Mobbing seitens der politischen Klasse ausgesetzt. Doch seine Stellung erlaubt es ihm, den Druck auszuhalten, zumal er – entsprechend dem Berlin-Pots-
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dam-Prinzip der alten Preußischen Oberrechnungskammer – nicht in Erfurt, dem Sitz von Regierung und Landtag sitzt, sondern in Rudolstadt. Auch die Unabhängigkeit des neuen Präsidenten des Bundesrechnungshofs, Kay Scheller, der vorher Direktor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, wird, etwa bei Prüfung der Bundestagsfraktionen, auf eine harte Probe gestellt. Die Süddeutsche Zeitung hatte diese Berufung „als Dank Kauders an einen sehr engen Mitarbeiter“ interpretiert (Süddeutsche Zeitung vom 7. 4. 2014, S. 17). 3. Der geheime Garten der Politikerrekrutierung Ämterpatronage hat insgeheim auch tief greifende indirekte Rückwirkungen auf die Parteien selbst. Ämterpatronage infiziert nicht nur das Denken der davon Begünstigten, sondern wirkt auch auf die Mitgliederrekrutierung der Parteien zurück, auch ihren „geheimen Garten“ wie die Parteienforschung derartige innerparteilichen Prozesse anschaulich nennt. Denn Ämterpatronage zieht Leute in die Parteien, die in Verwaltung und Politik etwas werden wollen, Karrieristen also, denen es weniger darum geht, an der politischen Gestaltung mitzuwirken, als um die Förderung des eigenen Fortkommens. Das sind in großer Zahl öffentliche Bedienstete oder solche, die es werden wollen. Sie sind in den Parteien weit überproportional vertreten, und das nicht nur, weil sie vom Staat und seine Organisation mehr verstehen als andere. Sie können von der Mitgliedschaft doppelt profitieren: Einmal kann das Parteibuch ihre Aufnahme in den öffentlichen Dienst bzw. ihren Aufstieg im öffentlichen Dienst fördern – eben durch Patronage ihrer Partei. Zum zweiten haben öffentliche Bedienstete auch Vorteile, wenn es um die Nominierung von Parlamentsabgeordneten geht. Sie sind eben besonders gut gerüstet für die Zeit raubenden innerparteilichen Aktivitäten, gemeinhin „Ochsentour“ genannt, die zur Erlangung eines bezahlten Parlamentsmandats meist erforderlich ist. Nützlich ist auch eine Tätigkeit als Mitglied einer Gemeindevertretung, zum Beispiel als Fraktionsvorsitzender. Beamte werden dann weiterhin voll bezahlt, auch wenn sie dafür Teile der Dienstzeit verwenden. (Bedienstete der eigenen Gemeinde dürfen sie allerdings nicht sein. Da besteht Inkompatibilität.) Der Anteil öffentlicher Bediensteter, besonders auch von Lehrern, ist in den Parlamenten auch deshalb hoch, weil sie nach dem Ende des Mandats ein gesetzlich verbrieftes Rückkehrrecht in die Verwaltung besitzen. Von Otto Graf Lambsdorff stammt das süffisante Bonmot: „Die Parlamente sind mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer.“ In den Parlamentsausschüssen, die die Beschlüsse über Beamtengesetze vorbereiten, sind öffentliche Bedienstete fast ganz unter sich. Damit ist der öffentliche Dienst fest in der Hand des öffentlichen Dienstes (wie mein leider früh verstorbener Speyerer Kollege Frido Wagener das einmal formuliert hat). Die Rechte und Pflichten von öffentlichen Bediensteten ruhen zwar im Parlament. Dies soll Interessenkollisionen verhindern. Gleichzeitig bleiben aber paradoxerweise die obersten Dienstherrn des öffentlichen Dienstes, die Minister, im Amt und im Parlament. Von Gewaltenteilung
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zwischen Politik und Beamtenschaft kann man da nur noch höchst eingeschränkt sprechen. Alles das bewirkt eine der Öffentlichkeit weit gehend unbekannte Symbiose von Parteien und öffentlichem Dienst. Die Parteimitglieder werden im Durchschnitt immer älter. Die Jungen werden immer rarer, und diejenigen, die kommen, sind zu einem immer größeren Teil Karrieristen. Ein typischer Fall ist Philipp Mißfelder, der in der Rheinpfalz vom 18. September 2014 geradezu als „Systemling“ beschrieben wurde. Empirisch belegt ist noch, dass amtierende Abgeordnete sehr viel bessere Chancen haben, wieder aufgestellt zu werden, als mögliche Herausforderer. Ansonsten erfährt die Öffentlichkeit nicht viel über den innerparteilichen Prozess, in welchem die Kandidaten schließlich für die Parlamente nominiert werden. Dieses Feld gilt geradezu als „geheimer Garten“ der Demokratie. Und das Abdunkeln ist begründet. Denn Voraussetzungen für das Reüssieren dort sind, wie Insider anmerken, vor allem Zeitreichtum, Immobilität und die Unterstützung durch innerparteiliche Bataillone. Das hat auch Helmut Kohl kritisiert. Schließlich legen die Parteien mit ihren Nominierungen ja bereits ganz überwiegend fest, wer Abgeordneter wird. Wen sie an sicherer Stelle auf den Wahllisten oder in sicheren Wahlkreisen nominieren, der ist damit faktisch schon gewählt. 4. Beschneidung der Kontrolle Auswüchse des Parteienstaats unter Kontrolle zu bringen, ist deshalb so außerordentlich schwierig, weil die Parteien nicht nur die Kontrollorgane besetzen (und man dann nur noch auf den Becket-Effekt hoffen kann), sondern weil sie auch die Kompetenzen der Kontrollorgane beschneiden können. Ein Beispiel sind Sachverständigen-Anhörungen, welche die Parlamente häufig veranstalten. Da pflegt jede Fraktion aber – ungeniert und in der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit das Spiel nicht durchschaut – „ihre“ Sachverständigen einzuladen. Dabei mag man noch darauf vertrauen, dass die politischen Gegensätze zwischen den Parteien sich zu einem angemessenen Kompromiss auspendeln. Haben Abgeordneten und Fraktionen allerdings gemeinsame Interessen, fehlen die erforderlichen Gegengewichte. Darauf habe ich schon hingewiesen. Ein Beispiel ist das Zustandekommen der jüngsten Novelle zum (Bundes-)Diätengesetz: Als ersten Schritt installierte der Bundestag eine sog. Sachverständigen-Kommission und besetzte sie vornehmlich mit ehemaligen Ministern, Parlamentarischen Staatssekretären, Abgeordneten und anderen partei- und parlamentsnahen Mitgliedern. Diese Kommission interpretierte in ihrem im März 2013 vorgelegten Bericht die Urteile des Bundesverfassungsgerichts höchst einseitig und ignorierte die herrschende Auffassung der Staatsrechtslehre. Um die Medien nicht aufzuschrecken, hatte die Kommission, den Erhöhungs-Betrag nicht genannt, zu dem die von ihr vorgeschlagene Angleichung der Entschädigung an die Bezüge von Bundesrichtern führen sollte – fast tausend Euro mehr –, und so ihre Vorschläge verharmlost.
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Nach der Wahl im vergangenen September und der Etablierung der Regierungskoalition goss der Bundestag dann – die Empfehlungen der Kommission als scheinbare Rechtfertigung im Rücken – das Vorhaben als erstes parlamentarisches Projekt in Gesetzesform. Das Gesetz wurde in wenig mehr als einer Woche durch den Bundestag gepeitscht, um durchgreifende Kritik gar nicht erst aufkommen zu lassen. Zu einem ganz kurzfristig anberaumten Sachverständigenhearing hatten die Regierungsfraktionen wiederum vier Mitglieder der genannten Kommission eingeladen, die, wenig überraschend, das Gesetz absegneten. Hier sieht man, dass die gesetzliche Regelung allein nicht hinreicht, um eine wirksame öffentliche Kontrolle zu erreichen. Sie kann zum Beispiel durch Blitzgesetze ausgehebelt werden. Deshalb müssten gesetzgeberische Mindestfristen für die verschiedenen Stationen des Gesetzgebungsverfahrens zwingend vorgeschrieben werden. Der Bundespräsident unterschrieb das Gesetz erst vier Monate später – unmittelbar vor dem Finale der Fußballweltmeisterschaft, so dass in der Medienhype, die das Endspiel auslöste, weitgehend unterging, dass das Gesetz auch verfassungsrechtlich höchst problematisch war. Dabei wäre eine sorgfältige Kontrolle durch den Bundespräsidenten, der eine verfassungsrechtliche Prüfungspflicht hat, besonders wichtig gewesen. Denn Bürger können dagegen nicht klagen; das verbietet ihnen das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, und Abgeordnete werden es nicht tun, auch nicht die der Linken oder Grünen, die im Bundestag dagegen gestimmt haben, aber jetzt offenbar ganz gerne die Privilegien mitnehmen. Der Bundespräsident soll das Gesetz entgegen der Empfehlung seiner Fachleute unterschrieben haben. Bisher ist über diesen Teil des Gesetzgebungsverfahrens aber nichts bekannt. Es herrscht eine Blackbox. Ob und bei wem der Bundespräsident zum Beispiel Gutachten angefordert, bleibt geheim. IV. Lobbying Erst recht undurchschaubar ist der vielfältige Einfluss von Verbänden und Unternehmen, die neuerdings auch Anwaltsfirmen oder andere Berater für sich einspannen, so dass man erst recht nicht mehr sieht, welche Interessen dahinter stehen. Hierzu hat Thomas Leif bereits gesprochen, so dass ich mich kurz fassen kann. Das Wirken von Interessenten im politischen Raum ist noch nicht unbedingt bedenklich. Vielfach ist die Politik auch geradezu auf Informationen aus der Wirtschaft angewiesen. Lobbying ist im pluralistischen Staat deshalb grundsätzlich anerkannt, solange man das eigene Interesse nicht als Gemeinwohl ausgibt, was allerdings immer wieder versucht wird. In jedem Fall aber macht mangelnde Transparenz verdächtig, und Thomas Leif hat die Intransparenz des ganzen Lobbying-Geflechts und die Symbiose von Politikern und Lobbyisten dargelegt. Wenn Abgeordnete sich selbst von Interessenten an ihrer Arbeit aushalten lassen, Leif hat sechs Fälle angesprochen, kann das eine Form von – leider immer noch legaler – Korruption sein, auch wenn die Betreffenden behaupten, beide Sphären streng zu trennen. Ein Bei-
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spiel ist Elmar Brok, der als einflussreiches Mitglied des Europäischen Parlaments gleichzeitig bezahlter Lobbyist des Bertelsmann-Konzerns ist. Hoch problematisch ist auch das Überwechseln von Regierungsmitgliedern in hohe Etagen von Unternehmen, mit denen sie vorher amtlich zu tun hatten. Seitdem der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einen gut bezahlten Aufsichtsratsvorsitz angenommen hat – bei Gasprom, dessen Entstehung er vorher zusammen mit Wladimir Putin eingefädelt hatte –, scheint die Scheu hoher Amtsträger vor einem derartigen „Drehtüreffekt“ immer mehr zu weichen. Vor kurzem hat die Bundesregierung beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Man wird sehen. Ein Versuch, zu mehr Transparenz zu kommen, ist immerhin einigermaßen gelungen: Bundestagsabgeordnete müssen ihre Nebeneinkommen und – in zehn Einkommensstufen – auch deren Höhe publizieren. Die Landesparlamente ziehen allmählich nach. Im pluralistischen Kräftespiel kommen die Interessen der breiten Mehrheit, also ganz allgemeine Interessen, leicht zu kurz, weil sie sich schwer organisieren lassen. Hier kann allerdings gezielte Politisierung helfen, wie beim Umweltschutz. Dafür eignet sich jedoch nicht jedes Thema. Ein Beispiel für das Zuzkurzkommen allgemeiner Interessen ist das Steuerrecht mit seinen zahlreichen eingebauten Steuervergünstigungen. Würden sie beseitigt und die Tarife gleichzeitig gesenkt, wäre allen geholfen. V. Fazit Die skizzierten Auswüchse sind durch Fünferlei gekennzeichnet: 1. Das Grundgesetz und die Landesverfassungen verpflichten alle Amts- und Mandatsträger auf das Gemeinwohl. Das verlangt uneigennütziges Handeln. Insgeheim orientieren sich Berufspolitiker bei ihren Entscheidungen im Zweifel aber oft an ihren eigenen Interessen bzw. an denen ihrer Partei. Im (kalten oder heißen) Krieg und in der Liebe sei alles erlaubt, selbst wenn es offiziell verboten ist, so meinte einst Napoleon Bonaparte. Ähnlich scheinen viele (Berufs-) Politiker auch den Kampf um Macht, Einfluss, Posten und Privilegien zu verstehen, auch wenn sie das und die daraus resultierenden Auswüchse möglichst ins Verborgene abschieben. Und Lobbyisten pflegen ohnehin nur die Interessen ihres Auftraggebers zu vertreten, auch wenn sie das gern verschleiern. 2. Die Existenz und erst recht das Ausmaß von parteipolitischer Ämterpatronage werden von der Politik oft einfach geleugnet. Auch die verdeckte Parteienfinanzierung wird verschwiegen. Ebenso der Umstand, dass die Demokratie keineswegs automatisch zu harmonischen Ergebnissen tendiert. 3. Für die skizzierten Fehlentwicklungen sind weniger die Parteien als Ganze verantwortlich, sondern eine zahlenmäßig relativ kleine, aber sehr mächtige Gruppe innerhalb der Parteien, die Berufspolitiker. Sie sind die eigentlichen Akteure und haben in den Parteien weitgehend das Sagen. Die Interessen und Motive dieser
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„politischen Klasse“ prägen die parteiinterne Wirklichkeit und die Struktur der politischen Willensbildung insgesamt entscheidend (und damit auch das geschilderte Auseinanderklaffen von Verfassung und Wirklichkeit). Helmut Kohl, der die Parteienkritik, die Richard von Weizsäckers in den neunziger Jahren übte, auf sich selbst bezog, führte zur Verteidigung die Millionen Menschen an, die in den Parteien ehrenamtlich tätig sind, ohne für sich persönlich etwas zu erstreben, und das trifft ja auch zu, verfehlt aber dennoch das Thema. 4. Die politische Klasse sucht die Kontrolle durch Öffentlichkeit, Rechnungshöfe, Gerichte, öffentlichrechtliche Medien und wissenschaftliche Politikberatung auszuhebeln. Sie sitzt dabei an einem langen Hebel, weil sie die Kontrolleure bestimmt, deren Kompetenzen festlegt und langfristig auch die Einstellungen der Menschen in ihrem Sinne mit prägt. Dazu dient ihr nicht zuletzt der starke Einfluss, den sie auf die Einrichtungen der politischen Bildung nimmt. Das Lahmlegen der Kontrollen gelingt zwar nicht immer, wie Konkurrentenklagen zeigen. Die Mühlen der Gerichte, wenn sie denn überhaupt angerufen werden können, mahlen aber langsam, was z. B. dazu führt, dass die Besetzung zahlreicher Stellen bei den obersten Gerichtshöfen derzeit durch Konkurrentenklagen blockiert ist. 5. Die Kehrseite der Dominanz der politischen Klasse ist die politische Schwäche der Bürger. Zwar können sie in Wahlen die Stärke der Parteien in den Parlamenten festlegen. Wer die Regierung bildet, entscheiden tatsächlich aber oft Parteiführer nach der Wahl durch Koalitionsabsprachen. Und wenn Regierung und Opposition gemeinsame Sache machen, sind die Bürger ganz außen vor. Dann können allenfalls noch Verfassungsgerichte helfen, welche die Bürger aber oft gar nicht anrufen können. Selbst unsere Abgeordneten können wir meist nicht auswählen. Und direkte Entscheidungen durch das Volk sind auf Bundesebene ohnehin ausgeschlossen. Dieses System zu durchschauen, ist erste Voraussetzung für die Entwicklung und Stärkung von wirksamen Gegenkräften.
Whistleblowing – Öffentlichmachen von Missständen Guido Strack I. Warum ist Whistleblowing wichtig? Whistleblowing ist nicht nur ein Begriff, der in den letzten Jahren immer häufiger in den Medien auftaucht, etwa wenn dort über neue Fälle wie jene von Chelsea (ehemals Bradley) Manning oder Edward Snowden berichtet wird. Whistleblowing erfüllt auch gleich mehrere wichtige Funktionen, über die man sich dem letztlich keineswegs neuen Phänomen und seiner Bedeutung nähern kann. Insoweit ist zunächst und zuvörderst die demokratische Funktion des Whistleblowings zu nennen. Gerade in einer Informationsgesellschaft bedeutet Wissen Macht und diese muss in einer Demokratie beim Souverän angesiedelt sein. Volksherrschaft ist ohne Volkswissen nicht denkbar. Dies gilt natürlich umso mehr, wo es um Wissen um den Machtmissbrauch jener geht, denen diese Macht durch das Volk anvertraut wurde. Whistleblowing ist zugleich aber auch die Ausübung einer individuellen Freiheit, des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, welches eben nicht nur die Äußerung von Meinungen, sondern auch die Verbreitung von Informationen umfasst. Dies in prägnanter Weise herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Whistleblowing hat aber auch eine rechtsstaatliche Komponente. Es war das Bundesverfassungsgericht, welches in einem Fall, in dem es um die Kündigung eines Mitarbeiters ging, weil er als Zeuge in einem Ermittlungsverfahren umfassend gegen seinen Arbeitgeber ausgesagt hatte, nicht nur auf Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit), sondern auch auf Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) abstellte, die Kündigung für unwirksam erkannte und betonte, dass nur so eine funktionsfähige Strafrechtspflege im Interesse der Allgemeinheit gewährleistet werden kann. Im „Regelfall“, so das Bundesverfassungsgericht weiter, greife das daraus abzuleitende Benachteiligungsverbot aber nicht nur bei der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten – wie im konkreten Fall der Zeugenpflicht – sondern auch bei der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte – wie z. B. im Fall der Strafanzeige1. Ein weiteres staatsbürgerliches, ja sogar Menschenrecht ist das Petitionsrecht des Art. 17 GG, in dem die freiheitliche und die rechtsstaatliche Komponente gleichsam zusammentreffen. Nähme man das Bundesverfassungsgericht ernst, was das Bundes1
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arbeitsgericht durch eine Umkehr des „Regelfalls“ zum Ausnahmefall allerdings vermieden hat2, so müsste das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot daher bei jeder schriftlichen Bitte oder Beschwerde an eine zuständige Stelle oder eine Volksvertretung gelten. Art. 17 GG verdeutlicht zugleich eine weitere Herleitungsmöglichkeit der Zulässigkeit von Whistleblowing, die letztlich auf das staatliche Gewaltmonopol zurückgreift. Wenn ein Staat Regeln aufstellt, um die direkte Konfrontation zwischen Bürgerinnen und Bürgern zu vermeiden, so müsste er es eigentlich wohl auch zulassen, dass jene sich bei Regelversstößen jederzeit an den Staat wenden dürfen. Auch das Argument der Einheitlichkeit der Rechtsordnung sollte in Whistleblowingfällen stärker fruchtbar gemacht werden; mit der Frage, inwieweit es mit jener Einheitlichkeit vereinbar sein kann, dass die Rechtsordnung auch illegale Geheimnisse vor ihrer Aufdeckung schützt. Hierfür mag es zwar im Einzelfall Rechtfertigungen geben, etwa in Dreieckskonstellationen oder wo dies zur Sicherung der Menschenwürde oder eines fairen Verfahrens nötig ist, außerhalb jener Spezialkonstellationen sollten aber jene, die das Recht gebrochen haben, nicht durch das Recht vor Aufdeckung geschützt werden. Whistleblowing kann aber auch organisationstheoretisch legitimiert werden: Wenn eine Organisation die innerorganisatorische Einhaltung von selbst gesetzten oder von außen – z. B. vom Staat – vorgegebenen Regeln, also neudeutsch Compliance, sicherstellen will oder soll – z. B. gemäß § 30 OWiG oder § 91 Abs. 2 AktG – ist sie ebenfalls auf Hinweise von Insidern angewiesen3. Wo jene selbstgesetzten Regeln ethisch oder rechtlich fragwürdig sind, kann dies aber, vor allem dann, wenn zugleich noch eine Pflicht zum Hinweisgeben postuliert oder das Hinweisgeben honoriert wird, genau wie in einem Unrechtsstaat oder bei nicht legitimen staatlichen Normen, zu einem Überwachungsinstrument mutieren. Die Grenzen der Legitimität sind hierbei fließend und liegen im Auge des Betrachters. Wichtig erscheint es aber darauf hinzuweisen, dass eine etwaige Illegitimität letztlich nicht dem Whistleblowing als solchem anzulasten ist, sondern aus der Illegitimität der Norm, oder der Unangemessenheit einer Sanktionierung, gegebenenfalls in Verbindung mit der Verpflichtung zur Meldung herrührt. Allerdings war und ist es für die meisten Menschen einfacher, in solchen Fällen auf die Tat des Hinweisgebers zu fokussieren und ihn als Denunzianten abzustempeln und als Sündenbock in die Wüste der gesellschaftlichen Ächtung zu schicken, als die über die Mechanismen der Normentstehung, -aufrecht-
2 BAG: Urteil vom 03. 07. 2003 – 2 AZR 235/02 – eine nähere Analyse dieses Urteils und der frühen Whistleblowing-Rechtsprechung hat der Verfasser anlässlich seiner Stellungnahme bei der Bundestagsanhörung vom 04. 06. 2008 vorgenommen, vgl. http://www.whistleblowernet.de/was-wir-wollen/gesetzliche-regelungen/stellungnahme-g-strack-fur-die-bundestagsanho rung-2008/. 3 Zum Themenbereich Whistleblowing und Compliance vgl. Guido Strack, „Unzureichender Schutz von Whistleblowern in Deutschland“ in Compliance-Berater 4/2014, S. 113 – 117 verfügbar unter http://whistleblower-net.de/pdf/cb-2014 – 4_Strack.pdf.
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erhaltung, -durchsetzung und -sanktionierung und einen etwaigen eigenen Anteil daran zu reflektieren. Dies führt zum letzten hier anzusprechenden Legitimationsgrund für Whistleblowing, das „sapere aude“ der Aufklärung im kantschen Sinne: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ In einer modernen Gesellschaft, die dominiert wird durch hochspezialisierte Arbeitsteilung und damit einhergehende Verantwortungsdiffusion sowie Vereinzelung und Ohnmacht des Individuums, gegenüber immer größeren und mächtigeren Organisationen, ist dies vielleicht derjenige Legitimationsgrund, der die größte Beachtung verdienen sollte. Stanley Milgram hat als Haupterkenntnis seiner berühmten Gehorsamsexperimente festgehalten, dass Menschen zu jenem erschreckenden Verhalten fähig sind, weil sie in der Lage sind, mit der Eingliederung in eine Organisationsstruktur ihre Menschlichkeit aufzugeben und entledigt von der individuellen Verantwortung für ihr Tun zum gehorsam funktionierenden Rädchen im Getriebe zu werden. Andere Erkenntnisse der Sozialpsychologie bestätigen dies. So hat z. B. Solomon Asch mit einem ganz einfachen Experiment mit nur vier Linien gezeigt, wie schnell Menschen bereit sind, sich gruppenkonform zu verhalten. Auch der am Fall Kitty Genovese deutlich gewordene Bystander-Effekt zeigt: beim Missständen neigen Menschen dazu sich an anderen zu orientieren und sich deren Untätigkeit zum Beispiel zu nehmen. Jene, die Missstände vertuschen wollen, haben ein leichtes Spiel. Sie müssen nur darauf achten, durch Demonstration der Aussichtslosigkeit, Isolation und harte und sichtbare Sanktionierung jener, die den Kopf aus der Reihe strecken, sicherzustellen, dass diese keine Nachahmer finden. Wer dem entgegenwirken will, muss den – manchmal durchaus anstrengenden – Individualismus stärken, Menschen – und dies ist eine auch eine gesellschaftliche und eine Erziehungsaufgabe – ermutigen, ihre eigenen Verstand und ihre eigenen ethischen Maßstäbe zu aktivieren, Abläufe zu hinterfragen und mögliche Missstände anzusprechen4. Wir alle sollten Whistleblower solidarisch und rechtlich schützen, dafür sorgen, dass ihren Hinweisen nachgegangen wird und dass Missstände bekämpft, Täter zur Verantwortung gezogen und strukturelle und organisatorische Defizite analysiert und beseitigt werden. Nach diesem Einstieg in die Thematik soll nachfolgend ein genauerer Blick auf die Definition und die unterschiedlichen Formen des Whistleblowings geworfen werden. Danach werden Hindernisse angesprochen und es wird ein Blick auf die Rechtslage in Deutschland geworfen. Abschließend werden konkrete Vorschläge gemacht, was sich beim Umgang mit Whistleblowing ändern sollte.
4 Zu den psychologischen Hürden des Whistleblowings vgl. z. B. Margaret Heffernan, „Wilful blindness: Why We Ignore the Obvious at our Peril“, 2011.
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II. Was macht Whistleblowing aus und welche Formen gibt es? Im aktuellen Duden wird Whistleblower definiert als: „jemand, der Missstände [an seinem Arbeitsplatz] öffentlich macht“. In der deutschen Wikipedia heißt es: „Person, die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang an die Öffentlichkeit bringt.“ Demgegenüber wird in der wissenschaftlichen Literatur seit langem vor allem auf eine Definition von Miceli und Near zurückgegriffen die einerseits den Arbeitsplatzbezug betont und andererseits keine Adressierung an die Öffentlichkeit verlangt. Danach: ist Whistleblowing: „the disclosure by organisation members (former or current) of illegal, immoral or illegitimate practices under the control of their employers, to persons or organizations that may be able to effect action“5. Der Verfasser neigt der letztgenannten Definition zu. Die Anforderung eines Arbeitsplatzbezuges und einer Insidereigenschaft verhindert, dass der Begriff konturlos alle Formen von Kritik erfasst und trägt dem in jenem Zusammenhang bestehenden besonderen Abhängigkeitsverhältnis Rechnung, welches es schwerer macht „auf Missstände hinzuweisen“, weil damit zumindest das Risiko verbunden ist, als Reaktion darauf an der eigenen ökonomischen Basis angegriffen zu werden. Zugleich betont jene die Verantwortlichkeit der Organisation, missstandsfrei zu agieren. Eine Begrenzung auf Whistleblowing an die Öffentlichkeit andererseits trägt dem typischen Ablauf des Whistleblowingprozesses nicht hinreichend Rechnung. Wie Zahlen aus den USA und Großbritannien belegen, findet Whistleblowing im weit überwiegenden Anteil der Fälle zunächst intern innerhalb einer Organisation oder gegenüber einer zuständigen staatlichen Stelle statt. Wenn all dies erfolglos bleibt und der Whistleblower nicht aufgibt, wendet er sich meist erst danach an die Öffentlichkeit. Unabhängig vom gewählten Adressaten hat die Adressierung dabei – und auch dies macht die Definition von Miceli und Near am besten deutlich – das Ziel ein Handeln des Adressaten mit Bezug auf den Missstand zu erreichen: typischerweise Aufklärung, Verhinderung, Schadensausgleich und/oder Ahndung und Sanktionierung von Verantwortlichen. Es ist auch allein jene Definition, die den Begriff des Missstandes näher erläutert und kategorisiert. Damit wird eine von vielen verschiedenen Kategorisierungsmöglichkeiten des Whistleblowings angesprochen. Versteht man Missstand im Sinne des juristischen Fehlerbegriffs als negative Abweichung des Seins vom Sollen, so lässt sich je nach der Herleitung des „Sollens“ z. B. differenzieren: zwischen einem in einem geregelten Verfahren normierten Sollensverständnis – wie es in einer Rechtsnorm zum Ausdruck kommt – über ein eventuell nicht formalisiertes aber dennoch in der Gesellschaft oder einer größeren oder kleineren Gruppe anerkanntes Verständnis, bis schließlich hin zu einer ganz individuellen Sollenserwartung. An einer solchen 5 Marcia P. Miceli/Janet Near/Terry Morehead Dworkin, „Whistleblowing in organizations“, 2008. Zu verschiedenen Defnitionselementen vgl. auch http://www.whistleblower-net. de/whistleblowing/whistleblowing-im-detail/definitionen/.
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Sollensskala misst der Whistleblower seine Wirklichkeitswahrnehmung und kommt zu einer negativen Abweichung von Sein und Sollen. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass die Wahrnehmung des Whistleblowers zutrifft, die Sollensskala des Adressaten derjenigen des Whistleblowers entspricht, er bereit ist sich die Wirklichkeit anzuschauen und er dann, wenn er dies tut ebenfalls zu einer Missstandsfeststellung gelangt, noch dass der Adressat, selbst dort wo auch er einen Missstand feststellt, bereit und in der Lage ist, daraufhin jenes Handeln vorzunehmen welches der Whistleblower auslösen will. Auch muss selbst ein Agieren des Adressaten keineswegs zu jener Veränderung, also z. B. zur Missstandskorrektur führen, auf die es dem Whistleblower ankommt. Schon diese recht abstrakten Überlegungen machen deutlich, wie komplex der Prozess des Whistleblowings ist und welche Hürden ein erfolgreicher Whistleblower überwinden muss. Weitere Differenzierungen können sich an der Schwere des Missstandes orientieren oder daran, ob dieser in der Vergangenheit liegt, gegenwärtig andauert oder erst zukünftig bevorsteht. Klar ist dabei, dass auch die Missstandsschwere ein subjektives und graduelles Kriterium ist und dass eventuell weniger schwere Einzelmissstände wichtige Indikatoren für schwere systematische oder häufig wiederholende Missstände sein können. Bei zukünftigen Missständen muss der Whistleblower erreichen, dass seine Prognose geteilt wird und die Notwendigkeit zu frühzeitigem Handeln erkannt wird. Wieder andere Differenzierungen versuchen, beim Whistleblowing auf die Aufdeckung von Machtmissbrauch zu fokussieren und die Aufklärung im Interesse der Mächtigen als bloße Anbiederung an die Macht aus dem Begriff des zivilcouragierten Whistleblowings herauszunehmen. Aus Sicht des Verfassers ist aber zu bedenken dass nicht Macht als solches schlecht ist, sondern es darauf ankommt, wofür sie genutzt wird. Außerdem ist es Kennzeichen des Whistleblowings, durch die Adressierung eines anderen oder auch der Öffentlichkeit dessen bzw. deren potentielle Veränderungsmacht nutzen zu wollen, weil die eigene Veränderungsmacht des Whistleblowers gerade nicht ausreicht, den Missstand abzustellen. Die gebräuchlichsten Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen des Whistleblowing erfolgen anhand der Identifizierbarkeit des Whistleblowers und der Stellung des Adressaten. So unterscheidet man je nachdem, ob die Identität des Whistleblowers jedermann oder nur einem besonders verpflichteten Kreis weniger bzw. nur einer anderen Person oder niemandem bekannt ist zwischen offenem, vertraulichem und anonymen Whistleblowing. Sind Whistleblower und Adressat Teil des gleichen Unternehmens bzw. der gleichen Organisation spricht man von internem, sonst von externem Whistleblowing. Wobei hier allerdings die Grenzen zwischen innen und außen fließend sein können und z. B. der externe Vertrauensanwalt, der seinerseits Informationen nur an das Unternehmen in dessen Auftrag er tätig wird zurückgeben darf, letztlich dem internen Whistleblowing zuzurechnen sein dürfte. Beim externen Whistleblowing schließlich ist es sinnvoll zwischen demjenigen an zuständige staatliche Stellen und demjenigen an Dritte nicht besonders Verpflichtete
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zu unterscheiden, letztlich also ein Drei-Stufen-Modell intern-behördlich-extern anzulegen auf welches nachfolgend näher eingegangen werden wird. Trotz all jener Unterschiede und auch der im Detail höchst unterschiedlichen Einzelfallgestaltungen und Motivationen der Whistleblower lassen sich auch Gemeinsamkeiten identifizieren, die das Whistleblowing prägen: So finden sich insbesondere zwei gemeinsame Ziele aller Whistleblower dahingehend, dass es erstens darum geht, im Hinblick auf einen Missstand durch Adressierung eines (oder mehrerer) Dritten eine positive Veränderung zu erreichen, ohne zweitens dabei selbst zu Schaden zu kommen. Beim Adressaten will der Whistleblower demnach ein Agieren im Sinne zumindest dieser beiden Ziele erreichen. Es kann natürlich auch sein, dass der Whistleblower darüber hinaus noch weitere Ziele verfolgt. Menschliches Handeln basiert zumeist auf nicht einmal dem Akteur in allen Facetten bewussten und erst recht durch Dritte kaum entwirrbaren Motivbündeln und Einflussfaktoren. Dies ist auch beim Whistleblowing nicht anders, jedenfalls sollte sich dessen Analyse auf die vorgenannten charakteristischen Ziele konzentrieren. Wo diese allerdings nicht vorliegen, also vor allem dort, wo es überhaupt nicht um die Bekämpfung eines Missstandes gehen kann, weil der Meldende weiß, dass in Wirklichkeit gar kein Missstand vorliegt, kann andererseits aber auch nicht von Whistleblowing gesprochen werden. III. Was macht Whistleblowing schwierig? Auch wenn die Zahlen, in wieviel Prozent der Fälle Whistleblowing unterbleibt, stark variieren, und auch die Methoden ihrer Erfassung erhebliche Probleme aufwerfen, ist doch eines klar: Whistleblowing bleibt selbst dort, wo es nötig wäre, häufig aus oder führt zumindest nicht zur Erreichung der soeben identifizierten Ziele. Woran liegt dies? Die Whistleblowing-Forschung deutet hierbei vor allem auf drei mögliche Ursachen: Erstens mangelnde Erfolgsaussichten, also die Einschätzung des potentiellen Whistleblowers „selbst wenn ich etwas sagen würde, ändern würde sich ohnehin nichts“. Die zweite Ursache ist die Angst vor Repressalien, also die Furcht des potentiellen Whistleblowers vor persönlichen Nachteilen, die aus einem eventuellen Whistleblowing resultieren könnten. In diesen beiden Gründen spiegeln sich letztlich die beiden identifizierten Ziele und die Befürchtung, diese nicht zu erreichen. Hinzu kommt aber noch eine dritte Ursache die weniger konkret greifbar ist: es sind Gründe, die von der Psychologie und der Sozialpsychologie beschrieben werden. So zeigen z. B. die Experimente von Solomon Asch, wie sehr Menschen bereit sind sich in Gruppen anzupassen. Der Fall Kitty-Genovese belegte das Phänomen der pluralistischen Ignoranz, welches auch Bystander-Syndrom genannt wird. Demnach orientieren wir uns bei der Beantwortung der Frage, ob und wie wir auf einen von uns wahrgenommenen möglichen Missstand reagieren sollen, maßgeblich an anderen
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Beobachtern und deren Verhalten. Je mehr andere den Missstand auch wahrnehmen können und untätig bleiben, desto eher bleiben auch wir untätig. Am Ende tut häufig niemand etwas, nur weil niemand der erste sein will, der damit anfängt etwas zu tun. Außerdem sind Menschen auch in Organisationen und Gehorsamsstrukturen gerne bereit, ihre eigene Verantwortung abzugeben und vor allem so zu funktionieren, wie sie meinen, dass es von ihnen erwartet wird. Dies zeigt nicht nur der immer wieder zu hörende Rechtfertigungsversuch „ich habe doch nur Befehle befolgt“, sondern auch das berühmte Milgram Experiment. Höhere Arbeitsteilung und zunehmende Spezialisierung erleichtern es dem Einzelnen weiter für schädliche Wirkungen, die unter Umständen erst im komplexen Zusammenwirken mehrerer Organisationseinheiten entstehen, seine eigene Verantwortung zu leugnen. Menschen gelingt es dabei häufig sehr gut, sich selbst als vernünftig und anständig wahrzunehmen und etwaige Dissonanzen zu diesem Selbstbild notfalls dadurch zu überwinden, dass sie lieber ihr Denken ändern – also z. B. ein Problem nicht mehr als solches wahrnehmen –, die Schuld anderen zuweisen oder sich sonstige Rechtfertigungen erfinden, als ihr eigenes Verhalten zu ändern. Loyalität wird sehr oft personenbezogen verstanden und auf die Personen im eigenen unmittelbaren Umfeld orientiert. Eine so verstandene Loyalität kann dann auch dazu führen, das Schweigen zu befördern und gravierendere Nachteile für Dritte oder die Allgemeinheit sowie die Frage nach der Konsistenz des eigenen Verhaltens mit den eigenen Werten auszublenden. Wer will, dass Whistleblowing zukünftig häufiger stattfindet, muss sich all diese Gründe für das Ausbleiben von Whistleblowing bewusst machen und demnach an vielen Punkten Veränderungen anstreben. Es geht darum, die Chancen für Veränderungen zu erhöhen, den Schutz von Whistleblowern zu verbessern aber auch und vor allem darum, die kulturelle Akzeptanz zu fördern und die üblichen Mechanismen in unseren Köpfen zu hinterfragen, die Whistleblowing entgegenstehen. Der potentielle Whistleblower muss Vertrauen haben, dass sein Whistleblowing gewollt ist und erfolgreich sein kann. Kommt es zum Whistleblowing, so liegt in der Folge die Verantwortung vor allem beim Adressaten des Whistleblowings bzw. Empfänger des Hinweises. Im Idealfall soll er den Hinweis als Ausgangspunkt nehmen, um zu analysieren, ob ein Missstand besteht und wo dies der Fall ist, diesen und dessen Ursachen bekämpfen, Schäden vermeiden oder für deren Ausgleich sorgen sowie die Täter zur Verantwortung ziehen. Außerdem sollte er einerseits möglichst transparent agieren und dem Whistleblower eine Rückmeldung geben, dass sein Hinweis untersucht wird bzw. wurde und was dabei herauskam. Andererseits besteht aber auch die Notwendigkeit, Schädigungen Dritter, z. B. durch Bekanntwerden von Verdächtigungen, zu vermeiden und die Rechte aller Beteiligter z. B. auch auf den Schutz persönlicher Daten zu beachten. Schon dies macht die große Verantwortung und auch die Komplexität der Rolle des Empfängers deutlich. Eigentlich sollte es beim Whistleblowing vor allem auf den Inhalt der Nachricht, also die übermittelten Informationen ankommen, genauer darauf, inwieweit diese
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Relevanz für die Feststellung und ggf. auch Ursachen- und Verantwortlichkeitsanalyse sowie zur Bekämpfung des Missstandes haben. Die Praxis zeigt jedoch, dass Hinweise von deren Empfänger zumeist nicht unabhängig von ihrer Quelle analysiert werden. Eine wichtige und übliche Heuristik der Informationsbeurteilung ist vielmehr: Analysiere den Sender und seine Motive! Für den Whistleblower kann dies zum Problem werden, z. B. wenn er sich als völlig unbekannter Einzelkämpfer gegen eine Organisation wendet, die gemeinhin als kompetent und vertrauenswürdig angesehen ist. Sein Wort alleine wird in solchen Fällen kaum reichen, um auch nur Untersuchungen in Gang zu setzen, da bedarf es dann schon handfester Belege und Dokumente. Allein die Frage nach den Motiven des Whistleblowers bietet der Gegenseite außerdem häufig Gelegenheit, Spekulationen über dessen mangelnde Redlichkeit in die Welt zu setzen. Gelegenheit, den Whistleblower und dessen Glaubwürdigkeit zu diskreditieren und von den Inhalten seines Hinweises abzulenken. Dabei gelten für Whistleblower hinsichtlich der Redlichkeit außerdem besonders hohe Standards. Während es im Kapitalismus eigentlich durchaus üblich ist, Informationen und Dienstleistungen finanziell zu honorieren oder eine Karriere anzustreben, erscheint ein Whistleblower, der zumindest auch solche Ziele verfolgt, als unanständig und unglaubwürdig. Manchmal entsteht der Eindruck, Whistleblower müssten immer Helden sein, die aus purer Gemeinnützigkeit agieren und wie beim zivilen Ungehorsam bereit sind, gegen Gesetze zu verstoßen und die dafür fällige Bestrafung aufrecht hinzunehmen um Anerkennung für ihr Tun erlangen zu können. Wer in der öffentlichen Wahrnehmung – die keineswegs vom Whistleblower alleine, sondern gerade auch von dessen oft mächtigen Gegnern beeinflusst wird – diesem hohen Maßstab nicht gerecht wird, der kann als Nestbeschmutzer, Verräter oder Denunziant, also „größter Lump im ganzen Land“ verteufelt werden. Solch selbstlose Helden dürften allerdings dünn gesät sein. Eine Gesellschaft, die immer wieder feststellen muss, dass ihr wichtige Informationen vorenthalten werden und daraus große Schäden erwachsen, sollte sich daher überlegen, ob sie nicht auch Hinweise von weniger idealistisch agierenden Personen erhalten will. Wenn ja, sollte sie die Heldenanforderungen an Whistleblower sowohl hinsichtlich der Motivanalyse, als auch hinsichtlich der für diese verfügbaren und funktionierenden Schutzmechanismen dringend überdenken. Die Heuristik „Analysiere den Sender und seine Motive“ ist aber keineswegs das einzige Problem des Whistleblowers. Auch bei der Aufbereitung und Präsentation seines Hinweises müssen einige Hürden überwunden werden. So verfügen Empfänger in der Regel über eine recht begrenzte Bereitschaft, Zeit aufzuwenden um einen Hinweis entgegenzunehmen, also z. B. zu lesen oder sich anzuhören und um darüber zu entscheiden, ob sie bereit sind, mehr Zeit zu investieren und der Sache selbst nachzugehen. Whistleblower andererseits sind meistens nicht damit vertraut, Sachverhalte so prägnant und ansprechend aufzubereiten, dass sie Dritte damit für ihre Sache begeistern können. Oft sind die Whistleblower z. B. Fachleute, die mit Fachjargon, Abkürzungen und Detailwissen nur so um sich werfen, und auch ihre Belege mögen
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zwar eindeutig sein, sind für Nicht-Experten aber häufig kaum verständlich. Je weniger der Empfänger mit all dem vertraut ist, umso schwieriger wird dann die Kommunikation und umso geringer sind die Erfolgsaussichten. Gerade dort, wo der Whistleblower bereits vergebliche Whistleblowing-Versuche hinter sich hat oder schon Repressalien erleiden musste, kommt häufig das Problem der Emotionalisierung des Whistleblowers hinzu. Der nächste Empfänger bekommt statt einer neutralen Faktenschilderung dann schon mal ein von Bewertungen und Anfeindungen durchtränktes Pamphlet, mit dem sich der Whistleblower seinen Frust von der Seele schreibt, seine Chancen Gehör zu finden aber naturgemäß eher verringert. Diesen Effekt hat es auch wenn man als Empfänger mitbekommt, dass man nur die x-te Kopie eines Anschreibens erhält, das zuvor bereits an Gott und die Welt adressiert worden war. Jeder Whistleblower sollte sich daher bemühen, sein Whistleblowing nicht nur möglichst prägnant, neutral und sachlich zu formulieren, sondern auch auf den jeweiligen Empfänger individuell auszurichten und auf dessen Aufgabenbereich, Kompetenzen, Erfahrungshintergrund und Weltbild abzustellen. Erforderlich ist somit eine sorgfältige Auswahl des Adressaten. IV. Welcher Adressat ist der Richtige? Der Whistleblower hat, wenn auch nicht rechtlich so doch zumindest faktisch, in der Regel die freie Auswahl, an wen er sich mit seinem Hinweis wendet. Nachfolgend soll zwischen vier verschiedenen Kategorien von möglichen Adressaten von Whistleblowing unterschieden und deren jeweilige Vor- und Nachteile diskutiert werden. 1. Der für den Missstand Verantwortliche Erste Möglichkeit ist die Adressierung an den Verantwortlichen. „Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ heißt es dazu schon im Matthäus Evangelium. Auch heute kann es noch eine gute Idee sein, den Verantwortlichen auf eventuelles Fehlverhalten direkt und im Einzelgespräch anzusprechen und eine Veränderung sowie eine Korrektur einzufordern. Vor allem dann, wenn es um kleineres Fehlverhalten geht, dass noch keine großen und bemerkbaren Schäden angerichtet hat, der Verantwortliche unabsichtlich handelt und/oder ein Nähebeziehung zu ihm besteht, bietet sich ein derartiges Vorgehen sogar an. Es ist gegenüber dem Verantwortlichen die schonendste Variante. Sie kann aber, vor allem wenn Dritte betroffen sind und entstandene Schäden nicht wieder gut gemacht werden, rechtlich und moralisch auch problematisch sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn den Hinweisgeber selbst eine Pflicht trifft, jene Dritten zu schützen. Darüber hinaus birgt jenes Vorgehen natürlich auch Risiken. Dem Verantwortlichen wird eben nicht nur die Möglichkeit gegeben, sein Verhalten zu korrigieren, sondern je nach Sachverhalt auch die Möglichkeit gegeben, seine Verantwortlichkeit zu vertuschen, sich aus dem Staub zu machen oder den Hinweisgeber unter Druck zu setzen oder anders zum Schweigen zu brin-
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gen. Der Hinweisgeber sollte daher vorab abwägen, wie hoch er die Chance einschätzt, dass der Verantwortliche einsichtig und korrekturbereit ist und welche Risiken dem entgegenstehen. 2. Die Organisation Die zweite Option, die sich dem Whistleblower typsicher Weise bietet, ist die Adressierung an einen Repräsentanten der Organisation. Soweit überhaupt Daten über Whistleblowing vorliegen, scheint diese Option jene zu sein, die von Whistleblowern am häufigsten und zumeist auch als erste gewählt wird. Allerdings dürfte dabei die zumeist unter vier Augen erfolgende Adressierung des Verantwortlichen zumeist nicht berücksichtigt worden sein. Dass die Organisation vorliegend als Ansprechpartner in Betracht kommt, ist letztlich Folge der Eingangs dargelegten Whistleblower-Definition, die einen doppelten Organisationsbezug enthält. Zum einen hat der Whistleblower eine enge Verbindung – typischer Weise als Beschäftigter – zur Organisation. Zum anderen liegt der Missstand im Einflussbereich der Organisation. Aus letzterem ergibt sich eine – zumindest vom Whistleblower angenommene – Handlungsmacht der Organisation, also die Möglichkeit, (positiven) Einfluss auf den Missstand auszuüben. Dem Whistleblower kommt es darauf an, diese Handlungsmacht in seinem Sinne zu aktivieren. In der Tat können Organisationen durch formelle und informelle Maßnahmen vieles Bewirken und Missstände in vielen Fällen auch weitgehend aufklären und ihnen auf den Grund gehen. Es ist vor allem die in ihrem Einflussbereich bestehende faktische Handlungskompetenz, die dominiert, selbst wenn auch hier natürlich gewisse rechtliche Grenzen (die sich z. B. aus dem Datenschutzrecht, dem Arbeitsrecht aber auch aus dem Zivilrecht und dem Strafrecht ergeben können) zu beachten sind. Wenn eine Organisation etwas analysieren und verändern will, so hat sie zumeist auch Möglichkeiten hierzu (notfalls hat auch sie die Option, staatliche Stellen zur Unterstützung einzuschalten). Die entscheidende Frage ist daher in dieser Konstellation meist jene, ob es dem Whistleblower auch gelingt, die Organisation dazu zu bringen, ihre Möglichkeiten umfassend zu nutzen. Dort, wo der Missstand zugleich eine Schädigung der Interessen der Organisation selbst bewirkt, sollte man annehmen, dass es dem Whistleblower recht einfach gelingen müsste, diese in seinem Sinne zu aktivieren. Allerdings vernachlässigt diese Annahme, dass „die Organisation“ als solche gar nicht handeln kann. Handeln können immer nur spezifische Akteure und konkrete Adressaten innerhalb der Organisation. Deren Interessen aber müssen mit jenen der Organisation keineswegs übereinstimmen. Für den Whistleblower kann es somit auch ganz entscheidend darauf ankommen, wen in der Organisation er adressiert. Was oben schon in einem umfassenderen Sinne gesagt wurde, gilt auch hier: faktisch hat der Whistleblower die freie Auswahl. Praktisch und rechtlich indessen kann es hier Vorgaben geben, die er zumindest kennen sollte. Mittlerweile gibt es in einigen Unternehmen z. B. Codes of Conducts, Verhaltensrichtlinien, Betriebsvereinbarungen oder sonstige Regelungen zu den Themen Compliance und Whistleblowing
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und/oder Hinweisgebersysteme. Teilweise werden Whistleblower zur Meldung über bestimmte Kanäle verpflichtet, teilweise werden ihnen verschiedene Kanäle angeboten. So arbeiten einige Unternehmen z. B. mit externen Vertrauensanwälten zusammen, über die Whistleblower vertrauliche Meldungen an das Unternehmen weitergeben können. Andere Unternehmen setzen auf elektronische Meldesysteme oder Hotlines, über die auch anonyme Meldungen an das Unternehmen ermöglicht werden sollen. Dennoch aber gilt, dass der Whistleblower letztlich nie hundertprozentig wissen kann, welches Aufklärungs- und Handlungsinteresse beim Adressaten wirklich besteht. Er sieht oft nur einen Teil oder bestimmte Auswirkungen des Missstandes, ohne dessen Hintergründe und Profiteure alle zu kennen. Noch weniger weiß er darum, wie gut jene Profiteure innerhalb der Organisation vernetzt sind oder wen sie in der Hand haben, weil sie um die „Leichen in dessen Keller“ wissen. Hinzu kommt, dass der Whistleblower mit dem Hinweis auf den Missstand häufig auch zwei Botschaften kommuniziert, die ihm gar nicht so klar sind. Eine davon lautet: „dieser Missstand ist sichtbar und sollte gemeldet werden und es gibt andere, die ihn auch gesehen, aber dazu geschwiegen haben“. Damit stellt der Whistleblower sich außerhalb des Kreises seiner schweigenden Kollegen und wirft diesen zumindest implizit jenes Schweigen vor. Die andere Botschaft richtet sich mehr an den Adressaten und lautet: „es ist etwas faul in Deinem Verantwortungsbereich und ich weiß darum“. Hier schwingt der Vorwurf mit, den Laden nicht im Griff zu haben und auch die Drohung jenes Wissen gegen den Verantwortlichen einzusetzen. Letzteres wird vor allem dann relevant, wenn die Meldung sich nicht an den direkten Vorgesetzten richtet. Dieser wird hierin häufig eine Verletzung der ihm geschuldeten Loyalitätspflicht sehen und sich umgangen fühlen. Selbst wenn sich das Whistleblowing am Ende als berechtigt herausstellt, der Whistleblower die gewünschten Veränderungen hinsichtlich des Missstandes alle erreicht, so können sich diese unterschwelligen Botschaften langfristig als Gift für die Beziehungen zu den Kollegen und Vorgesetzen erweisen. Jemand, der bereits einmal auf eigene Faust agiert hat, wird als potentielles Risiko wahrgenommen. Man weiß nie, was er als nächstes ausplaudern wird, auf seine Loyalität ist kein Verlass. Dies bekommt er möglicherweise früher oder später in den kleinen Dingen des Alltags und bei Ermessensentscheidungen im Zusammenhang mit seiner Karriere zu spüren. Späteres Mobbing kann somit auch bei erfolgreichem Whistleblowing keineswegs ausgeschlossen werden. Noch schwieriger wird es natürlich dann, wenn die Missstände dergestalt sind, dass die Organisation zumindest erst einmal von ihnen profitiert und sie vielleicht sogar zum Geschäftsmodell der Organisation gehören. Egal, ob es dabei um lasche Umweltstandards, eingespartes Personal in der Pflege oder die systematische allumfassende Überwachung durch Geheimdienste geht. Organisationsinternes Whistleblowing dürfte in dieser Konstellation nahezu immer aussichtslos sein. Und selbst wenn es dem Whistleblower gelingt, deutlich zu machen, dass es sich bei dem Missstandsnutzen nur um einen kurzfristigen Profit handelt, der langfristig einen enormen Schaden für die Organisation mit sich bringt, wird dies seine Chancen kaum verbes-
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sern. Denn auch dann werden die Verantwortlichen zumeist versuchen, ihre Verantwortlichkeit zu vertuschen und ihre Schäfchen noch schnell ins Trockene zu bringen und notfalls auch bereit sein, den Untergang der Organisation als solcher in Kauf zu nehmen. Zugleich werden sie versuchen, den Whistleblower mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Drohungen und Schweigegeldern davon abzuhalten, etwas nach außen auszuplaudern und seine Informationen nutzen, um ihr Tun noch besser vor Aufdeckung zu schützen. Ein Unterfall der internen Meldung ist die Information des Betriebs- oder Personalrates. Rechtlich bieten sich hier dem Whistleblower Möglichkeiten und praktisch erhofft er sich häufig gerade von dort Unterstützung. Ob er diese auch bekommt, ist aber sehr vom individuellen Fall abhängig und letztlich kaum vorhersehbar. Eine große Bedeutung hat dabei zunächst die Art des Missstandes, um die es geht. Je näher dieser am typischen Arbeitsfeld des Betriebsrates liegt – also z. B. schlechte Arbeitsbedingungen, unter denen viele Mitarbeiter leiden, systematische Verletzung von Arbeitnehmerrechten – umso größer dürften die Chancen zu dessen Aktivierung sein. Spätestens dort, wo es um Missstände geht, von denen das Unternehmen profitiert und an denen auch der Bestand von Arbeitsplätzen hängt, ist aber auch die Chance auf Unterstützung durch den Betriebsrat eher gering. Gleiches gilt dort, wo der Whistleblower sich mit Vorwürfen nicht gegen die Unternehmensleitung, sondern gegen Kollegen oder gar Gruppen von Kollegen wendet. Hier stellen sich Betriebsräte nicht selten hinter die größere oder besser vernetzte Gruppe oder halten sich ganz raus, statt den Dingen auf den Grund zu gehen. Schließlich kann dem Betriebsrat vielfach auch einfach die Expertise zur Aufklärung und Beurteilung des Missstandes fehlen, oder man will sich schlicht nicht in die Nesseln setzen und lässt den Whistleblower im Regen stehen. Zusammenfassend sollte ein Whistleblower auch die Möglichkeit eines organisationsinternen Adressaten stets genau prüfen. Neben rechtlichen Vorgaben – auf die nachfolgend noch eingegangen werden wird – gilt es dabei genau zu schauen, um welche Art von Missstand es sich handelt, welche Vorgaben für interne Meldungen bestehen und welcher innerorganisatorische Adressat auch unter Berücksichtigung des Umgangs mit ähnlichen Meldungen in der Vergangenheit die größte Gewähr dafür bietet, dass der Whistleblower seine beiden Hauptziele erreichen kann. 3. Die staatliche Ebene Als dritte Option kommt für den Whistleblower eine Adressierung der staatlichen Ebene, also insbesondere von zuständigen Behörden in Betracht. Damit ist zugleich schon eine wichtige Limitation dieser Ebene angesprochen, die Zuständigkeit, die sowohl in räumlicher als auch in sachlicher Hinsicht gegeben sein muss. Agieren kann jene Ebene, selbst dort wo eine prinzipielle Zuständigkeit gegeben ist, außerdem immer nur innerhalb der ihr durch die Rechtsordnung und deren Ermächtigungsreglungen verliehenen Kompetenzen. Dies ist eine gänzlich andere Situation als bei den beiden vorstehenden Adressatenebenen, die durch ihre faktisch umfassenden
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Handlungsmöglichkeiten charakterisiert werden und dessen sollte sich der Whistleblower stets bewusst sein. Um Aktionen der staatlichen Ebene anzustoßen, muss er dieser in deren Sprache deutlich machen, dass ein hinreichender Anfangsverdacht für einen Rechtsverstoß vorliegt, zu dessen Aufklärung gerade die angesprochene Stelle zuständig ist. Hinzu kommt die Problematik, dass viele der gerade für solche Überwachungsaufgaben zuständige Behörden von Polizei über Staatsanwaltschaften und Datenschutzbehörden bis hin zum Umweltämtern, Gewerbeaufsicht und Lebensmittelkontrolle darüber klagen, personell unzureichend ausgestattet zu sein. Es müssen daher oft sehr handfeste und unmittelbar einleuchtende und gut aufbereitete Belege vorgelegt werden, damit diese tätig werden. Einen im Umgang mit Behörden unerfahrenen und vielleicht auch scheuen Whistleblower, kann dies schnell überfordern. Hinzu kommt, dass er dort, wo er nicht zugleich selbst Geschädigter ist, rechtlich zumeist keine eigenen Rechte hat, um die Behörde zum Handeln zu zwingen und somit eher als Bittsteller auftreten muss. Außerdem muss er damit rechnen, dass alle Informationen, die er an die Behörde weitergibt, und auch seine Identität früher oder später, spätestens wenn ein formelles Verfahren eröffnet wird und die Gegenseite Akteneinsicht erhält, auch bei der Gegenseite landet und dass die Behörde sich um daraufhin erfolgende Repressalien der Gegenseite gegen den Whistleblower im Zweifel wenig kümmern wird. Keineswegs ungewöhnlich ist auch, dass sich das Verhalten der staatlichen Stelle darin erschöpft die Meldung an die betroffene Organisation weiterzuleiten und diese zu einer Stellungnahme aufzufordern, mit der man sich dann bereitwillig zufrieden gibt. Dies umso bereitwilliger, je weniger substantiiert und aufbereitet der Hinweis und je renommierter die betroffene Organisation und deren Akteure sind. Auch langandauernde erfolgreiche Arbeitsbeziehungen oder gar Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einer Organisation und der für sie zuständigen Behörde können dabei einem vom Whistleblower nicht zu durchschauende Rolle spielen. Die Analyse der Vorgänge um die japanischen Atomkraftwerke hat z. B. gezeigt, dass leitende Mitarbeiter der Überwachungsbehörden häufig auf eine spätere lukrative Karriere bei der Betreibergesellschaft hoffen konnten und es sich daher beim Umgang mit Risikohinweisen nicht mit dieser verscherzen wollten. Gerade wenn Behörden nicht in ihrem Sinne agieren, versuchen Whistleblower manchmal auch noch den Weg über eine Parlamentspetition. Auch dort sind ihre Erfolgsaussichten aber eher gering. Typischerweise wird der Petitionsausschuss dann eine Stellungnahme der Regierung einholen, die wiederrum auf die früheren Stellungnahmen ihrer Behörden zurückgreifen wird, was der Regierungsmehrheit im Petitionsausschuss und im Parlament dann wiederrum häufig reicht, um die Petition abzulehnen. Trotz aller vorgebrachten Bedenken auch gegenüber dem Whistleblowing an staatliche Stellen und der rechtlich dabei zu beachtenden Voraussetzungen – auf die später noch einzugehen sein wird – sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass staatliche Adressaten in der Regel eine größere Unabhängigkeit von den Organisations- und Täterinteressen aufweisen als die beiden vorab angesprochenen Adressatenebenen und dabei eine größere Gewähr für eine sachgerechte Aufklärung
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des Missstandes bieten, gerade dann, wenn jene Interessen mit den Interessen Dritter oder der Allgemeinheit kollidieren. Dem Whistleblower muss es allerdings gelingen, die rechtliche Relevanz und die Aussagekraft seiner Beweise deutlich zu machen, um die staatliche Ebene zum Handeln zu bewegen. Er sollte sich auch bewusst machen, dass staatliches Handeln sich zumeist auf den Missstand dessen Aufklärung und die Sanktionierung von Tätern und nicht auf den Schutz des Whistleblowers konzentrieren wird. 4. Öffentlichkeit und Medien Schließlich kann sich ein Whistleblower natürlich rein faktisch auch an jedwede andere Person oder Stelle also z. B. an Gewerkschaften, NGOs oder auch an Medien oder Leakingplattformen wenden oder über soziale Netzwerke oder eine eigene Webseite sogar die Öffentlichkeit unmittelbar selbst adressieren. Viele Whistleblower, die es zunächst erfolglos mit anderen Ebenen versucht haben, sehen hierin ihre letzte Chance und hoffen, dass es zu einem öffentlichen Aufschrei kommt, wenn ihre Geschichte bekannt wird. Zumeist ist dies allerdings eine Illusion, und selbst wo ein Aufschrei eines größeren Teils der Öffentlichkeit erfolgt, ist damit keineswegs ausgemacht, dass der Whistleblower seine beiden oben genannten Ziele im gewünschten oder auch nur in einem nennenswerten Umfang erreicht. Gegenüber den vor allem faktischen Handlungsmöglichkeiten des Missstandsverantwortlichen und der Organisation und den vor allem rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der staatlichen Ebene besteht die Besonderheit dieser Adressatenebene darin, weder über direkte Handlungsmöglichkeiten noch über rechtliche Handlungspflichten in Bezug auf den Missstand zu verfügen. Zumeist kommt es hier also darauf an, geschickt über die Bande Öffentlichkeit zu spielen um damit genügend Druck zu erzeugen, um letztlich doch ein Handeln der vorgenannten Ebenen zu erreichen, z. B. weil Untätigkeit für jene Ebenen dann mit zu großem Ansehensverlust oder sonstigen Nachteilen verbunden wäre. Hauptproblem dabei ist zunächst, den richtigen Öffentlichkeitsmittler zu finden. Dessen Profil sollte dabei einerseits genügend generelle Öffentlichkeitswirksamkeit bzw. einen hohen Multiplikatoreffekt aufweisen, anderseits müssen aber beim potentiellen Adressaten auch genügend Sachkompetenz und konkrete Ressourcen vorhanden sein, um den konkreten Missstand und die vom Whistleblower übermittelten Informationen verstehen, analysieren und in eine von der Öffentlichkeit bereitwillig rezipierte Form und Sprache zu übersetzen. Schließlich muss es sich, selbst wo diese vorhanden sind, für den Adressaten auch in irgendeiner Form lohnen, die nötigen Ressourcen, in den konkreten Whistlerblowerfall und dessen Analyse und Aufbereitung zu investieren. Für den Whistleblower kommt es somit darauf an, dem Adressaten, in für diesen möglichst ressourcenschonender, also prägnanter und an dessen Erfahrungshorizont andockender Art und Weise deutlich zu machen, dass an seiner Geschichte wirklich etwas dran ist, dass sie zum Profil des Öffentlichkeitsmittlers passt und dass für die-
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sen dabei „etwas“ drin ist, was den zu betreibenden Aufwand lohnt. Dieses „etwas“ kann eine Erhöhung des eigenen Renommees als Investigativplattform eine Verfolgung eigner Interessen (z. B. Übereinstimmung mit den Zielen einer NGO) oder auch schlicht eine Auflagen- oder Nutzersteigerung sein. Der Whistleblower steht bei all dem in Konkurrenz zu all jenen anderen, die ebenfalls die Dienste des Öffentlichkeitsmittlers für ihre Zwecke nutzen wollen und zu allen anderen Aufgaben, die dieser sonst noch wahrnimmt. Der Öffentlichkeitsmittler seinerseits steht in Konkurrenz mit allen anderen Themen und Medien, die ebenfalls eine möglichst große Öffentlichkeit und Öffentlichkeitswirkung erreichen wollen. Whistleblower sind überdies meist wenig geübt darin, mit Medien oder anderen Öffentlichkeitsmittlern Kontakt aufzunehmen und Informationen so aufzubereiten, dass sie diese für ihre Geschichte interessieren können. Sie sollten vorab recherchieren, welche Medien und noch konkreter welche Journalisten ähnliche Fälle schon einmal in ihrem Sinne erfolgreich an die Öffentlichkeit gebracht und damit Wirkungen erzielt haben und dann versuchen, direkt mit jenem Journalisten in Kontakt zu treten, statt immer gleiche Pakete an diverse Medien zu verschicken. Genauso ist auch Edward Snowden mit Filmemacherin Laura Poitras und Journalist Glen Greenwald vorgegangen. Gerade bei Greenwald brauchte es trotz der Brisanz der Materialien aber mehrfaches Nachhaken, bis er sich der der Sache annahm. Dass sich der Whistleblower mit der Weitergabe von Insiderinformationen an Öffentlichkeitsmittler rechtlich oft in einem unzulässigen zumindest aber risikobehafteten Bereich bewegt, macht das Ganze nicht einfacher. Zwar haben Journalisten in Deutschland das Recht, ihre Quellen zu schützen, dieser Informantenschutz schützt den Whistleblower aber nicht davor, aus anderen Gründen aufgedeckt und sanktioniert zu werden. Gefahren lauern hier z. B. in der Art und Weise der Kommunikation mit dem Journalisten. Natürlich sollten Bürotelefone und Büro-Emailadressen und PCs hier absolut tabu sein, aber je nachdem über welche Möglichkeiten die Gegenseite verfügt und um wieviel es geht, sind hier noch erheblich umfangreichere Sicherheitsmaßnahmen von Nöten, worauf an dieser Stelle allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Hat der Whistleblower, was in der Praxis sehr häufig geschieht, zuvor schon intern oder gegenüber staatlichen Stellen auf die Missstände hingewiesen oder auch nur zu viele kritische Fragen gestellt, so erschwert dies seine Chancen, später unerkannt an die Medien gehen zu können, naturgemäß erheblich. Schwierig unentdeckt zu bleiben wird es auch dort, wo Informationen über einen hochspeziellen Missstand nur einem ganz kleinen Kreis von Personen bekannt sind. Auch mit Sicherungsmaßnahmen der Gegenseite, z. B. durch für den Empfänger unsichtbare individuelle Kennzeichnung oder das Speichern von Zugriffen auf Informationen, dürfte in der Zukunft immer häufiger zu rechnen sein. Aufpassen muss der Whistleblower, der sich häufig in einer auch psychisch schwierigen Lage befindet und nach Unterstützung sucht, auch damit, wen er neben dem Journalisten noch einweiht und ins Vertrauen zieht, Chelsea Manning wurde ihre Unvorsichtigkeit in diesem Punkt zum Verhäng-
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nis. Schließlich ist auch wenn die Story veröffentlicht wurde absolute Coolness gefragt, denn mit der Veröffentlichung und entstehendem Druck wächst bei der Gegenseite auch das Interesse herauszufinden, wer der Informant war. Letztlich hängt es oft von vielen Zufällen ab, ob eine Geschichte den Weg in die Öffentlichkeit findet und dort die gewünschte Wirkung entfaltet oder nicht. Vieles hängt davon ab, ob der Zeitgeist getroffen wird, ob jemand Drittes den Fall für seine Interessen verwenden kann und ob sich Parallelgeschichten, etwa durch weitere Whistleblower oder Leaks, entwickeln. So kam z. B. der Fall Mollath medial erst richtig ins Rollen, nachdem ein Insider der Hypobank deren internen Revisionsbericht leakte, der die Vorwürfe Mollaths gegen Bank und Exfrau, die von den Gerichten als Hirngespinste tituliert worden waren, bestätigte. Die anstehenden Landtagswahlen führten dann schließlich zum Eingreifen Seehofers. Für das Schicksal des Whistleblowers ist es, gerade wenn dieser offen agiert, wichtig, dass die Journalisten bereit sind lange an der Geschichte dranzubleiben und eben nicht nur auf das zu achten, was sich in Sachen Missstand tut, sondern auch das Schicksal des Whistleblowers weiter zu begleiten und darüber zu berichten. V. Wie ist die Rechtslage für Whistleblower in Deutschland? Anders als in mittlerweile zahlreichen anderen Staaten gibt es in Deutschland kein spezifisches Gesetz zum Whistleblowing bzw. zum Schutz von Whistleblowern. Im internationalen Vergleich steht Deutschland verschiedenen Studien zufolge damit sowohl innerhalb der EU als auch in der Gruppe der G20 Staaten bestenfalls im unteren Mittelfeld6. Geprägt ist die Rechtslage von miteinander kollidierenden Rechtsnormen und deren Auslegung durch Richterrecht, das seinerseits ein recht diffuses Bild zeigt und letztlich zumeist auf eine individuelle Abwägungsentscheidung hinausläuft deren Ergebnisse für den Einzelnen jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu welchem er sich für oder gegen Whistleblowing entscheiden muss kaum vorhersehbar sind. In den meisten Fällen ist es daher für diesen die sicherste Variante, auf Whistleblowing zu verzichten. Die Folge ist, dass neben den oben genannten vielen faktischen und kulturellen Einflüssen auch die Rechtsordnung Whistleblowing eher erschwert, statt zu ermöglichen, dass es seine positiven Wirkungen entfalten kann. Selbst mit einem Verzicht auf Whistleblowing ist der Betroffene jedoch keineswegs immer auf der rechtlich sicheren Seite. In bestimmten Situationen kann 6
Vgl. z. B. Simon Wolfe/Mark Worth/Suelette Dreyfus/A. J. Brown, Whistleblower Protection Rules in G20 Countries: The Next Action Plan, 2014, verfügbar unter: http://transparen cy.org.au/wp-content/uploads/2014/06/Action-Plan-June-2014-Whistleblower-ProtectionRules-G20-Countries.pdf, sowie Transparency International, Whistleblowing in Europe, Legal Protections for whistleblowers in the EU, 2013, verfügbar unter: http://www.transparency.de/fi leadmin/pdfs/Themen/Hinweisgebersysteme/EU_Whistleblower_Report_final_web.pdf sowie den im Rahmen jener Studie erstellten Länderbericht Germany unter: http://whistleblower-net. de/pdf/TI_EU27_Germany_WBNW.pdf.
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sogar eine Pflicht zum Hinweisgeben bestehen. Strafrechtlich kann sich eine solche Pflicht zunächst aus § 138 StGB ergeben. Demnach ist jedermann, der von einer der dort gelisteten Straftaten zu einem Zeitpunkt erfährt, zu welcher deren Erfolg noch verhindert werden kann, zu einer Anzeige bei der Behörde oder dem Bedrohten verpflichtet. Gelistet sind dort allerdings nur besonders schwere Straftaten wie z. B. Mord, Totschlag, Landesverrat, Menschenraub, Geldfälschung oder Raub. Ebenfalls strafrechtlich kann sich eine Handlungspflicht, die eine Meldepflicht auslösen kann, in einer Gefahrenlage außerdem aus einer Garantenstellung ergeben, d. h. dort, wo jemand besonders verpflichtet ist, derartige Gefahren abzuwehren und seine Untätigkeit einer eigenen Tat entsprechen würde (was z. B. bei einer Kranken- oder Altenpflegerin der Fall sein könnte). Daneben kann auch eine arbeitsrechtliche oder beamtenrechtliche Hinweispflicht bestehen, die aus der Loyalitäts- und Beratungspflicht der Beschäftigten abgeleitet wird und insbesondere darauf gerichtet ist, den eigenen Arbeitgeber bzw. Dienstherrn vor Schäden zu bewahren. Auch diese Pflichten sind jedoch nicht klar normiert. Als Leitlinie insoweit mag gelten: Je höher die Verantwortung des Beschäftigten und je spezifischer seine bereichsbezogenen Kontrollpflichten und je konkreter und höher der drohende Schaden ist, desto eher trifft ihn eine Meldepflicht. Umgekehrt besteht aber keine allgemeine Meldepflicht bzgl. jedes Rechts- oder gar Richtlinienverstoßes durch Dritte oder Kollegen und eine solche kann wohl auch weder durch Verhaltensrichtlinien des Arbeitgebers noch durch Betriebsvereinbarungen derart umfassend eingeführt werden. Nichts desto trotz gibt es Arbeitgeber, die entsprechende Klauseln in ihre Verhaltensrichtlinien aufgenommen haben und den Beschäftigten für den Fall des Unterlassens von Meldungen mit arbeitsrechtlichen Sanktionen bis hin zur Kündigung drohen. Diese Überwachungskultur dürfte das für selbstverantwortliches Whistleblowing nötige Vertrauen kaum fördern. Soweit zur Frage: „Wann muss ich melden?“ Die andere Frage „Wann darf ich melden bzw. wann darf ich Whistleblowing machen?“ ist vor allem eine Frage nach dem „Wann, an wen?“. Whistleblowing an den Arbeitgeber oder eine von ihm bestimmte Stelle – die natürlich auch ein externer Vertrauensanwalt sein kann – sowie bei Beamten auf dem Dienstweg, ist regelmäßig zulässig. Und wo der Arbeitnehmer seine Rechte in zulässiger Art und Weise ausübt, darf er deswegen nach § 612a BGB auch nicht benachteiligt werden. Allerdings scheint der Gesetzgeber selbst eine gewisse Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von § 612a BGB zu haben, wenn er z. B. in § 84 BetrVG das dort in Absatz 1 normierte interne Beschwerderecht bei eigener Beschwer in Absatz 3 nochmals mit einem spezifischen Benachteiligungsverbot versieht. Wo ein Betriebs- oder Personalrat besteht, darf sich ein Beschäftigte mit Beschwerden oder Anregungen auch an diesen wenden, was sich z. B. aus §§ 85, 86a BetrVG und § 68 BPersVG ergibt. Kritischer und unklarer wird die Situation aber, wenn es darum geht, wann und ob sich ein Beschäftigter an eine externe staatliche Stelle wenden darf. Hier greift das Bundesarbeitsgericht (BAG), jedenfalls dann, wenn keine Sonderregelungen (wie z. B. jene in § 17 Abs. 2 ArbSchG, §§ 13, 16 u. 22 AGG, §§ 4 g, 21 BDSG oder §§ 5, 5b LuftVO) einschlägig sind, auf die allgemeine Rücksichtnahmepflicht des
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§ 241 Abs. 2 BGB zurück. Es legt diese dahingehend aus, dass Hinweise an Behörden also z. B. Strafanzeigen nur dann mit der Rücksichtnahmepflicht vereinbar sind, wenn ein im Regelfall nötiger vorheriger interner Hinweis erfolglos blieb oder ausnahmsweise dem Arbeitnehmer nicht zumutbar war, weil die Straftaten vom Arbeitgeber selbst oder seinen Organen begangen wurden, der Arbeitnehmer sich bei Nichtanzeige selbst strafbar machen würde oder es sich um schwerwiegende Straftaten handelt (wobei das BAG aber offen lässt, welche Straftaten einen hinreichenden Schweregrad aufweisen). Zusätzlich kann sich laut BAG die Unzulässigkeit einer Meldung an eine Behörde auch noch aus anderen Kriterien ergeben. So insbesondere dann, wenn die Meldung sich als eine unverhältnismäßige Reaktion darstellt, weil eine unberechtigte also z. B. leichtfertig oder böswillig falsche Anzeige erfolgt, aufgrund von Publizitätswirkungen ein hohes Schädigungspotential für den Arbeitgeber besteht oder weil die Motivation des Anzeigenden darauf gerichtet ist, den Arbeitgeber zu schädigen. Die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch hatte zunächst mehrfach erfolglos intern auf erhebliche Pflegemissstände in einem Berliner Altenheim hingewiesen und danach Strafanzeige gestellt. Sie wurde deswegen fristlos gekündigt und ihre dagegen gerichtete Kündigungsschutzklage wurde auf der Basis der soeben dargestellten Rechtsprechung in Deutschland letztinstanzlich abgewiesen. Dies vor allem mit dem Vorwurf, die Strafanzeige leichtfertig erstattet zu haben und dies, obwohl auch MDK-Berichte Pflegemängel im Heim bestätigt hatten. Sie erhob hiergegen eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Im Sommer 2011 stellte dieser fest, dass Deutschland mit der Abweisungsentscheidung das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hat7. Begründet hat der EGMR dies vor allem mit dem hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit und dem öffentlichen Interesse an der Aufdeckung von Missständen in der Altenpflege und der Tatsache, insoweit auf Whistleblower angewiesen zu sein. Allerdings hat auch dieses Gericht letztlich eine Abwägungsentscheidung getroffen bei der es neben jenem Aspekt auch andere Aspekte berücksichtigt hat, z. B.: das Interesse des Arbeitgebers an der Vermeidung von substanzlosen Anschuldigungen und die Faktenbasis der Meldung; die Motive des Whistleblowers und dessen Gutgläubigkeit, der dem Arbeitgeber drohende Schaden, die Schwere der Sanktion gegenüber dem Arbeitnehmer und der davon ausgehende Abschreckungseffekt. Leider ist der nach dem Heinisch-Urteil erhoffte Richtungswechsel in der deutschen Rechtsprechung jedoch ausgeblieben, das öffentliche Interesse spielt hierzulande immer noch eine eher untergeordnete Rolle und es wird nach wie vor mehr oder weniger deutlich eine Pflicht postuliert, sich zunächst um interne Abhilfe bemühen zu müssen. Dies, obwohl es im Heinisch-Urteil in Rn. 65 jedenfalls eine Stelle gibt, die auch so verstanden werden kann, dass der EGMR hier die Information einer zuständigen Behörde mit jener des Arbeitgebers als gleichrangig ansieht, wenn es dort 7
EGMR: Urteil vom 21. 07. 2011 – HEINISCH v. GERMANY – 28274/08.
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heißt: „disclosure should be made in the first place to the person’s superior or other competent authority or body“. Problematisch an der an sich positiven Heinisch-Entscheidung des EGMR ist jedoch auch, dass es auch diese letztlich wieder auf eine Abwägung im Einzelfall mit sehr vielen wiederstreitenden Kriterien hinausläuft. Deren Ergebnis ist für den Betroffenen vorab kaum vorherzusehen. Betroffenen kann nur empfohlen werden, vorab möglichst eine interne Klärung zu versuchen und diese Klärungsversuche und die dem Whistleblowing zugrunde liegenden Fakten sehr gut und möglichst gerichtsfest zu dokumentieren, um damit die Chancen in der gerichtlichen Auseinandersetzung zu erhöhen. Nahezu aussichtslos ist die Lage des Whistleblowers, wenn er sich nicht mit der internen Meldung oder einer Meldung an eine zuständige staatliche Stelle begnügt, sondern den Weg in die Öffentlichkeit wählt und dabei offen auftritt oder später identifiziert wird. Zwar gibt es auch eine EGMR-Entscheidung, die den Gang an die Öffentlichkeit in einem Einzelfall für zulässig erachtet hat (Guja./.Moldawien8), der Whistleblower wird sich aber regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, vorab nicht alle internen und behördlichen Abhilfemöglichkeiten ausgeschöpft zu haben. Ein Whistleblower sollte überdies beachten, dass die vorstehenden Ausführungen sich vor allem mit der arbeitsrechtlichen Frage, der rechtlichen Zulässigkeit von Whistleblowing befassten und damit, ob gegen eine explizit daraufhin erfolgte Kündigung erfolgreich vorgegangen werden kann. Eine negative Reaktion auf Whistleblowing muss aber keineswegs formal und offen – unter Bezugnahme auf das Whistleblowing – erfolgen. Häufige Folge sind Bossing bzw. Mobbing, die in vielen verschiedenen Ausprägungen vorkommen, aber immer das Ziel haben, den Whistleblower abzustrafen und mögliche Nachahmer abzuschrecken. Neben der unklaren Rechtslage hat ein Whistleblower vor Gericht meist noch mit weiteren Problemen zu kämpfen. Das vielleicht gravierendste ist die Beweislage. Wenn klar ist, dass ein externes Whistleblowing stattfand, verlangen die Gerichte in der Regel vom Whistleblower, die Rechtfertigung für diesen „Vertrauensbruch“ darzulegen. Er muss – zumeist ohne noch Zugang zu seinem Arbeitsplatz zu haben – Belege vorweisen, die darlegen, worin der Missstand liegt und wann er sich zuvor wem gegenüber und wie um interne Abhilfe bemüht hatte und inwieweit darauf unzureichend oder gar nicht reagiert wurde. Zugleich gilt aber auch, dass Arbeitsgerichte in der Regel wenig Zeit und Interesse haben, sich in komplexe Materien einzuarbeiten, der Missstand muss dort also quasi auf dem Silbertablett präsentiert werden, wobei die Gegenseite in der Regel alles tun wird, um ihn abzustreiten oder als schon vor dem Whistleblowing längst behoben darzustellen. Wer als Whistleblower auf Schadensersatz für Schäden und Benachteiligung klagt, muss zusätzlich diese und ihren Zusammenhang mit seinem nachweislich rechtmäßigen Whistleblowing belegen. Und selbst wo dies alles gelingt, muss er noch damit rechnen, dass das Gericht am Ende zwar die Kündigung aufhebt, das Arbeitsverhältnis aber nach 8
EGMR: Urteil vom 12. 02. 2008 – GUJA v. MOLDOVA – 14277/04.
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§ 9 KSchG gegen eine Abfindung beendet, weil: „Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen“. Das Ergebnis einer Aufhebung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung wird nicht selten auch auf dem Vergleichswege erreicht, weil die Gerichte (die sich dann auch die Abfassung des Urteils sparen können) vor allem die Whistleblower entsprechend unter Druck setzen und der Arbeitgeber sich des Störenfriedes so meist recht preiswert dauerhaft entledigen kann. Auch nach der Heinisch-Entscheidung des EGMR hat sich an all dem in Deutschland nicht viel geändert. Es gibt einige ganz ähnlich gelagerte Altenpflege-Fälle zum Beispiel aus Nordrhein-Westfalen, die auch nach 2011 mit einer Abweisung der Kündigungsschutzklage oder mit einem Vergleich (z. T. sogar ohne Abfindung nur mit Umwandlung der fristlosen Kündigung in eine fristgerechte) endeten9. Die Kündigung eines Kindermädchens, das das Jugendamt auf Vernachlässigung von Kindern hinwies, diese aber nicht gerichtsfest belegen konnte10, wurde von Gerichten ebenso bestätigt wie jene eines Krankenwagenfahrers, der Qualitäts- und Sicherheitsmängel anzeigte und jene einer Bankerin, die ihre Erfahrungen nach Whistleblowing zu Insidergeschäften in einem Buch festgehalten hatte. Ein anderer Fall war der eines selbständigen Personalberaters, der eine von ihm vorgeschlagene Bewerberin darüber informierte, dass das betreffende Unternehmen ihm informell mitgeteilt hatte, generell keine Frau auf der fraglichen Position haben zu wollen. Der Bewerberin ermöglichte dies eine erfolgreiche Klage nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Gemäß Urteil des OLG Frankfurt musste der Personalberater am Ende dem Unternehmen aber ein Drittel der von der Bewerberin erstrittenen Entschädigung als Schadensersatz erstatten – wegen Verstoß gegen seine Rücksichtnahme- und Verschwiegenheitspflicht aus dem Dienstleistungsvertrag11. Laut jenem Urteil war das Heinisch-Urteil des EGMR nicht einschlägig, da es dort um einen Verstoß gegen Strafrecht, hier aber nur um das privatrechtlich ausgestaltete AGG ging und somit keine öffentlichen Interessen berührt seien. Was die Gesetzgebung angeht, so gab es 2008 und 2011 Initiativen für gesetzliche Regelungen zur Verbesserung des Schutzes von Whistleblowern, die zunächst von der Bundesregierung und später von den Oppositionsfraktionen ausgingen, aber alle gescheitert sind. Im Herbst 2014 haben Grüne und Linke im Bundestag erneut entsprechende Gesetzesvorschläge eingebracht12. Der Koalitionsvertrag der aktuel9 Vgl. hierzu http://www.whistleblower-net.de/blog/2014/11/19/whistleblowerinnen-ausder-altenpflege-und-ihr-tag-vor-gericht/. 10 LAG Köln: Urteil vom 05. 07. 2012 – 6 Sa 71/12 dazu auch http://www.whistleblowernet.de/blog/2012/11/22/lag-koln-billigt-fristlose-kundigung-einer-whistleblowerin/. 11 OLG Frankfurt: Urteil vom 08. 05. 2014 – 16 U 175/13 dazu auch http://www.whistleblo wer-net.de/blog/2014/05/29/olg-frankfurt-verurteilt-whistleblower-der-diskriminierung-auf deckt-zu-schadensersatzzahlung-an-den-tater/. 12 Eine Übersicht über die Gesetzesinitiativen findet sich unter: http://www.whistleblowernet.de/was-wir-wollen/gesetzliche-regelungen/chronologische-ubersicht-uber-offizielle-gesetz gebungsinitiativen-und-vorschlage-zu-whistleblowing-in-deutschland/.
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len Großen Koalition führt unter der Überschrift „Informantenschutz im Arbeitsverhältnis“ aus: „Beim Hinweisgeberschutz prüfen wir, ob die internationalen Vorgaben hinreichend umgesetzt sind.“ Bisher gibt es allerdings weder einen Zeitplan für diese Prüfung, noch ein Ergebnis13. Die SPD hält ein Gesetz zum Whistleblowerschutz für nötig, CDU/CSU behaupten, die gegenwärtige Rechtslage böte bereits ausreichenden Schutz, weshalb ein Gesetz unnötig sei14. VI. Was sollte sich ändern? Wie Eingangs gezeigt, beinhaltet Whistleblowing ein gewaltiges Potential zur Sicherung fairen Wettbewerbs, zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit, zur Risikofrüherkennung und auch zur Förderung der Demokratie. Dieses Potential stärker zu nutzen, ist im gesamtgesellschaftlichen Interesse, setzt aber eine Änderung der bisherigen Rahmenbedingungen voraus. Whistleblowing muss häufiger stattfinden! Dies wird aber nur dann geschehen, wenn diejenigen, von denen wir erhoffen, dass sie bei Missständen nicht länger wegschauen und/oder schweigen, davon ausgehen können, dass ihr Hinweis gewünscht ist, ihm nachgegangen wird und, wo nötig, auch gegen den Missstand und dessen Ursachen vorgegangen wird, und dass sie selbst keine negativen Konsequenzen zu befürchten haben. Whistleblowerschutz ist somit kein Selbstzweck sondern ein Mittel zum Zweck der Aufdeckung von Missständen. Er dient vor allem der Gesellschaft als Ganzes. Dies wird auch deutlich, wenn man sich klar macht, dass jeder, der einen Missstand beobachtet und Nachteile befürchtet, wenn er diesen meldet, schon heute ein sehr effektives und häufig eingesetztes Mittel hat, um diese Nachteile zu vermeiden: Schweigen! Wer Missstände aufdecken, bekämpfen, Täter zur Rechenschaft ziehen und zukünftige Täter abschrecken will, der muss potentiellen Whistleblowern eine bessere Alternative zum Schweigen bieten. Die Änderung von Gesetzen alleine kann dies nicht bewirken. Wie gezeigt spielen psychologische Prozesse und gesellschaftliche Einstellungen bei der Hemmschwelle zum Whistleblowing und der Einstellung gegenüber Whistleblowern eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn der Whistleblower nicht alleine agieren muss, sondern sich auf die Solidarität seiner Kollegen und seines Umfeldes verlassen kann, hat er eine 13
Gewisse internationale Vorgaben zum Whistleblowerschutz finden sich z. B. in der – mittlerweile auch von Deutschland ratifizierten – UN-Konvention gegen Korruption, und in den – von Deutschland noch nicht ratifizierten – Konventionen des Europarats gegen Korruption. Es gibt darüber hinaus Beschlüsse der G20, des Europäischen Parlaments und seit Frühjahr 2014 auch eine Empfehlung des Europarates (REC 2014/7), die die jeweiligen Mitgliedstaaten, also auch Deutschland, zu bestmöglichem Whistleblowerschutz auffordern. Eine OECD/G20 Studie (http://www.oecd.org/g20/topics/anti-corruption/48972967.pdf) stellt darüber hinaus auch konkreten Nachbesserungsbedarf in Deutschland fest. 14 Eine Nachlese der Bundestagsdebatte vom 07. 11. 2014 findet sich unter: http://www. whistleblower-net.de/blog/2014/11/20/dem-deutschen-volke-fensterreden-statt-whistleblower schutz/.
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viel höhere Chance, Veränderungen zu erreichen und Repressalien zu vermeiden. Das gleiche gilt, wenn seine Organisation Whistleblowing fördert, Strukturen schafft, die unabhängige Untersuchungen ermöglichen sowie Whistleblowerschutz garantiert und dies alles auch in der Praxis lebt. Es braucht demnach letztlich einen Kulturwandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Und dieser sollte auch durch politische und gesetzgeberische Maßnahmen – die im Folgenden kurz skizziert werden – angestoßen, begleitet und gefördert werden. Ein wichtiger Baustein ist eine einfach verständliche gesetzliche Regelung15, die die derzeitigen Unklarheiten beseitigt und sicherstellt, dass es immer mindestens eine unabhängige Stelle gibt, an die sich ein Whistleblower mit seinem Hinweis wenden darf. Bei und durch jene Stelle muss sichergestellt sein, dass dem Hinweis nachgegangen wird und der Whistleblower vor Repressalien geschützt ist. Innerhalb einer Organisation wird diese Unabhängigkeit kaum zu gewährleisten sein. Eine Kernforderung von Whistleblower-Netzwerk e.V. lautet daher, Whistleblowern das Recht einzuräumen, sich an eine zuständige staatliche Stelle wenden zu dürfen. Dieses Recht sollte anders als bisher aber nicht davon abhängen, ob vorher alle zumutbaren interner Abhilfemöglichkeiten ausgeschöpft wurden, sondern von Anfang an und unabhängig von internen Abhilfemöglichkeiten bestehen. Damit ist keineswegs beabsichtigt, dass Whistleblower sich immer direkt an den Staat wenden sollten. Es geht vielmehr nur darum, ihnen diese Möglichkeit rechtlich zu eröffnen. Eine wichtige Folge daraus wäre, dass Organisationen, die natürlich nach wie vorher ein großes Interesse daran haben werden, kritische Informationen nicht an staatliche Stellen oder gar an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, sich viel stärker darum bemühen werden, dem Whistleblower ein attraktiveres Angebot als andere potentielle Adressaten zu machen, damit er interne Meldewege nutzt. Sie werden also bemüht sein, zu demonstrieren, dass der Whistleblower auf internem Wege seine beiden Hauptziele wahrscheinlicher, schneller und mit geringeren Zugangshürden erreichen kann und dazu genau jene Transparenz und Glaubwürdigkeit ihrer internen Hinweisgebersysteme herstellen, an der es heute vielfach mangelt. Rechtlich betrachtet geht es bei der Öffnung des Zugangs zu staatlichen Stellen um eine Stärkung und Ausweitung des Petitionsrechts des Art. 17 GG. In der praktischen Umsetzung sollten dabei auch Möglichkeiten zur sicheren anonymen ZweiWege-Kommunikation und zur sicheren vertraulichen Kommunikation z. B. über Vertrauensanwälte oder Ombudsleute angeboten werden. Zugleich gilt es auch sicherzustellen, dass die potentiellen Whistleblower wissen, an welche Stelle sie sich bzgl. welchen Anliegens wenden können, und zu gewährleisten, dass die zustän15 Whistleblower-Netzwerk e.V. hat bereits 2011 einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt, den der Verfasser in seiner Stellungnahme anlässlich der Bundestagsanhörung vom 05. 03. 2012 im Detail erläutert und mit den Vorschlägen der Parteien verglichen hat (http://whistleblo wer-net.de/pdf/Stellungnahme_GS_BT_20120305_endg.pdf). Im Jahre 2014 hat Whistleblower-Netzwerk e.V. in einem Schreiben an Bundesminister Maas darüber hinaus auch konkrete Änderungsvorschläge zum Strafgesetzbuch vorgelegt (http://whistleblower-net.de/ pdf/WBNW_BMJV-Korruptionsbekaempfung.pdf).
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digen Stellen die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötigen Kompetenzen und Personalund Sachmittel erhalten. Hilfreich wäre auch die Schaffung einer – vom eigentlichen Meldeweg völlig unabhängig auszugestaltenden – Beratungsmöglichkeit. Wo es um Missstände in Behörden oder anderen staatlichen Einrichtungen geht, muss der Meldeweg zu mindestens einer anderen – vom eigenen Dienstherren unabhängigen – staatlichen Stelle geöffnet werden. Angesichts der dargelegten Defizite auch staatlicher Meldewege muss es darüber hinaus die Möglichkeit geben, sich zumindest in einem zweiten Schritt auch an die Öffentlichkeit (direkt oder über Mittler wie z. B. Medien und NGOs) wenden zu dürfen. Generell gilt, dass keine der neu zu schaffenden Whistleblowingregelungen in irgendeiner Weise als Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG und Art. 10 EMRK verstanden werden sollte. Im Gegenteil sollte dieses ausgeweitet und gestärkt werden, z. B. durch Schaffung eines Positivkatalogs, der die Information der Öffentlichkeit explizit erlaubt, wenn es um besonders wichtige Gemeinschaftsgüter, hochrangige öffentliche Interessen und die Sicherstellung eines funktionierenden demokratischen Prozesses, eine besondere Eilbedürftigkeit zur Information der Öffentlichkeit oder um eine Eskalation an die Öffentlichkeit nach Verletzung von Rechten im Umgang mit Hinweisen auf organisatorischer oder staatlicher Ebene geht. Generell sollte klargestellt werden, dass nicht schutzwürdige Geheimnisse (also insbesondere solche, die durch einen Rechtsbruch gewonnen wurden oder dazu dienen, einen Rechtsbruch zu vertuschen) im Regelfall (eine der wenigen Ausnahmen wäre die anwaltliche Schweigepflicht) keinen Schutz der Rechtsordnung genießen. Dies könnte z. B. durch die Schaffung eines allgemeinen Rechtfertigungsgrunds erreicht werden, der deren Aufdeckung zu einer gerechtfertigten Handlung macht. Schließlich sollte auch der Schutzumfang von Geheimnissen überdacht werden. Generell sollten nur besonders verpflichtete und in besonderer Vertrauensbeziehung stehende Personen zur Wahrung von Geheimnissen verpflichtet sein und für deren Bruch sanktioniert werden können. Dritte hingegen sollten das Recht haben, derartige Informationen jedenfalls dort ungehindert zu verbreiten, wo sie diese der Öffentlichkeit im öffentlichen Interesse zur Verfügung stellen, weshalb derzeit bestehende Hindernisse wie z. B. das Urheberrecht, um entsprechende Ausnahmetatbestände zu erweitern sind. Auch ist eine Verzahnung sowohl des Urheberrechts als auch des Whistleblowingrechts mit dem auszuweitenden Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen anzustreben. Die Weitergabe und Nutzung staatlicher Informationen, die z. B. nach den Informationsfreiheitsgesetzen öffentlich zu machen oder zumindest auf Anfrage herauszugeben sind, darf nicht sanktioniert werden. Erst dort, wo keiner der soeben erläuterten Erlaubnis- oder Rechtfertigungsgründe greift, bliebe dann noch Raum für eine negative Sanktionierung des Whistleblowers, allerdings auch dort erst nach einer Abwägung aller Interessen und Schutzgüter im Einzelfall. Diese Abwägung sollte gegenüber der heute von der Rechtsprechung
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in Deutschland vorgenommenen Abwägung jedoch in mehrfacher Hinsicht modifiziert werden: Erstens sollte – jenseits des eventuellen Nachweises der positiven Kenntnis des Whistleblowers, dass in Wirklichkeit gar kein Missstand vorlag (die Beweislast hierfür sollte der anderen Seite obliegen) – die Motivation des Whistleblowers unbeachtlich sein. Nur wo so verstandene Bösgläubigkeit nachgewiesen werden kann, sollte es keinen Whistleblowerschutz geben (genau genommen liegt hier gar kein Whistleblowing vor). In allen anderen Fällen aber gilt es, den Fokus auf die Ermittlung und Behebung des Missstandes zu legen. Zweitens sollte eine Abwägungsentscheidung immer auch die involvierten öffentlichen Interessen berücksichtigen und zwar nicht nur dann, wenn es um die Verletzung von Strafrechtsnormen oder Normen des öffentlichen Rechts geht, sondern auch bei der Verletzung zivilrechtlicher Normen, die zugleich auch öffentlichen Interessen dienen (wie z. B. beim AGG). Drittens sollte die Wahl und der Umgang etwaiger früherer Adressaten mit dem Hinweis berücksichtigt werden. Dort, wo ein Fehlverhalten eines der Organisation zuzurechnenden oder eines staatlichen Adressaten im Umgang mit einem Whistleblowerhinweis vorliegt, trägt dieser eine große Mitverantwortung dafür, wenn der Whistleblower den Hinweis danach eskaliert, z. B. indem er sich an die Öffentlichkeit wendet. Viertens schließlich darf eine Sanktion immer nur in verhältnismäßiger Art und Weise erfolgen. Im Arbeitsverhältnis dürfte demnach normalerweise eine Abmahnung ausreichen und selbst beim ungerechtfertigten Verrat von Staatsgeheimnissen wäre es zugunsten des Whistleblowers zu berücksichtigen, wenn er zugleich auch illegale Geheimnisse zu Recht aufgedeckt hat. Dort, wo ein Whistleblowing nach all dem zulässig ist, darf es zu keinerlei Benachteiligungen des Whistleblowers kommen und ihm müssen alle rechtlichen und tatsächlichen Mittel zur Verfügung stehen, solchen Benachteiligungen u. a. durch Aufhebungs-, Unterlassungs- oder Schadensersatzklagen entgegenzutreten. Auch insoweit bedarf es rechtlicher Änderungen, denn der bisherige § 612a BGB erweist sich in der Praxis schon aufgrund der oben beschriebenen Beweisverteilung als weitgehend unwirksam. Ähnlich wie in einigen angelsächsischen Ländern, sollte auch bei uns gelten, dass dort, wo zulässiges Whistleblowing vorliegt und ein Anschein dafür besteht, dass es im Zusammenhang damit zu Benachteiligungen kam, die andere Seite jenen Anscheinsbeweis entkräften und darlegen muss, dass die Nachteile in keinem Zusammenhang mit dem Whistleblowing stehen, sondern auf zulässige Rechtsausübungen zurückgehen. Auch sollte § 9 KSchG dahingehend modifiziert werden, dass in Whistleblowingfällen eine gerichtliche Aufhebung des Arbeitsverhältnisses bei ungerechtfertigter Kündigung nur noch mit Zustimmung des Arbeitnehmers möglich ist. Bei der Frage des Schadensersatzes sollten stets auch die langfristigen Einbußen und die häufig schwerwiegenden psychischen Belastungen des Whistleblowers durch Repressalien angemessen berücksichtigt werden.
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Problematisch ist auch, dass es durchaus Whistleblowing-Konstellationen gibt, in denen der Whistleblower selbst bei einem perfekten arbeitsrechtlichen Schutz letztlich erhebliche Nachteile in Kauf nehmen muss. So kann es durchaus sein – man denke nur an die Aufdeckung eines Gammelfleischskandals in einer kleinen Metzgerei – dass ein berechtigtes Whistleblowing dazu führt, dass der kriminell agierende Arbeitgeber vom Markt verschwindet oder seine Lizenz verliert. Der Whistleblower riskiert hier also trotz allem seinen Job. Wenn sich die Gesellschaft auch in solchen Konstellationen Whistleblowing erhofft, kann sie entweder weiterhin nur auf völlig selbstlos agierende Gewissenstäter bauen, oder sie kann sich entschließen auch anderen potentiellen Whistleblowern ein Angebot im Sinne einer Entschädigungsregelung zu machen. Völlig fremd wäre dieser Gedanke dem deutschen Recht jedenfalls nicht, denn das Sozialrecht sieht schon heute eine öffentliche Entschädigungszahlung vor, z. B. wenn jemand aufgrund einer Nothilfehandlung zugunsten Dritter eigene Schäden erleidet. Whistleblower-Netzwerk schlägt für solche und andere Konstellationen die Einrichtung eines Whistleblowerfonds vor, aus welchem außerdem auch Altfallentschädigungen oder andere Aufklärungs- und Hilfsmaßnahmen für Betroffene finanziert werden könnten. Gefüllt werden könnte ein solcher Fonds z. B., indem in Fällen, in denen Rück- und Strafzahlungen dank Whistleblowing realisiert werden können, immer auch ein gewisser prozentualer Anteil in den Whistleblowerfonds fließen würde. Dies wäre quasi eine überindividuelle (und daher die dagegen vorgebrachten Bedenken überwindende) Form des vor allem in den USA praktizierten Prämiensystems (dort können Whistleblower, die Hinweise geben, die zu staatlichen Mehreinnahmen z. B. durch Regress- oder Bußgeld- oder Strafzahlungen führen, unter bestimmten Voraussetzungen einen prozentualen Anteil jener Mehreinnahmen als Prämie erhalten). Verwaltet werden könnte der Fonds durch einen Whistleblowing-Beauftragten, der zugleich auch noch weitere Aufgaben übernehmen könnte. So z. B. bei der Aufklärung über Whistleblowing, bei der Beratung und Unterstützung von Betroffenen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und bei der Erfassung und Beobachtung der Effekte der neuen Whistleblowing-Regelungen und ihrer Evaluation. Auch für einige dieser Aufgaben gibt es schon heute im deutschen Recht ein Modell: den Wehrbeauftragten. Neben den soeben aufgezeigten Regelungen zum Whistleblowerschutz (der auch innerhalb von Organisationen und Behörden verankert werden sollte) sollten sich Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auch bewusst für eine Förderung von Whistleblowing entscheiden. Hierzu bedarf es der Vermittlung von Wissen, um vorhandene und noch zu schaffende Meldemöglichkeiten und über die – gerade im Bereich von Transparenz- und Verfahrensbeteiligungen auszubauenden und im Sinne eines Rechts auf ordnungsgemäße Untersuchung des Hinweises einklagbar auszugestaltenden – Rechte von Whistleblowern. Es bedarf auch einer Förderung und Ausweitung der Erforschung von Whistleblowing und seiner Hinderungs- und Wirkmechanismen. Es bedarf aber vor allem einer öffentlichen Diskussion darüber, was wirklich der Geheimhaltung bedarf, wo diese ihre Grenzen finden muss, was Loyalität ist und
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wem gegenüber wir sie zeigen sollten sowie darüber, wie wichtig es ist, Missstände anzusprechen und warum wir alle dies viel zu selten tun. Letztlich sollten wir alle uns bemühen, zu einer Einstellung zu gelangen, die sich auch beim Whistleblowing an den allgemeinen Grundlagen der Meinungsfreiheit orientiert. Dies etwa nach der Devise: „Mir ist wichtig, dass Risiken und mögliche Missstände angesprochen werden. Auch dann, wenn ich die Einschätzung desjenigen, der dies tut nicht teile, werde ich mich dafür einsetzen, dass er seine Einschätzung äußern kann, ohne Angst vor Benachteiligungen haben zu müssen und dass ihm zugehört und dem Vorbringen in angemessener Zeit und angemessenem Umfang nachgegangen wird.“ Es gilt im eigenen Kopf anzufangen, eigenes Schweigen, eigene Ängste und eigene Vorurteile und Schmutzkampagnen gegen „Querulanten“, „Nestbeschmutzer“ und „Denunzianten“ zu hinterfragen und wo immer möglich Solidarität mit Whistleblowern zu praktizieren.
Die Geschichte der Öffentlichkeit in Theorie und Praxis Edgar Wagner I. Herzlichen Dank, Herr Prof. von Arnim, für die Einladung zu Ihrem Demokratieforum und Ihnen, Frau Giesecke für die freundliche Vorstellung. Als Informationsfreiheitsbeauftragter spreche ich natürlich gerne über die Geschichte der Öffentlichkeit, wobei ich weniger auf die einschlägigen Theorien eingehen will, sondern mit Ihnen eher eine Zeitreise durch die Real-Geschichte der Öffentlichkeit unternehmen möchte. Ich will beginnen mit dem Verhältnis des Staates zu Geheimhaltung und Öffentlichkeit, dann in einem zweiten Abschnitt einen kurzen Abriss zur Geschichte von Geheimhaltung und Transparenz in der Wirtschaft geben und dann abschließend auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in der Gesellschaft zu sprechen kommen. II. 1. Es muss, meine Damen und Herren, eine gute alte Zeit staatlicher Transparenz gegeben haben, bei den freien Griechen und freien Römern, auch bei den alten Germanen und in den mittelalterlichen Gemeinwesen, als man hier und dort unter freiem Himmel, auf öffentlichen Plätzen Gesetze öffentlich beriet und verabschiedete und Gerichtsverhandlungen öffentlich durchführte. Ich will dies nur kurz andeuten, denn spätestens mit der Entwicklung des absoluten Staates der frühen Neuzeit, das heißt also mit Beginn des 16. Jahrhunderts, war es mit dieser guten alten Zeit vorbei. Das Zeitalter des Absolutismus und damit die gesamte Epoche des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war bestimmt von der Lehre der arcana imperii, den Geheimnissen der Herrscher, die ihre Staaten mit geheimen Räten und geheimen Cabinetten, mit geheimen Korrespondenzen und geheimen Gerichtsverfahren führten, kurz eine allumfassende Geheimpolitik betrieben, die im wahrsten Sinne des Wortes hinter verschlossenen Türen stattfand, also unter absolutem Ausschluss der Öffentlichkeit. Herrschaftswissen war ein wichtiges Fundament der Herrschaftsmacht, ganz im Sinne des englischen Philosophen Francis Bacon und seiner Erkenntnis, dass Wissen Macht sei. Das Staatsgeheimnis war in diesen Jahrhunderten Legitimationsgrundlage und Herrschaftsinstrument zugleich, das Strukturprinzip auf der Ebene des Reiches, aber auch der vielen Einzelstaaten, und zwar nicht nur bei den jeweiligen Herrschern
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und Territorialfürsten, sondern zunehmend auch bei den aufkommenden und immer stärker werdenden Landständen, die dieses Prinzip selbst dann nicht mehr in Frage stellten, als sie in Opposition zu den jeweiligen Herrschern gerieten. Seit dem 2. Juli des Jahres 1500 wurden die Mitglieder des Reichsrates zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet. Der Eid, den sie zu schwören hatten, hatte folgenden Wortlaut: „Auch will ich alles, was in dem Rat verhandelt, beratschlagt und beschlossen wird, bis in ewige Tage geheim halten.“ Und noch dreihundert Jahre später hatten die Mitglieder des Trierer Landtags – also der Ständevertretung im Kurfürstentum Trier – zu schwören „alles, was über die vorliegende Angelegenheit und was beiläufig vorkommen oder von den Deputierten vorgetragen oder von den Ständen verabredet wurde, so unter den Ständen zu verschweigen, dass weder bezüglich der Sache, noch der Person, Abstimmung und den Modus der Abstimmung, jemanden, wer er auch sei, etwas zu sagen, unter Schuld und Sühne des Meineides.“ Die Sitzungen des Reichsrats, später des Reichstags und der Landstände bzw. Landtage waren also geheim, und diese Geheimhaltung wurde auch praktiziert. Nichts, was die Stände berieten, drang nach außen, und dort befand sich Jahrhundert um Jahrhundert auch niemand, der dies beklagt, kritisiert oder hinterfragt hätte. So wie die Herrscher und Stände die Geheimhaltung ihres Wissens und ihrer Absichten als ein Gebot politischer Klugheit betrachteten, so hatten die Gewaltunterworfenen Geheimnisse und Geheimhaltung längst als Ausweis der Gottähnlichkeit ihres Herrschers verinnerlicht. Es ist bemerkenswert, meine Damen und Herren, dass der Geheimstaat des Alten Reiches zwar die Beachtung seiner staatlichen Geheimnisse einforderte und auch sicherstellte, seinerseits aber die Geheimnisse seiner Untertanen nicht – auch nicht ansatzweise – respektierte. Je undurchdringlicher er selbst wurde, desto mehr war er darauf bedacht, das Leben und die Privatsphäre seiner Untertanen zu durchdringen. Der geheime Staat war ein investigativer Staat. Staatliche Geheimhaltung und die Zerstörung der Privatsphäre der Menschen waren zwei Seiten einer Medaille. Das eine war das Spiegelbild des anderen, so wie man davon berichtete, dass das öffentliche Athen der Antike die Privatsphäre der Bürger respektierte, das militärisch-geheime Sparta aber eine solche erst gar nicht zugelassen habe. Bemerkenswert waren übrigens auch die Vorschläge, mit denen 330 Jahre vor den NSA-Exzessen die Ausspähaktionen der Herrscher realisiert werden sollten: Nach einem Entwurf des im 17. Jahrhundert lebenden Universalgelehrten Athanasius Kircher sollten mittels gigantischer, das gesamte Mauerwerk der fürstlichen Paläste durchdringender Hörrohre noch die vertraulichsten Gespräche der Besucher belauscht werden. 2. Licht in die staatlichen Geheimstrukturen und Spitzelsysteme kam erst mit der Aufklärung und der französischen Revolution, wobei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Aufklärung die theoretischen Vorarbeiten geleistet und im Gefolge der französischen Revolution erste konkrete Änderungen durchgesetzt wurden. Ausdruck des einen wie des anderen war ein Artikel, der im Juli 1787 in
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der Neuwieder Zeitung zu lesen war. Dort hieß es: „Ärgerlich ist, dass ihre Verhandlungen (gemeint sind die Landtage) dem Volk verborgen bleiben. Man sollte ihre Beratschlagung bekannt machen, man sollte der Nation über die patriotischen Gesinnungen Rechenschaft abgeben, jeder Bürger, jeder Ackersmann sollte das Vergnügen haben, sagen zu können: Die Repräsentanten unseres Glücks haben diese oder jene Ursache gehabt, uns eine Bürde aufzuerlegen, und wir sehen sie ein, sie war unvermeidlich, sie zielt auf unser Glück … aber das Volk muss bezahlen, und hat das Vergnügen nicht, die Ursache zu wissen, warum es bezahlt. “ Das, meine Damen und Herren, war ein ungeheurer Vorgang, ohne Beispiele in der Vergangenheit, gleichzeitig aber richtungsweisend für die Zukunft. Denn genau darum sollte es in den folgenden 100 Jahren gehen: Um die öffentliche Verhandlung ständischer bzw. parlamentarischer Vertretungen, um die freie Presseberichterstattung darüber und überhaupt um die ungehinderte Unterrichtung der Öffentlichkeit durch eine freie Presse. So wie die Verherrlichung des staatlichen Geheimnisses das Kennzeichen der absoluten Monarchie war, so sollte die Forderung nach Publizität zur Waffe gegen eben diesen absolutistischen Staat werden, wobei für die liberalen Protagonisten dieser Forderung Öffentlichkeit und Transparenz gleichbedeutend waren mit Wahrheit und Recht. Die öffentliche Auseinandersetzung werde die Wahrheit der öffentlichen Meinung sicherstellen. Das war die Botschaft der Aufklärung und des revolutionären Frankreich und ist Kern unserer heutigen Verfassungstheorien geblieben: Demokratie als öffentliches Verfahren. Wie in einem Wetterleuchten kündigte sich diese Entwicklung in den Jahren 1792/1793 in der im Gefolge der französischen Revolution auf dem linken Rheinufer entstandenen sog. Mainzer Republik an, dem ersten Demokratieversuch auf deutschem Boden: Deren parlamentarische Vertretung – der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent – tagte öffentlich, die revolutionäre Administration auch. So, wie die französische Verfassung von 1791 die Pressefreiheit garantierte, wurde jetzt am 25. Oktober 1792 auch in der Mainzer Republik per Dekret der Allgemeinen Administration die Pressefreiheit verordnet. Binnen weniger Wochen wuchs die Zahl der Presseerzeugnisse auf dem linken Rheinufer daraufhin von zwei Zeitungen auf mehrere Dutzend Journale, Zeitungen, Zeitschriften und Flugschriften. Zwar scheiterte die Mainzer Republik und mit ihr der Versuch, Öffentlichkeit an die Stelle der Staatsgeheimnisse zu setzen. Aber dieser Versuch war der Beginn einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung zwischen dem monarchischen Prinzip und dem Prinzip der Volkssouveränität, zwischen Geheimhaltung und Öffentlichkeit, zwischen freier Presse und Zensur, zwischen Bespitzelung und persönlicher Freiheit. Die Karlsbader Beschlüsse, das Hambacher Fest, der Vormärz und die Paulskirchenversammlung markierten das Hin und Her von revolutionären Forderungen und restaurativen Beschränkungen. Erst die Märzereignisse des Jahres 1848 verhalfen dem Gedanken der Parlamentsöffentlichkeit zum endgültigen Durchbruch. Die Paulskirchenverfassung des Jahres
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1849 bestimmte kurz und bündig: „Die Sitzungen beider Häuser sind öffentlich“. Diese Regelung wurde zum Muster für alle folgenden Reichs-, Bundes- und Landtage bis in unsere Zeit, weil man sich damals wie heute darin einig war, dass Repräsentation nur in der Sphäre der Öffentlichkeit möglich ist und weil nur sie eine Teilhabe der Staatsbürger am staatlichen Gemeinwesen möglich macht. Zu diesem Kern staatlicher Öffentlichkeit gesellten sich dann weitere Öffentlichkeitsgewinne, etwa in den öffentlichen Gerichtsverfahren oder mit Hilfe der freien Presse. Während die Öffentlichkeit der Parlamente, der Gerichtsverfahren und der Presse in der Zeit nach dem 1. und dem 2. Weltkrieg weiterentwickelt wurden, blieb die Verwaltung über die Jahrhunderte hinweg eine Insel der Intransparenz. Trotz Paulskirche, trotz des Zusammenbruchs der konstitutionellen Monarchie und der Weimarer Republik, trotz der Erfahrung im Dritten Reich und trotz des neu erlassenen Grundgesetzes, blieb sie bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine durch und durch impermeable Staatsgewalt, wobei sie die Rufe nach mehr Transparenz je nach Zeit und Bedarf mit je unterschiedlichen Argumenten abwehren konnte. Nach der Paulskirchenverfassung hatte das Bürgertum zwar seine öffentlich tagenden Parlamente durchgesetzt, die Verwaltung blieb in Zeiten der konstitutionellen Monarchie aber dem monarchischen Prinzip und damit dem Prinzip der Geheimhaltung verpflichtet. Während der Weimarer Republik gab es zwar Versuche, auch die Verwaltung transparenter zu gestalten; es gab aber keine Beamten, die dies mitgetragen hätten. Jedenfalls auf der Leitungsebene waren alle noch mit den Wassern des Absolutismus bzw. des monarchischen Prinzips gewaschen. Und als nach dem 2. Weltkrieg das Grundgesetz verabschiedet worden war, war die verführte Öffentlichkeit so diskreditiert, dass man besser nicht auf sie setzen wollte. Im Übrigen gab es in diesen Nachkriegsjahren so viel zu verbergen, was besser nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte. So begnügte man sich mit einer mittelbaren Transparenz, die durch die Verwaltungskontrolle der öffentlich tagenden Parlamente sichergestellt werden sollte. Trotzdem gab es gerade unter der Geltung des Grundgesetzes immer wieder – auch erfolgreiche – Versuche, Transparenzbreschen in die sich durch das Amtsgeheimnis abschottende Verwaltung zu schlagen: § Durch das Bundesverfassungsgericht, das vor gut 40 Jahren die Parlamente verpflichtete, die Beamtenverhältnisse, die Schulverhältnisse und die Gefangenenverhältnisse – also alles, was die Juristen unter dem Begriff der besonderen Gewaltverhältnisse subsumiert haben – nicht der Verwaltung zu überlassen, sondern selbst zu regeln und vor den Augen der Öffentlichkeit in öffentlicher Sitzung über die notwendigen Gesetze zu entscheiden; § später war es die Europäische Kommission, die im Jahre 1990 mit ihrer Umweltinformationsrichtlinie dafür sorgte, dass auch in Deutschland Umweltinformationsgesetze erlassen wurden, die den Bürgerinnen und Bürger spezielle Informationsansprüche gegen die Verwaltung einräumten;
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§ wiederum einige Jahre später kamen die entscheidenden Impulse für die Einführung des Informationsfreiheitsrechts von den neuen Bundesländern und deren Erfahrungen während der DDR; § 2012 war es schließlich eine Volksinitiative, die in Hamburg die politisch Verantwortlichen mit öffentlichem Druck dazu veranlasste, ein Transparenzgesetz zu beschließen, das die Verwaltung verpflichtet, von sich aus – proaktiv – Verwaltungsinformationen ins Netz zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht, die Europäische Union, die neuen Bundesländer und eine Volksinitiative brachten also mehr Transparenz in die Verwaltung, die sich all dem – übrigens gemeinsam mit den Parlamenten – mit hinhaltendem Widerstand entgegensetzte und immer noch entgegensetzt, obwohl es gar nicht darum geht, einen gläsernen Staat oder eine gläserne Verwaltung zu etablieren. Angesichts der Vielzahl von Geheimnissen – Staatsgeheimnisse, private Geheimnisse, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, Bankgeheimnisse, Beichtgeheimnisse etc. – kann es immer nur darum gehen, eine limitierte staatliche Transparenz und das heißt auch eine limitierte Verwaltungstransparenz zu realisieren. Die Spielräume, die es dabei gibt, sind aber noch längst nicht ausgeschöpft. Es bleibt noch so viel zu tun, nicht nur, aber vor allem in der Verwaltung. Mehr Transparenzeifer legten die Staaten in den vergangenen Jahren an den Tag, wenn es um die Ausforschung der Bürgerinnen und Bürger ging. Damit meine ich noch nicht einmal das Dutzend Versuche von Bund und Ländern, ihre Bürgerinnen und Bürger durch Polizei und Verfassungsschutz über die Maßen zu überwachen, die erst durch das Bundesverfassungsgericht gestoppt werden konnten. Ich meine – ohne darauf jetzt im Einzelnen eingehen zu können – Aktivitäten wie die in einer EU-Verordnung angeordnete Vorratsdatenspeicherung und die von Edward Snowden enthüllten Aktivitäten der NSA und die darin eingebundenen europäischen und deutschen Nachrichtendienste. Denn mit diesen Maßnahmen knüpft der Staat an seine absolutistischen Vorläufer und den damaligen Vorschlag an, in die Paläste und Häuser riesige Hörrohre einzubauen, damit alle Gespräche belauscht werden könnten. Diese Überwachungsaktivitäten zeigen aber auch, dass wir mit unseren Betrachtungen über den öffentlichen und den geheimen Staat nicht bei unseren Nationalstaaten halt machen dürfen. 70 % der nationalen Gesetzgebung werden auch bei uns mittlerweile durch die Organe der EU mitbestimmt. Wie also sieht es mit deren Transparenz aus? Gewiss: Das Europäische Parlament tagt öffentlich und der Rat, soweit er als Gesetzgeber tätig wird, seit 2009 auch. Die Kommission unterliegt – wie die anderen europäischen Organe – immerhin den Grundsätzen der Informationsfreiheit. Sehr oft gibt sie sich aber zugeknöpft und verwehrt den Zugang zu EU-Dokumenten. Die niederländische Europaabgeordnete Sophie in’t Veld hat dies im Europaparlament kürzlich zu folgendem Redebeitrag veranlasst: „There is no culture of transparency in the European Commission. And I testify that, because I actually took the commission to court in a case, where they refuse access to documents. I took the
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council to court and I am very ready to take the Commission to court again and I am pretty sure that will happen.“ Nicht nur Abgeordnete, auch immer mehr EU-Bürger verlangen von den Institutionen der EU Akteneinsicht. Nach dem aktuellen Bericht der EU-Bürgerbeauftragten ist fast jede vierte Beschwerde von Bürgerinnen und Bürgern eine Klage wegen mangelnder Transparenz der EU-Verwaltung. Ähnliches gilt auch für das Transparenzregister, das die Bürgerinnen und Bürger über die Organisationen und Einzelpersonen informieren soll, die als Lobbyisten Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in der EU nehmen. Obwohl das Europäische Parlament erst kürzlich eine Registerpflicht für diese Lobbyisten gefordert hat, ist die Registrierung immer noch freiwillig und deshalb auch unvollständig. Gerade die einflussreichen Lobbygruppen und Anwaltskanzleien lassen sich nicht registrieren. Zweidrittel der bei der jüngsten Finanzmarktreform aktiven Banken fehlen deshalb im Transparenzregister, darunter Goldman-Sachs und die UBS-Bank. Lobbyarbeit wird immer noch zu einem großen Teil geheim gehalten, übrigens gerade auch mit Blick auf den Rat, der in diesem Zusammenhang von Kennern der Materie als „Schwarzes Loch“ bezeichnet wird. Meine Damen und Herren, natürlich sorgte die EU auch für mehr Transparenz und Öffentlichkeit in ihren Mitgliedstaaten. Dafür gibt es viele Beispiele, etwa die gerade verabschiedete Verordnung über klinische Medikamententests an Menschen, welche die Pharmaindustrie dazu verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Studien zu veröffentlichen. Aber die EU sorgt eben auch für Intransparenz, etwa wenn es um den Abschluss internationaler Verträge und Abkommen geht. Auch wenn diese Verträge durch die Parlamente ratifiziert werden müssen, finden die Verhandlungen, die alle wesentlichen Regelungsinhalte (vor)festlegen, hinter verschlossenen Türen statt. Das galt bereits für das Anti-Piraterie-Abkommen (ACTA), das zumindest auch wegen der öffentlichen Kritik an der als intransparent empfundenen Verhandlungsführung nicht ratifiziert wurde. Das gilt aber in gleichem Maße auch für das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Das bereits im Juni 2013 einstimmig beschlossene Verhandlungsmandat wurde erst am 9. Oktober 2014 veröffentlicht. Ob sich dadurch etwas an der – auch hier als Geheimverhandlung kritisierten – Verhandlungsführung ändern wird, wird man bezweifeln können. Handelsabkommen – übrigens nicht nur das mit den USA – liefern mit den dort vorgesehenen Schiedsgerichten ein weiteres Element, das auch unter dem Gesichtspunkt mangelnder Öffentlichkeit Sorgen bereiten muss. Schiedsgerichte, die dem „Investitionsschutz“ dienen sollen, tagen in der Regel nicht öffentlich. Rechtsprechung und Rechtsentwicklung werden insoweit von der Öffentlichkeit abgekoppelt und immer weniger nachvollziehbar. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Beispiele der Handelsabkommen schlagen die Brücke zu meinem nächsten Thema – der Wirtschaft.
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III. Wie im staatlichen Bereich so gibt es auch im Bereich der Wirtschaft ein Spannungsverhältnis zwischen Geheimnis und Transparenz – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Unternehmen sind – anders als der Staat und seine Organe – Grundrechtsträger. Mit Blick auf Art. 12 und 14 GG sind deshalb auch ihre Betriebsund Geschäftsgeheimnisse geschützt, bei uns, wie anderswo in der Welt auch. So ist die Formel, die Coca Cola zu einem Weltkonzern gemacht hat und die der Legende nach im einem Tresor verwahrt wird, zu dem nur zwei Menschen Zutritt haben, ein Betriebsgeheimnis. Das Gleiche gilt derzeit auch für die Suchalgorithmen der Google-Suchmaschine, die Konstruktionspläne von autonom fahrenden Pkw‘s und sonstigen intelligenten Robotern, um nur drei Beispiele zu nennen. Bei manchen Firmen gehört die Geheimhaltung darüber hinaus zur Geschäftsphilosophie. Der langjährige Aldi-Geschäftsführer Dieter Brandes führt in seinem Buch über „Die Aldi Erfolgsstory“ aus: „Dieser Verzicht auf Publizität geschieht bewusst und ist Teil der Unternehmenspolitik. Die Konkurrenz erhält dadurch wenig Information. Wenn Unternehmen etwas veröffentlichen über ihre organisatorischen Leistungen oder stolz sind über ihre Umsatzsteigerungen oder ihre besonders hohe Personalproduktivität und von entsprechend niedrigen Kosten berichten, so kann das nur der Konkurrenz helfen.“1 Gleichwohl gab und gibt es auch im Wirtschaftsleben immer ein Bedürfnis nach Publizität und Öffentlichkeit, aus unterschiedlichen Gründen und oftmals nach krisenhaften Situationen. Auf einige wichtige Entwicklungsschritte will ich kurz eingehen. Von Anfang an diente Publizität der Berechenbarkeit und damit der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsverkehrs. Ihren Ausgangspunkt findet sie in der kaufmännischen Register- und Firmenpublizität. Sie entsprang den ureigenen Informationsbedürfnissen der Handelskreise nach Informationen über den jeweiligen Handelspartner. Publizität hat sich so als „Information des Handelsstands für den Handelsstand“2 im ständischen und städtischen Umfeld herausgebildet. Entscheidende Faktoren, die das Bedürfnis nach Publizität hervorriefen, waren dabei der „Übergang vom Barzum Kreditverkehr“ sowie das „Wachsen der Städte und die zunehmende Anonymität des Handels“. Nachdem es aus diesen Gründen schon früh zu ersten Ansätzen der Firmen- und Registerpublizität gekommen war, führte der Dreißigjährige Krieg und die damit einhergehende Erschütterung des Handelsverkehrs zu einem verstärkten Bedürfnis nach Offenlegung verkehrsrelevanter Unternehmensverhältnisse. Modellcharakter hatte das seit 1684 in Augsburg geführte Ragionenbuch der dortigen Kaufmannschaft. Zu den eintragungspflichtigen Fakten gehörten neben der Firma unter anderem die an ihr Beteiligten und die Art der Haftung der Beteiligten. Der Inhalt des Buches 1 2
Zitiert nach: Merkt, Unternehmenspublizität, Tübingen 2001, S. 249, Fn. 93. Merkt, a.a.O., S. 127.
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war öffentlich zugänglich und wurde durch Rundschreiben bekannt gemacht. Vergleichbare Register entstanden dann auch in anderen Städten. Publizität kann darüber hinaus eine effektive Kontrolle von Unternehmen ermöglichen. Ihre Wirkweise ist dabei mittelbar, wie das Beispiel der aktienrechtlichen Publizität zeigt. Von ihrer Entstehung an war die Aktiengesellschaft Spekulationsobjekt. Zur Projektfinanzierung richtete sie sich nicht nur an Kaufleute, sondern an die Allgemeinheit. Das Gewinnstreben, angeheizt durch Gerüchte und Verheißungen, mündete aber nicht selten in einem regelrechten Spekulationsfieber, das zu Zusammenbrüchen und Krisen mit erheblichen Verlusten führte. Als Antwort auf diese Krisen diente zunächst die Konzessionierung der Aktiengesellschaft, im 19. Jahrhundert dann die Publizitätspflicht, durch die der zuvor bestehende Konzessionszwang abgelöst wurde. Ziel der gesetzlichen Normierung war der effektive Selbstschutz der Beteiligten, so dass die „direkte staatliche Kontrolle“ durch „eine Kontrolle seitens der Öffentlichkeit und des Marktes“ ersetzt wurde. Zentrale Verpflichtung war zum Beispiel die Veröffentlichung der Bilanz. Das Recht hat sich insoweit beständig fortentwickelt. Mit dem Publizitätsgesetz von 1969 wurden zum Beispiel auch Personenhandelsgesellschaften zur Offenlegung ihrer Jahresabschlüsse verpflichtet. Publizität im Bereich der Wirtschaft dient letztlich auch der Effizienz und Funktionsfähigkeit von Märkten. Dies lässt sich an den Bestimmungen zum Kapitalmarktrecht zeigen. Ein wesentlicher Entwicklungsschritt ist auch hier im 19. Jahrhundert zu verorten, als sich die Prospektpublizität entwickelte. Europäischer Vorreiter war insoweit England, das 1867 im Companies Act festlegte, dass ein Prospekt, das zur Zeichnung einer Aktie aufrief, bestimmte Angaben enthalten musste, um nicht betrügerisch zu sein. Gerade neuere Gesetze gehen von der sogenannten Allokationseffizienz aus. Sie beruht auf der Annahme, dass sich öffentlich zugängliche Informationen sofort nach Bekanntwerden im Marktpreis abbilden. Publizität führt also dazu, dass Informationen im Markt eingepreist werden und keine unangemessenen Marktpreise entstehen. Neue Krisen hatten dann auch neue Publizitätsforderungen zur Folge. Der Zusammenbruch des neuen Marktes oder Insolvenzen wie die des amerikanischen Energiekonzerns Enron befeuerten die Corporate Governance Debatte. Ziel war es dabei, Grundsätze guter Unternehmensführung festzulegen und Unternehmenspolitik für Investoren transparenter zu machen. Denselben Mechanismus konnten wir auch bei der jüngsten Weltfinanzkrise erleben. Einer US-amerikanischen Untersuchungskommission zur Folge waren die völlig intransparenten „Wertpapiere“, die niemand verstand, und „die komplizierten Computermodelle, die sich als völlig realitätsfern erwiesen“, wesentliche Ursachen für die Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese Erkenntnis führte immerhin dazu, dass etwas mehr Transparenz im Finanzdienstleistungsbereich sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene geschaffen wurde: Bereits im Juni des Jahres 2010 ist das deutsche Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung in Kraft getre-
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ten, das auf eine verbesserte Transparenz hinausläuft. Insbesondere sollen die Länderratings nachvollziehbar werden. Gegenwärtig versucht man sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene mehr Licht und Transparenz in den algorithmischen Hochfrequenzhandel und die so genannten Dark Pools der Banken zu bringen, also in den außerbörslichen Handel, in dem 640 Billionen Dollar bewegt werden, obwohl kaum einer weiß, wem die dazu nötigen Super-Computer gehören, wer die entsprechenden Algorithmen strickt und was sie im Einzelnen im Schilde führen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, zumal offenbar die wenigsten verstehen, wie dieser außerbörsliche Handel wirklich funktioniert. Meine Damen und Herren, vor ein paar Jahren hat die Wirtschaft neben der Arbeitskraft, den Rohstoffen und dem Kapital einen vierten Produktionsfaktor entdeckt: die Daten. Sie sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Auf ihnen beruhen die Geschäftsmodelle von Google, Facebook und Co. Und wiederum scheint die Geschichte sich zu wiederholen. Vertrauten vor der jüngsten Weltfinanzkrise alle den Algorithmen der Wall Street, bis diese und das blinde Vertrauen der Anleger die Welt in ein Fiasko führten, vertrauen heute offenbar alle jenen Algorithmen, die vor allem im Silicon Valley von Google, Facebook und Co. entwickelt werden und dann im Internet zur Anwendung kommen, ohne dass wir diese kennen. Aber nicht nur die Algorithmen werden als Geschäftsgeheimnisse behandelt, die gesamte Geschäftsphilosophie dieser Unternehmen ist von Geheimhaltung durchdrungen. Deshalb sind Google, Facebook und Co. nicht nur „Transparenzmaschinen“ – ich komme darauf noch zu sprechen – sondern auch eine Black Box, in der zwar viele wichtige Informationen enthalten sind, die aber alle vor den Nutzerinnen und Nutzern verborgen werden. Sie wissen nicht, welche Daten von ihnen mit den Datenbeständen anderer Dienstleister abgeglichen werden. Sie wissen in der Regel auch nicht, dass sie nicht die Kunden dieser Dienstleister sind, sondern ihr Produkt. „Sie geben alles“ – schrieb die Süddeutsche Zeitung am 7. März – „und erfahren nichts.“ Die Intransparenz der Netzgiganten dient – wie die Geheimpolitik im Absolutismus und in den Diktaturen unserer Zeit – nur der Erhaltung ihrer Macht. Und deshalb bilden sie in ihrer Gesamtheit letztlich nichts anderes als ein autoritäres System. Zu Recht heißt es, die Netzgiganten seien die „Fürsten des Internet“, die sich jeder Kontrolle entziehen. Das Netz ist – wie die Enthüllungen Edward Snowdens gezeigt haben – auch eine Überwachungsmaschine. Selbstverständlich eine intransparente und im Verborgenen agierende „Überwachungsmaschine“, deren intransparente Strukturen und Aktivitäten offenbar nur noch mit Hilfe von Whistleblowern – wir kommen ja darauf später noch zurück – aufgedeckt werden können. Das, meine Damen und Herren, ist die Bedrohung unserer Zeit, unserer Gesellschaft und unseres Staates: Der intransparente und autoritäre Teil des Internet mit seinen digitalen Großunternehmen, die dabei sind unser Gemeinwesen zu ändern, auch weil sie längst damit begonnen haben, ihre Wirkungsmacht weit über die digitale Kommunikation hinaus auszudehnen und dabei offenbar auch noch eine ebenso intransparente wie unheilige Allianz mit dem Staat und seinen Sicherheitsbehörden eingehen. Diese Intransparenz, diese dunklen Seiten und Geheimmächte im System des Internet sind
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das Problem, nicht die Frage, ob wir uns – jenseits des Internet – in Staat und Gesellschaft hier und da zu viel oder zu wenig Transparenz erlauben. Deshalb muss auch an dieser Stelle angesetzt werden. Schirrmacher hatte in einem seiner letzten Statements vor seinem Tod ausdrücklich die Offenlegung von Algorithmen gefordert, andere verlangen einen Algorithmus-TÜV, wiederum andere eine „Treuhandstelle für Algorithmen“. Unser Bundesjustizminister hatte sich dieser Forderung angeschlossen, ist dann aber wieder wankelmütig geworden. Dabei gibt es kein Vertun: Wenn unser Leben und unsere Zukunft von Algorithmen abhängen, müssen sie auch auf den Tisch gelegt werden. Schon heute wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum und von einigen Obergerichten vertreten, dass Betriebsund Geschäftsgeheimnisse dort keinen Platz mehr haben, wo Unternehmen eine Monopolstellung zukommt. An dieser Stelle muss die Debatte weitergeführt werden. Ganz unabhängig davon, dass eine Reihe von Internetunternehmen bereits heute eine quasi-Monopolstellung besitzen, üben diese Unternehmen in vielen Bereichen bereits jetzt eine gesellschaftliche Macht aus, die dringend auch einer gesellschaftlichen Kontrolle unterzogen werden muss. IV. Meine Damen und Herren, nicht nur der Staat und die Wirtschaft suchten und suchen nach dem richtigen Verhältnis von Öffentlichkeit und Geheimhaltung, die Gesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger tun dies auch, und sie verschieben dabei beständig die Grenzen, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bestehen. Es sind Grenzen, die nicht vom Staat reglementiert, sondern nur von der Gesellschaft ausgehandelt werden können, wobei den jeweiligen Leitmedien und ihrer Nutzung eine maßgebliche Rolle zukommt. Lassen Sie mich im letzten Abschnitt meines Vortrags darauf noch näher eingehen. Keine Frage: Als Privatheit im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch keine Rechtsposition darstellte, sondern ein Klassenprivileg des liberalen Bürgertums, war dessen Privatsphäre ein Tabubereich, auch für die Öffentlichkeit. Davon gab es nur wenige Ausnahmen. Zu ihnen zählte auch der Umgang mit persönlichen Briefen. Sie gehörten schon damals zum Kernbereich des Privaten, galten als eine Art von „Seelenbesuch“, wollten mit Herzblut geschrieben, geradezu geweint sein, wie Jürgen Habermas in seinem Klassiker „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ schrieb. Andererseits war es nicht ungewöhnlich, dass fremde Briefe nicht nur vorgelesen, ausgeliehen und abgeschrieben wurden, sondern von vornherein sogar zum Druck, also zur Veröffentlichung bestimmt waren. So entstanden die Briefromane, u. a. von Bettina von Arnim und ihrer Großmutter Sophie von La Roche, die auf diese Weise ein sehr privates Bild von sich für die Öffentlichkeit entwarfen. Goethes „Werthers Leiden“ ist das herausragende Beispiel für diese Gattung, die eine allseits akzeptierte Form der Veröffentlichung von Privatem darstellte.
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Als die Privatsphäre im Zuge der industriellen Revolution und dann unter dem Banner des Sozialstaats allen sozialen Schichten, auch der Arbeiterklasse zugutekam, und zwar in dem Sinne, dass auch den Bedürftigen eine Privatsphäre garantiert wurde und sich jeder in sein eigenes Zimmer zurückziehen konnte, wurden auch die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit durchlässiger, allerdings nicht abrupt, sondern allmählich und über viele Jahrzehnte hinweg. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war man auf Zeitungen angewiesen, wenn Privates in der Öffentlichkeit bekanntgemacht werden sollte. Viel Spielraum gab es dafür allerdings nicht. Berichte über Gerichtsverhandlungen waren die eine Möglichkeit, Todesanzeigen und Nachrufe die andere. Später verstand sich vor das Fernsehen als Medium zur Thematisierung des Privaten und zur Abbildung der Privatsphäre. Der seinerzeitige NWDR-Direktor Adolf Grimme verdeutlichte diesen Anspruch bei seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung des gemeinschaftlichen Fernsehprogramms der Deutschen Rundfunkanstalten im Jahr 1953, als er feststellte: „Das Schicksal des Anderen wird künftig mitten in unserer eigenen Stube stehen und das Fernsehen kann so aus dem Entferntesten unseren Nächsten machen.“ Bis in die 60er Jahre verfolgten Presse, Funk und Fernsehen dann ein vergleichbares Konzept. Die Privatsphäre von Prominenten, insbesondere aus den Königshäusern und der Film-, Fernseh- und Musikbranche wurde real dargestellt, und zwar von der Traumhochzeit über den Urlaubsaufenthalt bis zur Scheidung und zum Tod. Der Mann und die Frau von nebenan wurden dagegen lediglich modellhaft vorgestellt und ihre Alltagssorgen, Ängste und Nöte nur in einer verallgemeinerten Form in Lebenshilfe- und Unterhaltungsserien thematisiert. Das war alles andere als ein Tabubruch, allenfalls ein erstes vorsichtiges Herantasten des Privaten an den Bereich des Öffentlichen oder umgekehrt, des Öffentlichen an das Private. Dies entsprach auch dem Lebensgefühl der Menschen, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs ihr Heil in der Privatsphäre und nicht in der Öffentlichkeit suchten, im rollenkonformen Verhalten und noch nicht in der Selbstverwirklichung. Man passte sich an und fiel nicht weiter auf. Eine Blöße gab man sich nicht, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Der Bruch, auch der Tabubruch, kam vor allem mit der 68er Bewegung. Für sie war das Private politisch und damit Programm. Durch die Sprengung der bürgerlichen Intimsphäre sollte die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufgehoben werden. An der sog. Sexfront sollten deshalb auch die ersten Entscheidungen fallen. Hier wurden die in Scham gepackte Sexualität und Liebe zum öffentlichen Thema, ja zur öffentlichen Praxis. So geriet die körperliche Entblößung zum ersten Tabubruch und in Form der Oswald Kolle Filme zugleich zum großen Kassenschlager in den Kinos. Andere Tabubrüche – vorsichtiger gesagt: Regelverletzungen – folgten. Stets ging es um die Preisgabe von Gefühlen und Intimitäten, etwa als Romy Schneider vor laufender Kamera Gefallen an Burkhard Driest fand oder Nina Hagen vor einem Millionenpublikum ihre Onanierpraktiken vorführte. Wer die Sendungen nicht gesehen hatte, wurde am folgenden Tag auf der Titelseite der Bildzeitung dar-
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über unterrichtet. Denn längst hatte auch die Presse bisher verschlossene Privaträume für sich erobert, auch der gehobene Journalismus, der in Dokumentationen und Interviews auch die Privatsphäre lebender Persönlichkeiten und Personen des Alltags beleuchtete. Die Zeiten, als Privates nur im Nachruf aufscheinen durfte, waren längst vorbei. Auf die Gesellschaft blieb dies nicht ohne Auswirkungen. Angestoßen von den 68ern und eingebunden in den Prozess des allgemeinen Wertewandels hatte sie sich mittlerweile auf den Weg zur Selbstverwirklichung gemacht und traditionelle Verhaltensmuster Stück für Stück abgestreift. Jeder konnte – Presse, Funk und Fernsehen zeigten es ja – selbst bestimmen, welche Bereiche von ihm privat bleiben und welche öffentlich zugänglich gemacht werden konnten. Und das tat man dann auch. Nicht jeder präsentierte sich gleich auf öffentlicher Bühne, aber im kleineren Kreise schon. So war es bald nichts ungewöhnliches mehr, auf Partys, Vernissagen oder im Treppenhaus über frühkindliche Verletzungen oder sonstige Intimitäten zu sprechen. Intime Geständnisse wurden Teil unserer Alltagskultur. War es früher kaum denkbar, für seelische Pein fachärztliche Hilfe zu beanspruchen, so wurde es bald selbstverständlich, in gewissen Gesprächen mehr oder weniger beiläufig auch den eigenen Psychiater und dessen Hilfe bei der Suche nach der eigenen Identität zu erwähnen. Ein ebenso markantes wie frühes Beispiel für diese Offenbarung intimster Erlebnisse war übrigens das öffentliche Bekenntnis von 371 Frauen, sie hätten – wie man sagt – abgetrieben. Im Zuge der Diskussion um die Reform des § 218 StGB war es 1971 im Stern zu diesem weiteren Tabubruch gekommen. Er hatte einen rechtspolitischen Hintergrund. In der Regel ging es aber nur um die Wahrnehmung neu gewonnener Freiheiten. In den 80er Jahren wurden in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten dann die sog. Bloßstellungsshows entwickelt, die u. a. von Jürgen von der Lippe und Mike Krüger moderiert wurden. Sie forcierten den respektlosen, unbarmherzigen und rücksichtslosen Umgang mit den Kandidaten, die freiwillig die größten Peinlichkeiten und Bloßstellungen vor einem Millionenpublikum ertrugen. Dementsprechend schrieb der SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 25. März 1987: „Und massenhaft stürzen sich die Laien-Spieler, die aufgekratzten Exhibitionisten, ins öffentliche Gelächter. (…) ,Jeder einmal für 15 Minuten ein Star‘ – Danach lechzt, laut Andy Warhol, der Mensch im elektronischen Zeitalter. Einmal berühmt sein, ein Auto gewinnen oder 20.000 Mark, dafür sind die Kandidaten zu jedem groben Unfug, zu den peinlichsten Scherzen bereit.“ Dass dies zutraf zeigte später auch die erste Staffel von „Big Brother“ und der mit ihr einhergehenden Dauerbeobachtung des Alltags von am Anfang zehn Personen – fünf Männern und fünf Frauen – über einen Zeitraum von 100 Tagen und zwar über 24 Stunden im Internet und in einem 45 minütigen Zusammenschnitt am Abend bei RTL 2. Von „Menschen im Käfig“ und vom „Menschenzoo“ war die Rede, wobei die Kritiker dieser Sendung darauf hinwiesen, dass selbst Tierparks am Abend geschlossen würden, und die anderen entschuldigend darauf aufmerksam machten, dass die
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Container-Bewohner ja nicht eingefangen worden seien und auch nicht gefüttert werden dürften. Das Echo war jedenfalls groß und die Quote hoch. Für die Fernsehmacher und die Mehrzahl der Zuschauer war es nur ein neues TV-Erlebnis, für die meisten Kritiker waren die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, für andere verfassungsrechtlich garantierte Tabus verletzt worden. Ganz sicher waren die überkommenden Grenzen zwischen Privat und Öffentlich ein weiteres Mal verschoben worden. Aber Big Brother zum Trotz: Diese Grenzen existierten – jedenfalls grundsätzlich – immer noch. Denn die Bewohner waren nicht so sehr Opfer als Akteure in einem medialen Spektakel, dessen Regeln sie zunehmend zu durchschauen begangen. Und als ein Paar schließlich feststellte, dass es sich wirklich ineinander verliebt hatte, zog es aus dem Container aus, und zwar ganz freiwillig. Ihre wahre Liebe wollten die Beiden dann doch lieber für sich alleine behalten. Alles, auch die öffentliche Zurschaustellung, hat eben seine Grenzen. Dies hatte bereits die Zeit in einem Artikel von Barbara Sichtermann vom 1. März 1996 so thematisiert: „Diskretion und Takt als Tugenden sind nicht einfach dahingeschwunden, sondern in neue Bezüge eingetreten. Man bedauert z. B. die Prostitution des Geheimnisses, das einst über der Erotik geschwebt hat, will aber ungern wahrhaben, dass dieses Geheimnis auch eine repressive Funktion hatte und dass ein großer Gewinn in dem Freimut liegt, der das ganze alte Muckertum mit seinen Lügen und Drohungen – „von Masturbation kriegt man Rückenmarksschwund“ – hinweggefegt hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Bilanz hier positiv – zumal die Schamschranken ja nicht absolut, sondern nur kontextspezifisch gefallen sind und man z. B. in dem anerkannten „Recht auf eine Maske“, auf Verstellung und Spiel, einen neuen Respekt vor dem Innenleben der Menschen erblicken kann.“ Dieser Respekt wurde auf eine ganz neue Probe gestellt, als gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts das Internet und später das Web 2.0 dem Menschen neue Kommunikations- und Darstellungsformen eröffneten. Zunächst war es die eigene Homepage mit der Privates in die Welt transportiert werden konnte, vom Liebesakt bis zur Hausgeburt. Dann kamen die sozialen Netzwerke hinzu: MySpace, auch die VZ-Netzwerke, dann nur noch Facebook, bei dem sich über 2 Milliarden Menschen zwischen FKK-Strand und Maskenball begegnen, ein Jahrmarkt der Selbstdarstellung, auf dem man mit Identitäten spielen kann, jedenfalls unter seinesgleichen, weniger gegenüber den Betreibern der Suchmaschinen und Netzwerke. „Wir wissen, wo du warst, wir wissen, wo du bist und wir wissen ziemlich genau, was du gerade denkst“, bekannte vor einiger Zeit Eric Schmidt, der Google-Aufsichtsratsvorsitzende. Und als sein Unternehmen in diesem Jahr für 3,2 Milliarden US-Dollar den Hausgeräte-Hersteller NEST erwarb, ergänzte dessen Vorsitzender: „Wir wissen auch, ob du zu Hause bist, ob du gerade deinen Toast verbrennst und ob du zu viel Kohlenmonoxyd einatmest.“ Wovon die Fürsten des Alten Reiches nur träumen konnten, haben die Großfürsten des Internet realisiert. Sie wissen alles, jedenfalls fast alles von uns. Sie haben den gläsernen Menschen erschaffen. „You have no privacy anymore, so get over it.“ Das mag zwar noch eine Übertreibung sein und nur für die virtuelle Welt gelten. Das im
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Entstehen begriffene Internet der Dinge wird uns dieser Feststellung aber ein großes Stück näher bringen. Die digitale Zeit, meine Damen und Herren, ist eine transparente Zeit, die digitale Technologie – wie gesagt – eine Transparenzmaschine. Sie führt uns Lichtjahre weg von Bettina von Arnim und ihren Briefromanen, auch weil die transportierten Inhalte nicht mehr freisinnig und tiefgründig sind, sondern allzu oft oberflächlich und geschmacklos. V. Meine Damen und Herren, die Frage wird sein, ob sich die Menschen mit dieser Entwicklung abfinden und sie vielleicht sogar fortsetzen werden. Die Frage wird außerdem sein, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf den Staat und die Wirtschaft haben werden. Wird es in digitalen Zeiten überhaupt noch gesicherte Staatsund Geschäftsgeheimnisse geben oder werden Whistleblower, Hacker und Leaks auch den Staat und die Wirtschaft transparenter machen? Werden wir uns also auf die von dem in Berlin lehrenden Philosophen Han kritisierte Transparenzgesellschaft zubewegen? Lassen wir diese Fragen für heute unbeantwortet, meine Damen und Herren. Nicht nur, weil ich meine Zeit überschritten habe. Angesichts der Dynamik der digitalen Entwicklung werden sie sich ohnehin in absehbarer Zeit von selbst beantworten.
Verzeichnis der Autoren1 Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Thomas Leif, Chefreporter Fernsehen beim SWR in Mainz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesjustizministerin a.D. Prof. Dr. Matthias Rossi, Universität Augsburg Peter Schaar, Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz Berlin, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit a. D. Prof. Dr. Patrick Sensburg, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Mitglied des Deutschen Bundestages, Vorsitzender des NSA-Untersuchunugsausschusses Guido Strack, Vorsitzender Whistleblower-Netzwerk e.V. Hans-Martin Tillack, Redakteur Recherche beim Magazin Stern Edgar Wagner, Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Rheinland-Pfalz Prof. Dr. Joachim Wieland, Rektor der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
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Stand Oktober 2014.