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German Pages 411 [412] Year 1987
Andreas Gößling Thomas Bernhards frühe Prosakunst
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
88 (212)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
Thomas Bernhards frühe Prosakunst Entfaltung und Zerfall seines ästhetischen Verfahrens in den Romanen Frost — Verstörung — Korrektur von
Andreas Gößling
w G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
Gedruckt mit Hilfe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — p H 7, neutral)
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Gossling, Andreas: Thomas Bernhards frühe Prosakunst: Entfaltung u. Zerfall seines ästhet. Verfahrens in d. Romanen Frost — Verstörung — Korrektur / von Andreas Gossling. — Berlin; New York: de Gruyter, 1987. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N.F., 88 = 212) ISBN 3-11-011086-5 NE: GT
ISSN 0481-3596 © 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz: Werksatz Marschall, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
Eine um ein Drittel umfangreichere Fassung dieser Arbeit wurde im Jahr 1985 der Philosophischen Fakultät der Universität Münster vorgelegt und als Dissertation angenommen. Mein ganz besonderen Dank gilt Herrn Professor Dr. Hans Geulen, der diese Arbeit betreut und gefördert hat. Danken möchte ich auch der „Studienstiftung des deutschen Volkes", die mich in den Jahren 1984 und 1985 mit einem Promotionsstipendium unterstützt hat, sowie der „Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften", mit deren Hilfe dieses Buch gedruckt wurde. Kassel, im Mai 1987
Andreas Gößling
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1
1. 2. 3. 4.
2 3 5 9
Zum Prozeß- und Antwortcharakter von Kunstwerken . . . Zum Begriff „ästhetisches Verfahren" Dialektik der „Auflösung" Intentionalität und Ambiguität
Erstes Buch: Frost als Alptraum der „Auflösung"
15
I. Zum Standort des Icherzählers
17
1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4
17 24 25 28 32
3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 4. 4.1 4.1.1
Vorbemerkung: Rezeption als Reduktion Zur antinomischen Codierung des Erzählerauftrags Zur .medizinischen' Begründung des Auftrags Zur Antinomie des Medizinbegriffs Zur Intentionalität der antinomischen Verschränkung . . . Zur antinomischen Beziehung der fiktiven Welten Schwarzach und Weng Zur antinomischen Selbststruktur des fiktiven Auftraggebers Zur ,Tagseite' des Assistenten: Der Chirurg als Gebirgsmassiv Zur antinomischen Struktur des Selbstideals des Assistenten Antinomie als insgeheime Todesfixierung Zur ,Nachtseite' des Assistenten: „Diluviumszerfall" des ,Gebirgsmassivs' Zur konzeptionellen Problematik antinomischer Bewußtseinsstruktur Zur konzeptionell problematischen Differenz zwischen subjektiver und objektiver Antinomie Der gebannte Famulant: Zur antinomischen Lähmung des Icherzählers Biographie und Bewußtseinsstruktur Hierarchien der Kindheit
34 35 36 36 40 43 44 48 52 52 56
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1
Symbolische Selbstverneinung Reflexionstabu als Rettungsversuch Der Famulant als Medium des Malers „Diluviumszerfall" als „Stadium" Scheiterndes Ordnungsbestreben Der Icherzähler als James'scher „historian" Rezeptionslenkung und Objektivation auf symbolischem Textniveau 4.2.3.2 Objektivation als Vermittlung zwischen den Textniveaus
83
II. Geschichte als Individualgeschichte. Bewußtseinsstruktur als Landschaftsstruktur
86
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7. 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.4 8. 8.1 8.2 8.3
Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven Welt Weng Das „Gebirgsmassiv" als versteinerte Natur Der Fluß als Symbol bedrohlicher Masse Der Wald als Symbol gebannter Masse Das vorindustrielle Weng als soziales Korrelat der Landschaftszeichen Zu Biographie und Bewußtseinsstruktur des Malers Zur Strauchschen Familienstruktur Kindheit als Entzweiung Jugend als Vereinsamung Gemälde als „Geschwüre": Zu Strauchs Künstlertum . . . Der hilflose „Hilfslehrer" Weng im Fluß Züge als Flüsse Wälder als Flüsse Weng im Krieg Weng als Kriegsexil des Malers Strauchs Schwester im Weng der Kriegszeit „Kraftwerksbau" und Sprengung des ,Gebirgsmassivs' . . . Das Gasthaus als Mikrokosmos Zur antinomischen Selbststruktur der Wirtin Die Wirtin im „Unterbewußtsein" Strauchs Zum und vom Ende ein Traum
Zweites Buch: Verstörung traum I. Zum Standort des Icherzählers
als restaurativer Wunsch-
62 65 68 69 72 77 81
86 90 93 97 99 106 109 111 120 128 139 149 152 156 161 162 163 167 169 171 174 175
179 181
Inhaltsverzeichnis
1. 2. 3. 3.1 3.2
„Mystifikation". Was zwischen Frost und Verstörung geschah Das einzige Bewußtsein Die einzige Realität „Studium des Seelischen" Studium des ,Montanistischen'
IX
181 186 198 199 206
II. Im tautologischen Spiegelkabinett
214
4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5 6. 6.1 6.2
214 215 219 221 224 230 234 240 245 249 252 260 272 273 279
Struktur oder Schema Drei symbolische Codes Das hierarchische Muster der Fassade Das einzige Bewußtsein Der Fürst als Drei-Generationen-Subjekt „Elendiges Ende": Der diluvische Code „Maskenwahn": Der restaurative Code „Herrenlose Maschinen": Der maschinelle Code Drei Verwalterkandidaten Das funktionale Phänomen „Zeitungswinter": Mediale Metaphorik der Leere Sauraus Zukunftstraum: Ein letztes Maskenspiel Zwei Einzelstudien Das Prinzip Wirklichkeit Nachricht aus „Kapstadt"
Drittes Buch: Korrektur als Erwachen
287
I. Aufstand des Icherzählers
289
1. 2.
289
2.1 2.2 2.3 2.4
Das Erwachen des Erzählers als Ich Differenz zwischen den Perspektiven von Erzähler- und erzählter Figur Syntaktische Form des zerbrechenden „Gedankenkerkers" Spekulativer Exkurs: Was zwischen Verstörung und Korrektur geschah Perfektionismus oder „Übereilung": Die „Maschine von Reading" Konzeptionelle Konfusion
II. Die „zwei tödlichen Hälften" des Kegels 3.
Kegel und scheiternde Restauration: Verdichtung als Vernichtung
295 299 302 305 312 319 319
χ
3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4. 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2
Inhaltsverzeichnis
„Altensam" als schwankendes „Fundament" Uberdetermination des Kegel-Symbols als asemantische Verselbständigung Christlich-feudales Ideal als Kegel-Konnotat Der Kegel als Individualitätsbeweis Der Kegel unter besonderer Berücksichtigung Schopenhauers Der Kegel ,aus' dem Höllerhaus Das Höllerhaus als Vor- und Nachbild des Kegels „Kind und Kegel" „Papierrose" und „Stechapfel" Kegel und Revolution: Vernichtung als „Lichtung" Revolution und Restauration als Form-Inhalt-Gegensatz Denotation der Zeichen und materialer Zerfall „Erinnerungskrankheit" Die Maske des ,Vaters' als „äußerste Grenze" Die ,Mutter' hinter der Maske des ,Vaters*
320 323 323 327 329 333 336 340 342 344 349 351 353 356 365
Literatur
375
Primärliteratur Sekundärliteratur
375 376
Register
381
Einleitung Nach frühen lyrischen Versuchen 1 , nach einigen dramatischen Studien und parabelhaften Kurzprosaetuden, in denen T o n und Themen der späteren Werke bereits anklingen, fand Thomas Bernhard erstmals im Debutroman 2 Frost3 die seinen erzählerischen Intentionen und Möglichkeiten adäquate Form: die des formal dominanten Icherzählers, der gebannt dem nicht enden wollenden Monolog eines inhaltlich übermächtigen Protagonisten lauscht. In der Bernhardschen Prosawerkgeschichte erkennt man das Jahr 1975 als eines des Umbruchs: Letztmals in Korrektur wird jener Motivbereich ,feudaler' Provenienz, dessen beharrliche Variation dem Autor gelegentlich den Vorwurf der Redundanz eintrug, wird auch die spezifisch Bernhardsche Spielart der Icherzählform entfaltet 4 ; im gleichen Jahr eröffnet Die Ursache eine Serie autobiographischer Texte, die den ästhetischen Rang der früheren Werke mit zunehmender Deutlichkeit unterbietet."' Der quantitative Umfang des Bernhardschen
1
:
1
4
Eine Übersicht über die Bernhardschen Texte nebst Bibliographie der Sekundärliteratur (bis 1981) bietet Jens Dittmar (Hrsg.), Thomas Bernhard Werkgeschichte. Frankfurt/M 1981. — Kurztitelnachweis: Dittmar, Werkgeschichte. Der Begriff „Roman" ist problematisch, seit niemand mehr anzugeben, geschweige zu diktieren vermag, was darunter zu verstehen sei. Im Bernhardschen Gesamtwerk firmieren vier Texte als „Roman": neben den drei hier interpretierten noch Das Kalkwerk. Man muß vermuten, daß der Begriff „Roman" stets dann dem Titel beigefügt wird, wenn der T e x t einen gewissen quantitativen Umfang erreicht; ein anderer Anlaß als die (möglicherweise verlagsseitige) Hoffnung auf Auflagensteigerung ist schwerlich auszumachen. Vornehmlich in der zweiten Werkphase ist Bernhard dazu übergegangen, durch eigenwillige ,Gattungsbezeichnungen' dieses Problem auf seine Weise zu lösen: Die Kälte firmiert als Eine Isolation, Wittgensteins Neffe als Eine Freundschaft usw. Wenn im folgenden der Begriff „Roman" verwendet wird, so stets gewissermaßen als Zitat und gewiß nicht in der Illusion, daß es sich um Romane etwa im Sinn Stanzeis handele. (Vgl. Franz Stanzel, Typische Formen des Romans. Göttingen 1969) Eine Bibliographie der zitierten und erwähnten Bernhardschen Texte findet sich im Anhang dieser Arbeit. Im T e x t genannte Primärwerke werden daher im folgenden nicht eigens in Anmerkungen nachgewiesen. Eine Ausnahme stellt in gewisem Sinn der T e x t Die Billigesser dar, in dem diese Erzählform überraschend wiederaufgenommen wird, fünf Jahre nach Korrektur jedoch in travestierender Intention. Nachtrag Ende 1986: Von dieser tendenziell negativen Einschätzung der „zweiten Phase" Bernhardscher Prosa soll der jüngst erschienene Band Auslöschung. Ein Zerfall (Frank-
2
Einleitung
Oeuvres zwingt den Interpreten, will er die T e x t e einläßlich statt bloß summarisch untersuchen, zur Auswahl nur einiger Werke; qualitative Kriterien lenken ihn auf die erste Prosawerkphase, deren vorrangige Behandlung sich auch in werkgeschichtlicher Hinsicht empfiehlt. Weshalb die Wahl schließlich auf die drei großen Romane des ersten Prosazyklus fiel, erläutern die folgenden terminologischen und methodologischen Reflexionen.
1. Zum Prozeß- und Antwortcharakter von Kunstwerken Kunstwerke sind geronnene Bewegung, in prozeßhafter Auseinandersetzung gründend, die im ästhetischen Produkt sowohl überdauert als stillgestellt scheint. Durch Interpretation muß daher „der immanente Prozeßcharakter des Gebildes entbunden" werden: Indem es spricht, wird es zu einem in sich Bewegten. Was irgend am Artefakt Einheit seines Sinnes heißen mag, ist nicht statisch sondern prozessual, Austrag der Antagonismen, die ein jegliches Werk notwendig in sich hat. Analyse reicht darum erst dann ans Kunstwerk heran, wenn sie die Beziehung seiner Momente aufeinander prozessual begreift, nicht durch Zerlegung es auf vermeintliche Urelemente reduziert.''
Dieser immanente „Prozeßcharakter" der Kunstwerke, ihr Antagonistisches, „ist nichts anderes als ihr Zeitkern" 6 , der reine Form-Inhalt-Identität versagt und stets nur vorläufige, prekäre, auch gewaltsame Vermittlung der widerstrebenden Aspekte ermöglicht. Dieser letztlich nicht zu schlichtenden inneren Spannung vermag weder Hypostasis der Form, d. h. Tilgung von widerspenstigem Inhaltlichem abzuhelfen noch gar Verzicht auf ästhetische Formung, der sich mit bloßer Anhäufung von blind Stofflichem begnügt. Der Versuch, der dialektischen Auseinandersetzung nach dahin oder dorthin auszuweichen, signalisiert allemal das Mißlingen des Artefakts. Gewiß nicht gesetzmäßig, aber sofern das Oeuvre eines Autors oder zumindest ein entstehungsgeschichtlich zu-
furt/Main 1986) ausdrücklich ausgenommen sein. Mit diesem umfangreichen Buch, Bernhards literarisch bedeutendster Veröffentlichung seit mehr als einem Jahrzehnt, beginnt möglicherweise eine „dritte Phase" seiner Prosakunst, welche die Tendenzen der „ersten" und „zweiten Phase" in einer neuen Synthese zusammenführt. Für Auslöschung ist nicht nur der entschiedene Rückgriff auf die seit Korrektur außer Kurs gesetzten ästhetischen Materialien charakteristisch, sondern ebenso ein spezifisch musikalisches Form- und Stilprinzip, das Bernhard vornehmlich in seiner „zweiten Werkphase" entwickelt hat. " Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt/M 4 1980. S. 262 " Adorno, Ästhetische Theorie, S. 264
Zum Begriff „ästhetisches Verfahren"
3
sammengehöriger Teil seiner Produktion durch gewisse thematische, materiale, formale Geschlossenheit geprägt ist, kann jener dem Einzeltext immanente Prozeßcharakter eine Analogie finden im Antwortcharakter einer Abfolge von Kunstwerken, die je auf ungelöste Form-Inhalt-Probleme ihrer Vorgänger spezifisch erwidern. Dies bedeutet zunächst, daß die Einzelwerke nicht nur in ihrem Verhältnis zum außerästhetischen, in weitestem Sinn gesellschaftlichen Draußen, sondern auch in ihrer Beziehung untereinander als r e l a t i v a u t o n o m begriffen werden müssen, d.h., daß Interpretation sie weder aus dem Prozeß der Gesamtwerkgenese isolieren noch in einem vermeintlich immergleichen Ganzen nivellieren darf: Der je zu interpretierende Einzeltext erklärt sich wesentlich als Antwort auf oder Lösung von in Texten zuvor aufgeworfenen Fragen und Problemen; gleichwohl ist er verständlich nur als je einzigartiges und unwiederholbares Einzelwerk.
2. Zum Begriff „ästhetisches Verfahren" Alle drei im folgenden interpretierten Texte sind durch die Verschränkung bestimmter formaler und inhaltlicher bzw. materialer Merkmale konstituiert, die zwar auch in verschiedenen späteren Produktionen sowie in sämtlichen Texten des gleichen Entstehungszeitraums begegnen, jedoch niemals in solcher Dominanz und Gemeinsamkeit. Die reine Ausprägung dieser Merkmale in der Trias der großen Romane Frost — VerStörung — Korrektur sowie die wenngleich unterschiedliche Mischung und Vermittlung jener Charakteristika in allen bis Korrektur entstandenen Texten ergeben zusammen ein Bild außergewöhnlicher formaler, inhaltlicher und materialer Geschlossenheit, so daß diese Texte im folgenden als erste Bernhardsche Prosawerkphase von der zweiten abgegrenzt werden können, die, mit Die Ursache begonnen und bis heute unabgeschlossen, jener zwar in erläuterungsbedürftiger Weise entspringt, sich indes aufgrund primär autobiographischen Autorinteresses nicht nur in stofflicher, sondern auch in formaler Hinsicht vom ersten Werkzyklus signifikant unterscheidet: Während in Texten wie Der Keller oder Holzfällen ein Icherzähler als formal wie inhaltlich dominante Instanz unzensiert seine Subjektivität entfaltet, steht den namenlosen Icherzählern der frühen Romantrias je ein Protagonist gegenüber, dessen inhaltliche Ubermacht der formalen Dominanz von jenen im Wortsinn widerspricht mit nicht enden wollendem Monolog. Dies ist das erste der drei wesentlichen Merkmale des ästhetischen Verfahrens: Icherzähler und Protagonist treten einander gegenüber als Inkarnationen von Form- und Inhaltsaspekt; und zwar dergestalt, daß das Bewußtsein des ich-schwachen Icherzählers
4
Einleitung
mit der monomanen Weltsicht des Protagonisten inhaltlich überschwemmt wird, so daß in formaler Hinsicht die direkte oder indirekte Wiedergabe von Figurenrede zum Erzählprinzip avanciert und der Icherzähler, wiewohl figürlich inkarniert, sich annähernd zum Er-Erzähler wandelt: ein „zwangsweise gehorsamer Stenograph" (Fr, 301 ) 7 , der, das „Gedächtnis" mit „Bildern" überflutet (Ve, 56), im „Gedankenkerker" (Ko, 38) seines Gegenübers interniert wird. Diese „eigentümliche Variante" 8 der Icherzählform wäre nicht allzu spektakulär und zumindest seit Valerys ,Herr Teste' 9 vertraut, wäre nicht — zweites Merkmal — das im Protagonisten inkarnierte Inhaltliche der vom Icherzähler verkörperten Erzählform inkommensurabel, was indes bereits die Gewaltsamkeit signalisiert, mit der jener diesen überwältigt. „Was an den Kunstwerken knistert", so Adorno, „ist der Laut der Reibung der antagonistischen Momente, die das Kunstwerk zusammenzubringen trachtet" 1 0 : Dieses explosive Knistern ist der Bernhardschen Romantrias, freilich mit je unterschiedlicher Entfaltung und Akzentuierung, in der Konfrontation der antagonistischen Figurenpaare sowohl thematisch als auch formendes Prinzip. Denn während die Icherzähler zufolge ihrem bewußten Ich-Ideal stets als Verfechter naturwissenschaftlich-rationalistischen Denkens fungieren, erweisen sich die Protagonisten — erstmals und am deutlichsten der Frosi-Maler Strauch — als einem Selbstund Weltbild christlich-feudaler und idealistischer Provenienz verpflichtet. Damit aber manifestiert sich die Historizität der Kunstwerke in deren Innerem nicht einzig auf Seiten des Inhalts. Denn jenes zunächst Stoffliche: die vom Frosf-Protagonisten wortmächtig beschworene und vergegenwärtigte christlich-feudale Vergangenheit, tendiert bereits im ersten der drei Texte zu materialer Verhärtung, d. h. zu Negation dessen, was Frost sowohl inhaltlich als auch in der formalen Subordination des Protagonisten gestaltet, den der Icherzähler aus,medizinischer' Perspektive als ,Patienten' visiert: Mit der Entmachtung des naturwissenschaftli-
Mittels der Siglen:
Fr für Frost Ve für Verstörung Ko für Korrektur sowie nachfolgender Seitenangabe werden Zitate der drei interpretierten T e x t e im fortlaufenden T e x t (in runden Klammern) nachgewiesen. U m unübersichtliche SiglenVielfalt zu vermeiden, erfolgen Nachweise der ohnehin spärlichen Zitate aus weiteren Bernhard-Texten jeweils in den Anmerkungen. Zu den verwendeten Textausgaben vgl. Anhang. 8 Jürgen H . Petersen, Beschreibung einer sinnentleerten Welt. In: Manfred Jurgensen (Hrsg.), Bernhard — Annäherungen. Bern 1981. S. 160. — Kurztitelnachweise: Petersen, Beschreibung; Jurgensen, Annäherungen. * Paul Valery, Herr Teste. Frankfurt/Main 1965 10 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 264
Dialektik der „Auflösung"
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chem Verstandesideal verpflichteten Icherzählers beginnt das ,feudale' Selbst- und W e l t b i l d , sich erneut zu formieren, das von jenem mit dem Heraufziehen der Moderne bereits historisch-objektiv zu Bruchstücken zerschlagen worden war. „Keine Verhärtung der F o r m , die nicht als Negation des harten Lebens sich lesen l i e ß e " " : Diese Adornosche Einsicht wird von Bernhards T e x t e n sowohl bestätigt als spezifisch modifiziert, indem sich die als historisch obsolet bereits zerschlagene F o r m , zum Entstehungszeitpunkt von Frost nurmehr ein Sortiment materialer Fragmente, erneut formal zu verhärten t r a c h t e t , somit ihre eigene Zerschlagung negierend. An gegebenem O r t wird zu zeigen sein, daß die Protagonisten bei diesem Restaurationsversuch nicht einzig auf ihre subjektive Suggestionskraft und Wortgewalt angewiesen, sondern insgeheim mit dem abstrakten A u t o r verbündet sind, der M o t i v - und Figurengefüge der fiktiven W e l t e n so konzipiert, daß diese, wiewohl zugleich realistischen' Zuschnitts, in der T a t auch als christlich-feudale Bewußtseinslandschaften erscheinen: In ihnen objektivieren sich — drittes Merkmal — zeichenhaft Bewußtseinsstruktur und -inhalt des je konstitutiven Subjektes.
3. Dialektik der „Auflösung" Da aber das ästhetische Verfahren material abhängt von dem, was es inhaltlich negiert, was die Protagonisten wie insistent auch immer als verloren beklagen, eignet ihm von Anbeginn restaurative Tendenz. Indem es zudem die Erzählerfiguren zwecks O b j e k t i v a t i o n der aus einesteils ,feudalen' Materialien gefügten fiktiven W e l t e n instrumentalisiert, tendiert es schließlich auch zu falscher Versöhnung zwischen just jenen Antagonismen, deren Unversöhnlichkeit sich das Kunstwerk verdankt: Das Form-Inhalt-Verhältnis im je sich als Einzelwerk manifestierenden ästhetischen Verfahren ist antinomisch, die widerstrebenden Aspekte sind nicht zu vermitteln, sondern nur mit jener Gewaltsamkeit zusammenzuzwingen, die sich formal in der U n t e r j o c h u n g der Icherzähler, inhaltlich im Persönlichkeitszerfall der Protagonisten wie in der objektivierten „Auflösung" (Fr, 54) überkommener Sozialstrukturen niederschlägt und der auch in historischer Realität die Unversöhnlichkeit von feudalistisch-idealistischem und naturwissenschaftlich-mathematisierendem Denken entspricht. In diesem Sinn erscheint — was zunächst ver-
" Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M 1958. S. 46. — Kurztitelnachweis: Adorno, Philosophie der neuen Musik.
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Einleitung
blüffen mag — Frost, der Bernhardsche Erstlingsroman, als das gelungenste Werk der ersten Prosaphase: Es enträt der Versuchung, seine immanente „Spannung [ . . . ] in der Resultante reiner Identität mit diesem oder jenem Pol" zu terminieren' 2 . Was in den auf Frost folgenden Texten geschieht, läßt sich zwar wesentlich, aber nicht einzig aus der objektiven Tendenz des ästhetischen Verfahrens erklären, „Entzauberung als Zauber" 13 zuperpetuieren. Vielmehr tritt subjektive Autorintention hinzu, die freilich jene objektive Entwicklung weniger verfälscht als verstärkt. Betrachtet man, wie in den folgenden Studien ausgeführt, das je dominante Figurenpaar 14 als zwei Aspekte e i n e s Bewußtseins, so erkennt man, daß das bereits in Frost formal dominante Ich seine im Protagonisten inkarnierte Subjektivität zwar, als mit seinem rationalistischen Verstandesideal unvereinbar, abspaltet und als,krank' distanziert, so daß ihn die Wiederkehr des Verdrängten alptraumhaft zu überwältigen droht. Zugleich aber hält es seine Subjektivität in eben jenen obsoleten, daher inadäquaten Objektivationen fest, in denen es sich nurmehr als krank und ohnmächtig erfahren kann — als fürchte es sich vor dem, als welches es sich durch b e s t i m m t e N e g a t i o n des feudalen Selbstbildes erführe. Anders gesagt: Die Ich-Erzählform bekennt ein, daß das reflektierende Ich nur dann seine Subjektivität adäquat zu erfahren und vermitteln vermöchte, wenn es, statt seinerseits inhaltlich zu verstummen und sich mittels restaurativer Materialien zu verdinglichen und mystifizieren, eintauchte in den disparaten Zeichenstrom seines Bewußtseins, seiner Erinnerung. Der bestimmten Negation des in Frost manifesten ästhetischen Verfahrens entspräche als auch ästhetisch neue Position in formaler Hinsicht eine Erzähltechnik wie Innerer Monolog oder stream of consciousness, in welcher sich die Semantik der Ich-Erzählform allererst aktualisierte. Da das im Text manifeste Autorbewußtsein nicht willens (oder auch nicht fähig) ist, Subjektivität anders als im Medium der zuvor als obsolet erkannten ,feudalen' Materialien zu erfahren, muß in Verstörung, pseudo-paradox, das Ich (des Icherzählers) verstummen, damit scheinhafte Subjektivität sich in den restaurativen Materialien objektivieren kann. Deren Denunziation als Schein, die den Verstörung-Protagonisten scheinbar als Nachfolger des Frosf-Malers ausweist, affirmiert bloß das zeitgemäße Selbstentäußerungsgebot und signiert zugleich, als unbe-
l: 11 14
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 263 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 443 Hinsichtlich der ersten beiden Romane müßte man genauer von einem Figurentrio sprechen. Vgl. jeweils Kap. 2 und 3 der entsprechenden Studien: In beiden Fällen ist es ein Arzt als Vaterfigur, der als rigides Uberich den Icherzähler befehligt und auf jenes starre Verstandesideal fixiert.
Dialektik der „Auflösung"
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stimmte Negation, nur die Fassade der positivierten mystifizierenden Materialien. Gelang im Debutwerk Frost zwar nicht die Synthesis von Form und Inhalt, jedoch deren wie auch immer prekäre und gewaltsame Vermittlung, so t r i t t jetzt in Verstörung, indem sich die restaurativen Materialien formal verhärten, indem der Icherzähler rein als Objektivationsmechanismus instrumentalisiert wird und seine Subjektivität, als virtuell Inhaltliches, verstummt, das Formgesetz des ästhetischen Verfahrens in abstrakter Dominanz hervor: als affirmative Verstandesmaschine, die sich alles Nichtidentischen entäußert und mit kulturindustriellen Mitteln Pseudo-Individualität zu klischierten Versatzstücken fügt. War in Frost noch die Unwiederbringlichkeit regloser S t a t i k , die im dynamisch entfesselten Strom der Moderne zerging, sowohl formal als thematisch, so wird in Verstörung jene ,feudale' Statik restauriert, jedoch als leblose Starre der verdinglichten Welt. Als vermeintlich ephemer wird im zweiten Roman just jene Subjektivität eliminiert, die in Frost noch erkannte, daß sie in den obsoleten Materialien zu sich nicht mehr finde; die sich gerade in der zerstörerischen Konfrontation von positivistischer Selbstentäußerung und idealistischer Individualität artikulierte und letztmals aktualisierte als totgeweiht. Der Verstörung-Text hingegen, dessen maschinelle Form die verdinglichten restaurativen Materialien hervorbringt wie der Klischograph die Klischees, wird als formale Thesis einer in Frost versuchten, aber als antinomisch unmöglichen Synthesis erkennbar, die daher, prozeßhaft Intentionalität und immanente Bewegung des ästhetischen Verfahrens entfaltend, im Verlauf der ersten Werkphase zugleich erneut zu abstrakter Disparatheit zerfällt. In diesem rückwärtsgewandten dialektischen Dreitakt erscheint Korrektur, der dritte der hier interpretierten Romane, gewissermaßen als Antithesis — und zugleich als ein Werk, das mit seit Frost verloren geglaubter Entschiedenheit noch einmal die Vermittlung des Antagonistischen zu erzwingen sucht. Aber gerade an der Insistenz dieses Versuchs zerbricht das Kunstwerk in einen Roman, in dem der Protagonist abermals das ,feudale' Selbst- und Weltbild mit naturwissenschaftlichen' Mitteln zu restaurieren trachtet, und einen Metaroman, in dem der Icherzähler a l s I c h erwacht und seiner langjährigen selbstverschuldeten „Kerkerhaft" im mystifizierenden „Gedankenkerker" (Ko, 38) gewahr wird. Die Eigentümlichkeit dieses Textes, die es erlaubt, ihn tendenziell als inhaltliche Antithesis zu Verstörung als abstrakt-formaler Thesis und Frost als versuchter Synthesis des Inkommensurablen zu begreifen, besteht darin, daß der Icherzähler seine erwachende subjektive Reflexion und Erinnerung nicht etwa von jenen zuvor formal verhärteten Materialien streng separiert, sondern diese, den erneut fragmentierten „Nachlaß", mit jenen gleichsam tränkt, so daß sich im scheinbar bloß Zitierten
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Einleitung
insgeheim z w e i Stimmen mischen als dissonantes Duett. Hier in der Tat beginnt eine sehr eigentümliche dialektische Auseinandersetzung zwischen überkommener ,Form' — die sich als einstmals Inhaltliches freilich erst zu annähernd formaler Gewalt verhärtete — und einem für das von „Erinnerungskrankheit" (Ko, 155) befallene Ich jäh aktualisierten Stofflichen — das freilich in der Ich-Erzählform stets schon sedimentiert war: zwischen überkommener ,christlich-feudaler', d. h. statisch-hierarchischer Objektivation von Selbst und Welt und zum andern einem erinnernden Ich, das sein Inneres als einen chaotisch disparaten Bewußtseinsund Zeichen s t r ö m erfährt, der im restaurativen Symbolsystem stets nur als das namenlose Andere, sprachlose Fremde repräsentiert war, „vor welchem wir immer Angst haben mußten" (Ko, 139). Indes erhellen diverse Indizien, daß der Korrektur-Autor das Zusammen- und Gegenspiel der antagonistischen Momente kaum mehr intentional kontrolliert: Was in Frost ,,knistert[e]" als „Laut der Reibung" 15 , was in VerStörung fast schon erloschen und verstummt war, entfacht in Korrektur ein kaum mehr zu bändigendes Feuer, das die formale Architektonik angreift und zumindest partiell verzehrt. Denn während das reflektierende Ich auf der MetaEbene, schwerlich noch von jenen der autobiographischen Texte zu unterscheiden, zwanghaft bemüht ist, seine Erinnerung in den restaurativen Materialien zu territorialisieren, untermischt es diese zugleich mit stofflichen Partikeln von evidenter Inkommensurabilität, in welchen man erstmals die substantielle Möglichkeit einer bestimmten Negation der artifiziell konkretisierten Position erkennt. Aber während die jäh hervordrängende Erinnerung zwar das als „Gedankenkerker" usurpatorische Formprinzip zerbricht, so daß unvermittelt Inhaltliches die Semantik restaurativer Form dementiert und dominiert, verharrt gleichwohl auch noch dieser Icherzähler zwischen den erneut zerfallenden Materialien: auf der „Kippkante" 16 (Ko, 362) zwischen gewaltsam gehärteter, schließlich geborstener Form, die zuletzt kein Inhaltliches mehr duldete, und einem ganz undifferenziert als ,reißender Fluß' verbildlichten Inhaltlichen, das sich nicht mit adäquater Form vermitteln, d. h. zu Artikulation und Bewußtsein erlöst werden kann, da das Bernhardsche fiktive Ich, auf die „ Kippkante" abgedrängt, noch immer den Sprung in den stream of consciousness fürchtet, in dem nach dem Zerfall geschlossener Weltbilder und idealistischer Systeme Subjektivität sich einzig noch zu artikulieren vermag. Spätere Bernhardsche Versuche, das formal wie material überlebte Verfahren über Korrektur hinaus in die zweite Werkphase zu retten,
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 264 "' Kursivdruck innerhalb von Zitaten gibt Hervorhebungen der jeweiligen Verfasser wieder. IS
Intentionalität und Ambiguität
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ändern nichts am Befund seiner dort bereits erreichten maximalen Entfaltung (Roman-Ebene) und seines daher dort bereits einsetzenden Zerfalls (Metaroman). Daher kann man in der hier zu interpretierenden Romantrias eine zugleich spezifisch modifizierende Bestätigung dessen erblicken, was Adorno zum immanenten Prozeßcharakter der Kunstwerke anführt, der sich hier als Antwortcharakter einer Abfolge von Einzelwerken manifestiert: Die Kunstwerke wandeln sich keineswegs allein mit dem, was verdinglichtes Bewußtsein für die nach geschichtlicher Lage sich ändernde Einstellung der Menschen zu den Kunstwerken hält. Solche Änderung ist äußerlich gegenüber der, welche sich in den Werken an sich zuträgt: die Ablösung einer ihrer Schichten nach der anderen, unabsehbar im Augenblick ihres Erscheinens; die Determination solcher Veränderung durch ihr hervortretendes und damit sich abspaltendes Formgesetz; die Verhärtung der transparent gewordenen Werke, ihr Veralten, ihr Verstummen. Am Ende ist ihre Entfaltung eins mit ihrem Zerfall. 1 7
4. Intentionalität und Ambiguität Entgegen der verbreiteten Vorstellung, daß Interpretation schlicht erläutere, was der Dichter intendierte, wahrt das Kunstwerk eine Position relativer Autonomie auch gegenüber seinem Urheber, dessen Intention in es einging, um in einem qualitativ Neuen und Anderen aufzugehen. Dies bedeutet freilich nicht, daß sich Interpretation um die Autorintention nicht mehr zu bekümmern bräuchte. Jedoch wird im folgenden die Autorinstanz differenziert in den konkreten Autor (der in Osterreich lebt, von diesen Studien unbehelligt) und den abstrakten Autor, als welcher sich das Autorbewußtsein je im T e x t manifestiert. Einzig mit diesem letzteren, als der strukturierenden textimmanenten Instanz, hat Interpretation zu tun. Wenn der konkrete Autor Bernhard etwa anläßlich der Publikation von Korrektur äußert: Man muß sich ja immer wieder verändern. Das ist eigentlich die Korrektur im Denken, im alltäglichen Leben, die grundlegende Möglichkeit, anders geht das ja gar nicht. [ . . . ] Das war immer so, und nachdem Menschen sterben, gehen sie aus der Welt. So ist das halt 1 «
— so wird der Interpret sich hierdurch schwerlich gebunden sehen, seine Analyse auf „das ominöse Allgemeinmenschliche" 19 zu beschränken, von dem freilich in Bernhardschen Texten auch, und zuweilen mit einiger Penetranz, die Rede ist. Im übrigen kann man mit einiger Gewißheit
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Adorno, Ästhetische Theorie, S. 266 zit. n. Dittmar, Werkgeschichte, S. 176 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 264
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Einleitung
davon ausgehen, daß der Autor sich des Phänomens der Ambiguität literarisch-sprachlicher Äußerungen durchaus bewußt ist: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert"20, lautet eine — im Gesamtwerk durchaus nicht einzigartige — Bemerkung aus Gehen, die zum Beweis ihrer Wahrheit in einschlägiger Sekundärliteratur ihrerseits mit gewisser Begeisterung zitiert wird. 21 Eingedenk dieser Einsicht in den Zitatcharakter Bernhardscher literarischer Sprache und Fiktion muß die Interpretation einer Fülle historischer, philosophischer, literarhistorischer Anspielungen gewärtig sein, wobei grundsätzlich damit zu rechnen ist, daß der Autor als Textproduzent — wie reflektiert auch immer mit seinen Materialien schaltend — gewiß nicht alle Schichten und Splitter geschichtlicher Sedimentierung des Montierten überblickt. (Gleiches gilt im übrigen auch für den Interpreten, weshalb jedes Werk jedem Interpreten mit anderen Worten erwidert, ohne daß sich hieraus die Annahme der Beliebigkeit ableiten ließe; entscheidend bleibt freilich das im folgenden zu erläuternde Kriterium der Plausibilität.) Die sprachlichen Materialien sind mit Geschichtlichkeit gesättigt; dem Interpreten stellt sich damit die Aufgabe, was in ihnen bewahrt ist, zu erneutem Sprechen zu bewegen. O b der konkrete Autor im Produktionsprozeß diesen oder jenen Aspekt bedachte und intentional integrierte, bleibt der Uberprüfung entzogen und kann für Interpretation kein Kriterium sein. So kann man mit einigem Recht vermuten, daß in den folgenden Studien i m Nachvollzug der Intentionalität der Kunstwerke zugleich zumindest partiell g e g e n die Intention des konkreten Autors interpretiert wird. Das ästhetische Verfahren, das die,feudale' Bewußtseinsstruktur der Protagonisten in den zeichenhaften Landschaften objektiviert, konstituiert eine Bedeutungsschicht, die es durchaus nicht erlaubt, ,Krankheit' und Scheitern der Zentrumsfiguren auf die ahistorische Diagnose der Vergeblichkeit menschlichen Strebens zu reduzieren, auf der jedoch im T e x t mittels Anspielungen platonischer Provenienz zugleich insistiert wird. Vielmehr erhellt das objektivierende Verfahren subjektives Bewußtsein als ursächlich abhängig von historisch-gesellschaftlichen Veränderungen, die der Einzelne in seinem Innern reproduziert. Umgekehrt entfaltet sich Ambiguität auch gemäß dem Prinzip, das seit Freud 2 2
Gehen, S. 22 Uwe Schweikert erhebt das Zitat sogar zum Titel eines Aufsatzes mit dem Subtitel: Zum Problem von Identifikation und Distanz in der Rollenprosa Thomas Bernhards. In: Text und Kritik, hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. Nr. 43 (1974). S. 1-8. ( = Autorenheft „Thomas Bernhard") Hierzu vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Frankfurt/Main 1977. S. 235 ff. — Kurztitelnachweis: Freud, Traumdeutung
Intentionalität und Ambiguität
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Verdichtung, in gesteigerter Form Überdetermination heißt: Wie bereits die Titel der Einzelstudien (Alptraum — Wunschtraum — Erwachen) signalisieren, werden die T e x t e durchweg auch in Anlehnung an Freudsche Traumkategorien gedeutet als verstandesmäßig mehr (Verstörung) oder minder (Frost) kontrollierte Traumphantasien des je imaginierenden Subjektes, dessen Inneres sich in den fiktiven Welten objektiviert. Damit sind die beiden wesentlichen Anspielungs- und Deutungshorizonte benannt: Durch objektivierende Veräußerlichung subjektiver Innenwelt werden ,Wahn' und Scheitern der Protagonisten erkennbar als individuelles Korrelat niedergehenden Feudalismus, der zerbrechenden idealistischen Systeme, des Zerfalls christlicher Lehre und Heilsverheißung, die im Schock und Strudel der Moderne zergehen. Dieser Anspielungshorizont wird im Deutungsprozeß vergegenwärtigt, indem Axiome und Folgerungen idealistischer und idealistisch beeinflußter Philosophien — vornehmlich Hegels und Schopenhauers, aufweichen letzteren sich die Protagonisten mehrfach explizit berufen —, aber auch frühromantische Konzeptionen den Analysen der Horkheimer/Adornoschen ,Dialektik der Aufklärung' konfrontiert werden; dies stets in genauer Analogie zu der Konfrontation von ,Feudalismus' und ,Moderne', wie sie sich in den Fiktionskonzepten zeichenhaft manifestiert. — Umgekehrt — und durchaus nicht widerspruchsfrei zu jener ersten Bedeutungsschicht — wird die objektivierte Landschaft zugleich als Bewußtseinslandschaft erkennbar, d. h. als Traum- oder Wunschtraumwelt, in der sich — in verdichteten, überdeterminierten Zeichen — die psychische Problematik des imaginierenden Subjektes niederschlägt, das sich in der Sehnsucht nach unwiederbringlicher idealistischer Identität und aus Furcht vor historisch einzig möglicher Individuation in affirmative Selbstentäußerung flüchtet: Vor dem Hintergrund Freudscher Traumdeutung und der Analysen R. D. Laings 23 erscheint die restaurative Tendenz des ästhetischen Verfahrens in diesem Aspekt als Mystifikation des imaginierenden Ich, das sich hinter artifizieller Fassade patriarchaler Idealität vor seiner durch neurotische Deformation und Ich-Schwäche geprägten Realität verbirgt. Solche Deutung, die systematisch Ambiguität offenbart und sich niemals falscher Eindeutigkeit versichert, muß sich freilich ausweisen durch das — seinerseits erläuterungsbedürftige — Kriterium der Plausibilität. Zwar muß Interpretation — worauf wiederum Szondi hinweist — der „Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels" gewärtig sein, daß näm-
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Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Reinbek bei H a m b u r g 1976. — Ders., Das Selbst und die Anderen. Reinbek bei H a m b u r g 1977. — Kurztitelnachweise: Laing, Das geteilt Selbst; Laing, Das Selbst und die Anderen.
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Einleitung
lieh „auch der Beweischarakter des Faktischen [ . . . . ] erst von der Interpretation enthüllt [wird], während umgekehrt das Faktische der Interpretation den Weg weist." 2 4 Dies impliziert jedoch keineswegs Beliebigkeit. Vielmehr wird möglicher Willkür des Interpreten gerade durch einläßliche, auch das scheinbar ephemere Detail achtende und einbeziehende Interpretation der Boden wenn nicht entzogen, so doch beträchtlich geschmälert. Gerade die materiale Geschlossenheit des ästhetischen Verfahrens der ersten Bernhardschen Prosa-Phase gebietet systematischen Einbezug auch der hermeneutischen Parallelstellenmethode, gemäß welcher der Interpret Bedeutungskonstanz, aber auch — auf den Prozeß der Gesamtwerkgenese bezogen — Bedeutungswandel bestimmter Materialien, Motive, Metaphern prüft. Schließlich ist der Interpret auch und besonders durch das gewählte Deutungsprinzip, das die analysierten T e x t e je als autonome Gebilde und zugleich als prozeßhaftes, stufenweise sich ausprägendes Ganzes erachtet, vor assoziativer Willkür gefeit, da er stets auch auf die Frage zu reflektieren hat, wie eine beobachtete Entwicklung sich in den verfahrensimmanenten Prozeß von Entfaltung und Zerfall fügt — oder auch gegen dessen formale wie materiale Grenzen drängt. Denn wenngleich die folgenden Studien bloß einen quantitativ schmalen Teil des Bernhardschen Prosawerks behandeln, so erhebt der Verfasser doch den Anspruch, eine komplexe und geschmeidige Deutungsmethode entworfen zu haben, die das Gesamtwerk zwar gewiß nicht exemplarisch' erhellt. Jedoch ermöglicht die vorliegende Arbeit erstmals systematische und genaue Einsichten in die Grundprinzipien der Werkentwicklung seit Fvost, indem sie mit den drei 25 großen Romanen der ersten Werkphase deren Hauptentwicklungsstrang rekonstruiert und solcherart sowohl die jeweilige Einzigartigkeit als die prozessuale Zusammengehörigkeit der Einzelwerke erweist. Von hier aus werden die zahlreichen weiteren T e x t e der ersten Werkphase erkennbar als höchst unterschiedliche Versuche, die vom fortschreitenden ästhetischen Verfahren aufgeworfenen Fragen und Probleme zu lösen oder auch nur zu umgehen. Und der qualitative
-'4 Peter Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. In: Schriften I, S. 279. — Kurztitelnachweis: Szondi, Hölderlin-Studien. Zwar firmiert, wie erwähnt, auch Das Kalkwerk als Roman, und der ästhetische Rang dieses Werks soll hier gewiß nicht bestritten werden. Jedoch stellt dieser Text in niaterialer (der ,feudale' Motivbereich ist weit zurückgedrängt) wie formaler Hinsicht (zwischen den fast unkenntlichen Icherzähler und den Protagonisten sind etliche .Zeugen' geschaltet) einen Versuch dar, die vom ästhetischen Verfahren nach Verstörung aufgeworfenen Probleme zu lösen durch formale Akkumulation der Erzählerinstanz und durch Ausforstung des materialen Arsenals. Daher ist Das Kalkwerk zwar erst auf dem Boden der hier vorgelegten Studien adäquat zu interpretieren, deren Rahmen es aber zugleich auch transzendiert.
Intentionalität und Ambiguität
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Niedergang literarischer Produktion der zweiten Phase findet eine wesentliche Erklärung in der Weigerung — oder dem Unvermögen — des Autors, jener objektiven Konsequenz seines ästhetischen Verfahrens zu folgen und nach Korrektur jene „äußerste Grenze" zu „durchstoßen" (Ko, 362), der das Verfahren, in der Entfaltung zerfallend, stets schon entgegenstrebte, um auf der dialektischen „Kippkante" (Ko, 362) aus unbestimmter Negation umzuschlagen in eine neue, auch ästhetisch innovative Position.
Erstes Buch: Frost als Alptraum der „Auflösung"
I. Zum Standort des Icherzählers „Nein, nein, ich bin nicht mehr ich, dachte ich." (Fr, 281)
1. Vorbemerkung: Rezeption als Reduktion Die Rezeptionsgeschichte des /Vosf-Romans zerfällt, grob skizziert, in zwei höchst unterschiedliche Phasen: Priesen Rezensenten und Interpreten zunächst, auf von Zuckmayer gewiesener Spur, die „beklemmende Realistik" 1 des Bernhardschen Debutwerks, so führte in den Siebzigern eine genaue Kehrtwendung im literaturwissenschaftlichen Lager zur nunmehr notorischen Deutung, das in Frost Erzählte sei bloße „Bewußtseins-Ausschreitung" 2 des Protagonisten, die fiktive Frost-Welt somit nicht,realistisch', sondern symbolische Landschaft eines subjektiven Bewußtseins. Solches Realismuslob mündet exemplarisch in die Deutung, Frost sei der „Bericht über einen Menschen, der an entsetzlicher Einsamkeit, an sich selbst zugrunde geht, und über eine Welt, die sich langsam auflöst, erfriert, in einer Eiszeit versinkt." 3 Wie die matte Konjunktion „und" bezeugt, sind zufolge diesem Urteil „Welt" und „Mensch", Objektwelt und subjektives Bewußtsein reinlich geschieden. Einzig die realistische Erzählkunst des Debütanten suggeriere einen freilich bloß atmosphärischen Gleichklang der „Auflösung" (Fr, 54, 303) von subjektiver Vorstellungswelt und „wie vom Zufall" — planlos, doch lebensecht — „zusammengewürfelte^]" 4 Motivstruktur. Diesem naiven Realismuslob liegt die nicht 1
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Carl Zuckmayer, Ein Sinnbild der großen Kälte. In: Anneliese Botond (Hrsg.), Über Thomas Bernhard. Frankfurt/Main 1970. S. 83. — Kurztitelnachweise: Zuckmayer, Sinnbild; Botond, Uber Thomas Bernhard Manfred Mixner, „Wie das Gehirn plötzlich nurmehr Maschine ist . . . " Der Roman Frost von Thomas Bernhard. In: Kurt Bartsch u. a. (Hrsg.), In Sachen Thomas Bernhard. Graz 1982. S. 45. — Kurztitelnachweis: Mixner, Der Roman Frost Urs Jenny, Die Krankheit zum Tode. In: Die Weltwoche, 20. 9. 1963. zit. n. Dittmar, Werkgeschichte, S. 52. — Kurztitelnachweis: Jenny, Die Krankheit zum Tode Zuckmayer, Sinnbild, S. 83
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Zum Standort des Icherzählers
minder biedere Vorstellung ungebrochener Autonomie und Integrität des Individuums zugrunde. Indes wäre dem Zuckmayerschen Lager zu entgegnen, daß Frost die gerühmte Scheidung von „Mensch" und „Welt", Subjekt und Objekt, Vorstellung und »Wirklichkeit' zwar mit gewiß ,,beklemmende[r] Realistik" gestaltet, jedoch z u g l e i c h höchst artifiziell liquidiert. Anfang der siebziger Jahre bekannte Bernhard sich vor der Kamera des nachmaligen Italiener-Regisseurs5 Ferry Radax zu einem provozierenden poetologischen Programm, das die erwähnte literaturwissenschaftliche Kehrtwendung initiierte. Dem hinsichtlich seines Werkes noch immer grassierenden Realismusverdacht trat der mehr oder minder konkrete Autor mittels eines leidlich nichtfiktionalen Textes so entgegen: In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der Bübnenrmm ist total finster. [. . . ] Und wenn man meine Arbeiten aufmacht, ist es so: Man soll sich vorstellen, man ist im Theater, man macht mit der ersten Seite einen Vorhang auf, der Titel erscheint, totale Finsternis — langsam kommen aus dem Hintergrund, aus der Finsternis heraus, Wörter, die langsam zu Vorgängen äußerer und innerer Natur, gerade wegen ihrer Künstlichkeit besonders deutlich zu einer solchen werden/'
War bereits diese Äußerung geeignet, unter den Anhängern realistischer' Rezeption einige Verwirrung zu stiften, so erklärt der Autor gar an anderer Stelle, er „schreibe nur immer über innere Landschaften": Ich glaube, ich habe überhaupt noch in keinem Buch eine Landschaft beschrieben. Das gibt's nämlich gar nicht. Ich schreib' immer nur Begriffe, und da heißt's immer „Meer" oder „Berge" oder „eine Stadt" oder „Straßen", aber wie die ausschauen, hab' ich, glaub' ich, überhaupt nie beschrieben.7
Solche Bemerkungen fanden unter gewissen Interpreten begeisterte Aufnahme und ihre vorläufig radikalste Wirkung in einer Deutungsskizze, die jegliches in Frost Erzählte nurmehr als „Bewußtseins-Ausschreitung" 8 des Protagonisten, gleichsam als innere Landvermessung erachtet und jene ehedem gerühmte „beklemmende Realistik" 9 der fiktiven Frost-Welt als " Thomas Bernhard, Der Italiener, Salzburg 1971. Das in diesem Band gleichfalls abgedruckte Fragment gleichen Titels, aus dem das Filmskript hervorging, erschien erstmals in: O . Breicha/ G . Fritsch (Hrsg.), Aufforderung zum Mißtrauen. Salzburg 1967. S. 506512 '' Die von Radax gefilmte Monolog-Sequenz ist im Anhang des Italiener-Bandes publiziert. S. 98 f. — Kurztitelnachweis: Drei Tage. Unter dem Titel Monologe auf Mallorca ist der T e x t der Fernsehsendung von Krista Fleischmann und Wolfgang Koch (Österreichischer Rundfunk, 2. Programm, 11.2. 1981) abgedruckt in: Am Ziel. Programmbuch Nr. 28, hrsg. vom Schauspielhaus Bochum. S. 186 f. — Kurztitelnachweis: Monologe auf Mallorca K Mixner, Der Roman Frost, S. 45 '' Zuckmayer, Sinnbild, S. 83
Vorbemerkung: Rezeption als Reduktion
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ephemeren Schein ignoriert. Indes wäre dieser Deutung zu erwidern, daß der Subjekt-Objekt-Gegensatz zwischen der Vorstellungswelt des Malers Strauch, als einer erzählten Figur, und der objektivierten Außenwelt zwar mit gewiß beträchtlicher Artifizialität in die Subjektivität des Protagonisten hineingenommen wird. Zugleich jedoch wird er sowohl inhaltlich mit unbestreitbar realistischen Mitteln gestaltet als auch formal konstituiert, indem der Icherzähler die Grenze zwischen „Mensch" und „Welt", zwischen der Vorstellungswelt des Malers und der objektivierten Außenwelt markiert und garantiert. Den scheinbar unvereinbaren Deutungsmustern sind zumindest zwei elementare M ä n g e l gemein: Erstens mißachten sie einträchtig die dialektische Beziehung zwischen empirischer Realität und literarischem Artefakt, das deren Elemente und Kategorien sowohl übernimmt als auch, durch dialektische Vermittlung mit literarischer Form, verwandelt, aus empirisch vertrauten Bezügen löst und seinem Formgesetz unterwirft. Einseitig realistische Interpretation ignoriert die ästhetische Integration der adaptierten Elemente, deren Abhängigkeit von empirischer Realität, umgekehrt, einseitig symbolische' Deutung verkennt. Dieser gemeinsame methodische Mangel manifestiert sich — zweitens — in wiederum einträchtiger Mißachtung des Icherzählers, der den Subjekt-Objekt-Gegensatz, die Grenze zwischen „Mensch" und „Welt" kraft seiner schieren Existenz konstituiert. Dankbar reklamiert realistische Rezeption den Icherzähler als Repräsentanten vertrauter Wirklichkeit; als Garanten reinlicher Scheidung von Subjekt und Objekt; als Bürgen für bloß subjektive Signifikanz des Erzählten, das in fragmentarischem Symbol-, Metaphern· und Bilderstrom dem Mund des abgemacht Wahnsinnigen entquillt. Indes scheint der fiktive Frosi-Erzähler wenig tauglich als Verfechter ehern empirischer Realitätsgewißheit: Wo realistische Interpreten beherzte Diagnose erwartet hatten, muß er bekennen, daß ihm „der Begriff des Wahnsinns nicht klar", sondern „nur ein geläufiger" sei, dessen Anwendung auf den Maler er schließlich gar kategorisch ausschließt: Strauch sei „nicht wahnsinnig. (Verrückt?) Nein, auch nicht verrückt." (Fr, 306) Subtiler Analyse, welche die realistische' Textebene weder als unproblematisch vernachlässigt noch gar als irrelevant überspringt, stellt sich damit die Frage, welche Eigentümlichkeit des Fiktionskonzeptes den Icherzähler zur Erprobung schulmedizinischer Methode anhält und z u g l e i c h deren Suspension erzwingt. Der realistischer Rezeption opponierende Interpretationsansatz, der die fiktive /Vosi-Welt als von allem Empirischen losgelöstes Experimentierfeld einer „Bewußtseins-Ausschreitung" erachtet, zeugt zwar von der Einsicht seiner Verfechter, daß die Funktion der objektivierten fiktiven Außenwelt sich nicht im Kulis-
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Zum Standort des Icherzählers
senhaft-Atmosphärischen erschöpfe. Jedoch krankt er an dem nicht minder elementaren Mangel, daß er den empirisch-realen Zuschnitt des Erzählten nicht eben plausibel als bloßen Vorwand für innere Landvermessung bestimmt und folglich zutreffende Einsicht in die artifiziell-funktionale Struktur der fiktiven Objektwelt erkauft mit Mißachtung ihres gleichwohl evidenten empirisch-realen Zuschnitts. Ignoriert realistische Rezeption die dialektische Integration der vorgeblichen Staffage ins Formgesetz des Artefakts, so die symbolische die primär realistische Gestalt aller Elemente der Objektwelt. Und ebenso wie einseitig realistische bezeugt auch symbolische Deutung ihren methodischen Mangel darin, daß sie die Funktion des Icherzählers nicht adäquat zu erfassen vermag. Blieb realistischer Rezeption unerklärlich, weshalb der Famulant nicht energischer seines ärztlichen Amtes walte und auch inhaltlich den Wahnsinn hinter subjektive Grenzen dränge, die er formal immerhin verbürgt, so hätte symbolische Deutung zu rätseln, warum überhaupt der Icherzähler empirisch-medizinische Kompetenz beansprucht, deren Inadäquanz in abgemacht artifizieller Innenwelt symbolische Deutung doch gerade erhellt. Beide hier skizzierten Interpretationsansätze weisen sowohl unbestreitbare Plausibilität als auch befremdliche Widersprüche und methodische Mängel auf. Realistische Deutung verweist mit einigem Recht auf den empirisch-realen Zuschnitt des Fiktionskonzeptes, demzufolge ein Famulant an der immerhin authentischen Schwarzacher Klinik im „Auftrag" des Chirurgen Strauch nach Weng reist, um dort dessen Bruder, „den Maler Strauch zu beobachten" (Fr, 7). Des Malers mal explizite, mal unterschwellige, jedoch unablässig wiederholte Beteuerung, seine individuelle „Krankheit" stehe in systematischer Beziehung zu den vielfältigen Auflösungserscheinungen, die überkommene Strukturen des objektivierten Gebirgstales umwälzen, gilt realistischer Rezeption als Symptom subjektiven Wahns, keineswegs als Indiz dafür, daß der „geläufige" „Begriff des Wahnsinns" (Fr, 306) in der fiktiven Frost- Welt möglicher- und artifiziellerweise außer Kraft gesetzt sei, des Malers Wahn in Weng Wahrheitswert beanspruchen könne. In Schwierigkeiten gerät einseitig realistische Interpretation insofern, als sie gewisse irreale Züge des realistischen' Fiktionskonzeptes nicht zu erklären, sondern allenfalls zu verschweigen vermag. Umgekehrt, und wiederum mit zweifellosem Recht, erklärt symbolische Deutung, die fiktive Frost-Welt sei lediglich Veräußerung einer in Wahrheit ,inneren Landschaft', weshalb der Maler Strauch letztlich sein Inneres und nur dem Schein nach empirisch-reale Welt durchmesse. Wie sich erweisen wird, behält symbolische Deutung insofern recht, als zwischen der in „Auflösung" (Fr, 54) begriffenen fiktiven Welt und ihrem Protagonisten, der an zugleich klinisch vertrauter und rätselhafter
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„Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) leidet, in der T a t ein keineswegs bloß atmosphärischer, mit realistischer Erzählkunst nur scheinhaft suggerierter, vielmehr ein komplexer systematischer Zusammenhang besteht: Das fragmentierte Symbol- und Metaphernsystem, als welches die Vorstellungswelt des Malers sich manifestiert, ist strukturell wie inhaltlich in allen wesentlichen Komponenten auf die objektivierte Motivstruktur bezogen. Indem freilich symbolische Deutung sich durch Einsicht in solchen Bezug legitimiert wähnt, die realistische' Textebene zu überspringen, geht ihr über der tieferen die schlichte Erkenntnis verloren, daß es sich b e i g e m Innen- oder Bewußtseinsraum z u g l e i c h um eine Objektwelt von unbestreitbar realistischer Gestalt handelt, weshalb auf Seiten des Inhalts die vom Icherzähler doch formal verbürgte Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen, „Mensch" und „Welt" verschwimmt. Damit wird ersichtlich, daß adäquate Analyse realistische und symbolische Deutung zusammendenken muß, da der Frost-Text b e i d e bislang je einseitig visierten Bedeutungsschichten aufweist und eigentümlich miteinander verschränkt. Erkennbar wird überdies, daß diese Verschränkung im Prozeß dialektischer Form-Inhalt-Vermittlung erfolgt: Der Icherzähler, nicht zufällig der freilich enttäuschende Bürge realistischer Deutung, garantiert kraft seiner formalen Existenz das Getrenntsein von Subjekt und Objekt, seiner eigenen wie auch der Vorstellungswelt des Malers und der objektivierten Außenwelt. Der formal konstituierte Subjekt-ObjektGegensatz manifestiert sich inhaltlich als realistische' Textebene: Die vom Protagonisten behauptete inhaltliche Aufhebung der Subjekt-Objekt-Opposition wird von der Form dementiert, als deren figürliche Inkarnation der mit ärztlichem Amt gewappnete Icherzähler sich aufmacht, diese Behauptung zu widerlegen, die sich aus formaler Sicht einzig krankhaftem Wahn verdanken kann. Tatsächlich bezeugt er, als Icherzähler zu wie auch immer zagem und urteilsscheuem Bericht genötigt, die primär empirisch-reale Gestalt der Objektwelt, die keine phantastische, in Fragmente zerfallende Symbolwelt, sondern aus empirisch vertrauter Landschaft mit Wald, Fluß und Berg, aus industriellen Stätten und menschlicher Siedlung gefügt ist: Er wirkt objektivierend, tritt scheidend zwischen subjektiv-symbolisches Konnotat und objektiv-reales Denotat. Wie jedoch inhaltliche Analyse erweisen wird, läßt sich zugleich auch die vom scheinbar Wahnsinnigen beteuerte Koinzidenz zwischen Innen und Außen, die Suspension des Subjekt-Objekt-Gegensatzes schwerlich bestreiten, so daß auf selten des Inhalts symbolische Deutung zu ihrem Recht kommt: Höchst artifizieller- und unrealistischerweise konzipiert der abstrakte Autor eine fiktive Welt, deren Motivstruktur sich dem Symboldenken des Malers fügt, ja deren Motive die vom Maler ihnen angetragene Bedeutung virtuell bereits bergen.
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Zum Standort des Icherzählers
Die Beziehung zwischen Form und Inhalt, zwischen realistischer und symbolischer Bedeutungsschicht ist somit antinomischen Wesens; antinomisch daher auch die der beiden zentralen Figuren: Der Icherzähler verbürgt formal, was er inhaltlich, als „zwangsweise gehorsamer Stenog r a p h " ^ , 301) der Malermonologe, dementiert. Der epische SubjektObjekt-Gegensatz wird formal konstituiert und inhaltlich kassiert; der Maler ist des Wahnsinns verdächtig und solcher Klassifikation zugleich entzogen; er begegnet dem Famulanten in einer Welt, die zugleich Außenwelt von unbestreitbarer Realistik und artifiziell strukturierte ,innere Landschaft' ist. Damit wird auch die Intentionalität des antinomischen Erzählkonzeptes bereits erahnbar: Es problematisiert die Beziehung zwischen ,Innen' und ,Außen', Subjekt und Objekt, auf deren unproblematischem Bestimmt- und Getrenntsein realistische Rezeption insistiert, und deren problematisches Einssein einseitig symbolischer Deutung nicht ins Blickfeld gerät. Damit erhebt sich jedoch die Frage, wie die Fiktion auf realistischer Ebene das Eindringen des Icherzählers in die fiktive Welt Weng zu motivieren vermag, ohne deren verkappten Status einer zugleich subjektiv-inneren Welt zu dementieren. Anders gefragt: in wessen,innere Landschaft' reist der Famulant? Offensichtlich greift einseitig inhaltlich-symbolische Deutung, derzufolge der Maler gleichsam sein eigenes Inneres durchmesse, zu kurz, da sie schwerlich die Anwesenheit des Icherzählers im Bewußtsein eines ihm fremden Subjektes zu erklären vermag. Hingegen erhellt dialektische Betrachtung der antinomischen Form-Inhalt-Verschränkung, daß sich nicht nur der f o r m a l e Subjekt-Objekt-Gegensatz i η h a 111 i c h : als realistische Textebene, sondern auch dessen i n h a l t l i c h e Kassation: die symbolische Bedeutungsschicht, f o r m a l manifestiert: Die Fiktion, derzufolge der Famulant ins entlegene Weng reist, um dort „den Maler Strauch zu beobachten" (Fr, 7), ist von einer formal übergeordneten Rahmenhandlung umschlossen, die Vorbereitung, Erteilung und Begründung des „Auftrags" thematisiert. Das führt zur Figur des fiktiven Auftraggebers, zum Malerbruder und Chirurgen Strauch. Auf der ersten, der realistischen Textebene dient die Rahmenhandlung zur Motivation der Mission des Famulanten, dem der Chirurg Gegenstand, Zweck und räumliches Ziel der Reise bezeichnet. Jedoch finden sich hier beträchtliche Widerprüche und Unklarheiten, die schier realistische Deutung schwerlich zu erklären vermag. Auf der zweiten, der symbolischen Ebene stellt man jedoch fest, daß die Beziehung zwischen einerseits Weng und Maler, andererseits dem am „Spital" (Fr, 162; vgl. 199-201) in Schwarzach praktizierenden Chirurgen keineswegs so unproblematisch sein kann, wie das Fiktionskonzept bei oberflächlicher Lektüre vorgibt. Vielmehr handelt es sich beim Chirurgen um die Figur, die den Schlüssel zur schimärisch-realistischen, subjektiv-objekti-
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ven fiktiven Welt besitzt. Wie aber läßt sich diese Schlüsselgewalt des Assistenten (dies sein Rang in der Spitalshierarchie, vgl. Fr, 201) erklären? Schlüssigerweise einzig damit, daß es sich bei der fiktiven Welt Weng um eine ,innere Landschaft' des C h i r u r g e n handelt; daß nicht bloß —formal — die Rahmenhandlung den fiktiven Bericht, sondern auch — inhaltlich — das Bewußtsein des Assistenten die fiktive Welt in ihrer Gesamtheit umschließt. Der Maler erwiese sich so als Inkarnation, die fiktive Welt Weng als Objektivation eines abgespaltenen und unterdrückten Aspekts im Wesen des Chirurgen, dessen bewußtes Ich, wie zu zeigen sein wird, einzig den „klaren, berechnenden Verstand" (Fr, 296) akzeptiert und sich gegen Emotion, Sinnliches, Unbewußtheit obsessiv verschließt. Der Icherzähler erschiene auf dieser Textebene gleichsam als Emissär des bewußten, rein verstandbestimmten Ich des Chirurgen, beauftragt, die Lage in einer aufbegehrenden Region des Unterbewußten zu sondieren, welche die Herrschaft des klaren Verstandes bedroht. Wird somit auf symbolischer Textebene der Subjekt-Objekt-Gegensatz in die Subjektivität eines rahmenden Bewußtseins hineingenommen, so gewinnt er durch realistische Entfaltung auf primärem Niveau spektakuläre Sprengkraft, da beiderseits Subjektives sich in Subjektfremdem objektiviert: Der „Chirurgie" in Schwarzach, die den Assistenten „Tag und Nacht in Anspruch" nehme (Fr, 199), stehen die religiösen und sozialen, ökonomischen und ökologischen Zerfallsprozesse im fiktiven Gebirgstal gegenüber, als welche sich des Malers „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) objektiviert. Indem somit das antinomisch strukturierte Erzählkonzept die in der Icherzählform sedimentierte Aussage aktualisiert, wird sowohl die Historizität des zugrundeliegenden Subjektbegriffes als auch dessen geschichtliche Gefährdung, gar Entleerung faßbar: als antinomische Verstrickung des individualistischen Subjekts christlich-idealistischer Prägung, das, als säkularisiertes in moderner naturwissenschaftlicher' Praxis objektiviert, durch eigenes Wirken das idealistische Axiom autonomen, der Materie überlegenen Geistes widerlegt, dem es sich, in seinem Anspruch auf Substantialität und Naturbeherrschung, zugleich verdankt. Diese Antinomie von ,Geist' und ,Materie', säkularisiert als naturwissenschaftlicher „Verstand" und „Natur", manifestiert sich im Frosi-Konzept darin, daß der Chirurg Strauch auf realistischer Ebene als „Krankheit" eines ihm ä u ß e r l i c h e n I n d i v i d u u m s zu erfassen trachtet, was sich auf symbolischem Niveau als ihm i m m a n e n t e r sowie ü b e r i n d i v i d u e l l e r Zerfall erweist. Damit steht zu erwarten, daß die Ambiguität des Fiktionskonzeptes, seine konstitutive antinomische Verschränkung von Subjekt und O b j e k t , Form und Inhalt, realistischer und symbolischer Bedeutungsschicht sich bereits in der Rahmenhandlung, im Denken und Wirken des Chirurgen, als Brüche und Widersprüche in der realistischen Perzeption dieser Figur
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manifestiert. Diese werden erst durch die hier vorgeschlagene dialektische Deutung erklärlich: Obwohl als empirisch-realer Arzt konzipiert, zeichnet sich der Chirurg durch ein höchst spekulatives Medizinverständnis aus, das letztlich medizinische Intention nur dadurch scheinbar rettet, daß es deren zentrale Begriffe, Krankheit und Heilung, ins je genaue Gegenteil verkehrt. Man wird solche Verwerfungen im realistischen Textniveau nur dann schlüssig deuten können, wenn man systematisch berücksichtigt, daß der Chirurg die ,ärztliche' Beobachtung seiner selbst und zugleich eines ihm äußerlichen Objektes initiiert; daß er in seiner Person Arzt und Patient, Krankheit und Therapie, Subjekt und Objekt zwar nicht vereinigt, aber antinomisch verschränkt. Sind aber Chirurg, Famulant und Maler nur drei Aspekte e i n e s Bewußtseins, so wird die nämliche Antinomie auch Standort, Perspektive und Beobachtungsmethode des Icherzählers bestimmen. Insistiert der Maler, als Repräsentant spezifisch begriffenen Künstlertums, auf der Suspension des idealistischen Subjektbegriffes, dessen Anspruch auf Substantialität und Naturbeherrschung vom in Weng sich vollziehenden überindividuellen Zerfallsprozeß negiert wird, so trachtet der Chirurg, als Inkarnation scheinbar noch christlich verpflichteter Wissenschaft, eben diesen Subjektbegriff wider eigene Einsicht zu retten. Im Famulanten als dem Mittler, in seiner vom Chirurgen ihm anbefohlenen, vom Maler jedoch außer Kraft gesetzten Beobachtungsperspektive verschränken sich Subjekt und Objekt, Medizin und Kunst, Partikularität und Totalität zum antinomischen Erzählprinzip, das die Spannung zwischen den sowohl unvereinbaren als untrennbaren Positionen zugunsten weder dieser noch jener aufhebt, sondern zu gewaltsamer Vermittlung zwingt, somit das Subjekt paradox in der Negation seiner selbst bewahrend.
2. Zur antinomischen Codierung des Erzählerauftrags Gemäß Fiktionskonzept sind Chirurg und Maler, Initiator und Gegenstand des fiktiven „Auftrags", sowohl als Brüder verwandtschaftlich eng verbunden als auch durch offene „Feindschaft" (Fr, 12) entzweit. Man begegnet hier dem ersten einer langen Reihe komplementär konzipierter Geschwisterpaare im Bernhardschen Werk: Dem bereits in Frost totgeweihten ,Künstlertypus' steht der naturwissenschaftlich' ambitionierte Verstandesmensch gegenüber, der im Werkverlauf der ersten Phase sukzessive zur dominanten Figur avanciert. Der Chirurg des /Yosf-Textes spielt auf realistischem Textniveau noch eine vergleichsweise bescheidene Rolle; als Figur bleibt er auf die bruchstückhaft eingewobene Rahmenhandlung beschränkt. Jedoch sollte nicht übersehen werden, daß er als
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fiktiver Auftraggeber die Mission des Famulanten initiiert und motiviert, weshalb sein spezifisches Interesse bereits in realistischer Hinsicht Standort und Perspektive des Icherzählers entscheidend prägt.
2.1 Zur .medizinischen' Begründung des Auftrags Schon der Versuch, Motiv und Erkenntnisinteresse des Chirurgen näher zu bestimmen, stößt auf beträchtliche Schwierigkeiten: Zwar erklärt der Chirurg ausdrücklich, er versuche „als A r z t " (Fr, 12), das Befinden des Malers zu eruieren. J e d o c h liegt dieser scheinbar präzisen Interessenbestimmung ein durchaus problematisches Medizinverständnis zugrunde. Zudem scheint die Funktion der Vermischung von privatem und ärztlichem Motiv zunächst rätselhaft. Auf realistischem Textniveau stellt man fest, daß der abstrakte A u t o r den primär empirisch-realen Gebrauch des in Frost manifesten Medizinbegriffs figurenunabhängig objektiviert, indem er seine beiden Arztfiguren als Repräsentanten authentischer Institutionen konzipiert: N a c h medizinischen Studien an der Wiener Universität (vgl. Fr, 50 f) absolviert der Icherzähler seine „ F a m u l a t u r " (Fr, 7) am Schwarzacher Spital, an dem auch der Chirurg praktiziert. Dieses z i t i e r e n d e Verfahren, das empirisch Existentes weniger erzählerisch expliziert als vielmehr durch bloßes begriffliches Nennen evoziert, wird sich als konstitutive Technik Bernhardschen Erzählens erweisen. Indem es, entgegen einseitig symbolischer Deutung, die Heteroreferentialität der Fiktion gezielt, o f t provozierend hervorhebt, vereitelt es deren Rezeption als ort- und zeitlose Fabel. J e d o c h wird die so realisierte Verschränkung von Fiktivem und Authentischem mit inhaltlicher Einschränkung erzählerischer Willkür erkauft: Das ärztliche Wirken des Chirurgen ist ebenso wie Lehrplan und Praktikum des Famulanten mit empirischer Schulmedizin notwendig identisch. Wenn der Famulant erklärt: „Dieser Auftrag ist eine Privatinitiative des Assistenten, und er gehört zu meiner Schwarzacher Famulatur" (Fr, 12), so steht auf realistischer Ebene zu erwarten, daß der private Z u g der ohnehin spektakulären Mission sich allenfalls in deren Motivation manifestiere, während Untersuchungsmethode und Diagnoseschema durch einschlägige klinische Leitlinien vorgegeben seien. Diese Erwartung impliziert, daß der Icherzähler auch inhaltlich ein hierarchisches A r z t Patient-Verhältnis installierte, das dem formalen S u b j e k t - O b j e k t Gegensatz dialektisch entspräche. Medizinische Theorie stellte ihm das Material zur Errichtung einer sprachlich wie methodisch eigenständigen Metaebene bereit, von der aus, mit perspektivisch auf den Maler verengtem Blick, er dessen Krankheitssymptome studierte und strukturierte. Somit stünde zu erwarten, daß der fiktive Bericht strukturell nicht in die
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fragmentierten Monologe des diskontinuierlich perzipierenden und alle Objekte symbolisch konnotierenden Malers zerfiele, sondern, durch klare klinische Schemata gegliedert, auch sprachlich mittels medizinischen Jargons sich über die symbolüberwucherte Vorstellungswelt des Malers erhöbe. Wie jedoch bereits flüchtige /Vcwf-Lektüre lehrt, werden diese beiden Erwartungen vom Icherzähler nachhaltig enttäuscht: Da ihm als einziges Gliederungsprinzip die Abfolge der T a g e seines Aufenthaltes in Weng dient; da er nicht einmal versuchsweise sich mittels klinischen Jargons auf eine Metaebene aufschwingt, wäre der so entstehende Bericht formal als Tagebuch anzusprechen, inhaltlich überdies als Diarium nicht des Famulanten, sondern des Malers, dessen Monologe der Icherzähler weithin kommentarlos protokolliert. An dieser Stelle setzt einseitig realistische Interpretation mit ihrer Kritik scheinbarer Formlosigkeit ein. Da sie die Möglichkeit, der Wahn des Malers könne unrealistischerweise medizinischer Klassifikation tatsächlich entzogen sein, nicht in Erwägung zieht, stehen ihr prinzipiell zwei Deutungsmuster offen, die jedoch beide wenig befriedigen: Erstens kann sie erklären, der Autor habe durchaus intendiert, die Vorstellungswelt des Malers aus wirklichkeitsgewisser Perspektive als Wahn zu dekuvrieren, sei jedoch von seinem Stoff gleichsam überwältigt worden. In der inhaltlichen Ohnmacht des Icherzählers offenbare sich daher schlicht die seines Schöpfers. Der zweite mögliche Vorwurf, ließe er sich erhärten, träfe schwerer, zumal man ihm begrenzte Plausibilität nicht absprechen kann: Sofern sich herausstellte, daß der abstrakte Autor nur deshalb zwischen Chirurg und Maler, „ A r z t " und ,Patient' den in medizinischer Diagnose ungeübten Famulanten schaltet, um dem letztlich doch bloß in subjektiv signifikantem, klinisch identifizierbarem Wahn befangenen Protagonisten ungehemmte Entfaltung zu ermöglichen, so wäre der abstrakte Autor freilich bei einem recht fragwürdigen Täuschungsmanöver ertappt, da die vermeintliche Stärke des Protagonisten durch ephemer motivierte Schwäche seines Gegenübers erschlichen wäre. Für diese Deutung spräche immerhin, daß sie den privaten Zug der Mission, dessen Funktion bislang undurchsichtig blieb, einzubeziehen vermag, indem sie die Konzeption der sowohl feindlichen als auch brüderlichen Beziehung zwischen Chirurg und Maler als freilich unbeholfenen Versuch entlarvt, die Zurückhaltung des vermeintlich eher kompetenten Chirurgen und folglich die Einschaltung des Icherzählers zu motivieren. Sowenig zwar diese Einsicht, daß die inhaltliche Unselbständigkeit des Famulanten bereits in der Rahmenhandlung gründet, vernachlässigt werden darf, sowenig vermag sie als alleinige Erklärung der eigentümlich widersprüchlichen Verschränkung von Installation und Suspension me-
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dizinischer Perspektive zu befriedigen. Wie sich nämlich herausstellt, zeigt sich auch der Chirurg, von dem realistische Rezeption womöglich beherztere Diagnose erwartet hätte, in befremdliche Widersprüche verwickelt. Läßt die vom Famulanten behauptete Einbindung des in entlegene Gegend führenden „Auftrags" sich ohnehin nur mühsam mit der Vorstellung eines regulären medizinischen Praktikums vereinbaren, so wäre zumindest zu erwarten, daß der Chirurg durch klar konturierten Krankheitsverdacht die immerhin ungewöhnliche Mission motiviert. Stattdessen jedoch skizziert er, medizinischen Jargon bereits seinerseits sorgsam meidend, ein irritierend vages Krankheitsbild: Mein Bruder [. . .] ist wie ich unverheiratet. Er ist, wie man sagt, ein Gedankenmensch. Aber heillos verwirrt. Verfolgt von Lastern, Scham, Ehrfurcht, Vorwürfen, Instanzen — mein Bruder ist ein Spaziergängertypus, also ein Mensch, der Angst hat. Rabiat. Und ein Menschenhasser. (Fr, 12)
Ließe sich die Blässe dieser Skizze notfalls mit dem Umstand erklären, daß der Chirurg „den Maler schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen" hat und auch der briefliche Kontakt zwischen den Brüdern vor „zwölf Jahren" (Fr, 12) erstorben ist, so daß der Chirurg gar nicht präzise über das Befinden des Bruders informiert sein kann, so läßt andererseits gerade diese Einsicht am behaupteten Primat medizinischen Erkenntnisinteresses zweifeln. Hingegen zeigt sich der Chirurg, in Widerspruch zur beobachteten Unfähigkeit, seinen Krankheitsverdacht zu präzisieren, so genau nicht nur über den Aufenthaltsort, sondern auch über charakterliche Eigentümlichkeiten des Malers informiert, als habe er diesen nicht vor „zwanzig Jahrefn]", sondern vor weit geringerer Frist letztmals „gesehen". Die vom Famulanten geforderte „Beschreibung" der „Verhaltensweisen" des Malers ist der Instruktion in wenn nicht wesentlichen, so doch auf genauer Kenntnis beruhenden Details bereits immanent: Der Chirurg „verlangt" von seinem Gehilfen eine präzise Beobachtung seines Bruders, nichts weiter. Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile. Einen Bericht über seinen Gang. Uber seine Art, zu gestikulieren, aufzubrausen, „Menschen abzuwehren". Uber die Handhabung seines Stockes. „Beobachten Sie die Funktion des Stockes in der H a n d meines Bruders, beobachten Sie sie genauestens". (Fr, 12)
Zur schärferen Konturierung des Widerspruchs sei überdies erwähnt, daß der Assistent, wie man erst aus dem zweiten Brief des Famulanten erfährt, sich bereits vor Beginn der Mission überzeugt zeigt, daß sein Bruder der „Normalisierung (Heilung)" entzogen und daher „verloren" sei (Fr, 301).
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2.2 Zur Antinomie des Medizinbegriffs Somit wäre nochmals zu fragen, welches Medizinverständnis dem „Auftrag" zugrundeliegt. Wie bereits aufgezeigt, wird der primär empirische Charakter des in Frost manifesten Medizinbegriffs vom abstrakten Autor garantiert. Daher steht die von Chirurg und Famulant bezeugte Abneigung gegen medizinische Sprache und Methode in befremdlichem Widerspruch auch zu ihrer Praxis am Schwarzacher Spital: Gerade als Chirurg ist der Initiator des „Auftrags" mit genau lokalisierter und benannter, durch gezielten Eingriff bekämpfter Krankheit befaßt. Eben dieser, vom Chirurgen praktizierten, vom Famulanten erlernten Organmedizin schlägt jedoch bereits auf dem ersten Blatt des Erzählerberichtes eine gewiß vom Chirurgen inspirierte Verachtung entgegen: Kine Famulatur besteht ja nicht nur aus dem Zuschauen bei komplizierten Darmoperationen, aus Bauchfellaufschneiden, Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und Kinderherausziehen in die Welt. [. . .] Aus dem Vorspiegeln falscher Tatsachen allein kann eine Famulatur auch nicht bestehen, nicht aus dem, daß ich sage: „Der Eiter wird sich ganz einfach in Ihrem Blut auflösen, und Sie sind wieder gesund." Und aus hunderterlei anderen Lügen. Nicht nur daraus, daß ich sage: „Es wird schon!" — wo nichts mehr wird. Eine Famulatur ist ja nicht nur eine Lehrstelle für Aufschneiden und Zunähen, für Abbinden und Aushalten.
(Fr, 7)
Dabei signalisiert das leitmotivische „nicht nur" in der Tirade des Famulanten sowohl sein Ungenügen an organischer Medizin als auch die Schwierigkeit, das nicht nur erwünschte, sondern als bereits existent behauptete Mehr positiv zu bestimmen. Offensichtlich zielt seine Kritik auf die O h n m a c h t der Medizin gegenüber unheilbarer Krankheit und T o d : Ihre Hilflosigkeit angesichts körperlichen Zerfalls verberge Medizin hinter handwerklicher Betriebsamkeit und tröstenden „Lügen". Sodann kommt der Famulant auf das behauptete Mehr des Medizinischen zu sprechen: Eine Famulatur muß auch mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten rechnen. Mein Auftrag, den Maler Strauch zu beobachten, zwingt mich, mich mit solchen •uißerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. Ks bis zu einem gewissen erstaunlichen Grad an Möglichkeiten aufzudecken. Wie man eine Verschwörung aufdeckt. (Fr, 7)
An dieser eigenwilligen Bestimmung empirisch-medizinischer Intention fällt sofort auf, daß sie deren Grenzen nicht nur verläßt, sondern die Grenzüberschreitung auch widerwillig einbekennt: Die schwerlich zu leugnende Tatsache, daß empirische Medizin ihre Aufgabe durchaus nicht darin erblickt, „Unerforschliches zu erforschen", manifestiert sich zwangsläufig in dem Geständnis, daß allererst sein „Auftrag" die Forderung an ihn heranträgt, ,Außerfleischliches' zu erforschen, statt seine
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Kenntnisse im „Aufschneiden und Zunähen" zu vervollkommnen. Das dem „Auftrag" zugrundeliegende Medizinverständnis scheint von empirischer Medizin soweit entfernt wie der entlegene Gebirgsort Weng vom Schwarzacher Spital. Wie man bei näherer Betrachtung feststellt, ist die Beziehung zwischen empirischer, als „Spital" (Fr, 162) objektivierter Medizin und im „Auftrag" manifestem Medizinverständnis antithetischen Wesens. Auffällig ist überdies, daß der Chirurg ebenso wie sein Famulant den elementaren Konflikt zwischen beiden unvereinbaren Positionen nicht aufzulösen trachtet, sondern, scheinbar unproblematisch summierend, diese antinomisch verschränkt. In der folgenden programmatisch-widersprüchlichen Äußerung des Famulanten, die das Denken auch des Chirurgen skizziert, wird die Historizität des Konfliktes faßbar: „Und es kann ja sein", so der Famulant noch vor Antritt seiner Reise, daß das Außerfleischliche, ich meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, v o n der ich ja nicht weiß, o b es sie gibt, v o n der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte V e r m u t u n g jahrtausendealte W a h r heit ist; es kann durchaus sein, d a ß das Außerfleischliche, nämlich das o h n e die Zellen, das ist, w o r a u s alles existiert, und nicht u m g e k e h r t und nicht nur eines aus dem andern. (Fr, 7)
Dieses syntaktisch wie semantisch verwickelte Satzgebilde verdient geduldige Analyse. Der Grundwiderspruch besteht darin, daß sich die Annahme eines Immateriellen, aus dem „alles existiert", an dem jedoch „die Seele" substantiell nicht partizipiert, schwerlich mit christlichem Seelenglauben vereinbaren läßt, auf dem der Famulant aber gleichwohl beharrt. In der Konfrontation von christlicher Seelenlehre und dem Postulat eines ,,Außerfleischliche[n]", das nicht göttlichen Geistes sei, wird die geschichtsphilosophische Dimension der antinomischen Verschränkung des formalen Subjekt-Objekt-Gegensatzes mit dessen inhaltlicher Aufhebung, der realistischen mit der symbolischen Textebene faßbar: als antinomische Struktur empirischer Humanmedizin selber, deren christlichidealistische Provenienz, als formstiftendes Prinzip, moderner materialistischer Ausrichtung widerspricht. Im motivischen Schwarzacher Spital wird die realgeschichtliche christliche Bedingtheit heutiger Humanmedizin als Hypostasis des idealistischen Subjekts verbildlicht, das sich kraft göttlichen Geistes substantiell und über bloß sinnliche, daher sterbliche Materie erhaben wähnt: „geistliche Schwestern" wirken in der Klinik, die „ein paar Schritte nur" von der „Kirche" entfernt ist, „denn die Kirche ist an das Spital angebaut oder das Spital an die Kirche", die beide aus den gleichen „dicken Wände[n]" gemauert sind (Fr, 162). Betritt in Gestalt des Chirurgen Strauch der erste spezifisch Bernhardsche Naturwissenschaftler die bewegte Bühne dieses Autors, so begegnet mit dem massiv gemauerten Schwarzacher Spital das
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Urbild jener festungsartigen, indes dem Verfall geweihten Bollwerke, in welchen sich die Protagonisten der ersten Werkphase scheiternd verschanzen. Nicht erst dem Icherzähler der Korrektur gelten die Wälle solcher Festung als „ungeheuerliche, alles in mir befestigende Mauern" (Ko, 78): Es sind Objektivationen christlicher Verheißung, derzufolge das Individuum nicht bloß flüchtige, dem Untergang geweihte Erscheinung, sondern kraft geistiger Substantialität unsterblich sei. Wie zu zeigen sein wird, vollzieht auch der Chirurg die im Burg-Motiv objektivierte statischhierarchische Struktur auf subjektiver Ebene nach. In der zentralen Intention der Medizin manifestiert sich deren formale Abhängigkeit von christlichem Glauben: Die Vorstellung physischer Heilung geht ursächlich aus christlich-metaphysischer Heilserwartung hervor. Galten noch mittelalterlicher Medizin spirituelle Seelenkräfte als Träger physischen Lebens, so erfolgte spätestens Ende des 18. Jahrhunderts die materialistische Wende heilkundlichen Bestrebens: Indem die neue Medizin programmatisch Krankheit nicht mehr im Seelischen, sondern in fleischlichem Gewebe lokalisierte, wandelte Heilkunde sich sukzessive zur biotechnischen Naturwissenschaft. Wenngleich in neuerer Zeit eine psychosomatisch' orientierte Strömung die eingebüßte LeibSeele-Einheit erneut zu erfassen trachtet, so steht zeitgenössische Medizin gleichwohl im Bann naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals: Indem der Arzt als Biotechniker sich nicht der „Seele", sondern dem isoliert als Mechanismus visierten Organismus widmet, büßt in medizinischer Methode die christliche Lehre ihre Bedeutung, die „Seele" selber ihre Substantialität ein. Damit aber verliert der Einzelne auch seine Individualität: Gleich jeglichem Gegenstand naturwissenschaftlichen Forschens regrediert er zum Exemplar. Daher auch sinkt er, in zweifacher Hinsicht, vom Subjekt- zum Objektstatus hinab: Objekt zum einen naturwissenschaftlicher Einsicht, visiert Medizin ihn zum andern als bloßes Medium überindividueller Prozesse des Lebens und Verfalls. Indem Biotechnik an physikalischer und chemischer Erkenntnis außermenschlicher Natur partizipiert, erweist sie, daß sich auch das Leben des Einzelnen den nämlichen, ihm äußerlichen Kräften verdankt: mit den Worten des Famulanten dem, „was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein", aus dem jedoch „alles existiert" (Fr, 7). In antinomischen Widerspruch verstrickt sich Medizin insofern, als sie zwar durch eigene materialistische Fixierung christlichen Glauben zum leeren Dogma aushöhlt, jedoch zugleich von christlicher Hypostasis autonomen Geistes, vom idealistisch-individualistischen Subjektbegriff abhängig bleibt, da dieser allererst den als „Verstand" säkularisierten ,Geist' in seinem Anspruch auf Erkenntnis und Beherrschung, statt blinder Dienerschaft, der Natur legitimiert. Erweist biomedizinischnaturwissenschaftliches Forschen, daß die im „dicken" (Fr, 162) Schwarzacher Gemäuer objektivierte Verheißung Trug sei, daß organisches,
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inner- wie außermenschliches Leben in allen seinen Erscheinungen ums Individuum unbekümmert und einzig der „linearen Wiederholung des Entstehens, Untergehens und Wiederentstehens" verpflichtet sei, so beruft es sich wider eigene Einsicht gleichwohl aufs idealistische Axiom vom „echten Phönixleben des Geistes", das nach Hegel „die sonst lineare Wiederholung [ . . . ] erst zum wahren Kreislauf umbiegt" 1 0 . Auch der Chirurg des Frosi-Textes beruft sich damit auf eine „Wahrheit" {Fr, 7), die wenn nicht widerlegt, so doch von zweifelhaftem W e r t ist für ein Denken, dem als verläßliche Wahrheit einzig wissenschaftlich Verifizierbares, die Erkenntnis des „klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) gilt. Dieser wähnt sich durch christliche Seelenlehre legitimiert, die er zugleich, durch materialistische Fixierung, liquidiert. ,Physik' und »Metaphysik' treten zu unversöhnlichem Widerspruch auseinander: Transzendentaler Heilserwartung steht die naturwissenschaftliche Einsicht gegenüber, daß das Individuum,unheilbar', „heillos" (Fr, 12) sei, da es einem Mechanismus gleiche, dessen konstitutives Merkmal unaufhaltsamer Zerfall ist. Der „klare, berechnende Verstand" errechnet sich selber als substanzlos, abhängig, ephemer. Folgerichtig gelangt auch der Frosi-Chirurg zur Annahme eines transzendentalen Lebensprinzips, das, an die Schopenhauersche Konzeption gemahnend, christlicher Metaphysik diametral widerspricht: Diese erklärt, daß für sich unförmige und tote Materie erst durch befristete Vereinigung mit der Seele zum Leib organisiert und belebt werde; daß folglich einzig dem Geist als Emanation des Göttlichen Substantialität und Unsterblichkeit zukomme, weshalb auch der Einzelne kraft Vernunft und Bewußtsein nicht O b j e k t , sondern Subjekt seiner irdischen Existenz sei. Dieses idealistische Konzept erfährt auf seinem Hegeischen Höhepunkt durch Schopenhauers Philosophie scharfen Widerspruch: Unsterblichkeit, so Schopenhauer, komme nicht dem Individuum, weder in seinem körperlichen noch in seinem geistig-seelischen Aspekt, sondern einzig der „platonischen Idee" zu, vermittels welcher sich das „Wille" genannte Lebensprinzip befristet im Individuum objektiviere. In genauem Gegensatz zu Hegel könne nicht das Bewußtsein des Einzelnen, das bloßer Diener des „Willens" sei, Substantialität beanspruchen; vielmehr
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G . W . F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II. In: W e r k e in 20 Bänden. Frankfurt/ Main 1970. Bd. 14. S. 140. — Kurztitelnachweis: Hegel, Ästhetik. — Diese Einschaltung eines Hegel-Zitates und im folgenden einiger Schopeni.auer-Zitate rechtfertigt sich dadurch, daß idealistische und vom Idealismus beeinflußte Philosophie — im wesentlichen K a n t , Hegel, Schopenhauer — einen bedeutsamen Anspielungshorizont des Bernhardschen Werkes bildet. Dieser heteroreferentielle Aspekt wird bereits im Verlauf der f r o i f - S t u d i e , deutlicher noch in den beiden nachfolgenden Studien hervortreten.
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k o m m e diese einzig dem transzendentalen, mittels der unerforschlichen N a t u r g e s e t z e jegliche Materie durchwaltenden Lebensprinzip zu. Während daher Hegel erklärt, daß der T o d lediglich den physisch-natürlichen Aspekt des Menschen vernichte, stellt umgekehrt Schopenhauer fest, daß der Einzelne den T o d als Ersterben nicht seiner physischen Objektseite, sondern seines Bewußtseins, seiner Individualität erfährt."
2.3 Zur Intentionalität der antinomischen Verschränkung Der Schopenhauersche „Wille" hat mit der von Famulant und Chirurg in Frost postulierten „außerfleischlichen" (Fr, 7) K r a f t zumindest soviel gemein, daß beide Konzeptionen mit der Hypostasis autonomen Geistes auch das idealistische Subjekt suspendieren. Mit der Annahme eines überindividuellen Immateriellen, das naturgesetzlich jegliche Materie durchwalte, büßt das Individuum sowohl seine Substantialität als seine Autonomie gegenüber außermenschlicher N a t u r ein. Indem der Chirurg ebenso wie der Famulant gleichwohl auf christlichem Seelenglauben insistiert, entsteht in ihrem Denken jene Form-Inhalt-Antinomie, die auch das Frost-Konzept als Ganzes strukturiert. Damit wird dessen Intentionalität auf Figurenebene faßbar: Es ist der Versuch des Chirurgen, christlich-idealistische Geist-Materie-Konzeption und damit die Herrschaft des „klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) zu retten, indem er wider eigene Einsicht zu gewaltsamer Vermittlung mit subjektivem ,Geist' zu zwingen trachtet, was dessen Anspruch auf Autonomie und Substantialität liquidiert. E s ist der Versuch, als .Krankheit' medizinischer Methode zu unterwerfen, was individuelles Leben schlechthin als unheilbare Krankheit bestimmt. Im folgenden Kapitel wird zu zeigen sein, wie sich diese antinomische S t r u k t u r auf subjektiver Ebene im Bewußtsein des Chirurgen manifestiert. D a der abstrakte A u t o r den Assistenten als Repräsentanten des Schwarzacher Spitals konzipiert, das die antinomische Verschränkung von christlicher Provenienz und materialistischer Fixierung der Medizin verbildlicht, wird seine Intention ersichtlich, den Konflikt des Chirurgen als subjektives Korrelat historisch-objektiver Antinomie zu konzipieren. Daher steht zu erwarten, daß der abstrakte A u t o r bestrebt sein wird, den Widerspruch zwischen Intention a u f , H e i l u n g ' und insgeheimer Einsicht in die ,Unheilbarkeit' des Individuums, zwischen transzendentaler Heils-
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Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürcher Ausgabe. Zürich 1977. Bd. 11,2, S. 551. — Kurztitelnachweis: Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung
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erwartung und Heillosigkeit, soweit als möglich figurenunabhängig zu objektivieren. Jedoch zeugt bereits der fiktive „Auftrag" vom Problematischen des Vermittlungsversuchs: Entgegen der Behauptung von Chirurg und Famulant, entgegen auch, wie noch deutlicher zu zeigen sein wird, der Intention des abstrakten Autors, bleibt der vom Chirurgen behauptete medizinische Charakter des „Auftrags", bleibt dessen Einbindung in empirischreale Medizin figurenabhängige Behauptung, die das Fiktionskonzept nicht objektiviert, sondern widerstrebend widerlegt. Die vom abstrakten Autor konzipierte Antinomie erweist sich als zumindest ihrem Grad nach unrealistisch', folglich als mit der realistischen Bedeutungsschicht nicht zu vermitteln. Erscheint bereits der Chirurg, in dessen Bewußtsein die Antinomie von idealistischem Axiom und materialistischer Einsicht zu zwar schroffem, jedoch dem Chirurgen unbewußtem Widerspruch auseinandertritt, als nicht recht glaubwürdige Figur, so ließe sich erst recht von empirischer Medizin schwerlich behaupten, daß eine deren zentrale Intention dementierende Erkenntnis sich in medizinischer Reflexion offen manifestiere, ohne als Widerlegung erkannt zu werden. Somit erklärt sich der auf realistischer Textebene schwerlich zu deutende mysteriöse Zug des „Auftrags" aus dem Umstand, daß die der Mission zugrundeliegende Annahme eines überindividuellen „Außerfleischliche[n]", das „nicht die Seele" (Fr, 7) sei, Intention und Gegenstand des Medizinischen liquidiert: Mit der Einsicht in Individuation als T r u g , als Schopenhauerschen „Schleier der Maja", beginnt sich das Individuum als eigenständiges Phänomen gleichsam zu verflüchtigen; sowenig Medizin intendieren kann, Unheilbares zu heilen, sowenig vermag sie ihre Perspektive länger aufs Individuum zu verengen, in dem, als einem heillosunbeseelten, sie vergeblich nach den Gesetzen des Werdens und Vergehens forscht. Vielmehr erweitert sich der Blick so bestimmter Medizin vom Individuum auf die gesamte ,Natur'. Gilt der Maler Strauch empirisch-realer Humanmedizin als des Wahnsinns verdächtiges Subjekt, so dem antithetischen Medizinverständnis des Chirurgen als „Objekt" dem Einzelnen äußerlicher „Untergänge" (Fr, 303), dessen ,wahnhafte' Vorstellungswelt eine Krankheit weder des Körpers noch gar der „Seele", sondern, als passiv reflektierender Brennspiegel, den überindividuellen Prozeß der Liquidation christlich-idealistischer Lehre durchs ,außerfleischliche' Lebens- und Verfallsgesetz manifestiert. Indem der Chirurg gleichwohl auf dem idealistischen Subjektbegriff insistiert, entsteht jene antinomische Verschränkung, die Uberindividuelles nur um den Preis im Individuum zu reterritorialisieren vermag, daß sie fortan ,Krankheit' nennen muß, was früher ,Leben' hieß.
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2.4 Zur antinomischen Beziehung der fiktiven Welten Schwarzach und Weng Jedoch manifestiert sich das antithetische Medizinverständnis des Chirurgen bereits eingangs des Textes auch darin, daß er den Famulanten vor einer vagen Gefahr warnt, die weniger durch den Maler als vielmehr durch diesen umgebende,Natur' drohe: In düsteren „Andeutungen" charakterisiert der Chirurg den Gebirgsort als „gefährliches Wegstück", „das ein Freund zu gehen hat" (Fr, 10). Das zertrümmerte Mauerwerk des fiktiven Gebirgsortes ist die genaue Antithese zu den scheinbar noch unzerrütteten „dicken Wände[n]" (Fr, 161) des Schwarzacher christlichen Bollwerks, die nurmehr mühsam die inneren Mauern des Chirurgen, sein verstandbestimmtes Selbstideal befestigen: Endstadium eines durch materialistische Fixierung der Moderne entfesselten Verfallsprozesses, welches das Denken des Chirurgen ebenso wie das Erzählkonzept des abstrakten Autors sowohl offenbart als auch antinomisch mit seinem einst intakten Urbild verschränkt. Das zertrümmerte Weng ist des Chirurgen objektivierte Vision von Ursachen und Ziel des Geschicks, das auch dem Schwarzacher Mauerwerk droht; die ,Krankheit* des Malers nichts als das subjektive Korrelat dieses Schicksals, dessen der Chirurg sich mit nurmehr mühsam unterdrückter „Verzweiflung" (Fr, 199) erwehrt. In einer Skizze des Famulanten erscheint auch der Ort Schwarzach andeutungsweise als Objektivation zerfallsbedrohter statischer Struktur: Alles an einem Eisenbahnknotenpunkt [. ..]. Ein Wasserfall schneidet den Ort auseinander. . . ] Schwere Gewitter und nachfolgende Erdrutsche verändern dauernd den Ort. [. . . ] Das Wasser ist [ . . . ] die Ursache vieler Krankheiten am Ort. (Fr, 271 f)
Die zeichenhafte Funktion sowohl des in Weng wiederbegegnenden Flusses als auch von dessen maschineller Reproduktion, der »Eisenbahn', wird in späteren Abschnitten erörtert. Deutlich wird aber bereits hier, daß des Chirurgen Selbstideal auch in der fiktiven Welt Schwarzach in Widerspruch zur objektivierten Raumstruktur gerät, die von „Erdrutsche[n]", gleichsam den Vorboten des Wengschen ,,Diluviumszerfall[s]" (Fr, 301), erschüttert wird. Der Famulant soll vermitteln, was sich der Vermittlung schlechthin entzieht: den Allmachttraum idealistischen Geistes mit seinem Erwachen in Machtlosigkeit; die alles mit sich reißende Flut entfesselter Materie mit dem nur scheinbar steinernen, in Wahrheit bereits zu Tropfen und Atomen zerstiebenen Damm. „,Das ist ja fast gar kein Licht', sagt" der Chirurg, „und die Operation fängt an" (Fr, 162). Sie führt von Schwarzach, wo es „noch nicht ganz finster" ist (Fr, 271), nach Weng, dem ,,düsterste[n] O r t " , den der Famulant „jemals gesehen" hat (Fr, 10). Das
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Schwarzacher Mauerwerk, das obsessiv asketische Selbstideal des Chirurgen ist bereits nicht mehr gleichgewichtige Antithese, sondern bloße Vorstufe, mühsam zur Statik verhaltene Voraussetzung des nur scheinbar fernen Verfalls.
3. Zur antinomischen Selbststruktur des fiktiven Auftraggebers Der auf Figurenebene angedeuteten Entzweiung der feindlichen Brüder entspricht auf subjektivem Niveau die gleichfalls entzweite Bewußtseinsstruktur des fiktiven Auftraggebers, dessen Persönlichkeit virtuell in lichte .Tagseite' und finstere .Nachtseite' zerfällt. Objektiviert jene sich im Wirken des Chirurgen an der Schwarzacher Klinik, somit in formal vom idealistischen Subjektbegriff abhängiger empirischer Humanmedizin, so scheint umgekehrt der .nächtliche' Aspekt des Chirurgenbewußtseins in der Vorstellungswelt des Malers expliziert und in Motiven und Struktur der fiktiven Welt Weng objektiviert: Während der praktizierende Chirurg menschliche Krankheit mit rein verstandbestimmten Mitteln zu erfassen und bekämpfen trachtet und auch sein Selbstideal sich im steten Bemühen um Herrschaft des „klaren, berechnenden Verstandes" ( F r , 296) manifestiert, ergeht sich der Assistent nächtens in Spekulationen, die insgeheim mit dem idealistischen Geist-Materie-Konzept medizinische Intention ebenso wie seine verstandbestimmte Ich-Definition dementieren, indem sie statt individualistischem Geist einzig dem sowohl überindividuellen als auch immateriellen ,,Außerfleischliche[n]" ( F r , 7 ) Substantialität konzedieren. Das Verhältnis zwischen ,Tagseite' und .Nachtseite', Postulat und Liquidation subjektiver Verstandesherrschaft, zwischen empirisch-medizinischer Intention auf Heilung und nächtlicher Einsicht in elementare ,Unheilbarkeit' des Individuums ist somit antithetischen Wesens. Indem der Chirurg seine nächtliche Einsicht in Ohnmacht und ephemeren Status subjektiven Verstandes mit seinem auf Herrschaft des nämlichen Verstandes sich berufenden ,lichten' Selbstideal, somit medizinische Intention und deren Liquidation zu vermitteln trachtet, werden Thesis und Antithesis in seinem Denken und Handeln antinomisch verschränkt. Das fragwürdige Resultat zwangsweiser Vermittlung des schlechthin Inkommensurablen manifestiert sich darin, daß der Chirurg zwar f o r m a l die zentralen Begriffe des Medizinischen, Krankheit und Heilung, zu erretten vermag, jedoch um den ruinösen Preis, daß er virtuell mit deren Bedeutung auch medizinische Intention i η h a 111 i c h je ins Gegenteil verkehrt.
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Indes wird dialektische Analyse erweisen, daß Thesis und Antithesis sich auch im Chirurgenbewußtsein keineswegs als schroff geschiedene Gegensätze gegenüberstehen. Vielmehr schlägt auch hier das zum Äußersten zugespitzte Extrem in seinen nur scheinbar fernen und fremden Widerpart um: Der scheinbare Verfechter individuellen Lebens wird unversehens zum „Assistenten" des T o d e s , den er, ein Dialektiker der Skalpellkunst, nicht sowohl bekämpft als vollstreckt sowie auf subjektivem Niveau nach Kräften antizipiert. Die Schwarzacher „dicken Wände" strömen eine vom Chirurgenbewußtsein nachvollzogene Starre und „Kälte" ( F r , 162) aus, die, nicht dem Leben sondern dem T o d eignend, Chirurg und Spital nicht von Weng und Maler scheidet, sondern diese als jenen dialektisch immanent erweist.
3.1 Zur ,Tagseite' des Assistenten: Der Chirurg als „Gebirgsmassiv" Wie bereits aufgezeigt, wird mit der motivischen Schwarzacher Klinik empirische Medizin als einerseits christlicher Lehre verpflichtet, zum andern naturwissenschaftlich orientiert objektiviert. Entgegen der Beteuerung des Famulanten scheinen die Schwarzacher ärztlichen Bemühungen sich durchaus auf Manipulation oder bloße Sekundanz organischer Prozesse zu beschränken: auf „Aufschneiden und Zunähen", auf „Totenaugenzudrücken und Kinderherausziehen in die Welt" ( F r , 7). Dem Famulanten galt solche materialistische Medizin als lügnerisch und hilflos: Ihre bedrückende Ohnmacht gegenüber unheilbarer Krankheit, ihre generelle Machtlosigkeit gegenüber letztlich ohnehin unaufhaltsamem organischem Verfall verberge Medizin hinter dem „Vorspiegeln falscher Tatsachen" und wohlfeilen „Lügen" ( F r , 7). 3.1.1 Zur antinomischen Struktur des Selbstideals des Assistenten Obwohl der Chirurg diese Kritik seines Gehilfen nicht nur teilt, sondern seinerseits inspiriert hat, scheint er bei oberflächlicher Betrachtung bruchlos ins Schwarzacher medizinische Getriebe integriert: Offenbar nicht einzig dem bewundernden Famulanten gilt er als „Erfolgsmensch", der bereits „Lokalruhm" erlangt habe ( F r , 199), „wie sich das jeder Arzt mit der Zeit wünscht" ( F r , 201). Die vom Famulanten skizzierte Charakterisierung des Chirurgen gipfelt in dem Lobeswort, der Assistent sei ein „Gebirgsmassiv" ( F r , 201). Bereits dieses eigenartige Kompliment zeugt nicht nur von der unmäßigen Bewunderung und folglich Unselbständigkeit des Icherzählers, sondern läßt auch eine gewisse Verhärtung und Neigung zu monumentaler Selbstüberhöhung im Wesen des Chirurgen erahnen. Da das statische
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Beharren eines empirisch-geologischen „Gebirgsmassivfs]" sich der endlichen Abkühlung und Erstarrung magmatischer berginnerer Massen verdankt, die freilich, als noch glühendflüssige vulkanische, die steinerne Erhebung allererst aufwarfen und entfalteten, scheint die Metapher des Famulanten den Chirurgen als einen Menschen mit gleichsam erloschener oder zumindest zur Unkenntlichkeit bezähmter sinnlicher Lebendigkeit zu charakterisieren. „Er bebt nicht" (Fr, 199), rühmt der Gehilfe seinen Meister: ein ohnehin verfehltes Urteil, das im übrigen zur Charakterisierung eher der statischen Qualität oder seismologischen Fundierung eines Bauwerks als der Bewußtseinsstruktur eines Individuums geeignet scheint. Damit wird die Funktion der geologisch-metaphorischen Charakterskizze vom fiktiven Auftraggeber ersichtlich: Die seismologische Unbedenklichkeitserklärung des Famulanten weist die Bewußtseinsstruktur des Assistenten als subjektives Korrelat der scheinbar noch intakten Schwarzacher „dicken Wände" (Fr, 162) aus, so daß deren mögliche Gefährdung sich freilich gleichfalls auf subjektivem Niveau offenbart: Weiterhin scheinbar arglos lobend, liefert der Famulant erste Hinweise auf den Widersacher, gegen den die sowohl hochmütige als defensive Verhärtung sich richtet: Der Chirurg sei ein Mensch, der Verzweiflung nicht kennt oder einfach nicht an sich herankommen läßt. N u r bis zu einem noch nicht schmerzauslösenden Grad. Wohl besorgt um das Leben seines Bruders. Aber nur aus einem schlechten Gewissen heraus. Er bebt nicht. (Fr, 199)
Gewiß nicht zufällig flicht der Icherzähler an dieser Stelle eine Vermutung bezüglich des Brüderverhältnisses ein: Erweist das vielfach untergrabene, von Getier unterhöhlte, von Detonationen zersprengte Wengsche Gebirgs- und Mauergestein sich als genaues Widerbild der Schwarzacher festungsgleichen Wälle, so tritt auch der Maler in Gegensatz zwar nicht zum tatsächlichen Befinden, aber doch zum Selbstideal des Chirurgen: Nach dem gewiß zutreffenden Urteil des Famulanten ist der Maler ein Mensch, der „alles flüssig" macht, den „Charakter, das Festeste." (Fr, 111) Solche eruptive Erweichung subjektiver Gesteinshärte scheint der Chirurg von einer „Verzweiflung" zu fürchten, deren Ursache zunächst undeutlich ist. Die gefürchtete Emotion übertäubt er mit rastloser chirurgischer Praxis: Eine Tätigkeit, die ihn ganz in Anspruch nimmt, T a g und Nacht, seine Chirurgie [ . . . ] , läßt ihn nicht tiefer nachdenken, wie das Menschen tun können und wollen, die im Grunde keinen Beruf haben und also fast immer mit sich beschäftigt sind. (Fr, 199 f)
Wie leicht zu erkennen, scheint in diesem Gegenbild wiederum die Person des Malers auf, dessen Künstlertum als scheinbar selbstreflexive Lebensform den Gegenpol zu naturwissenschaftlicher Praxis bilde. Dem Chirur-
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gen, der nicht nur „Träume", sondern auch „Ästhetik" „haßt", war das künstlerische Wirken seines Bruders „immer ein Greuel" (Fr, 200). Ihm erscheinen annähernd alle Aspekte seines Wesens, die ihm bei etwaiger Beschäftigung „mit sich selbst" begegnen könnten, verächtlich und, sofern bedrohlich, gar verhaßt. Sein Leben steht unter der Devise: „Im Operationssaal wird nicht nachgedacht, nur gehandelt" (Fr, 200), und er scheint zu bedauern, daß nicht das ganze Leben ein einziger „Operationssaal" ist. Er gönnt sich „kaum Unterhaltung", „kaum Abwechslung" und „keine Launenhaftigkeit", wodurch er zwar „Schwermut" und „bohrende Erinnerung" schlau vermeidet, jedoch um den Preis emotionaler Kälte und Isolation: „Das Du kommt ihm leicht über die Lippen, aber es bedeutet nicht viel." (Fr, 200) Als Junggeselle (vgl. Fr, 12) meidet er „Frauen" (Fr, 200); er ist „kein Spielverderber, weil kein Teilnehmer an einem Spiel", und gewiß „kein Schwärmer" (Fr, 201), sondern gemäß seinem Selbstideal zu verstandbefohlener Statik erstarrt. „Es scheint, als habe er nie gelitten", rühmt der Famulant (Fr, 200). Jedoch scheint sein auf starre Rationalität fixiertes, sowohl sinnen- als seelenfeindliches Selbstideal nurmehr mühsam mit der täglich ihm vor Augen geführten christlichen Provenienz seines Metiers vereinbar: Am Sonntag geht er in die Kirche. Er hütet sich, mehr als das Vorgeschriebene zu glauben. (Fr, 200)
Scheidet sich für den Anhänger christlichen Glaubens die emotionale Sphäre in inbrünstig Innerliches und sinnlich-sündiges Äußerliches, so scheint dem Chirurgen, der sich vor „Frauen" ebenso wie vor christlicher Hingabe „hütet", die Grenze zwischen geheiligtem und teuflischem Gefühl zur Unkenntlichkeit zu verschwimmen. Somit manifestiert sich im gequält allsonntäglichen Kirchgang des Assistenten einerseits dessen Einsicht in die objektive Abhängigkeit empirischer Humanmedizin vom idealistischen Subjektbegriff und folglich medizinischer Intention von metaphysischer Heilserwartung, die der Seele des Subjektes „echtes Phönixleben" und bloß seiner „Naturseite" 12 endlichen Verfall verheißt. Zum andern jedoch bezeugt die Furcht des Chirurgen vor religiöser Inbrunst seinen insgeheimen Glaubensverlust und folglich Substantialitätsschwund seiner Subjektivität, die sich hinter der frontgleichen „Linie des klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) verschanzt. Mit dem Verlust christlichen Glaubens bei gleichzeitigem Beharren auf idealistischer Geist-Leib-Hierarchie verfällt aus subjektiver Perspektive nach dem Bereich des Fleischlichen auch die emotionale Sphäre zur Gänze dem Machtbereich ich-fremder Natur. Erwies naturwissen-
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schaftlich sich orientierende moderne Medizin, daß auch menschliches Leben durchaus nicht seelischen Kräften, sondern den nämlichen Prozessen, die auch außermenschliche Natur durchwalten, sich verdanke, so tritt schließlich Psychologie sekundierend hinzu und erklärt auch das einst als Seelentiefe geheiligte Unbewußte zur verschwiegenen Bühne von Trieb, Sinnlichkeit, Natur. Die idealistische Subjekt-Konzeption, in der das Selbstideal des Chirurgen gründet, gerät damit in hoffnungslose Position: Die zum bloßen, willkürlich isolierten Verstand reduzierte Subjektivität des Chirurgen sieht sich nicht nur der zu schlechtem Schluß ohnehin unvermeidlichen Liquidation auch des Verstandes durch organischen Tod konfrontiert, sondern muß überdies allnächtlich gleichsam bitteren Vorgeschmack auf ihre letzliche Machtlosigkeit und nur scheinbare Stärke durchleiden: Es ist die organische Notwendigkeit des Schlafes, die in unerbittlichem Rhythmus vollzogene Ausschaltung des bewußten Verstandes, die ihn insgeheim über die Hoffnungslosigkeit seines Kampfes belehrt 13 : Zwar „haßt" er „Träume" (Fr, 200); zwar sucht er den Schlaf auf ein Mindestmaß zu verringern, nimmt „Krankengeschichten [ . . . ] mit auf sein Zimmer, in dem auch um zwei Uhr früh Licht brennt", und das er um „sieben" bereits wieder verläßt (Fr, 201). Jedoch ist sein Haß auf „Träume", auf das ihm gleichwohl immanente unbewußte Gegenreich, ebenso ohnmächtig wie das schwächliche „Licht", das „auch um zwei Uhr früh" noch der letztlich gleichwohl unaufhaltsamen Finsternis wehrt. Im furchtsamen Bewahren des schließlich doch verlöschenden Lichtes, des christlichen Symbols göttlich-ewigen Geistes, manifestiert sich die Einsicht des Chirurgen, daß menschliches Leben sich nicht dem Licht eingehauchten Bewußtseins, sondern umgekehrt dieses sich einer finsteren, da blind-unbewußten Macht verdankt, die, ob „das Außerfleischliche" (Fr, 7) oder Schopenhauerscher „Wille" genannt, sich ums Individuum, seinen Allmachttraum, seine schwindende Heilsgewißheit gänzlich unbekümmert zeigt. Diese insgeheime Einsicht des Assistenten ist Resultat nicht subjektivbeliebiger Obsession, sondern der realhistorischen materialistischen Wendung der Moderne, die auch empirische Medizin mit ihrer christlichen Intention und Herkunft, insgesamt die F o r m naturwissenschaftlichen Forschens mit ihrem Gegenstand entzweit. Manifestiert sich im massiven Mauerwerk des Schwarzacher Spitals die anmaßende Hypostasis subjektiven, virtuell bereits zum instrumenteilen Verstand säkularisier1
' Bereits Schopenhauer gilt der „Schlaf" als „Bruder", die „Ohnmacht" als „Zwillingsbruder des Todes" (Welt als Wille und Vorstellung, II, 2, S. 549.) Aus dieser Furcht vor dem Schlaf als Bewußtseinsverlust erklärt sich die zeichenhafte Schlaflosigkeit nahezu aller Bernhard-Protagonisten.
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ten Geistes, so lehrt ein flüchtiger Seitenblick auf die geologische Genese des metaphorisch-subjektiven ,,Gebirgsmassiv[s]" (Fr, 201), daß dieses gleich dem sich unsterblich wähnenden Individuum seine erhabene Statik jener ihm immanenten, form- und haltlosen eruptiven Materie verdankt, die auch den monumentalen Gebirgszug nach ungewisser Frist wieder überfluten, umfalten oder einebnen wird. Es zählt zu den konstitutiven Techniken Bernhardschen Erzählens, daß dieses christliche Verheißung vermittels deren zentraler ikonographischer Objekte widerlegt, die allesamt an dem Mangel kranken, daß sie,Erhabenheit' und,Ewigkeit' einzig in solchen Gegenständen verbildlichen können, die menschliche Existenz nur um irdisch-geringe Differenz überdauern und überragen. In der fiktiven Welt Weng wird der Schopenhauersche „Schleier der Maja" selbst dort zerrissen, wo Schleier und Verschleiertes eins schienen. Die Historizität dieses Vorgangs, die antinomische Verschränkung idealistischen Geist-Materie-Konzeptes mit dessen dissident-säkularisierter Spielart wird daran faßbar, daß es technologisch-industriell genutzte naturwissenschaftliche Einsicht ist, die ikonographisch Erhabenes, Individuelles und scheinbar auf ewig hierarchisch Gegliedertes zu blinder und formloser Masse zersetzt. 3.1.2 Antinomie als insgeheime Todesfixierung . Zu fragen wäre aber zunächst, wie diese antinomische Verschränkung, die ihren katastrophischen Charakter erst in Weng offen enthüllt, sich im chirurgischen Tagwerk des Assistenten insgeheim offenbart. Hier zeigt sich, daß „die Chirurgie" dem Assistenten entgegen der verharmlosenden Erklärung seines Gehilfen keineswegs als beliebige » Tätigkeit" (Fr, 199), als Flucht ins gleich wodurch Betäubende gilt. Vielmehr erscheint ihm der „Operationssaal", in dem nicht „nachgedacht" und schon gar nicht mitempfunden, sondern „nur gehandelt" (Fr, 200) wird, gleichsam als Stätte des Kampfes zwischen Verstand und Verfall. Einen matten Abglanz dieses illusionären Kämpfens erkennt man bereits im kargen Privatleben des Chirurgen, der im Spitalhof überraschenderweise dem Tennissport obliegt, jedoch nicht etwa zwecks verpönter » Unterhaltung", sondern mit gewisser Verbissenheit gegen „Anzeichen von Fett", die indes „nicht mehr wegzubringen sind" (Fr, 200). Gleichwohl stellen sie einen vorläufig noch schwachen Angriff auf die trügerische Unbeugsamkeit des steinernen Selbst, eine scheinbar unbedeutende Niederlage des auf stete Herrschaft bedachten Verstandes dar; erst der Bruder des Chirurgen sieht sich, buchstäblich schmerzgebeugt, altersbedingtem Verfall in voller Schärfe konfrontiert. Verfall, der indes als sicheres Schicksal auch im Innern des Chirurgen lauert, wird von diesem kraft seines ärztlichen Amtes nach außen proji-
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ziert und als vielfältiges Spektrum mehr oder minder heilbarer Krankheiten in den seinem Skalpell verfallenden Patienten lokalisiert. Hierbei ist freilich seine obsessive Fixierung auf „Gewebezersetzungsmerkmale", auf den allerorten wuchernden und untergrabenden organischen Verfall unübersehbar: Außer Fachbuchliteratur, wie zum Beispiel das Buch ,Uber die Zusammensetzung der an der Innenseite der Vorhaut vorkommenden Gewebezersetzungsmerkmale' oder K r e b s forschung in Amerika', wird nichts gelesen. Diskutiert wird über Krebs, Lungenkrankheit, Muskelschwund, Krämpfe, Embolien, Eiterherde. (Fr, 200)
Des Chirurgen Selbstideal ist demnach wesentlich n e g a t i v bestimmt. In empirisch-medizinischer Praxis vermag es sich scheinbar bruchlos zu objektivieren: Dort tritt der Chirurg, kalt und ruhig, dem T o d entgegen, brilliert in „Paradeoperationen" (Fr, 201), in denen er den Ruhm einer ,,ruhige[n] Hand" (Fr, 200) erwirbt, zum Triumph seiner Selbstdisziplin. „Einen athletischen H o c h m u t " kann daher der Famulant an ihm beobachten, „wenn er aus dem Spital t r i t t " (Fr, 200). Aber dieser „ H o c h m u t " ist illusionär, noch der brillante Sieg bloßes „Vorspiegeln falscher Tatsachen" (Fr, 7), und er weiß es; nicht erst seine Bettlektüre, handelnd vom Leben als steter Zerstörung individuellen Lebens, lehrt ihn die Vergeblichkeit seines Tuns. Denn sein Kampf um Errettung individuellen Lebens kann ihm nur als aufgezwungenes Mittel zum Zweck der Erhaltung von Bewußtsein und Verstandesherrschaft gelten, die sowohl durch Ubermacht als auch durch gänzliches Entweichen physischer Lebendigkeit erstirbt. Durch chirurgische Erfolge ebenso wie durch den eigenen Leib betreffende Selbstdisziplin pflegt und umsorgt er einen Kerker, ein Ich-Fremdes, welches das Bewußtsein lebenslänglich umfängt und schließlich unter Trümmern begräbt. Worin aber bewahrt sich angesichts solcher Struktur ein Ich, das den Namen Subjekt noch verdiente? Die Antwort kann einzig lauten: Es bewahrt sich paradox in strikter Negation alles dessen, was individuelles Leben ausmacht. Diese Selbstdistanzierung gelingt; jedoch erweist jenes Uberindividuelle, der körperlose Gegenpol zu körperlichem Verfall und T o d sich als — T o d . Bereits und gerade idealistischem Denken war ja die Verachtung und ,Herabsetzung' 1 4 des Sinnlichen, seine Bestimmung als „das Negative, Üble, Böse" 1 5 keineswegs fremd, sondern, als hierarchische Geist-Materie-Konzeption, formales Prinzip. Zu „Befriedigung, Seligkeit", so schon Hegel, vermöge „der Geist nur durch Ertötung seiner negativen Existenz" zu gelangen,
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Hegel, Ästhetik II, S. 139 Hegel, Ästhetik II, S. 133
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Zum Standort des Icherzählers in welcher er von seiner eigentlichen Wahrheit und Lebendigkeit abgesperrt ist [...]. Diese Grundbestimmung betrifft deshalb nicht nur das Faktum des von der Naturseite an den Menschen herantretenden Todes, sondern ist ein Prozeß, welchen der Geist auch unabhängig von dieser äußerlichen Negation, um wahrhaft zu leben, in sich durchführen muß."'
Im christlichen Idealismus scheint solche „Ertötung" der „negativen Existenz" immerhin durch Seelenglauben legitimiert, welcher der „äußerlichen Negation" ein unzerstörbares Inneres als positiven Gegenpol opponiert. Im Denken des Chirurgen, als eines Repräsentanten moderner Naturwissenschaft, hat indes die „Naturseite", das Ich-Fremde, Äußerliche soviel an Raum und Macht gewonnen, wie der Geist an Autonomie verlor. Die idealistischem Denken geläufige „negative Wendung" gegen das „natürliche Herz" 17 wird durch insgeheim raumgreifende Einsicht in die Abhängigkeit des Geistes von seinem nur scheinbar schwächeren Widerpart keineswegs gemildert, vielmehr zu offener Destruktivität radikalisiert: Indem der Verstand des Chirurgen auch die einst als originär subjektiv erachtete seelische Sphäre als ich-fremd, als der „Naturseite" zugehörig, bekämpft und verwirft, kann er sich nurmehr als Negation seiner eigenen Existenzbedingungen bestimmen: somit als Tod. Damit fügen sich auch einige bislang widerstrebende Züge des Chirurgenbewußtseins in die hier vorgeschlagene Interpretation. Medizinische Intention auf Todesbekämpfung schlägt, angesichts uneingestandener, jedoch als Haß aufs Sinnliche sich vorangrabender Einsicht in geistige Ohnmacht, dialektisch um in Todeserfüllung, ihren Widerpart: Der Chirurg, der gemäß seinem steinernen Selbstideal sein Inneres wie Außeres gleichsam mit Stillhaltebefehlen des Verstandes ummauert, nimmt nicht nur bereits im Leben die „Ruhe" des Todes tendenziell vorweg, sondern erweist sich auch in medizinischer Praxis unversehens als Erfüllungsgehilfe des Todes: „Es kommt vor, daß etwas tödlich ist, das nicht tödlich sein müßte", bekennt der Famulant, „es kommt öfter vor, als man glaubt." (Fr, 200) Hier wird der menschenverachtende, daher destruktive Grundzug instrumentellen Denkens ersichtlich, das sich der Subjektivität, einer als ephemer und hinfällig dekuvrierten Größe, zu entschlagen trachtet und in vorgeblich objektive Erkenntnis als in sein letztes Bollwerk flieht. „Das Akademische", verstanden als starre Fixierung auf einen rein verstandbestimmten Rationalitätsbegriff, hat auch der Chirurg „weiterentwickelt" (Fr, 200): ein scheinbar Objektives zulasten seiner, jeglicher Subjektivität, ein Positives als genaue Negation von Individuation.
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Hegel, Ästhetik II, S. 135 f Hegel, Ästhetik II, S. 133
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Von solcher Berghöhe aus visiert er die Subjekte als gleichförmige Exemplare, in denen sich überindividuelle Gesetzlichkeit objektiviert. Seinen Anspruch auf Naturbeherrschung vermag der Verstand nicht länger durch illusionären Kampf um individuelles Leben, sondern nurmehr durch Erkenntnis seiner Ohnmacht zu wahren. Soll die Erkenntnis in Praxis münden, soll noch einmal Macht aus Ohnmacht werden, soll subjektive Willkür noch einmal übers objektive Lebensgesetz triumphieren, so nurmehr als destruktive Praxis, als todbringende Tat. Der zerstörerische Grundzug, die konstitutive Lebensfeindlichkeit des vom Sinnlichen sich distanzierenden Denkens verschränkt sich antinomisch mit überkommener mildtätig-medizinischer Intention als ihrem Widerpart. Im Wirken des Chirurgen vermag sich jene Destruktivität, jener insgeheime Haß aufs bloß Lebendige, auf den ich-fremden Kerker des weltfremden Ich, hinterrücks zu manifestieren: 1st jemand t o t , interessiert ihn die Ursache nicht mehr. Plötzlich, während der Operation, Abgestorbene werden zugenäht, hinausgeschoben, „von den Händen abgewaschen". ( Fr, 200)
Solches Verhalten, vielmehr das Ausbleiben subjektiver Reaktion, signalisiert zunächst nur eine freilich bereits signifikante Indifferenz des Chirurgen gegenüber dem Schicksal der ihm anvertrauten Patienten, die befremdlich genug vom euphemistischen Arztklischee als eines ,,Helfer[s] der Menschheit" (Fr, 90) absticht: eine kalte Gleichgültigkeit, die nur der individuellem, gar durch eigenen Eingriff verursachtem T o d entgegenbringen kann, der sich von der Seite der Individuen auf die des Todes geschlagen hat; der sich gegen diesen gewappnet glaubt, indem er ihn antizipiert; der illusionär in sein Denken und Handeln hineinnimmt, was diese bedingt und liquidiert. Dieser Verdacht wird weiter erhärtet, wenn man erfährt, der Chirurg sei ein „Anhänger der Jagd" (Fr, 200). Und wenn schließlich noch mitgeteilt wird, er weise „mehr Geschick im Schneiden als im Zunähen" (Fr, 200) auf, so wird vollends ersichtlich, daß primär nicht mildtätige Lebensliebe, sondern geheime, „hochkünstlerisch" (Fr, 201) sublimierte Lust am Zerfleischen, an antizipierender Zerstückelung des Verhaßten den Chirurgen zum Operationstisch zieht: der Arzt ein „Assistent" des Todes. 3.2 Zur ,Nachtseite' des Assistenten: „Diluviumszerfall" des ,Gebirgsmassivs' Skizziert der Icherzähler bereits das medizinische Tagwerk des Chirurgen nur in wenigen, wenngleich prägnanten Zügen, so wird dessen finstere ,Nachtseite' vom Famulanten noch weitaus verschwiegener behandelt.
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Diese Technik diskreten Andeutens und verstreuten Zitierens gewisser spekulativer Sentenzen des Assistenten hat etliche Interpreten dazu verleitet, die widerstrebenden Züge im Charakterbild des scheinbar steinernen „Erfolgsmenschen]" (f r > 199) schlicht zu ignorieren und somit der platt dualistischen Gegenüberstellung des Famulanten beizupflichten, der irrtümlich urteilt: „Der Chirurg der Fähige. Sein Bruder, der Maler, der Unfähige, denke ich." (Fr, 201) Wie jedoch bereits im voranstehenden Abschnitt aufgewiesen, sind Selbstideal und Bewußtseinsstruktur des Chirurgen durch elementaren Widerspruch entzweit, weshalb dem „Gebirgsmassiv" allenfalls noch trügerische Massivität konzediert werden kann. Sind nämlich „Gebirgsmassiv" und Schwarzacher „dicke Wände" Bilder der Herrschaft nicht mehr Hegeischen absoluten Geistes, sondern nurmehr asketischer Verstandesanstrengung, ans Individuum gebunden und mit diesem zerfallend, so ist der Verfall keine kurierbare Krankheit, sondern konstitutives Kennzeichen statisch-hierarchischer Struktur. Diese logische Einsicht — und Aporie — des sich zur höchsten Instanz aufschwingenden Verstandes tritt auf der ,Tagseite', im empirisch-medizinischen Wirken des Chirurgen noch nicht offen zutage. Antinomisch verschränkt mit dem formstiftenden christlich-idealistischen Subjektbegriff, vermag sie sich nur insgeheim: als Lebenshaß und sublime Destruktivität, als noch verkappte Negation medizinischer Intention, zu manifestieren. Der Festungswall des verschanzten Verstandes weist gleichsam erst feine Haarrisse auf, die nicht wegen der Schwere der Schäden, sondern deshalb bedenklich erscheinen, weil es der Verstand selber ist, der sein vom Geist ihm vererbtes Refugium untergräbt. 3.2.1 Zur konzeptionellen Problematik antinomischer Bewußtseinsstruktur In gewissen,finsteren' Spekulationen des Assistenten, die hier als N a c h t seite' seinem scheinbar noch lichten Selbstideal opponiert werden, ist die bislang noch geleugnete, gleichsam unbewußt sich vorangrabende Einsicht in Ohnmacht und ephemeren Status des auf Herrschaft, gar auf Autonomie pochenden Verstandes so weit vorangeschritten, daß dessen formaler Anspruch durch inhaltliche Erkenntnis bereit weitgehend aufgezehrt scheint. Da somit in den nächtlichen Spekulationen des Chirurgen die Grenze zwischen unterbewußter Ahnung und bewußter Einsicht nicht nur erreicht, sondern bereits zögernd überschritten ist, scheint die Glaubwürdigkeit der primär realistisch konzipierten Figur gefährdet, der des tags unbewußt sein soll, was sie nächtens, als Negation ihrer selbst, erkennt. Man wird daher die vom abstrakten Autor gewählte Technik raren und verstreuten Zitierens der überwiegend in die Famulantenbriefe
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(vgl. Fr, 296-309) verbannten Sentenzen des Chirurgen als konzeptionellen Kompromiß deuten müssen: Einzig indem er die ,Nachtseite' des Assistenten nicht expliziert, sondern bloß und überdies erst im Nachhinein andeutet, vermag er deren Unvereinbarkeit mit der ,Tagseite' des Chirurgen zu verschleiern und als scheinbar statisches Nebeneinander von noch Unbewußtem und bereits Bewußtem zu konzipieren, was in Wahrheit die dialektische Dynamik des seiner Auflösung zustrebenden Konfliktes birgt. Die Frage, weshalb überhaupt der abstrakte Autor seinen fiktiven Auftraggeber mit jenen widerstrebenden Zügen versah, ist damit freilich noch nicht beantwortet, sondern allererst gestellt. Dem offenbar eingeweihten Famulanten gelten die nächtlichen Überlegungen des Assistenten als das „schamlos dunkle Reich Ihrer Begriffe", das sich aufgrund seiner Erfahrung mit Weng und Maler ihm „auf einmal öffnet" (Fr, 300). Demnach scheinen des Chirurgen Spekulationen in näherer Bestimmung harrender Weise auf die in Weng und im Maler zu beobachtenden Vorgänge, subjektiven und objektiven Verfallsprozesse bezogen. Bereits die motivisch-metaphorischen Lichtverhältnisse deuten auf ein von „Schwarzach" über die,Nachtseite' des Chirurgen gen „Weng" sich senkendes Gefälle: Während es in Schwarzach „noch nicht ganz finster" (Fr, 271) ist, leitet das „schamlos dunkle" Denken des Assistenten hinüber nach Weng, welches „der düsterste O r t " ist, den der Famulant „jemals gesehen" hat: „Viel düsterer als in der Beschreibung des Assistenten." (Fr, 10) Das nämliche Verhältnis findet sich auf objektiver Ebene auch hinsichtlich zeichenhafter Witterung sowie des Zustands statischhierarchischer Strukturen: Während den scheinbar noch intakten Schwarzacher Mauern, deren insgeheime Zerrüttung freilich erkennbar ist, „Kälte" entströmt (Fr, 162), herrscht in Weng, im Zeichen umfassender „Auflösung" (Fr, 54) überkommener Strukturen, erbarmungsloser „Frost". Wie im voranstehenden Abschnitt dargestellt, sieht der Chirurg sein steinernes Selbstideal gleichsam durch das Aufbegehren seines psychophysischen Aspektes gefährdet, den er daher obsessiv unterdrückt. „Träume" und „Ästhetik" gelten ihm als diffuses „Zwischenreich" (Fr, 200), als Sphäre unreiner Vermischung von Sinnlichem und Verstand. Auf seiner ,Nachtseite' begegnet man indes einem verblüffend gewandelten Assistenten: In schroffer Wendung gegen sein lichtes Ich-Ideal will er unversehens „das Phantastische der Phantasie ergründen" (Fr, 201), gesteht gar die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des an Kausalität gebundenen Verstandes („Schreie, die ohne Ursache sind", Fr, 201) und selbst die letztliche Ohnmacht seines Metiers ein: „Die Zusammenhänge des Blutes sind plötzlich irreparabel." (Fr, 299) Die Verblüffung ob allnächtlicher Wandlung des Chirurgen wird weiter gesteigert, wenn man erfährt, daß er gar eine „Schrift mit dem Titel ,Der träumende und der politische
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Mensch'" (Fr, 302) plane. Wie wäre das möglich? Der Chirurg „haßt" (Fr, 200) Träume und gedenkt ihnen gleichwohl eine „Schrift" zu widmen? Er pocht auf strikte Herrschaft des „klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) und wähnt dennoch, politische und soziale Strukturen seien Manifestationen nicht vernunftgelenkten Denkens, sondern gleichsam eines kollektiven Unbewußten? In der T a t berichtet der Famulant von einer förmlich antiaufklärerischen „Vorstellung" des Chirurgen, „die den politischen Menschen als Traum und den vereinfacht Träumenden als ein Politisches auffaßt, und diese beiden in ewiger Rechenschaft zueinander." (Fr, 302) Bereits an dieser Stelle wird der gegen christlich-idealistisches Denken gerichtete Gehalt dieser Spekulation erahnbar: Während feudalistische Staatssysteme ihre hierarchische, symbolisch dem jenseitigen Reich zustrebende Struktur durch christliche Lehre legitimiert wähnten, soll sich im revolutionären Übergang vom Feudalismus zu „Kommunismus, Sozialismus, Demokratismus" (so ein Takt aus einer Tirade des UngenachAnwaltes Moro 1 8 ) auch auf realhistorisch-objektivem Niveau der Verfall mittelalterlichen Mauerwerks, die Umwälzung des Statisch-Hierarchischen durch entfesselte amorphe Masse manifestieren. In der Tat wird die Analyse sowohl der Vorstellungswelt des Malers als auch der in Weng objektivierten Motivstruktur erweisen, daß in strukturellem Gleichklang mit subjektiver Dialektik von Verstand und Sinnlichem auf objektiv-,politischer' Ebene zeichenhaft „Kommunismus" den zerstörerischen Widerpart statisch-hierarchischer Staatsorganisation repräsentiert. Jetzt auch wird eine den Chirurgen charakterisierende weitere Bemerkung des Icherzählers verständlich: „Kommunisten kommen zu ihm", so der Famulant, „weil er nie gespottet hat über den Kommunismus." (Fr, 200 f) Gleich Träumen und dem Ästhetischen gilt „Kommunismus" dem Chirurgen zwar als verhaßtes Phänomen, das er jedoch zu „ergründen" (Fr, 201) trachtet, da er im finster-unbewußten Zusammenspiel von seelischkörperlicher und objektiv-historischer „Auflösung" (Fr, 54) den überlegenen Gegenspieler des autonom sich wähnenden Verstandes zu erkennen glaubt, der insgeheim dessen Entmachtung betreibe. Die p a r t i e l l e Identität des Chirurgen mit der Gesamtpersönlichkeit des Malers — die im übrigen obenstehende These vom rahmenden Chirurgenbewußtsein zwanglos bestätigt — wird vom Famulanten an einer Stelle mit offensichtlicher Verblüffung konstatiert. Dabei drückt sich in seinem Erstaunen das widerwillige Eingeständnis aus, daß die Bewußtseinsstrukturen von Chirurg und Maler eben nicht n u r durch schiere Gegensätzlichkeit, sondern z u g l e i c h durch frappante UbereinUngenach,
S. 19. Ähnlich der Fürst Saurau in
VerStörung
(vgl.
Ve, 97).
Zur antinomischen Selbststruktur des fiktiven Auftraggebers
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Stimmung geprägt sind: „Wenn dieser Satz nicht von Ihnen wäre", kommentiert der Famulant eine spekulative Sentenz des Chirurgen, „würde ich glauben, er wäre ein Produkt Ihres Bruders, der pausenlos solche Sätze hervorstößt." (Fr, 299) 19 Man begegnet hier erneut, diesmal auf subjektivem Niveau, jenem von Schwarzach gen Weng sich senkenden Gefälle, jener Leuchtspur sich abschwächenden Lichtes, das sich im Zeichen zunehmenden Frosts und Verfalls schließlich in Finsternis verliert: Während der Maler in gewissen „Mystizismen" (Fr, 300) rettungslos verstrickt ist und folglich „pausenlos [ . . . ] Sätze hervorstößt", die gemäß realistischer Rezeption seinen Wahn bezeugen, scheint das Denken des Chirurgen nur gelegentlich von freilich gleichartigen Spekulationen verdunkelt, so daß man sich zu der Folgerung genötigt sieht (rein realistische Rezeption hütet sich, so zu folgern), auch der Chirurg leide in wenngleich geringerem Grad an jener „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) seines Bruders, die er doch „als Arzt" (Fr, 12) erforschen will. Bezeichnend für diese Einsicht ist, daß sie einerseits gerade durch streng textbezogenen Nachvollzug des realistischen Niveaus gewonnen wurde, zum andern aber einseitig realistische Interpretation an ihre Grenzen führt. Diese vermag den Bruch in der realistischen Textschicht zwar zu konstatieren, doch schwerlich zu erklären. Denn während auf symbolischer Ebene zunehmend deutlich wird, daß das Verhältnis zwischen Schwarzach und Weng, Chirurg und Maler durch prozeßhaft-dynamisches Zustreben scheinbarer Schwarzacher Intaktheit auf manifesten Wengschen Verfall geprägt ist, gestattet die realistische Perzeption des Chirurgen keineswegs die Annahme eines gleichermaßen dynamischen Verhältnisses zwischen Tag- und Nachtaspekt. Dies nämlich implizierte, daß die Tage des Assistenten am Hospital gleichsam bereits gezählt seien; daß er infolge ausbrechenden Irrsinns in Kürze zwangsweise zu privatisieren sei, weshalb auch dem ihm immanenten Widerspruch nurmehr subjektive Signifikanz zukomme, die sich im Schwarzacher Spitalgetriebe durchaus nicht objektiviere. Eben diesen drohenden Verlust struktureller Identität subjektiven Bewußtseins und als Schwarzacher Spital objektivierter empirischer Medizin sucht der abstrakte Autor zu vermeiden, indem er den Chirurgen als ,,Erfolgsmensch[en]" mit „Lokalruhm" (Fr, 199), somit als durchaus ins medizinische Getriebe integriert perzipiert. Nur wenn der erfolgreich angepaßte Arzt z u g l e i c h des Malers,Krankheit' in sich birgt, wird auf Deutlicher noch wird die Antinomie von — realistischer — Autonomie und — symbolischer — Immanenz des Malers in dem Ausruf des Famulanten: „Ihr Herr Bruder [d.i. der Maler] ist Ihnen in allem entgegengesetzt und von dort aus wieder entgegengesetzt, Sie sind Ihr Bruder, Sie sind es nicht." (Fr, 305)
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symbolischem Niveau die Konzeption realisierbar, derzufolge auch der objektivierte, historisch identifizierbare Wengsche Verfall den Schwarzacher Strukturen insgeheim immanent ist. Um diese Intention durchzusetzen, nimmt der abstrakte Autor einen freilich nach Kräften übertünchten Bruch im realistischen Textniveau in Kauf: Im Bewußtsein des Chirurgen wird, psychologisch nicht recht vorstellbar, der Prozeß dynamischen Verfalls auf der Schwelle zu dialektischem Umschlag zu scheinbar dualistischer Statik verhalten, und zwar gerade zu dem Zweck, damit der Chirurg, an Schwarzach u n d Weng, an Wall u n d Zerfall, an Licht u n d Finsternis partizipierend, die dialektische Immanenz und Interdependenz des scheinbar Disparaten erweise. Im Chirurgenbewußtsein schlägt tendenziell,Medizin' in,Krankheit', ,Arzt' in ,Patient', Intention auf Heilung in Erkenntnis der ,Unheilbarkeit', somit auch idealistische Individuation in deren Negation um; und gerade indem deutlich wird, daß diese aus jenen hervorbrechen, wird das dialektisch Vernichtete als scheinhaft, die im restaurierten Mauerwerk objektivierte Verheißung als entleerte Form, als historisch obsolet entlarvt. 3.2.2 Zur konzeptionell problematischen Differenz zwischen subjektiver und objektiver Antinomie Im Bewußtsein des Chirurgen stößt man auf den textinternen Quell der antinomischen Verschränkung von Form und Inhalt, Subjekt-ObjektOpposition und deren Suspension, realistischer und symbolischer Bedeutungsschicht. Die beobachtete Widersprüchlichkeit resultiert folglich aus schwerlich zu lösenden konzeptionellen Problemen des abstrakten Autors, die in der Urzelle antinomischer Verschränkung massiv auftreten. Da nähere Explikation der .Nachtseite' des Assistenten einerseits deren Unvereinbarkeit mit objektivierter Medizin erwiese — wodurch eine Kluft zwischen objektivierter Struktur des Medizinischen und deren subjektivem Korrelat aufbräche —, andererseits deren tendenzielle Identität mit der Vorstellungswelt des Malers offenbarte — wodurch die Kluft zwischen den Brüdern sich schlösse —, muß der abstrakte Autor sich mit jenen kargen, überdies in die Famulantenbriefe verbannten Andeutungen begnügen. Jedoch erlauben auch die rar zitierten Sentenzen erhellenden Einblick ins „schamlos dunkle Reich" (Fr, 300). Die nächtlichen Spekulationen des Chirurgen stehen notwendigerweise unter dem nämlichen Gesetz, das auch sein Bewußtsein als Ganzes strukturiert: die Dynamik dialektischen Umschlags wird zu dualer Statik verhalten. Diese Stillstellung manifestiert sich bereits in der oben zitierten Verschränkung metaphorischer Dunkelheit mit der Verstandeskategorie der „Begriffe"; sie gleicht einem Schwanken auf der Schwelle, von der aus der Chirurg weder zurück in die
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Festung rein „verstandesmäßiger Klarheit" (Fr, 300) flüchten noch auch —gleich dem Maler — vorandringen kann ins finstere Gegenreich. Seine Vorsätze, „das Phantastische der Phantasie" zu erforschen (Fr, 201) oder jene „Schrift" (Fr, 302) zu verfertigen, bleiben daher Absichtsbekundung; der Verstand kann nur deshalb zumindest f o r m a l noch auf Dominanz beharren — welcher Anspruch sich in den Ausdrücken „ergründen" (Fr, 201), „Schrift" (Fr, 302), „Begriffe" (Fr, 300) manifestiert —, weil er von inhaltlicher Verwirklichung absieht und gleichsam nur furchtsam ins Dunkel späht. Uberschritte der Chirurg auch nur um ein Geringes die ihm zugemessene Schwelle, so würde die Unvereinbarkeit von ,Tagseite' und ,Nachtseite' endgültig offenbar; schwerlich ließe sich behaupten, daß der Chirurg unverwandelt von solch nächtlicher Expedition zurückkehrte und in fortdauernder Unkenntnis des ihm immanenten Konfliktes zurückglitte in seinen Tagaspekt. Dies auch ist der tiefere, der konzeptionelle Grund dafür, daß anstelle des Assistenten der Famulant nach Weng reisen muß: Wie sich erweisen wird, ist der Icherzähler so konzipiert, daß er als Mittler zwischen Schwarzach und Weng Empfänglichkeit für die Vorstellungswelt des Malers mit dem Selbstideal des Chirurgen zwar nicht vereinigt, aber als entzweite Struktur in sich birgt. Die statische Fixierung des Assistenten auf der zu dynamischem Uberschreiten bestimmten Schwelle manifestiert sich schließlich in seinem höchst widersprüchlichen Versuch, die von ihm zugleich konstatierte und ignorierte Entmachtung subjektiven Verstandes als ihm äußerliche ,Krankheit' zu reterritorialisieren und folglich zu partikularisieren. (Die Figurenkonstellation, derzufolge der Chirurg die auf symbolischem Niveau primär ihm immanente ,Krankheit' auf realistischer Ebene ausgerechnet in seinem „Bruder" lokalisiert, bewahrt immerhin einen Eindruck von der als ,Blutsverwandtschaft' unauflöslichen Zusammengehörigkeit von ,Krankheit' und Selbstideal.) So hat der Chirurg zwar eben noch konstatiert, entgegen dem Herrschaftsanspruch des Verstandes habe sich das von diesem als ich-fremd verfemte Sinnlich-Unbewußte zur geschichtsmächtigen Kraft aufgeschwungen, weshalb er so folgerichtig wie vernichtend den noch als Verstand sich statisch-erhaben wähnenden Geist als „in Bewegung befindlichen Innenraum", gar als „mit allem zusammenhängende^] Nichts" (Fr, 302) bezeichnet. Seine bruchstückhaft mitgeteilte ,Theorie', in die seine Spekulationen münden, scheint dieser Einsicht dem Namen nach durchaus Rechnung zu tragen: Indem sie vom „Diluviumszerfall des Einzelnen" (Fr, 299, 301) handelt, bekennt sie explizit ein, daß ein überindividueller Verfallsprozeß sich vernichtend auch im „Einzelnen" manifestiere. Im „Diluviumszerfall", heißt es unmißverständlich, sei der „Einzelne" nicht mehr Subjekt seiner Existenz, sondern „ O b j e k t " ihm äußerlicher „Untergänge", und zwar „aller Untergänge zusammen" (Fr, 303), durch welche Generalisie-
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Zum Standort des Icherzählers
rung der T o d als überindividuelles Verfallsgesetz zum Subjekt der Geschichte avanciert, der „Einzelne" jedoch Autonomie und Substantialität verliert. Da der Famulant weiter oben gewiß zutreffend das Selbstideal des Chirurgen als „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) verbildlicht hat, ist überdies dessen .Theorie' auf metaphorischem Niveau explizit auf sein eigenes Geschick bezogen:,Diluvium' als dem Geologischen entlehnte Metapher meint die Überflutung und Zersetzung eines Gebirges durch entfesselte Wassermassen, somit die Verwandlung des Statisch-Hierarchischen in Dynamisch-Amorphes, seinen dialektischen Widerpart. Die eher metaphorische denn medizinische ,Theorie' des Chirurgen handelt somit — erstens — von genau jener zerstörenden Erweichung des durch asketische Selbstdisziplin erhärteten Ich-Ideals, die der Chirurg auf seiner,Tagseite' obsessiv fürchtet; sie erklärt — zweitens —, der „Einzelne", folglich jegliches Individuum, dessen Bewußtseinsstruktur sich christlich-idealistischer Lehre verdanke, sei dem Verfall geweiht, da dieser als historischobjektives Phänomen alles mit sich reiße und vernichte. Während somit die spekulative Theorie des Chirurgen Negation sowohl des idealistischen Subjektbegriffs als auch medizinischer Intention impliziert, erfolgt nunmehr ein eigenartiger Rettungsversuch, der die antinomische Spannung zwischen dem „Verstand" und dem als geschichtsmächtige Kraft erkannten T o d zum Äußersten verschärft. Im Gegensatz zum Maler, der aus ähnlicher, wenn auch radikalerer, da durch keine ,Tagseite' gehemmter Einsicht das Verdammungsurteil spricht, „Medizin" sei „nur eine Art oberflächliche Beruhigung der Physis und Psyche" (Fr, 148), hält der Chirurg — wie anfänglich auch der Famulant — entgegen seiner nächtlichen Einsicht zugleich an medizinischer Intention fest, dem letzten Pfeiler seines Selbstideals. Folglich versucht er das offensichtlich Unmögliche: Er trachtet den als ursächlich überindividuell erkannten, auch und gerade ihn selbst bedrohenden „Diluviumszerfall" (Fr, 301) aus seiner Person auszugrenzen und in sicherer Distanz in einem isolierten Individuum einzudämmen: Die realistische Textebene zeugt von medizinischer Intention, die symbolische entlarvt diese als Illusion. Zum Beweis dieser Deutung kulminiert der restaurative Rettungsversuch in einem letzten Widerspruch: In Analogie zu jenen „Begriffen", die sich auf der Schwelle zum finsteren Gegenreich ,verdunkeln' und folglich im Sinn des ,lichten' Verstandes gar keine „Begriffe" (Fr, 300) mehr sind (sondern Metaphern: Abkömmlinge des „Zwischenreichs"),,verdunkeln' sich dem Chirurgen unter der Hand auch die zentralen Begriffe empirischer Medizin, was besagen will: Die Bedeutung der bloß f o r m a l geretteten Begriffe,Krankheit',,Therapie',,Heilung' verkehrt sich i n h a l t l i c h ins je genaue Gegenteil; Leben wird zur Krankheit, Therapie meint Sterben, Heilung T o d .
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Somit befindet man sich nunmehr an der Stelle, an der sich, nach allerlei kunstvoller und künstlicher Absicherung des abstrakten Autors, der auf der,Tagseite' des Chirurgen noch verkappte Umschlag von medizinischer Todesbekämpfung in Todeserfüllung offen manifestiert. Der christlichnaturwissenschaftliche Grundwiderspruch ist hier so rücksichtslos zugespitzt, daß er gleichsam zu sprechen beginnt: finstere Worte im Finstern, und nurmehr die „Begriffe", nicht mehr ihre Bedeutung noch Umgebung, erinnern ans erloschene Licht. — Diese Konzeption, so beeindruckend und (für den Interpreten) erhellend sie sich auch ausnehmen mag, krankt gleichwohl an jener Unglaubwürdigkeit, welche die zwiespältige Struktur des Chirurgenbewußtseins insgesamt überschattet: U m den virtuell-unbewußten Konflikt zu aktualisieren, muß der abstrakte Autor ihn graduell übertreiben und das als Überzeichnetes Offenbare zugleich als weiterhin unbewußt konzipieren, da Bewußtsein des Widerspruchs, so im Denken des Malers, diesen tendenziell aufhebt. Dieser Zwiespalt wird jedoch weniger gelöst als auf anderer Ebene verdoppelt, indem der abstrakte Autor versucht, nach der subjektiven Bewußtseinsstruktur des Chirurgen auch deren objektiven Vorwurf: das bislang als empirisch konzipierte Medizinische, um eine .Nachtseite' zu bereichern. Man entsinnt sich jenes fiktiven medizinischen Fachbuchs von „ K o l t z " , von „Gehirnkrankheiten" (Fr, 12) handelnd, das der Famulant als Reiselektüre zunächst erwog und sodann, zugunsten eines titellosen „Henry J a m e s " (ebd.), verwarf. An anderer Stelle (Fr, 162) wird „ K o l t z " als ,,eine[r] der ersten Wissenschaftler", sein Werk als „frisch aus Amerika" kommend gerühmt, so daß an der medizinischen Autorität des Verfassers keine Zweifel gestattet sind. Im zweiten Famulantenbrief erfährt der Rezipient jetzt zu seiner Verblüffung, daß jenes Koltz'sche Werk die bislang so rätselhafte Krankheit des Malers verzeichne und zumindest partiell mit des Chirurgen Theorie vom „Diluviumszerfall" koinzidiere. Da jedoch „ K o l t z " in nämlicher, auch dem Chirurgen eignender dämonischer Verblendung auf medizinischer Begrifflichkeit insistiert, sieht der Rezipient sich genötigt, jene oben skizzierte genaue Verkehrung medizinischer Begriffe als autorisierte medizinische Theorie zu akzeptieren. Da die Koltz'schen Erörterungen zwar das Individuum als „ O b j e k t " ihm äußerlicher „Untergänge" (Fr, 303) visieren, jedoch offenbar von dem Entschluß getragen sind, medizinische Intention und Begrifflichkeit dem T o d zuzueignen, firmiert der objektivierte Außenraum, in dem sich die „Untergänge" ursächlich vollziehen, als „Schocktherapie" (Fr, 298), als „diese auch in dem Buch von K o l t z beschriebene,Therapie der nach innen gehenden Explosivvernichtung'" (Fr, 299). Der Famulant kann daher ruhig folgern: „Diese Schocktherapie ist Weng, eine der von Ihnen so gewissenhaft als dunkel bezeichneten teuflischen Therapien", die „nicht im entferntesten auf eine Heilung als Geistes- oder Körperentwicklung
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[ . . . ] abzielen", sondern auf den als „Heilung überhaupt" (Fr, 299) gepriesenen T o d . Damit kann nicht länger zweifelhaft sein, daß in Frost materialistische Naturwissenschaft nicht nur infolge Figurenwillkür, sondern auf figurenunabhängigem Niveau als blinde Erfüllungsgehilfin des T o d e s erscheint, dessen Aufschwung zu absoluter Herrschaft sich gerade jener antinomischen Verschränkung idealistischer Geisteshypostasis mit materialistischer Wendung der Moderne verdanke. Es ist dies die Grundstruktur der in Weng objektivierten, im Denken und Leiden des Malers auf subjektivem Niveau sich manifestierenden Verfallsprozesse: das einst geschichtsmächtige Subjekt als nurmehr ohnmächtiges „Objekt aller Untergänge zusammen" (Fr, 303), die es so blindlings leugnet, wie es blindlings sie heraufbeschwor.
4. Der gebannte Famulant: Zur antinomischen Lähmung des Icherzählers Sowenig wie schier realistische Rezeption vermag auch der Icherzähler zu erklären, weshalb ausgerechnet er vom Chirurgen als Emissär erwählt wurde: W a r u m mich? W a r u m nicht einen von den anderen, die e b e n s o F a m u l a n t e n sind wie ich? Weil ich ihm o f t mit b e s t i m m t e n schwierigen Fragen g e k o m m e n bin und die andern nicht? (Fr, 11)
Dieser Frage nach der spezifischen Qualifikation des als Beobachter ins Gebirgstal entsandten Famulanten wird im folgenden komplexe Antwort zuteil. Dabei wird sich erweisen, daß die Konzeption der formal dominanten, inhaltlich nur scheinbar bläßlichen Erzählerfigur sich genauem Kalkül des abstrakten Autors verdankt. Der subtile Nachvollzug der antinomischen Bewußtseinsstruktur des zwischen den Strauchschen Gebrüdern, zwischen Schwarzach und Weng, zwischen Wall und Zerfall vermittelnden Icherzählers bildet eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der Intentionalität des Fiktionskonzeptes.
4.1 Biographie und Bewußtseinsstruktur Die grundsätzliche Affinität zunächst der Gebrüder Strauch erweist sich daran, daß beide ihre inneren wie äußeren Welten als entzweit erfahren; gegensätzliche Positionen beziehen sie auf diesem gemeinsamen Grund.
Der gebannte Famulant
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Gemäß ihrem Denken zerfällt die W e l t in zwei feindliche Mächte, die jeweils Herrschaft über ihren Widerpart erstreben: eine rein geistige von offensichtlich christlich-idealistischer Herkunft, deren Anspruch auf Unvergänglichkeit sich im statischen Beharren, deren Herrschaftsanspruch sich in hierarchischer Erhabenheit des „Gebirgsmassivs" objektiviere; und eine sinnliche Gegenmacht, die als ,diluvische' alles hierarchisch Gegliederte und fest Gefügte zu Amorphem zu zersetzen trachte. Bild des Diluvischen ist daher der „reißende Fluß" (Fr, 145); aber entgegen dem durch die scheinbar naturwüchsigen Metaphern erweckten Anschein sind die Frosi-Landschaften von Geschichtlichkeit durchdrungen: Der Streit der Strauchschen Gebrüder entzündet sich nicht allein an der Frage, welche der feindlichen Mächte: das hierarchisch-statische „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) oder der diluvisch-dynamische „Fluß" (Fr, 145), gesellschaftliches wie individuelles Leben beherrsche, sondern historisch konkret daran, ob „heutige Wissenschaft" (Fr, 153) mit dieser oder jener Macht paktiere und folglich den überkommenen Herrschaftsanspruch idealistischen Geistes untermaure oder im Gegenteil untergrabe. Gemäß seinem lichten Selbstideal erklärt der Chirurg die von ihm selber repräsentierte moderne Naturwissenschaft zum Bollwerk wider die finsteren Mächte der Zersetzung; jedoch im Einklang mit des Assistenten insgeheim bereits todverfallener,Nachtseite' negiert der Maler diese Position: Im Gegenteil sei es „heutige Wissenschaft", die „alles zerbröckelt", die „jede Festigkeit [ . . . ] verflüchtigt" habe, da naturwissenschaftliches Denken in seinem Herrschaftsanspruch sich auf jene überkommenen „Gottesanschauungen" berufe, die es doch selber als „in die Länge gezogene Lächerlichkeit e n " entlarvt habe (Fr, 152 f). Der Maler beklagt somit den Verlust überkommener Heilsverheißung und dieser entspringender innerer wie äußerer hierarchischer Ordnungssysteme, den einzugestehen der Chirurg wider insgeheime Einsicht sich weigert. Das Leben gleiche „Sturzbäche[n]" (Fr, 197), konstatiert der Maler; mit illusionärer Gebärde trachtet der Chirurg, diese „Sturzbäche" im medizinischen Klassifikationssystem zu kanalisieren und von der Berghöhe hypostasierten Verstandes zu beherrschen. Des Icherzählers „Entschluß, Medizin zu studieren" (Fr, 50), scheint im Verein mit seiner fürs chirurgische „Gebirgsmassiv" gehegten Bewunderung zu signalisieren, daß auch der Famulant sich vom Selbstideal des Assistenten leiten läßt. Da er überdies, in jener bereits mehrfach zitierten programmatisch-widersprüchlichen Erklärung (vgl. Fr, 7), sowohl sich zu christlichem Glauben bekennt als auch dessen Verheißung individueller Unvergänglichkeit unbewußt negiert, steht zu erwarten, daß die Bewußtseinsstruktur auch des Famulanten jene antinomische Entzweiung in ,Tagseite' und ,Nachtseite' aufweisen wird, die bereits das Chirurgenbewußtsein prägt.
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Zum Standort des Icherzählers
Diese Erwartung wird sich im folgenden bestätigen, jedoch mit bedeutsamer Modifikation: Der Famulant partizipiert nicht nur am illusionären Selbstideal des Assistenten, sondern weist z u g l e i c h eine der desillusionierenden Lebensgeschichte des Malers analoge Biographie auf. Mehrfach erklärt er gar ausdrücklich, „in vielem" erinnerten „Kindheit und Jugend" des Malers ihn an seine eigene Vergangenheit (Fr, 33). Die Intention dieser verblüffenden Konzeption ist hier bereits erahnbar: Der Famulant ist inhaltlich keine gegenüber den Strauchschen Brüdern autonome Figur, sondern ein weiteres Bewußtsein, in dem Tag- und Nachtseite: Selbstideal des Chirurgen und Vorstellungswelt des Malers, .Medizin' und ,Krankheit', erneut konfrontiert werden. Indem der abstrakte Autor seinen Icherzähler einerseits als Statthalter des Chirurgen, andererseits ihm eine dem Malerschicksal analoge Biographie konzipiert und zugleich den Famulanten in Unbewußtheit seiner antinomischen Zerklüftung verharren läßt, vermag er ,Medizin' zum Geständnis ihrer Identität mit der „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303), gar ihrer Mitschuld am „Diluviumszerfall" (Fr, 299) zu zwingen: Als Beobachter die Monologe einer formal ihm äußerlichen Person protokollierend, lauscht der Icherzähler, inhaltlich betrachtet, einer gleichsam aus seinem Innern erklingenden Stimme: Die „Krankheitsgeschichte" (Fr, 296) des vermeintlichen Patienten ist mit der des Arztes eins. Ehe die komplexen Implikationen dieser Konzeption näher untersucht werden können, wäre zunächst zu fragen, wie der abstrakte Autor die so heraufbeschworenen vielfältigen Probleme der Form-Inhalt-Vermittlung zu meistern trachtet. Diese sind in ihrer Art bereits durch die Analyse des Chirurgenbewußtseins bekannt, ihrem Grad nach aber beträchtlich verschärft: Erstens: Damit sich die vom Famulanten als „Stenograph" (Fr, 301) protokollierten Malermonologe zugleich auf seine eigene Person beziehen, müssen beide Figuren inhaltlich so weit als möglich einander angenähert werden. Schwerlich scheint jedoch vorstellbar, wie diese insgeheime Identität zugleich suggeriert und verschleiert werden kann, zumal bereits die diskrete Andeutung der ,Nachtseite' des Assistenten die inhaltliche Grenze zwischen den Strauchschen Brüdern zu verwischen drohte. Zweitens: Was weiter oben anläßlich der Analyse des Assistentenbewußtseins konstatiert worden ist, gilt für den Famulanten aufgrund seiner formal dominanten Position als Icherzähler in besonderem Maß: Der Verdacht bloßer Wahnproduktion, der auf realistischem Textniveau den Maler mit einigem Recht trifft, droht unweigerlich auch auf den Icherzähler überzugreifen und dessen Glaubwürdigkeit als Berichterstatter zu verzehren, sofern sich herausstellt, daß auch den Famulanten „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) befällt. Damit aber scheint das Fiktionskonzept in seiner Gesamtheit vom Scheitern bedroht: Ein des Wahnsinns, gleich
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dem Maler, verdächtiger Erzähler vermöchte nicht länger die .realistische' Grenze zwischen Subjekt- und Objektwelt zu garantieren, wodurch deren vom Maler behauptete symbolische' Interdependenz der Uberprüfung entzogen wäre; Motiv und Metapher, Denotat und Konnotat vermischten sich trübe zu einem wahnhaft fragmentierten Chiffrenstrom, der auch die erzählten Figuren als bloße Irrsinnsgespinste mit sich risse. Drittens: Zugleich aber scheint, auf symbolischem Niveau, die Intentionalität des Fiktionskonzeptes zwingend zu gebieten, daß auch der Icherzähler als dem Wengschen „Diluviumszerfall" (Fr, 299) unterworfen perzipiert wird. Viertens: Die folglich an den Icherzähler zu stellende Anforderung einer zugleich labilen Stabilität, eines zugleich statischen Zerfalls scheint aber, als antinomische, schwerlich erfüllbar. Wie bereits die Analyse des Assistentenbewußtseins erwies, strebt die entzweite Struktur, von einer Logik des Zerfalls beherrscht, dynamischer Auflösung ihrer Antinomie entgegen. Da der Chirurg somit auf subjektivem Niveau den Wengschen Zerfall nur dann als dem Schwarzacher Wall immanent erweist, wenn dieser noch in antipomischer Verschränkung jenen prekär präponderiert, kann er schwerlich in eigener Person nach Weng reisen, ohne als scheinbar noch lichtes Widerbild des Malers zu erlöschen. Die nämlichen Bedingungen scheinen jedoch auch für die Konzeption des Famulanten gültig — bei gleichzeitiger offensichtlicher Unerfüllbarkeit: Der auch dem Icherzähler immanente Grundwiderspruch zwischen dem naturwissenschaftlich begründeten Herrschaftsanspruch des „klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) und dessen Entlarvung als Erfüllungsgehilfe der ,diluvischen' Gegenmacht wird in Weng nicht verschleiert, sondern als Inferno alles mit sich reißender „Auflösung" (Fr, 54) objektiviert sowie vom enthemmt monologisierenden Maler unablässig kommentiert. Da dessen desillusionierende Äußerungen überdies, aufgrund der geheimen biographischen Identität beider Figuren, als aus dem Innern auch des Famulanten erklingend konzipiert sind, scheint schwerlich vorstellbar, wie dem Icherzähler unbewußt bleiben könne, daß er gleichsam sich selber, seine nach dem Bild des Chirurgen übertäubten Zweifel, zitiert. Da somit zu erwarten steht, daß solche antinomische Konzeption des gleichsam aus Chirurgen- und Malerbewußtsen gefügten Icherzählers wenn überhaupt, so gewiß nicht bruchlos gelingen kann, hat der Interpret die Perzeption des ins Wengsche Inferno gestürzten Famulanten mit besonderer Präzision nachzuvollziehen. Gerade in den Brüchen und Klüften des Fiktionskonzeptes offenbart sich dessen Tiefenstruktur und folglich Intentionalität.
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4.1.1 Hierarchien der Kindheit Spärlich zwar auch, aber doch ausführlicher als Denken und Handeln des Assistenten thematisiert der Icherzähler seine eigene Biographie und Bewußtseinsstruktur. Wendet man sich zunächst seinen gelegentlich notierten Kindheitserinnerungen zu, so stellt man fest, daß diese durch eigentümlich lyrische Diktion geprägt sind, die sich vom sonst eher lakonischen Sprachstil des Famulanten abhebt. Eingedenk der Einsicht, daß der abstrakte Autor seinen Icherzähler als zwischen den Strauch-Brüdern vermittelndes Bewußtsein zu konzipieren trachtet, wird man die spezifische Lyrizität der hier zu analysierenden Kindheitsskizzen (vgl. Fr, 117-119) als erzähltechnische Notwendigkeit erkennen: Metaphorisch-bildhafte Sprache soll insinuieren, was sich bei näherer, empirisch-faktische Details weniger scheuender Explikation schwerlich als überzeugend erwiese: daß der Famulant aus einem der verstörenden Kindheit und Jugend des M a l e r s analogen Vergangenheit mit einem dem A s s i s t e n t e n affinen Glauben an den gesicherten Fortbestand persönlicher wie religiöser, familiärer wie sozialer Ordnungssysteme hervorgegangen sei. Wie in späteren Abschnitten noch darzustellen sein wird, ist die Kindheit des Malers von der des Chirurgen vornehmlich dadurch geschieden, daß jener „bei den Eltern leben durfte, sich ,dort ausleben durfte'" (Fr, 33), während der Maler „bei seinen Großeltern aufgewachsen" ist (Fr, 31), nach deren T o d er, von den Eltern vernachlässigt, vereinsamt. Denk- und Lebensweise der gleichsam aus feudaler Zeit in die Moderne ragenden Großeltern prägen den Maler lebenslänglich; der „Tod der Großeltern" (Fr, 32) war als Zusammenbruch des ihm wesentlichen Ordnungssystems „sein allergrößter Verlust" (Fr, 31), der ihn orientierungslos zurückläßt: Bis ins Alter bleibt er fixiert auf ein anachronistisches Ordnungsmuster, dessen historische Obsoleszenz sich individualgeschichtlich im T o d der Großeltern manifestiert. Dem Chirurgen hingegen, der sich bei den Eltern „ausleben durfte" (Fr, 33), bleibt zwar nicht die Prägung durchs generationenweise sich vererbende feudal-hierarchische Weltbild, wohl aber die frühe Konfrontation mit dessen Zerstörung erspart. Explizit erscheint dieser biographische Unterschied als Ursache der gegensätzlichen Lebenswege der Brüder: Während sein Bruder seinen Weg machte, Stufe für Stufe hinaufstieg in seiner Laufbahn, mehr und mehr der Chirurg wurde, der er jetzt ist, verrannte sich sein Bruder in seine Gedankenwelt. (Fr, 32)
Der Famulant schließlich soll, aufgrund seiner vom Fiktionskonzept ihm zugemessenen Stellung, an beidem partizipieren: am obsessiv verteidigten Glauben des Chirurgen an den Fortbestand „Stufe für Stufe" hierarchisch
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gegliederter Ordnungssysteme ebenso wie an der fragmentierten „Gedankenwelt" des Malers; am illusionären Streben des Chirurgen nach dem „Licht" (Fr, 201) der Erkenntnis ebenso wie am desillusionierenden Weg des Malers, der „in Finsternis, die nicht mehr aufhören wird" (Fr, 32), führt. In die biographisch-familiären Figurenkonstellationen übertragen, bedeutet dies: Die Kindheit des Icherzählers hätte durch die Instanzen der wiederum ,feudalen' Großeltern und zugleich der Eltern geprägt zu sein; folglich bräche sein kindliches Ordnungssystem auseinander und zugleich auch nicht, woraufhin der Icherzähler gefestigt aufstiege in seiner „Laufbahn" (Fr, 32) und zugleich abwärtsglitte gleich dem Maler, haltlos und verstört. Tatsächlich wird im folgenden zu beobachten sein, wie der abstrakte Autor diese unvereinbaren Momente zu einer Biographie des Famulanten zu amalgamieren trachtet. Der Aufweis unvermeidlicher Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit dieses Versuchs offenbart einen wesentlichen Aspekt der Frosi-Intentionalität. Am „zwölften T a g " seines Aufenthalts in Weng gibt der Icherzähler für einige „Vormittagsstunden" (Fr, 118) seine wortkarge Zurückhaltung auf: Für kurze Frist verkehren sich die Rollen, diesmal ist es der Maler, der „schweigsam" (Fr, 118) zuhört, als der Famulant „von zu Hause" (Fr, 117) erzählt. Unzweifelhaft erweisen dessen Schilderungen, daß er einem sowohl wohlhabenden als in seiner Familienstruktur intakten Elternhaus entstammt, in dem er und seine (bis auf einen Bruder nicht näher spezifizierten) Geschwister christlich erzogen wurden: Der Famulant berichtet, dal? ich zu Weihnachten ihnen allen, V a t e r und M u t t e r und Geschwistern, immer aus der Bibel vorlese [ . . . ] . D a ß es B ä u m e gibt in unserem G a r t e n , die wir selber g e p f l a n z t haben, Schränke, in denen wir frühe K o s t b a r k e i t e n aufheben, K e r z e n und Kinderkleider, T a n nenzapfen aus einem kalten, uns allen auf dieselbe glückliche W e i s e vertrauten W i n t e r . D a ß wir uns immer Briefe schreiben und Sorgen machen umeinander. D a ß wir H ä u s e r wissen, die für uns immer o f f e n sind. S o auch W ä l d e r , S t r a n d p l ä t z e , S c h l i t t e n a b h ä n g e , nur für uns. In warmen Z i m m e r n f ü r uns aufgeschlagene Betten, Bücher, daß wir M u s i k lieben, die uns für Stunden z u s a m m e n f ü h r t , wenn es schon dunkel ist. (Fr, 1 1 7 f )
Nicht bereits durch diese Schilderung einer offenbar geborgenen und wohlbehausten Kindheit tritt der Famulant in schroffen Kontrast zum Maler, sondern allererst durch seine Behauptung, noch in der Gegenwart kraft familiärer Bande und gemeinschaftlich vertrauter Orte behütet und gesichert zu sein. Tatsächlich weist die Biographie des Famulanten, anders als die durch den „ T o d der Großeltern" entzweite Lebensgeschichte des Malers, keine offenkundige Zäsur auf: Offen zugänglich scheinen noch immer die ,,frühe[n] Kostbarkeiten" wie auch die „warmen Zimmer" in „Häusern", „nur für uns"; und organisch wachsen die in der Kindheit gepflanzten „Bäume" im elterlichen Garten: Zeichen eines scheinbar stets
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behüteten Emporbliihens, das anders als die Entwicklung des Malers keiner jähen Verwilderung, gar Verkrüppelung ausgesetzt worden sei. 20 An dieser Stelle jedoch wird die biographische Skizze notwendigerweise wolkig; schwer fällt dem abstrakten Autor die Begründung, weshalb der Famulant gleichwohl nicht mit jener vom Bild des naturwüchsigen Baumes suggerierten unbeirrbaren Sicherheit gleich dem Chirurgen „Stufe für Stufe" (Fr, 32) seinen aufwärtsweisenden Weg gegangen sei, sondern sich ζ u d e m in eine dem Maler analoge desorientierte Vereinsamung verloren habe. So findet sich für die im Leben des Malers durch den „ T o d der Großeltern" (Fr, 32) markierte Zäsur in der Famulantenbiographie bloß eine obzwar vage, so doch mit der bislang gemalten Idylle unvermittelte Entsprechung: Von ,,Gewitter[n]" berichtet der Icherzähler, die „plötzlich alles zerstören, was für die Ewigkeit gedacht und gemacht und von allen geliebt worden ist" ( f r , 118). Dieses Zitat ist bedeutsam; man geht gewiß nicht fehl, wenn man in ihm eine unterirdische Erschütterung der Bewußtseinslandschaft des Famulanten registriert, die seismographisch signalisiert, daß auch für ihn die scheinbar noch intakte, im bergenden Elternhaus verbildlichte Ordnung längst schon „zerbröckelt" (Fr, 152) ist. Dabei erweist der Begriff „Ewigkeit", daß auch für den Famulanten die Zerstörung „alles" ehedem Festgefügten mit der Erschütterung des ihm anerzogenen christlichen Glaubens einsetzt. Die so suggerierte Entwicklung des Famulanten ermangelt freilich nachvollziehbarer Motivierung: Anders als die Biographie des Malers entbehrt die des Icherzählers jener offenkundigen Zäsur; anders als der Chirurg sieht er gleichwohl vernichtet, was ihm von Kindheit an als „für die Ewigkeit" gültiges Ordnungssytem erschien. Entsprechend liefert er sodann eine höchst widersprüchliche Skizze seiner Jugendjahre, deren vage Lyrizität offenkundig dazu dienen soll, der Famulantenbiographie eine aus Chirurgen- und Malererfahrung gleichmäßig gemischte Entwicklung einzupassen und die Unvereinbarkeit beider Erfahrungsmodi zugleich im eher atmosphärischen Stimmungsgemälde zu vernebeln. So ist in der Schilderung des Famulanten — der bezeichnenderweise das Personalpronomen ,ich' meidet und die je gegensätzlichen Aspekte einem unpersönlichen „man" subsumiert 21 — von
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Zum Selbstbild des Malers als verkrüppelter Baum vgl. bes. Fr, 20, 88, 244, 251; auch an die Semantik des Malernamens ist in diesem Zusammenhang zu erinnern. Zur Baum-Metapher vgl. schließlich: Abschn. 5.3 und 7.2 dieser Studie. Hierzu vgl. Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Frankfurt/Main 1980. S. 8: „Und solange du man sagst an Stelle von ich, ist es nichts und man kann diese Geschichte aufsagen, sobald du aber dir eingestehst, daß du selbst es bist, dann wirst du förmlich durchbohrt und bist entsetzt."
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,,Irrwege[n] hinauf und hinunter" und zugleich von „viel Sicherheit", von „Mangel an Selbstbewußtsein" und von „viel Vertrauen", von „Zusammensein und Alleinsein die R e d e " ; nicht nur erzählt er, wie ,man' „verlernte zu leben", sondern auch davon, wie ,man' „wiederfand, was schon verloren war", um freilich das Wiedergefundene erneut einzubüßen (Fr, 118). Die „Irrwege" des Malers und die illusionäre „Sicherheit" des Chirurgen treten nicht etwa in kausale oder zumindest chronologische Beziehung, sondern stehen unvermittelt nebeneinander; die „Irrwege" sowohl überwunden als unentrinnbar, die „Sicherheit" unzerstörbar und zugleich auch zerstört. Folgerichtig erklärt der Maler zum Abschluß der „Vormittagsstunden": „Ich höre mein eigenes Leben." Und zugleich: „Sie zeigen mir mein Leben in Ihrem Leben, das anders war als das meine." (Fr, 118) Gewiß nicht zufällig erinnert diese Einschätzung an den weiter oben zitierten, auf den Chirurgen zielenden Ausruf des Famulanten: „Sie sind Ihr Bruder, Sie sind es nicht" (Fr, 305). Entsprechend könnte der Famulant konstatieren, er sei der Maler und doch auch „nicht", sei Chirurg und zugleich keiner, von diesem um soviel unterschieden, als er jenem ähnele, und umgekehrt. Schreibt er in seinem vierten Brief an den Assistenten: „Ihr Herr Bruder ist Ihnen in allem entgegengesetzt und von dort aus wieder entgegengesetzt" (Fr, 305), so ließe sich sein eigener Standort analog bestimmen: B e i d e n Strauch-Brüdern „entgegengesetzt und von dort aus wieder entgegengesetzt", bleibt er in der Mitte gebannt und hat passiv an beiden, aktiv kaum je an einer der Sphären teil — gemäß erzähltechnischen Kategorien ein Medium oder Reflektor, gemäß freudianischen Begriffen ein annähernd substanzloses Ich, das sowohl die Lockrufe des Unterbewußten (Maler) als die Befehle seines rigiden Uberich (Chirurg) weder zu überwinden noch zu vereinen vermag und somit als „zwangweise gehorsamer Stenograph" (Fr, 301) b e i d e n Instanzen ausgeliefert bleibt. Ehe aber näher untersucht werden kann, wie sich die antinomische Konzeption des Icherzählers figurenpsychologisch zu einer veritablen double-bind-Situation auswächst, wäre zunächst noch darzustellen, wie der abstrakte Autor einen weiteren Versuch unternimmt, die biographischen Hintergründe von Famulant und Maler subtil einander anzunähern, ohne zugleich die vom Icherzähler entworfene Skizze bis in die Gegenwart intakter familiärer Strukturen zu dementieren. Gemeint ist des Icherzählers Versuch einer „Beschreibung meines Zimmers zu Hause" (Fr, 118), deren subtile Komposition besonderes Augenmerk verdient: Die Gegenstände in diesem „Zimmer" sind das objektive Korrelat jener familiären Struktur, die den Μ a l e r lebenslänglich prägte; und gar nicht überschätzt werden kann die Bedeutung des Umstands, daß dieser Raum sich im Innern eines Elternhauses befindet,
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das strukturell dem des C h i r u r g e n gleicht, wodurch sich einmal mehr die für diese Studie grundlegende These bestätigt, derzufolge das Bewußtsein des Assistenten die „Gedankenwelt" (Fr, 32) des Malers in sich birgt; — oder umgekehrt: Die Vorstellungswelt des Malers bricht zerstörerisch aus dem im Chirurgen personifizierten, in der Schwarzacher Klinik objektivierten steinernen Selbstideal hervor. Analog jener erzählerischen Technik, die bereits bei der Konzeption des in ,Tagseite' und ,Nachtseite' entzweiten Assistentenbewußtseins beobachtet worden ist, wird jedoch auch hier das für das G a n z e als dynamisch zerstörerische D e t a i l zur unterschwellig nur bebenden Statik eines kinematographischen Standbildes verhalten: Das erinnernde (innere) Auge des Famulanten gleicht einer Kamera, die unendlich langsam über die zudem zu Bildern und Photographien erstarrten familiären Figuren fährt. So kann die einstige Gestalt der ,Nachtseite' des e i n z i g e n , alle drei dominanten Figuren in je unterschiedlicher Gewichtung prägenden Bewußtseins in größter Ruhe und Stille inspiziert werden: Es ist ein Mausoleumsraum, mit dem „Staub" (Fr, 119), den Bildern und Requisiten unersetzlicher Toter angefüllt. Durch das „Schlüsselloch" geht es hinein in diesen fast verschütteten Innenraum „wie in eine Tropfsteinhöhle" (Fr, 119) — ein äußerst präzises Bild, da sich in der Dialektik von Verflüssigung und Petrifikation das wesentliche Bewegungsgesetz der Bernhardschen fiktiven Welten manifestiert. Das vom Famulanten erinnerungsweise besichtigte Zimmer liegt starr in tödlicher Kälte. Seit langem schon herrscht der Winter; die „durch das Schlüsselloch in den Kasten hinein" verirrte Erinnerung sucht, „halb tot vom Geruch der dort hineingezwängten Sommerkleider", „in Finsternis und Betäubung einen Ausweg" und flieht auf „die Fensterbank über dem Garten" (Fr, 119), doch auch der liegt starr im Frost. Somit sieht die Erinnerung sich auf gleichfalls tote „Bilder" und einen „Brief" verwiesen — statt „Kostbarkeiten" (Fr, 117) in „warmen Zimmern" (Fr, 118) erstarrte Requisiten erstorbener Vergangenheit. Unter diesen Objekten sucht man bezeichnenderweise auch Hinweise auf die E l t e r n des Famulanten vergebens. Stattdessen: das „Bild des Großvaters, das der Großmutter" (Fr, 119), die den Innenraum des Famulantenbewußtseins — analog der Kindheit des Malers und in genauem Gegensatz zu jener des Chirurgen — beherrschen. Auch ein Zeichen der Verbindung von „Großeltern" und feudaler Vergangenheit findet sich, zum „Kupferstich" erstarrt: Waren die Großeltern des Malers „Herrenmenschen", „unzugänglich für gemeine Menschen" (Fr, 31), so entdeckt man in der sorgsam bestückten Galerie einen „Kupferstich mit einem alten Schloß" (Fr, 119). Und selbst für das Verhältnis zwischen den Brüdern Strauch findet man eine zeichenhafte Entsprechung: Ward wei-
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ter oben der Assistent als „Anhänger der J a g d " (Fr, 200) charakterisiert, so wird jetzt der Bruder des Famulanten assoziativ mit einem „Jäger" identifiziert, indem der Famulant einen „Brief des Bruders" erwähnt, der ein Drittel einer Jagdszene verdeckt, auf der ein Jäger abgebildet ist, der Dudelsack bläst und mehrere kleine Figuren zum Tanz auffordert (Fr, 119)
— eine Szene, die überdeutlich an mittelalterliche Totentanzdarstellung gemahnt und somit durch analoge Oppositionsbildung innerhalb der beiden Brüderpaare den Famulanten mit dem Maler identifiziert. Plötzlich jedoch gerät das starre Erinnerungsbild in zerstörerische Bewegung: Die bislang je isoliert visierten Requisiten nehmen untereinander Verbindung auf, beginnen gar mit ihren Urbildern jenseits der sie umschließenden Mauern zu kommunizieren. „Alles" gerät mit „allem in Zusammenhang": Der Kupferstich zum Beispiel mit dem Schloß, das Schloß mit dem See, der See mit den Hügeln, die Hügel mit den Bergen, die Berge mit dem dahinterliegenden Meer, das Meer mit Menschen, deren Kleider wieder mit einem Sommerabend, mit der Luft auf dem Muß, auf welchem unser Boot treibt, lange nach Mitternacht. (Fr, 119)
In dieser Erinnerungssequenz tut sich im Innern des Famulanten ein durch die vage Lyrizität der Sprache nurmehr matt verschatteter Abgrund auf, in den das Kameraauge der Erinnerung erst ängstlich tastend, dann wie von einer Woge in die Tiefe gerissen einfährt. So strafen die um die „Großeltern" gruppierten Requisiten durch die Sehnsucht, mit der sie evoziert werden, die um die „Eltern" sich rankende Idylle Lügen: Einzig das Vergangene (Großeltern) könnte das Gegenwärtige (Elternhaus), das auf jenes gestützt emporwuchs, legitimieren. Aber der „Großvater", auf einer Photographie „mit einem Selbstmörder" abgebildet, ist tot; und so forscht der Famulant auf der in die Vergangenheit als in die Tiefe weisenden Fluchtlinie nach dem F u n d a m e n t des besichtigten Bauwerks vergebens: Das scheinbar lichte und feste Haus der Kindheit wandelt sich, in traumhaft-dämonischer Metamorphose, zum „ B o o t " , das auf einem „Fluß [ . . . ] treibt, lange nach Mitternacht" (Fr, 119). 22 Aber während der „Tod der Großeltern" für den Maler zum „allergrößte[n] Verlust" wird (Fr, 31 f), der alle in der Kindheit gefügten inneren Fundamente und stützenden Mauern zerrüttet, gewinnt die analoge Erfahrung des Famulanten keine vergleichbare Wirklichkeit: Unvereinbar
Vgl. die Pensee Nr. 35 von Blaise Pascal, dem historischen Gewährsmann des Malers: „Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin [. . .]. [. . . ] ; wir brennen vor Gier, einen festen Grund zu finden und eine letzte beständige Basis [. . .]; aber all unsere Fundamente zerbrechen, und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen." Blaise Pascal, Gedanken. Stuttgart 1980. S. 34
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mit dem evozierten Bild intakter Familienstruktur, bleibt sie als gleichsam bloß geträumte Trauer vom scheinbar unzerrütteten ,Elternhaus' ummauert, vergleichbar der ,Nachtseite' des Assistenten, die als zunächst winziger Fleck im lichten Selbstbild dieses nicht schockartig verfinstert, sondern unmerklich sich ausdehnend einschwärzt. Innerlich entzweit geht folglich auch der Famulant aus seiner Kindheit hervor: Schwankend fortan zwischen zwei gegensätzlichen Erfahrungsinodi, die sich gemäß der Bildersprache der Frost-Welt hier in der ,diluvischen' Dynamik des „Flusses", d o r t in der erhabenen Statik von Mauerwerk und „Gebirgsmassiv" objektivieren. Wie bereits dem Assistenten, verweigert das Fiktionskonzept auch dem Icherzähler Bewußtheit seiner inneren Entzweiung. U n d der abstrakte A u t o r findet auch ein Mittel, wenn nicht die Entzweiung, so doch die den Famulanten umfangende D ä m m e r u n g traumhafter Halbbewußtheit inhaltlich zu legitimieren: U n b e w u ß t h e i t , letztlich dem T o d als der Erlösung von insgeheim als „heillos" (Fr, 12) durchschauter Individuation, gilt die verschwiegene Sehnsucht des vom „Geruch des Flusses" (Fr, 122) affizierten Famulanten; U n b e w u ß t h e i t in Gestalt selbstauferlegten rigiden Reflexionsverbots dient ihm z u m andern als Strategie, seine inneren Zweifel zu betäuben, als er sich noch einmal zum Glauben an die in „Gebirgsmassiv" und Schwarzacher Bollwerk objektivierte Verheißung zu überreden sucht. Durch seinen „Entschluß, Medizin zu studieren" (Fr, 50), beginnt in seiner Art auch er, die Finsternis zu mehren, die er zugleich flieht und ersehnt.
4.1.2 Symbolische Selbstverneinung Die B r ü c k e besitzt in der Bernhardschen Ikonographie eine spezifisch zeichenhafte Bedeutung: Dem F l u ß zugleich enthoben und bedrohlich nahe, ist die Brücke die schwankende Mittlerin zwischen Wasser und Festland, näher dem Fluß als dem Fels, den jener u m s t r ö m t . Die Wiener Medizinstudienzeit des Icherzählers, die im folgenden näher u n t e r s u c h t werden soll, beginnt gewissermaßen auf einer solchen „Brücke" (Fr, 122); nach den Einsichten des voranstehenden Abschnitts vermag es nicht mehr zu überraschen, daß der Famulant zumindest anfänglich zwischen den polaren Aspekten seiner entzweiten Innenwelt unschlüssig schwankt. Strebt er durch seinen „Entschluß, Medizin zu studieren" (Fr, 50), einerseits der im „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) objektivierten Verheißung zu, so läßt er sich zugleich auch von deren ,diluvischem' Widerpart verlocken, den er im „großen, breiten Strom", im „Geruch des Flusses" (Fr, 122) verbildlicht sieht. Was des Icherzählers Studienort: die authentische österreichische Stadt Wien, b e t r i f f t , so wird diese zweifellos erst durch die vom Famulanten nach außen projizierte innere Zerklüftung in zwei polare Aspekte
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zerfällt. Indes durch eine Projektion, der wenig Subjektiv-Beliebiges eignet: Die nämliche entzweite Raumstruktur, zu welcher sich der Famulant das authentische Wien umbildet, wird spätestens in der hierarchischen Gliederung der fiktiven Welt Weng figurenunabhängig objektiviert. Durch solche Objektivation wird die Historizität der inneren Entzweiung der dominanten Figurentrias faßbar: Nicht zuletzt ist sie sozial bedingt, subjektives Korrelat objektiver gesellschaftlicher Entzweiung. Das Schwanken des zunächst unschlüssig auf der „Brücke" verharrenden Famulanten ist daher nicht nur eines zwischen den Polen psychischer Projektion, sondern zugleich ein Gebanntsein in der Kluft, die soziale Klassen, Herrschende und Beherrschte, sowohl dialektisch verkettet als trennt. Als subjektives Korrelat objektiver Gesellschaftsstruktur ist die innere Zerklüftung unentrinnbar, individualpsychologisch weder zu deuten noch zu heilen; sie signalisiert, daß der Icherzähler ebenso wie die Brüder Strauch zufolge seinem Bewußtseinszuschnitt dem „Oberbau" (Fr, 122) der Gesellschaft zugehört. Denn jene nicht bloß Romanwelten prägende sozioökonomische Struktur, die auf Ausbeutung sowohl äußerer, im industriellen Zugriff verwüsteter Natur als auch der zu bloß kreatürlicher Existenz herabgedrückten körperlich Arbeitenden beruht, gründet genau in jener kollektiven Bewußtseinsstruktur gesellschaftlich privilegierter Schichten, deren Normen und Obsessionen sich im rigiden Selbstideal des Assistenten manifestieren. Der Famulant, auf der „Brücke", steht damit auch vor der Entscheidung seiner künftigen Klassenzugehörigkeit. Durch seinen Entschluß zum Medizinstudium hat er sich freilich im Grunde längst entschieden und das ihm anerzogene Selbstideal affirmiert. Indes signalisiert sein „Unglücklichsein" (Fr, 122) über den eingeschlagenen Weg, daß er den im „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) verbildlichten Verheißungen nicht mehr gänzlich zu trauen, daher auch mit dem rigiden Selbstideal des Assistenten sich nicht blindlings zu identifizieren vermag. So wechselt er im Rhythmus von Semester und -ferien zwischen der medizinischen „Schulbank" (Fr, 122) und dem „ganz einfachen" Leben eines Bauarbeiters, das „schweigsam", illusionslos im Zeichen des „Flusses" (Fr, 122) verläuft. In der fiktiven Welt Weng wird jene zeichenhafte Hierarchie von ,Berg' und ,Fluß' erstmals als systematisch objektivierte begegnen: „Unten auf der Baustelle" des am Fuß des Berges in H ö h e des Flusses errichteten „Kraftwerks" erinnert der Famulant sich „an die Zeit, als ich in der blauen Arbeiterhose über die großen Brücken ging" (Fr, 121). „Daß es auch mich immer hinziehe zu den ganz einfachen Leuten" (Fr, 123), erklärt er dem Maler: Dorthin, wo man immer nur den Krampen auf und nieder gehen sieht über einem Graben, in dem einer stehen muß. W o man nur Erdklumpen sieht, die heraufgeworfen werden. Von wem? Ja, das weiß man nicht. (Fr, 123)
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Jedoch wird in der Gebärde des Grabenden die Sehnsucht nach dem unerreichbaren „ganz einfachen" Leben durchdrungen und schließlich aufgezehrt von Sehnsucht nach dem T o d als der einzig erreichbaren „Heilung" (Fr, 299). So oder so bleibt die Gebärde gebannt im bloß Symbolischen: Symbolisch der Versuch, die eigene verschüttete Lebendigkeit gleichsam freizuschaufeln; symbolisch die Uberwindung unüberwindbarer innerer wie äußerer Distanzen zwischen ,Berg' und ,Fluß'; symbolisch schließlich auch die Wendung, mit welcher der „Krampen" nicht mehr sowohl ihn freischaufelt als sein eigenes Grab. „Der erste Schaufelstich lenkte blitzartig von der Übelkeit ab" (Fr, 121); daß er indes von existentieller „Übelkeit", von innerer Zerrissenheit nicht befreit, sondern bloß ablenkt, entlarvt die Flucht des Famulanten als Ausflucht, als inszenierten Schein. T r o t z seiner insgeheimen Ahnung, daß das auch ihm immanente Selbstideal nurmehr Trügerisches verheiße — „Gewitter" haben längst „alles" zerstört (Fr, 118) —; daß er den rigiden Geboten folgend sinnloses Leiden, vergebliches Hoffen sich aufbürde; daß er so die sein Inneres entzweiende Kluft vergrößere statt zu überwinden suche, vermag er dem kraft Bewußtsein ihm vorbestimmten Sein nicht zu entrinnen. „Das waren ja nicht die schlechtesten", erklärt er fast beschwörend, „die auf dem Oberbau anfingen und im Straßengraben aufhörten" (Fr, 122). Jedoch ist ihm solcher freiwillige Abstieg sowenig wie den StrauchBrüdern beschieden; das befreiende Eintauchen in Unbewußtheit und Anonymität mißlingt. Zwar hat er als Medizinstudent „etwas vor", das ihn „nur halb überzeugte" (Fr, 122). Aber diese Hälfte seines entzweiten Wesens zieht ihn a u f wärts mit einer dem gleichfalls halbherzig unternommenen, ab wärtsführenden Fluchtversuch überlegenen Kraft: fort vom lockenden „Geruch des Flusses", empor zur steinernen Kälte des Schwarzacher ,,Gebirgsmassiv[s]" (Fr, 201). Indes geht der Famulant aus dieser Episode mit einer Erfahrung hervor, die ihn von der starren Verschlossenheit des Assistenten unterscheidet: Anders als diesem erscheint ihm der im Bild des „Flusses" objektivierte Aspekt individuellen wie gesellschaftlichen Lebens nicht mehr durchaus als Bedrohung; im Gegenteil vermag er durch den befristeten Perspektivwechsel gar zu erkennen, daß vom Gipfelpunkt der verräumlichten Hierarchie jene Verstümmelung und Vernichtung ausgehen, die umgekehrt dem Assistenten als zerstörerische Attribute unbewußt-diluvischer Natur gelten. Seine resignierte Rückkehr in die „Schulbank" (Fr, 122), auf den Weg zum „Gebirgsmassiv", kommentiert der Famulant so: Kigentlich war ich dann unglücklich, aber auf die Dauer wäre mir mein Unglücklichsein auf der Baustelle auch nicht erspart geblieben. (Fr, 122)
Denn auch er vermag im falschen kein richtiges Leben zu erspähen. Daß er
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immerhin Falschheit sensibel registriert, bewahrt ihn vor deren Affirmation nach dem Bild des Assistenten; anders als dem Maler bleibt ihm jedoch Bewußtheit seiner Motive verwehrt. 4.1.3 Reflexionstabu als Rettungsversuch Halbheit bleibt daher auch des Icherzählers „Entschluß, Medizin zu studieren" (Fr, 50), dem er „halb überzeugt" (Fr, 122) und zum anderen Teil von innerer Instanz genötigt sich beugt. U m aber den gleichsam im Kommandoton des Assistenten (vgl. Fr, 200) ertönenden Befehl befolgen zu können, bedarf er komplizierter psychischer Zurüstung, mittels derer er f o r m a l den „Entschluß" mitträgt, inhaltlich indes unbeteiligt bleibt. Die Wendung zum Medizinischen gelingt ihm nur deshalb, weil er der auch für ihn noch im Schwarzacher massiven Mauerwerk beschlossenen Verheißung zugleich sich ergibt und mißtraut, somit sein Motiv, sein geheimes Hoffen, zugleich befolgend und verleugnend. Jeder seinerseitige Versuch, sich e i n e r der beiden widerstrebenden Mächte seines Innern zu ergeben, wird sogleich von der Gegenkraft antinomisch durchdrungen und somit letztlich durchkreuzt. Ward er am selbstverneinenden Versinken in der Unbewußtheit als „Fluß" verbildlichter Existenzform letztlich gehindert durch sein Selbstideal, das ihm Bewußtheit, Aufwärtsstreben, Selbsterhaltung befahl, so vermag er umgekehrt auch diesen Befehl nur halbwegs zu befolgen, da jetzt der ,diluvische' Aspekt seines Wesens den Versuch vereitelt, sich bewußt einem Metier zu verschreiben, das Bewahrung insgeheim als „heillos" (Fr, 12) durchschauter Individualität intendiert. Diese konzeptionell ihm verordnete Unfähigkeit des Famulanten, nach dem Bild des Chirurgen rein mit e i n e r Macht seines Innern sich gegen die andere zu verbünden, versetzt ihn in den gelähmten Zustand halbbewußten Dämmerns, das gleichsam aus einem positionellen Patt seiner widerstrebenden Tendenzen resultiert. „Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt" 2 3 , ist er gleich Hofmannsthals C l a u d i o „von Dämmerung verwirrt und wie verschüttet", „in jedem Ganzen rätselhaft gehemmt" 2 4 . So auch in seiner Wendung zum Medizinischen, zum einerseits auch ihm eignenden Ideal der rein „verstandesmäßigen Klarheit" (Fr, 300) wissenschaftlichen Denkens, zu der er sich überhaupt nur zu überreden vermag, indem er sich die Implikationen seiner Entscheidung verschleiert mit der denkwürdigen Behauptung, schierer „Zufall" habe ihn ins Medizinische geweht: 23
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Hugo von Hofmannsthal, Der T o r und der Tod. In: Gesammelte Werke in 12 Einzelausgaben. Hrsg. von H. Steiner. Bd. 4: Gedichte und lyrische Dramen. Stockholm 1946. S. 274. — Kurztitelnachweis: Hofmannsthal, T o r und Tod. Hofmannsthal, T o r und Tod, S. 281
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Z u m Standort des Icherzählers Ich kann nicht sagen, daß mein Entschluß, Medizin zu studieren, auf einer tieferen Hinsicht beruhte, nein, darauf beruhte er sicher nicht, eher, weil mir überhaupt nichts einfiel, was zu studieren mir wirklich Freude gemacht hätte, Freude machen würde, und es beruht eigentlich nur auf dem Zufall, daß ich den D o k t o r Marwetz getroffen habe, der sich immer noch vorstellt, daß ich einmal seine Praxis übernehme. (Fr, 50)
Aber von realer „Praxis", von gleichweichem entschiedenen Handeln, vom „ganz einfachen" ( F r , 123) Leben ebenso wie vom illusionären Wirken des Chirurgen bleibt der Famulant zwangsläufig ausgesperrt. „Der Arzt ist der Helfer der Menschheit", geht es ihm durch den Kopf, dieser Ausspruch, der schon immer in mir die blödsinnigsten Gedankenzerwürfnisse hervorgerufen hat. Helfer der Menschheit . . . , dachte ich. Helfen und Menschen, wie weit liegen diese Wörter auseinander. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemandem helfen könnte. Wenn ich Arzt bin . . . Arzt? Ich und Arzt? [ . . . ] Der ,Helfer der Menschheit' durchkreuzte mein Gehirn und verursachte mir zum ersten Mal nach langer Zeit Kopfschmerzen, ( f r , 90)
Man erkennt in diesem zentralen ,Gedankenzerwürfnis' des Famulanten einmal mehr jene antinomische Konstellation, derzufolge er formal die Position des Chirurgen einnimmt, inhaltlich indes dem Maler beipflichtet, der nicht müde wird, die „Ärzteschaft" als „bloße Vormacher" ( F r , 148) zu schmähen. Selbst im Wengschen Inferno, das die Ohnmacht nicht nur der Medizin grell erweist, wird der Famulant sich dieses Widerspruchs nur kurzzeitig, dann aber geradezu schmerzlich bewußt. Und augenblicklich zieht er sich auf eine Position demonstrativer Verständnislosigkeit zurück: „Mir ist alles unverständlich." ( F r , 90) Diese wie auch immer mühsam bewahrte Ignoranz gegenüber eigener innerer Entzweiung besitzt sowohl inhaltlich, im psychischen Mechanismus des Famulanten, Methode, als auch formal, für das Fiktionskonzept in seiner Gesamtheit, eine unentbehrliche Funktion. Formal: Nur sofern sich der Famulant seines Grundwiderspruchs nicht bewußt wird, vermag er als Medium b e i d e r Strauch-Brüder gleichsam die S t i m m e des Chirurgen mit den W o r t e n des Malers zu vereinen, ohne zugleich seine unparteiische Objektivität einzubüßen; im Bewußtsein seines Widerspruchs würde er unweigerlich zur subjektiv kommentierenden Partei. — Inhaltlich: Die ostentative Verständnislosigkeit des Famulanten wird als Strategie erkennbar, mittels derer er seine Zweifel am gewählten Weg, seine zuweilen aufblitzende Einsicht, daß „Helfen und Menschen" im Medizinischen nicht (mehr) zur Deckung zu bringen seien, zu betäuben sucht. Durch selbstauferlegtes rigides Reflexionsverbot trachtet er sich auf einem Kurs zu halten, der ihn allenfalls halbwegs überzeugt. „Man darf nicht nachdenken!" ( F r , 8), lautet seine ohnmächtige Devise, die gewiß nicht zufällig an die gleichfalls reflexionsfeindliche Maxime des Assistenten gemahnt. Hatte dieser postuliert, „im Operationssaal" werde „nicht nachgedacht, nur gehandelt" ( F r , 200), so entbehrt freilich das analoge
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Motto des Famulanten jenes kompensatorisch praxisfixierten Aspekts. Wiederum sieht man den Icherzähler auf der leeren Mitte zwischen den Strauchschen Brüdern gebannt: Abgesperrt sowohl von Reflexion als von gleichweicher „Praxis", hat er aktiv weder an den grüblerisch-selbstzerstörerischen Einsichten des Malers noch am illusionär-selbstbewahrenden Wirken des Chirurgen teil. Bereits vor Erteilung des fiktiven Auftrags ist der Icherzähler seiner psychischen Struktur zufolge der ideale Beobachter: Gierend nach „Licht" (Fr, 201) ebenso wie nach „Finsternis" (Fr, 32) als den beiden ihm sowohl immanenten als unzugänglichen Sphären, bezieht er Täuschung ebenso wie Einsicht stets nur aus zweiter Hand. Mehr noch als der Maler ist er ein Bewohner des „Zwischenreichs" (Fr, 200), in dem die stete Dämmerung des niemals heraufziehenden Tages, der nie hereinbrechenden Nacht herrscht. Entsprechend trägt der Famulant jetzt auch ins medizinische Studium als in die Sphäre bewußter Verstandesanspannung Elemente unbewußter Dunkelheit hinein. Seine akademischen „Prüfungen" besteht er zwar „mit Auszeichnung", aber zugleich „wie im Schlaf" (Fr, 50f) — also doch in jenem vom Chirurgen furchtsam gemiedenen Zustand minimierter Bewußtheit, in dem weder das „Licht" des „klaren, berechnenden Verstandes" (Fr, 296) noch auch die dichte Finsternis reiner Unbewußtheit, sondern der Traum als Manifestation der dämmrigen Zwischenwelt herrscht. Tatsächlich erscheint dem Famulanten gleich dem Hofmannsthalschen Toren sein Leben als „Traum". Als ein Traum freilich, aus dem er entgegen seiner Behauptung (vgl. Fr, 90) niemals und auch in Weng nicht erwachen wird, da seine Selbststruktur ihn zu stetem Dahindämmern verhält. Denn ideale Empfänglichkeit besitzt ein Medium im Zustand der Trance, in dem es, von seinem Gegenstand zugleich affiziert und verstört, seine Sinne erschrocken zu verschließen sucht und gleichwohl nicht einhalten kann zu schildern, was es von a u ß e n bannt mit einer Macht, die nur i n n e r e n Gewalten eignet. Bewahrt sein „wie im Schlaf" (Fr, 50) arbeitender Verstand ihn davor, mit seinem medizinischen Metier bewußt sich identifizieren zu müssen, so rettet er ihn auch in Weng vor distanzlosem Versinken in ,diluvischer' Finsternis. Gleicht das Ich des Erzählers einem Doppelagenten seines entzweiten Innern — der freilich die Kluft zwischen den feindlichen Mächten weder zu mildern noch zu vergrößern, sondern das positionelle Patt zu erhalten strebt —, so sein Verstand der von beiden Mächten umkämpften Schaltzentrale, die der Famulant sowohl servil als listig mal dieser, mal jener Macht übereignet; die aber f o r m a l , da durch die Ideale der Präzision und Objektivität konstituiert, auch dann noch der Sphäre naturwissenschaftlicher' Klarheit verhaftet bleibt, wenn sie inhaltlich die Möglichkeit der „verstandesmäßigen Klarheit" (Fr, 300) dementiert.
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4.2 Der Famulant als Medium des Malers Letztlich jedoch bleibt eine Bewußtseinsstruktur der Erzählerfigur, die sowohl dem formalen Erfordernis unerschütterlicher Statik und Objektivität als auch der inhaltlichen Notwendigkeit subjektiven „Diluviumszerfall[s]" (Fr, 299) Rechnung trägt, unerreichbares Ideal. Gemessen nicht nur an der dynamischen „Auflösung" der Malerfigur, sondern auch der unterschwelligen Gefährdung des sich verfinsternden Chirurgenbildes, geriet das Famulantenbewußtsein allzu stabil und statisch, verglichen mit den radikalen Positionen der Strauchschen Brüder befremdlich moderat. Man wird indes feststellen, daß in des Icherzählers auf stabiler Entzweiung basierender Befähigung zu scheinbarer Unparteilichkeit sich unscheinbare Parteilichkeit des abstrakten Autors manifestiert, der nicht zufällig seinen fiktiven Beobachter mit dem formalen Privileg des Icherzählers versah. Das letztliche Gesichertsein des Famulanten vor des Malers „ Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) läßt sich schlüssig nicht allein aus dem Inhaltsaspekt erklären, sondern wird erst dann vollends verständlich, wenn man die kraft Erzählform, somit a priori dem Icherzähler geleistete Uberlebensgarantie in die Rechnung einbezieht. Der abstrakte Autor hat dieses dem Icherzähler zunächst aus seiner formalen Position zuwachsende Moment irreduzibler Sicherheit im nachhinein inhaltlich zu legitimieren. Daher läßt sich nicht bereits aus dem formalen Privileg, jedoch aus dessen inhaltlicher Motivierung folgern, ob sich im Standort des Icherzählers verkappte Parteinahme des abstrakten Autors niederschlägt. Da diese Frage in dem Maß an Gewicht gewinnt, in dem der Icherzähler auch inhaltlich ins erzählte Geschehen verwickelt wird, verdient sie in einer /•Yosi-Analyse besonderes Augenmerk: Alle in Weng perzipierten Prozesse treiben dynamisch der „Auflösung" als dem Verfall und T o d zu, folglich einem Geschick, von dem der Icherzähler, gleich dem Maler, infolge des ,diluvischen' Aspektes auch seines Wesens, inhaltlich bedroht scheint, vor dem er aber kraft seiner formal privilegierten Position zwangsläufig bewahrt bleibt. Da diese rein aus der gewählten Erzählform dem Famulanten zuwachsende unerschütterliche Stabilität unübersehbar mit dem steinernen Selbstideal des Chirurgen, mit dem gesamten im „Gebirgsmassiv" verbildlichten Aspekt des Fiktionskonzeptes koinzidiert, wird bereits hier erkennbar, daß in dem Entschluß des abstrakten Autors, einen Icherzähler mit dem „Beobachten" (Fr, 12) des Malers zu betrauen (statt etwa dessen Zerfall auktorial zu erzählen), sich insgeheime Parteinahme der höchsten Textinstanz manifestiert. Die apriorische formale Sicherheit des Erzählerstandorts erweist sich damit als konstitutives Moment der Frosi-Intentionalität.
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Wie sich im folgenden zeigen wird, eignet dem Icherzähler aufgrund seines formalen Gesichertseins objektivierende, infolge seiner inhaltlichen Involvenz rezeptionssteuernde Qualität. Beide Aspekte finden ihren gemeinsamen Nenner wiederum in der konstitutiven Halbbewußtheit des Icherzählers, der weder seiner Gefährdung noch seiner Sicherung gänzlich gewahr wird, sondern einmal mehr Unvereinbares antinomisch vereinigt, indem er in Weng zum M e d i u m des Malers regrediert: Mehr und mehr auf eigenständigen Kommentar des Gehörten und Erlebten verzichtend, zieht er sich in die Rolle des „zwangsweise gehorsame[n] Stenograph[en]" (Fr, 301) der Malermonologe zurück, in der er mit der formalen Präzision und emotionslosen Objektivität seines auf reine Reproduktion spezialisierten Verstandes das Szenario der „Auflösung" (Fr, 54) auch seiner Bewußtseinslandschaft zu Protokoll nimmt: folglich subjektive und objektive Todverfallenheit nicht sowohl künstlerisch reflektierend als mit der monströsen Präzision jenes wissenschaftlichen' Maschinengehirns reproduzierend, das die ,,heillos[e]" (Fr, 12) Zerstörung heraufbeschwor. Diese paradoxe Position, formal auf das Privileg des Icherzählers angewiesen, findet ihren inhaltlichen Niederschlag darin, daß der sorgsam aus Aspekten des Assistenten- und des Malerbewußtseins gefügte Famulant zugleich in einer gewissermaßen gediegenen Sphäre ungefährdeter Oberflächlichkeit und Bürgerlichkeit verwurzelt wird, die als einzige im ganzen Frosi-Konzept nicht der Heuchelei überführt wird, sondern noch ausgangs der Fiktion in kaum verhüllter Selbstzufriedenheit prangt. Nicht zufällig wird diese Sphäre in des Erzählers Studienort Wien lokalisiert (vgl. Fr, 157), in dem er „über die großen Brücken ging" (Fr, 121), dem „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) und dem „großen, breiten Strom" (Fr, 122) gleichermaßen verfallen und fern. Unbeabsichtigt und beiläufig, aber doch unübersehbar wird somit auch erwiesen, daß der konzeptionellen Mittelposition des Icherzählers auf gesellschaftlicher Ebene der bürgerliche Mittelstand entspricht, da beide Existenzformen, die soziale wie die fiktionale, in der beharrlichen Weigerung gründen, den ihre Position konstituierenden Grundwiderspruch auszutragen. Der Bernhardsche Ästhet ist weder Aristokrat noch Proletarier, sondern Bourgeois. 4.2.1 „Diluviumszerfall" als „Stadium" Obzwar formal folgerichtig und stringent auch als erster Entwurf eines Ästheten Bernhardscher Prägung, steht diese letztliche Unerschütterlichkeit des Icherzählers gleichwohl in schroffem Widerspruch zur bereits mehrfach betonten konzeptionellen Notwendigkeit, auch den Famulanten als dem „Diluviumszerfall" (Fr, 299) unterworfen zu perzipieren. Denn nur wenn spürbar wird, daß des Malers „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) auch den Icherzähler ergreift, vermag jene Konzeption zu über-
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zeugen, derzufolge der Famulant die Wengsche Bedrohung in der Regression zum Medium des Malers sowohl erleidet als bannt. Wenn daher der Famulant klagt, er habe sich „tief in Gedankengänge verrannt", „die ihren Ursprung im Maler haben" (Fr, 128); wenn er konstatiert, er „stehe ganz unter dem Einfluß des Malers" (Fr, 159); wenn er schließlich notiert: Ich hatte das Gefühl, als hätte mich der Maler, als hätte mich Strauch, als hätte mich dieser Mensch schon in seiner Gewalt [ . . . ] . Auf dem ganzen Weg hatte ich nichts anderes gedacht und überhaupt nichts gesehen, immer nur gedacht, daß der Maler von mir Besitz ergriffen hat. Mich in seine Bilder, mich in seine Vorstellungswelt hineingezwängt hat. Mich, seinen einfach schwachen Beobachter. Ich empfand eine plötzliche Kerkerhaft. Aber auch diese Vorstellung, dachte ich, ist eine Vorstellung des Malers. Ich bin nicht mehr ich. Nein, nein, ich bin nicht mehr ich, dachte ich [ . . . ] . Ich ertappte mich hilflos ausgeliefert in den Sätzen und Ansichten Strauchs, in seinen ,Morbiditäten' und .Absurditäten'. Ich entdeckte mich fortwährend abgehackt durch den Mund dieses Menschen sprechend (Fr, 281)
— so setzt diese Okkupation des Famulantenbewußtseins eine Erosion auch seiner inneren Welt voraus, die diese tendenziell der zerfallenden „Vorstellungswelt" des Malers angleicht, indes vor gänzlicher Identität innehält, so daß die Stimme Strauchs aus einem vom Famulanten nicht zu lichtenden Dunkel dringt, in dem die Grenze zwischen beider Denken irritierend verschwimmt. Sowenig der Famulant seine Individualität — „Ich bin nicht mehr ich" — von der seines Gegenübers — „der Maler [ . . . ] Strauch [ . . . ] dieser Mensch" — klar abzugrenzen vermag, sowenig kann er letztlich mit diesem eins werden: Wie auch immer von dessen „Finsternis" bedroht (vgl. Fr, 280), rettet er sich stets wieder in sein Refugium aus „Dämmerung" und halbbewußtem Traum: Erst in der Dämmerung, als der Fußmarsch schon bald zu Ende war, den ich mit Strauch unternommen hatte, konnte ich mich wieder von ihm abstoßen. Wie von einem tödlichen Ufer. (Fr, 281)
In der stabil entzweiten Bewußtseinsstruktur wird somit stets das Moment diluvischer Dynamik von seinem statischen Widerpart gebannt. Diesem letztlich unzerstörbaren Fundament vermag der abstrakte Autor allenfalls spärliche Spurenelemente dynamischer „Auflösung" beizumischen, die in dieser Hinsicht den Gleichklang von Famulant und Maler eher beteuern als beweisen. Deren erstes wäre darin zu sehen, daß der Famulant in Weng einer Art religiöser Krise verfällt, in der die zuvor erst unterschwellige Erschütterung seines Innern auch auf der Oberfläche manifest wird. So hatte der Erzähler eingangs seines Tagebuchs versichert, er „erwarte", „daß es [die Seele] gibt" (Fr, 7), fragt aber am vierzehnten Tag seines Aufenthaltes in Weng irritiert: „Was ist denn der Gegensatz? Geist und Körper? Geist
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weniger Körper? Körper ohne Seele? Was denn?" ( F r , 143; vgl. F r , 142). Man wird sich jedoch entsinnen, daß der christliche Glaube des Famulanten bereits vor seiner Reise nach Weng durch jene Annahme eines „ Außerfleischliche[n]", das einzig substantiell, jedoch „nicht die Seele" ( F r , 7 ) sei, insgeheim unterhöhlt war. Zudem ist der Famulant, anders als die Strauch-Brüder, in seinem dämmrigen „Zwischenreich" ( F r , 200) inbrünstigen Glaubens wie jeglicher Entschiedenheit keineswegs bedürftig, da er den konstitutiven Widerspruch seines Bewußtseins weder — wie der Maler — selbstzerstörerisch auflöst noch auch — wie der Assistent — illusionär leugnet, sondern nach dem Bild der Brücke, die weder Berg noch Fluß und zugleich Berg u n d Fluß ist, bannt. Die nämliche Halbbewußtheit, die den Icherzähler letztlich vor eigenem „Diluviumszerfall" sichert, hindert ihn freilich zugleich daran, dieses Gesichertseins gewahr zu werden. So vermeint schließlich auch er, „von dieser konsequent vorgehenden Krankheit erfaßt" ( F r , 305) zu sein — ein Urteil, das er mit jener ihn charakterisierenden, in tiefstem Grund gewissermaßen unbekümmerten Widersprüchlichkeit wenige Zeilen später zurücknimmt, wenn er mit gleichem Recht konstatiert, er sei „nicht, noch nicht krank von ihm" ( F r , 306), dem Maler. Beide Bekundungen gleichen sich indes darin, daß sie des Famulanten Furcht vor scheinbar drohender Entwicklung andeuten, die er kraft seiner konstitutiven Statik nicht zu fürchten brauchte; eignet ihm aufgrund seiner inhaltlichen Involvenz rezeptionssteuernde Qualität, so wirkt er, da formal gesichert, zugleich objektivierend. Neben der ,religiösen Krise' des Famulanten kündet scheinbar auch seine vielfach bezeugte „Erschöpfung" von drohender Erosion. Wie man jedoch feststellt, umfängt den Icherzähler bleierne Mattigkeit nicht erst nach seiner Begegnung mit dem Maler; vielmehr kommt er bereits im Zustand der „Erschöpfung" im unwirtlichen Gebirgstal an: Daß ich, länger als zwei Stunden auf dem Bett sitzend, geschlafen hatte, fiel mir jetzt ein. Die Ankunft und das neue Milieu waren schuld an meiner Erschöpfung. (Fr, 13)
Entgegen dem Anschein zeugt diese „Erschöpfung" keineswegs von drohendem innerem Zusammenbruch, sondern erweist sich als Befinden von verblüffender Stabilität. A m vierzehnten T a g klagt der Famulant, er sei „völlig erschöpft" ( F r , 152), was aber sein präzises Funktionieren als „Stenograph" ( F r , 301) der Malermonologe durchaus nicht beeinträchtigt; am fünfundzwanzigsten T a g schließlich ist er „unglaublich erschöpft" ( F r , 296) und reist kurz darauf nach Schwarzach zurück. Nur mühsam vermag man in diesen Schwächezuständen eine Entwicklung als Verschärfung zu erkennen; in ihnen manifestiert sich nicht allein die Bedrohung des Famulanten, sondern zugleich die Strategie, mit derer
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der Gefährdung begegnet: Seine „Erschöpfung", in der sich das Erlahmen innerer Abwehr und Distanz gegenüber der Vorstellungswelt des Malers mit dem Beharren auf emotionsloser, präziser Reproduktion verschränkt, erschüttert nicht, sondern festigt seine konstitutive Halbbewußtheit und nähert ihn dem Befinden eines idealen Mediums an: der Trance, in der sich nicht nur die Anstrengung, mit der der Famulant drohender Bewußtheit eigener — inhaltlicher — Involvenz sich erwehrt, sondern mehr noch der — formale — Erfolg dieses Bestrebens manifestiert. N o c h die scheinbar eigenen Empfindungen erfährt er aus zweiter Hand — und schließlich, als der Maler zum nicht mehr enden wollenden Monolog anhebt, förmlich aus fremdem Mund (vgl. Fr, 281). Obwohl als „zwangsweise gehorsamer Stenograph" (Fr, 301) in der „Gewalt" (Fr, 281) des Malers, verharrt der Famulant daher gleichwohl in „gemeiner Standpunktelosigkeit" (Fr, 300), in der „Leidenschaftslosigkeit eines von einem ihm Ubergeordneten gedungenen Berichterstatters" (Fr, 304), der sich zwar „zwangsweise" als Medium verdingt, aber letztlich nicht Partei ergreift. Allenfalls ließe sich somit der Behauptung des Famulanten zustimmen, der „Diluviumszerfall" sei ein „Stadium, das auch ich durchmache" (Fr, 307), wobei sich im Begriff „Stadium" die unverrückbare Statik ebenso wie das folglich Episodische der Bedrohung manifestiert. 4.2.2 Scheiterndes Ordnungsbestreben An die „letzte Schwarzacher Unterhaltung" mit dem Chirurgen „gebunden", ist der Famulant in Weng bestrebt, die „mir vorgeschriebene Linie des klaren, berechnenden Verstandes in dem mir von Ihnen zugewiesenen Bereich beizubehalten" (Fr, 296). Wie man jedoch inzwischen weiß, ist der Famulant gemäß seinem Wesen sowenig in der Lage, die formale „Linie" zu überschreiten wie auf den inhaltlich ihm „zugewiesenen Bereich" sich zu beschränken. Indes vermöchte er nicht einmal anzugeben, auf welchen „Bereich" der Befehl des Assistenten zielt. Zwar bleibt der Famulant, wie aufgewiesen, letztlich vor eigenem Zerfall bewahrt, der den nach Weng reisenden Chirurgen unweigerlich ereilt hätte. Nicht aber bleibt dem Icherzähler erspart, die Untauglichkeit des vom Assistenten ersonnenen Beobachtungsinstrumentes leidend zu erweisen. „Unerforschliches" soll er „erforschen" (Fr, 7), mittels rein verstandbestimmter Erkenntnisweise einen Gegenstand untersuchen, den er nicht einmal aus seiner eigenen Person entschieden ausgrenzen, geschweige in der Außenwelt eindeutig eingrenzen kann. Übrig bleibt so ein abstraktes Ordnungsbestreben, die rein formale Verpflichtung zur Hypostasis naturwissenschaftlicher' Präzision und emotionsloser Objektivität.
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Hinsichtlich der Möglichkeit zwar nicht innerer Ausgrenzung, aber doch äußerer Eingrenzung des Beobachtungsgegenstandes verdient das bereits mehrfach erwähnte fiktive Fachbuch des Mediziners „ K o l t z " (Fr, 12) erneutes Augenmerk. D e n n dem E n t s c h l u ß des Icherzählers, das Koltz'sche Fachwerk zugunsten eines „Henry J a m e s " in Schwarzach zurückzulassen (Fr, 12), k o m m t hinsichtlich des Erzählerstandortes zweifache Funktion zu. Z u m einen manifestiert sich in seinem Verschmähen medizinischer Erörterung der „Gehirnkrankheiten" (Fr, 12) seine bewußte A b k e h r von medizinischer M e t h o d e , die in Einklang mit seiner eingangs des Tagebuchs notierten Kritik b l o ß handwerklicher, daher ohnmächtiger Organmedizin steht. Z u m andern hat sich jedoch herausgestellt, daß das K o l t z ' s c h e Elaborat im Fiktionskonzept zugleich dazu dienen soll, die finster-medizinischen Spekulationen des Assistenten objektivierter Medizin zu integrieren, um den fiktiven Auftraggeber vom Verdacht bloßer Wahnproduktion zu entlasten. Diese bereits zuvor wenig überzeugende Intervention des abstrakten Autors zeigt j e t z t ihre konzeptionell mißliche Kehrseite: Sofern das Koltz'sche W e r k tatsächlich, wie vom Icherzähler behauptet (vgl. Fr, 299), eine gleich den Wengschen Zerfallsprozessen verlaufende „teuflische T h e r a p i e " verzeichnet, so hätte der Interpret zu folgern, daß lediglich der somit fälschliche Entschluß des Famulanten, die fiktive Studie in Schwarzach zurückzulassen, seine Unfähigkeit verschuldet, das Beobachtete zu perspektivieren und strukturieren. Wiederum entsteht der Eindruck, als sei die Schwäche des vom Protagonisten überwältigten Icherzählers zumindest in diesem Aspekt ephemer motiviert. D e n n immerhin erklärt der Famulant in seinem zweiten Brief: „diese auch in dem Buch von K o l t z beschriebene ,Therapie der nach innen gehenden Explosivvernichtung'" „ist W e n g " (Fr, 299), und konstatiert gar, in verblüffendem Aufschwung zu einer auch inhaltlichen Metaebene, ein „klimatologische[s] und klinische[s] Ganze[s]" (Fr, 301), wodurch er seine Einsicht bezeugt, daß „Innen- und Außenwelt" (Fr, 297) des Malers systematisch aufeinander bezogen sind. Nach methodischen Konsequenzen dieser überraschenden Erkenntnis forscht man indes in den Aufzeichnungen des Famulanten vergebens. Stattdessen s t ö ß t man auf ein verschämtes D e m e n t i , vermittels dessen der abstrakte A u t o r die K o l t z ' s c h e Darlegung ,finsterer' Medizin gleichsam wieder aus dem Verkehr zieht: „die Krankheit, die der Maler h a t " , läßt er den Famulanten gestehen, „ist in dem Buch von K o l t z nicht verzeichnet." (Fr, 162) Durch diese Manipulation des abstrakten Autors fällt der Icherzähler in inhaltliche O h n m a c h t zurück. Das K o l t z ' s c h e W e r k , wäre ihm vergönnt, darin zu blättern, hätte ihm kraft methodischer und sprachlicher K o m p e tenz eine auch inhaltliche Metaebene eröffnet, von der aus der Zusam-
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menhang zwischen subjektiver (Fr, 303) und objektiver (Fr, 54) „Auflösung" sich ihm erschlossen hätte. Indes hindert ihn nicht nur sein Bewußtseinszuschnitt an solchem wie auch immer illusionärem Aufschwung nach dem Bild des Chirurgen. Bereits das fiktive Koltz'sche Werk war schimärisch: knapp tauglich zu inhaltlicher Stützung des Chirurgen, jedoch nur unter grobem Verstoß wider die realistische T e x t schicht näher zu explizieren. Jenes „klimatologische und klinische", subjektive Innenwelt und objektivierte Raumstruktur umgreifende „ G a n z e " (Fr, 301) wird weder Schwarzacher Medizin noch deren famulierendem Vertreter faßbar, sondern erst der hier vorgeschlagenen Interpretation. Für den Famulanten bedeutet diese zweiphasige Intervention des abstrakten Autors, daß er in seiner Insistenz auf naturwissenschaftlich präzise und objektive Erforschung ,diluvischer Tiefe' zunächst bestärkt wird, daß ihm aber sodann die vorgeblich gelungene Vermittlung nicht als Methodik zur Verfügung steht. Durch solche Verschränkung von Ahnung und Unzugänglichkeit einer Innen und Außen umgreifenden Beobachtungsmethode (die freilich gewiß nicht „medizinisch" zu nennen wäre) wird das Ordnungsbestreben des Famulanten sowohl genährt als enttäuscht, wird ihm schließlich „alles [ . . . ] partikulär" (Fr, 301). U n s t e t schweift sein Blick zwischen der „Innen- und Außenwelt" (Fr, 297) des Malers; hilflos bleibt sein Versuch, „dem Perspektivischen der immer doppelten Anschauungen dieses Falles auch nur einigermaßen zufriedenstellend gerecht zu werden" (Fr, 297); so vergebens wie verbissen sinnt er auf eine Methode, seine Beobachtungen zu strukturieren: Eigentlich müßte ich ein Schema haben, so etwas wie eine Tabelle, auf der ich alles, wie es sich in dieser Sache gehört, in Ordnung bringe, jeden Abend die einen Zahlen von hoch oben herunterschiebe, die anderen von tief unten herauf, daß, was zuhöchst ist, zuunterst kommt und umgekehrt. (Fr, 128)
Dieses seinerseits schon chaotisch anmutende Ordnungsbestreben — bereits wanken die Hierarchien — scheitert jedoch am irisierenden K o m munizieren von „Innen- und Außenwelt", deren Systematik der Icherzähler umsoweniger zu finden vermag, als die Grenzen auch seiner eigenen „Innenwelt" sowohl zum Wengschen Außen als zur Vorstellungswelt des Malers zu verschwimmen beginnen. Früh bereits fürchtet er, er werde „ziemlich hilflos dem Assistenten gegenübersitzen und nichts sagen können" (Fr, 129). Denn während zufolge dem in der Verstandesfestung verschanzten Chirurgen „Glaubkräftigkeit" und „Geradstirnigkeit" als konstitutive Bedingungen schematisierender und quantifizierender Erkenntnisweise „ allein zu gelten" haben, muß der Famulant konstatieren, er sei „weit entfernt von Schemata, ja von Glaubkräftigkeit" (Fr, 300): Der Assistent stellt sich vor, daß ich nach einiger Zeit nach Schwarzach komme und alles, was ich
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beobachtet habe, vor ihm ausbreite: sehen Sie, so ist es! So hat er es gesagt! So und nicht anders habe ich diese Beobachtungen gemacht! Irrtum ausgeschlossen! Daß die Traurigkeit so ist, wie ich sie mir nicht vorgestellt habe, aber sie ist so! Verstehen Sie das? Nein. (Fr, 129)
Denn der Famulant, obwohl angestrengt „aus auf Verständlichmachung" (Fr, 301), findet keine eigenständige Sprache, in der sich der Inhalt seiner „Beobachtungen" mit dem formalen Anspruch auf Präzision und Objektivität adäquat vermitteln ließe: Alles ganz anders. Denn das Aufgeschriebene stimmt nicht. Kein Aufgeschriebenes stimmt. Kann nichts für sich beanspruchen. Nicht einmal Genauigkeit, wenn auch alles so, in bestem Wissen, in der Meinung, etwas zu wissen über eine ganz klare Sache, fixiert ist. Immer höchstens weniger falsch. Aber falsch. Anders. Unwahr also. (Fr, 129)
Indes ertappt man den Famulanten hier bei einer fragwürdigen Verallgemeinerung. Denn von seiner resignierten Behauptung, daß keine erdenkliche Sprache Denken und Befinden des Malers adäquat zu erfassen vermöchte, rückt er bereits kurz darauf ab, indem er sich erstmals mit der „Sprache Strauchs" befaßt: Was ist das für eine Sprache, die Sprache Strauchs? Was fange ich mit seinen Gedankenfetzen an? Was mir zuerst zerrissen, zusammenhanglos erschien, hat seine „wirklich ungeheuren Zusammenhängc" (Fr, 137),
die ihm indes nur ahnungsweise erfaßbar sind und letztlich unzugänglich bleiben, da er das naturwissenschaftliche Ideal quantifizierender und schematisierender Wahrnehmung sowenig zu überwinden wie zu realisieren vermag: Wie aufschreiben? Was für Notizen? Bis wohin denn Schematisches, systematisch? (Fr, 137)
A m zwanzigsten T a g bemerkt er ernüchtert, „nichts" sei „schwieriger", als seine Beobachtungen „dem Assistenten zu schreiben": „Auf dem Papier ist alles wie t o t " , klagt er, „als ob ich es durch das Aufschreiben umbrächte." (Fr, 229) Man konstatiert hier erneut, wie sich im Famulanten sensibles Registrieren eines Falschen mit der Unfähigkeit, das als falsch Erkannte zu überwinden, lähmend verschränkt. Seine zutreffende Einsicht, daß er durch schematische Präzision das Beobachtete „umbrächte", läßt ihn ratlos zurück. Bereits die Frage: „Wie aufschreiben?", vermöchte er nur zu beantworten, sofern er sich mit dem im „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) verbildlichten Verstandesideal entweder blindlings identifizierte oder desillusioniert überwürfe, somit Partei nehmend für Chirurg oder Maler, dessen „Ausbrüche" (Fr, 137) der Famulant ahnungsweise als ,diluvischen' Widerpart des ,,Gebirgsmassiv[s]" erkennt: E s sind „Felsstürze", die mit den Malermonologen auf ihn „herunterkommen"; keine Kopfsprache, son-
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dem eine „Herzmuskelsprache"; und dann explizit: „das Auflehnen der Flüsse" manifestiere sich in des Malers ,,zerrissen[er]" (Fr, 137) Diktion. Von dieser doch bemerkenswerten Einsicht vermag der Famulant freilich nicht zu reflektierter Erkenntnis der genauen Polarität von „Berg" und „Fluß" zu gelangen; er konstatiert und zugleich verschweigt sich, daß das „Auflehnen der Flüsse" sich gegen das „Gebirgsmassiv" richtet, das in den „Felsstürze[n]" bereits zerbirst. Ist für den Icherzähler einerseits sein dem Maler affines Unvermögen, in abstrakten Begriffen zu denken, charakteristisch, so verweigert er sich andererseits gleich dem Chirurgen der nichtdiskursiven Logizität metaphorischen Sprechens. So vermag er immer wieder Erkenntnisse zugleich virtuell zu erlangen und vor deren Konsequenz in demonstratives Unverständnis zu fliehen. Entsprechend entgeht er auch der bewußten Einsicht, daß das rein verstandbestimmte Denken des Chirurgen, das er im „Gebirgsmassiv" verbildlicht sieht, und die als „Felsstürze" gewiß adäquat erfaßte „Sprache Strauchs" sich im Verhältnis eines einstigen Ganzen und dessen eruptiver Fragmentierung gegenüberstehen: Die Vorstellungswelt des Malers kann durch schematisierendes Denken in geschlossenen Systemen nicht adäquat erfaßt werden, da nicht zuletzt deren Zerstörung sich in der „Sprache Strauchs" (Fr, 137) manifestiert. In nämlicher Halbbewußtheit verharrt der Famulant selbst dann noch, als er sich mit scheinbar größter Entschiedenheit von seinem medizinischen Metier lossagt. Seine Bemerkung: „Ich glaube, es ist leichter, einen zerfetzten Darm zusammenzuflicken, als diese Beobachtungen zu machen" (Fr, 270); seine an den Chirurgen gerichtete Frage gar: Aber vielleicht haben Sie schon im Kopf, geordnet im Kopf, was in mir heillos [!] verwildert erscheint: eine Operation vielleicht? (Fr, 308)
— klingen wie die aus Verzweiflung höhnische Einsicht, daß das „Gebirgsmassiv" sein eigenes Zerbersten schwerlich zu ,heilen' vermöchte, sind aber in Wahrheit Ausdruck verbissener Insistenz aufs naturwissenschaftliche Verstandesideal, die medizinische Intention verrät, ohne den Verrat sich einzugestehen. Damit dringt der Famulant auch ohne „Schema" und „Tabelle" (Fr, 128) auf dem vom Chirurgen ihm gewiesenen Weg ins ,diluvische' Gegenreich. Nach Preisgabe humanmedizinischer Intention bewahrt er das erhabene Bollwerk christlich legitimierter Geisteshypostasis nurmehr als Ruine: als abstraktes Beharren auf emotionsloser Präzision und Objektivität, das sich umstandslos der zerstückelten „Sprache Strauchs", dem Szenario der Zerstörung anschmiegt. Zwar bewahrt ihn sein konstitutives Unvermögen zu entschiedenem Handeln vor aktiver Todesgehilfenschaft nach dem Bild des Chirurgen; aber unschwer erkennt man, daß auch der Famulant in seiner Art einen Pakt mit dem passiv affirmierten T o d
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schließt, indem er individuellen Anspruch auf Heil und Heilung leichthin preisgibt, um in rein formalen Sekundärtugenden als den inhumanen Rudimenten einstigen Geistesideals zu überleben: Dabei wird der Zellstoff, das Fleisch, werden die unteren Zirkulationsmöglichkeiten des umstoßbaren Organischen mehr und mehr bedeutungslos vor dem wahrscheinlich einzig Natürlichen, der Natur Entsprechenden, vor dem Finsteren, das ohne Grenzen ist. (Fr, 307)
Der hier zitierte fünfte Famulantenbrief setzt des Chirurgen Diskurs einer,finsteren Medizin' fort, wodurch nicht nur die Statthalterschaft des Icherzählers, sondern auch die Konsequenz illusionärer Insistenz auf hypostasierte naturwissenschaftliche Objektivität' verdeutlicht wird: Diese bedurfte keiner Legitimation durch christliche Heilsverheißung, denn ihre Perspektive auf das in gespenstischer Kontinuität als „bedeutungslos" geschmähte „Organische" verrät, daß sie stets schon die Subjekte ans letztlich einzig Objektive verriet: an den T o d , die grenzenlose Finsternis. Folgerichtig findet das Ordnungsbestreben des Famulanten schließlich Erfüllung in der kalten und amorphen Ordnung des Todes. Indem der Icherzähler inhaltlich zum seinerseits sprachlosen Medium des Malers regrediert, dessen fragmentierte Monologe jedoch mit der formalen Präzision und emotionslosen Objektivität eines monströsen Maschinengehirns reproduziert, wird zwar einerseits gewiß die zentrale Intentionalität des Fiktionskonzeptes realisiert, da der Famulant, zugleich formaler Statthalter des Chirurgen und inhaltlich in des Malers „Auflösung" involviert, die dialektische Identität von ,Medizin' und »Krankheit' erweist und das naturwissenschaftliche Verstandesideal aktiver Todesgehilfenschaft überführt. Zum andern aber verliert diese Konzeption viel an erhellender Schärfe und macht sich gar insgeheimer Affirmation des Kritisierten schuldig, da sie das letztlich ungefährdete Uberleben des Icherzählers mit dessen formaler Regression zu jener M a s c h i n e motiviert, die zugleich inhaltlich als Signum todverfallener Moderne erscheint. 4.2.3 Der Icherzähler als James'scher „historian" Manifestiert sich im Verzicht des Icherzählers auf das fiktive Koltz'sche Medizinbuch sowohl seine Abkehr von schulmedizinischer Methode als auch die vom abstrakten Autor mit fragwürdigen Mitteln arrangierte Unzugänglichkeit eines expliziten Entwurfs ,finsterer' Medizin, so stellt sich jetzt die Frage, welche Funktion der stattdessen vom Famulanten favorisierten Reiselektüre zukommt. Zunächst könnte man, noch einigermaßen vage, konstatieren, daß der Entschluß des Icherzählers, einen unbetitelten „Henry J a m e s " (Fr, 12)
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nach Weng mitzunehmen, eine »poetische' oder »literarische' Erzählperspektive signalisiert und damit vorab die Rezeptionserwartung eines »klinischen Berichtes' relativiert. Des weiteren dient die Lektürewahl des Famulanten offenkundig der Figurencharakterisierung; man wird dieser Technik, Figuren durch ihre Vorliebe für authentische Autoren zu charakterisieren, im Bernhardschen Werk noch oftmals begegnen. Indes vermag die Interpretation auf diesen Spuren nicht recht voranzukommen. Da der /Yosi-Erzähler selbst den Titel seines „Henry James" verschweigt und inhaltlich an keiner Stelle seine Lektüre kommentiert, scheint deren Beitrag sowohl zur Figurencharakterisierung als auch zur Konturierung der Erzählperspektive wenig ergiebig. Eine dritte Deutungsmöglichkeit eröffnet sich durch Untersuchung der befremdlichen Rezeptionserwartung, mit welcher der Famulant selber sich seiner Lektüre nähert: „Henry James", lobt er, habe ihn „schon in Schwarzach abgelenkt" (Fr, 12). Ablenkung vom Auftrag erhofft er sich indes von seiner Lektüre vergebens: „Ich lese im Henry James und weiß gar nicht, was ich gelesen habe" (Fr, 178), notiert er; bedrückende „Erinnerung" an „Frauen, die einem Sarg folgen", an „eine Stadt, zerstört" (Fr, 178), überblendet die gelesene Fiktion. Bereits Tage zuvor hatte er sich seiner „Gedankenzerwürfnisse" (Fr, 90) vergebens durch James-Lektüre zu erwehren versucht. Ein einziges Mal nur zeitigt das Werk die erhoffte Wirkung: In trügerischer Stille sitzt der Famulant „vor dem Fenster" und liest „den Henry James, der mich sehr gut ablenkt." (Fr, 223) Am fünfundzwanzigsten Tag aber erscheint der „Henry James" in Zusammenhang mit einem heftigen Gefühlsausbruch des Famulanten: Ich ging in mein Zimmer und sagte mir, aber so, daß es laut gesagt war und von den Wänden zurück und auf mich herunterfiel: „Das halte ich nicht mehr aus!" Ich legte mich hin. Ich blätterte in meinem Henry James, ohne einen Gedanken an diesen Dichter. Stand auf. Ging hin und her. Legte mich wieder hin. Ich verabscheute die Schamlosigkeit eines Satzes, der vor mir mitten in diesem Buch stand. Ich warf das Buch auf den Boden. Alles ist übelriechend, dachte ich. (Fr, 279)
Scheinbar nahe liegt der Gedanke, daß in der naiven Rezeptionserwartung des Famulanten, in seiner schließlichen Abscheu vor dem als , Ablenkung' versagenden Werk die Beziehung zwischen ,Kunst' und ,Realität' dargestellt und jene angesichts dieser trügerischer Beschönigung überführt werden solle. Für diese Annahme scheint zu sprechen, daß der Maler, der sich andernorts in einer pathetischen Tirade wider „Kunst" und „Künstler" ereifert (vgl. Fr, 132 f), die James-Lektüre des Erzählers mit der Bemerkung kommentiert, er „habe kein Interesse an etwas Erfundenem" (Fr, 176), und dem Famulanten stattdessen „[sjeinen Pascal" (Fr, 175) anbietet. Aber solch platte Diffamierung von Kunst schlechthin sucht man in Frost vergebens. Am siebzehnten Tag notiert der Famulant:
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Ich hatte ihm einen Satz aus meinem Henry James vorgesprochen, und er interpretierte ihn auf wunderbare Weise, diesen unverständlichen, mir unverständlichen Satz, der mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe hat kommen lassen. (Fr, 188)
Durch diese Bemerkung des Famulanten gewinnt das zeichenhafte JamesWerk eine überraschende Funktion im Fiktionskonzept: Jenem „ S a t z " aus dem „Henry J a m e s " steht der Icherzähler ebenso zugleich beunruhigt und verständnislos gegenüber wie stets schon den Äußerungen des Malers, der überdies den „unverständlichen S a t z " auf „wunderbare Weise" zu interpretieren versteht. Somit wird der Famulant, entgegen seiner naiven Erwartung, durch die James-Lektüre von seinem „Auftrag" nicht „abgelenkt", sondern erneut auf ihn Beunruhigendes fixiert, angesichts dessen sogar die Flucht in sonst schützende Verständnislosigkeit mißHngt. Aber auch diese Deutung vermag, unbeschadet ihrer Folgerichtigkeit, noch nicht gänzlich zu befriedigen, da sie nicht erklärt, weshalb der Famulant sowohl Titel als Gegenstand seiner stets nur durch den Verfassernamen charakterisierten Lektüre verschweigt. Weitersinnend entdeckt man eine zunächst vage Parallele zwischen der Anonymität des zugleich beharrlich erwähnten Buches und seines fiktiven Lesers, der seinen eigenen Namen gleichfalls unterschlägt. Diese Überlegung erst eröffnet die entscheidende Spur: Bringt die oben zitierte Bemerkung des Famulanten den Maler in Beziehung zu einer ungenannten James'schen Figur, so findet sich in der Lektüre des Icherzählers, gleich um welches Werk des angloamerikanischen Autors es sich handeln mag, für den Standort des /-Vcwi-Erzählers gleichfalls eine formale Entsprechung: die von James, dem Erneuerer epischer Form, kreierte Textinstanz des „imagined observer" oder „historian". 2 5 Bei näherer Betrachtung werden sowohl die konstitutiven Gemeinsamkeiten als auch die signifikanten Unterschiede beider Erzählverfahren ersichtlich. In seiner Studie über ,Multiperspektivisches Erzählen' 26 erklärt Volker Neuhaus:
1,1
Auf die James-Lektüre des Famulanten als inhaltliches Signal der formalen Erzählerfunktion hat erstmals Fränzi Maierhofer hingewiesen; allerdings wird die Bedeutung dieser Einsicht erst im hier entfalteten Interpretationszusammenhang faßbar. Vgl. F. Maierhofer, Atemnot. Zu T h o m a s Bernhards T e x t e n . In: Stimmen der Zeit N r . 188 (1971). S. 401-417. Volker Neuhaus, T y p e n multiperspektivischen Erzählens. Köln, Wien 1971. — Kurztitelnachweis: Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen. — Henry J a m e s selber entfaltete seine Erzähltheorie in zahlreichen Essays und Vorreden. Vgl. Henry James, T h e Art of Fiction and Other Essays. E d . by M. Roberts. N e w Y o r k 1948. Ders., T h e Art of the Novel. Critical Prefaces. With an Introduction by R . P. Blackmur. New York 1934.
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Z u m Standort des Icherzählers Die von der T r a d i t i o n geheiligte F o r m der Darstellung seelischer Vorgänge ist die Ich-Erzählung, vor allem ihre Ausprägung im Brief oder Tagebuchroman. Sie war James vertraut [ . . . ] . Dennoch hat er die I c h - F o r m nie für ein längeres Werk [ . . . ] verwandt. 2 7
Stattdessen führt James die figürlich nicht inkarnierte T e x t i n s t a n z des „imagined observer" ein: Ist der klassische Ich-Erzähler zugleich „subject and o b j e c t " , „hero and historian", verdammt zur „self-revelation", so spaltet James diese Rolle, indem er neben den „hero" einen „historian" stellt, ihn zum „ o b j e c t " macht, dem ein erzählendes „subject" zur Seite steht, das die „revelation" übernimmt. W o der klassische Autor einen Ich-Erzähler schafft, an den er die Aufgabe des Erzählens delegiert und durch den allein die erzählte W e l t lebt, setzt James zwischen sich und das Geschehen einen „imagined observer", in dessen Wahrnehmung allein das Geschehen lebt 2 ".
„Allein, bei T h o m a s Bernhard verhält es sich anders", könnte man hier mit Jürgen Petersen 2 9 einwerfen; der Frost-Autor verschmäht nicht die Ich-Form, sondern gewinnt ihr eine „recht eigentümliche Variante" ab: Während in aller Regel das erzählende Ich von sich selbst berichtet — ζ. B. in der Form eines Lebensrückblicks oder gar einer Lebensbeichte, aber auch im Briefroman usw. — , setzt Bernhard lauter Ich-Erzähler ein, die von anderen Figuren erzählen. 1 0
Die Gemeinsamkeiten zwischen „imagined observer" und figürlich inkarniertem Beobachter sind frappierend: Charakteristisch für dieses Verfahren ist, daß Bernhard seine Ich-Erzähler als Beobachter und Rechercheure e i n s e t z t " ,
in welcher Rolle der Famulant schließlich zum Protokollanten der Malermonologe regrediert. Bemerkenswerterweise findet Neuhaus für den James'schen „historian" den nämlichen Begriff, mit dem auch der Famulant sich charakterisiert: Beide fungieren als „Stenographen" 3 2 (vgl. Fr, 301). Damit werden freilich auch die bedeutsamen Unterschiede faßbar: Die Verwandlung des „historian" zum „Stenographen" ist bei James nicht thematisch, sondern formales Apriori des Erzählverfahrens. In Frost hingegen wird der „Beobachter" in die Fiktion hineingenommen, die Reduktion des formal dominanten Icherzählers somit inhaltlicher Motivation bedürftig. Petersen übersieht diesen gewaltsamen Zug der inhaltlichen Überwältigung des Icherzählers, indem er rein den formalen Aspekt der Bernhardschen „eigentümlichen Variante" untersucht: Bernhards Icherzähler, so Petersen, Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 123 " Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 124 Petersen, Beschreibung, S. 160 10 ebd. 11 ebd. 12 Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 134
27 2
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erhalten keine N a m e n , treten ganz in den H i n t e r g r u n d , entfalten sich kaum als Persönlichkeiten und k o m m e n als O r i e n t i e r u n g s z e n t r u m f ü r den Leser nicht in Betracht. Dieses bilden v i e l m e h r die H a u p t f i g u r e n , v o n denen das Ich b e r i c h t e t — und ü b e r die es natürlich nicht so genau Bescheid weiß wie über sich selbst."
Eine recht unpräzise Beobachtung, der zuletzt nicht nur die inhaltliche: rezeptionssteuernde, sondern auch noch die formale: objektivierende Qualität des fiktiven Froji-Erzählers entgeht. Denn der Famulant vermag, anders als der rein formale James'sche „historian", den ihm auferlegten und somit zwangsläufig auch thematischen doppelten Verzicht keineswegs klaglos hinzunehmen: Wie gezeigt werden konnte, entbehrt er, noch als „Stenograph" (Fr, 301) ein verkappter Icherzähler, der zumindest partiell auch „von sich selbst berichtet" 30 , durchaus nicht inhaltlicher „Kompetenz" und verfügt zudem, aufgrund seiner formalen Dominanz und Distanz, virtuell auch über die „Ordnung stiftende" Qualität des „Er-Erzählers mit seiner Überlegenheit" 14 . Erst die antinomische Verschränkung beider Aspekte ringt ihm den zweifachen Verzicht ab, der ihn indes nicht „ganz in den Hintergrund" drängt, sondern seine virtuelle inhaltliche Kompetenz als Rezeptionslenkungsvermögen, seine virtuelle formale Dominanz als objektivierendes Wirken bewahrt. 4.2.3.1 Rezeptionslenkung und Objektivation auf symbolischem Textniveau Untersucht man jetzt genauer, worin sich diese beiden Aspekte der Erzählerfunktion manifestieren, so entdeckt man, bei struktureller Gemeinsamkeit, weitere Divergenzen beider Erzählverfahren. Der Vorzug des James'schen Verfahrens besteht in der Objektivation subjektiver Wahrnehmung: Aus formal sowohl distanzierter als perspektivisch fixierter Position schildert der „historian" einzig, was der „hero" sieht und wie er es deutet, die Dinge an sich w e r d e n zweitrangig gegenüber ihrer W a h r n e h m u n g durch ein S u b j e k t . [ . . . ] N i c h t Dinge und V o r g ä n g e selbst, sondern ihre W a h r n e h m u n g durch die Menschen in all ihrer Bedingtheit und Beschränktheit ist daher das T h e m a f ü r den Schriftsteller J a m e s ; jeder R ü c k g r i f f auf die Dinge an sich wäre übermenschlich und unnatürlich.'''
Diese pionierhafte James'sche Einsicht erklärt den Verzicht auf auktoriales Erzählen, aber nicht auch die Abkehr von der Ich-Form, die James aus zwei Gründen verschmäht: Zum einen verabscheut er die „self-revelation" des ,beichtenden', sein Inneres entblößenden Icherzählers; zum andern mißfällt ihm dessen Beschränkung auf retrospektives Erzählen, in " Petersen, Beschreibung, S. 1 6 0 " Petersen, Beschreibung, S. 161 Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 1 2 2 f.
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Z u m Standort des Icherzählers
welchem die Erinnerung das Erinnerte wertend verzerrt. Beiden Makeln entgeht sein Erzählkonzept: Ein Mensch kann nicht gleichzeitig [ . . . ] völlig verschiedene Dinge tun, kann nicht zugleich handeln und schriftlich vom Handeln berichten. Den zwei Personen bei James ist dies durchaus möglich: der „observer" braucht nur zu handeln und zu reflektieren, während der Erzähler gleichzeitig von den Reflexionen seines Partners Mitteilung macht. Jede zeitliche Distanz ist aufgehoben; sobald ein Kindruck entsteht oder eine Überlegung angestellt wird, kann der Erzähler auch schon davon berichten"',
denn was der „historian" dem „hero" ablauscht, ist Innerer Monolog. Der Bernhardsche Protagonist hingegen ist zur geschmähten Selbstentblößung aus konzeptionellen Gründen genötigt; seine „Ansichten, Absichten, Urteile" (Fr, 12) kann der Famulant ihm nur ablauschen als „hemmungslos" (Fr, 296) veräußerlichten Monolog. Man könnte geneigt sein, diesen Zwang als Schwäche des Bernhardschen Erzählverfahrens zu erachten, zumal ihm auf Seiten des Erzählers eine „Schwierigkeit" entspricht, die dem James'schen „historian" notwendig fremd ist: Die einzige Schwierigkeit besteht darin: Ihr Herr Bruder nimmt mich vollkommen in Anspruch, und es bleibt mir allein (und das ist nicht einmal annähernd ausreichend) die Nacht, meine Notizen zu machen (Fr, 297).
Zweifellos findet in solchen Bemerkungen des Famulanten ein formales Problem seinen inhaltlichen Niederschlag. Man wird jedoch, zumindest für Frost, feststellen, daß diese „Schwierigkeit" des Famulanten, seinem „Auftrag" gerecht zu werden, dem Fiktionskonzept als konstitutives Moment der Erzählerposition integriert ist. Handelte es sich um ein rein formales Problem, so hätte der Famulant bereits vor der Schwierigkeit zu kapitulieren, die buchstäblich uferlosen Monologe des Malers unversehrt aus der Erinnerung in sein Tage- oder genauer Nachtbuch zu übertragen; die formale „zeitliche Distanz" 3 6 zwischen Aufnahme und Wiedergabe wäre ihm inhaltlich eine unüberwindliche Kluft. Am vierzehnten T a g seines Aufenthalts im Gebirgsdorf zeigt er sich „überrascht" von einer Fähigkeit, die zufolge der hier vorgeschlagenen Deutung schwerlich noch zu verblüffen vermag: Ich ordnete mir sofort „den Auswurf" des Malers. Ich bin überrascht, ich brauchte nur den Knopf meiner Hörmaschine zu drücken, und der Auswurf kam über mich. Aber ich bin erschöpft. (Fr, 152)
Man beobachtet hier das Medium, konstituiert durch die Verschränkung von „Erschöpfung" (Fr, 13) und Mechanisierung, in Aktion: Entsinnt
Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 130
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man sich seiner Klage, er „entdeckte" sich „fortwährend abgehackt durch den Mund dieses Menschen sprechend" (Fr, 281), so erkennt man, daß ihm Schwierigkeiten nicht bereitet, das Gehörte zu erinnern, sondern das Erinnerte zu bannen, indem er es schriftlich fixiert. In seinem erzwungenen Gehorsam wird seine inhaltliche Involvenz in des Malers „ Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) manifest, vor der er sich durch Insistenz auf formale Präzision und distanzierte Objektivität bewahrt 4.2.3.2 Objektivation als Vermittlung zwischen den Textniveaus Wie so viele Bernhard-Interpreten übersieht auch Petersen, daß des Malers veräußerlichte Vorstellungswelt nicht nur mit ihrem stummen Spiegel im Innern des Famulanten, sondern überdies mit einem von beiden Figuren unabhängigen Außen kommuniziert: mit der fiktiven Welt Weng. Diese als konsistente Motivstruktur zu objektivieren, ist eine weitere entscheidende Funktion des Frosi-Erzählers, die der James'sche „historian" sowenig erfüllen könnte, wie er rezeptionslenkend zu wirken vermag. Verglichen mit der James'schen Erzählerinstanz, scheint die Perspektive des Famulanten weitaus weniger beschränkt. Das Bewußtsein des James'schen „hero", so Neuhaus, stelle die „Bühne" dar, „auf der das menschliche Drama spielt. Den Logenplatz gegenüber dieser Bühne aber besetzt James mit einem fiktiven Erzähler, dem er die Beschreibung des auf der Bühne Sichtbaren anvertraut. " i ? Indes konstatiert man hier erneut eine bis in die Wortwahl sich erstreckende frappante Analogie zum Bernhardschen Erzählkonzept. In einer eingangs dieser Studie zitierten programmatischen Erklärung hat Bernhard jene „innere[n] Landschaften]", die er „nur immer" beschreibe 38 , beharrlich als „Bühne", als „Bübnenrzum" tituliert. Wie im folgenden zweiten Hauptteil ausführlich zu erweisen sein wird, läßt sich in der T a t die fiktive Welt Weng in wesentlichen Elementen und Strukturmomenten als objektives Korrelat zur Vorstellungswelt des Malers rekonstruieren: Die beobachtete Veräußerlichung ist nicht nur formaler Notbehelf, sondern fürs Fiktionskonzept konstitutiv — und der Maler, folglich, förmlich außer sich. Und nicht nur er allein: Da die B e w u ß t s e i n s s t r u k t u r e n aller drei dominanten Figuren — wie für deren zwei schon aufgewiesen wurde — identisch sind, tritt der nach Weng reisende Famulant zugleich auch in seine eigene innere Landschaft ein.
" Neuhaus, Multiperspektivisches Erzählen, S. 124 Monologe auf Mallorca, S. 186
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Zum Standort des Icherzählers
Doch nicht nur in eine Innenwelt allein: Sowenig man nach Lektüre dieser Studie die konstitutive Künstlichkeit des objektivierten Außenraums Weng und folglich dessen systematisches Bezogensein auf die Vorstellungswelt des Malers wird bestreiten können, sowenig läßt sich andererseits der empirisch-reale Zuschnitt der fiktiven Frost- Welt leugnen: Sie ist artifizieller, hierarchisch strukturierter Innenraum, dessen Elemente die vom Maler ihnen angetragenen Konnotate virtuell bereits bergen, und zugleich eine scheinbar provinziell-beliebige Gebirgs- und Industrielandschaft. Beides bezeugt der Famulant: Auf symbolischem Textniveau ist sein Standort formal der Position des James'schen „historian" vergleichbar; durch figürliche Inkarnation wird er nicht befreit, sondern in zweifacher Hinsicht auf das „Bewußtsein" des Protagonisten als auf die „Bühne" fixiert — subjektiv durch inhaltliche Partizipation sowohl an der Grundstruktur als an der drohenden Erosion der Vorstellungswelt des Malers, objektiv durch deren tendenzielle figurenunabhängige Veräußerlichung: Die Loge des „historian" wird gleichsam inmitten der Bühnenmaschinerie installiert. Durch das zitierend-evozierende Verfahren, das EmpirischReales nicht in seiner Besonderheit schildert, sondern bloß beim allgemeinsten seiner vertrauten Namen nennt, wird der Icherzähler bemerkenswerterweise beiden Textniveaus gerecht. Denn der wissenschaftlich-technische Blick auf Baum oder Tier und der symbolischikonographische gleichen sich darin, daß sie das visierte Objekt seiner individuellen Besonderheit entkleiden und zum Exemplar oder Exempel reduzieren. So vermag die katastrophische Kommunikation zwischen industrieller Ausbeutung und symbolischer Deutung der Wengschen Naturphänomene in d i e s e η zu beginnen: Der abwärts ins Flußtal gewälzte, dort zu Zellulose zermalmte Baum ist zum einen ein beliebiges Objekt industriellen Zugriffs und zum andern ein dichtes Bild dafür, wie technisch genutzte naturwissenschaftliche Einsicht ein christliches Symbol des „Einzelnen" (Fr, 299) zu amorpher Masse zersetzt. „Das sind ja vielleicht nur Erscheinungen, alles nur Erscheinungen" (Fr, 128), vermutet der Erzähler; aber dieses „vielleicht" ist das Äußerste, was er sich entlocken läßt, die begriffliche Entsprechung zu seinem dämmrigen Refugium. In diesem Vielleicht sind inhaltliche Involvenz und formale Distanz, rezeptionssteuerndes und objektivierendes Wirken, Perzeption der Innen- als Außenwelt und Rezeption der Außen- als Innenwelt stets unauflöslich verschränkt. Zwar ist in der Präzision des zum Stenographen reduzierten Erzählers das Moment des zwangsweisen Gehorsams, gar der ,,barbarische[n] Unterwürfigkeit" (Fr, 301) unabdingbar, jedoch stets antinomisch: Im subjektiven Verstummen des Icherzählers sind wiederum wortlose Zustimmung zu den Malermonologen und verbissene Insistenz aufs steinerne Präzisions- und Objektivitätsideal des Chirurgen
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verschränkt. Wobei diese, als formales Moment, stets jene, das inhaltliche, im Vielleicht des Famulanten präponderiert. So sucht der Famulant zwar, in T r a u m oder Trance, vergebens zu erwachen, zu flüchten, wenigstens stammelnd zu leugnen: Der T r a u m bannt ihn, weil er w a h r ist. U n d doch zugleich nur ein T r a u m , der endlich, und für den Famulanten folgenlos, zerstiebt: Auch das Moment der Freiheit, des letztlichen Gesichertseins des stets überlebenden Icherzählers ist als konstitutives seinem objektivierenden Wirken beigemischt: gleichsam als Ahnung des realen Rezipienten, daß der Icherzähler, wie gefährdet auch immer, zugleich seine Gefährdung ein wenig nur spielt. Denn die L o g e des „historian", wenngleich vom abstrakten Frost- A u t o r inmitten der Bühnenmaschinerie installiert, bleibt doch zugleich auch gesicherter Standort des letztlich nur auftragsgemäß interessierten Beobachters, der für den irritierenden Verlust inhaltlicher Distanz mit dem formalen Privileg entschädigt wird, durch einen nur ihm vorbehaltenen Ausgang als einziger die Bühne verlassen zu können. Wenn der Famulant seinen titellosen „Henry J a m e s " zu Boden schleudert, so ist daher diese Gebärde als zugleich stürmische und verhaltene zu denken: „ D a s halte ich nicht mehr aus!" {Fr, 279) ruft er, aber vielleicht hat er auch nur geflüstert, vielleicht ertrage er es nicht. S o wirkt er rezeptionssteuernd, denn man glaubt ihm die inhaltliche Gefährdung, da er selber an sie glaubt. Aber objektiviert werden seine Beobachtungen erst dadurch, daß er das Wengsche Inferno verstummend zu ertragen nicht nur gezwungen, sondern auch fähig ist.
II. Geschichte als Individualgeschichte. Bewußtseinsstruktur als Landschaftsstruktur „Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und liineinsehn in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Ströhmen, Pflanzen, Thieren u. s. f. — Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehn sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes." (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung)" „Diese ziemlich unregelmäßige Landschaft, wissen Sie, war so belebt, wie ich noch keine gesehen habe. Wohl eine Menschenlandschaft. [.. .J Plötzlich aber geschah etwas Grauenhaftes: Mein Kopf blähte sich auf, und zwar so, daß die L andschaft sich um einige Grade verfinsterte und die Menschen in Wehlaute ausbrachen." (Fr, 37)
5. Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven Welt Weng Die erzählte Gegenwart der fiktiven Welt Weng ist durch die massive Konfrontation zweier genau gegensätzlicher Ordnungssysteme geprägt, wobei dieser letztere Begriff in denkbar umfassendem Sinn verstanden werden muß, der die innere Entzweiung erzählender und erzählter Figuren ebenso wie soziale, ökonomische oder landschaftliche Strukturen der objektivierten Außenwelt umgreift. Der Maler Strauch als monomaner Kommentator bringt beide konkurrierenden Systeme auf eher schlichte Begriffe, welche die in Weng perzipierten Prozesse mit realhistorischer Umwälzung überkommener Strukturen kurzzuschließen scheinen: „Der Katholizismus hat ausgespielt. Wenigstens hier", erklärt er kategorisch, der „Kommunismus" — nach dem Urteil des Malers genauer Gegenspieler des „Katholizismus" — „schreitet weit aus" (Fr, 109). Mit Blick auf „Zellulosefabrik" und „Kraftwerksbau" behauptet er an anderer Stelle: w
Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung, II, 2, S. 680
Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven Welt Weng
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l ast alle da unten sind Kommunisten. Der Kommunismus fällt hier auf fruchtbaren Boden. Hier, mitten im Hochgebirge, wo man es gar nicht glaubt. (Fr, 211)
Aber während der Rezipient noch sinnt, weshalb die Ausbreitung des „Kommunismus" im „Hochgebirge" weniger wahrscheinlich sei als in flachen Landstrichen, verkehrt der Maler, scheinbar unbekümmert, sein Urteil bereits ins Gegenteil: „Das ist eine Gegend, wie geschaffen für das kommunistische Unterzünden." (Fr, 211) Und wie um reale Rezipienten und fiktiven Zuhörer vollends zu verwirren, schreitet er schließlich zu hemmungsloser Verallgemeinerung und projiziert die in Weng beobachtete Erosion in globale Dimensionen: Der Kommunismus ist ja, wie Sie vielleicht nicht wissen, die vorläufige Zukunft der Menschen der ganzen Welt. Der Kommunismus wird alles beherrschen, selbst das entlegenste Tal der Welt. Selbst den abgeschlossensten Winkel des letzten sich gegen ihn wehrenden Gehirns. [ . . . ] Der Kommunismus kommt, da können sie alle kopfstehen! Und Moskau steht und wacht dahinter und steht und wacht immerund überall. (Fr, 211)
In solchen Äußerungen tritt in Gestalt trügerisch vertrauter Begriffe wie „Katholizismus" und „Kommunismus" der heteroreferentielle Aspekt der Figurenrede so grell hervor, daß einseitig realistische Rezeption sich berechtigt wähnt, des Malers Urteile unvermittelt auf äußere Realität zu beziehen. Jedoch koppelt der Maler in einem letzten Schritt seine scheinbar eher triviale weltpolitische Betrachtung ausdrücklich auf Geschichte und Gegenwart Wengs zurück: Kr sagte: „ U n d dabei handelt es sich um ein ursprünglich urchristliches T a l . Aber, sagen Sie ehrlich, wo wurzelt denn heute noch der Katholizismus, das Christentum überhaupt? Wo denn?" Wir standen jetzt mitten auf dem Dorfplatz. (Fr, 211)
Indem der Icherzähler diesen Rückkopplungseffekt durch expliziten Verweis auf seinen und des Malers inhaltlichen Standort verstärkt, wird das Augenmerk auf den autoreferentiellen Aspekt der Strauchschen Tirade gelenkt. Der sprachliche Befund der zitierten Äußerungen ergibt, daß diese zwar einerseits durch scheinbar unvermittelten Bezug auf äußere Realität geprägt sind, zum andern aber durch eigentümliche Metaphorizität, welche auch mikrostrukturell dem Rekurs des Malers aufs „ursprünglich urchristliche T a l " entspricht. Strauch spricht vom ,,kommunistische[n] Unterzünden", von einstiger ,Verwurzelung' des „Katholizismus" in Weng. Durch diese beiden Metaphern wird das „Christentum" assoziativ mit einem W a l d identifiziert, der „Kommunismus" erscheint gleichsam als F e u e r s b r u n s t , die den Wald verzehrt. Diese Metaphern, die sich weniger subjektiver Willkür des Malers als dem Rückgriff auf tradierte Bildlichkeit verdanken, erwecken ebenso wie ihre abstrakt-begrifflichen Korrelate den Anschein trügerischer Vertrautheit, der mutmaßlich manchen Interpreten an der Er-
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Geschichte als Individualgeschichte
kenntnis ihres spezifischen Bezogenseins auf die zeichenhaft objektivierte Außenwelt gehindert hat. Wie man jedoch im folgenden erkennen wird, manifestiert sich gerade in der Verwendung spezifischer, sowohl des Malers Vorstellungswelt beherrschender als auch in der fiktiven Welt Weng objektivierter Topoi der Versuch des abstrakten Autors, die symbolische mit der realistischen Textschicht zu vermitteln. Wird das realistische Textniveau hier durch empirisch vertraute Begriffe wie „Katholizismus" und „Kommunismus" sowie durch deren vermeintlich konventionell-klischeehafte Verbildlichung konstituiert, so das symbolische durch planvoll strukturierende Objektivation der tradierten Motive, die deren geheimes Erkenntnispotential mobilisiert. An gleicher Stelle nennt der Maler ein weiteres begriffliches Gegensatzpaar, das scheinbar ebenso unvermittelt auf äußere Realität verweist: „die Bäuerlichen", erklärt er, herrschen hier immer noch, obwohl sie schon weit zurückgedrängt sind. Obwohl das Proletariat sich schon zu Rechten aufschwingt, die noch vor drei, vier Jahren unmöglich durchzusetzen gewesen wären. (Fr, 109)
Sodann liefert er die folgende Definition des Proletariats: Das Proletariat: alles, was im Laufe von drei Jahrzehnten ins Tal hereingeschwemmt worden ist, um von der Zellulosefabrik, von der Eisenbahn, jetzt auch noch vom Kraftwerk verschlungen zu werden. (Fr, 109)
In dieser Metaphorik wird das „Proletariat" gewissermaßen zum Treibgut, wobei bereits hier die Tendenz spürbar ist, die entwurzelten' Arbeiter mit dem Gewässer, das sie ins Tal spült, bildhaft zu identifizieren. Diese Gleichsetzung wird vom Maler schließlich auch vollzogen, indem er behauptet: „Langsam gehen die Bauernsöhne in der Arbeitermasse unter." (Fr, 30) Man gelangt hier, neben der metaphorischen Kennzeichnung des „Katholizismus" als ,Wald' und des „Kommunismus" als vernichtendes ,Feuer', zu weiteren antagonistischen Metaphernpaaren: „das Proletariat" (zugleich als entwurzeltes' ein Gegenbild zum verwurzelten' Christentum) erscheint als amorphes, verschlingendes Gewässer; das „Bauerntum" (Fr, 109) als einst fester, jetzt aufgeweichter Grund, von welchem die einzelnen „Bauernsöhne" herabsinken, um in der entfesselten „Arbeitermasse" unterzugehen. Mit Recht sieht man sich durch diese Metaphern an den ,Schwarzachen Gegensatz von „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) und „Diluviumszerfall" (Fr, 299) gemahnt. Aber dieser vom in Weng weilenden Maler unablässig zugleich gesuchte und verfluchte Prozeß alles mit sich reißender „Auflösung" (Fr, 54) ist zum Erzählzeitpunkt noch nicht annähernd beendet. Subjektiv antizipiert der Maler den Ausgang objektiv noch andauernder Umwälzung, indem er erklärt: „Noch gibt es Fronleichnamsprozessionen und Christi-
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himmelfahrtumzüge [ . . . ] , aber wie lange noch?" U n d : „In ein paar J a h r e n gibt es hier nur noch den K o m m u n i s m u s . U n d Bauerntum ist dann nur noch ein T r a u m . " (Fr, 109) An diesen Äußerungen fällt zunächst auf, daß sie der Verdrängung des „ K a t h o l i z i s m u s " durch den „ K o m m u n i s m u s " eine eigentümliche Dynamik unterstellen, die bereits für sich geeignet wäre, Zweifel an der kurzschlüssigen Identifikation der fiktiven Geschehnisse mit äußerer Realität zu nähren: Glaubt man dem Maler, so ist der Vormarsch des proletariats' im Wengschen Gebirgstal auf den Zeitraum von kaum einem Jahrzehnt zusammengedrängt, der „vor drei, vier J a h ren" begann und bereits „in ein paar J a h r e n " (Fr, 109) in den triumphalen Sieg des „ K o m m u n i s m u s " münden werde. Dieser Vorgang verblüfft z u m einen durch seine behauptete Kurzfristigkeit, zum andern durch seine beträchtliche realhistorische Verspätung. Denn wenngleich das Fiktionskonzept genaue Datierung der erzählten Gegenwart verweigert, so steht doch außer Zweifel, daß der Famulant in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ins fiktive Gebirgstal reist, somit zu einem Zeitpunkt, da die realgeschichtlich im Jahrhundertbeginn datierenden revolutionären Triumphe und Scheinerfolge des p r o l e t a r i a t s ' bereits Jahrzehnte zurückliegen und auch im Staat Osterreich, in dem das fiktive Weng ebenso zweifelsfrei zu lokalisieren ist, längst schon formaldemokratisches Arrangement die revolutionären Parteien befriedet hat. Dieser signifikanten Asynchronität fiktiven und realhistorischen Geschehens wird weder einseitig realistische Deutung gerecht, die beide Bewegungsabläufe kurzschlüssig identifiziert, noch auch schier symbolische Interpretation, die den provozierend hervorgekehrten heteroreferentiellen Aspekt der Fiktion als vorgeblich ephemer überspringt. Vielmehr wird man diese Verschränkung von historischer Verspätung und zeitlicher R a f f u n g der in Weng perzipierten Umwälzung wiederum als Versuch des abstrakten A u t o r s erkennen, die realistische mit der symbolischen Bedeutungsschicht zu vermitteln: Offensichtlich verdankt sie sich dem Bestreben, die objektivierten Prozesse der „ A u f l ö s u n g " (Fr, 54) überkommener Strukturen mit des Malers subjektiver „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) zumindest näherungsweise zu synchronisieren; denn das vom Maler beobachtete Vordringen des P r o l e t a r i a t s ' in Weng verläuft der schubweisen Verschlimmerung seiner „ K r a n k h e i t " parallel. Damit freilich die hier notorische Fehldeutung entkräftet werden kann, eben diese Synchronität erhelle die vom Maler beobachtete äußere „ A u f l ö s u n g " als bloße Projektion subjektiver Befindlichkeit in die fiktive Außenwelt, wären zunächst deren Motivstruktur und virtueller Bedeutungsgehalt als vom Maler formal unabhängiges Textniveau zu rekonstruieren. D a auch zufolge Strauchschem Urteil erst in „ein paar J a h r e n " (Fr, 109) die überkommenen Strukturen gänzlich zerstört sein werden, erschließen sie sich analytischer Rekonstruktion, welche die e i n s t i g e Gestalt der fiktiven Welt
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Geschichte als Individualgeschichte
Weng als konsistentes sowie virtuell bereits bedeutungstragendes Motivund Figurengefüge erhellt.
5.1 Das „Gebirgsmassiv" als versteinerte N a t u r Dreißig Jahre (vgl. Fr, 109) vor dem Zusammentreffen von Famulant und Maler ist Weng vom Zugriff der Moderne noch unberührt; weder „Zellulosefabrik" noch „Eisenbahn" oder „Kraftwerk" — die in genauer Entsprechung zu den objektivierten Landschaftszeichen die drei Schübe Wengscher Industrialisierung repräsentieren —, noch gar die seither ins Tal geschwemmten Arbeitermassen stören die gleichsam mittelalterlich stille und statische Geschlossenheit des Gebirgstals als einer Welt für sich. Noch zum Erzählzeitpunkt „gibt [es] im Dorf Leute, die noch nie aus dem Tal herausgekommen sind" und „die Eisenbahn bis jetzt nur von außen gesehen haben" (Fr, 20). In genauer Analogie zum Selbstbild des Assistenten sind die Weng umschließenden „Felswände" (Fr, 8) Festungswälle, die das Tal vor der Außenwelt als bedrohlichem Ozean sichern; erst die „Eisenbahn", perzipiert als maschinelle Reproduktion des zeichenhaften Flusses, schlägt eine Bresche ins Bollwerk und öffnet das Tal der von außen herandrängenden Flut. Man erkennt hier, daß bereits in der Wengschen Raumstruktur das mit dem Schwarzacher Kirche-Spital-Komplex (vgl. Fr, 162) schon angedeutete, spätestens ab Verstörung beherrschende Burg-Motiv vorgeprägt ist, das aufgrund der realhistorischen Obsoleszenz des in ihm sedimentierten Weltbildes stets auch zum Bild der gegen den herantosenden Ozean dynamisch-amorpher Moderne befestigten I n s e l oder des knapp noch seetüchtigen S c h i f f e s tendiert. So faßt bereits der Maler das Phänomen materiellen Wohlstands im Bild des Μ e e r e s als dem — so Elias Canetti — universalen Massensymbol 40 : Hier aber ist gar kein Wohlstand. [ . . . ] Die Felswände versperren ihm den Weg. [ . . . ] Der Wohlstand kommt nur bis zu den Ufern des Hochgebirges. (Fr, 154)
Von Metaphern wie dieser ließen gewisse Interpreten sich verleiten, das Frost-Konzept schlicht als Bild .unüberwindlicher Natur' 4 1 zu mißdeuten.
m
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Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt/M. 4 1982. S. 87-89. — Kurztitelnachweis: Canetti, Masse und Macht. — Zum Einfluß der Canettischen Untersuchung auf das frosi-Konzept vgl. bes. Abschn. 5.2 und 5.3 sowie 7.1 und 7.2 dieser Studie. Mixner, Der Roman Frost, S. 46: „Thomas Bernhard zeigt die Sackgasse: wie die Freisetzung von Subjektivität durch den ,Ehebruch des Verstandes' in die Vernichtung des ganzen Menschen führt, weil die Vernichtung oder Uberwindung der Natur nur den T o d bedeuten kann." — D e m ist zu entgegnen, daß der verselbständigte Maschinenverstand „Subjektivität" nicht .freisetzt', sondern seinerseits .vernichtet', insgeheim verbündet mit zum Mechanismus abstrahierter Natur.
Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven Welt Weng
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Zwar soll hier keineswegs geleugnet werden, daß die metaphorische Identifikation der umfassendsten Erscheinungsform amorpher, verschlingender Natur mit dem universellen Symbol für Tausch und Vermittlung in der Massengesellschaft der Moderne diese als ,naturverfallen' perzipiert. Jedoch liegt dieser Darstellung in F r o s t ein höchst komplexer, geschichtlich chiffrierter Naturbegriff zugrunde. Denn wie bereits des Malers insistenter Verweis auf „Katholizismus" und „Bauerntum" als überkommene Ordnungssysteme der fiktiven Welt Weng erhellt, ereilt der soziale, ökonomische, maschinelle Zugriff der Moderne das fiktive Gebirgstal nicht als ahistorisch-naturwüchsige Landschaft, sondern als zuvor bereits geschichtlich-feudal geprägten Raum. Bietet des Malers abgeschiedenes Exil nach außen den Anblick einer ehedem unüberwindlichen Festung, so ist es auch in sich hierarchisch strukturiert; der militanten Partikularität der gegen das von außen anbrandende ,Meer' sich abschottenden Feste entsprach im Innern die oppressive Behandlung der im F l u ß als Symbol beherrschter M a s s e sedimentierten Bedrohung. Vor seiner Industrialisierung ist das fiktive Gebirgstal durch eine dreistufige Hierarchie geprägt, deren einst strenge, jetzt bereits verstümmelte und tendenziell nivellierte Ordnung sich der Rekonstruktion erschließt. Am Fuß des Berges tost, nur durch „das alte Wehr" ( F r , 155) gesichert, der „reißende Fluß", in den zu stürzen tödlich ist (vgl. F r , 155); auf halber Berghöhe, durch einen jähen Abgrund (vgl. F r , 190) vom Fluß geschieden, liegt die von Wäldern umschlossene bäurische Siedlung; die Spitze der Hierarchie bildet der schneebedeckte Berggipfel, der menschliches Leben mit „Lawinen", „Frost", „Felsstürzen" und „Finsternis, die plötzlich alles ausschaltet, was Halt bieten könnte" ( F r , 125), gleichfalls tödlich bedroht. Die Lokalisierung des bäurischen Gemeinwesens in der bewaldeten mittleren Zone des hierarchisch gestaffelten Raumes erweckt zunächst nur den Anschein gewissermaßen bedeutungsindifferenter Naturnotwendigkeit: Menschliche Zivilisation auf ihrer agrarwirtschaftlichen Stufe war naturgemäß auf die organisch belebten fruchtbaren geographischen Zonen eingeschränkt; die Region des zwischen nackten Felswänden sich dahinwälzenden Gewässers war ebenso wie der unbelebte Berg oberhalb der Vegetationsgrenze bäurischer Besiedlung und Kultivierung entzogen. Aber bereits des Icherzählers Erwähnung der oberhalb des Dorfes errichteten, symbolisch dem Berggipfel angenäherten „Kirche" ( F r , 140), gar des Malers Hinweis auf die „Kapelle" „ganz oben", auf dem Gipfel des „mächtigen Gebirgsmassiv[s]" ( F r , 224), lassen erahnen, daß dieser Landschaft insgesamt ein tradierter Code christlich-feudaler Provenienz inskribiert ist, der die scheinbar bloß naturgegebene Hierarchie zum komplexen Bild einer göttlichen wie weltlichen Herrschern gefälligen Ordnung überhöht. Auch der Maler zitiert nur einen T o p o s christlich-feuda-
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Geschichte als Individualgeschichte
ler Ikonographie, indem er erklärt: „Die Leute sagen immer: Der Berg grenzt an den H i m m e l . " (Fr, 164) Der so k o n n o t i e r t e Berg vereinigt in sich die Merkmale symbolischen Aufwärtsstrebens und unbeweglichen Verharrens z u m Bild statischer Erhabenheit, die der Vergänglichkeit ebenso wie den sinnlichen Verlockungen in der Tiefe t r o t z t . Er ist Vorbild nicht nur christlich-feudaler Architektur, sondern auch patriarchaler Staats-, Kirchen- und Sozialstruktur und damit nicht zuletzt auch ein Bild des Subjektes, das zugleich demütig und beflissen erstarrt, mithin sowohl sich der Hierarchie integriert als auch deren S t r u k t u r in seinem Innern als Selbstbeherrschung reproduziert. Dies wurde bereits anläßlich der Analyse des Assistentenbewußtseins deutlich; da sich auch der Chirurg gemäß seinem Selbstideal als „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) erfährt, darf man mit einigem Recht erwarten, daß die dem Wengschen motivischen „Gebirgsmassiv" (Fr, 224) eingeschriebene Funktion, Bedeutung und Geschichte auch über die innere Statik des Chirurgenbewußtseins nähere A u s k u n f t erteilen. Bereits auf objektivem Niveau, somit unabhängig von gleichwelchen Deutungsversuchen des Malers, ist der mit „Kirche" (Fr, 140) und „Kapelle" (Fr, 224) bestückte Berg gemäß christlicher Todesvorstellung zweifach codiert: Indem er ,an den H i m m e l grenzt' (vgl. Fr, 164), steht er symbolisch sowohl für die Verheißung jenseitigen Lebens als auch für dessen diesseitigen Preis, den physischen T o d , der mittels „Lawinen" und „Felsstürzen" (Fr, 125) die Bringschuld der Gläubigen einfordert. W e n n der Maler erklärt: „Dieser Berg hat in mir von jeher die Vorstellung eines riesigen Katafalks arbeiten lassen" (Fr, 165), oder den Berg mit einem „Sarkophag" vergleicht (Fr, 190), so bewegt er sich mit diesen Metaphern in der Sphäre nicht wahnhafter Willkür, sondern durchaus noch christlicher Ikonographie. Das jedoch bedeutet, daß er , N a t u r ' nicht als gleichförmig-amorpher gegenübertritt, sondern als komplex strukturierter christlich-topographischer Landschaft, welche die unterschiedlichen Erscheinungsformen sichtbarer N a t u r als Symbole sowohl verheißenen Heils als auch der komplementären H ö l l e n d r o h u n g und schließlich auch des vom Gläubigen zu wahrenden rechten Weges codiert. Z u R e c h t wurde auf den prägenden Einfluß des N o v a l i s aufs Bernhardsche W e r k hingewiesen 42 . So ist in der T a t die Verbindung zwischen der zeichenhaften Funktion des in Weng motivischen Gebirgszugs und einem in ,Die Lehrlinge zu Sais' 4 ' diskutierten Naturbegriff unverkennbar, der sich etwa in dieser Spekulation über das „Erhabene der N a t u r "
41
Vgl. v. a. H a r t m u t Zelinsky, T h o m a s Bernhards ,Amras' und Novalis. In: Botond, Über T h o m a s Bernhard. S. 24-33. Novalis, Die Lehrlinge zu Sais. In: Werke, hrsg. von Paul Klucklohn und Richard Samuel. S t u t t g a r t M977. Bd. I. S. 79-112. — Kurztitelnachweis: Novalis, Lehrlinge.
Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven W e l t W e n g
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artikuliert: „ K ö n n t e die N a t u r nicht über dem Anblick G o t t e s zu Stein geworden seyn? O d e r vor Schrecken über die A n k u n f t des Menschen?" 4 4 Freilich darf sich die F u n k t i o n solcher Traditionsnachweise nicht im pauschalen Postulat eines sogenannten romantischen Zugs Bernhardscher Prosa erschöpfen. Im Verlauf dieser Studie wird die Beziehung zwischen Frost und dem Hardenbergschen T e x t noch verschiedentlich thematisiert. Was die beobachtete Affinität in der Deutung versteinerter N a t u r betrifft, so erweist diese Einsicht sich für die Frosf-Interpretation als fruchtbar, da sie den anthropomorphen Aspekt der somit auch als Bild des Einzelnen zu deutenden fiktiven W e l t Weng erhellt. Bereits anläßlich der Analyse des Assistentenbewußtseins ist deutlich geworden, daß die vom Chirurgen erstrebte und obsessiv verteidigte reine Verstandesherrschaft sich manifestiert als virtuelle Petrifikation und Mortifikation des sinnlichen Aspekts seines Selbst. In Novalis' Deutung versteinerter als gleichsam unter dem Herrscherblick erstarrter N a t u r wird wiederum die geheime Destruktivität des christlich entzweiten Geist-Materie-Konzeptes faßbar, gemäß welchem hypostasierter G e i s t zugleich jenseitige Lebendigkeit verheißt und diesseitige „ e r t ö t e t " (Hegel). Daher kann in der fiktiven W e l t W e n g der B e r g als Gipfel der zeichenhaften Hierarchie zugleich den physischen T o d als Bedingung künftiger Unsterblichkeit und, als anthropomorphe Chiffre, den K o p f des Individuums als Sitz und Herrschaftszentrale des .Geistes' im Einzelnen symbolisieren: W e n n der Maler den Berg metaphorisch als „Sarkophag" (Fr, 190) bezeichnet und der anfangs noch vergleichsweise urteilsfreudige Famulant den nämlichen Berg einem „Gehirngefüge" (Fr, 15) vergleicht, so können beide K o n n o t a t i o n e n weder der Willkür noch der Widersprüchlichkeit geziehen werden. Vielmehr durchdringen sie einander zum in christlicher Lehre und Ikonographie gründenden Bild des Einzelsubjektes, das alles Lebendige erfährt als von tödlicher Starre beherrscht, die es selber heraufbeschwor, indem sich formierende Verstandesherrschaft N a t u r in hierarchischer Abstufung petrifizierte.
5.2 D e r Fluß als Symbol bedrohlicher Masse Ist somit das „Gebirgsmassiv" ein umfassendes Bild der in statisch-hierarchischer Struktur gebannten Masse, so manifestiert sich im „reißenden Fluß" (Fr, 145) am F u ß der zeichenhaften Hierarchie in archetypischer Symbolik des Berges genaues Gegenbild. Das zunächst nur von außen gegen die Wengschen Festungswälle anbrandende metaphorische Meer ist — so Hans Blumenberg — bis „in die christliche Ikonographie hinein" der "
Novalis, Lehrlinge, S. 101
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G e s c h i c h t e als Individualgeschichte
E r s c h e i n u n g s o r t des Bösen, auch m i t d e m gnostischen Z u g , d a ß es für die rohe, alles verschlingende und in sich zurückholende Materie steht. E s g e h ö r t zu den Verheißungen der Apokalypse des J o h a n n e s , daß im messianischen Z u s t a n d kein Meer ist. 4 1
Der „reißende Fluß" als gleichfalls tradiertes Symbol amorpher Masse modifiziert die in der Meer-Metapher sedimentierte aktuelle Vernichtung zur lauernden Drohung und virtuellen Verlockung. Man muß hier auf Canettis ,Masse und Macht* zu sprechen kommen, ein Werk, das erheblichen Einfluß auf die Bernhardsche Prosaproduktion zumindest der ersten Phase ausgeübt hat. Die Identifikation zentraler Motive der fiktiven Frost-Welt als „Massensymbole" im Sinn Canettis liefert der Interpretation einen komplexen Code, mittels dessen sich ein wesentlicher Aspekt der symbolischen Textschicht erschließt. „Kollektive Einheiten", so Canetti, die nicht aus Menschen bestehen und d e n n o c h als Massen empfunden werden, bezeichne ich als Massensymbole.
[ . . . ] J e d e s dieser P h ä n o m e n e enthält g a n z wesi. Etliche Eigen-
schaften der Masse. O b s c h o n es nicht aus Menschen b e s t e h t , g e m a h n t es an Masse und tritt für sie in M y t h u s und T r a u m , R e d e und Lied symbolisch ein.""1
In der Canettischen Untersuchung liegt der Akzent eher auf Massenphänomenen als soziologischer oder anthropologischer Problematik. In Bernhardschen Fiktionskonzepten, so bereits in Frost, wird der Canettische Akzent wenn nicht verlagert, so doch verdoppelt: Naturphänomene wie Wald oder Fluß erscheinen auf metaphorischem wie motivischem Niveau nicht einzig als symbolische Repräsentanten menschlicher Massen, sondern zugleich auch diese als Manifestation des Naturphänomens, an welches sie aufgrund ihrer Struktur oder Unstrukturiertheit, Bewegung oder Starre gemahnen. Es ist wichtig zu bemerken, daß die in solcher Modifikation adaptierte Canettische Massensymbolik in wesentlichen Zügen wiederum mit der in ,Die Lehrlinge zu Sais' thematisierten romantischen* Naturvorstellung koinzidiert. Heißt es etwa bei Canetti: Das M e e r ist allumfassend und unerfüllbar. [ . . . ] So g r o ß wie das M e e r m ö c h t e die Masse w e r d e n . [ . . . ] D e r O z e a n ist universal, er ist es, der überall hinlangt, der jedes L a n d bespült, er ist es, auf dem die Erde nach alter Vorstellung s c h w i m m t 4 7 ,
so werden die Hardenbergschen ,Lehrlinge' in ähnlichem Sinn belehrt: Das W a s s e r , dieses erstgeborene Kind luftiger V e r s c h m e l z u n g e n , kann seinen wollüstigen U r s p r u n g nicht verläugnen und zeigt sich, als E l e m e n t der Liebe und der Mischung mit himmlischer Allgewalt auf E r d e n . N i c h t unwahr haben alte W e i s e im W a s s e r den
4S
H a n s B l u m e n b e r g , Schiffbruch mit Z u s c h a u e r . Paradigma einer
Daseinsmetapher.
F r a n k f u r t / M a i n 1979. S. 10. — Kurztitelnachweis: Blumenberg, Schiffbruch. 4I'
C a n e t t i , Masse und M a c h t , S. 81
47
C a n e t t i , Masse und M a c h t , S. 88
H i s t o r i s c h - i k o n o g r a p h i s c h e ' S k i z z e der fiktiven Welt W e n g
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U r s p r u n g der D i n g e g e s u c h t , und wahrlich sie haben von einem höhern W a s s e r , als d e m Meer- und Q u e l l w a s s e r gesprochen. In j e d e m o f f e n b a r t sich nur das U r f l ü s s i g e , wie es im flüssigen Metall z u m V o r s c h e i n k o m m t , und d a r u m m ö g e n die Menschen es immer a u c h nur göttlich verehren. J "
Das Fiktionskonzept des Bernhardschen Debutwerks amalgamiert die eher metaphysische Naturvorstellung des Novalis mit dem primär ethnound soziologisch, aber auch psychologisch orientierten Massenbegriff Canettis und identifiziert überdies in den so gewonnenen Zeichen Spuren christlicher Ikonographie. So kann sich im Bild des Meeres die Sehnsucht bzw. Gefahr sowohl anarchischer Auflösung politisch-gesellschaftlicher Ordnung als auch ,wollüstiger' Selbstvergessenheit des in sinnlicher Unbewußtheit gleichsam ertrinkenden Einzelnen manifestieren. Der Canettische Massenbegriff ermöglicht die Rückführung unterschiedlicher, sei's individualpsychologischer, soziologischer oder politischer Vorgänge auf jene gleichförmige Bewegung des Zerfallens und Versinkens; die Hardenbergsche Naturvorstellung erlaubt inhaltliche Identifikation der gleichförmigen Bewegung als je ,naturgemäßen' Vorgang; christliche Ikonographie schließlich perspektiviert diese inneren wie äußeren Vermassungsund Verfallsprozesse stereotyp als ,das Böse', worauf oben bereits das Blumenberg-Zitat verwies. Es ist gewiß kein Zufall, daß der für F r o s t konstitutive Begriff der „Auflösung" auch im „Natur"-Kapitel der,Lehrlinge' des Romantikers mehrfach begegnet, wobei auch im Novalis-Text „Auflösung", ob positiv oder negativ konnotiert, stets als — lustvolle oder gewaltsame — Ausschaltung des Ich-Bewußtseins und „menschlichen Verstandes" erscheint, „den die Natur überall als ihren größten Feind zu vernichten suche" 49 . Hieß es weiter oben, die „Natur" sei über dem „Anblick Gottes" oder der „Ankunft des Menschen" versteinert, so begegnet jetzt die entgegengesetzte Spekulation: U m g a n g mit N a t u r k r ä f t e n , mit T h i e r e n , Pflanzen, Felsen, S t ü r m e n und W o g e n m ü s s e nothwendig die M e n s c h e n diesen G e g e n s t ä n d e n verähnlichen, und diese Verähnlichung, V e r w a n d l u n g und A u f l ö s u n g des G ö t t l i c h e n und Menschlichen in unbändige K r ä f t e sey der G e i s t der N a t u r , dieser fürchterlich verschlingenden M a c h t : und sey nicht alles, was man sehe, schon ein R a u b des H i m m e l s , eine große R u i n e ehemaliger Herrlichkeit, Überbleibsel eines schrecklichen M a h l s ? 4 '
„Liebe und Wollust" bergen die nämliche, hier freilich emphatisch bejahte Gefahr: [ . . . ] wenn dann jenes mächtige G e f ü h l , w o f ü r die S p r a c h e keine anderen N a m e n hat als l iebe und W o l l u s t , sich in ihm a u s d e h n t , wie ein gewaltiger, -»lies a u f l ö s e n d e r D u n s t , und er bebend in süßer A n g s t in den d u n k e l n lockenden S c h o o s der N a t u r versinkt, die
™ N o v a l i s , Lehrlinge, S. 104 " N o v a l i s , Lehrlinge, S. 88
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Geschichte als Individualgeschichte arme Persönlichkeit in den überschlagenden W o g e n der Lust sich verzehrt, und nichts als ein Brennpunkt der unermeßlichen Zeugungskraft, ein verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt. 5 0
Bezieht man jetzt diese Einsichten zurück auf den in Weng motivischen Fluß am Fuß der zeichenhaft verräumlichten Hierarchie, so wird erkennbar, daß sich im Fluß die nicht auszumerzende, aber in die Tiefe abgedrängte Gegenmacht der statisch-hierarchischen Struktur sowohl des Kinzelbewußtseins als der objektiven katholisch-patriarchalen Ordnungssysteme manifestiert. Der Fluß ist als .Strom der Zeit' Zeichen der Vergänglichkeit, welcher der Berg, kraft statischer Erhabenheit vom Ewigen kündend, enthoben scheint. Als amorpher Strom des Unbewußten steht er zugleich für ,wollüstige' Verlockung zu verbotener Sinnlichkeit. Als Bild der aufrührerischen, die starre Ordnung zersetzenden Masse ist er Symbol drohender Umwälzung politischer und sozialer Struktur; aufgrund seiner abwärtsgerichteten haltlosen Bewegung von christlicher Ikonographie eindeutig als dem höllischen Gegenreich verfallen zu identifizieren. Man wird daher auch bezüglich des Flusses konstatieren, daß die vom Maler (gelegentlich auch vom Famulanten) diesem tradiert konnotierten Motiv angetragenen symbolischen Bedeutungen dessen virtuelle Codierung, bar wahnhafter Willkür, bloß aktualisieren. An dieser Stelle mögen zunächst die exemplarischen Hinweise auf des Malers Identifikation des zeichenhaften Flusses mit dem „Kommunismus" (Fr, 109), mit seinem eigenen Körper (vgl. Fr, 85), mit „Frauen" (Fr, 250) und schließlich auch mit dem Höllenfluß (vgl. Fr, 273) genügen. Aber der Fluß ist ein Symbol nicht nur für die — aus patriarchaler Perspektive — zwingende Notwendigkeit, sondern auch für die in der katholisch-feudalen Epoche Wengs gelingende Unterdrückung der in ihm sedimentierten Bedrohung statischer Hierarchien durch Vermassung und Verfall. Obwohl der Fluß „unleugbaren Massencharakter" 5 1 hat, kann auch Canetti ihn nur „mit Einschränkung als Massensymbol bezeichnen" 5 2 . Im Fluß entziffert er die „Masse in ihrer Eitelkeit, die Masse, die sich darstellt." Zwar ist in diesem Symbol die für statisch-hierarchische Struktur zerstörerische „Ruhelosigkeit" der „Wassermassen" 53 ebenso wie die amorphe „Gleichheit der Tropfen [ . . . ] selbstverständlich". Aber der Fluß ist „Symbol eines noch beherrschten Zustands, vor dem Ausbruch und vor der Entladung, ihre Drohung mehr als ihre Wirklichkeit". 5 4 Diese Drohung sucht die hierarchische Struktur — des Ein-
so 51
vl 14
Novalis, Canetti, Canetti, Canetti, Canetti,
Lehrlinge, Masse und Masse und Masse und Masse und
S. 104 Macht, Macht, Macht, Macht,
S. S. S. S.
91 92 91 92
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zelbewußtseins wie auch der sozialen oder kirchlichen Ordnung — zu mindern, indem sie die Blicke und Gedanken von der Verlockung in der Tiefe ablenkt und auf den symbolisch himmelwärts strebenden Berggipfel fixiert. 5.3 Der Wald als Symbol gebannter Masse Wälder umschließen Weng als ehedem bäurische Siedlung, jähe Felswände scheiden das Dorf sowohl vom Gipfel als in der Tiefe vom Fluß. Daß Weng „in einer Grube [liegt], von riesigen Eisblöcken jahrmillionenlang gegraben" (Fr, 15), meint wiederum zunächst nicht,Unüberwindlichkeit der Natur', sondern annähernd im Gegenteil, daß christlich-feudale Staats- und Kirchenarchitektur in Phänomenen erhaben versteinerter Natur gleichsam ihre natürlichen Vorbilder fand, denen sie ihre monumentalen ideellen oder realen Bauten nachformte als Bollwerke wider schier sinnlich-amorphe Natur. Wie bereits die Analyse der je in ,Berg' und ,Fluß' sedimentierten Konnotationen gezeigt hat, macht es wenig Sinn, alle Wengschen Naturphänomene pauschal als Zeichen der N a t u r schlechthin zu deuten. Vielmehr wurde erkennbar, daß sich in der gegensätzlichen Codierung von Fels und Gewässer die für christlich-idealistisches Denken konstitutive Geist-Materie-Entzweiung manifestiert, weshalb auch der Berg als Zeichen geistbeherrschter, daher von Göttlichem kündende Natur, der Fluß hingegen als Symbol bloß sinnlicher, daher verteufelter Materie erscheint. Nicht nur räumlich, sondern auch in der symbolischen Hierarchie nimmt der W a l d die genaue Mitte zwischen dem zugleich organisch unbelebten und ewiges Leben verheißenden Berggipfel und dem zugleich Leben zeugenden und irdische Vergänglichkeit bezeugenden Fluß ein. Der Wald als Symbol ist durchdrungen von vielfältigen Codes, die selbst dann noch, wenn man die Betrachtung auf christliche Ikonographie einschränkt, ein widersprüchliches Bild ergeben, das jedoch im Widersprüchlichen christlicher Lehre selber gründet, ihrer historisch schwankenden Bewertung der mal als Schöpfung gerühmten, dann wieder vermittels Erlösung zu fliehenden Natur. So erscheint etwa der Wald in Dantes ,Comedia' als Bild der „Sündhaftigkeit", das auf der negativen Bewertung beruht, die das christliche Denken der Materie beimißt. Sie ist das vom göttlichen Geist noch nicht Durchdrungene und daher Schlechte und Sündhafte", " Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Bern 1959. S. 143. — Kurztitelnachweis: Stauffer, Der Wald. — Stauffer bezieht sich mit der zitierten Bemerkung auf: Dante Alighieri, La Comedia. Erstveröffentlicht Mantua 1472.
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Geschichte als Individualgeschichte
der Wald als „selva oscura" 56 ein Symbol der „zum Schlechten neigenden Materie" 55 . Der finstere Wald als „Stätte des Verirrtseins" und Zeichen ,,irdische[r] Sündhaftigkeit" ist bereits für Dante ein „eindeutiges Symbol, dessen Symbolwert nicht erst" von ihm „geschaffen zu werden brauchte, sondern den er bereits gegeben vorfand" 56 . Es ist nicht unwichtig zu bemerken, daß der in der fiktiven Welt Weng objektivierte zeichenhafte Wald Spuren auch dieses tradierten Codes aufweist, den hier etwa der Famulant aktualisiert: M e r k w ü r d i g war, daß ich überhaupt kein Licht sah, an dem ich mich hätte orientieren können. Es war wie ein Dahinrudern, auch des Geistes, und das Gleichgewicht ist da überall und auch nirgends. (Fr, 16)
Wie leicht zu erkennen, beginnt hier die Grenze zwischen den symbolischen Bedeutungen des Waldes als „Stätte des Verirrtseins" und des Flusses als Drohung des ,Bösen' zu verschwimmen: Der Gang durchs Gehölz wird metaphorisch zu einem „Dahinrudern", das zwangsläufig auch die Statik („das Gleichgewicht") bedroht. Aber dieser symbolische Aspekt des Waldes als chaotischer, verschlingender Materie gewinnt erst in der erzählten Gegenwart Wengs an konzeptioneller Bedeutung; was dessen christlich-feudale Vergangenheit betrifft, so erscheint der Wald hier weniger als Bild rein sinnlicher, daher „zum Schlechten" tendierender Materie denn als Zeichen ehedem gelungener Geist-Materie-Vermittlung, welche die Μ a s s e als natürliches wie soziales Phänomen in Annäherung an das Bild des statisch-erhabenen Berges bannt. Der Wengsche „Lärchenwald" erhebt sich „senkrecht" (Fr, 190) über dem Fluß. Gleicht das in einer „Grube" zwischen „Felswänden" gelegene Dorf einer natürlichen Festung, so wird dieser Bollwerkcharakter durch christlich-tradierte Codierung des umgebenden Waldes verstärkt und symbolisch überhöht: Der Wald als Massensymbol ist ein Bild sowohl des „Heeres" als des „Doms". Ein „Vorbild der Andacht", so Canetti, „zwingt" der Wald den Menschen aufzuschauen, dankbar f ü r seinen überlegenen Schutz. Das Hinaufschauen an vielen Stämmen wird zu einem A u f s c h a u e n überhaupt. Der W a l d baut dem Kirchengefühl v o r , dem Stehen v o r G o t t u n t e r Säulen und Pfeilern. Sein gleichmäßigster und d a r u m v o l l k o m m e n s t e r A u s d r u c k ist die W ö l b u n g des D o m s , alle Stämme in eine höchste und untrennbare Einheit v e r f l o c h t e n . 5 7
Zugleich nennt Canetti als nicht weniger wichtige[n] A s p e k t des W a l d e s [ . . . ] seine vielfache U n v e r r ü c k b a r k e i t . [ . . . ] Sein W i d e r s t a n d ist absolut, er weicht nicht von der Stelle. Er kann gefällt, aber
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S t a u f f e r , D e r W a l d , S. 1 4 7 f. C a n e t t i , Masse und Macht, S. 93
Historisch-ikonographische Skizze der fiktiven Welt Weng
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nicht verrückt werden. So ist er zum Symbol des Heeres geworden: ein Heer in Aufstellung, ein Heer, das unter keinen Umständen flieht; das sich bis zum letzten Mann in Stücke hauen läßt, bevor es einen Fußbreit Boden aufgibt.57
Damit wird die symbolische Konnotation der Wengschen felsigen „Grube" (Fr, 15) als in permanenter Defensive erstarrte Festung weiter verdeutlicht; das von draußen gegen die Felswände brandende ,Meer' der Veränderung gleicht einem durch die Jahrhunderte stetig an Macht gewinnenden Feind. Aber ebenso deutlich ist, daß die permanente Mobilmachung auch im Innern der statischen Hierarchie eine gewichtige stabilisierende Funktion erfüllt: Der Mensch, der aufrecht ist wie ein Baum, reiht sich den anderen Bäumen ein. Aber sie sind viel größer als er, und er muß zu ihnen aufschauen. Es gibt kein anderes natürliches Phänomen seiner Umgebung, das so beständig über ihm ist und zugleich so nahe und so vielfach. Die Richtung, in die er die Augen des Menschen zieht, ist die seiner eigenen Veränderung: Der Wald wächst ständig nach oben weitr. Die Gleichheit der Stämme ist eine ungefähre, auch ist sie eigentlich eine Gleichheit der Richtung. Wer einmal im Walde ist, fühlt sich geborgen; er ist nicht an seiner Spitze, wo er weiterwächst, auch nicht am Orte seiner größten Dichte. Eben diese Dichte ist sein Schutz, und der Schutz ist oben.58
Es soll hier zunächst wiederum nur angedeutet werden, daß man dem Maler auch hinsichtlich seiner symbolischen Behandlung des Waldes den Vorwurf wahnhafter Willkür vergeblich macht. Indem er beim Eintritt in den „Lärchenwald" über das „Mengenmenschenphänomen" räsonniert, über die Konfrontation entfesselter „Masse" mit militanten „Polizisten" (Fr, 191) als Verteidigern herrschender Ordnung, aktualisiert er einmal mehr — und hier gar in unverkennbarer Analogie zur Canettischen Studie — lediglich die im Wald sedimentierte symbolische Bedeutung als der zu anarchischer Auflösung tendierenden Materie, deren statisches Gebanntsein unversehens in amorphe Entfesselung umschlägt. Man wird im folgenden erkennen, daß diese in der erzählten Gegenwart Wengs objektivierte Entfesselung zwar christliche Drohungen und Höllenvisionen einlöst, deren Erfüllung sich indes aus präzise identifizierbaren historischgesellschaftlichen Ursachen erklärt.
5.4 Das vorindustrielle Weng als soziales Korrelat der Landschaftszeichen Der insgesamt in der zeichenhaften Raumstruktur und speziell auch in Gestalt des christlich codierten Waldes evozierten symbolischen Hierar-
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Canetti, Masse und Macht, S. 92 f.
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chie entspricht auf gesellschaftlicher Ebene die hierarchische Feudalordnung, die sich im vorindustriellen Weng als patriarchales Agrarsystem der „Bäuerlichen" (Fr, 109) manifestiert. Im Vergleich etwa mit dem Fiktionskonzept von Verstörung fällt auf, daß der soziale Aspekt Wengscher Vergangenheit vergleichsweise wenig Beachtung findet; jedoch bezeugen obrigkeitsstaatliche Institutionen wie etwa das „Armenhaus" (vgl. Fr, 103-108), daß der Ort Weng eine zumindest ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte aufweist, die stets schon von Zwang und Dürftigkeit geprägt war. Das erhellt zum einen, daß der in der Landschaftsstruktur aufgezeigte christlich-feudale Code auf das Gebirgsdorf als sein Zentrum hin perspektiviert ist; zum andern eröffnet es die Frage, weshalb der abstrakte Autor die geschichtliche Tiefendimension nicht auch der bäurischen Siedlung selber schärfer konturiert. Ein Blick auf gleichwelches spätere Werk der ersten Phase Bernhardscher Prosaproduktion liefert die so einfache wie einleuchtende Antwort: Das Bernhardsche ästhetische Verfahren ist formal abhängig von c h r o n o t o p i s c h codierten Motiven als den Materialien, aus welchen der abstrakte Autor die fiktive Welt fügt als virtuell bereits geschichtlich chiffrierten Raum. Wie man den Fiktionskonzepten von Verstörung, Ungenach oder Korrektur, aber ansatzweise auch schon von Amras unschwer entnehmen kann, findet sich im Motiv der mittelalterlichen B u r g oder des feudalen Schlosses die genaue architektonische und somit gesellschaftliche Entsprechung zum virtuell bereits in Frost als feudale Festung konzipierten landschaftlichen Raum. Die an der Spitze der sozialen und räumlichen Hierarchie installierten Burgen oder Schlösser besitzen aus eigener Kraft chronotopische Qualität, welche die architektonische Kontur Wengs noch entbehrt. Nicht zuletzt aus dieser relativen Gesichts- und Geschichtslosigkeit des fiktiven Dorfes, die in hier angedeuteten konzeptionellen Schwächen des Debutwerks gründet, erklärt sich wohl auch die Fülle krasser Fehldeutungen, die der Frosf-Roman seither erfuhr, und deren gemeinsamer Mangel darin besteht, daß sie die so präzise wie geheime geschichtliche Codierung des fiktiven Raumes übersehen. Jedoch finden sich bei genauer Untersuchung zumindest zwei signifikante Hinweise, die auch den gesellschaftlichen Aspekt vorindustrieller Wengscher Vergangenheit evozieren, statt diese einzig in der Landschaftsstruktur zu objektivieren. Zum einen wäre hier eine eigentümlich emphatische Rede des Malers zu nennen, mit welcher er „eigensinnige Täler" in der Nähe Wengs preist, in denen von „Thronsesselmenschen" bewohnte „Herrenhäuser" und „Schlösser" (Fr, 230) stünden. Formal wäre der fragliche Textabschnitt (vgl. Fr, 230) zunächst einzuordnen in den diffusen Grenzbereich zwischen vom Icherzähler objektivierter Motivstruktur und subjektiver Behauptung oder Vision des Malers. Nicht zufällig bleiben bestimmte
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Aspekte der Strauchschen Vorstellungswelt dem objektivierenden Wirken des Famulanten entzogen. Formal als figurenabhängige Träume, Visionen oder Binnenerzählungen des Malers gebannt, erhärten sie scheinbar den inhaltlich auf diesem lastenden Wahnverdacht. Daß der Icherzähler solche eher phantastischen Erlebnisse des Malers nicht objektiviert, sondern bloß annähernd kommentarlos zu Protokoll nimmt, läßt auch, ex negativo, die Berechtigung einer für diese Studie grundlegenden These ablesen, derzufolge der Icherzähler vornehmlich als Vermittler zwischen symbolischer und realistischer Textschicht füngiert. D a die erwähnten Träume und Visionen des Malers aus realistischer Perspektive dem Verdikt der Unwahrscheinlichkeit verfallen, bleiben sie im Grenzbereich des Objektivierten gebannt. N o c h in dieser Grenzsphäre lassen sich qualitative Abstufungen unterscheiden: So billigt der Icherzähler unter extensiver Ausnutzung seines Objektivationsvermögens der „Landstreicher"-Episode immerhin einige Wahrscheinlichkeit zu (vgl. Fr, 240), während am anderen Ende der formalen Skala der Traum des Malers von den „Arbeitern", in deren „Schwärze" alles „erstickt" sei {Fr, 208), als bloße Projektion erscheint. Hingegen ließe sich die Strauchsche „Herrenhäuser"-Vision etwa in der Mitte des Grenzbereichs zwischen subjektiver Projektion und objektiviertem Motiv lokalisieren: Schweigend, ohne Zustimmung noch Widerspruch, nimmt der Famulant des Malers Behauptung zu Protokoll, in Wengschen Nachbartälern hätten feudale „Thronsesselmenschen", habe gleichsam eine mittelalterlich-geschlossene Welt als Mikrokosmos dem allgemeinen Prozeßder „Auflösung" {Fr, 54) überkommener Struktur getrotzt. U m jedoch zu einem adäquaten Verständnis der gedachten Sequenz zu gelangen, muß man einige wesentliche Aspekte unterscheiden. Es ist evident, daß des Malers Vision die „Herrenhäuser" dem sonst alles mit sich reißenden Zeitstrom zu entrücken sucht. Indem er ein Bild mittelalterlicher ,Klarheit' und .Einfachheit' (vgl. Fr, 230) gegen den H o r i z o n t der Vergangenheit projiziert, gewinnt die mit diesem Bild beschworene Unvergänglichkeit zweifache Bedeutung: Zum einen und zunächst aktualisiert sie lediglich jene christlich-feudalen Axiome unveränderlich statisch-hierarchischer Weltordnung, aus welchen sich der dem objektivierten Außenraum inskribierte C o d e generiert: „Einfachheit wölbt sich wie ein klarer Himmel über das, was man denkt"; „der Zufall und das Böse sind ausgeschlossen"; „wie für immer geformt" ist eine prästabilisierte Harmonie, in der „Gesetze ohne Gewalt" gelten und „Geist und Charakter [ . . . ] schön in der Menschennatur vereinigt" sind {Fr, 230). Das ist gleichsam eine Apologie feudaler Theokratie aus der Perspektive der Regenten, die scheinbar harmonisch und gewaltlos eine gottgewollte Weltordnung wahren und repräsentieren. Aber hinter Lobpreis und Verklärung verborgen, kündet die Vision auch bereits von Bedrohung und
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geheimer Gewaltsamkeit der nur scheinbar ungetrübten Harmonie: Die Erwähnung des ,,Böse[n]", das nicht etwa gebessert und integriert, sondern „ausgeschlossen" sei, zeugt vom defensiven und oppressiven Festungscharakter der „Herrenhäuser", der nicht zufällig an die BergFluß-Opposition im Wengschen Gebirgstal gemahnt. Auch die vorgeblich rühmende Kennzeichnung der „Jugend", also doch der auf lebendige Veränderung drängenden Kraft, als „Vorgebirge" erhellt die innere Statik und Geschlossenheit der ,,eigensinnige[n] Täler" als gewaltsam, da sie versteinert, was ihr virtuell widerstrebt. Die vom Maler evozierte Szenerie scheint bereits unter der Ahnung der nahen Katastrophe erstarrt: die ,,gute[n], wie für immer geformte[n] Gesichter" petrifiziert wie unter dem Blick der Meduse; die „immerwährende Schonzeit" Signum eines bloß negativen Friedens als mühsamer Sicherung einer Ordnung, die an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen droht. Das führt zu dem zweiten Aspekt scheinbarer Unvergänglichkeit der vom Maler beschworenen Szenerie: Gegen die Mixnersche Behauptung, der Maler thematisiere hier eine letzte ihm verbliebene „positiv besetzte Denkmöglichkeit" S9 , spricht auch die mausoleenhafte Starre, die Figuren und Objekte in den evozierten Bauwerken umfängt. Im Verlauf dieser Studie ist man bereits einmal einem vergleichbaren Mausoleumsraum begegnet: Auch des Famulanten „Beschreibung meines Zimmers zu Hause" ( F r , 118) evozierte totenstarre gerahmte Bilder statt lebendiger, beweglicher Erinnerung. Wenngleich die konzeptionelle Funktion beider Textsequenzen nicht identisch ist, kongruieren sie doch in der Perzeption des unwiederbringlich Verlorenen als bloß noch künstlich Konserviertes: War die Erinnerung des Famulanten an durch die „Großeltern" repräsentierte Vergangenheit aus „Bild" und „Kupferstich" gefügt ( F r , 119), so sind des Malers „Thronsesselmenschen [...] wie aus einem erdachten Gemälde geschnitten"; und entgegen Strauchs sehnsüchtiger Beteuerung beginnen sie, wenn „man sie berühren will", keineswegs „zu leben" ( F r , 230) und zu sprechen. Jedenfalls bleibt ihre Lebendigkeit, ihre „Menschenwärme" unglaubwürdige Behauptung, der die Starre der maskenhaften „Gesichter" widerspricht. Dieser Widerspruch bleibt zudem wortlos, da die kunstvolle und harmonische „Sprache" der „Thronsesselmenschen" sich der Mitteilung entzieht. Aber daß „die Welt, aus der man ist, [ . . . ] hier nichts mehr zu suchen" hat, bedeutet nichts anderes, als daß die scheinbar ideale Gegenwelt unerreichbar geworden ist selbst in Gedanken oder Traum. Ihre Entrückung und Erstarrung zum trotz aller Emphase eher blassen „erdachten Gemälde" kündet von der Ohnmacht des Versuchs, aus der Konkursmasse der in „Auflösung" begriffenen Vergangen-
^ Mixner, Der R o m a n Frost, S. 46
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heit scheinbar Unveräußerliches abzusondern und als dem geschichtlichen Zugriff enthoben zu hypostasieren. Insofern wäre des Malers „Herrenhäuser"-Vision nicht mit Mixner als „positiv besetzte Denkmöglichkeit" zu qualifizieren, sondern im Gegenteil als Manifestation drohender Unmöglichkeit, anderes als das Bestehende auch nur zu denken — und dies bei gleichzeitigem und gleich starkem Unvermögen, sich von der als obsolet versinkenden Vergangenheit zu befreien, ohne mit ihr zu versinken im reißenden Fluß. Für diese Verschränkung von halb erst versunkener Vergangenheit und halb schon begonnener Zukunft zur antinomisch, in nicht enden könnender „Auflösung" gelähmten Gegenwart findet der abstrakte Frost-Autor zwar bereits in der Konzeption der chronotopisch codierten Landschaftszeichen, aber erst ansatzweise auf politisch-sozialer Ebene eine schlüssige Lösung. D a das Frosi-Konzept das chronotopische Burg- oder Schloß-Motiv der objektivierten Raumstruktur noch nicht integriert, muß es die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam auffächern und die Zeithorizonte des Gegenwärtigen als je vereinzelte verräumlichen. S o vermag es aber nur die erzählte Gegenwart als dynamischen Prozeß zu perzipieren, dem es —projiziert in zwei Wengsche Nachbartäler — Vergangenheit und Zukunft als statische Bilder sekundiert. Wurde jedoch in des Malers „Herrenhäuser"-Vision die unterschwellige, nurmehr mühsam gebannte Dynamik der scheinbar prästabilisierten Harmonie ersichtlich, so gibt der Maler andererseits mit der Behauptung eines weiteren Weng benachbarten Tales in nämlicher Einseitigkeit die hierarchische Statik rest- und widerstandslos der dynamischen Umwälzung preis: Notwendigerweise bleibt auch dieses künstlich abgesonderte Bild Wengscher,Zukunft' (vgl. Fr, 14), wie bereits das der Vergangenheit, dem objektivierenden Wirken des Icherzählers entzogen: „Wenn Sie in diese Richtung, die ich Ihnen da mit meinem Stock anzeige, wandern", behauptet der Maler, „kommen Sie in ein T a l " , in dem Ihnen nichts passieren [kann]: alles ist gänzlich ausgestorben. Keine Bodenschätze, kein Getreide, nichts. Etliche Spuren aus dieser oder jener Zeit finden Sie, Steine, Mauerbrocken, Zeichen, von was, weiß niemand. [ . . . ] Eine verfallene Kirche. Skelette. [ . . . ] Die Natur ganz unbelästigt von Menschen. Vereinzelte Wasserfälle. Es ist wie der Gang durch ein vormenschenwürdiges Jahrtausend. (Fr, 14)
Wie des Malers Erwähnung der „Mauerbrocken" und der Kirchenruine verdeutlicht, ist in diesem Wengschen .Nachbartal' der Prozeß der „Auflösung" (Fr, 54) vollendet, der in Weng noch andauert und dessen historischer Ausgangspunkt sich in den mit „Herrenhäusern" bestückten Tälern manifestiert. Durch diese wenngleich konzeptionell nicht recht überzeugende Einführung der eher statischen Vergangenheits- und Zukunftsbilder wird somit die geschichtliche Tiefendimension auch des gesellschaftli-
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chen Aspektes der fiktiven Welt schärfer konturiert, da sie sowohl den insgeheim der Landschaftsstruktur inskribierten christlich-feudalen C o d e als auch dessen vom Maler antizipierte Vernichtung zwar nicht objektiviert, aber doch im Grenzbereich der objektivierten Motivstruktur zu präzisen Bildern verdichtet, die des Malers Deutung der fiktiven Welt als gleichsam modellhafte Landschaft christlich-feudalen Bewußtseins zumindest behelfsweise vom Verdacht subjektiver Willkür entlasten. Indes wäre hier zumindest anzudeuten, daß der Auffächerung der Zeitdimensionen des fiktiven Raumes in statische Geschlossenheit (Vergangenheit), dynamische „Auflösung" (Gegenwart) und statische Stillstellung der Geschichte in von Menschen nicht mehr beeinflußter Zukunft inhaltlich ein eher befremdlicher p l a t o n i s c h e r Zug im Denken des Malers entspricht, der diesen virtuell dazu verleitet, die nur scheinbare ,Harmonie' der „eigensinnigen Täler" der präformierten des platonischen Ideenreichs und das postkatastrophische ,,ausgestorben[e]" Tal dem platonischen Chaos zuzuordnen. Wenn der Maler etwa auftrumpft mit den Worten: „Der Staat sei so, wie ihn Plato entworfen hat, oder er sei kein Staat", und in platonischer Konsequenz folgert: „Der Staat ist nicht möglich" (Fr, 265), so verliert die Perzeption der fiktiven Welt Weng als zerstörerische Verschränkung zweier historisch identifizierbarer Ordnungssysteme etliches an erhellender Schärfe, da Strauch aus platonischer Perspektive so pauschal wie unreflektiert jegliche historische Wirklichkeit zugunsten des unerreichbaren Ideenreichs dämonisiert. Zwar gewinnt noch die platonisch-ahistorische Perspektive der Konfrontation von feudal-statischem und naturwissenschaftlich-dynamischem Denken einen erhellenden Aspekt ab, indem sie als Ursache der Vernichtung überkommener, scheinbar unvergänglicher Struktur die blasphemische Überschreitung der den Menschen zugewiesenen Grenzen identifiziert. Freilich wird diese Einsicht mit der Blindheit dafür erkauft, daß naturwissenschaftliches und christliches Denken sich nicht als zwei unvermittelte Systeme gegenüberstehen, sondern jenes aus diesem hervorging, zumindest formal Kontinuität wahrend im Anspruch auf patriarchale Beherrschung einer Natur, die christliches Denken in Fortführung antiker Tradition zu amorpher Materie abstrahierte. Das führt zum zweiten im T e x t auffindbaren Hinweis auf den gesellschaftlichen Aspekt der zeichenhaft in der Landschaftsstruktur evozierten Wengschen Vergangenheit: Der Maler erwähnt „Fronleichnamsprozessionen" und „Christihimmelfahrtsumzüge", die „noch" — „aber wie lange noch?" (Fr, 109) — das dörfliche Leben bestimmten. Eingedenk der zuvor gewonnenen Einsichten in den von Canettis ,Masse und Macht' auf das Bernhardsche Prosawerk ausgeübten Einfluß vermag man den katholischen Prozessionszug als rituelle Reaktion auf die in der Landschafts-
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struktur abgebildete B e d r o h u n g christlich-feudaler Natur- und Gesellschaftsordnung zu erkennen. In seinen Bemerkungen zum Fluß als Massensymbol erklärt Canetti, der zeichenhafte Strom stehe symbolisch auch für „Prozessionen; die Menschen, die von den Straßenseiten aus zusehen, sind wie Bäume an U f e r n " 6 0 . Die Affinität dieser Canettischen Metapher zu zentralen Motiven der fiktiven Frost- Welt ist unübersehbar; sie erhellt die Funktion der rituellen Prozession als symbolische Sublimation des Amorphen: mit Canettis W o r t als „Zähmung der Massen" im Katholizismus 6 1 . Formale Betrachtung erkennt den Prozessionszug als Versuch der Vermittlung zwischen amorpher Egalität und hierarchischer Struktur; zwischen entfesselter Dynamik und regloser Statik; zwischen der realen Abwärtsbewegung des reißenden Gewässers und der symbolischen Aufwärtsbewegung des erhabenen Bergs; somit zwischen reiner Verflüssigung und schierer Petrifikation. Dieser Vermittlungsversuch erhellt zufolge Canetti das Prozessionsritual als „langsame Masse", „die sich auf ein unsichtbares und in diesem Leben unerreichbares Ziel" zubewegt. „In der langsamen Masse hat man es darauf abgesehen, den Prozeß, der zur Entladung" — somit zu Entfesselung und unkontrolliertem Zerfall — „führt, auf lange Sicht hin zu verzögern,"62 Die als Prozession ,gezähmte Masse' wird daher nicht zu reiner Reglosigkeit verhalten, aber in ihrer Bewegung unendlich verlangsamt. Man erkennt hier, daß christliche Ikonographie auch den Fluß, wie bereits den Wald, zweifach und genau gegensätzlich codiert. Aber der wesentliche Unterschied ist darin zu sehen, daß die Verklärung des Waldes zum Vorbild kirchlicher Architektur zum einen in realen Merkmalen des Waldes — Verwurzelung und Aufwärtsstreben der Bäume — gründet, zum andern der Entdämonisierung des von der „selva oscura" zum D o m symbol sich wandelnden Waldes dessen nicht bloß ideelle Bearbeitung, sondern tatsächliche Kultivierung entspricht: Die agrar-und forstwirtschaftliche Bearbeitung des Bodens und Waldes im vorindustriellen Weng ist zugleich symbolische Arbeit der katholischen „Bäuerlichen" (Fr, 109) an eigener Sublimation, die das zuvor Finstere und scheinbar Chaotische lichtet, klar strukturiert und so auch die Distanzen und Grenzen zwischen den Bäumen als Individuen schärfer konturiert.
1.0
1.1
Canetti, Masse und Macht, S. 91 Canetti, Masse und Macht, S. 20-22 Canetti, Masse und Macht, S. 40
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6. Zu Biographie und Bewußtseinsstruktur des Malers Gemessen an seinen autobiographischen Skizzen, widmet der Icherzähler der Lebensgeschichte des Malers breiten Raum. Sie ist reich an ergreifenden und drastischen Details, die sich zum plausiblen Bild eines von Kindheit an gescheiterten Lebens fügen. Keineswegs leugnet die hier vorgeschlagene Deutung die psychologische Stringenz oder realistische' Wahrscheinlichkeit der dem Frosi-Protagonisten eingeschriebenen Biographie und Bewußtseinsstruktur. Diese können freilich im Artefakt sowenig Selbstzweck sein, wie die Analyse sich mit dem eher trivialen Urteil bescheiden darf, die Figur wirke lebensecht. Vielmehr hat sie von einer konstitutiven Ambiguität des Fiktionskonzeptes auszugehen, das sich stets in einer realistischen und zugleich in einer symbolischen Bedeutungsschicht manifestiert. Ist formal wie inhaltlich das realistische Textniveau durch entfalteten Subjekt-Objekt-Gegensatz gekennzeichnet, so das symbolische durch deren tendenzielle Identität. Bereits die Analyse sowohl des Erzählerstandorts als des Assistentenbewußtseins hat erwiesen, daß die antinomische Verschränkung der Textniveaus nie bruchlos gelingen kann, aber vom abstrakten Autor, als konstitutive Intention, immer wieder angestrebt wird. Für die Konzeption des Protagonistenbewußtseins bedeutet dies zum einen, daß die scheinbar schicksalsgefügte Fülle individuell beliebiger Wirrnisse sich auf symbolischem Niveau zugleich einer überindividuellen Struktur zu fügen hätte, deren Gesetzlichkeit sich in der Motivstruktur der fiktiven Welt Weng und deren prozeßhafter Wandlung offenbart. Z u m andern hat die Analyse zu beachten, daß der realistischen, primär je formal manifestierten Autonomie der drei dominanten Figuren — des Famulanten und der Brüder Strauch — deren symbolische Immanenz in e i n e m Bewußtsein entgegensteht: Aus der weiter oben gewonnenen Einsicht, daß in der Vorstellungswelt des Malers insgeheim auch die ,Nachtseite' des Chirurgen expliziert wird, wäre jetzt eine subkutane Interdependenz der Strauchschen Gebrüder zu folgern, von der weder humanmedizinische noch individualpsychologische Handbücher künden. Aus dieser komplexen Konzeption erwachsen beträchtliche formale wie inhaltliche Probleme, auf die der abstrakte Autor keine gänzlich überzeugende Antwort findet. Deutlicher noch als im bisherigen Verlauf der Untersuchung wird man im folgenden Brüche und Widersprüche im Fiktionskonzept konstatieren, die teils aus dem Versuch des abstrakten Autors resultieren, die Vermittlung zwischen den Textniveaus gewaltsam zu erzwingen, teils aus wie resignierter Vernachlässigung des Vermittlungsbestrebens, die sich mit eher vager Verknüpfung der Bedeutungsstränge begnügt.
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Anders als der Fürst Saurau aus Verstörung, der durch Biographie und Ahnenreihe, Erziehung und Erbschaft tatsächlich „zeitlebens" (Ve, 144) dem ererbten Besitztum verbunden ist, wird der Frosi-Maler gemäß Fiktionskonzept erst durch kriegsbedingten Zufall mit dem fiktiven Gebirgstal konfrontiert, das er schließlich durch subjektiven Entschluß als Exil erwählt. Hier wird deutlich, daß die — formale — Möglichkeit der Objektivation subjektiven Bewußtseins nicht zuletzt abhängt von der — inhaltlichen — Verfügungsgewalt des jeweiligen Protagonisten über Landschaft und Figuren, auf die sich sein „Denken und Handeln" beziehen. Erkennbar ist zudem die überlegene Integrationskraft der in Verstörung motivischen feudalen „Burg" oder der „Herrenhäuser" {Fr, 230) in Ungenach oder Korrektur, die kraft chronotopischer Qualität subjektive und objektive Vergangenheit sowohl zeitlich synchronisieren als auch räumlich dem zentralen Schauplatz integrieren. Hingegen gestattet das /Yo5t-Konzept weder die räumliche Integration noch die zeitliche Synchronisation von subjektiver und objektivierter Geschichte in e i n e m zentralen Schauplatz von chronotopischer Qualität. Zwangsläufig bleiben daher auch die Analogien zwischen subjektiver Strauchscher und objektivierter Wengscher Geschichte teils eher vage und zumeist auf das symbolische Textniveau beschränkt. So wird man zwar bei genauer Analyse nicht verkennen, daß die Vergangenheit nicht nur des fiktiven Bergdorfs, sondern auch des Malers selber spezifisch christlich-feudal geprägt ist, so daß in der Tat hier wie dort der Prozeß der „Auflösung" (Fr, 54,303) die nämliche hierarchische Struktur zerstört. Gleichwohl läßt sich nur mit einigem Vorbehalt behaupten, der Erziehung des künftigen Malers durch die ,feudalen' Großeltern entspreche' die in der Wengschen Landschaftsstruktur evozierte katholisch-patriarchale vorindustrielle Epoche des fiktiven Gebirgstals. Denn sowenig wie in der Beziehung zwischen dem „Schwarzach" des Assistenten und dem Ort „Weng" des Malers verzeichnet das realistische Textniveau zwischen den Strauchschen „Großeltern" als den die Malerkindheit prägenden und ihn lebenslänglich beherrschenden Instanzen und zum andern der Wengschen Vergangenheit eine reale Berührung, gar Verbindung. Die geringe Synchronisations- und Integrationskraft des zentralen Schauplatzes erzwingt die räumliche wie zeitliche Zersplitterung der erzählten Vergangenheit des Malers, welche die für die Analogiebildung und folglich Objektivation des Malerbewußtseins konstitutiven biographischen Etappen in peripheren erzählten Räumen zerstreut, die sodann als scheinbar individuell-beliebige Fragmente sich am Horizont der zentralen erzählten Welt ablagern, statt sich dieser räumlich wie zeitlich zu integrieren. Wie sich noch deutlicher zeigen wird, resultiert der inhaltlich auf dem Maler lastende Wahnverdacht zu beträchtlichem Teil aus dieser ungelösten formalen Problematik, aufgrund welcher als figurenabhängige Behauptung manches nur deshalb erscheint, weil es sich
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figurenunabhängiger Objektivation noch versagt. Zwar läßt sich der hier angedeutete und im folgenden näher zu untersuchende Uberhang realistischer Details in der Malerbiographie gewiß auch auf autobiographische Interessen des debütierenden Romanautors zurückführen. Aber diese entstehungsgeschichtliche Spekulation besagt nichts über die immanente Poetik des Textes, der bereits — möglicherweise halb erst intentional —durch das Bestreben geprägt ist, individuelle Leidensgeschichte mit objektiver Verfallsgeschichte zu vermitteln und somit nicht nur diese zu subjektivieren, sondern jene zu objektivieren zugleich. Daher auch wird man der konzeptionellen Funktion der Strauchschen Biographie und Bewußtseinsstruktur durchaus nicht gerecht, wenn man sich mit dem Lob ihrer psychologischen Stimmigkeit, ergreifenden Authentizität und Tragik begnügt. Vielmehr wäre die Perzeption der Entwicklung des Malers, beginnend mit seiner Verstoßung von den Eltern zu den Großeltern, stets zudem in Bezug zur komplementären Entwicklung des Malerbruders zu untersuchen sowie insgesamt zu befragen, ob und inwieweit sie die intendierte Vermittlung zwischen subjektiver „Krankheit der Auflösung" (Fr, 303) und der in Weng objektivierten „Auflösung" (Fr, 54) überkommener Struktur zu leisten vermag. Hierbei kommt der familiären Struktur in der Kindheit der Brüder Strauch eine gewichtige Funktion zu: Auf realistischem Textniveau läßt sich durchaus konstatieren, daß die kraß ungleiche elterliche Behandlung der Söhne den künftigen Maler mit einem sein Selbstvertrauen vernichtenden „Bruderkomplex" belastet hat. Zugleich aber ist die Mahnung des Icherzählers ernst zu nehmen, der brieflich anmerkt: I\s wäre zu simpel, da von einem Bruderkomplex zu sprechen, im diagonalen Gegensatz zu dem Vaterkomplex, den man heute als durchschaubar betrachtet. (Fr, 300)
Diese grundsätzliche Kritik individualpsychologischer Axiome ist keine bloße Figurenmeinung, sondern auf symbolischem Niveau legitimiert: Hier wird erkennbar, daß die fatale Entwicklung des Malers zwar in präzise rekonstruierbarer familiärer Interaktion gründet, deren Funktion sich aber in der Konzeption eines so plausiblen wie letztlich schicksalhaft unergründlichen individuellen Lebens keineswegs erschöpft. Vielmehr wird sich im folgenden erweisen, daß die familiären Prozesse, die einerseits zu gezielter Förderung des älteren, andererseits zu nicht minder zielgenauer Verstoßung des jüngeren Sohnes führen, mit beträchtlicher Präzision jener in Weng objektivierten Verschränkung von retardierendem Beharren auf überkommener hierarchischer Struktur und deren avancierter dynamisch-amorpher „Auflösung" entsprechen. Dies jedoch bedeutet, daß auf symbolischem Niveau die Figuren der generationenweise gegliederten Strauchschen Familie tendenziell ebenso als spezifisch strukturierte Aspekte e i n e s Bewußtseins zu deuten sind, wie sich auch in der
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objektivierten Welt Weng Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Fortschritt, Bewahrung und Zerstörung zu e i n e m komplex strukturierten Raum verschränken.
6.1 Zur Strauchschen Familienstruktur Ein schmerzliches Rätsel ist dem Maler zeitlebens die Frage, weshalb seine Eltern den Bruder protegierten, ihn indes verstießen: Die Eltern kümmerten sich wenig um ihn, mehr um den ein Jahr älteren Bruder, von dem sie alles erwarteten, was sie von ihm nicht erwarteten: eine geregelte Zukunft, überhaupt Zukunft. Mehr Liebe und mehr Taschengeld hatte sein Bruder immer bekommen. W o er sie enttäuschte, enttäuschte sein Bruder sie nie. (Fr, 31)
Unverkennbar wirkt hier ein psychologisch hinlänglich bekannter Mechanismus nach dem Muster der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, demzufolge das Versagen des künftigen Malers die Eltern nicht enttäuscht, sondern ihre negativen Erwartungen affirmiert. Jedoch erscheint die kraß ungleiche elterliche Behandlung der Söhne bereits auf realistischem Textniveau keineswegs als unergründliche Grausamkeit, sondern vollstreckt bloß blindlings die immanente Logik der familiären Struktur, die sich als genaue Entsprechung zur realhistorischen Situation der Kindheit der Strauchschen Brüder erweisen wird. Zu den für die Malerkindheit bestimmenden Figuren zählen neben Eltern und Bruder vornehmlich die „Großeltern", bei denen er aufwuchs (vgl. Fr, 31), sodann aber auch eine „Schwester", die in der oben zitierten Klage bezeichnenderweise nicht erscheint. Offenkundig finden die elterlichen Erwartungen, die der ältere Sohn glänzend erfüllt und der jüngere kläglich enttäuscht, auf die Schwester überhaupt keine Anwendung; das erhellt die elterliche Perspektive als patriarchal. Zeitlich wäre die Kindheit der Strauchschen Geschwister aufgrund verschiedener Indizien am Ende der Zwischenkriegsjahre, landschaftlich in wechselnden und nicht näher bezeichneten österreichischen Orten zu lokalisieren, historisch somit in der ersten österreichischen Republik. „Zukunft" erwarten folglich die Eltern vom künftigen Chirurgen in einer geschichtlichen Situation, in der aus den Trümmern eben erst zerbrochener k. u. k.-Vergangenheit, aus politischem Chaos und materiellem Elend sich die erste österreichische Demokratie zu formieren beginnt. Die elterliche Erziehung verläuft, nicht nur in der gezielten Verabfolgung von Geldprämien, nach dem ökonomischen Muster einer unternehmerischen Zukunftsinvestition. Und die Eltern erweisen sich als auf der Höhe ihrer Zeit, indem sie in eine Branche investieren, die wie keine zweite „Zukunft" verspricht: ins naturwissenschaftliche Metier. Wie sich
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zeigen wird, hat die von den Eltern im erwählten Sohn protegierte „Zukunft" mehr mit dem feudalen und Machttraum der zerstobenen Vergangenheit als mit den kläglichen Erwartungen eines ins Lächerliche geschrumpften Restösterreich gemein. Sie ist der Versuch zeitgemäßer Erneuerung hierarchischer Herrschaft über die in industrieller und politischer Revolution entfesselten menschlichen wie natürlichen Massen, was besagen will: Kontinuität wahrt sie formal: im patriarchalen Grundzug des Herrschaftsanspruchs. Diese Kontinuität wird in der vom Maler skizzierten, so knappen wie prägnanten Charakterisierung der „Großeltern" ersichtlich, die keine Zweifel an deren politischer und weltanschaulicher Position erlaubt: „Herrenmenschen waren die Großeltern", „unzugänglich für gemeine Menschen" (Fr, 31) — gewiß keine Proletarier oder geknechteten Kleinbauern, die aufatmend den Zusammenbruch des Feudalstaates und die Proklamation der Republik begrüßen, sondern Aristokraten, erhaben und befehlsgewohnt. Das Aristokratentum der Ahnen des Protagonisten bleibt in Frost noch schwach konturiert. Gewiß hat man sich die Strauchschen Großeltern nicht als altösterreichische Adlige vorzustellen wie wenig später das trübsinnige Fürstengeschlecht in Verstörung; eher als wohlsituierte Großbürger von ausgeprägt hierarchischer Denkungsart, die zwischen der Einführung formaldemokratischer Stimmgleichheit und anarchischem Chaos keinen Unterschied zu erblicken vermögen, nur immer den gleichen Pöbel, der überkommene Hierarchien zertrümmert und nach ihren Besitztümern und Privilegien greift. Diese treffend als „Herrenmenschen" gekennzeichneten Großeltern sind die Eltern, man weiß nicht ob von der Mutter oder vom Vater der Geschwister Strauch. Jedenfalls ist ihr prägender Einfluß auf diese Repräsentanten der von ihnen erzogenen Generation unverkennbar: Das von den „Großeltern" vererbte patriarchal-hierarchische Weltbild wird von den „Eltern" unter dem Eindruck revolutionärer Umwälzung nicht etwa konformistisch liquidiert, sondern als zeitgemäß transformiertes dem eigenen Sohn implantiert. Partizipierte der Strauchsche Clan im Feudalstaat an großbürgerlichen Herrschaftsprivilegien, so hat er im industrialisierten Massenstaat teil an Macht und Vorrechten der wissenschaftlichtechnokratischen Elite; unverkennbar ist der Chirurg gleich seinem „Großvater" ein hochmütiger und herrschsüchtiger ,Herrenmensch', der gewiß nicht gemäß republikanischem Ideal mit seinen Untergebenen von gleich zu gleich verkehrt, sondern mit ,,gemeine[n] Menschen" (Fr, 31) „herumkommandiert" (Fr, 200). Sowohl die im patriarchalen Grundzug des erneuerten Herrschaftsanspruchs gewahrte Kontinuität als auch dessen insgeheimer inhaltlicher Bruch mit dem feudalen Vorbild manifestiert sich in der Strauchschen Familienstruktur: Die Entscheidung der „Eltern", in ihren Erstgeborenen
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als in naturwissenschaftliche „Zukunft" (Fr, 31) zu investieren, zieht mit gleichsam mathematischer Unerbittlichkeit das je spezifische Geschick der jüngeren Geschwister nach sich. Durch diese Konzeption wird bereits auf realistischer Textebene die Autonomie der ins Familiengespinst verstrickten Figuren erheblich relativiert, um schließlich auf symbolischem Niveau in Immanenz umzuschlagen. 6.2 Kindheit als Entzweiung „Er sei als Kind bei seinen Großeltern aufgewachsen", erklärt der Maler, „ziemlich wild. Streng gehalten in Winterzeiten. D a habe er oft tagelang stillsitzen und Wörterzusammensetzungen auswendig lernen müssen." (Fr, 31) Von diesen gegensätzlichen Aspekten: äußerer »Strenge' und innerem „Verwildern" (Fr, 73), ist die großelterliche Erziehung des künftigen Malers durchweg bestimmt. „Aufspringen und fortlaufen und wieder stillsitzen, darin erschöpfte sich eigentlich seine Kindheit." (Fr, 69) Der Alternation von Bewegung und Erstarrung entspricht der stete Wechsel zwischen „ L a n d " und „Großstadt" in seiner Kindheit: „Die Großstadt wechselte oft mit dem Land ab, denn sein Großvater war unruhig, genauso unruhig wie er selbst." (Fr, 31) Solche rast- und ziellose Bewegung erweist die großelterlichen „Herrenmenschen" als Entwurzelte, die bereits von der Dynamik alles mit sich reißender Umwälzung erfaßt worden sind und vergeblich versuchen, die verlorene Statik feudaler Struktur als anachronistische Insel im entfesselten Fluß zu restaurieren. Denken und Fühlen ziehen sich den „Großeltern" bereits zu einem Begriff, zu einer alles verdüsternden und destabilisierenden Grundstimmung zusammen: „Angst". „Angst vor Ungeziefer, wilden Tieren, finsteren Gassen, reißenden Flüssen, Hunger, Zukunft" (Fr, 31); diese Angst teilt sich dem Maler als lebenslängliches Grundgefühl mit. Der Begriff „ Z u k u n f t " zieht die Summe aus allen zuvor aufgezählten Obsessionen: Furcht vor der „Zukunft" als dem heraufziehenden naturwissenschaftlich-technokratischen Zeitalter, das die „reißenden Flüsse" der losgelassenen inner- wie außermenschlichen Massen nicht wieder eindämmen, sondern die Entfesselung ins Ungeahnte, ins Katastrophische steigern wird; „ A n g s t " folglich vor der nämlichen „Zukunft", welche die „Eltern" der Strauch-Geschwister im älteren Bruder protegieren. Insgeheim steht des Malers Kindheit bereits unter dem Bann des bedrohlich nahen Weltkriegs, der jegliche Schreckensvisionen der Zwischenkriegszeit überbieten wird. In der vom Famulanten teils zitierten, teils referierten Kindheitsskizze des Malers wird die „ Z u k u n f t " aus den zeichenhaften „reißenden Flüssen" abgeleitet und unmittelbar mit dem „Krieg" identifiziert:
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Kr hat in seiner Kindheit Ungeziefer, H u n g e r , wilde T i e r e und reißende Flüsse kennengelernt. A u c h Z u k u n f t , A b s c h e u . D e r Krieg hat ihm ermöglicht zu sehen, was Leute, die den Krieg nicht kennen, niemals sehen. (Fr, 31)
Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, daß der Maler diese zeichenhaft auf seinen Bruder verweisende martialische „Zukunft" im Wengschen Gebirgstal erleben wird. Indes wird am Beharren der Großeltern auf dem feudalen Gehabe einstiger „Herrenmenschen" erkennbar, daß ihre eher emotionale Ahnung der Unwiederbringlichkeit einstiger Statik restaurative Illusionen keineswegs ausschließt. Jener Unruhe und zerstörerischen Bewegung, der bereits sie selber sich nicht mehr entziehen können, suchen sie Einhalt zu gebieten zumindest in der Erziehung des Enkels, der „streng gehalten" wird in „Winterzeiten" als der frostigen Chiffre verselbständigten Verstandes. Ihrem Selbst- und Weltbild entsprechend, verstehen sie Erziehung als Anleitung zu stetem Aufstieg in einer vorgeblich unveränderlichen Hierarchie: „Für ihn nehme seine Kindheit auf einer linken Straßenseite ihren Anfang und führe steil bergauf." (Fr, 70) Aber dieses Bild wird sofort verdunkelt von der berechtigten Zukunftsfurcht dessen, der sich für die Bergbesteigung schlecht gerüstet weiß: „Von da an", so der Maler, „habe ich immer ans Abstürzen gedacht." (Fr, 70) Die Metapher hierarchischen Aufstiegs erhellt ebenso wie des Malers komplementäre Furcht vor den zeichenhaften „reißenden Flüssen" die konstitutive Identität der Bewußtseinsstrukturen der Brüder Strauch. Diese wird weiter verdeutlicht, indem auch der Maler, wie bereits sein Bruder, sich selber erfährt als entzweit in amorphes,,verwildertes' Inneres und versteinerte „Fassade" (Fr, 72), welche jenes starr umschließt. Diese in seiner Kindheit gründende, nach dem „ T o d der Großeltern" (Fr, 32) sich vertiefende Entzweiung erkennt der Maler ausdrücklich als Gegensatz zwischen rein verstandbestimmter Bewußtheit und unbewußter Sinnlichkeit: Die „Krümmung eines menschlichen Rückgrats" vergleicht er mit einer „Flußkrümmung" (Fr, 73), seine „Adern und Venen" mit „großen Strömen" (Fr, 85); Schlaf und Sexualität gelten ihm als Versinken in amorphem Gewässer (vgl. Fr, 250). Umgekehrt bezeichnet er die „Totenmasken", das „Scheinleben" äußerer Versteinerung als „verstandesmäßige Verstümmelung" (Fr, 248), die er explizit mit „Forschung" und „Wissenschaft" (Fr, 249) identifiziert. Solche Entzweiung objektiviert sich für den Maler seit seiner Kindheit in den Gegensätzen von „Großstadt" und „ L a n d " (Fr, 31), Industrialisierung und „Bauerntum" (Fr, 109). Urbanisierung wird zur Chiffre „verstandesmäßige[r] Verstümmelung" zwar nicht ursprünglicher, aber bäurisch-vorindustrieller Naturordnung. Der Maler erinnert sich an S t a d t g e s c h ä f t e mit ihrem Fleischgeruch. F a s s a d e n und Mauern und nichts als Fassaden und M a u e r n , bis es wieder aufs L a n d hinausging, o f t überraschend, von einem T a g auf
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den andern. W o wieder Wiesen anfingen, gelbe, grüne; braune Äcker, schwarze Wälder. |...] Wildes Aufwachsen, wo Pferde waren, Geflügel, Milch und Honig. Dann wieder: abgeführt werden aus diesem Urzustand, angekettet sein an Vorhaben, die über ihn hinausgingen. Pläne mit ihm. (Fr, 72)
Durch solch jähes Wechseln zwischen „Fassaden" und vergleichsweisem „Urzustand" wird im Maler als Kind nicht die Vermittlung zwischen den beiden Aspekten seines Selbst gefördert, sondern deren Entzweiung perpetuiert. „Die Kindheit", erklärt er, sei zu ihm gekommen, „wie ein Mensch in ein Haus hereinkommt mit alten Erzählungen, die schauriger sind, als man sich denken kann, als man fühlen kann, als man ertragen kann: und die man, weil man sie immer hört, nie gehört hat. Noch nie." (Fr, 70)
Dieses Zitat erhellt die innere Entzweiung als bereits in der Frühzeit des Malers schroff ausgeprägt: Nicht er selber, sondern seine „Kindheit" erscheint als „Mensch", sein Selbst hingegen als steinernes Haus, das die kindliche Lebendigkeit starr umschließt. Diese ist bereits hier virtuell entmächtigt zu „alten Erzählungen", zurückgenommen in Phantasie. Diese Konstellation gemahnt an eine Bemerkung aus der Horkheimer/ Adornoschen ,Dialektik der Aufklärung', die nicht zufällig von den „Mächten der Auflösung" handelt: „Furchtbares", so die Autoren, „hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt." 63 Aber diese allgemeine Einsicht wird in Frost durch die spezifisch historische und — als deren Korrelat — familiäre Situation in der Malerkindheit konkretisiert. Wichtig ist die Erkenntnis, daß sowohl die Metapher des Selbst als „Haus" (Fr, 70) wie auch deren Gegensatz — Kindheit, Lebendigkeit — nicht als ahistorische Invariablen, sondern als dem geschichtlichen Zugriff unterworfen konzipiert sind. Diese Historizität der Strauchschen Selbstentzweiung wird gerade durch deren Objektivation im Stadt-Land-Gegensatz deutlich, welche die idyllisierende Kennzeichnung ländlicher Kindheit als „Urzustand" (Fr, 72) beträchtlich relativiert. Bereits die großelterliche, dem Enkel mitgeteilte Furcht vor „wilden Tieren''^ und „reißenden Flüssen" (Fr, 31) erhellt, daß die überkommene Konnotation des ländlichen Raumes als scheinbar gewaltlose und harmonische „Zähmung" naturhafter „Massen" 64 in dem Maß zweifelhaft wird, in dem die katholisch-feudale Hierarchie zerfällt, die jene bannte. Entsprechend erweist der rastlose Wechsel zwischen Stadt und Land, daß die Großeltern im historischen Umbruch zwischen christlich-feudalem ländlich orien-
Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main S. 33. — Kurztitelnachweis: Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung. ''4 Canetti, Masse und Macht, S. 20 l,J
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tiertem und wissenschaftlich-industriellem urban zentriertem Herrschaftssystem so fieberhaft wie vergeblich ihr eigenes historisch obsoletes Selbst- und Weltbild mit den neuen Verhältnissen zu vermitteln suchen. Wie des Malers Kennzeichnung des eigenen Selbst als „ H a u s " erhellt, betrifft dieser Vermittlungsversuch auch ihn selber, da sein Bewußtsein sowohl das großelterliche Ordnungssystem reproduziert als auch dessen historische Gefährdung registriert. Den Stadt-Land-Unterschied erfährt der Maler als Kind vornehmlich als Gegensätze zwischen Fesselung und Freiheit, lebendiger und toter Natur und schließlich zwischen katholischem Ritual und funktionaler Fassade. Auf dem Land „kommen" die M o r g e n über ein K o r n f e l d herauf. U b e r den See. Ü b e r den Fluß. Ü b e r den Wald. V o m H ü g e l herüber. Im frischen Wind V o g e l s t i m m e n . Abende, die in Schilfrohr und Schweigen untergehen, in das er seine ersten G e b e t e hineinspricht. (Fr, 70 f)
Religiosität erscheint hier ausdrücklich als abhängig von der Erfahrung lebendiger — eigener wie äußerer — Natur. In der Stadt hingegen registriert er hinter „Fassaden und Mauern" den „Fleischgeruch" ( F r , 7 2 ) hingeschlachteter Tiere, toter Natur. Als genauen Gegensatz zur städtischen' „Schlachthaus"-Maschinerie (vgl. F r , 255) erfährt der Maler als Kind die ländlich-katholischen Todesrituale, die den Einzelnen noch im T o d mit einer verklärenden Aura umhüllen, welche ihn der Sphäre des nur Fleischlichen entrückt 65 : Bestimmte rituelle „Wörter" kamen ihm vor wie G e s a n g in ungeheurer Selbstbewegung: das W o r t L e i c h e n b e g ä n g n i s ' zum Friedhof hinaus und weit über ihn und alle F r i e d h ö f e hinweg, hinein in Unendlichkeit, in die Vorstellung, die Menschen von Unendlichkeit haben. (Fr, 70)
Deutlich wird sowohl des Malers lebenslängliche Prägung durch den Katholizismus seiner Kindheit als auch dessen Abhängigkeit von vorwissenschaftlichen Erkenntnisgrenzen, indem Strauch erklärt: Meine V o r s t e l l u n g von der Unendlichkeit ist dieselbe, die ich schon mit drei J a h r e n gehabt habe. N o c h früher. Sie fängt d o r t an, wo die Augen aufhören. (Fr, 70)
Aber bereits als Kind registriert er das Anachronistische solcher religiös verklärten Weltbetrachtung, deren Transzendenz, gleich der naiven Unendlichkeitsvorstellung, von der totalitären Immanenz naturwissenE s erübrigt sich, hier näher auszuführen, d a ß die „ S c h l a c h t h a u s " - M o t i v i k bzw. -Metaphorik, die in der fiktiven Welt W e n g wiederbegegnen werden, nicht zuletzt auch die finsteren K o n s e q u e n z e n .Schwarzachen M e d i z i n drastisch verbildlichen, so daß auch in dieser H i n s i c h t die Malerkindheit sowohl auf Figurenebene m i t der „ Z u k u n f t " des k ü n f t i g e n C h i r u r g e n als auf M o t i v e b e n e mit der erzählten G e g e n w a r t Wengs verklammert ist.
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schaftlichen Denkens durchdrungen und schließlich aufgezehrt wird. Ältlicher „Tanten" entsinnt sich der Maler, die zögen ihn an ihren häßlichen langen Armen in die Leichenhallen, höben ihn hoch über vergoldete Brüstungen, damit er ja tief in die Särge hineinschauen könne. Sie ließen ihn die Blumen für die T o t e n in der H a n d halten, und immer mußte er daran riechen und immer wieder hören: „Was der für ein Mensch war! Wie die schön ausschaut! Was der anhat als Toter! Schau! Schau! (Fr, 70)
Aber der sphärische „Gesang in ungeheurer Selbstbewegung" hat ihn zugleich „verfolgt, irritiert, in fürchterliche Zustände hineingezwungen"; die andächtige Totenschau der „Tanten" „versenkte ihn rücksichtslos in ein Meer von Verwesung." ( F r , 70) Dieses Bild erweist den T o d als auch biographischen Quell der Gewässermetaphorik in der Vorstellungswelt des Malers. Es gründet in der nämlichen Erfahrung, die insgeheim auch den Chirurgen ereilt hat, und die implizit in der architektonischen Kontur des Schwarzacher Kirche-Spital-Komplexes (vgl. F r , 162), explizit im Motivgefüge der fiktiven Welt Weng objektiviert ist: Die geistig-seelische Aura des vorgeblich unvergänglichen Einzelnen verkommt unter dem wissenschaftlich sezierenden Zugriff zu bröckelnden „Fassaden"; hinter „dicken Wände[n]" ( F r , 162) und güldener Brüstung bricht ein „Meer von Verwesung" auf. Aber wiederum wird auch deutlich, daß sich im Gegensatz von katholischer Totenweihe und dem ,chirurgischen' Blick aufs Lebendige als leblosem „Zellstoff" ( F r , 307) nicht nur die Unvereinbarkeit von christlichem und naturwissenschaftlichem Denken manifestiert, sondern auch die konstitutive Kontinuität, da erst das christlich-entzweite Weltbild Natur zu amorpher Materie abstrahierte, somit in aller sinnlichen Lebendigkeit T o d und „Verwesung" antizipierend. Es mag zunächst merkwürdig anmuten, daß in der Strauchschen Kindheitsskizze mehrfach „Eisenbahnzüge" erwähnt werden, die den Maler als Kind offenbar beträchtlich beeindruckten. Indes schwindet die Verwunderung über dieses nur scheinbar skurrile und beliebige Detail, wenn man die zeichenhafte Funktion der auch im Wengschen Gebirgstal motivischen „Eisenbahn" erkennt. Dieses technische Gerät, gleichsam das Symbol der ersten industriellen Revolution und sowohl Massentransportmittel als seinerseits beschleunigte Masse, repräsentiert in der fiktiven F r o s t - W e l t den ersten der drei Wengschen Industrialisierungsschübe und somit einsetzende Umwälzung überkommener Strukturen. Wie bereits erwähnt, ist die Wengsche „Eisenbahn" als genaue technische Entsprechung zum gleichfalls motivischen ,reißenden Fluß' konzipiert. Gleichsam eine Bresche in die „Felswände" ( F r , 8) als Festungswälle schlagend, öffnet sie das Gebirgstal dem von draußen anbrandenden ,Meer'. Solche metaphorische Identifikation des Zuges als nicht nur technische, sondern auch gesellschaftliche Reproduktion dynamisch-amorpher Natur begeg-
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net bereits in den Kindheitserinnerungen des Malers. Unmittelbar auf die Erwähnung der „Leichenhallen" als knapp noch von ,,vergoldete[n] Brüstungen" gedämmtem „Meer von Verwesung" folgt der Satz: „In Eisenbahnzügen hört er sich ,vorwärts' sagen." (Fr, 70) Kurz darauf referiert der Famulant eine scheinbar wirre Mischung von Erinnerungspartikeln des Malers, die hier auszugsweise zitiert und im folgenden analysiert werden: Abende, die in Schilfrohr und Schweigen untergehen, in das er seine ersten Gebete hineinspricht. [ . . . ] Ein gekentertes Boot, das ein Ertrunkener nicht mehr erreichen konnte. Hilferufe. [ . . . J Zwischen Grabsteinen wird ein Spiel gespielt, in dem Zahlen von einem zum andern geworfen werden. Totenschädel blinken in der Sonne. Türen gehen auf und zu. In Pfarrhäusern wird gegessen. In Küchen gekocht. In Schlachthäusern geschlachtet. In Bäckereien gebacken. In Schusterwerkstätten geschustert. In Schulen unterrichtet: bei offenen Fenstern, so daß einem angst und bang wird. Umzüge zeigen bunte Gesichter. Täuflinge schauen schwachsinnig. Ein Bischof läßt alle in Hochrufe ausbrechen. Eisenbahnerkappen werden an einem Bahndamm verwechselt, was Lachen hervorruft von Männern, die nur Arbeitshosen anhaben, sonst nichts. Züge. Lichter von Zügen. Würmer und Käfer. Blechmusik. Dann große Menschen in großen Straßen: ein Hisenbahnzug, von dem die Welt erzittert. (Fr, 71)
Genaue Analyse der Feinstruktur erhellt, daß diese Textsequenz mikroskopisch die „Auflösung" (Fr, 54) christlich-feudaler Statik in amorphdynamische Bewegung abbildet, die gesellschaftlich wie technologisch als Signum der Moderne erscheint: Die „ersten Gebete", die Strauch als Kind spricht, sind bereits der Abgesang auf katholisch-feudale Ordnung, die in der Bildersprache des /Yosi-Romans auf dem hierarchischen Gegensatz von felsigem Festland und in der Tiefe gebanntem Gewässer beruht. Die Lokalisierung des Betenden am „Schilfrohr" des Flußufers kündet somit schon vom drohenden Verlust des stabilen Standortes, den die Erinnerung an ein „gekentertes B o o t " verbildlicht 66 . Wie die Gebete mit „Schweigen" aufgenommen werden, so verhallen auch die „Hilferufe" des Ertrinkenden ungehört: Nicht mehr G o t t noch Katholizismus, sondern nurmehr „verstandesmäßige Klarheit" (Fr, 300) vermag gegen das ,Ertrinken' zu sichern. Das „zwischen Grabsteinen" gespielte „Spiel", in dem „Zahlen von einem zum andern geworfen werden", steht symbolisch für die „Mathematik", die der Maler wenig später (Fr, 81) ausdrücklich zum „Kinderspiel" erklärt, freilich zu einem, an dem man „zugrunde gehen" könne. Mathematik, als Theorie „grundlegend" (Fr, 81) für alle Naturwissen-
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Vgl. in der Famulantenbiographie die analoge Metamorphose des .Elternhauses' zum ,treibenden Boot' (vgl. Fr, 119, sowie Abschn. 4.11 dieser Studie), aber auch die Verschärfung dieses Motivs in Strauchs Erinnerung (hier ,gekentertes', dort ,treibendes Boot'), die des Malers formal minder privilegierter Position inhaltlich entpricht.
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schaft, abstrahiert die von christlicher Lehre als einzigartig geheiligten Individuen zu beliebigen Nummern und „Zahlen" und reduziert „Gebete" und Totenpredigt zum bloßen Sprachspiel, das auf kein Transzendentes mehr verweist. Durch Reduktion zum System arbiträrer Zeichen wird Sprache zum willfährigen Medium der verdinglichten Welt, in der „das W o r t , T o d " ' nicht mehr „hochtrabend" (Fr, 70) daherkommt, sondern nurmehr „Verwesung" und „Totenschädel" evoziert. Die verdinglichten Subjekte sind identisch mit ihrer sozioökonomischen Funktion, was sich in der Erinnerung des Malers als deren Einssein mit funktionalen und etikettierten Gebäudetypen verbildlicht. In der elliptischen Aufzählung der „Schlachthäuser", „Schusterwerkstätten" usw. produziert die Sprache großenteils nurmehr Tautologien: „Türen gehen auf und zu", aber keine Menschen erscheinen; man vernimmt förmlich die von Werkzeug, Stimmen und Maschinen verursachten Geräusche, aber sieht keine Gesichter; die branchenspezifischen Gebäudetypen umschließen die Einzelnen je als starres und konfektioniertes Selbst. Indem einerseits die aufgezählten handwerklichen Berufe eher an vorindustrielle Provinz als an die urbanisierte und industrialisierte Moderne gemahnen, zum andern aber tautologische Sprache und Individualitätsverlust der nurmehr funktionierenden Subjekte auf die standardisierte und geheimnislose Welt verweisen, wird auch diese Erinnerungssequenz des Malers als dem historischen Umbruch zugehörig erkennbar. Der einzige nicht tautologische Satz handelt von „Pfarrhäusern", in denen nicht um Seelen gerungen und mit Sündigen gehadert, sondern in profaner Sorge ums leibliche Wohl „gegessen" werde. Man wird noch diese an sich wenig alarmierende Mitteilung, daß auch Geistliche zuweilen leiblich sich laben, im Kontext der Strauchschen Kindheitsskizze als Signal generellen Verlustes christlicher Transzendenz deuten müssen, die in Frost als Ursache ,,verstandesmäßige[r] Verstümmelung" (Fr, 248), von Individualitätsverlust und „Diluviumszerfall" (Fr, 299) erscheint. Die sodann erwähnten „Umzüge" gemahnen, zumal im Kontext der „Gebete", „Grabsteine", „Pfarrhäuser" sowie im folgenden der „Täuflinge" und des ,,Bischof[s]", zunächst an katholische Prozessionszüge, somit an christlich-rituelle Bändigung der zu gemessener Bewegung verhaltenen, hierarchisch strukturierten und symbolisch aufwärtsgelenkten Massen. Jedoch wird die mittels katholischer Schlüsselbegriffe gestiftete weihevolle Atmosphäre zugleich erheblich irritiert durch Erwähnung der eher an pagane Maskerade und prangende Lebensfreude gemahnenden „bunte[n] Gesichter", gar durch Kennzeichnung der „Täuflinge" als nicht engelsgleich, sondern von Geburt an debil. Die hierauf folgende Mitteilung, daß die Bischofspredigt nicht etwa mit geziemendem andächtigem Schweigen, sondern mit johlenden ,,Hochrufe[n]" beantwortet werde, leitet das endgültige Umschlagen der evozierten Szenerie vom Bild hierar-
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chischer ritueller Ordnung in amorphe Dynamik ein. Wie stets im Bernhardschen Zeichensystem deutet die Verwechslung von Kopfbedeckungen 67 , hier der „Eisenbahnerkappen", ebenso wie die annähernde Nacktheit der Arbeiter auf deren Reduktion zu gleichförmigen Exemplaren, welche die katholische „Fiktion von Gleichheit" 68 als nurmehr kreatürliche Egalität von Gattungswesen realisiert. Die hierauf assoziierten „Züge" vollenden die Metamorphose des Prozessionszugs zum Bild entfesselter Masse als technisches ebenso wie als gesellschaftliches Phänomen. Im drastischen Bild der wiederum an Tod und „Verwesung" (Fr, 70) gemahnenden „Würmer und Käfer" kulminiert die stufenweise Vertierung der erst als „schwachsinnig", dann als gleichförmig, jetzt nurmehr als ekles Gewimmel visierten menschlichen Individuen. Wandelte sich im Ubergang von den „Hochrufefn]" vordem „Bischof" zum „Lachen" der ob ihrer Gleichförmigkeit belustigten Bahnarbeiter der Prozessionszug zum „Eisenbahnzug", so stiftet jetzt die Kennzeichnung des vom herandröhnenden Zug verursachten Geräuschs als „Blechmusik" die assoziative Metamorphose der „Eisenbahn" zum politischen Demonstrationszug, „von dem die Welt erzittert". Die hier motivische, dort metaphorische „Blechmusik" erhellt Eisenbahn und Demonstrationszug, industrielle und politische Revolution als vom nämlichen tosenden Takt beherrscht, der zurückweist auf die „reißenden Flüsse" (Fr, 31) als amorphe Natur. Dabei manifestiert sich in der assoziativen Herleitung naturwissenschaftlich-technischer Entfesselung inner- wie außermenschlicher Massen aus deren ritueller Bändigung im Katholizismus nicht nur, daß der Zerfall überkommener Struktur in gesellschaftlicher Entmachtung christlicher Lehre gründet, sondern wiederum auch die konstitutive Kontinuität dieses Prozesses, da naturwissenschaftliches Denken bloß die Konsequenz christlicher Entzweiung von Geist und Materie vollstreckt. Indem der Maler bereits als Kind sein Selbst als zum „Haus" (Fr, 70) versteinert erfährt, wird erkennbar, daß er, den großelterlichen Restaurationsversuch reproduzierend, sein Selbst als identisch und unveränderlich festzuhalten bestrebt ist — dies indes zu einem historischen Zeitpunkt, da „zwischen Grabsteinen", die noch die Toten als unverwechselbar und unvergänglich fixieren, bereits „Zahlen von einem zum andern geworfen werden" (Fr, 71), die schon die Lebenden zu austauschbaren, mechanisch funktionierenden Variablen reduzieren. Wenngleich der Maler an dieser Stelle nicht expliziert, wovon die „alten Erzählungen" handeln, von welchen seine als „Mensch" inkarnierte „Kindheit" ihm kündet, so erweist 67
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Vgl. die Bernhardsche Erzählung Die Mütze, die diese Chiffre breit und komplex entfaltet. Vgl. auch Abschn. 7.1 dieser Studie: Züge als Flüsse. Canetti, Masse und Macht, S. 21
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doch der Schauder, mit dem er sie aufnimmt, womit die „alten Erzählungen" ihn zugleich verlocken und bedrohen: „schaurig" (Fr, 70) sind sie als Verschlingung von Gefahr und Glücksverheißung, als Verlockung zur Selbstaufgabe, zu bewußtlosem Versinken im ,reißenden Fluß', in dem — so Novalis — „die arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt" 6 9 . — „Die Angst, das Selbst zu verlieren", heißt es sehr ähnlich in der ,Dialektik der Aufklärung', „und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor T o d und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war." 7 0 Ebenso hat der von den Großeltern „steil bergauf" geführte künftige Maler nicht nur furchtsam, sondern auch sehnsüchtig „ans Abstürzen gedacht. Ans Abstürzenkönnen, es mir gewünscht und vielerlei Versuche in diese R i c h t u n g . . . " (Fr, 70). Aber stets überwog die „blinde Entschlossenheit" zur „Erhaltung" 7 0 des steinernen Selbst: „aber man darf keinen solchen Versuch machen. Das ist grundfalsch." (Fr, 70) Indes gewinnt die in den „alten Erzählungen" sedimentierte bedrohliche Verlockung in der Erklärung des Malers gleichsam einen drängenden Unterton, der die historische Brisanz und Aktualität des Identitätsproblems in der Malerkindheit verdeutlicht. Die „alten Erzählungen" verheißen nicht nur, indem sie „schauriger" sind, „als man ertragen kann", eine individuelle Grenzen sprengende Empfindungsintensität. Vielmehr erfolgt diese Verheißung, die man bislang „nie gehört hat", weil sie gleichsam als Unterton alles Denken und Handeln begleitet, plötzlich mit mächtigerer, drängender Stimme, die man so „\n\och nie" vernommen hat. Bereits die Erinnerung: „In Eisenbahnzügen hört er sich ,vorwärts' sagen" (Fr, 70), zeigte den Maler als Kind von der Bewegung der „reißenden Flüsse" (Fr, 31), erregter Menschenmengen affiziert. Dieser von ihm unter dem großelterlichen Stillhaltebefehl beobachteten Entfesselung äußerer Massen korrespondiert die virtuelle Befreiung seiner eigenen, vom Selbst als starrem „Haus" umschlossenen Lebendigkeit, welche die in den „alten Erzählungen" sedimentierte Verlockung aktualisiert. „Wie ihn, so zogen mich Brennesseln für Augenblicke in eine teuflische Unzucht." (Fr, 72) Dieses Zitat gemahnt einmal mehr an die konstitutive Vermittlerfunktion des Icherzählers, dessen Bewußtsein sich hier bis in finstere Details als mit dem des Malers identisch erweist. Hinsichtlich Strauchs kündet es von „Augenblicke[n]", in denen der Maler als Kind sowohl der Verlockung, „die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben" 7 1 , nachgibt als auch für solche Selbstaufgabe sich masochistisch
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Novalis, Lehrlinge, S. 104 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 33 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 33
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bestraft. Noch der alternde und kranke Maler räsonniert in Weng über „das Mengenmenschenphänomen", das mich schon immer beschäftigt hat. Von der Menge geht eine krankhafte Sucht auf einen über, ihr angehören zu wollen, ihr angehören zu müssen, wissen S i e . . . Der Ekel ihr anzugehören, der gleiche Ekel, ihr nicht anzugehören. Bald ist es der eine Ekel, bald ist es der a n d e r e . . . Aber die Menschen sind immer die Menge, die Masse. Jeder einzelne ist die Menge, die Masse, auch der, der hoch oben zwischen Felswänden steckt und nie aus diesen Felswänden herausgekommen, immer hoch oben geblieben ist . . . (Fr, 191 f)
Das ist die zwiespältige Botschaft der „alten Erzählungen" (Fr, 70) in der Malerkindheit, die durch objektive und allumfassende Entfesselung amorpher Masse nie gekannte Macht und Brisanz erlangt. Aber zeitlebens wird im Maler der „Ekel", der Masse „anzugehören", über die „Sucht", „ihr angehören zu wollen", knapp gebieten und ihn festhalten als starr versteinertes Selbst. „Die Kindheit: abgeschüttelt von einem Baum, soviel Früchte für keine Zeit!" (Fr, 72) Auch dieses Bild erhellt die christliche Provenienz der Strauchschen Bewußtseinsstruktur. Die verlockenden „Früchte" sind ihm verboten, wie ihm auch Geschlechtlichkeit als „das Zerstörende", als ,,verbotene[r] Anblick" (Fr, 33) gilt. Aber dieser starre Entschluß, das eigene Selbst nach dem katholisch-feudalen Vorbild steinerner Erhabenheit zu fixieren, findet nach dem Niedergang dieser seine Kindheit prägenden und sein Bewußtsein präformierenden Ordnungssysteme seine objektive Entsprechung nicht mehr in christlicher Unvergänglichkeitsverheißung, sondern nurmehr in naturwissenschaftlicher' fassadenhafter Versteinerung, in ,,verstandesmäßige[r] Verstümmelung" des Lebendigen als „Totenmaskenball" (Fr, 248). Das ehedem christliche Selbstbild des Baumes, von dem er die verbotenen „Früchte" abgeschüttelt hat, wird ausgangs der Strauchschen Kindheit zum metaphorischen, in Weng motivischen mürben Gehölz, an dem er sich festhält, „wie man sich an einem Baum anhält, der auch schon morsch ist, aber doch noch ein Baum", und Vernunft und H e r z seien von ihm fort, abgedrängt worden in den Hintergrund. (Fr, 20)
6.3 Jugend als Vereinsamung Solche Verdrängung von „Vernunft und H e r z " in den „Hintergrund" des Bewußtseins vollzieht sich indes nicht über Nacht, sondern als quälend in die Länge gezogener Prozeß, der in der Jugend des Malers einsetzt und erst endet mit seinem T o d . „Aber die Kindheit war ihm am grauenhaftesten an dem T a g " , berichtet der Icherzähler, „an welchem er hinter seinen Eltern seine Großeltern nicht mehr hatte." (Fr, 32) Erneut begegnet in
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diesem Zitat, diesmal mit Blick auf die familiäre Figurenkonstellation, jene Metapher des Hintergründigen, Mehrdimensionalen, die somit mikrostrukturell die Strauchschen „Großeltern" mit den Bewußtseinskategorien und Erfahrungsdimensionen „Vernunft und Herz" assoziiert. Es verwundert daher nicht zu erfahren, daß der künftige Maler, der sich nach dem „Tod der Großeltern" (Fr, 32) wieder auf die „Eltern" angewiesen sieht, diese gleichsam ,,verstandesmäßige[r] Verstümmelung" (Fr, 248) seiner kaum erst der Kindheit entwachsenen Person anklagt: Er habe „die schlechteste Erziehung gehabt, die denkbar schlechteste". Der Vorteil, daß sie sich nicht um ihn kümmerten, habe sich später als „grausiger Irrtum" erwiesen. Im Grunde hätten sie sich von allem Anfang an keine Gedanken über ihn gemacht. „Mit Gedankenlosigkeit aber werden keine Kinder erzogen. Gekümmert, ja, um meine Schuhe. Nicht um mein Herz. U m mein Essen. N i c h t um meinen Geist. Später, viel zu früh, ab dreizehn, kann ich sagen, nicht einmal mehr um mein Essen, um meine Schuhe." (Fr, 72 f)
Strauch erscheint hier förmlich als Inkarnation derjenigen Aspekte des äußerlich versteinerten Chirurgenselbst, die dieser zugunsten schier verstandbestimmter eindimensionaler Bewußtheit in charakteristischer Widersprüchlichkeit sowohl virtuell zu vernichten als fassadenhaft zu erhalten sucht: „Vernunft und Herz", Körperlichkeit, Religiosität. Bereits an dieser scheinbar planlosen Aufzählung erkennt man, wie dem verselbständigten Verstand als irrational alles eins wird, was sich der Quantifizierung und folglich Operabilität entzieht. Wie die Eltern hinsichtlich des Geschicks ihres jüngeren Sohnes, hat auch der Chirurg sich „von allem Anfang an keine Gedanken gemacht" über die subjektive Konsequenz der von ihm projektierten „Zukunft" (Fr, 31). Die elterliche „Gedankenlosigkeit", die Erkenntnis des irrationalen Fundamentes hypostasierter Rationalität verhindern soll, wird der spätere Assistent reproduzieren als Reflexionstabu. Und wie dieser nur widerwillig selbst seine elementaren „Körperansprüche" (Fr, 66) befriedigt und sich „hütet", sowohl „mehr als das Vorgeschriebene zu glauben" (Fr, 200) als auch vom Glauben explizit sich loszusagen, so erhalten auch die Eltern den jüngeren Sohn bloß formal am Leben und zollten christlich-feudaler Vergangenheit formalen Tribut, indem sie den künftigen Maler den Großeltern überließen. Der „Tod der Großeltern" wird für Strauch als „Verlust" der letzten Objektivation reine Verstandbestimmtheit transzendierender Erfahrungsweise „sein allergrößter Verlust" (Fr, 32). Vor der durchs großelterliche Ableben markierten Zäsur erfuhr er „Verstand" und „Empfindungen" (Fr, 75) noch nicht durchweg als durch jenen unversöhnlichen Gegensatz entzweit, der ihn später die Beziehung zwischen Menschen „zwei Bergen" vergleichen läßt, „die durch einen reißenden Fluß voneinander getrennt sind." (Fr, 145) Daher auch wähnte er sich augenblicksweise im „Einklang" mit der „Geschichte", die ihm noch nicht als bloße
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„Natur", als übermächtiger Widersacher individuellen Glücksverlangens erschien: Die Geschichte durchforschte ihn, und er tat dasselbe mit der Geschichte — und Einklang herrschte. Verstandesmäßig ging nichts so klar wie durch seine Empfindungen, die wohl die reinsten waren, die sich denken lassen. Von Kind auf geschult an Himmel und Hölle, an ihrem Zwischenreich. (Fr, 75)
Solche bereits sich verflüchtigende Harmonie wird unwiederbringlich zerstört durch einen Kommandoton, der sowohl an die bevorzugten Umgangsformen des Assistenten als an den bedrohlich nahenden Weltkrieg gemahnt: Doch waren das immer nur Augenblicke, die, wie ihm scheint, in jedem Menschen beheimatet sind und eines Tages, wie auf Befehl, nicht mehr kommen. Er hütete sich, mit Gewalt gegen seine „Empfindungszerstörer" aufzutreten. Er fluchte auf sie, und sie waren siegreich. Am Boden lag, wovon er sich ewige Heilung erhoffte. Zu seinen Füßen „das Reich der Möglichkeiten, das keine Schuld trifft". (Fr, 75)
Diese Erinnerung macht gleichsam die „verstandesmäßige" Militarisierung des Bewußtseins namhaft als Ursache von dessen Entzweiung mit „Vernunft und Herz" (Fr, 20). Die Klage: „Am Boden lag, wovon er sich ewige Heilung erhoffte", ist eine der Schlüsselerfahrungen Strauchscher Jugend. Nicht anders als der Assistent trachtet auch der Maler bereits in Kindheit und Jugend, sich als identisch zu fixieren nach dem Bild des Mauerwerks, dessen konstitutive Abhängigkeit von christlich-feudaler , Vergangenheit' deutlich geworden ist. Aber im Gegensatz zum Assistenten registriert der Maler, konfrontiert mit dem großelterlichen Tod, bereits in seiner Frühzeit die realhistorische Obsoleszenz und folglich Gefährdung steinern-hierarchischer Selbststruktur. Die zitierte Klage über den Verlust christlicher Hoffnung auf „ewige Heilung" gemahnt — erstens — überdeutlich an die (inhaltlich) analoge Erfahrung des Famulanten, der von „Gewittern" spricht, „die plötzlich alles zerstören, was für die Ewigkeit gedacht und gemacht und von allen geliebt worden war." (Fr, 118) Das Zitat erhellt — zweitens —, durch metaphorische Verschmelzung christlicher Heilsverheißung und medizinischer Heilungsintention zur „ewige[n] Heilung", sowohl die ursächliche Abhängigkeit der im Chirurgen projektierten naturwissenschaftlichen „Zukunft" von des künftigen Malers katholisch-feudaler ,Vergangenheit' als auch beider antinomische Beziehung. Denn drittens bildet die Strauchsche Erinnerung eine jähe Fallbewegung ab, welche den hoffnungsvoll auf den jenseitigen Fluchtpunkt aller Hierarchien gerichteten Blick abwärts zieht in amorphe Tiefe: „Heilung" sei künftig nurmehr zu erhoffen von diesseitig-immanenter Bändigung des Amorphen, somit gleichsam nurmehr von ,Schwarzacher Medizin'. Damit wird „Ewigkeit" zur individuellen Lebenszeit, christliche Heilsverheißung zum insistenten Ringen um Erhaltung des
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„umstoßbaren Organischen" (Fr, 307) reduziert; und nicht länger von „Vernunft" und Glauben als Medien des Göttlichen, sondern nur noch von verstandesmäßiger Erkenntnis der „Natur" sollen „Heilung" und Selbsterhaltung zu erhoffen sein. Diese im T o d der Großeltern zeichenhaft manifestierte materialistische Wendung hat Konsequenzen auch für das „Reich der Möglichkeiten" (Fr, 75), die Sphäre der Imagination und Phantasie. Nach dem hier noch unterschwelligen, später vom Maler explizit bekannten Verlust christlichen Glaubens, nach der Erhebung rein verstandbestimmter Erkenntnis zur beherrschenden Bewußtseinsinstanz kann Phantasie nicht länger beanspruchen, als Vorschein des Göttlichen im Vergänglichen das Unvergängliche zu entziffern; mit der Reduktion von Realität zu reiner Materialität wird auch Phantasie der totalitären Immanenz des Bestehenden zwangsintegriert. Unschwer erkennt man, daß in der Erinnerung des Malers folgerichtig auch das „Reich der Möglichkeiten" jene jähe Fallbewegung beschreibt, die bereits christliche Hoffnung auf „ewige Heilung" gleichsam herabstürzte ins „Meer von Verwesung" (Fr, 70), woraufhin — wie schon in der tautologischen Erinnerungssequenz des Malers (vgl. Fr, 71) — transzendente Realitätserfahrung zugunsten eindimensionaler Verstandeserkenntnis zergeht. „Die Nächte waren schlaflos, stumpf, grau", wird der Maler später dieses Erwachen in eine gewaltsam entzauberte Welt beschreiben, „manchmal bin ich aufgesprungen und sah langsam alles Erdachte falsch werden, wertlos werden, alles wurde nacheinander, folgerichtig, wissen Sie, sinn- und zwecklos . . . " (Fr, 28). Die Jugend des Malers ist zunächst geprägt durch inständige Gegenwehr gegen solches Erwachen. Wähnte er vor der Erfahrung von T o d und Heilsverlust seine „Möglichkeiten vertausendfacht", so sieht er diese jetzt jäh „zusammenschrumpfen auf einen verheulten Nachmittag" (Fr, 72). Aber gleich seinem Bruder hält auch er an jener in der Kindheit ihm eingeprägten statischen Selbststruktur fest, deren Reduktion zur eindimensionalen Fassade er freilich zugleich registriert: Sein Selbst ,schrumpft' auf „drei, vier Gewißheiten. Unabänderliche. Auf drei, vier Grundsätze. Grundrisse" (Fr, 72), in welcher letzteren Metapher man unschwer das Strauchsche Selbstbild als „Haus" (Fr, 70) wiedererkennt. Man muß sich indes vergegenwärtigen, daß in dieser Situation das metaphorische — später, in Weng, als „Gasthaus" motivische — „Haus" bereits einem zum Bersten überfüllten Kerker ähnelt, in welchem nicht mehr nur die als „Mensch" inkarnierte „Kindheit" interniert ist, sondern zudem auch die verlorene metaphysische Hoffnung auf „ewige Heilung" sowie die ums zerschlagene „Reich der Möglichkeiten" trauernde Phantasie. Die Strauchsche Jugend wird somit erkennbar als die Epoche, in welcher das stets schon gegen die bedrohliche Verlockung zur Selbstaufgabe errichtete Gemäuer sich auch noch der Legitimation durch „Ver-
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nunft und H e r z " (Fr, 20), Glaube und religiöse „Empfindungen" (Fr, 75) entledigt und mithin zur rein verstandbestimmten Fassade abstrahiert. Auf die biographisch früheste Entmächtigung der Verlockung, „die Grenze zwischen dem Selbst und anderem Leben aufzuheben" 71 , zu „alten Erzählungen", folgt demnach jetzt die restlose Degradation a l l e r verstandfremden Bewußtseinskategorien zu bloßer Phantasie. Dieser Entmächtigung und Internierung des unterschiedslos als irrational Verfemten entspricht der sukzessive Aufstieg des verselbständigten Verstandes zur beherrschenden Instanz, welche gegenläufige Bewegung sich auf Figurenebene im Brüderverhältnis manifestiert: Während sein Bruder seinen Weg machte, Stufe für Stufe hinaufstieg in seiner Laufbahn, mehr und mehr der Chirurg wurde, der er jetzt ist, verrannte sich sein Bruder in seine Gedankenwelt. (Fr, 32)72
Während der künftige Chirurg sich entschlossen naturwissenschaftlicher „Zukunft" verschreibt und den durch „Fassaden und Mauern" dringenden „Fleischgeruch" (Fr, 72) hingeschlachteter Lebendigkeit mehrt, klammert sein Bruder sich verzweifelt an die versinkenden Trümmer katholisch-feudaler Vergangenheit. Wie in der fiktiven Welt Weng stehen auch in der biographischen Frühzeit des Malers ländlicher Raum und „Bauerntum" (Fr, 109) für jenen vergleichsweisen „Urzustand" (Fr, 72), in welchem das „wirkliche Leben" noch nicht zu „Totenmasken" (Fr, 248) erstarrt gewesen sei: Er war so allein, daß er oft in fremden Höfen auf einem Treppenstein saß und vor Übelkeit glaubte sterben zu müssen. Tagelang ging er herum, sprach Leute an, die ihn für verrückt hielten, als ungezogen und ekelerregend empfanden. Auf dem Land erging es ihm da nicht anders: die Wiesen und Felder sah er oft tagelang nicht, denn vor Tränenwasser sah er nicht aus den Augen heraus. (Fr, 32 f)
Die elterlichen Projektleiter naturwissenschaftlicher „Zukunft" (Fr, 32) zeigen sich, mittels bewährter „Gedankenlosigkeit" (Fr, 73), ob solcher Entwurzelung und förmlichen Aufweichung des jüngeren Sohnes ungerührt: Dahin und dorthin schickten sie ihn und bezahlten für ihn. Oder sie blieben sein Dortsein, sein Dasein schuldig, und es war noch viel schlimmer für ihn. (Fr, 33)
Zu beachten ist an diesem Satz auch die Bedeutungsambivalenz seiner Konstruktion, die den syntaktisch aufgebauten, scheinbar diametralen Gegensatz zwischen den Brüdern durch Identität des je gewählten Subjektes („sein Bruder") konterkariert, so daß sich — in zwangloser Ubereinstimmung mit der grundlegenden These dieser Studie — die Lesart anbietet, der Chirurg habe z u g l e i c h die hierarchischen .Stufen' erklommen und sich in die chaotische „Gedankenwelt" „verrannt". — „Sie sind Ihr Bruder, Sie sind es nicht" (Fr, 305), konstatiert der Famulant andernorts diese antinomische Interdependenz der Strauch-Brüder, die sich hier als syntaktisches Verwirrspiel manifestiert.
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Die für Strauchs Bewußtsein konstitutive Entzweiung in verstandgelenkte „Fassade" und chaotisch-amorphes Inneres beginnt sich zu verhärten: Nach außen hin ließ er sich nichts anmerken, ging immer gut angezogen auf die Straße. Zu Hause aber, in seinem Zimmer, verfiel er, immer unausgeschlafener, in übelste Konstellationen. (Fr, 32)
Unübersehbar manifestiert sich der drohende Zusammenbruch seiner inneren Hierarchien in dem Protokollsatz des Famulanten: „Da alles in ihm drunter und drüber ging, verplemperte er seine Schulaussichten." (Fr, 33) Dabei erklärt sich sein schulisches Scheitern nicht etwa durch erziehungs- oder begabungsbedingten Mangel an Intelligenz oder Bildung —„Als er in die Schule eintrat, wußte er mehr als der Lehrer" (Fr, 31) —, sondern aus unbezwinglichem Widerwillen gegen das eindimensionale Denken der Epoche, in die er sich nach dem „ T o d der Großeltern" verschlagen sieht. Später wird er die Schule gleichsam als institutionalisierte „verstandesmäßige Verstümmelung" (Fr, 248) anklagen: „der Lehrer" gilt ihm als „Mundstück" seiner „Generation"; „das größte Unglück", „Krieg und Unrecht", gingen „von den Lehrern aus" (Fr, 198), da diese affirmativ die je herrschende Ideologie in ihren Schülern reproduzierten. Das wahre Gesicht der kontaktlosen Verschlossenheit des Assistenten ist die Einsamkeit, die den Maler zeitlebens als „grausiges Alleinsein" (Fr, 29) umfängt. Dieses resultiert unmittelbar aus der Entzweiung des Bewußtseins in starre Fassade und internierte, zu Phantasie entmächtigte Lebendigkeit: Das Alleinsein beschäftigte mich, soweit ich zurückdenken kann. Auch der Begriff des Alleinseins. Des Eingeschlossenseins in sich selbst. [ . . . ] Kindheit und Jugend waren ein ebenso grausames Alleinsein, wie mein Alter ein grausiges Alleinsein ist. Als hätte die Natur ein Recht darauf, mich immerfort abzudrängen, immer auf mich zu, in mich hinein, von allem fort, auf alles zu, aber immer an die Grenze. (Fr, 29)
Indes darf man diese Behauptung des Malers nicht unreflektiert übernehmen; denn gewiß war es nicht „die Natur", die ihn von eigener wie äußerer Lebendigkeit absperrte, sondern im Gegenteil der „Verstand" als absolut gesetzte Instanz, die ihn nach dem Bild des Berges oder Hauses petrifiziert. „Gefühlskälte, ja", bekennt der Maler wenig später, „mit den Jahren macht man eben radikalere Abstriche, fallen die Schnörkel weg zugunsten einer rustikaleren Ausdrucksweise, zugunsten des Verstandes . . . " (Fr, 54). Und nachdem er gewissermaßen Zutrauen zum Famulanten gefaßt hat, gesteht er gar explizit, nicht etwa seine „Natur", sondern die in der Kindheit ihm eingeprägte Furcht vor dem reißenden Gewässer in seinem ummauerten Innern habe ihn ,abgedrängt' von Lebendigkeit: Strauch sagt, es würde ihn nicht wundern, eines Tages zu erfahren, daß ein ganz anderer er gewesen sei. „Feststellen", sagt er, „daß eine krankhafte Einstellung der N a t u r
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gegenüber mich gar nicht in mich hereingelassen hat. Das wäre doch denkbar?" Er kam auf einen bestimmten glücklichen Zeitpunkt seiner Jugend zu sprechen, deckte ihn aber gleich wieder mit der Bemerkung zu: „Die Rinnsale, die uns erfrischen, sind sie nicht hervorgerufen durch Unwetter?" Vor dem Einschlafen starrten die Menschen in die Schaumkämme der Meere, „ganz grundlos, gedankenabwesend, noch nicht im T r a u m . " (Fr, 270)
Der Interpret hätte nur eine Phrase gewonnen und sich dafür einer wesentlichen Erkenntnischance begeben, wenn er sich damit begnügte, die Widersprüchlichkeit der Strauchschen Einlassungen zu seiner „ N a t u r " als vermeintlich weiteres Wahnsymptom zu buchen. Vielmehr manifestiert sich hierin, weit erhellender, jener konstitutive Widerspruch, in den sich der Verstand durch seinen absoluten Herrschaftsanspruch unauflöslich verwickelt, da er sich als abhängig von individueller Lebendigkeit erkennt, auf deren Reduktion zu Leblosem seine Macht zugleich fußt. Wie bereits die vom Maler in seiner Kindheit erfahrene Entmächtigung kindlicher Lebendigkeit zu bloßer Poesie erhellte, bestand der Kompromiß zwischen Selbsterhaltung und Selbstverneinung, zwischen versteinertem Subjekt und verweigerter Subjektivität stets schon in letzterer Sublimation zu realitätsentsagender Fiktion und Phantasie. „ T r a u m " und „Ästhetik", nicht zufällig dem Chirurgen verhaßt (Fr, 200), sind gleichsam der Preis, den das Selbst für rigide Versagung sinnlicher Lebendigkeit entrichtet. Aber im revolutionären Ubergang von christlicher Vergangenheit zu naturwissenschaftlicher „Zukunft" erfährt das Verhältnis von Selbst und Phantasie eine diametrale Wandlung; im vom Maler erlebten Sturz des ,,Reich[s] der Möglichkeiten" in amorphe Tiefe verbildlicht sich gleichsam die schockhafte Einsicht der zur Jahrhundertwende begründeten Psychoanalyse, daß sich in „ T r a u m " und „Phantasie" nicht etwa die lichte Sehnsucht der Seele, sondern finster-unbewußte Triebe, Eros und Thanatos, manifestierten. Phantasie, bislang eher vermittelnde Instanz zwischen Versagung und Erfüllung, wandelt sich damit zur Emanation des Amorphen, gleichsam zu Dämpfen, die aufsteigen vom „reißenden Fluß" (Fr, 145) in der Tiefe, um das statisch-erhabene Bewußtsein zu umnebeln und erweichen. Mithin kommt Phantasie im scheinbar rein verstandbestimmten Strauchschen Bewußtsein eine antinomische Doppelfunktion zu: Zum einen wird sie erkennbar als hassenswerte und furchtgebietende Macht der „Auflösung", zum andern aber — und hieraus erhellt die formale Kontinuität von ,Vergangenheit' und „Zukunft" — erweist sich die Entmächtigung von Lebendigkeit zu Phantasie als zwar nicht mehr recht vertrauenswürdige, aber einzig verfügbare Möglichkeit des Verstandes, seinen Herrschaftsanspruch zumindest notdürftig zu sichern. Die antinomische Verstrickung verselbständigten Verstandes wird somit daran faßbar, daß dieser in dem Maß, in dem er alles Verstandfremde: „Vernunft und H e r z " , Seelisches und Sinnliches, als „natürliche Spur" 7 3
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verfemt und in den „Hintergrund" (Fr, 20) drängt, zugleich das innere Meer des Amorphen mehrt, folglich jeden seinerseitigen Machtzuwachs mit komplementärer Stärkung des ,,Phantastische[n]" (Fr, 201) bezahlend. Auf das Verhältnis der Brüder Strauch bezogen, ließe sich mithin konstatieren, daß mit jeder „Stufe" (Fr, 32), die der Chirurg erklimmt, die Vorstellungswelt des Malers zugleich weiter anschwillt und zu Amorphem als in „Schaumkämme" (Fr, 270) sich weiter auflöst; je mehr rein verstandbestimmte Wirklichkeit als Fassade inhaltlich verarmt und formal sich abstrahiert, desto mehr wird das zu Phantasie entmächtigte „Reich der Möglichkeiten" (Fr, 75) zugleich inhaltlich bereichert und formal fragmentiert und destrukturiert. Aber bei solcher Gegensatzbildung darf man wiederum nicht vergessen, daß b e i d e Strauch-Brüder bei bloß unterschiedlicher Akzentuierung stets b e i d e Aspekte des antinomisch entzweiten Bewußtseins in sich bergen. Sieht der Assistent sein steinernes Selbstideal als „Gebirgsmassiv" (Fr, 201) vom internierten Amorphen bedroht, so sucht umgekehrt der Maler sich mittels verstandesmäßiger Ummauerung seiner chaotischen „Gedankenwelt" (Fr, 32) vor dem Versinken im Chaos seines Innern zu sichern. „Nein, diese Mauer übersteige ich nicht" (Fr, 28), erklärt er entschieden, nicht minder asketisch und rigide selbstbewahrend als der Chirurg. Auf sich „selbst angewiesen", wird er wenngleich mühsam mit allem „fertig", was sein starres Selbst von innen her bedroht: Kr suchte Freunde, fand aber keine. Es kam schon vor, daß er glaubte, da wäre ihm plötzlich ein Freund erwachsen, aber dann war es nur Täuschung, aus der er sich ängstlich zurückzog. In noch mehr Verwirrung, noch mehr Aufhörenwollen, noch mehr Unklarheit hinein. Das Zerstörende, Verführende des Geschlechts kam dazu, der Umgang mit verbotenem Anblick, Krankheiten, mit denen er, auf sich selbst angewiesen, fertig werden mußte, verstörten ihn. (Fr, 33)
Gemahnt bereits diese Identifikation von Geschlechtlichkeit und „Krankheit" unübersehbar an den Chirurgen, so erfolgt wenig später die Erfolgsmeldung, die den Sieg des entsagenden Selbst über jegliche Verführung zu realer Lebendigkeit signalisiert: „Keine Verliebtheit, keine Lächerlichkeit, kein Opfer." (Fr, 72) Durch solche Erinnerungen wird die nur scheinbar naheliegende Erwartung, im Künstlertum des Malers manifestierten sich Verwandlungsfähigkeit und Lust am Unidentischen als bewegliche Gegenbilder zum starren Assistenten, nachhaltig enttäuscht. Zwar war der Maler in seiner Frühzeit ein „Verkleidungsgenie", das die „obersten wie die untersten
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Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 30
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Rollen [ . . . ] gespielt" (Fr, 314) habe. Aber gerade seine Feststellung, solches Rollenspiel sei „doch nie nur Spiel gewesen" (Fr, 315); gerade seine Einsicht, „man" sei „nicht immer derselbe, der man ist" (Fr, 314), hat ihn stets nur in der Anstrengung bestärkt, sein Zerfalls- und verwandlungsbedrohtes Selbst als starren ,Grundriß' (vgl. Fr, 72) zusammenzuhalten. Und gerade im Gelingen dieses rigiden Bestrebens gründen seine Einsamkeit, sein Scheitern, seine Kunst. Zuweilen wähnt er sich verwandelt, vom starren, als illusionär durchschauten Identitätszwang befreit: „Als wäre ich im Augenblick ein ganz anderer." Aber „da ist es wieder: Ja, ich bin ich selbst. Sehen Sie: mein ganzes Leben lang! . . . Und ich bin niemals ausgelassen gewesen! Niemals! Nicht froh! Nicht, was man glücklich nennt!" (Fr, 34) Entsprechend dienen auch seine Versuche als Künstler weniger eigener Verwandlung als starrer Selbsterhaltung: Als Fortführung der Schwarzacher „Operation" (Fr, 162) mit sublimen Mitteln sind sie der scheiternde Versuch einer Selbsttherapie, die wiederum die geheime Identität von Arzt und Patient, Krankheit und Medizin erweist.
6.4 Gemälde als „Geschwüre": Zu Strauchs Künstlertum Auf realistischem Textniveau läßt sich die Epoche der Strauchschen ,,künstlerische[n] Versuche" (Fr, 32) rekonstruieren als zunächst stetig ansteigende Linie sozialen und materiellen Erfolges, die den Maler — analog zur Karriere des Chirurgen — aus „Armut" und ,,übelste[n] Konstellationen" (Fr, 32) über die „Kunstakademie" (Fr, 33) zu „Reichtum" (Fr, 67) und positiven Kritiken von „Kunsthändlern]" und „Kritiker[n]" (Fr, 132) führt. Nachdem Strauch „seine Schulaussichten" verdüstert hatte, versuchte er sich erst vergeblich als Angestellter in einem „Büro" (Fr, 33) und schließlich auf der Kunsthochschule. Aber obwohl ihm „Stipendien" zuerkannt werden und er „die Abschlußprüfungen in allen geforderten Fächern" absolviert, muß er rückblickend konstatieren: „Es wurde aber nichts aus mir." (Fr, 33) Dieses erneute Strauchsche Scheitern bedarf der Erklärung, die man wiederum in einseitiger Fixierung auf die realistische Textschicht vergeblich sucht. Am Anfang der Strauchschen Künstlerkarriere steht die Erfahrung der „Armut": „In dem Grad, in dem die Armut zunahm, Schloß er sich mehr und mehr ab." (Fr, 32) In diesem Begriff sind aber wiederum realistische und symbolische Bedeutungsschicht vermittelt: Zwar impliziert die Strauchsche Erinnerung durchaus auch materielle Not des angehenden Künstlers. Aber in dieser monetären „Armut" manifestiert sich zeichenhaft die innere, emotionale Verarmung des Malers, der drohende Verlust individueller Erlebnis- und künstlerischer Gestaltungsfähigkeit:
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Seine „künstlerischen Versuche" ließen zu wünschen übrig. Er selbst sah oft allzu deutlich, daß das, was er, wenn auch qualvoll, hervorbrachte, nichts war, worüber man hätte ins Staunen kommen können, geschweige denn in Hochrufe ausbrechen. Alltäglich erschien ihm, was aus ihm hervorging. Alles bröckelte ab. (Fr, 32)
Wie die Metapher ,abbröckeln' erhellt, erfährt Strauch das relative Mißlingen seiner „künstlerischen Versuche" als Bedrohung seiner als „Haus" (Fr, 70) verbildlichten Selbststruktur. Bedeutsam ist überdies, daß er die Mediokrität seiner wenngleich „qualvoll" hervorgebrachten ästhetischen Produkte nicht auf eigene individuell-beliebige Mittelmäßigkeit zurückführt, sondern als generelle Krise der Kunst im anbrechenden naturwissenschaftlichen Zeitalter erkennt: Eine Berühmtheit verriet die andere vor Augen, die deutlicher sahen, als ihnen zuträglich war. Gespenstisch auch, weil das Unerreichbare so leicht herunterzudrücken war wie nichts. Abgekanzelter Heroismus, verstehen Sie. Notdürftig in Lügenbeziehung gerückter Snobismus. Der Unscheinbarste zu Entscheidungen fähig, die sonst nur Könige fällen. Eine ganze Besitzergreifergeneration hatte ich um mich versammelt, in drei, vier, fünf, sechs Menschen, die gleich mir auf der Suche nach dem Ungeheuren abstürzten in die Mittellosigkeit ihrer Gefühle. Mit R o m wurde umgegangen wie mit einem Bierkrug, den man rasch austrank. (Fr, 205)
Nicht zufällig gemahnt der auf der „Suche nach dem Ungeheuren" erfolgte Absturz in die „Mittellosigkeit" — folglich sogar noch verschärfte „Armut" — der „Gefühle" an den zuvor vom Maler beklagten Sog, der ineins mit christlicher Hoffnung auf „ewige Heilung" auch das „Reich der Möglichkeiten" (Fr, 75) herabriß in diesseitige Immanenz. Explizit führt Strauch die von ihm konstatierte Krise der Kunst auf den Niedergang von Feudalismus und Katholizismus zurück: „Der Unscheinbarste" wird zum unwürdigen Erben einer Entscheidungsbefugnis, die einst — wie etwa in des Malers „Herrenhäuser"-Vision (vgl. Fr, 230) — Monarchen vorbehalten war; und „Rom" als Symbol katholischer Hierarchie und Tradition wird gar zum metaphorischen „Bierkrug", den die „Besitzergreifergeneration" „rasch austrank", um in ihrer Zerstreuungs- und Neuerungssucht nach raffinierterer Ablenkung auszuspähen. „Gespenstisch auch" scheint dem Maler, daß das einst „Unerreichbare so leicht herunterzudrücken war wie nichts": wie das Nichts, als welches sich das einstige „Reich der Möglichkeiten" nach der scheinbaren Verwirklichung seiner Verheißungen erweist. Vor ihrer zwangsweisen Integration und Degradation zu „verordnetem Trost" und „Reizmitteln", so Herbert Marcuse 74 , waren Literatur und Kunst wesentlich Entfremdung, hielten den Widerspruch aus und bewahrten ihn — das unglückliche Bewußtsein der gespaltenen Welt, der vereitelten
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Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Darmstadt 1 4 1980. S. 79. — Kurztitelnachweis: Marcuse, Der eindimensionale Mensch.
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Möglichkeiten, der unerfüllten Hoffnungen, der verratenen Versprechen. Sie waren eine rationale, eine Kraft der Erkenntnis, die eine Dimension von Mensch und Natur bloßlegte, die in der Wirklichkeit unterdrückt und verstoßen wurde. 75
Eben diese transzendente Dimension gilt Strauch als „Reich der Möglichkeiten". Marcuse nicht minder als der Frosi-Maler registriert das „Gespenstisch[e]" (Fr, 205) des Prozesses der „Entsublimierung", in welchem die „oppositionellen und transzendenten Elemente" einstiger feudaler Kultur und damit auch der Erkenntniskraft von Kunst dem „Fortschritt technologischer Rationalität zum Opfer fielen" 76 : Das Gespenst, von dem das künstlerische Bewußtsein seit Mallarme heimgesucht wird —die Unmöglichkeit, eine nichtverdinglichte Sprache zu sprechen, das Negative mitzuteilen, hat aufgehört, ein Gespenst zu sein77.
Dieses Marcuse'sche „Gespenst" demonstriert seine Macht auch in dem vom Maler beklagten Scheitern der „Besitzergreifergeneration", deren „Suche nach dem Ungeheuren" jäh endete mit dem Sturz in die „Mittellosigkeit ihrer Gefühle", die in zwangsweiser Vermittlung mit verdinglichter Sprache zu .Alltäglichem' (vgl. Fr, 205) zergehen. In des Malers subjektiver Erinnerung manifestiert sich präzise jene historisch objektive Krise der Kunst und künstlerischen Individualität, auf die der Asthetizismus des Fin de siecle durch kompensatorische Apotheose der real bereits als Branche integrierten künstlerischen Sphäre, durch Flucht in vorgeblich realitätsenthobene subjektive Innenwelt reagierte. Aber durch solchen Rückzug mauert der Einzelne sich gerade von der Lebendigkeit ab, die er durch seine Flucht in Imagination zu retten suchte. So auch der Maler Strauch, der in direktem Anschluß an seine oben zitierte Klage, lebenslänglich sei er „ich selbst" und „niemals ausgelassen" gewesen, ausführt: Weil immer die Sucht zum Außergewöhnlichen, Eigenartigen, Exzentrischen, zum Hinmaligen und Unerreichbaren, weil überall diese Sucht, auch was die Folterungen des Geistes anbelangt, mir alles verdorben hat. Wie ein Stück Papier hat es mir alles zerrissen! Meine Angst ist eine durchdachte, eine zergliederte, zerfledderte, eine in ihre Einzelheiten zerlegte, nicht niederträchtige. Ich prüfe mich fortwährend, ja, das ist es! Ich laufe immer hinter mir her! Sie können sich vorstellen, wie das ist, wenn man sich selbst aufschlägt wie ein Buch und lauter Druckfehler darin entdecken muß, einen nach dem andern, auf jeder Seite wimmelt es von Druckfehlern! Und alles ist trotz dieser vielen hundert und tausend Druckfehler meisterhaft! Es handelt sich um eine Aneinanderreihung von Meisterstücken! . . . (Fr, 34)
Der sich hier manifestierende latente Ästhetizismus des Malers gemahnt zunächst wiederum an die strukturelle Identität von Maler- und Famulan75 7I' 77
Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 81 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 76 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 88
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tenbewußtsein. Wurde weiter oben vor dem Hintergrund des Hofmannsthalschen ,Der T o r und der T o d ' die traumhafte Halbbewußtheit des Famulanten als ästhetische Distanz erkennbar, so gemahnt jetzt der Strauchsche Vergleich des eigenen Selbst mit einem „Buch" explizit an die Klage des T o r e n Claudio, der sein „Leben" erlebt gleich einem „Buch, das man zur Hälft' noch nicht und halb nicht mehr begreift" 7 8 . Erklärt der Maler, seine „Angst" — jene Kindheitsfurcht vor „Zukunft" und „reißenden Flüssen" (Fr, 31) — sei eine „durchdachte, eine zergliederte, zerfledderte", so klagt sehr ähnlich Hofmannsthals Claudio über die Strauchsche „Mittellosigkeit" der „Gefühle" (Fr, 205), über des Malers „Empfindungszerstörer" (Fr, 75), als welchen Claudio den ,,überwache[n] Sinn": sein verstandgelenktes Bewußtsein namhaft macht: Wenn ich von guten Gaben der Natur J e eine Regung, einen Hauch erfuhr, So nannte ihn mein überwacher Sinn, Unfähig des Vergessens, grell beim Namen. Und wie dann Tausende Vergleiche kamen, War das Vertrauen, war das Glück dahin. Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt! 79
In dem „Buch", als welches der Maler „sich selbst aufschlägt" (Fr, 34), sind die „alten Erzählungen" seiner „Kindheit" (Fr, 70) verzeichnet, die Marcuse'schen zerstörten Hoffnungen und Möglichkeiten. Dieser, als der Selbstverneinung ,,verschwistert[em]" „Glücksversprechen" 80 , sucht der Maler habhaft zu werden und zugleich sein starres Selbst als „Haus" (Fr, 70) zu bewahren: „Ich stoße überall an die Mauern, die um mich herum sind." (Fr, 34) Vergeblich sucht er zwischen der von ihm affirmierten Verstandesherrschaft als rigider Bewahrung des fassadenhaften Selbst und sinnlicher Empfindung individueller Lebendigkeit zu vermitteln: Der positivistische „Verstand" denunziert Individualität und Emotion, das „Reich der Möglichkeiten" und die Hoffnung auf „ewige Heilung" als transzendente Erfahrungsmodi stereotyp als „Druckfehler", als irrationale Abweichungen von standardisierter Selbststruktur — dies jedoch namens eines steinernen Selbst, dem die Verheißung individueller Einzigartigkeit und Unvergänglichkeit sedimentiert ist: „trotz dieser hundert und tausend Druckfehler", die anzuprangern der Verstand nicht müde wird, erscheint dem Maler das eigene Ich als „meisterhaft", als „Aneinanderreihung von Meisterstücken" (Fr, 34). Aber wie der Maler in seiner „Herrenhäuser"-Vision nurmehr mühsam eine versinkende Welt be-
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