Thomas Hardys Naturansicht in seinen Romanen [Reprint 2020 ed.] 9783112341483, 9783112341476


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Thomas Hardys Naturansicht in seinen Romanen [Reprint 2020 ed.]
 9783112341483, 9783112341476

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Britan nica In Verbindung mit dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hamburgischen Universität herausgegeben von

Emil

Wolff

Heft 3

BiiAdruckerei E. Bediltein, Inhaber Wilhelm Hinckel, Wertheim a, M.

Thomas Hardys Maturansìcht in seinen Romanen.

Von

Frieda Vogt

i Friederichsen, de Gruyter & Co. m.b.H. / Hamburgl932

INHALTS-VERZEICHNIS. I. Werden und Wachsen von Thomas Hardys Naturansicht II. Thomas Hardys Naturansicht im Lichte der Kritik III. Wie sich Thomas Hardys Naturansicht darstellt in den verschiedenen Naturbildern A. Allgemeines B. Meer und Meeresküste C. Feld und Wiese D. Wald E. Heide F. Sternenhimmel IV. SchluBbetrachtung Literaturverzeichnis Abkürzungen

1 13 35 35 38 50 72 88 102 107 109 111

1.

Werden und Wachsen von Thomas Hardys

Naturansicht.

Ein tieferes Eindringen in das Werk eines Dichters, vor allem eines „Naturdichters", wird uns stets mehr oder weniger in seine engere Heimat und an die Stätte seiner Wirksamkeit führen. Dort wird sich uns seine Kunst, sein Wesen am vollständigsten und rückhaltlosesten offenbaren. Besuchen wir Weimar oder Stratford-on-Avon, Dithmarschen oder den Lake-District, überall werden wir auf die Persönlichkeit des Dichters, auf sein Leben und Wirken hingewiesen. Sein Geist scheint die Orte seines Schaffens auch heute noch, nach seinem Tode, zu beherrschen. Anders ist es mit Thomas Hardy und mit dem Hardy-Lande „Wessex", d. h. dem Teil Südenglands — Dorset und den umliegenden Grafschaften — dem der Dichter diesen frühmittelalterlichen Namen beigelegt hat. Hardy tritt hinter seinen Schöpfungen zurück. In seinem Vorwort zu „Far from the Madding Crowd" sagt der Dichter 1895 über diese Namengebung folgendes: „ . . . It was in the chapters of Far from the Madding Crowd . . . that I first ventured to adopt the word „Wessex" from the pages of early English history, and give it a fictitious significance as the existing name of the district once included in that extinct kingdom . . . . . . The appellation which I had thought to reserve to the horizons and landscapes of a partly real, partly dream-country, has become more and more popular as a practical provincial definition; and the dream-country has, by degrees, solidified into a utilitarian region which people can go to, take a house in, and write to the papers from. But I ask all good and gentle readers to forget this, and to refuse steadfastly to believe that there are any inhabitants of a Victorian Wessex outside these volumes in which their lives and conversations are detailed." Dank der Kunst Hardys ist dies freilich ein frommer Wunsch1 des Dichters geblieben, denn „Wessex"-Land und -Leute umgeben den Besucher des Hardy-Landes jeden Augenblick, wenngleich er den poetischen Schöpfer und den dichterischen Gestalter dieses gesegneten Landstrichs darüber vergessen mag. Und das ist es gerade, was dem Aufenthalt in der Heimat dieses Dichters seinen besonderen Reiz verleiht, und worin sich Wessex von der Heimat anderer Geisteshelden und Künstler unterscheidet: „In 1

Shakespeareland and the Scott and Bums countries it is the personality of the „presiding genius" that dominates the place. It is otherwise in Wessex. There, the people „bodied forth" by the imagination of Thomas Hardy, seem to loom larger than their creator" (Murray I)1. Es entspricht durchaus dem einfachen und zurückhaltenden Wesen des bescheidenen Menschen Hardy, daß er selbst im Hintergrunde bleibt, oder nur als der anspruchslose Erzähler auftritt, während die Gestalten seiner Phantasie ein bewegtes Leben führen, das unsere Teilnahme und unser Miterleben erheischt. Die Schicksale seiner Personen gehen weit über ihre lokale Gebundenheit hinaus; oft weiten sie sich zu wahrhaft weltumspannenden Problemen aus. Thomas Hardy gilt zunächst als ein Meister des Heimatromans. Mit dieser Bezeichnung ist freilich nur ein Teil seiner Kunst charakterisiert. Die Größe und Weite seines poetischen und philosophischen Schaffens läßt sich nicht in einen so engen Rahmen spannen. Sicherlich lieferte des Dichters Heimat ihm zum größten Teil den Hintergrund und die Gestalten seiner Romane; aber seine schaffende Phantasie, seine geniale Schöpferkraft sind nicht an diesen kleinen Teil Englands gebunden; vielmehr vermag er sich die ganze Welt als Schauplatz dienstbar zu machen. Den Beweis liefert das Werk „The Dynasts". Ebenso sind Hardys Phantasiegestalten, die äußerlich meistens ein sehr einfaches und anspruchsloses Leben führen, durchaus nicht nur Träger einer einfachen, unkomplizierten Lebensphilosophie: Oak, Henchard und Jude; Eustacia, Tess und Sue mögen als Gegenbeweise dafür angeführt werden. Ein Dichter, der so fest in seinem Heimatboden verwurzelt ist wie Thomas Hardy, muß notgedrungen dessen künstlerischer Verklärer werden. Hardy fand innerhalb der Grenzen seines Wessex tausendfältig Gelegenheit, das menschliche Leben in wechselnder Fülle kennen zu lernen. In diesen „sequestered spots outside the gates of the world" konnte er beobachten, wie „dramas of a grandeur and unity truly Sophoclean are enacted in the real" (W 4—5). Um die Entwicklung der Naturansicht bei Thomas Hardy zu verfolgen, führen wir uns kurz seinen Werdegang vor Augen. Thomas Hardy wurde am 2. Juni 1840 in dem kleinen Dorfe Higher-Bockhampton bei Dorchester in Dorset geboren. Sein Vater, ein ländlicher Baumeister, entstammte einer jener alten Familien, die einst als Herren in dem Lande geschaltet hatten, und die mehr als einmal von Hardys Kunst verewigt worden sind. Der Vater und Großvater des Dichters, beide ebenfalls Thomas Hardy genannt, waren neben ihrem Bauhandwerk der Musik sehr ergeben. 1

2

Vgl. Literaturverzeichnis und Abkürzungen am Schluß.

In der musikliebenden Familie der Dewys in „G" möchte man hier autobiographische Reminiszenzen sehen (vgl. Life I, 12—15), wie sie der junge Hardy aus Erzählungen seiner Kindheit kannte; denn bald nach des Dichters Geburt starb Thomas Hardy, der Großvater, — und mit ihm der Church-Choir, dessen Seele er gewesen war. Von dem Vater und Großvater scheint Hardy auch seine Liebe zur Musik und das überaus feine Gehör geerbt zu haben, das ihn befähigte, jeden Laut in der Natur wahrzunehmen, um ihn dann dichterisch darzustellen. Hardys Mutter entstammte einem in Dorset ansässigen, begüterten Bauerngeschlecht. Sie vererbte dem Sohn sicherlich die Liebe zu den Büchern, denn Hardys Großmutter mütterlicherseits war eine für ländliche Verhältnisse sehr belesene und wissensdurstige Frau. Von ihr wird uns berichtet (Life I, 8): „She knew the writings of Addison, Steele, and others of the Spectator group almost by heart." — Ebenso waren ihr Milton und Bunyan, Richardson und Fielding vertraut. Sicherlich war das Wesen dieser geistig interessierten Frau auch von nachhaltigem Einfluß auf die Tochter, die Mutter des Dichters. Der Mutter verdankt Hardy wohl ein gut Teil seiner Erzählkunst und seiner scharfen Beobachtungsgabe. An den langen, dunklen Winterabenden pflegte sie mit den Kindern am Kaminfeuer zu sitzen und Geschichten und Anekdoten zu erzählen. Hardys Mutter hat ihre geistige Frische und Erzählfreudigkeit bis in ihr hohes Alter hinein bewahrt. Ein Bild der Greisin — sie wurde neunzig Jahre alt —, das Mrs. Florence Hardy mir bei einem Besuch in „Max Gate" zeigte, weist dieselbe hohe Stirn und den nämlichen prüfenden und nachdenklichen Blick auf, der uns an dem Dichter immer wieder fesselt. Spricht so Hardys Herkunft schon ein gut Teil für sein feines Beobachtungsvermögen und für seine außerordentliche Erzählergabe, so hat sein täglicher Umgang mit der Natur und mit den Menschen in Wald und Heide ein übriges getan, diese Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung zu bringen. Die bescheidenen Wohnstätten von Little Hintock mit ihren „quiet hearthstones, festooned overhead with hams and flitches" (W 4) können die Häuschen von Higher-Bockhampton zum Vorbild gehabt haben. Noch heute steht Hardys Elternhaus mit seinem strohgedeckten Dach und den grünumsponnenen Mauern am äußersten Ende des Dorfes. Mannshohe Hecken von Stechpalmen, Lorbeerbüschen und Buchsbaum umgeben es, und wie vor hundert Jahren streicht der Wind über die weiten Heideflächen und Weiden, oder er fährt durch die Kronen der Waldbäume, die Hardys Vaterhaus umgeben. Die ersten uns erhaltenen Verse des Dichters, in seinen Jünglingsjahren geschrieben, schildern uns sein Elternhaus folgendermaßen: 3

. D o m i c i l i i ! m". „It faces west, and round the back and sides High beeches, bending, hang a veil of boughs, And sweep against the roof. Wild honeysucks Climb on the walls, and seem to sprout a wish (If we may fancy wish of trees and plants) To overtop the apple-trees hard by. Red roses, lilacs, variegated box Are there in plenty, and such hardy flowers As flourish best untrained. Adjoining these Are herbs and esculents; and farther still A field; then cottages with trees, and last The distant hills and sky. Behind the scene is wilder. Heath and furze Are everything that seems to grow and thrive Upon the uneven ground. A stunted thorn Stands here and there, indeed; and from a pit An oak uprises, springing from a seed, Dropped by some bird a hundred years ago. In days bygone — Long gone — my father's mother, who is now Blest with the blest, would take me out to walk. At such a time I once inquired of her How looked the spot when first she settled here. The answer I remember. „Fifty years Have passed since then, my child, and change has marked The face of all things, Yonder garden-plots And orchards were uncultivated slopes O'ergrown with bramble bushes, furze and thorn. That road a narrow path shut in by ferns, Which, almost trees, obscured the passer-by. Our house stood quite alone, and those tall firs And beeches were not planted. Snakes and efts Swarmed in the summer days, and nightly bats Would fly about our bedrooms. Heath croppers Lived on the hills, and were our only friends; So wild it was when first we settled there." — Der junge Hardy wurde mit etwa acht Jahren in die Dorfschule von Bockhampton geschickt. Nachdem der körperlich sehr zarte Knabe etwas kräftiger geworden war, besuchte er vom zehnten Jahre an die Schule in dem benachbarten Dorchester. Die Mutter besonders war stets bemüht, ihren Aeltesten mit gutem 4

Lesestoff zu versorgen. So las er schon in diesen Jahren Drydens „Virgil", Johnsons „Rasselas", „Paul et Virgine" und ;,A History of the Wars". Neben dem allgemeinen Unterricht wurde er noch In die Anfangsgründe des Lateinischen und Französischen eingeführt, so daß er, als er mit sechzehn Jahren die Schule verließ und zu einem Architekten in Dorchester in die Lehre kam, über eine verhältnismäßig gute Schulbildung verfügte. Sein Lehrherr arbeitete vor allem an der „restoration" alter Kirchen. Man könnte versucht sein, einzelne Abschnitte aus Hardys Erstlingswerken als autobiographische Erinnerungen aus dieser Zeit aufzufassen. Im April 1862 siedelte Hardy nach London über und trat in die Dienste des bekannten Kirchenarchitekten Sir Arthur Blomfield. Von London aus unternahm Hardy häufig Reisen in entfernte Bezirke, da die „Church-restoration" gerade um diese Zeit eifrig betrieben wurde. Auf einer solchen Reise nach St. Juliot in Cornwall lernte er in späteren Jahren (1870) seine erste Gattin und langjährige Lebensgefährtin kennen: E m m a Lavinia Gifford, eine Nichte des späteren Archidiakonus Dr. Gifford in London. Wenn irgendwo, so finden wir autobiographische Erinnerungen an diese Zeit in Hardys Roman „A Pair of Blue Eyes". Den Beweis dafür ergeben die nachgelassenen Aufzeichnungen der verstorbenen Mrs. E m m a Lavinia Hardy (Life I, Chap. V), die sich lesen wie ein Kapitel aus dem Roman „B". Die Großstadt bot dem jungen Hardy, der alles mit offenen Sinnen erfaßte, eine ganz neue Welt. Neben seiner beruflichen Tätigkeit gibt er sich jetzt mehr denn je mit Dichtung und Dichtern ab (Life I, 62). Hardys Briefe an seine Schwester Mary aus den ersten Jahren seines Londoner Aufenthalts geben uns einen Begriff seiner Tätigkeit (Life I, 50). Beim Lesen dieser Briefe fühlen wir uns ganz im Banne der „guten alten Zeit", der Zeit eines Thackeray und eines Dickens. In London verdiente Hardy sich auch die Sporen als Schriftsteller. Mit dreiundzwanzig Jahren erhielt er die goldene Medaille des „Institute of British Architects" für eine mit vielem Humor verfaßte Skizze: „How I built myself a House", eine Arbeit, die ursprünglich zur Belustigung von Blomfields Lehrlingen geschrieben und am 18. März 1865 in „Chamber's Journal" veröffentlicht wurde. Aus dieser Zeit stammen auch Hardys früheste erhaltene lyrische Dichtungen, die jedoch erst ein Menschenalter später der Oeffentlichkeit übergeben werden sollten. Hardys gelegentliche Versuche, seine Lyrik in den sechziger Jahren in Zeitschriften unterzubringen, mißglückten; so vergrub er seine Gedichte ein ganzes Menschenalter lang und wandte sich der erzählenden Prosa zu. Die Jahre seiner Architektentätigkeit in London, 1862—67, bilden eine Uebergangszeit in Hardys Leben. Zwar hat seine Ver5

bindung mit der Metropole von dieser Zeit bis an sein Lebensende nie aufgehört, aber nachdem er noch ein paar Jahre zwischen London und Dorset hin- und hergeschwankt hatte, bald hier, bald dort beruflich tätig, entschied er sich schließlich für das Leben auf dem Lande oder doch in ländlicher Umgebung. Denn soviel Neues und Anregendes die Großstadt dem jungen Manne auch bieten mochte: als Kind der Wessex-Scholle konnte er innerhalb der Mauern Londons niemals eine Heimat finden. Mehr als einmal wird der junge Hardy sich nach den Wiesen und Wäldern der Heimat gesehnt haben, nach ihren Aeckern und Heideflächen, nach ihren Hügeln und Tälern, ihren Dörfern und Städten, vor allem nach ihren ihm vertrauten Bewohnern. Und doch sind diese „Wanderjahre" für den jungen Dichter von großer Bedeutung geworden. Sie haben seine empfänglichen Sinne geschärft und seinen Gesichtskreis bedeutend erweitert, so daß der gut Dreißigjährige nach seiner Rückkehr in die Heimat das Leben in der Großstadt nach den verschiedensten Seiten hin ebenso gut kannte, wie Land und Leute seiner Wessex-Heimat. Die Heimat aber führte ihn immer wieder in den Schoß der Natur zurück. Sie bildete mit ihren Menschen und Tieren, Bäumen und Sträuchern für ihn eine harmonische Einheit, im Gegensatz zu der zerrissenen Vielheit der städtischen, besonders der großstädtischen Zivilisation. Während seines Londoner Aufenthalts schrieb Hardy einen zur Satire neigenden Roman, den er 1868 dem Verlag von Chapman and Hall zum Druck anbot. George Meredith, der zu jener Zeit die Stelle eines Lektors bei diesem Verlage innehatte, erkannte die reiche Begabung des jungen Hardy. Er kannte jedoch auch die Wünsche des lesenden Publikums. So riet er dem jungen Autor, diesen Roman, betitelt „The Poor Man and the Lady", zurückzuziehen und seinen Lesern als erstes „a more complicated plot" vorzulegen. Hardy faßte diesen wohlgemeinten Rat unglücklicherweise so auf, als ob er einen sensationelleren Stoff bringen sollte, eine Aufgabe, die seiner ganzen Art nicht entsprach. Von dem ersten Versuch, einen Roman zu schreiben, sagt Hardy in „Hodge as I know him": „My first attempt at writing about them (the peasants) was a wild sort of manuscript, which feil into the hands of John Morley and George Meredith who strongly recommended me to take up.fiction." Daß die Aufgabe, einen „Sensationsroman" zu schreiben, Hardys eigener Denkweise widerstrebte, geht aus dem daraufhin entstandenen und 1871 anonym veröffentlichten Roman „R" hervor, der, als Ganzes gesehen, eine der schwächsten Leistungen darstellt, die aus Hardys Feder hervorgegangen sind. Vom Publikum blieb dieser Roman fast ganz unbeachtet. Hardy ließ sich durch diesen Mißerfolg jedoch nicht entmutigen, vielmehr befreite er sich nun von allem ihm nicht Gemäßen und 6

wandte sich dem Gegenstande zu, der seine ganze Zuneigung und Liebe besaß: den Menschen und der Natur seiner Heimat. „G", das 1872 erschien, bedeutet für Hardy als Künstler einen vollkommenen Erfolg. Freilich blieb auch hier die äußere Anerkennung zunächst aus. Aber Hardy selbst fühlte, daß er auf dem rechten Wege war; von Tag zu Tag wurde er sich dessen mehr bewußt, daß die Wurzeln seiner Kunst und seines Künstlertums in der Heimat ruhten. So kehrte er 1874 für immer nach Dorset zurück, wenngleich er bis in sein fünfundsiebzigstes Lebensjahr hinein alljährlich ein paar Monate in London verbrachte und auf diese Weise die Verbindung mit der Literatur und Kunst und mit den führenden Männern auf diesem Gebiete stets behielt. Im Jahre 1873 war Thomas Hardys Name zum erstenmal auf dem Titelblatt eines neuen Romans erschienen: „A Pair of Blue Eyes". Dieses Werk hat zu allen Zeiten die verschiedenste Beurteilung erfahren; E. Brennecke nennt es „one of the finest Wessex Novels" (Universe 36), und schon ein Zeitgenosse Hardys, Coventry Patmore, bedauert, „that such unequalled beauty and power should not have assured themselves the immortality, which would have been impressed upon them by the form of verse" (Life I, 138), während Lascelles Abercrombie, einer der bedeutendsten Hardy-Kenner und -Verehrer unserer Tage, es als „a slight book" bezeichnet (Abercrombie 35). Thomas Hardys erstes Meisterwerk unter den großen Wessex Romanen jedoch ist „Far from the Madding Crowd", das 1874 zuerst anonym im „Cornhill Magazine" veröffentlicht wurde. Dieser Roman fand große Anerkennung, so daß der „Spectator" in ihm ein Werk George Eliots vermutete — zu Hardys eigenem Befremden (Life I, 129). Noch im gleichen Jahre erschien der Roman in Buchform mit dem Namen seines Verfassers auf dem Titelblatt. Dieses Werk machte Hardy mit einem Schlage berühmt. Er gab nun seinen Architektenberuf auf und wandte sich ganz und gar der Literatur zu. Freilich mußte er zunächst noch seinem geheimen Wunsche, als Lyriker Anerkennung zu finden, entsagen. Ihm ist es jetzt vor allem darum zu tun, ein guter „serial writer" zu sein (Life I, 131), „to keep base life afoot" (Life I, 134). Von nun an steht Hardy — trotz seiner Zurückgezogenheit — mitten in dem literarischen Leben seines Volkes. Seine Tagebuchnotizen geben Zeugnis von den verschiedensten literarischen und dichterischen Größen, deren Bekanntschaft er im Laufe der Jahre macht. Es ist erstaunlich zu sehen, welche Fülle von Beziehungen der persönlich so bescheidene Dichter zu den geistigen Größen seiner Zeit pflegte. Im Jahre 1874 heiratete Thomas Hardy Emma Livinia Gifford, die ihm seit ihrer ersten Begegnung im Frühjahr 1870 eine verständnisvolle und hilfreiche Freundin gewesen war (Life I, 95). Die Hochzeitsreise führte das junge Paar nach Nordfrankreich. 7

Während der nächsten Jahre treffen wir Hardy in verschiedenen kleinen Orten seiner Heimat, in Surbiton, Swanage, Yeovil, Sturminster Newton und Wimborne und in London. Im Mai 1876 reiste Hardy mit seiner Gattin über Holland den Rhein hinauf; der Rückweg führte sie über Straßburg, Metz, Brüssel und Antwerpen in die Heimat zurück. — Hardy ist auch später noch verschiedentlich auf dem Kontinent gewesen, so 1880 und 1882 in Frankreich, 1884 auf den Channel Islands, dem Ursprungslands der Hardys, 1887 in Italien, 1888 und 1890 wieder in Paris, 1896 in Belgien, 1897 in der Schweiz. Auch in Schottland und Irland ist Hardy gewesen, dagegen hat er Einladungen nach Pittsburgh (1906) und der Virginia University (1909) abgelehnt. Im Jahre 1885 bezog Hardy ein an den „outskirts" von Dorchester gelegenes Haus, „Max Gate", das nach seinen eigenen Plänen erbaut worden war. Hier hatte er fortan für den größten Teil des Jahres seinen ständigen Wohnsitz; es blieb sein Heim bis an sein Lebensende. Hier fand er die so sehr geschätzte Ruhe und Zurückgezogenheit, umgeben von den Wiesen und Feldern seiner Kindheit, mit dem weiten Blick auf die Stadt Dorchester, das geliebte „Casterbridge" seiner Romane. Nach der Veröffentlichimg von „F" steht Hardys Ruhm und Ruf als Meister der Romankunst fest. Hier zeigt er sich auf der Höhe seines Schaffens. Seine späteren Romane haben dieses erste Meisterwerk kaum übertroffen, wenngleich Hardys Schaffen eine gewisse künstlerische Entwicklung erkennen läßt (vgl. darüber H. Ufer und A. Steinbach). Im übrigen stimmen wir dem Urteil zu, das Gosse2 1909 über Hardy abgab: „Les idées qui ont depuis (1874) inspiré les livres de M. Hardy existaient déjà dans son esprit et se montraient dans sa conversation; elles étaient un résultat du tempérament et de l'observation . . ." (Hedgcock 499). In den nun folgenden Jahrzehnten erscheinen die großen Wessex-Romane und ein paar Bände kürzerer Erzählungen. Nicht immer war die Kritik mit Hardys Schaffen einverstanden; der Dichter hat manchem literarischen Kampf die Stirn bieten müssen. Aber er blieb der einmal erkannten Berufung treu, und die Entwicklung hat ihm recht gegeben. Mit „Jude the Obscure" findet Hardys Tätigkeit als Romandichter 1895 ihr Ende. Der 1897 in Buchform erschienene Roman „The Well-Beloved" war schon 1892 in „The Illustrated London News" veröffentlicht. Nachdem Hardys Romanwerk als ein abgeschlossenes Ganzes hinter ihm lag, wandte sich der nun bald Sechzigjährige wieder den Träumen seiner Jugend zu: als Dichter hatte er seine literarische Laufbahn begonnen, als Dichter sollte er sein Leben beschließen. Dabei dürfen wir nicht aus dem Auge lassen, daß Hardy selbst zu allen Zeiten dem Roman und dem Romandichter 2

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Edmund Gosse an Hedgcock. (Hedgcock 499.)

in sich selbst eine sekundäre Rolle zugewiesen hat. Für ihn ist „novel-writing . . . mere journeywork" (Mai 1886, Life I, 235). Er veröffentlichte seine Romane nur „for temporary and compulsory reasons" und nennt sie „prose of a poetic kind" (Life II, 75). Er möchte dem Roman eine Stellung verschaffen „as near to poetry as possible" (Life II, 65). Dem lesenden Publikum aber war und ist er der große Romandichter. — Als Hardy daher 1898 seinen ersten Band lyrischer Gedichte herausgab und so das Werk fortsetzte, das er ein Menschenalter früher begonnen hatte, mußte er nochmals ein ganzes Jahrzehnt und länger um sein Recht und um seinen Ruf als Lyriker kämpfen; aber auch diesmal lieferte seine Kunst den Beweis dafür, daß er den rechten Weg gegangen war. Und noch ein drittes Mal sollte Hardy um Anerkennung seines Dichterberufs ringen müssen: die Wessex-Novels hatten ihn als unumstrittenen Meister des Romans gezeigt; die um die Jahrhundertwende veröffentlichten Gedichte trugen ihm auch den Preis als Lyriker ein; „The Dynasts, an Epic-Drama of the War with Napoleon in three parts, nineteen acts, and 130 scenes" aber ist ein Werk, dessen riesenhafte Ausmaße erst die ganze gewaltige Gestaltungskraft des Dichters zeigen, „a work which combines as only a work of genius could combine, a poetic philosophy of the mysteries of life with minute historical knowledge and a shrewd eye for the tragical and comical ways of men and women". (The Times. Obituary. Jan. 12th, 1928.) — Seitdem 1908 der dritte und letzte Teil dieses Riesendramas erschien, hat Hardy — mit Ausnahme des Einakters „The Tragedy of the Queen of Cornwall at Tintagel in Lyonesse" — nur Lyrik geschrieben. Seine letzte Gabe war ein Gedicht, das — mehr als zwanzig Jahre früher begonnen — in der Weihnachtsausgabe 1927 der „Times" veröffentlicht wurde: „Christmas in the Elgin Room". Damit hat dieses reiche Dichterleben sein Ende erreicht. In den ersten Wochen des Jahres 1928, am 11. Januar, schied Thomas Hardy dahin, in seinem 88. Lebensjahre. Bis zum letzten Krankenlager war er ein geistig und körperlich Rüstiger und Tätiger. — Nach dem Tode seiner ersten Gattin im Jahre 1912 war der Dichter 1914 eine zweite Ehe eingegangen mit F l o r e n c e E m i l y D u g d a l e , seiner langjährigen Sekretärin, einer bekannten Verfasserin englischer Kinderbücher. In dieser feinsinnigen und allseitig interessierten Frau hat Hardy, „the youngest old man I ever knew and the cheerfullest to the last" (Dorset County Chronicle and Somersetshire Gazette, Jan . 19th, 1928), eine verständnisvolle und treue Lebensgefährtin für sein Alter gefunden. Mr. N e w m a n F l o w e r , ein Dorset-Schriftsteller, sagt darüber: „That Thomas Hardy lived to reach his 88th year, was due entirely to his wife. Nor did any of the great figures of literature ever have a finer and truer helpmate. His wife gave him that understanding 9

which makes of marriage a great companionship. And she nursed him without yielding to fatigue to the end. From the aggressive attacks of unknown admirers Florence Hardy saved her husband. She turned all these late years of his life into a summer; he was able to live at ease and unannoyed." (Dorset County Chronicle and Somersetshire Gazette. Jan. 19, 1928.) Welche Bedeutung man der Wirksamkeit Mrs. Florence Hardys in Dorchester Bekanntenkreisen beimißt, hatte ich mehrfach Gelegenheit zu erfahren. So wurde mir von wohlunterrichteter Seite gesagt, daß wir Mrs. Hardys Fürsorge und treuer Hingabe allein für die Dichtungen des letzten Jahrzehnts zu danken hätten: „We have to thank her for much, indeed, we have to thank her for all." — Mrs. F l o r e n c e H a r d y ist heute die treue Verwalterin des literarischen Nachlasses ihres Gatten. Ihre höchste Pflicht sieht sie darin, das große Erbe in dem Sinne des Dahingeschiedenen zu verwalten. Von tiefem Verständnis für das Werk und Wesen des Dichters zeugt die schlichte, sachliche Lebensbeschreibung, die Florence Hardy als die berufenste Biographin ihres Gatten verfaßt hat. Sie besteht zum großen Teil aus Tagebuchnotizen und Briefen des Dichters. S. P. B. M a i s sagt von diesem Werk, es sei in „almost every way a model of what a biography should be. It allows the subject of the memoir to be as far as possible self-revelatory. It is never trivial. It is invariably dignified . . ." (Daily Telegraph. April 29, 1930.) — Der voraufgegangene Ueberblick über Hardys Leben hat gezeigt, daß es keine aufregenden Ereignisse in dem äußeren Lebensgange des Dichters gegeben hat. Abgesehen von seiner Architektentätigkeit während der sechziger Jahre und von seinem mehrmonatlichen jährlichen Aufenthalt in London hat Hardy seine Heimatprovinz Dorset nur für kürzere Zeit verlassen, etwa zu Reisen in die verschiedensten Gegenden Englands oder auf den Kontinent. Den weitaus größten Teil seines Lebens aber verbrachte er in oder bei Dorchester, der alten römischen Hauptstadt Dorsets. Mehr als einmal ist betont worden, daß mit Hardys Tode der „last Victorian" aus dem Reiche der Literatur dahingegangen sei. Und in der Tat bildete Hardy ein starkes Band zwischen der Literatur des neunzehnten und der des zwanzigsten Jahrhunderts. Ziehen wir in Betracht, daß einer von Hardys ersten anonym veröffentlichten Romanen als ein Werk George Eliots, einer unumstritten „viktorianischen" Schriftstellerin, angesehen wurde, so könnten wir ihn wohl für einen „mid-Victorian" halten (vgl. Foreword of Late Lyrics and Earlier); dazu Bühren uns die Stoffe seiner Romane stets in die frühviktorianische, wenn nicht gar vorviktorianische Zeit zurück. Gehen wir jedoch von des Dichters Welt- und Naturanschauung aus, die sich in seinen Werken kundtut, so müssen wir gestehen, daß er eher alles andere ist als ein 10

„Viktorianer". Dies gilt für seine religiöse und philosophische Ueberzeugung sowohl als auch für seine ethischen und moralischen Anschauungen; es gilt auch für seine Naturansicht. „Hailed as the last of the Victorians, Hardy was as little inclined to the Victorian compromise and concealment as Swinburne. Born of peasant stock, he could and did write what Victorian gentlemen thought it proper to ignore or suppress." (Vernon Rendali. „Thomas Hardy. 0. M." English Review. Febr. 1928.) F ü r Hardy steht ein wissentliches Verschweigen oder gar ein Unterdrücken der Wahrheit im krassen Gegensatz zu seinem ureigensten Sein. Er ist ein Mann, „to whom truth is everything." (S. P. B. Mais. Daily Telegraph. April 29, 1930.) Hardy hat in seinen Werken allezeit den Mut zur Offenheit und zur Wahrheit gezeigt. Das bringt ihn der Dichtung und Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts weit näher als der des neunzehnten. Dadurch wird es ihm, dem Greise, möglich, die Verbindung mit den späteren Geschlechtern aufrechtzuerhalten. „Hardys greatest achievement, perhaps, was that his genius, simple and sincere, bestrode the War and kept the fairway open for the tide of a great tradition, to join with youth." (Sir Arthur Quiller-Couch. Dorset County Chronicle and Somersetshire Gazette. Jan. 19, 1928.) In diesem rückhaltlosen Erfassen und Verstehen des freieren, modernen Geistes liegt ein Teil von Hardys Größe begründet. Schon seine ersten Romane lassen eine Lebensanschauung vermissen, wie sie dem selbstsicheren, optimistischen Materialismus des Spätviktorianers eigen war. Hardy zeigt in seinem ganzen Denken eine viel tiefere, ernstere und wahrere Natur. F. L. L u c a s stellt ihn in Gegensatz zu den übrigen viktorianischen Dichtern, wenn er sagt: „It is not a dream that he seems to bring before us, but a vision; not some vista remote from the reality we live in, but a vision of that reality more vivid than our own. He does not come to create illusion, but to destroy it; indeed he makes us realize how much illusion we have to cling to in our daily life in order to go on living it at all. The truth of his poetry is ruthless: its only comfort lies in the tenderness of its sensitive imagination and the splendour of its quiet sincerity. There are moments when it makes other poetry seem frivolous. Through the pages of Hardy, I feel, one does not so much read as live" (p. 136). Was hier von Hardys Dichtungen im engeren Sinne gesagt ist, läßt sich auch auf seine Romane anwenden. Die Frage, ob Hardy ein „Viktorianer" ist, läßt sich kaum entscheiden. Wir möchten uns hier dem Urteil anschließen, das L e o n a r d W o o l f in „The Nation and Athenaeum" abgibt: „Whether Thomas Hardy was the last of the Victorians, or wether he was in the true sense of the word a Victorian at all, seems to be a matter of dispute. But it is certainly true that he 11

was the last of a dynasty, of one of the great Royal Houses of English literature. Meredith, Thackeray, Dickens, George Eliot, Charlotte Bronte, Scott, right back to Fielding, naming them, one feels at once that they belong to the same blood royal, the same race, the same tradition, . . . there can be no dispute that Hardy belonged to the blood royal, and that he was the last of his line. His novels are in the full English tradition, solid works, built about a story, in which, on the face of it, character, humour, description of scenery, criticism of life, philosophy, all have their place, but to which they are accessory. None of the leading writers of the generation or generations which followed Hardy . . . write novels in this pure tradition" (Jan. 21, 1928). F. L. Lucas sagt zum Schluß seiner Betrachtungen über Hardy: „There were giants in those (Victorian) days; and their farewell has been finely uttered by one of the greatest and last and most lovable of them all, Thomas Hardy himself" (p. 151). Versuchen wir nun die Frage zu beantworten: Worin liegt die einzigartige Größe Thomas Hardys? — so werden wir unser Augenmerk auf die Kräfte und Mächte richten müssen, die die wirksamsten und beherrschenden in seinem Leben waren. Hardy war ein Landkind. Er verbrachte den größten Teil seines langen Lebens inmitten der Natur und ihrer Schönheiten, aber auch im Bereiche der Naturgewalten und ihrer unberechenbaren Ereignisse. So kommt es, daß Hardys Kunst erwachsen ist aus der Liebe zur Natur und ihren Geschöpfen, für die er von seiner Kindheit an ein äußerst feines Empfinden und einen empfänglichen Sinn gehabt hatte. (Vgl. „Domicilium".) — Hardy steht im innigsten Verhältnis zu der Wessex-Landschaft mit ihren Hügeln und Tälern, ihren Wiesen und Wäldern, ihren kleinen und großen Tieren, und vor allem zu den Menschen, die an diese Natur gebunden sind und die aus ihr erwachsen sind, gleich ihm selbst. „Mr. Hardy has brooded over Wessex until its very soul exhales under his nostrils. He has watched the passage of the generations, the flowing away of life, time's incrustations or hollowings, as they only can be watched in some quiet provincial region. Intimacy with tangible things has been his sheet-anchor", sagt J. E. B a r t o n von dem Dichter in seinem Anhang zu L i o n e l J o h n s o n s „Art of Thomas Hardy", betiteil „The Poetry of Thomas Hardy" (p. 281), 1923. Liebe und Verständnis für die Natur haben Hardys Kunst ihre eigenartige Kraft und Größe verliehen.

12

II. Thomas

Hardy

als Naturdichter

im Lichte der Kritik.

Bei der Untersuchung von Hardys Naturansicht werden wir Abstand nehmen sowohl von seiner Lyrik als auch von seinem größten Werk, dem epischen Drama „The Dynasts". W i r werden nicht alle Romane auf ihre Naturdarstellung hin untersuchen, sondern nur die Werke, in denen die Natur eine führende Rolle spielt; hierzu gehören vor allem „ F " , „N", „ W " und „ T " (vgl. dazu H. Ufer und A. Steinbach). Seit dem Beginn von Hardys literarischer Laufbahn haben Kritiker der verschiedensten Art seine außerordentliche Beobachtungsgabe und seine Darstellungskunst in bezug auf die Natur gerühmt, obwohl die Wessex-Romane im allgemeinen mehr auf ihren ethischen und sozialen Gehalt hin geprüft worden sind als auf ihre Naturverbundenheit. Beim Lesen von Hardys Werken drängt sich uns das Gefühl auf, daß der Dichter selbst in vollkommener Harmonie mit der Natur und ihren Geschöpfen lebte. Im Laufe dieser Untersuchung soll herausgestellt werden, wie die verschiedenen Romane mehr oder weniger von einem starken Naturgefühl durchdrungen sind, und wie des Dichters Naturanschauung in den verschiedenen Landschaften und ihren Bewohnern zum Ausdruck kommt. Hardys künstlerische Eigenart liegt in seiner besonderen Weise, die Natur zu sehen und das Geschaute zu gestalten. Diese Seite seiner Kunst hat — wenn sie näher in Betracht gezogen wurde — stets Bewunderung erregt; dagegen haben seine ethischen und sozialen Ansichten den Anlaß zu heftiger Diskussion gegeben. Unter der großen Anzahl von Kritikern, englischen wie außerenglischen, die Hardys Werke gefunden haben, befassen sich diejenigen des neunzehnten Jahrhunderts nur sehr selten mit seiner Naturansicht, da die sozialen und philosophischen Probleme, die seine Werke aufwerfen, vor einem Menschenalter unbedingt im Vordergrunde standen. Im Jahre 1894 erschienen die beiden ersten Hardy-Biograpliien: 1. Lionel Johnson „The Art of Thomas Hardy", und 2. Annie Macdonell, „Thomas Hardy". Beide Biographen sind große Hardy-Enthusiasten. A. M a c d o n e l l widmet Hardy als „Painter of Nature" ein Kapitel ihres Buches; freilich bleibt sie ziemlich an der Oberfläche in der Beurteilung seiner Kunst. Sie bemüht sich zur Hauptsache, 13

die fiktiven Orte und Landschaften der Wessex-Romane geographisch festzulegen. Die Verfasserin hat insofern recht, als sie sagt: „If the mere identification of localities be but of minor interest, in the course of it there is abundant illustration of the part that scene and landscape play in Mr. Hardy's dramas, a part of much consequence to the characters, and often hardly subordinate to them" (206). L i o n e l J o h n s o n (vgl. George N. Shuster, „The Catholic Spirit in Modern English Literature", pp. 176 ff., New York. Macmillan) befaßt sich vor allem mit Hardys ethischen und sozialen Anschauungen. Seine Interpretation von Hardys Kunst ist anregend und tiefgehend. Von des Dichters Naturansicht sagt er: „What is this .Nature' of which or of whom, Mr. Hardy speaks? Is it a .Natura naturata', or a ,Natura naturans'? Is it a conscious power? or a convenient name for the whole mass of physical facts?" (232.) Johnson hat sich innig hineinversenkt in Hardys geistige Welt. Sein reifes Urteil ist um so bewundernswerter, als er erst siebenundzwanzig Jahre alt war bei der Veröffentlichung seines Buches über Hardy. Er erkennt Hardys Kunst der Darstellung seines heimatlichen Wessex wohl an; der „Naturdichter" in Hardy scheint ihm jedoch nicht das Wesentliche zu sein. Einer der ersten Kritiker Hardys, der bei der Besprechung der Wessex-Romane auch auf ihre Naturbehandlung einging, war R o b e r t S h i n d l e r („On Certain Aspects of Recent English Literature". Leipzig. Teubner. 1912). Für Shindler ist die Zeit — die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts — und der Ort der Handlung — „Wessex" — ein Charakteristikum Hardyscher Kunst. Des Dichters Treue in bezug auf topographische Gegebenheiten scheint nicht zufällig zu sein, da „places count for a good deal with Mr. Hardy, and the external aspect forms an essential part of his scheme. — His characters, the moving figures in his puppetshows, all seem only to form one picture with the scenes in which they play their parts — to belong to outside nature, just as much as any tree or stream or hill. This gives a sense of artistic unity to Mr. Hardy's works; they all have the same atmosphere, and all are suffused with the same light." Im allgemeinen ist jedoch auch Shindler mehr interessiert an Hardys ethischen und sozialen Anschauungen als an seiner Art der Naturansicht. In der deutschen Kritik findet Thomas Hardy kaum Beachtung vor dem Erscheinen von „T" oder gar erst nach der Veröffentlichung von „ J " , d. h. in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch dann werden meistens nur seine moralischen und sozialen Ansichten besprochen, da sie die Menschen jener Zeit am meisten interessieren. A n n a B r u n n e m a n n , Dresden, weist zu Anfang des neuen Jahrhunderts zuerst auf Hardys enge Naturverbundenheit hin 14

(„Gegenwart" Nr. 19. 1902). Sie hat des Dichters eigenartige Größe ganz erfaßt, wenn sie von ihm sagt, er blicke „tief in die freie Gottesnatur und in die Menschennatur hinein und schildert beide, wie sie die träumerischen Niederungen des alten Königreichs Wessex darbieten. Er entrollt landschaftliche Bilder nicht mit der bloßen Liebe eines schwärmerischen Naturfreundes, sondern er ist mit der Natur seiner Heimat gleichsam verwachsen; sie ist ihm nahe zu allen Stunden und Jahreszeiten, in allen ihren Aeußerungen, und so, wie sie ihm nahe ist, verwebt er sie unzertrennlich mit der Natur seiner Menschen . . . Freude am Leben und Freude an der Natur bricht bei Thomas Hardys Geschöpfen mehr als einmal durch mit der frohen Ursprünglichkeit von Menschen, die mit der Natur verwachsen sind . . . So kämpfen Trübsinn und Frohsinn miteinander bei Thomas Hardy; düster wird seine Stimmung, wenn er den Blick auf die grausamen Widersprüche des Menschendaseins richtet, befreiend und erlösend wirkt auf ihn ein begeisterter Blick in die hehre Gottesnatur." Die übrige Menge der Hardy-Kritiker — R i c h a r d T a u f k i r c h zählt ihrer 1912 schon einhundertdreiundsiebzig auf in seiner Dissertation „Die Romankunst von Thomas Hardy" — beachten diese uns so wichtig erscheinende Seite von Hardys Kunst zunächst noch wenig. Erst F. A. H e d g c o c k in seiner Pariser Dissertation „Thomas Hardy, Penseur et Artiste" (1910) geht näher darauf ein. Schon Lionel Johnsons Werk über Hardy zeugt von Verständnis und Liebe für Hardys Schaffen. Doch dter Kritiker von 1894 hatte in mancher Beziehung noch nicht den notwendigen Abstand von seinem Gegenstand, den Hedgcock 1910 haben konnte. So kommt es, daß Hedgcocks Werk als Ganzes von größerer Bedeutung ist als die ältere Biographie, wenngleich sich in der französischen Dissertation durch die — zum mindesten sehr eigenwilligen — Ausführungen allerlei Irrtümer, besonders in bezug auf des Dichters Persönlichkeit, in die Hardy-Literatur eingeschlichen haben. Hardy selbst hat sich ganz energisch gegen manche unrichtigen Behauptungen von Hedgcocks Seite aus gewehrt. Wir geben hier, um dem Dichter nach Möglichkeit gerecht zu werden, einen Auszug wieder aus den „Talks with Thomas Hardy at Max Gate" (1920—22) von V e r e H. C o l l i n s . Der greise Dichter sagt da (p. 72 ff.): „I have no objection to legitimate literary criticism of my works, favourable or otherwise, but Mr. Hedgcock is contiunally drawing on the novels for description of my character. His dissection would not be in good taste while I am still alive, even if it were true" (72) . . . „Why are people not more careful in deducing biographical and semibiographical facts from an author's books? People used 15

to say that David Copperfield was Dickens. He was not. Mr. Hedgcock's besetting fault of getting behind the novels of the writer leads to numerous inaccuracies. Thus he says that I was brought up to speak the local dialect. I did not speak it. I knew it, but it was not spoken at home. My mother only used it when speaking to the cottagers, and my father when speaking to his workmen. The account of my education is full of errors. It is stated that I was educated at an elementary school and was deprived of a classical training. I was only at an elementary school for a year or two, till I was ten, and I learnt Latin at school from my twelfth year. Again, he says I learnt the classics by correspondence — deluded by his false identification of me with Smith in „A Pair of Blue Eyes": The same source of error leads to the ascription to myself of the disgust felt for architecture by a character in „Desperate Remedies". At other times in his desire to give biographical details he simply invents. He gives the impression that I lived all my life in Dorset, except short absences now and then to the Continent and elsewhere. For about thirty years I spent three or four months every year in London. All the false deductions in this chapter would be impertinent and unmannerly about a living writer even if they were not false. When he comes to Smith he makes some of his worst mistakes — one unwarranted assumption after another. The description of his appearance is not at all like what I was" (74) . . . „I cannot understand how he could print such stuff . . . I should not have been so conceited as to make myself the prototype" (75). Diese starke Sprache zeigt, wie empfindlich Hardy gegen jede Einmischung in seine persönlichen Angelegenheiten war, noch dazu, wenn sie von unrichtigen Voraussetzungen ausgingen. Dieses Sicheinmischen in des Dichters persönliche Verhältnisse von unberufener Seite beklagte auch Mrs. Hardy mir gegenüber sehr lebhaft. Wenn wir Hardy hier so ausführlich sprechen ließen, so geschah es, um zu zeigen, wie gefährlich es ist, einen Dichter auf diese von Hedgcock und vielen anderen geübte Art zu „interpretieren". Trotz allem hat aber Hedgcocks Werk seine Verdienste. Er erkennt schon der Natur in Hardys Werken eine führende Rolle zu. „La ligne de progression est indiquée par l'emploi qu'il fait de la nature dans ses livres. Dans la première période elle est un auxiliaire de la force mystérieuse qui baigne les personnages; elle aide par son intervention à contrecarrer leurs desseins; son pouvoir leur barre le chemin au moment critique, et interpose un obstacle infranchissable à leur marche; elle les enferme dans un labyrinthe d'où ils ne peuvent sortir; ses combinaisons tendent à les acculer à une 16

impasse. L'auteur semble l'animer de son propre fatalisme. Il la personnifie; et par là il se montre un vrai primitif. C'est dans ce pouvoir de suggérer la force mystérieuse des choses inanimées qu'il se distinguent absolument de tous les autres romanciers. Plut tard la nature devient un simple réactif; un excitant, poussant l'homme par ses impressions sur les sens, avec—comme dit M. Hardy — ,une ruse de renard', à accomplir ses desseins, malgré la résistance de l'intelligence et de l'intérêt; à mesure que l'auteur s'adapte à la pensée de son époque, cette nature se dépersonnalise et se transforme en l'influence, physique et morale, du milieu. Enfin, elle disparaît de la scène; et si, dans ,Jude the Obscure', on cherche ces forces naturelles qui autrefois jouaient un rôle si important dans „The Return of the Native", on voit qu'elles se sont retirées d'ans le coeur des personnages, pour devenir des .vices du caractère ou des prédispositions héréditaires', et que la lutte est à présent toute moderne: l'homme contre les forces intérieures, l'homme en révolte contre les lois imposées par ses semblables" (Hedgc. 181/2). Wir können uns nicht in allen Punkten Hedgcocks sicherlich sehr fein durchdachten Ausführungen anschließen. Vor allem scheint uns der Verfasser da zu weit zu gehen, wo er — um Hardys künstlerische Entwicklungslinie als Naturdichter zu verfolgen — ein Schema aufstellt, in dem er den verschiedenen Romanen ihren Platz anweist. Das scheint uns eine gewaltsam zurechtgestutzte Art der Untersuchung, der wir nicht zu folgen vermögen. — Obwohl Hedgcock das Uebertriebene seiner Behauptung fühlt, so glaubt er doch, in Hardys künstlerischer Entwicklung eine Verminderung seiner Eigenart feststellen zu können, entsprechend dem zunehmenden Verlust seiner „force païenne, primitive, barbare, qu'il avait respirée dans les bois du Dorset." Hedgcock zeichnet Hardys Weg als Romandichter folgendermaßen: „Dans la vivacité de ,Under the Greenwood-Tree', on voit en germe toute la force poétique de l'oeuvre; et, en même temps, dans la petite note d'ironie de ce roman, on voit la première indication du mal rongeur qui va abîmer le fruit. Dans „The Return of the Native", M. Hardy apparaît maître de son art, dont la beauté tragique est rehaussée par les sombres nuages du pessimisme qui entourent la scène. Dans ,Tess', les plaintes deviennent plus aiguës, l'irritation personnelle de l'écrivain s'introduit dans l'oeuvre. Dans .Jude'1, les idées noires qui surchargent son pinceau, nuisent à la clarté et à la netteté de la peinture" (273). 1

In Hardys letzten Romanen („T" und „J") glaubt Hedgcock viel zu finden, was des Dichters Kunst im übrigen fremd sei. Und sicherlich enthalten „T" und noch mehr „J" Elemente, die wir in Hardys übrigen Romanen nicht finden. Hier soll nichts über den künstlerischen Wert dieser Werke gesagt werden, nur so viel möchten wir feststellen, daß Hardy selbst

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W o h l nimmt „ J " in der Reihe von Hardys Werken einen besonderen Platz ein, aber für das hier zur Untersuchung stehende Problem — das der Naturansicht des Dichters — scheint uns gerade dieser Roman von geringster Bedeutung, was auch immer der Dichter selbst von „J" gehalten haben mag 2 . Mit Hardys Leben hat dieser Roman jedenfalls am wenigsten von allen zu tun (vgl. L i f e II, 196). In bezug auf die Natur in „ J " möchten wir mit S. C. C h e w sagen, „Nature gradually disappears from the field of Hardy's interest — in ,Jude' entirely so" (107), weil dort ethische und soziale Probleme im Vordergründe stehen. Hedgcocks W e r k hat auf Jahre hinaus richtunggebend auf die Hardy-Forschung gewirkt. Er hat zuerst in ausgedehnterem Maße Hardys Naturverbundenheit als einen wesentlichen Faktor seiner Kunst betont. Seitdem hat die Kritik diesem Element in Hardys Werken mehr und mehr Aufmerksamkeit geschenkt. So schreibt F i r m i n R o z in „ L e Roman Anglais Contemporain" (Paris 1912) mit Bezug auf Hardy: „Nous n'avons point l'impression d'avoir lu les livres, mais d'avoir passé des jours dans ce pays, des jours qui nous laisseront un éternel souvenir . . . M. Hardy est trop profondément original pour qu'on puisse caractériser ses descriptions par des analogies. On ne donnerait mieux l'idée en disant qu'il connaît la nature comme un paysan, la voit comme un artiste, la traduit comme un poète. Pas un détail de la vie des saisons, pas une heure du jour qui n'ait trouvé en lui un interprète et où il n'ait mêlé l'âme de ses héros" (104/5). Die Arbeiten von L a s c e l l e s A b e r c r o m b i e , „Thomas Hardy: A Critical Study" (London 1912), und von A r t h u r S y m o n s, „ A Study of Thomas Hardy" (London 1927), sollen hier erwähnt werden, nicht wegen ihrer besonderen Stellungnahme zu Hardys Naturbehandlung, sondern weil sie zu den wenigen englischen Büchern gehören, die nicht an den äußeren Gegebenheiten der Wessex-Romane haften bleiben, sondern den Dichter in seiner ganzen Wesenheit zu erfassen suchen. H. G. D u f f i n veröffentlichte 1916 eine Arbeit über Thomas Hardy, von deren zwei Hauptteilen — 1. The Art of Hardy und 2. T h e Philosophy of Hardy — sich der erste auch mit Hardys Verhältnis zur Natur näher befaßt in dem Kapitel: „Nature and the Lower Animais". Duffin führt aus, daß eine beständige P e r „ J " f ü r den größten seiner Romane hielt — jedenfalls zur Zeit seiner Entstehung. E i n deutscher Kritiker jener Tage berichtet aus einem Gespräch mit H a r d y dessen W o r t e : „Jude the Obscure" ist ein Versuch, einer Reihe von Meinungen oder persönlichen Eindrücken F o r m und Zusammenhang zu geben . . . Ich gestehe Ihnen offen, daß ich das Buch mit meinem Herzblut geschrieben habe." (H. Linne. Ein Besuch bei Thomas Hardy. „Die Gegenwart", Nr. 20 — 1896.) 1 „When I am dead the only one of my novels that will be read is ,Jude the Obscure'." (Daily Mail, Jan. 12th, 1928.)

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sonifizierung der Natur und aller ihrer Erscheinungen vor sich gehe; Hardy sei jedoch „always aware that the human attributes of Nature are imaginative endowments or emanations from his own consciousness; he knows that in himself alone does Nature live. He is caught by the analogies between Nature and Man, and he gives them temporary reality, but he never believes that these impressions are manifestations of the actual truth" (66). „His landscapes have a ,bare sheer penetrating power', a freshness and clearness achieved by a few well-chosen words and resulting from close and vivid1 observation" (67). Ganz besonders treffend schildert Duffin Hardys Auffassung und Gestaltung der Heide: „Without doubt it lives; Egdon has a colossal human existence. It is untamable, Ishmaelitish. At night 7 fall it wakes to a watchful intentness. It is vocal with a tone as weird as the sea's own: a worn whisper, dry and papery, the ruins of a song; a voice that varies with intelligent differentiation according to the character of the various parts of the heath — acoustic pictures are returned from the darkened scenery. It stubbornly asserts its privileges against cultivation, and drives back the despairing tillage from its barbaric soil" (58). Die Nachkriegszeit hat eine ganze Reihe größerer und kleinerer Arbeiten über Hardy und seine Kunst hervorgebracht; sie bezeugen größtenteils ein eingehendes Studium dieses Dichters. Vor allem ist Hardys Philosophie von den verschiedensten Seiten her beleuchtet worden. „The Dynasts" einerseits und die „Poems" andererseits sind im Verein mit den Romanen Gegenstand einiger ausgezeichneter Arbeiten. Freilich steht bei den meisten Kritikern Hardys Naturansicht im Hintergrunde. M a d e l a i n e L. C a z a m i a n geht in ihrem Werke „Le Roman et les Idées en Angleterre" (Straßburg 1923) besonders auf Hardys „Pessimismus" näher ein. Einzig die Natur bringt einen Lichtstrahl in dieses Dunkel: „Dans le tableau désolé qu'il (Hardy) a donné du monde, il a laissé filtrer quelque clarté sur ceux qui obéissent passivement à la tradition, et vivent au sein de la nature" (373). Dieses Bild ist sicherlich zu schwarz, aber es ist etwas Wahres daran. Ebenso spricht L. C a z a m i a n von Hardys „Pessimismus", den er ,,1'arôme de son admirable poésie de la nature" nennt. (E. Légouis et L. Cazamian, Histoire de la Littérature Anglaise. Paris 1924. p. 1180). Hardys Verwandtschaft mit Schopenhauer versuchen nachzuweisen zwei Bonner Dissertationen von 1919: 1. H e r t a K o r t e n : „Thomas Hardys Napoleonsdichtung „The Dynasts". Ihre Abhängigkeit von Schopenhauer. Ihr Einfluß auf Gerhart Hauptmann". 2. A g n e s S t e i n b a c h : „Thomas Hardy und Schopenhauer". Für die feindurchdachten Ausführungen von H. Korten, die allerdings in manchen Punkten zu weit gehen, sei hingewiesen 19

auf die Rezension der Arbeit von H. H e c h t , Engl. Studien 51. A. Steinbach behandelt im dritten Kapitel ihrer Arbeit Hardys Naturphilosophie. Ihre Untersuchung faßt sie zusammen mit folgenden Worten: „Die drei Romane („F", ,,N' und „W"), in denen Hardy seine Naturauffassung niedergelegt hat, zeigen also eine deutliche Entwicklung zu Schopenhauer hin, bis in Return N. und Woodl. die volle Uebereinstimmung erreicht ist" (Palaestra 148, p. 459). Hardy hat sich von jeher dagegen gesträubt, als „Pessimist" bezeichnet zu werden; vgl. Life II, 91 und Life II, 208; dazu Life II, 219 „I have no philosophy", und Life II, 83, wo er zum Ausdruck bringt, daß er sich mehr als Dichter denn als Denker fühlt; vgl. auch Vorwort von „Late Lyrics and Earlier". Immer wieder weisen kritische Beurteiler von Hardys Weltanschauung auf seine Verbundenheit mit, ja, auf seine „Abhängigkeit" von dem deutschen Philosophen hin. Hardys eigene Aeußerungen wie die seines Freundes E d m u n d G o s s e darüber haben wenig Beachtung gefunden. Schon 1909 schreibt Gosse an Hedgcock: „. . . M. Hardy n'admet pas que Schopenhauer ait exercé une influence sur son oeuvre. Pour moi-même, je peux vous dire que je connais intimement M. Hardy depuis 35 ans. En 1874, ni lui ni moi ne connaissions aucunement Schopenhauer. Je doute que nous ayons rencontré même son nom. Les idées qui ont depuis inspiré les livres de M. Hardy existaient déjà dans son esprit et se montraient dans sa conversation; elles étaient un résultat du tempérament et de l'observation plutôt que d'une influence . . ." (Hedgcock 499.) Daß Hardys Gedankengänge sich zuweilen in Schopenhauer schen Bahnen bewegen, ist zur Genüge erwiesen worden. Wir glauben, dem englischen Dichter jedoch eher gerecht zu werden, wenn wir seine Art und Weise, Welt und Menschen zu sehen, als eine seiner Persönlichkeit entsprechende Welt- und Lebensanschauung bezeichnen, ohne von „Beeinflussung" oder „Abhängigkeit" zu sprechen, zumal Hardy in vielen Punkten anders denkt als Schopenhauer. Wir wollen hier die Frage offen lassen, ob Hardy, wie viele seiner Kritiker behaupten, „Pessimist" ist, oder ob sein Werk und sein Leben nur von dem Geiste tiefernster, deterministischer, ja fatalistischer Philosophie durchzogen ist. Er selbst bezeichnet sich als „meliorist" (Life II, 190). — E r n e s t B r e n n e c k e weist in seiner Studie „Thomas Hardy's Universe" (London 1923) darauf hin, daß in Hardys Gedankenwelt im Grunde die äußere Natur mit der des Menschen übereinstimme. „As early as the writing of ,The Return of the Native'3 he 5

Wir sind der Meinung, daß Spuren dieser Vermenschlichung der Natur sich schon finden in „B" (Abenteuer an der Klippe) und „F" (Feuer).

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had shown his fondness for endowing even inanimate objects with Personalities and making them as essential parts of his stories as the human agents. Nature with Hardy is not an exterior influence, such as Wordsworth's beneficent Nature, but is an inherent condilion, itself governed by the same forces that sway the destinies of mankind" (67(8). Das letzte Jahrzehnt weist drei deutsche Dissertationen auf, die sich mit Hardys Stellung zur Natur befassen. Wir gehen auf diese Arbeiten etwas näher ein, da sie sich mit dem hier zur. Untersuchung stehenden Problem eingehender beschäftigen. 1. O. K. M ü 11 e r, „Das Naturgefühl bei Thomas Hardy". Jena. Dissertation 1923. Manuskript. 2. M a x S a l o m o n , „Zur Naturbehandlung in Thomas Hardys Romanen". Gießen. Dissertation 1925. 3. H a n n a U f e r , „lieber die kompositioneile Bedeutung der Natur bei Thomas Hardy". Marburg. Dissertation 1930. O. K. M ü l l e r behandelt sein Thema vom psychologischen Standpunkt aus. Im ersten Teil seiner Arbeit will er die Zwiespältigkeit in den Sinnesorganen zeigen; dabei unterscheidet er Urinstinkte und moderne Verfeinerungen. Die polaren Gegensätze des zweiten Teils bilden Fetischismus und die „Ekstase des immanenten Willens". Nach Müller erklärt sich der „metaphysische Schmerz" Hardys durch das Bestreben, die primitive und moderne Polarität auszugleichen. Er glaubt, Hardys trübe Lebensauffassung werde begünstigt durch eine große Empfindlichkeit, durch den nachhaltigen Eindruck von „Wessex mit einsamen Wäldern, bedrückenden Ebenen, wehmütigen geschichtlichen Denkmälern, mit Nachbarschaft fronender Tagelöhner, mit traurigen Liebeserinnerungen" (gedruckter Auszug aus der Dissertation). Hier hat der Verfasser entschieden zu schwarz gesehen. — Wir glauben gewiß an eine außerordentliche Sensibilität des Dichters, und alle, die je mit ihm in Berührung kamen, bestätigen uns diese Ansicht. Aber wir möchten hier vielmehr von einer sehr großen Feinfühligkeit als von Empfindlichkeit sprechen. Uns scheint diese Eigenschaft ein Vorzug zu sein in bezug auf Hardys feines und inniges Naturverständnis. Wie wäre es dem Dichter möglich gewesen, ohne diese geniale Begabung die feinsten Saiten des Naturgeschehens und des Naturerlebens zum Schwingen zu bringen? Hardys Aufenthalt in und sein Verkehr mit der heimatlichen Natur ist ihm jederzeit Freude und Erhebung gewesen; trübe und mißmutig stimmte ihn nur die zunehmende Landflucht und das wachsende Elend der Großstädte. Wer einmal Wessex durchstreift hat mit seinen — im Vergleich zu den unseren — lichten Wäldern, mit seinen Ebenen, die 21

von sanften Hügelzügen und freundlichen Bächen durchzogen sind, der kann nicht glauben, daß ein Naturdichter wie Hardy sich durch diese anmutige Landschaft hat trübe und traurig stimmen lassen; vielmehr hat der Dichter, dem das Leben in der Natur schon früh zum Bedürfnis wurde, aus ihr immer wieder Erfrischung und Erquickung geschöpft. Anders mag es Hardy mit den geschichtlichen Denkmälern seiner Heimat ergangen sein. Hier hat die Phantasie den eifrigen Historiker und Archäologen Hardy gewiß oft in die Vergangenheit zurückgeführt. Und hier mag den Sohn des alten Wessex-Landes zuweilen ein wehmütiges Gefühl gepackt haben, wenn er an vergangene Zeiten dachte, die über seine Heimat dahingegangen sind. Wohl kaum eine andere englische Landschaft ist so reich an jahrhunderte-, ja, jahrtausendealten Denkmälern wie Hardys engere Heimat Wessex. Poesie und Prosa des Dichters zeugen von den vielen Stunden, die er dem Leben und der wechselvollen Geschichte dieses Landstriches gewidmet hat. Des Dichters Phantasie bevölkert da die vorgeschichtlichen britischen Erdwälle oder zeigt uns das uralte Stonehenge in seiner fast mystischen Existenz; sie läßt vor uns die Römerlager erstehen und die römischen Legionen die alten Heerstraßen wandern. Mit dem Dichter sehen wir, wie die Sachsen festen Fuß fassen auf britischer Erde, und wie ihre festländische Kultur hier tiefe Wurzeln schlägt. Corfe und die Ruinen von Corfe Castle, das schon Wilhelm der Eroberer baute, erzählen eine lange Geschichte. Hardys Phantasie weiß uns die längstvergangenen Zeiten so gegenwartsnah vorzuführen, daß wir meinen, zwischen dem elften und dem zwanzigsten Jahrhundert liege nur eine kurze Zeitspanne, nicht genug, um ein Geschlecht aussterben oder in Vergessenheit geraten zu lassen. Ist dies schon der Fall bei den mittelalterlichen Ereignissen, die immer mitschwingen im Unterbewußtsein von Hardys Kunst, so trifft das noch mehr zu für die neuere Zeit. Von den Tagen der Rosenkriege bis in die Napoleonische Zeit ist Wessex häufig der Tummelplatz gewesen, wo große und kleine politische Fehden ausgefochten wurden. Cavaliers und Roundheads mit Karl I. und Cromwell an der Spitze erfochten hier Siege und erlitten Niederlagen. — Seine letzte Glanzzeit aber erlebte das Land unter Georg III., der Weymouth — Hardys „Budmouth Regis" — zu seiner Sommerresidenz machte und damit der im politischen Leben mehr und mehr beiseite gedrängten Landschaft noch einmal Glanz und Bedeutimg verschaffte4. Was den Einfluß der „fronenden Tagelöhner", wie Müller sie nennt, auf Hardys Lebensanschauung ausmacht, so können wir nur der Ueberzeugung Ausdruck geben, daß der Dichter uns jedes* Einen kurzen geschichtlichen Ueberblick über „Dorset's Place in History" gibt Major H. O. Lock in „Dorset". (London 1925.)

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mal freudig bewegt erscheint, wenn ihm Gelegenheit geboten wird, von seinem lieben „Hodge" zu sprechen. Die Wessex-Bauern erscheinen uns weder in Hardys Dichtungen noch im Leben als „fronend". Selbst Tess in Flintcomb-Ash und Marty South bei ihrer täglichen schweren Arbeit sind unserer Meinung nach eher als freie denn als fronende Menschen anzusprechen. Die ärmsten und bedürfnislosesten unter Hardys Gestalten erscheinen uns bei aller Arbeit — ob auf eigenem Grund und Boden oder im Dienste des Gutsherrn — als eigenwüchsige, mit der Scholle verwachsene Persönlichkeiten. Als Urbild seiner Charaktere steht dem Dichter doch stets der altsächsische Bauer vor Augen, der auch selbst bei der Arbeit für andere noch keine „Fronarbeit" leistet. Die stetig zunehmende Landflucht freilich läßt aus dem ursprünglich freien Bauern einen mechanisch arbeitenden Tagelöhner werden, der im Getriebe der Großstadt alle eigene Kultur verliert. Hardy hat mehr als einmal beklagt, daß aus dem einstigen seßhaften „livier" oder „copyholder", der etwa einem Erbpächter zu vergleichen ist, ein „freizügiger", d. h. nicht mehr bodenständiger Arbeiter, in Stadt oder Land, geworden ist. Hier mag „A Talk with Mr. Thomas Hardy" wiedergegeben werden, veröffentlicht in der „Pall Mall Gazette" (2. Januar 1892), in dem es heißt: „All I (Hardy) know about Dorset labourers I gathered from living in the country as a child and from thoroughly knowing their dialect. You cannot get at the labourer otherwise. Dialect is the only pass-key to anything like intimacy. In these parts the deadly dulness of village life is owing to the fact that „liviers" — people who held small copy-holds for generations — are dying out. These people were not labourers, but small mechanics, little shop-keepers, who were the centre of village life. Nowadays the people are all weekly tenants of the landlord, who take no interest in the place, who are not self-centred in any possible respect . . . The young labourer is as happy as any man — the happiest in the community indeed . . . The labouring classes are being roused by education to a marvellous extent. But the workmen are not as able-bodied as they were. At present education is inclined to make them discontented; they are in a transition stage". Wenn Hardy auch wohl die sozialen Uebelstände unter der Landbevölkerung nicht verkennt, so sieht er in diesem Zustand doch mehr ein Uebergangsstadium, als daß seine ganze Lebensund Weltanschauung von diesen Umständen hätte beeinflußt oder gar getrübt werden können. W i e er die Landbevölkerung in bezug auf ihre politische und soziale Bedeutung einschätzte, zeigen folgende Worte, die demselben Artikel aus der „Pall Mall Gazette" (2. Januar 1892) entstammen: „They (the peasants) must be (a coming force in politics), by force of numbers, quantity rather than quality, I fear, at present. With most of them it is a matter of 23

feeling rather than principle. If they meet with a man they can trust, they trust him in all things, delivering over their political consciences into his keeping. They are becoming more worldly wise. They migrate every year, go from village to village. Their women are chaste and are not wantonly inclined. Their great dissipation consists in the Saturdays' night jaunt to the markettowns . . . They love their penny paper, but it is the serial rather than political news that they read. They are keenly interested in fiction and romance, much more so than the upper classes . . . He (the labourer) has plenty of character, and there are many representatives of the ancient Romans and Normans among them." So spricht man nicht von Menschen, deren soziale Lage man als fronend, als menschenunwürdig, erkannt hat. Aus diesen Zeilen, wie aus vielen anderen in den Wessex-Romanen, treten uns Menschen von schlichter Charakterfestigkeit und einfacher Unbekümmertheit entgegen, wenngleich Hardy sich dessen wohl bewußt ist, daß der Weg, den die Landbevölkerung in der neueren Zeit geht, ihrer Bodenständigkeit und ihrem Gedeihen nicht förderlich ist. — M a x S a l o m o n geht in seiner Arbeit „Zur Naturbehandlung in Thomas Hardys Romanen" von dem Bestreben aus, „Hardys Verhältnis einer eingehenden und systematischen Untersuchung zu unterwerfen. Dabei wurde der Verfasser von dem Gedanken geleitet, Hardys Naturschilderungen als Glied seiner technischen Komposition zu erfassen, also zu zeigen, welche Bedeutung sie im Rahmen seines dichterischen Schaffens haben" (8). — Salomon versucht, seinem Vorhaben in zwei Hauptteilen gerecht zu werden: 1. Hardys Naturgefühl und seine Aeußerungsformen; 2. Zweck der Naturschilderungen. Aufweisung der Beziehungen zwischen Natur und Mensch. Im einzelnen bietet die Arbeit dem Hardy-Kenner manchen Angriffspunkt; nicht immer sind die Situationen und Charaktere richtig gesehen. — Der Wert der Dissertation aber liegt für uns darin, daß der Verfasser ganz bewußt auf Thomas Hardys Naturverbundenheit hinweist, auf seine Erforschung der heimatlichen Scholle, auf seine Durchdringung des heimatlichen Wesens, in dem er „den ewig sprudelnden Quell für neues dichterisches Schaffen" (6) findet. Hardys Hinneigung zum Einfachen und Ländlichen, seine Abkehr von allem Ueberzivilisierten und Unnatürlichen wird hervorgehoben. Salomon vollzieht eine Scheidung zwischen der belebten und unbelebten Natur, zwischen Naturbeseelung und Naturbelebung. Hierin finden sich z. T. recht gute Gedanken. Auf die Darstellung des Deskriptiven aber verzichtet er ganz bewußt, weil er den Hauptwert von Hardys Naturschilde24

rungen in der Absicht des Dichters sieht, die er mit dem Deskriptiven verbindet. „Ueber die kompositioneile Bedeutung der Natur bei Thomas Hardy" handelt auch H a n n a U f e r. Es ist ihr darum zu tun, die zwischen Mensch und Natur bestehenden Beziehungen in Hardys Romanen aufzuweisen, und zwar untersucht sie „durch genaue Einzelinterpretationen aller in Betracht kommenden Züge innerhalb je eines Romans die spezifische Rolle, die die Natur jeweils in diesem betreffenden Roman spielt". Die Ausführungen zeigen feines Verständnis für die Eigenart Hardyscher Kunst, das auf einem eingehenden Studium von Land und Leuten an Ort und Stelle beruht. Näher untersucht werden die drei Romane „F", „N" und „T"5. Mit dieser Auswahl hat die Verfasserin einen glücklichen Griff in die Fülle Hardyscher Romangestaltung getan. An „F" wird gezeigt, wie 1. „realistische Natur als Stoff des Romans" erscheint; 2. „Naturverwendung von dem Gesichtspunkt der Handlung aus" benutzt wird. Die Verfasserin hat recht, wenn sie betont, „F" stehe auf realistischer Grundlage; und sicherlich herrscht hier bei dem Dichter eine impressionistische Grundhaltung vor, „die das bunte und lebendige Geschehen der Natur als eine Wesenheit von eigenem Wert und eigener Einwirkungsmöglichkeit anerkennt und als solche auf sich wirken läßt" (8—9). — Besonders hervorgehoben wird die kompositionelle Verwendung der Naturschilderungen in „F". Die Natur dient als Leitfaden, an dem sich die Handlung abwickelt. — An „N" wird zunächst der „Gesamtcharakter des Romans" einer Untersuchung unterzogen; dann wird die „Natur in Gestalt der Heide als .Atmosphäre'" gezeigt, und endlich wird „die NaturMensch-Beziehung in ,Return' als ästhetisches Prinzip des Romans" herausgearbeitet. Gegenüber der Handlungsfülle in „F" empfindet die Verfasserin „N" geradezu als den Roman des „Nichtstuns" (19). Sie hat recht in dem Urteil: „Nicht auf dem äußeren Tun und Geschehen liegt hier das Schwergewicht, sondern auf dem Innenleben der einzelnen Personen, nicht auf dem, was sie tun, sondern darauf, wie sie erleben, also auf seelischen Faktoren" (19). — Wenn von der Darstellung der Heide in „N" gesagt wird, sie klinge „stark an das Romantische" an (17), so können wir dem Urteil allerdings nicht zustimmen. s

H. Ufer zitiert nicht, wie sie angibt, nach der Wessex Edition (1912), sondern nach der Pocket Edition (1906 ff.).

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Das hier herangezogene Stevensonsche Wort: „You may take a certain atmosphere and get action and persons to express and realize it", hat unserer Meinung nach nicht nur in „N" Anwendung gefunden. Die „Atmosphäre" macht das Wesen aller „Natur"Romane Hardys aus, sei es „G" oder „F", „N" oder „W". Wie die Heide der Träger der Atmosphäre in „N" ist, so der Wald in „W", so Feld und Flur in „F" und in großen Teilen von „T"; nur daß die Heide uns gewaltiger, aktiver entgegentritt als die übrigen Landschaften. Die Ausführungen über „die Natur-Mensch-Beziehung in .Return' " (32 ff.) sind mit tiefem Verständnis für Hardys Kunst und Gestaltungskraft geschrieben worden, wenngleich wir bei der Untersuchung dieser Frage zu einer Reihe anderer Urteile gekommen sind. Wir glauben, daß H. Ufer durch ihre Schematisierung, die im wesentlichen auf Thesis, Antithesis und Synthesis hinausläuft, allzu stark eingeengt worden ist und daher z. T. zu Endergebnissen kommt, die wir nicht für richtunggebend anerkennen können. Als die drei Grundtypen in „N" gelten der Verfasserin: Thomasin Eustacia Clym Stellung zur Natur

„naiv"

Verhältnis von Natur und Geist

Einheit

Gespaltenheit

Streben zur Einheit

Darstellung im Roman

in Bildern

in Gegensätzen

in Entwicklung

Stellung im Aufbau

Thesis

Antithesis

Synthesis

Tendenz ihres Wesens

Nalur

Dämonie

Logos. (68.)



„sentimentalisch"

Neben diesen drei Charakteren erfährt Mrs. Yeobright eine gesonderte Behandlung, auf die wir weiter unten eingehen werden. — Aber kann man bei eingehender Besprechung der NaturMensch-Beziehungen in „N" an Diggory Venn, dem „spirit" der Heide, mit einem kurzen Satze vorübergehen? „Diggory Venn entspricht in vielen dem Typ Thomasins" (64). — Was wäre Egdon Heath ohne den Reddleman? — Weder mit Bezug auf ihn noch auf die übrigen Personen, z. B. Wild'eve, scheint uns das aufgestellte Schema befriedigend — abgesehen von Mrs. Yeobright. Diese Art der Einteilung beweist u. E. zur Genüge, daß Hardys Charaktere sich nicht schematisch in einen Rahmen spannen lassen. Läßt man Thomasins Einordnung in das hier gegebene Schema auch noch gelten, so ist es schon schwieriger, Eustacia ihm 26

anzupassen. Der Gegensatz von „innerer Dynamik" (in Eustacia) und1 „UnVeränderlichkeit der Heide" (45) scheint nicht unanfechtbar; noch mehr aber reizt zum Widerspruch die Bezeichnung der Tendenz ihres Wesens als „Dämonie". — Unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkt, als es hier geschieht, sehen wir auch die Gestalt Clyms. Wenn H. Ufer nachzuweisen versucht, daß Glym 1. eintaucht in die Natur, d. h. sich in sie hineinversenkt (50), 2. sich im Gegensatz fühlt zu der Natur (52), und 3. Trost findet durch ein Erleben der Vergangenheit der Heide „mit Beziehung auf menschliches Dasein" (54), und dieses als Lösung betrachtet, „die der Eigentümlichkeit von Glyms Wesen durchaus entspricht und die Einheit des Gesamtwerkes in schöner, strenger Geschlossenheit wahrt", so wird sich niemand der ersteren Erkenntnis widersetzen, während wir den beiden letzteren nicht zustimmen können. Nach den harten Schicksalsschlägen, die Clym getroffen haben, gibt es für ihn tatsächlich eine Zeit, „in der die Natur ihm keine Antwort gibt, in der sie ihm in absoluter Anteilnahmlosigkeit gegenübersteht" (52), aber das können wir nicht als „Gegensatz" ansehen, in den er sich zur Natur setzt und setzen will. Das hier (53) von H. Ufer zitierte Wort Clyms „If He (God) would only strike me with more pain I would believe in Him for ever" (N 369) scheint uns einfach der Ausfluß eines von Gewissensqualen gepeinigten Gemütes, dem in diesem ersten bitteren Schmerz um den Tod der unversöhnten Mutter weder irgendein Mensch noch die ihm vertraute Natur Linderung gewähren kann. — Daß in solch schweren Zeiten dem Menschen kein Trost von außen werden kann — ob von den Mitmenschen, von der Seite der Natur oder der Kunst — ist eine allgemeine Erfahrung, die Clym in gesteigertem Maße an sich erlebt, da er sich für mitschuldig an dem Tode der Mutter — wie später dem der Gattin — hält (N 449). Daß Clyms Verhalten auch jetzt noch die gleichen Grundzüge aufweist, wie vorher, erkennt auch H. Ufer an, nur sieht sie sie „in anderer Wirkungsrichtung" (52). Dem können wir nicht beipflichten. — Kummer und Verzweiflung haben Clym nur die Unfähigkeit der Natur, Trost zu spenden, um so viel stärker fühlen lassen. Ebenso scheint es uns eine unzutreffende Behauptung, daß der von der Natur Clym vorenthaltene Trost ihm „durch ein E r leben der Vergangenheit" der Heide zuteil wird. Clyms erneute Teilnahme an dem Leben und der Geschichte der Heide zeigt, daß er den ersten bitteren Schmerz über den Verlust von Mutter und Gattin überwunden hat. Aber was hat ihm geholfen, ihn zu überwinden? E s ist die Möglichkeit, dem Beruf, ja, der Berufung nachzukommen, die ihn in die Heimat zurückkehren ließ. 27

„(To be) a schoolmaster to the poor and ignorant, to teach them what nobody else will" (N 206); mit diesem Vorsatz kommt Clym schon aus der Fremde heim. „I get up every morning and see the whole creation groaning and travailing in pain, . . . and yet there am I, trafficking in glittering splendours . . ., and pandering to the meanest vanities . . . I have been troubled in my mind about it all the year, and the end is that I cannot do it any more" (N 207). Das sind Clyms Worte zu seiner Mutter bald nach seiner Heimkehr. Nach dem Tode von Mutter und Gattin aber heißt es von ihm: „He had but three activities alive in him. One was his almost daily walk to the little graveyard wherein his mother lay; another, his just as frequent visits by night to the more distant enclosure which numbered his Eustacia among its dead; the third was self-preparation for a vocation which alone seemed likely to satisfy his cravings — that of an itinerant preacher of the eleventh commandment" (N 469). Und an anderer Stelle ist die Rede „of the scheme that had originally brought him hither, and that he had so long kept in view under various modifications, and through evil and good report" (N 479). Die Schlußszene aber des ganzen Werkes bildet Clyms „Sermon on the Mount", Clym zu seinen Mitmenschen redend von Rainbarrow herab. „Yeobright had, in fact, found his vocation" (N 485). — Diese Ausführungen lassen zur Genüge erkennen, daß das von H. Ufer aufgestellte Schema, so fein es durchdacht ist, dem Stoff in mancher Hinsicht Gewalt antut. Dasselbe Gefühl beschleicht ans, wenn die mancherlei Einzelübereinstimmungen zwischen Hardy und Clym die Verfasserin veranlassen, darauf hinzuweisen, „daß, so wie Hardy mit .imagination' das innere Wesen der Heide gesehen und zu Egdon Heath geformt hat, er mit der gleichen .imagination' auch sein eigenes inneres Wesen gesehen und es zur Gestalt Clyms geformt hat" (89). Für die Wesensbestimmung von Mrs. Yeobright läßt die Verfasserin sich von einem ebenso subjektiven Gefühl leiten, das sie dazu verführt, „das Vorstellungsbild von Mrs. Yeobright . . . im Geiste des Dichters in gedanklicher und1 vor allem in gefühlsmäßiger Verbindung mit dem Bilde seiner eigenen Mutter" (65) gleichzustellen. „Es ist das Denkmal, das der Sohn der Mutter gesetzt hat" (65). — Man kann sich eines leisen Gefühls des Unbehagens nicht erwehren, wenn man sich überlegt, was der Dichter selbst zu einer solchen „Deutung" gesagt hätte; man vergleiche seine scharfen Worte über Hedgcock (pp. 15 ff. dieser Arbeit). Einzelne wesentliche Charakterzüge, die uns von Hardys Mutter berichtet werden, erscheinen geradezu unmöglich, wollten wir sie auf Mrs. Yeobright übertragen; das veranschaulicht z. B. der Besuch von Mutter und Sohn bei Mrs. Jemima Hardys Schwester in 28

Puddletown: „Thomas and his m o t h e r . . . were excellent companions, having each a keen sense of humour and a love of adventure. Hardy would tell of one prank when he and his mother put on fantastic garb, pulling cabbagenets over their faces to disguise themselves. Thus oddly dressed they walked across the heath . . . " (Life I, 27). Wo wären bei Mrs. Yeobright auch nur Anklänge an Humor und Abenteurerlust festzustellen? Das dritte Werk, das näher betrachtet wird, ist „T". Es wird untersucht von zwei Gesichtspunkten aus: 1. Naturdarstellung unter dem Gesichtswinkel der Subjektivität; 2. Gesamtstil des Romans und die Natur. H. Ufer stellt in der Technik von „T" eine gewisse Uebereinstimmung mit der von „F" fest (71). Im ganzen aber erscheint ihr die Betrachtungsweise von „T" lyrischer, subjektiver. Das trifft sicherlich zu. Es ist hier dem Dichter darum zu tun, „in the scenic parts to be representative simply, and in the contemplative to be oftener charged with impressions than with convictions" (Vorwort zu „T" 1892, XVIII). Sehr treffend 1 wird hier eine „subjektive gefühlsmäßige oder gedankliche Durchdringung der Erscheinungen" beobachtet. Weiter wird hingewiesen auf eine „betont symbolische Verwendung" (72) der Naturbehandlung, auf „eine bewußte und deutlich herausgehobene Verbindung von Situation, Zeit und Ort mit dem inneren Verlauf der Entwicklung" (73). Daß diese Verbindungen nicht nur in „T", sondern auch in früheren Werken schon bestehen, werden wir später feststellen können. Wenn die Verfasserin behauptet: „In .Return' führen die der Natur gegenüber ausgesprochenen Gefühlsäußerungen zu den verschiedenen Charakteren der Romanfiguren, in „Tess" zu der G e f ü h l s - u n d G e d a n k e n w e l t d e s D i c h t e r s . „Tess" ist daher ein besonders geeignetes Gebiet für eine Analyse von Hardys persönlichem Naturgefühl" (70), so sehen wir darin einen Widerspruch zu dem, was gesagt wird über „ C l y m s G e s t a l t a l s e i n e V e r k ö r p e r u n g von H a r d y s H e i m a t g e f ü h l , d. h. seiner landschaftlichen und innerseelischen Zugehörigkeit zur Heide" (93). Wir glauben, daß das persönliche Naturgefühl des Dichters nicht nur in „T" oder in „N" zum Ausdruck kommt, sondern daß es in den meisten seiner Werke einen Niederschlag findet. Die Untersuchungen über den „Gesamtstil des Romans und die Idee der Natur" handeln in ihrem ersten Teil von dem „Kunstwollen des Dichters" (74 ff.), wie es zum Ausdruck kommt in seinen wenigen, zum Teil um ein halbes Jahrhundert zurückliegenden theoretischen Aufsätzen und in seinen Tagebuchnotizen und Briefen. Die Verfasserin zeigt an einer Reihe von Beispielen, wie sich Theorie und Praxis in seinem künstlerischen Schaffen decken. Weiterhin bemüht sie sich, „die Idee ,Natur'" klarzulegen. 29

Dann wird „Tess als Verkörperung" dieser ,Idee' herausgearbeitet (77 ff.). Hier müssen wir in einzelnen Punkten widersprechen. Wohl erscheint uns Tess als ein „Bild der Ursprünglichkeit" (79), wohl fühlt sie „einen gleichen Sinn in der Natur wie in ihrem eigenen Leben" (79), doch auch für sie gibt es nach unserem Gefühl — ebenso wie für Clym in „N" — eine Zeit, wo die Natur nicht mit ihrem Innern übereinstimmt: „The familiar surroundings had not darkened because of her grief, nor sickened because of her pain" (T. 115). Das von H. Ufer betonte Zusammengehörigkeitsgefühl von Tess und der sie umgebenden Landschaft finden wir auch schon bei früheren Hardyschen Gestalten, auch sie bilden schon „part and parcel of outdoor nature" ( T 111). H. Ufer kommt zu der zusammenfassenden Schlußbetrachtung, daß die Natur in „ F " Stoff des Romans, in „N" Beziehungsglied, in „T" Symbol ist. Nicht immer vermögen wir der Verfasserin auf dem Wege zu folgen, den die Entwicklung von Hardys Kunst nach ihrer Auffassung macht. Die Art aber, wie sie sich der gestellten Aufgabe unterzogen, und die feinsinnigen Beobachtungen, die die ganze Untersuchung auszeichnen, lassen die Arbeit zu dem Besten gehören, was über Thomas Hardy als Naturdichter gesagt worden ist. In deutscher Sprache kennen wir nur einen Aufsatz, der mit der Arbeit von H. Ufer wetteifern könnte: E r i c h W e l t z i e n . „Thomas Hardys Heimatkunst" („Neue Jahrbücher" 1928, Heft 3). Selten hat ein Mann sich so hineingelesen und -gelebt in Hardy und seine Heimat, „aus der eine allumfassende Liebe zur Welt, zur Natur und allen ihren Offenbarungen erwuchs" (288). Ueber die Naturverbundenheit des Dichters heißt es: „Es gehört eine große, aus tiefstem Verständnis geborene Liebe zur Natur und eine starke künstlerische Gestaltungskraft dazu, um die Naturschilderungen hervorzubringen, die so viel hellen Glanz und so viel düstere Pracht über die Schicksale der Menschen breiten. Vieltausendstimmig tönt das Hohelied der Natur in immer neuen Melodien durch Hardys Werk, bald leise und gedämpft, bald in mächtigen Akkorden emporbrausend. So fein und so geübt sind die Sinne des Dichters, daß er selbst in dunkler Winternacht, wenn alle Aeste der Bäume kahl sind, aus den Bewegungen der Bäume im Winde mit Sicherheit ihre Art zu erkennen vermag. Solche feinen Sinne sind den .Eingeborenen' seines Landes zu eigen, aber nicht dem F r e m den; ein Angel Cläre kann das Rauschen der Föhren von dem des Meeres nicht unterscheiden. Will man dem Naturverständnis und der Kunst des Dichters im einzelnen nachgehen, so ergibt sich eine gewisse Schwierigkeit aus der engen Verbundenheit verschiedener Elemente in einer Schilderung. Die Landschaften ebensowohl wie die Gegenstände der Natur sind gleichzeitig abhängig von der Jahreszeit, der Tages30

zeit, der besonderen Stimmung der Natur und, da ein fühlendes Wesen diese Natur betrachtet, auch von der besonderen Seelenlage dieses Menschen. Bei der wissenschaftlichen Untersuchung kann also immer nur das vorwiegende Element betont werden" (289/90). Wie Weltzien der Kunst des Dichters nun im einzelnen nachgeht, wie er die Landschafts- und Naturschilderungen Hardys erfaßt, wie er die Beispiele aus der Tier- und Pflanzenwelt, die Jahres- und Tageszeiten in den Kreis seiner Betrachtung zieht, wie er das Wesen von Hardys .Eingeborenen' im Gegensatz zu den .Fremden' erfaßt hat, und wie er letzten Endes Hardys Lebensund Weltanschauung daraus abzuleiten weiß, das zeigt, mit welch feinem Verständnis und Nachempfindungsvermögen er des Dichters Werke in sich aufgenommen hat. Weltzien nennt Hardys Heimatkunst „erdgebunden und weltumspannend zugleich. Und so gleicht der Dichter einem mächtigen Baume, der fest in der heimatlichen Erde wurzelt, aber aus diesem Erdreich so viel Kraft gezogen hat, daß er sein Geäst hoch und weit durch das ganze All streckt" (303). Die Kritiker der letzten Jahre sind alle einig in dem Urteil, daß mit Thomas Hardy einer der größten Dichter der Gegenwart, einzig in seiner Art als „Naturdichter", dahingegangen ist. A b e 1 C h e v a 11 e y (La Revue de Paris, 1. Februar 1928, p. 707) in seiner Würdigung des Dichters sagt von ihm: „Voici disparaître le contempteur de tous les verdicts métaphysiques — un homme ,pour qui le monde extérieur existait', et qui s'est effacé devant la Nature sans lois, parce qu'elle est la Loi — l'artiste pour qui le fini était du fini, le solide du solide — un romancier, un poète, à qui la ligne nette, dont Blake habilla ses visions, suffisait à traduire la beauté du monde. Et c'est à Westminster qu'il va dormir..." S a m u e l C. C h e w hatte schon 1920 zu Hardys achtzigstem Geburtstage einen Aufsatz, „Homage to Thomas Hardy", in der „New Republic" erscheinen lassen. Im Jahre 1921 veröffentlichte er eine größere Arbeit über „Thomas Hardy, Poet and Novelist", die bald nach des Dichters Tode in verbesserter und vervollständigter Auflage erschien. Wir möchten dieses Werk in seiner Bedeutung wohl mit dem von Hedgcock vergleichen, das achtzehn Jahre früher veröffentlicht wurde. Chews6 Werk zeigt großes Verständnis für den Dichter und seine Kunst. In den Kapiteln IV., „The Natural History of Wessex", und V., „Men and Women: Peasants", geht er auch auf Hardys Naturansicht ein, deren wichtigste Gedanken er kurz zusammenfaßt: „Every book and essay on Hardy devotes much attention to bis .treatment of Nature'. Three stages in this attitude may be roughly indicated: at first Nature is regarded, with something of 6

Chew bringt eine sehr gute Bibliographie der Werke und Ausgaben Thomas Hardys.

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the .pathetic fallacy', as a conspirator against Man; later as a fellowsufferer with Man; and at length Nature gradually disappears from the field of Hardy's interest — in ,Jude' entirely so, though there is a recurrence to her in many of the poems" (106/07). Wir wenden uns hier vor allem gegen die Bemerkung, daß die Natur Hardys Interesse verloren habe. Ueber das Fehlen der Natur in „J" ist schon früher gehandelt. Ein Beweis für Hardys andauernde Naturverbundenheit, auch in den Jahren, wo wir sie nicht in seiner Dichtung verfolgen können, sind seine Tagebuchnotizen, die allerdings spärlich sind. Im Januar 1891 — also kurz vor dem Erscheinen von „T" — beobachtet Hardy in London, „what is called sun-shine up here — a red-hot bullet hanging in a livid atmosphere — reflected from window-panes in the form of bleared copper eyes, and inflaming the sheets of plate-glass with smears of gory light. A drab snow mingled itself with liquid horsedung, and in the river puddings of ice moved slowly on" (Life I, 304). Am 10. Februar 1896 schreibt er: „In spite of myself I cannot help noticing countenances and tempers in objects of scenery, e. g. trees, hills, houses" (Life II, 58). Inmitten seiner Arbeit an den „Dynasts" beobachtet er das Fallen der Blätter im Herbst: „First week in November (1904). The order in which the leaves fall this year is: Chestnuts; Sycamores; Limes; Hornbeams; Elm; Birch, Beech" (Life II, 114). Das sieht nicht aus wie Gleichgültigkeit oder Interesselosigkeit gegenüber der Natur. In der Art und Weise, wie Hardy das Leben der WessexBauern ansieht und es gestaltet, glaubt Chew den besten Gegenbeweis für des Dichters vielberufenen „Pessimismus" zu haben: „It is in his portrayal of men of this stamp (John Loveday, Gabriel Oak, Giles Winterborne) that the best evidence lies for what has, perhaps paradoxially, been called „the optimism of Thomas Hardy." Fortuitously or otherwise Life has produced beings with courage, resourcefulness, patience, endurance, clearsightedness, tenderness, tolerance, forbearance, and unselfishness. The admiration lavished upon them and the elaborate care employed in their portrayal are the proper answer to the foolish and uncritical opinion that Hardy is scornful of human nature" (138). Der Mitarbeiter des „Times' Literary Supplement", einer der einflußreichsten englischen Literaturkritiker, sagt mit Bezug auf Hardy: „Some writers... are borne conscious of everything, others unconscious of many things . . . Among them we must place Hardy. His own word „Moments of Vision" exactly describes those passages of astonishing beauty and force which are to be found in every book that he wrote. With a sudden quickening of power 32

which we cannot foretell, nor he, it seems, control, a single scene breaks off from the rest . . . Vivid to the eye, but not to the eye alone, for every sense participates, such scenes dawn upon us and their splendour remains. But the power goes as ist comes. Thé moment of vision is succeeded by long stretches of plain daylight, nor can we believe that any craft or skill caught the wild power and turned it to the best advantage. The novels therefore are full of inequalities; they are hewn rather than polished; and there is always about them that little blur of unconsiousness, that halo of freshness and margin of the unexpressed which often produce the most profound sense of satisfaction" (19. Januar 1928). Der Inhalt dieser Kritik deckt sich z. T. mit der Forderung, der Hardy selbst im März 1888, also etwa vierzig Jahre früher, im „Forum" Ausdruck gegeben hatte in einem Aufsatz „The Profitable Reading of Fiction". Die folgenden Abschnitte daraus zeigen Hardys Auffassung vom Romanschreiben; zugleich lassen sie erkennen, wie er in der Praxis seinen theoretischen Forderungen nachgekommen ist. „In fiction there can be no intrinsically new thing at this stage of the world's history. The general theme can never be changed. The higher passions must ever rank above the inferior — intellectual tendencies above animal and moral above intellectual — whatever the treatment, realistic or i d e a l . . . The scarcity of perfect novels in any language is because the art of writing them is as yet in its infancy. Narrative art is neither mature in its artistic aspect, nor in its ethical or philosophical aspect, neither in form, nor in substance. In this scarcity of excellence in novels as wholes, the reader must content himself with excellence in parts. The reader will discover that, however numerous the writer's excellencies, he is, what is called unequal; he has a speciality. This especial gift being discovered he fixed his regard more particularly thereupon." Wir glauben, daß die „excellence in parts" von Thomas Hardy in seinen Naturschilderungen erreicht worden ist. Durch beständige Selbstbeschränkung auf seine ihm eigene Kunst und durch gänzliche Hingabe daran hat er diese Vollkommenheit erzielt; denn eine jede Kunst fordert Opfer. Hardy sagt in einem seiner kleineren Werke, „Alicia's Diary", von der Kunst, es gäbe „two roads for choice within its precincts, the road of vulgar money-making, and the road of high aims and consequent inappreciation for many long years by the public. That he has adopted the latter need not be said to those who understood him" (G M 143). Diese Worte, die der Dichter hier auf seinen Maler-Helden anwendet, treffen auch für ihn selbst zu. Hardy wählte „the road of high aims and consequent inappreciation for many long years". Das bezeugen die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts. 33

Sein Pfad war nicht ohne Dornen. Nur langsam gewann er Anerkennung und Ruhm. Hätten wir es nicht schon früher gewußt, so könnten seine Aufzeichnungen in der von seiner Gattin verfaßten Biographie uns darüber belehren. In mancher Weise ist Hardy mit Wordsworth zu vergleichen: „But whereas Wordsworth's early work gave him the crown in his old age, the merit ot Hardy is that he marched from strength to strength" (A. G. G a r d i n e r , Daily News, Jan. 12th, 1928). Die Reihe der Hardy-Kritiker und -Forscher der letzten Jahre ist noch erheblich länger. So gering die Zahl der Hardy-Bearbeiter bis in den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war, so groß ist sie im Laufe der letzten Jahrzehnte geworden; sie wird unübersehbar nach dem Tode des Dichters. Eine erschöpfende Bibliographie zu geben, ist daher unmöglich. Wir möchten hier nur noch auf zwei neuere Arbeiten hinweisen, die von gründlicher Kenntnis des Dichters und seines Werkes zeugen: 1. S. L. B e n s u s a n, „Thomas Hardy". The Quarterly Review, October 1929 (pp. 313—329); 2. F . L . L u c a s , „Eight Victorian Poets". Cambridge. University Press. 1930 (pp. 135—151). Das Hauptverdienst dieser Ausführungen sehen wir in dem Erfassen der Persönlichkeit des Dichters. Es findet Ausdruck in dem Pascalschen Wort, das Lucas seinem Aufsatz voranstellt: „On est tout étonné et ravi, car on s'attendait de voir un auteur, et on trouve un homme".

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III. Wie sich Thomas Hardys Naturansicht darstellt in den verschiedenen Naturbildern. A. Allgemeines. In dem großen Romanwerk Hardys führt uns jede einzelne Schöpfung in eine ganz bestimmte Landschaft und in einen festumgrenzten Lebenskreis ihrer Bewohner. Der „Zauberer von Wessex", wie Hardy wohl genannt worden ist, läßt den Geist seines Wessex-Landes aus jedem seiner Worte zu uns reden. Seine bis ins kleinste gehende Kenntnis von Land und Leuten verbindet den Dichter um so fester mit der heimatlichen Scholle und ihren Bewohnern. Wir sehen im Geiste die außerordentliche Verschiedenheit der Wessex-Landschaften vor uns: Auf den kalkhaltigen Hügeln wächst das Gras kurz und dicht; ein großer Teil des Landes ist mit Wald bedeckt. Im Süden erstrecken sich weite Heideflächen, teils von goldgelb blühendem Ginster, teils von meterhohen Farnen durchsetzt. In den Tälern des Frome, Stour und Trent weiden Rinder- und Schafherden; das hügelumgürtete, fruchtbare Tal von Blackmore ist ein Land, in dem — im wahrsten Sinne des Wortes — „Milch und Honig fließt". Die malerischen Dörfer sind meist um alte, graue Kirchen gebaut, deren stumpfe oder spitze Türme schon seit Jahrhunderten in das Land hinausschauen. Mit seinen alten Abteien und Schlössern, die bis zum Dachfirst mit historischen Erinnerungen angefüllt sind, gehört gerade dieser Teil Englands zu dem interessantesten Boden Großbritanniens: Briten, Römer, Sachsen, Dänen und Normannen, sie alle haben hier ihre Spuren hinterlassen; ihnen allen begegnet der Besucher von Wessex, wenn er offenen Auges durch das schöne Land streift. Dieses ist der Boden, auf dem Thomas Hardy fast drei Geschlechter hindurch lebte, dessen Wiesen und Wälder ihm vertraut waren und dessen felsige Küste ihm manchen Ausblick auf das weite Meer gewährte. Hardy war durch und durch erfüllt von der Jahrtausende alten Geschichte seiner Heimat (vgl. Sir Frederic Treves), mit ihrem Auf und Ab, ihrem Kommen und Gehen von Geschlechtern und Völkern, von verschiedenen Rassen und Kulturen, deren jede Reste ihres Glaubens und Aberglaubens, ihrer geschichtlichen und sagenhaften Ueberlieferungen in den Boden seines heimatlichen Wessex senkte. Und Hardy, dem Dichter, bleibt die Vergangenheit nicht stumm. Ihm offenbart sich auch 35

die Natur; im Kleinen wie im Großen tut sie ihm ihre Geheimnisse kund. „Dorsetshire was in his blood, his eye had taken in her external features from the time when he was a child, and the county retains to this hour an individuality that is all its o w n . . . His heart was in the old times, he would dwell lovingly, even in the last days, on such scenes as that wilh which he opens .Under the Greenwood Tree'. He observed landscape so closely and so keenly that he discovered its moods, and this knowledge enabled him to present his characters in settings that seem true to the point of being inevitable. He could feel the emotions of countryside under sun and cloud . . . He was in touch with what one might call the emotions of wood and wold; he understood their moods ..." (Bensusan 321/2). Schon in „G", dem ersten Beispiel von Hardys eigenartiger und eigenwüchsiger Romankunst, bildet die Natur den Rahmen des Werkes, das in wahrhaft arkadischer Einfachheit und Lieblichkeit vor uns ersieht. Dieses Erstlingswerk Hardyscher Kunst ist in all seiner Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit mit dtem sicheren Instinkt des Künstlers gesehen und geschrieben worden. Die vier Jahreszeiten machen die äußere Einteilung des Werkes aus. In diesem wie in den späteren Romanen des Dichters ist die Landschaft den Charakteren angepaßt und umgekehrt. Menschen, Landschaft und Handlung sind eins. So entsteht ein Werk harmonischer Schönheit. Die Landschaft bildet nicht einen auswechselbaren Hintergrund, sondern sie ist ein lebendiger Teil der Handlung selbst. Mensch wie Natur zeigen schon in diesem Erstlingswerk Hardys intuitives Erfassen ihres Seins. Aus dieser inneren Wahrheit heraus ersteht die Schönheit von Hardys Kunst. Das einfache, aber glückliche Heim der Dewys in „G" gemahnt uns an Hardys eigene Jugend und an sein Elternhaus in Higher-Bockhampton. Hedgcock hat recht, wenn er Constables Worte auf Hardy bezieht: „J'aime mon village, j'en aime chaque chaumière, chaque sentier. Aussi longtemps que je pourrai tenir un pinceau, je ne me lasserai pas de le peindre" (Hedgcock 82). , Wie groß des Dichters Vorliebe für sein „Mellstock" war, d. h. für das Stinsford seiner Jugend und für seine Bewohner, zeigten seine häufigen Spaziergänge dahin von „Max Gate" aus, besonders in den letzten Jahren, das bezeugte auch sein letzter Wille — der allerdings nur zum Teil Erfüllung finden sollte —, nämlich der Wunsch, auf dem stillen Dorffriedhof in Stinsford an der Seite seiner Verwandten und Freunde seine letzte Ruhestätte zu finden. „G" zeigt schon Hardys eigenartige Kunst der Auffassung und der Wiedergabe des Lebens seiner Heimat und ihrer Bewohner. Gleich einer Oper, die ihre leitenden Motive schon in der Ouvertüre anschlägt, weist „G" die verschiedenen Mittel und Wege auf, die für Hardys späteres Werk richtunggebend sein sollten. Mit diesem 36

Idyll betritt und verläßt Hardy das Gebiet des pastoralen Romans, um es später nur noch gelegentlich zu berühren, so etwa in einzelnen Kapiteln von „F", „N", „W" und „T". Der Dichter selbst muß die liebliche Zartheit dieses seines ersten Gemäldes von WessexLand und -Leuten empfunden haben, da er dem Haupttitel bezeichnend hinzufügt: „A rural painting of the Dutch school". Die vier Jahreszeiten, hier zuerst in Hardys Kompositionsstil angewendet, tauchen — bewußt oder unbewußt — in einer ganzen Reihe seiner großen Romane wieder auf, stets im Einklang mit den Gefühlen und Empfindungen der Charaktere und ihrer Entwicklung. Die „seasons" bilden hier den Ausgangspunkt für Hardys großes Werk als Naturdichter; einhundertfünfzig Jahre früher hatten James Thomsons „Seasons" den Anfang einer neuen Zeit in der englischen Literatur angekündigt. Zwar war die Natur schon vor Thomson gelegentlich beschrieben worden, aber jetzt bildete sie nicht länger nur einen zufälligen Hintergrund 1 , sondern Thomson und seine Nachfolger machten sie zum eigentlichen Gegenstand ihrer Dichtung. Thomsons Art und Weise der Darstellung der Natur ist von Hardy freilich weit übertroffen worden, denn er vermochte die Empfindungen und Erlebnisse mannigfachster Art wiederzugeben, die die Natur in jedem seiner imaginären Charaktere auslöst. Die Intensität und Kraft seines Naturerlebens birgt zugleich die Fähigkeit in sich, das Erlebte neu darzustellen und zu gestalten. In Hardys Werken spielen d'ie Jahreszeiten, durch die das Leben in der Natur geregelt wird, eine besondere Rolle. In „B" findet die erste Begegnung Elfrides und Stephens im Vorfrühling statt; ihre junge Neigung erblüht im Frühling und Frühsommer; sie führt zu Elfrides unbedachter Flucht und Rückkehr im heißen August. Ein anderer schwüler Sommer findet Elfride und Knight auf das leidenschaftlichste verstrickt; an einem rauhen Oktobertage aber stößt derselbe Knight ihre Liebe zurück. Ein späterer Herbst zeigt uns Elfride als Lady Luxullian, die allem Liebesglück wehmütig entsagt hat; an einem naßkalten Wintertage findet sie ihre letzte Ruhestätte in der feuchten, dunklen Gruft der Luxullians: Stephen Smith und John Knight stehen — für einen Augenblick — mit Lord Luxullian, Elfrides rechtmäßigem Gatten, am Grabe ihrer vernichteten Hoffnungen. Bathshebas Bekanntschaft mit Troy wird zur Zeit der Heuernte gemacht; mit der zunehmenden Sommerhitze entwickeln sich die Beziehungen dieser beiden Menschen in geradezu fieberhafter Hast. Wilde Leidenschaft züngelt aus ihnen empor und führt zu dfer überstürzten Heirat in der heißen Lammas-tide ( = Erntefest; 1. August; Lammas = loafmass). Der kühle Oktober findet Bathsheba schon als Verlassene; und — Jahre später — 37

endet ein winterlicher Weihnachtsabend alle Hoffnung und Furcht durch Troys gewaltsamen Tod. Clyms und Eustacias engere Beziehungen ergeben sich im Frühling; sie finden ihren Höhepunkt in der Hochzeit im Hochsommer. Ihr Ende ist Verzweiflung und Tod im Spätherbst, zu der Zeit, wo auch die Natur sich anschickt zu sterben. „A thyme-scented, bird-hatching morning in May" (T 131) sieht Tess nach Talbothays wandern, wo sie Angel Clare begegnet (vgl. H. Ufer 73). Gegenseitige Zuneigung erwächst in beider Herzen bis „July passed over their heads, and the Thermidorean weather, which came in its wake, seemed an effort on the part of Nature to match the state of hearts at Talbothays Dairy" (T 190), und „the days of declining autumn . . . formed a season through which she lived in spiritual altitudes more nearly approaching ecstasy than any other period of her life " (T 246). Der schicksalschwere Sylvester, ihr Hochzeitstag, der Tess höchstes Glück und tiefste Not zugleich bringt, läßt auch die Natur öde und trostlos erscheinen. „The gold of the summer picture was now grey, the colours mean, the rich soil mud, the river cold" (T 321). Mit intuitivem Gefühl und dem ihm eigenen feinen Auffassungsvermögen für das Leben der Natur gleicht Hardy dem „countryman, who is obliged to judge the time of day from changes in external nature, (he) sees a thousand successive tints and traits in the landscape which are never discerned by him who hears the regular chime of a clock, because they are never in request" (W 127). — Und diese „successive tints and traits in the landscape" nehmen verschiedene Gestalt und Bedeutung an je nach dem Charakter und der Stimmung der sie umgebenden Natur. Wenn wir jetzt unsererseits an die Untersuchimg von Hardys Naturansicht gehen, so betrachten wir es als unsere Aufgabe, ausgehend von der Landschaft, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur in Hardys Romanen zu untersuchen. Bei der vielfältigen Gestaltung der Landschaft in Hardys „Wessex-Novels" können wir nur einzelne typische Landschaftsbilder herausheben, die in ihrer künstlerischen Vollendung ihresgleichen suchen in der englischen Literatur. B. Meer und Meeresküste. Als Engländer und Insulaner muß Thomas Hardy notgedrungen in irgendeiner Weise mit dem Meere verbunden sein. Obgleich wir nicht behaupten wollen, daß seine Bilder von der See und dem Leben an der See sich messen könnten mit seinen genialen Darstellungen von Feld und Flur, Wald und Heide, so müssen wir dennoch zugestehen, daß auch hier ein großer Künstler bei der Arbeit war, wo es galt, das Wasser in seinem ewigen Wechsel darzustellen. 38

endet ein winterlicher Weihnachtsabend alle Hoffnung und Furcht durch Troys gewaltsamen Tod. Clyms und Eustacias engere Beziehungen ergeben sich im Frühling; sie finden ihren Höhepunkt in der Hochzeit im Hochsommer. Ihr Ende ist Verzweiflung und Tod im Spätherbst, zu der Zeit, wo auch die Natur sich anschickt zu sterben. „A thyme-scented, bird-hatching morning in May" (T 131) sieht Tess nach Talbothays wandern, wo sie Angel Clare begegnet (vgl. H. Ufer 73). Gegenseitige Zuneigung erwächst in beider Herzen bis „July passed over their heads, and the Thermidorean weather, which came in its wake, seemed an effort on the part of Nature to match the state of hearts at Talbothays Dairy" (T 190), und „the days of declining autumn . . . formed a season through which she lived in spiritual altitudes more nearly approaching ecstasy than any other period of her life " (T 246). Der schicksalschwere Sylvester, ihr Hochzeitstag, der Tess höchstes Glück und tiefste Not zugleich bringt, läßt auch die Natur öde und trostlos erscheinen. „The gold of the summer picture was now grey, the colours mean, the rich soil mud, the river cold" (T 321). Mit intuitivem Gefühl und dem ihm eigenen feinen Auffassungsvermögen für das Leben der Natur gleicht Hardy dem „countryman, who is obliged to judge the time of day from changes in external nature, (he) sees a thousand successive tints and traits in the landscape which are never discerned by him who hears the regular chime of a clock, because they are never in request" (W 127). — Und diese „successive tints and traits in the landscape" nehmen verschiedene Gestalt und Bedeutung an je nach dem Charakter und der Stimmung der sie umgebenden Natur. Wenn wir jetzt unsererseits an die Untersuchimg von Hardys Naturansicht gehen, so betrachten wir es als unsere Aufgabe, ausgehend von der Landschaft, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur in Hardys Romanen zu untersuchen. Bei der vielfältigen Gestaltung der Landschaft in Hardys „Wessex-Novels" können wir nur einzelne typische Landschaftsbilder herausheben, die in ihrer künstlerischen Vollendung ihresgleichen suchen in der englischen Literatur. B. Meer und Meeresküste. Als Engländer und Insulaner muß Thomas Hardy notgedrungen in irgendeiner Weise mit dem Meere verbunden sein. Obgleich wir nicht behaupten wollen, daß seine Bilder von der See und dem Leben an der See sich messen könnten mit seinen genialen Darstellungen von Feld und Flur, Wald und Heide, so müssen wir dennoch zugestehen, daß auch hier ein großer Künstler bei der Arbeit war, wo es galt, das Wasser in seinem ewigen Wechsel darzustellen. 38

Im allgemeinen genießen Hardys Leser das Meer von der Küste aus, von der Warte hoher, weißer Felsen, von den „white cliffs of England". Zum erstenmal erscheint die See in Hardys Werken in „A Pair of Blue Eyes". Sie bleibt hier meistens im Hintergründe, grau und unbedeutend; dbch spielen sich einzelne der wichtigsten Augenblicke in dem Leben der Heldin, Elfride, auf den Klippen am Meere ab. Angesichts der weithin schimmernden See verhallen die ersten Erklärungen und Schwüre jugendlicher Liebe zwischen Elfride und Stephen. „There, far beneath and before them, lay the everlasting stretch of ocean" (B 62). Ein Jahr später, als Knight Stephens Bild in Elfrides Herzen verdrängt hat, ist es wieder das Meer, das den Hintergrund bildet, und die verhängnisvolle Klippe, die den Ort der Handlung abgibt. Auf dem Wege nach Barwith Strand, wo Knight sich Elfrides Liebe zu sichern hofft, lugt das Meer in jede der einzelnen Felsschluchten hinein: „Gaps in these uplands revealed the blue sea, flecked with a few dashes of white and a solitary white sail, the whole brimming up to a keen horizon, which lay like a line ruled from hillside to hillside. Then they rolled down a pass, the chocolate-toned rocks forming a wall on both sides" (B 217). Zwei stilistische Eigentümlichkeiten Hardyscher Kunst kommen schon in diesen wenigen Zeilen zum Ausdruck: der A r c h i t e k t in Hardy zeigt sich sowohl in der architektonischen Terminologie als auch in der Art, wie er eine Landschaft aufgebaut sieht; der M a l e r in Hardy aber tritt überall da hervor, wo es sich um Farbempfindungen und -Wirkungen handelt. Hier erstreckt sich der Horizont vor uns „like a l i n e r u l e d from hillside to hillside", und wir sehen „the b l u e sea, f l e c k e d with a few dashes of w h i t e". Die Klippe am Meer sieht Elfride — mit Knight an ihrer Seite — den letzten Versuch machen, Stephen, ihrem fernen Verlobten, die Treue zu wahren. Das Gefühl vollkommener Ratlosigkeit und Leere in Elfrides Denken und Tun findet ein Korrelat in dem jähen Absturz des Felsens: „They had come to a bank breast-high, and over it the valley was no longer to be seen. It was withdrawn cleanly and completely. In its place was sky and boundless atmosphere; and p e r p e n d i c u l a r l y down beneath them — small and far-off — lay the corrugated surface of the Atlantic" (B 203). Auch hier erkennen wir Hardys architektonische Sehweise und sein empfängliches Malerauge. Auf Elfride Swancourts zartes, feinfühliges Gemüt hat die Natur oft entscheidenden Einfluß. So wird sie z. B. durch trübes Wetter gehindert, einen einmal gefaßten Vorsatz auszuführen. „Though she used to persuade herself that the weather was as fine as possible on the other side of the clouds, she could not bring about any practical result from this fancy. Now, her mood was such that the humid sky harmonized with it" (B 229). 39

Knight schwebt in Todesgefahr am Rande der Klippe. Da überkommt ihn bei dem Gedanken an den gähnenden Abgrund, aus dem das gleichmäßige Rauschen des Meeres zu ihm heraufdringt, ein Gefühl völliger Verlassenheit. Die gewaltigen Klippen mit ihren Versteinerungen lösen in diesem im übrigen so selbstsicheren Manne ein Gefühl der Unbedeutendheit aus, so daß er sich in seiner Ohnmacht ähnlich dem versteinten Tier vorkommt, dessen tote Augen ihm aus dem Felsen entgegenstarren. „It was one of the early crustaceans called Tribolites... Knight and this underling seemed to have met in their mutual place of death" (B 241). Der Dichter vermenschlicht die Natur hier und stattet sie mit persönlichen Eigenschaften aus. „Nature seems to have moods in other than a poetical sense: predilections for certain deeds at certain times, without any apparent law to govern or season to account for them. She is read as a person with a curious temper; as one who does not scatter kindnesses and cruelties alternately, impartially, and in order, but heartless severities or overwhelming generosities in lawless caprice" (B 243). — Das hier angeschlagene Motiv des blinden Zufalls läßt uns einen flüchtigen Blick in Hardys naturphilosophisches Denken tun (vgl. Agnes Steinbach: Thomas Hardy und Schopenhauer. Palaestra 148). „The Hand of Ethelberta", einer von Hardys unbedeutenderen Romanen 1 , erscheint uns nur reizvoll wegen seiner lebendigen und eindrucksvollen Naturschilderungen; unter ihnen sind eine Reihe von Londoner Stimmungsbildern von eigenartiger Schönheit. Daß auch Hardy den landschaftlichen Hintergrund als sehr wichtig betrachtete, beweisen zweierlei Umstände: einmal die Tatsache, daß er die verschiedenen Kapitel je nach den Orten der Handlung bezeichnete, in denen sie sich abspielten, dann aber auch eine Stelle eines Briefes, den er einem befreundeten Verleger, George Smith, in jener Zeit (1875) schrieb, abgedruckt in Life I, 136; sie lautet: „We (Mr. and Mrs. Hardy) are coming to Town for three months on account of Ethelberta, some London scenes occuring in her chequered career which I want to do as vigorously as possible — having already visited Rouen and Paris with the same object, other adventures of hers taking place there". Wir wissen von keinem anderen Werk Hardys, in dem die Darstellung des Schauplatzes so wichtig erschienen wäre. Knollsea, der kleine, abgelegene Badeort, liegt „snug within two headlands as between a finger and thumb" (H 254). Ethelberta Petherwin — z. Z. wieder Berta Chickerel wie in ihren Mädchenjahren — hat dort in dem Häuschen eines Bootsmannes eine 1 Daß Hardys Zeitgenossen z. T. anderer Ansicht waren, bezeugt ein erfahrener Kritiker jener Tage, der „H" für „the finest ideal comedy since the days of Shakespeare" hält (Life I, 143).

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anspruchslose Unlerkunft für sich und ihre Familie gefunden. Hardys feiner Pinsel malt hier nochmals „a painting of a Dutch school", „a happy combination of grange scenery with marine. Upon their regular slope between the house and the quay was an orchard of aged trees, wherein every apple ripening on the bough presented its rubicund side towards the cottage, because that building chanced to lie upwards in the same direction as the sun. Under the trees were a few Gape sheep, and over them the stone chimneys of the village below: outside these lay the tanned sails of a ketch or smack, and the violet waters of the bay, seamed and creased by breezes insufficient to raise waves; beyond all a curved wall of cliff terminating in a promontory, which was flanked by tall and shining obelisks of chalk rising sheer from the trembling blue race beneath" (H 256). Hardys Vorliebe für den architektonischen Aufbau einer Landschaft geht auch aus dieser Schilderung hervor. Auch auf dem Wasser entgeht ihm nicht die lei seste Bewegung; sein Malerauge nimmt jede unscheinbare Farbennüancierung wahr und weiß sie treffend wiederzugeben. Etwas weiter landeinwärts, auf dem Wege von Knollsea nach Gorvsgate, bietet sich uns ein Landschaftsbild ganz anderer Art. Bei dieser Gelegenheit kommt auch Hardys Mitgefühl für die Tiere zum Ausdruck; das ist eine Eigenart seines Gemütes, die ihn uns besonders liebenswert erscheinen läßt. Auf ihrem Wege nach Gorvsgate reitet Ethelberta zunächst am Strande entlang, „where the tide dragged huskily up and down the shingle without disturbing it, and thence up the steep crest of land opposite, whereon she lingered awhile to let the ass breathe. On one of the spires of chalk into which th