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German Pages 340 Year 2014
Thomas Meyer Die phantastische Gabe des Gegen-Gedächtnisses
Lettre
2014-07-29 10-41-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c0373039515294|(S.
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4) TIT2849.p 373039515302
Thomas Meyer lehrt deutsche Literatur und Sprache an der Sophia Universität in Tokyo und an der Dokkyo Universität in Saitama. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gedächtnis- und Schrifttheorie.
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Thomas Meyer
Die phantastische Gabe des Gegen-Gedächtnisses Ethik und Ästhetik in Thomas Bernhards »Auslöschung«
2014-07-29 10-41-22 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c0373039515294|(S.
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4) TIT2849.p 373039515302
Dissertation der Universität Konstanz. Tag der mündlichen Prüfung: 23. Juli 2013 Referent: Prof. Dr. Manfred Weinberg Referentin: Prof. Dr. Juliane Vogel
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Inhalt
Vorwort | 7
TEIL I: GEDÄCHTNIS [MNEMOTECHNIK] Herkunftskomplex | 19 1.1. Erbe(n): Wolfsegg | 19 1.2. Genealogie – Ökonomie – Geschichte | 27 1.3. Ich-Komplex | 37
1.
2.
Mnemotechnik der Auslöschung | 47
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7.
Simonides-Legende: Gedächtniskultur | 47 loci et imagines | 56 Initiation | 63 Ökonomie | 72 Gerechtigkeit | 78 Theater | 81 Das Scheitern der Erinnerung | 91
TEIL II: GEGEN-G EDÄCHTNIS [MNEMOPHANTASTIK] 1.
Zukunftskomplex | 101
1.1. Überwindung des Fotografiezeitalters | 101 1.2. Die (Un-)Möglichkeit der Entscheidung: das Erbe verschenken | 111 1.3. Die offene Gruft | 120 1.4. Junggesellenmaschine | 127 1.5. Eisenbergrichtung | 137
Die ungeheure Schrift | 151 2.1. Intertextualität | 151 2.1.1. Zwischen Telegramm und Testament | 151 2.1.2. Das Gedächtnis der Namen und Texte | 161 2.1.3. Beamtenliteratur | 169 2.1.4. Der implizite Text | 172 2.1.5. Der (Anti-)Kanon | 178 2.2. Wider den Frauenplan | 182 2.2.1. Muttersprache | 182 2.2.2. Das Aufschreibesystem um 1800 | 188 2.2.3. Mutter(-)Natur | 193 2.3. Traumtext | 202 2.3.1. „Das geheimgehaltene Denken“ | 202 2.3.2. Zwischen Traum und Realität | 205 2.3.3. Der Traum (in) der Auslöschung | 210 2.3.4. Zwischenspiel: Schwager-Figur und Widerstand der Realität | 214 2.3.5. Erhabenheit | 222 2.3.6. tabula rasa | 226 2.4. Immanenz: das Subjekt als Bühne | 230 2.4.1. Denkkerker: die Auslöschung im Kopf | 230 2.4.2. Schwarzmalerei | 234 2.4.3. Wachtraum: Theater der Grausamkeit | 245 2.4.4. Schweigen | 252 2.5. (Mnemo-)Phantastik: die andere Memoria | 258 2.5.1. Übertreibungskunst | 258 2.5.2. Gegen-Gedächtnis | 262 2.5.3. Heterochronie/Heterotopie | 269 2.
3.
Die Gabe des Gegen-Gedächtnisses | 277
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
Opfer | 277 Anti-Faust | 292 Gabe des Grotesken: Ethik und Ästhetik | 297 Transversale Vernunft und Hören | 309 (Un-)mögliche Über-Gabe | 316
Siglen | 323 Literatur | 325
Vorwort Die Einsicht in die Herkunft eines Werkes geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten! (FRIEDRICH NIETZSCHE, ZUR GENEALOGIE DER MORAL, 94.) Ich übertreibe. Es ist alles ganz anders. Es ist alles immer ganz anders. Sich verständlich zu machen ist unmöglich. (THOMAS BERNHARD, VERSTÖRUNG, 29.)
Als sich Thomas Bernhards Todestag im Februar 2009 zum 20. Mal jährte, wickelte die Gedächtnismaschinerie routinemäßig ihre Geschäfte ab, ohne dabei auch nur annähernd ins Stocken zu geraten: die Feuilletons erinnerten an einen wohl irgendwie bedeutsamen, vielleicht sogar großen, auf jeden Fall aber streitbaren Schriftsteller; der Direktor des Berliner Ensembles ließ „zum unwiderruflich letzten Mal“1 das ihm einst gewidmete Bernhard-Dramolett Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen aufführen, in Köln wurde Immanuel Kant auf den Spielplan gesetzt, am Wiener Burgtheater vielsagend Der Schein trügt; der österreichische Sozialphilosoph und Literaturkritiker Alfred Pfabigan gab sein bereits zehn Jahre zuvor erschienenes Buch Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment neu heraus; mit der posthumen Veröffentlichung von Meine Preise durch den Suhrkamp Verlag wurden weniger in als mit Bernhards Namen (teils bekannte) Texte abermals zum Tausch gegen Geld angeboten. Das Erinnerungsbusiness versteht es, seiner zur rechten Zeit zu gedenken.
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Peter von Becker, „Erinnerung an Thomas Bernhard – Die Komödie des Geldes“, in: Die Zeit 7/2009.
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Mit etwas Verspätung und umfangreicher als geplant erschien im Dezember 2009 bei Suhrkamp eine Edition des Briefwechsels zwischen Thomas Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld, die – bei allen editorischen Verdiensten – im Einklang mit der Jubiläums- und Gedächtnisindustrie vor allem eines befördern dürfte: die Fortschreibung und Zementierung des in der Öffentlichkeit vorherrschenden Rufs des Österreichers als exzentrischer, skandalumwitterter sowie überaus geldgieriger Schriftsteller, als ewig grantelndes und polterndes „Genie“ (Unseld) und als besonders düsterer, todesaffiner, weil zeitlebens lungenkranker Autor. Wo Bernhard ein Künstler der Wiederholung ist, hält man auch die weniger virtuose, immer gleiche biografische Rückversicherung bei der Lektüre seiner Texte für legitim, die auf die Ermittlung der Identität von ‚Thomas Bernhard‘ abzielt und ihr zugleich sein Werk unterwirft, das unter diesem Zugriff an weitaus größerer Atemnot leiden dürfte als sein Schöpfer jemals infolge der schweren Lungenkrankheit, die seine Gesundheit lebenslänglich in Mitleidenschaft gezogen hatte. Es sind stets dieselben Themen und Schlagwörter, die nicht nur durch die Feuilletons kursieren, sondern auch den literaturwissenschaftlichen Diskurs prägen: Tod, Krankheit, Wiederholung, Monomanie, (Größen-)Wahnsinn, Misogynie, Skandal – jeweils biografisch fundiert. An nichts arbeitet sich der Kultur- und Wissenschaftsbetrieb so ab wie am Subjekt ‚Thomas Bernhard‘. Offenbar gilt es, Diagnosen abzusichern und zu bestätigen, bestenfalls Anamnesen zu komplettieren, um den von Krankheits- und Kindheitstraumata gezeichneten ‚Patienten Bernhard‘ hinter der schriftstellerischen Maskerade zu (be-)greifen und zu enttarnen. Der Autor soll sich (und sein Werk) endlich erklären, er soll gestehen, damit Heilung, eventuell auch Heiligung, möglich werde. Als Sigrid Löffler anlässlich des 10. Todestages des österreichischen Schriftstellers in der Zeit vom 11. Februar 1999 zu einer „Revision seines Werkes“ aufrief und die „Mythisierung und Musealisierung“ Bernhards kritisierte, ohne die Widersprüchlichkeit dieser Parallelisierung zu gewärtigen, schickte sie sich an, entgegen ihres Aufrufs vornehmlich zur Überwindung von ersterem und Forcierung von letzterem beizutragen, indem sie anstelle der Texte die „ganz real[en]“ Landschaften und Orte der Bernhard-Romane und schließlich seinen Halbbruder Peter Fabjan aufsuchte, um nicht minder „rührend detailpusselig“ über die ‚Funde‘ zu berichten, als sie es den Erzählungen von Bernhards Nachlassverwalter vorhielt, wohl um sich und die Leser zu vergewissern, dass das „Gespenst“, das nach wie vor durch Österreich spukt, wirklich gelebt hatte. Dieses Gespenst begann unmittelbar nach Thomas Bernhards Tod am 9. Februar 1989 sein Unwesen zu treiben, wollten doch viele Menschen in Österreich der Nachricht vom Ableben des Autors nicht so einfach Glauben schenken. Von
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der Beerdigung gab es schließlich kaum Augenzeugen, und die wenigen ‚Mitverschwörer‘ – unter ihnen Claus Peymann – konnten nicht als verlässliche Quelle gelten. Nicht wenige waren geneigt, die Todesnachricht für nichts anderes als eine weitere gemeine Provokation Bernhards zu halten, eine Finte, um womöglich nach einer kurzen Rückzugsphase lebendiger und infamer denn je im Narrenkostüm zurückzukehren. Solche Befürchtungen haben sich indes als unbegründet erwiesen. Schon 10 Jahre nach seinem Tod war die „Verstaatlichung“ Thomas Bernhards voll im Gange, wie Sigrid Löffler bemerkte: Der von ihm stets verunglimpfte Staat steuerte seinerzeit jährlich eine Million Schilling (damals 150000 Mark) zur Bernhard-Stiftung bei. Dies mag bei aller Aufregung zur allgemeinen Beruhigung ein wenig beigetragen haben. Und dennoch: Thomas Bernhard ist und bleibt ein Untoter. „[…] die meisten sterben vage, für das Auge vage, für das Gehirn vage, sind niemals tot“ (Ver 160), wie Fürst Saurau in Verstörung weiß2 und weshalb wohl auch die biografisch-psychologischen Ermittlungen fortgesetzt werden müssen. 3 Die Kurzschließung von Text und Autor sowie außerliterarische Fundstücke suchen auch literaturwissenschaftliche Fassungsversuche mit beharrlicher Regelmäßigkeit heim, als hätte es nie Michel Foucaults oder Roland Barthes‘ Schriften zur Autorfunktion, nie jene Paul de Mans zur Autobiografie gegeben, als handelte es sich bei Thomas Bernhard um einen Autor des von Friedrich Kittler beschriebenen Aufschreibesystems um 1800, als stellte das Subjekt (in der Literatur) des 20. Jahrhunderts noch eine verlässliche Größe dar. Was sich in den Versuch(ung)en dieser autobiografischen Lektüren offenbart, ist der Wissenschaftsglaube, der sich
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Vgl. Aus 618: „[...] denn auch das sogenannte starre Gesicht ist vollkommen in Bewegung, weil es nicht tot ist, selbst das tote Gesicht, weil es in Wirklichkeit nicht tot ist, undsofort.“
3
Mit besonderer Hartnäckigkeit zieht beispielsweise Helms-Derfert immer wieder biografische Versatzstücke zu vermeintlichen Erklärungen heran. Hermann HelmsDerfert, Die Lasten der Geschichte. Interpretationen zur Prosa von Thomas Bernhard (Kölner Germanistische Studien 39), Köln/Weimar/Wien 1997. Gleiches gilt etwa für Alfred Pfabigan, Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment, Wien 2009 oder Willi Huntemann, „‚Treue zum Scheitern’. Bernhard, Beckett und die Postmoderne“, in: Text und Kritik 43 (1991), 50ff. Vor allem Gitta Honeggers Buch Thomas Bernhard – „Was ist das für ein Narr?“, München 2003 ist nichts anderes als eine Abgleichung und Verrechnung von Bernhards Biografie mit seinem Werk.
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mit ebendiesem Aufschreibesystem um 1800 etabliert und fortan Einheit und Identität als ‚Wahrheit‘ liest, die unbegrenzten Kredit einfordert. Insofern ist es vielleicht keine „nebensächliche Bemerkung“ (Aus 213), wenn der Protagonist Franz-Josef Murau in Bernhards letzter, 1986 erschienenen, großen Prosaschrift Auslöschung. Ein Zerfall gleich zu Beginn auf „Drohund Bettelbriefe“ (Aus 19) von Leuten aus Österreich zu sprechen kommt, die sich über seine Zeitungsartikel beklagen und von ihm „Geld oder Aufklärung“ (ebd.) verlangen. Man mag solchen Briefen einen realen Hintergrund zuschreiben und Murau mit Bernhard identifizieren, wie zahlreiche Interpreten der Auslöschung es unverdrossen tun4: Es wird weder mit harter Münze noch mit Aufklärung zu rechnen sein, eher mit Blüten und Finsternis – mit Nachtschattengewächsen, wenn man so will, und diese sind bekanntlich nicht selten giftig. Wissenschaft hingegen verlangt stabile Währungen und zuverlässige Wechselkurse sowie Ertrag und Mehrwert, so dass es nicht verwundern kann, wenn alles für bare Münze genommen wird, wenn auch die Ausrufung des Auslöschungsprojektes als „Antiautobiografie“ nicht von autobiografischen Lektüren abhält und diese dunkle Vokabel auf einen erhellenden Begriff gebracht werden soll, wenn der Text dem jeweiligen Theorie-Design angepasst und dabei verstümmelt wird, um sämtliche Widerstandsreste und Restwiderstände aus dem Diskurs zu verdrängen und zu vergessen. Im verzweifelten und oft zweifelhaften Bemühen, dem zerfallenden Text eine Fassung zu geben, wird der Protagonist Murau ein ums andere Mal leichtfertig als Verfasser der vorliegenden Schrift deklariert5, schlimmstenfalls gar mit Thomas Bernhard gleichgesetzt oder aber
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U.a. Gudrun Kuhn, Ein philosophisch geschulter Sänger. Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards, Würzburg 1996, 207, Barbara Mariacher, „Umspringbilder“. Erzählen – Beobachten – Erinnern, Frankfurt am Main 1999, 160 oder Steffen Vogt, Ortsbegehungen: topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards "Der Italiener" und "Auslöschung", Berlin 2002, 284. Auch Irene Heidelberger-Leonhard ist bestrebt, die Auslöschung vermittels realer Aussagen des Autors Bernhard zu desavouieren, indem sie etwa seine Auseinandersetzungen mit Jean Améry zum Beleg für ihr Argument einer ethischen Verfehlung des Textes erhebt. Irene Heidelberger-Leonhard, „Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller“, in: Hans Höller (Hrsg.), Antiautobiografie. Zu Thomas Bernhards „Auslöschung“, Frankfurt am Main 1995, 193f.
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So z.B. Wilhelm Voßkamp, „Ein anderes Selbst“. Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 15), Göttingen 2004, 103 oder Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, 255f.
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ein unbekannter Herausgeber bemüht, Rom als Ort und Zentrum der Vollendung der Schrift betrachtet, seine Antipode Wolfsegg für den realen Schauplatz des Begräbnisdramas gehalten. Die Behauptung einer Realität bzw. einer Identität von projektierter Auslöschungsschrift und manifestem Text entspringt dem verständlichen Wunsch, Kontrolle über ein unbeherrschbares Werk auszuüben und die disparaten antagonistischen Kräfte in ein stabiles Gleichgewicht zu zwingen. Solche Lektüren funktionieren jedoch allein durch die Exklusion ihnen widersprechender oder sie wenigstens in Frage stellender Textstellen. Es ist unter anderem Ziel dieser Arbeit, solche Passagen in den Diskurs einzubringen, die bislang von ihm übersehen und marginalisiert wurden, und gerade ihre Heterodoxie für ein erweitertes Verständnis von der Funktion der Auslöschung geltend zu machen, wobei sie in dem eben angedeuteten problematischen Verhältnis zwischen Realität und Fiktion den schwankenden Untergrund der Imagination offenlegen werden. Es waren zuvorderst solche ‚Reste‘, solche weitgehend unbeachteten, bestenfalls am Rande wahrgenommenen Details, die mein Unbehagen an den einschlägigen Interpretationen zur Auslöschung auslösten und mich nötigten, den Text anders und immer wieder anders zu lesen: die vermeintlichen Nebenfiguren (Eisenberg und der Schwager Muraus), die Junggesellen, das Portal, die Einladungen, die Dunkelheit, die Brände, die Küsse, das Überborden des Traumtextes, die Farbmotivik, die mutmaßliche Vaterschaft Spadolinis, die Heterotopien, der Enthusiasmus, um nur einige aufzuzählen. Dass es keine abschließende und alles umfassende Interpretation eines literarischen Textes gibt, ist Konsens im literaturwissenschaftlichen Diskurs, um nicht zu sagen eine Banalität. Dennoch ist darauf zu insistieren, dass Thomas Bernhards Auslöschung sich in außerordentlicher Weise jeglichem hermeneutischen Zugriff entzieht6, ja sich wahrlich als „ungeheure Schrift“ (Aus 614) darbietet, die sich von keiner wissenschaftlichen Lektüre zügeln lässt, sondern je nach Fragestellung und Methodik neue, andere Interpretationen generiert, die sich wiederum nur auf selektierte Textstellen applizieren lassen. Jede Ordnung, die ein Interpret notwendigerweise zugrunde legt, muss zwangsläufig inkommensurable Motive und Textdetails übersehen, um ihre Gültigkeit zu erweisen. Stets gibt es Überbleibsel, die in neue Untersuchungen und Interpretationen münden.7
6
Vgl. Georg Jansen, Prinzip und Prozess Auslöschung. Intertextuelle Destruktion und Konstitution des Romans bei Thomas Bernhard, Würzburg 2005, 21.
7
Vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, 303f.
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Das Scheitern (der Interpretation) – und wie könnte es bei einem Bernhard-Text anders sein – ist unbedingt einzuplanen: „Wir müssen das Scheitern immer in Betracht ziehen, sonst enden wir abrupt in der Untätigkeit. [...] Wir müssen uns das Denken erlauben, uns getrauen auch auf die Gefahr hin, daß wir schon bald scheitern, weil es uns unmöglich ist, unsere Gedanken zu ordnen, weil wir, wenn wir denken, immer alle Gedanken, die es gibt, die möglich sind, in Betracht zu ziehen haben, scheitern wir immer naturgemäß.“ (Aus 370)
Mit dem Eingeständnis des Scheiterns ist jedoch gleichzeitig und paradoxal die Forderung verknüpft, „immer alle Gedanken, die möglich sind, in Betracht zu ziehen“, und das heißt, (sich) (an) „alles mögliche“ (Aus 32) zu erinnern. Eben dies rührt an das Dilemma der Schrift: Auslöschung ist ein Text, der aufs Ganze geht, ein totales Projekt und Vabanque-Spiel – alles oder nichts. Wenn in/mit (der) ‚Auslöschung‘ a l l e s ausgelöscht werden soll, dann muss zuvor daran erinnert worden sein.8 Diese aporetische Verschränkung von Erinnern und Vergessen definiert die Grenze der Möglichkeit des Textes. Postuliert wird ein (sich) erschöpfendes Gedächtnis, bei dessen Realisierung Scheitern und Gelingen zusammenfallen würden: alles u n d nichts. Dies verkennen all jene BernhardExperten – nach meinem Eindruck eine Mehrheit –, die allzu leichtfertig von einer erfolgreichen Durchführung des Auslöschungsunternehmens ausgehen. Wo Wissenschaft ihrem Gegenstand unweigerlich einen Rahmen setzen muss, um ihn ins Visier nehmen zu können, erweist sich dieser im Falle von Auslöschung als gebrochen, wodurch der Text a priori als prekär und seine Lektüre als riskant bestimmt wäre. Auslöschung ist ein Text, der sich (selbst) negiert, überbordet und verschlingt: unüberschaubare Fülle und Arabeske zum einen, unterstellte Selbstauslöschung und Nicht-Existenz zum anderen. Um sich nicht in den kapriziösen Wendungen sowie den unzähligen widersprüchlichen Fragmenten zu verlieren, müssen immer wieder aufs Neue Ursprünge, Zentren, Hierarchien, Wahrheiten, funktionierende Instanzen und fiktionale Ebenen supponiert werden, auch wenn der Text sie kontinuierlich dekonstruiert.9 Das Vergessen bleibt unweigerlich ebenso im Spiel wie das Postulat einer totalen Erinnerung. Es ist
8
Manfred Weinberg, Das unendliche Thema, Tübingen 2006, 304.
9
Markus Janner, Der Tod im Text. Thomas Bernhards Grabschriften. Dargestellt anhand von frühen Erzählversuchen aus dem Nachlaß, der Lyrik und der späten Prosa (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B/ Untersuchungen 85), Frankfurt am Main 2003, 37.
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der Begriff des Gedächtnisses selbst, der die Signatur dieser Ambivalenz und Heterogenität trägt und verspricht, für eine riskante Lektüre einen näherungsund übergangsweise adäquaten Diskurs bereitzuhalten, der gleichzeitig hilft, all die Themenfelder zu umreißen, die die Auslöschung unter der Perspektive ‚des‘ Gedächtnisses aufwirft: Erbe, Geschichte, Genealogie, Ökonomie, Theater, Phantastik, Ereignis, Ethik... – um nur die prominentesten aus dem unumgrenzbaren Feld des „unendlichen Themas“ (Gadamer) zu nennen. In diesem Widerspiel von Erinnern und Vergessen, von Leere und Fülle ist mit endgültigen Resultaten oder ausgeglichenen Bilanzen nicht zu rechnen, bestenfalls mit Zwischenergebnissen und Unsummen, mit Variationen und Ausweitungen der (Lektüre-)Möglichkeiten, die immer neue Korrekturen und Relektüren hervor treiben. Unter der Prämisse eines (sich) erschöpfenden Gedächtnisses ist meine Analyse zwangsläufig als horizontale – und defizitäre – angelegt. Damit einher geht das Erfordernis, Widersprüche grundsätzlich zu billigen und zu bejahen, was unter anderem für die esoterischen Chiffren (Auslöschung, Antiautobiografie, Vormittagsphantast, Eisenbergrichtung, Beamtenliteratur, Denkkerker, die offene Gruft etc.) bedeutet, dass sie nicht abschließend zu klären und infolgedessen im Gang der Untersuchung zu halten sind, die zudem nicht umhin kann, sich rückblickend immer wieder zu korrigieren oder noch nicht Erörtertem vorzugreifen. Die Affirmation von Aporien, das Sich-Abarbeiten an Begriffen und die implizite Wissenschaftskritik verweisen unwillkürlich auf dekonstruktivistische und poststrukturalistische Verfahren, die vornehmlich auf Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Jean-François Lyotard zurückgehen und zugleich einen wesentlichen Teil des postmodernen Gedächtnisdiskurses ausmachen. Vor allem Derridas Arbeiten zum Erbe und zur Gabe sowie Lyotards zur Erhabenheit, aber auch Deleuzes Begriff des Werdens und des Rhizoms bilden die Hauptkoordinaten meines theoretischen Bezugsrahmens. Da es keine konsistente Gedächtnistheorie gibt – was jegliche Zentrierungsintention von vornherein durchkreuzt – und der Diskurs vom Gedächtnis eine schier unendliche Anschlussfähigkeit aufbietet, scheint er gerade der Maßlosigkeit der Auslöschung mit ihren unkalkulierbaren Sprachexzessen und Unendlichkeiten sowie der Hypertrophie ihrer Verweisungsstrategien angemessen. Wie der Memoria-Diskurs sich selbst reflektiert und dabei Theorie und Thematik unweigerlich ineinanderblendet, so liegt dieselbe Autoreflexivität und wechselseitige Durchdringung von Theorie und Praxis in der Auslöschungsschrift vor und weist sie als unabschließbares, endloses Projekt aus. Mit dem sich an der Fragestellung des Erbe(n)s entzündenden Thema des Gedächtnisses und der damit verbundenen Frage nach dem Status des vorliegen-
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den Textes bzw. dem Gelingen des murauschen Unterfangens ergeben sich für diese Arbeit vier wesentliche Leitfragen: 1. Wenn meine Grundthese stimmt, dass die vorliegende Schrift nicht die angekündigte ‚Auslöschung‘ sein kann, was repräsentiert der Text dann? 2. Was bedeutet in dem bereits angeschnittenen Widerspiel von Erinnern und Vergessen (die) ‚Auslöschung’? 3. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der im Text genannte Kanon (Siebenkäs von Jean Paul, Der Prozeß von Franz Kafka, Amras von Thomas Bernhard, Die Portugiesin von Robert Musil und Esch oder Die Anarchie von Hermann Broch)? Anders gewendet: Welche literarische und literaturhistorische Dimension eignet dem Projekt der ‚Auslöschung‘? Oder noch einmal reformuliert: Gibt es einen dem „Herkunftskomplex“/„Wolfseggkomplex“ entsprechenden ‚literarischen Komplex‘? 4. Wie ist die sich unspektakulär gebende10 und den Text beschließende Geste der Abschenkung des Erbes zu verstehen? Dabei wird sich zeigen, ob dem Auslöschungsprogramm infolge des Erinnerungspostulats (angesichts von vergessenen Opfern des Nationalsozialismus) eine ethische Dimension zugeschrieben werden kann. Die alles unterminierende Paradoxalität lässt sich inhaltlich an der thematischen Grundstruktur des Erbe(n)s festmachen. Der Protagonist Franz-Josef Murau findet sich durch den plötzlichen Unfalltod seiner Eltern und seines älteren Bruders unvermutet in der Position des Erben wieder und soll nun den elterlichen Großgrundbesitz Wolfsegg übernehmen, den „Ursprungsort“ (Aus 16), vor dem er wegen traumatischer Kindheitserinnerungen, die auf familiären Verwicklungen in nationalsozialistische Verbrechen beruhen, zeitlebens geflohen ist. Dieses Trauma begründet seinen „Herkunftskomplex“ (Aus 201), von dem er sich just durch die geplante Auslöschungsschrift zu befreien sucht. Die Option einer Flucht in den angestrebten „Zukunftskomplex“ (Aus 386) qua Vergessen steht dabei gleichermaßen in Frage wie die der Übernahme des umstrittenen Erbes qua Erinnerung, die sich in der aporetischen Verquickung des Erbdilemmas überschneiden. Im ersten, der Mnemotechnik verpflichteten Teil dieser Arbeit will ich zunächst die Antagonismen von Auslöschung und (un-)möglicher ‚Auslöschung‘ nachzeichnen, um sie, ausgehend vom Begriff des Erbes und bezogen auf den „Herkunftskomplex“, auf den Gedächtnis-Diskurs auszurichten. Dies schließt einen theoretischen Teil zur Simonides-Legende, dem Begründungstext der Mnemotechnik, ein, aus dem sich ein erweitertes Themenfeld ableiten lässt, das einen
10 Dies führt entweder dazu, dass die Schlussgeste schlicht ignoriert wird, oder aber sie lässt Interpreten wie Heidelberger-Leonhard und Weinrich vom (moralischen) Scheitern der Auslöschung sprechen.
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umfassenderen Zugriff auf die Auslöschung verspricht sowie Anschluss- und Vergleichsmöglichkeiten mit den Texten des literarischen Kanons bietet, der die Grundlage für Muraus Unterricht mit seinem Schüler Gambetti bilden soll.11 Wo immer der Text selbst veritable Gedächtnistopoi aufruft und der Protagonist sich als genialer Hypermnemiker geriert, ist zu demonstrieren, wie Bernhard gerade seiner Selbsteinschätzung als „Geschichtenzerstörer“12 gerecht wird, indem er metaphysische Ordnungsprinzipien subvertiert und mithin die Frage nach einer ‚anderen‘ Form von Gedächtnis stellt. Wo der Text einer Bewegung vom „Herkunftskomplex“ zum erwünschten „Zukunftskomplex“ folgt, gilt es im zweiten Teil zunächst unter Voraussetzung ihrer möglichen Durchführbarkeit das anvisierte Ziel und damit die Funktion der ‚Auslöschung‘ zu eruieren sowie mit Blick auf die Intertextualität in ihrer literaturhistorischen Dimension zu erfassen. Mit der Bejahung des Textzerfalls und der Bestimmung der Auslöschung als Traumtext treten Merkmale eines ästhetischen Gedächtnisses hervor, das zuvor unterstellte Raumordnungen sprengt und andere Formen der Zeit ins Spiel bringt, was einerseits die rhetorische Funktion des gesamten Textes anficht, andererseits jedoch nur unter der Prämisse eines intakten metaphysischen Gedächtnisses zu erfassen ist. Vor dieser abgründigen Dialektik von exorbitanter Gedächtnisfunktion und -dysfunktion wird ein möglicher ethischer Grundzug der Abschenkung des Erbes bzw. des Auslöschungsprojektes im Allgemeinen zu verhandeln sein.
11 Ich werde den Kanon um einige Texte erweitern, die in der Auslöschung selbst neben den kanonischen Texten genannt werden oder aber sich aus strukturellen Vergleichen zwischen den Texten zur Konturierung der Diskurse anbieten. 12 Anke Gleber, „Auslöschung, Gehen. Thomas Bernhards Poetik der Destruktion und Reiteration“, in: Modern Austrian Literature 24 (1991), 89. Helms-Derfert vertritt hierzu die Gegenthese mit der Behauptung, die literarische Praxis der Auslöschung falle hinter die „Radikalität der von Thomas Bernhard zum poetologischen Programm erhobenen Geschichtenzerstörung“, wie er sie in Ungenach oder in Der Untergeher ausmacht, zurück. Helms-Derfert 1997, 149. Obwohl er kurz darauf konzediert, dass „das autobiographische Schreiben in dieser Fiktion gerade das Scheitern autonomer Selbstbegründung vorführt“, meint er, Muraus Auslöschung trotz „verwirrende[r] Brechung der Erinnerung auf zeitlich verschiedene Erzählebenen“ der Gattung ‚Autobiografie’ „durchaus zurechnen“ zu können. Ebd., 153 u. 158.
Teil I
Gedächtnis [Mnemotechnik]
1. Herkunftskomplex
1.1. E RBE ( N ): W OLFSEGG Beim Thema des Erbe(n)s geht es um einen Übergang zwischen zwei Epochen, zwei Generationen, zwei Zeiten. Der Tod vollzieht eine Zäsur und hinterlässt einen Riss, den es zu überbrücken gilt. Allein durch diesen Vorgang, der (sich) immer (als) eine Krise darstellt, ist die Möglichkeit von Geschichte gegeben. In dieser Krise stellen sich Fragen an die Vergangenheit und Zukunft (des Erbes), Fragen (nach) einer Philosophie der Geschichte, in der Techniken der Macht als Gedächtnis ihre Wirkung entfalten, um diesen Übergang traditions- und wunschgemäß sicherzustellen. Das Erbe wird zum Ereignis an zwei Grenzen, an der Schnittstelle einer zeitlichen und räumlichen Achse. Es hat statt zwischen zwei Entitäten (Personen, Familien, Institutionen etc.), kommt aus einer vom Tode beendeten Vergangenheit und soll durch einen Akt der (Wieder-)Aneignung (wieder-)belebt und in die Zukunft überführt werden. Der Vorgang des Erbens stellt somit eine anthropologische Technik dar, das Leben zu verlängern. Mit juridischen Verfügungen werden Anleitungen zum Wiederaufbau gegeben, der durch den Einbruch des Todes notwendig geworden ist. Das Instrument, das diesen problematischen Transit über die zeitliche und räumliche Bruchstelle hinweg gewährleisten soll, ist die Schrift, wie sie sich in ihrer Funktion der spatialen und temporalen Medialität in den Kapitelüberschriften „Telegramm“ und „Testament“ in der Auslöschung ankündigt. Der Tod wird zur doppelten Voraussetzung für den Text der Auslöschung: zum einen strukturell durch das (angebliche) Montaigne-Motto („Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da.“), zum anderen inhaltlich durch das Telegramm, das Murau den Tod seiner Eltern und seines Bruders mitteilt. Der Empfang der Todesnachricht ist auslösendes und konstitutives Moment für den Text, der daraus/darauf entsteht.
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Die Gedanken Muraus kreisen nicht nur um diese Lücke, die der Tod gerissen hat und die nun die Frage des Erbe(n)s und des Gedächtnisses stellt, sie konfrontieren ihn auch mit seinem eigenen Tod, was die Auslöschung von Beginn an in die äußerste Spannung eines dialektischen Verhältnisses stellt und am Ende mit der Verkündigung von Muraus Ableben die Erbproblematik nicht nur wiederholt, sondern auch bezüglich der vermeintlichen Vollendung von Muraus Auslöschungsprojekt zuspitzt. Mit Erhalt des Telegramms wird Murau unversehens zum Erben des elterlichen Großgrundbesitzes Wolfsegg. Die mit der Todesnachricht einsetzenden Reflexionen handeln von der materiellen und ideellen Bedeutung des Erbes mit all seinen Konsequenzen für denjenigen, der als Erbe eigentlich nicht vorgesehen war: den Ersatz- und Zweiterben (Aus 289f., 507). Die Frage, ob und wie das Erbe anzutreten bzw. zu übernehmen ist, konvergiert zusehends mit der Problematik, ob und wie die geplante ‚Auslöschung‘ zu schreiben sei. Dieser projektierte Bericht soll alles, was mit Wolfsegg zusammenhängt, „alles, das Wolfsegg ist“, beschreiben und auslöschen (Aus 199) und ist selbst wiederum ein übernommenes, geistiges Erbe seines Onkels Georg, das sich an dessen Projekt einer „Antiautobiografie“ anschließt: „Ich will wenigstens den Versuch machen [...] Wolfsegg zu beschreiben, wie ich es sehe, denn jeder kann nur beschreiben, was er sieht, wie es ihm erscheint, nicht anders. [...] Ich bin sicher, mein Onkel Georg hatte etwas ähnliches vor in seiner Antiautobiografie. Da diese Antiautobiografie meines Onkels nicht mehr da ist, habe ich selbst ja sogar die Verpflichtung, eine rücksichtslose Anschauung von Wolfsegg vorzunehmen und diese rücksichtslose Anschauung zu berichten.“ (Aus 197) „Das bin ich Onkel Georg schuldig.“ (Aus 201)
Muraus Reflexionen bezüglich des Erbes sind demzufolge von vornherein verstrickt in eine Aporie der Aneignung und des Auslöschens, der Kontinuität und des epochalen Einschnitts, der Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und der Versuchung, sich dieser komplett zu entledigen – mnemotechnisch formuliert: des Erinnerns und des Vergessens. Der Erbdiskurs des Erzählers Murau umschließt dabei im Wesentlichen zwei Diskurse, die eng miteinander verwoben sind: den (anti-)autobiografischen und den mnemotechnischen Diskurs. Dabei ist von einem Analogieverhältnis zwischen dem noch ausstehenden Projekt der ‚Auslöschung‘ (als ideellem Erbe seines verstorbenen Onkels) und Muraus Handhabung des elterlichen materiellen Erbes auszugehen, die den gleichen Bedingungen unterliegen: Es gilt den „Her-
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kunftskomplex“ (Aus 201) in einen „Zukunftskomplex“ (Aus 386) zu überführen – ein Zug des Textes, der seine gesamte Strategie charakterisiert. Nachdem Murau nach der Hochzeit seiner Schwester Caecilia mit dem stets nur als „Weinflaschenstöpselfabrikant“ titulierten Schwager gerade erst dem elterlichen Wolfsegg nach Rom entkommen war und nie mehr dorthin zurückkehren wollte (Aus 108), ist ihm durch den Unfall der Eltern und des Bruders das unverhoffte Erbe buchstäblich „auf den Kopf gefallen“ (Aus 619) und erzwingt eine Auseinandersetzung mit seinem „Ursprungsort“ (Aus 16), dem er fortwährend nur hatte entfliehen wollen. Im ersten, mit „Telegramm“ überschriebenen Textteil versucht Murau, sich über dieses Erbe mit all seinen Implikationen Klarheit zu verschaffen, und erinnert sich, wie er seinem Schüler Gambetti eine präzise Beschreibung von Wolfsegg geben wollte (Aus 153). Doch wie Muraus Gedanken beim Empfang der Todesnachricht durch das Telegramm erst einmal zu seinem Schüler Gambetti und der von ihnen im Unterricht behandelten Literatur abschweifen, ergießt sich auch diese Ankündigung zunächst in eine Digression über Philosophie und über das Denken (Aus 153f.), bevor die Skizzierung Wolfseggs tatsächlich folgt: „Ich war auch an diesem Abend, anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, die Gambetti noch auf der Flaminia für die Piazza del Popolo versprochene, auf einen meiner von mir selbst am meisten gefürchteten Exkurse gekommen, die ich meine philosophierenden zu nennen mir angewöhnt habe, weil sie sich in den letzten Jahren häufen, weil sie so fließend sind wie die Philosophie an sich, wie alles Philosophische, ohne daß sie tatsächlich mit Philosophie etwas anderes zu tun hätten, als ihren Beweggrund. Anstatt gleich die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zu geben, hatte ich Gambetti etwas über Nietzsche gesagt, das ich besser nicht gesagt hätte, etwas über Kant, das sogar völlig unsinnig gewesen war, etwas über Schopenhauer, das ich zuerst selbst als besonders qualifiziert angesehen, dann aber doch als ziemlich verrückt hatte erkennen müssen schon nach wenigen Augenblicken, etwas über Montaigne, das ich selbst nicht verstanden habe schon in dem Moment, in welchem ich es Gambetti gegenüber gesagt hatte; denn kaum hatte ich diesen Montaigne betreffenden Ausspruch Gambetti gegenüber getan, hatte mich dieser gebeten, ich möge ihm meinen gerade ausgesprochenen Ausspruch erklären, wozu ich nicht imstande gewesen war, weil ich schon in der gleichen Sekunde selbst nicht mehr gewußt hatte, was überhaupt ich über Montaigne gesagt hatte.“ (Aus 156f.)
Die Kontrastierung des (fließenden und dabei gleich wieder zerfließenden) Philosophierens mit der Philosophie opponiert gegen die platonische Philosophie-
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konzeption und wirft die Schwierigkeit der Abgrenzung von Diskursen, einhergehend mit der der Sinnzuschreibung, auf. Murau weist auf das unvermeidliche Wirken des Vergessens hin, das in paradoxaler Verschränkung mit dem Erinnern für die Konstitution eines Diskurses, namentlich seiner Abgrenzung von anderen Diskursen unerlässlich ist. Mit der Substituierung der Wolfsegg-Skizze durch einen philosophischen Dis-/Exkurs (des Scheiterns!) erklärt er nolens volens, dass eine korrekte Abbildung seines „Ursprungsort[es]“ nicht möglich ist, dass es keinen adäquaten Diskurs über Wolfsegg geben kann, wenngleich ein solcher für eine Entscheidung bezüglich des Erbe(n)s unabdingbar ist. Da aber jeder Diskurs lediglich Wiedergabe, Zitat und Metonymie und demnach zweite Realität zu sein vermag, bleibt der ‚eigentliche‘ Diskurs immer schon entzogen, ver(-)rückt, disloziert und stellt somit die Möglichkeit der Erbübernahme fundamental in Frage. Die schließlich folgende Deskription reflektiert diese Problematik, indem sie wiederum in zwei Teile zerfällt: zum einen in eine Beschreibung von unten, das heißt vom 100 Meter tiefer liegenden Ort aus, über den man das auf einer Höhe von 800 Metern liegende Wolfsegg erreicht (Aus 163f.) und von wo aus Wolfsegg gar nicht zu sehen ist, weil „ein dichter hochgewachsener Wald“ es vor unliebsamen Blicken schützt (Aus 164); zum anderen schwingt sich Murau zu einer Betrachtung aus der Vogelperspektive auf (Aus 183f.), die sich letztlich wieder in zahlreiche Digressionen auflöst. Demnach ist die visuelle Erfassung von unten verstellt und von oben imaginär resp. nicht synthetisierbar. Analog zu diesem gespaltenen und zugleich fragwürdigen Blick bleibt die Darstellung Wolfseggs – und mithin der gesamte Text – stets einer Multiperspektivität verpflichtet: Jede Perspektive wird mit einer Gegenperspektive kontrastiert, so dass ein abschließendes Urteil über Wolfsegg unmöglich wird. Folglich wird die sich aufdrängende Entscheidung über Wolfsegg bzw. über das Erbe kontinuierlich hinausgeschoben und mündet in weitere, (potentiell) endlose Gedankenzyklen. Die Wolfsegger Welt ist selbst wiederum in zwei Lager gespalten: das der Gärtner und das der Jäger (Aus 191), wobei Murau sich hier zunächst eindeutig auf der Seite der Gärtner positioniert, die er als seine Freunde bezeichnet, während die Jäger zur Partei seines Bruders zählen (Aus 190). Die Gärtner seien einfache Leute, sensibel und verständnisvoll, ihm gegenüber liebevoll und fürsorglich. Außerdem stehen sie in unmittelbarem Zusammenhang mit einem von Muraus Lieblingsgebäuden in Wolfsegg: der Orangerie (Aus 166). Die Jäger und das Jägerhaus werden der Sphäre seines Bruders und vor allem seiner Mutter zugerechnet. Sie „stellen die brutalisierte Welt dar“ (Aus 539). Ihre „anzüglichen Witze“ und „herrschaftlichen Sprüche“ sowie ihre „protzige, auftrumpfende Art“ wirken abstoßend auf Murau (Aus 191). In seiner typischen Übertreibungsrheto-
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rik werden die Jäger schließlich als „Radaumacher“ und „Aufwiegler“ abqualifiziert, darüber hinaus gar als „Mörder“, deren Morde, als Jagdunfälle getarnt, meist ungesühnt bleiben, was in dem Vorwurf kulminiert, sie seien Nationalsozialisten und Faschisten (Aus 192). Im Gegensatz dazu empfindet Murau die Gärtner als „die Natürlichen“ (Aus 538), die selbst an der von ihm mit ausschließlich negativen Attributen belegten Mutter eine positive Seite zum Vorschein bringen, wenn sie bei der jährlichen so genannten „Gärtnerjause“ Geschenke an die Familien der Gärtner verteilt und ihr Verhalten dabei ausnahmsweise nicht gekünstelt und aufgesetzt wirkt: „[...] ruhig teilte sie die Geschenke aus und alle hatten das Gefühl, es sei ihr ein tatsächliches inneres Anliegen, keine Schauspielerei, wie sonst alles. Wahrscheinlich hatte die Lebensart der Gärtner, so mein Gedanke, sogar auf meine Mutter eine solche gutartige Wirkung ausgeübt, dachte ich, denn bei den Gärtnern und also während der Gärtnerjause mit ihnen in der Kindervilla zusammen, war sie wie ausgewechselt, weit entfernt von allem, das an ihr immer so abstoßend gewesen ist. Bei den Jägern empfand ich meine Mutter immer als abstoßend, bei den Gärtnern nicht.“ (Aus 334)
Indessen ist die Trennung der zwei Lager bei weitem nicht so apodiktisch, wie es den Anschein nimmt, denn immerhin haben sie es jahrhundertelang nebeneinander ausgehalten (Aus 191). Trotz klarer Abgrenzung vom Bereich der Jäger gibt es eine Ausnahme, die die zuvor aufgebauten Differenzen wieder aufweicht und verschwimmen lässt. So übt das Jägerhaus gelegentlich doch eine Anziehung auf Murau aus, weil in dem sich darin befindlichen Arbeitszimmer seines Vaters ein Schreibtisch mit einer Carraramarmorplatte steht, die ihn fasziniert, zumal auch sein Onkel Georg früher auf dieser Platte „seine Einfälle notiert“ (Aus 190) hatte. Die Carraramarmorplatte, die Murau ebenfalls schon als Schreibunterlage diente, präsentiert sich somit als möglicher (Schreib-)Ort der Anknüpfung an Onkel Georgs Antiautobiografie. Dass sich die von Onkel Georg als idealer Schreibort ausgewiesene Marmorplatte (Aus 188) ausgerechnet im „nationalsozialistischen“ und „faschistischen“ Jägerhaus befindet und Murau sein Auslöschungsprojekt in die Nachfolge der verlorenen „Antiautobiografie“ (ebd.) stellt, unterstreicht die Ambivalenz seiner Erbintention. Was hier in Bezug auf das geistige Erbe der Antiautobiografie diagnostiziert wurde, gilt in gleicher Weise für das materielle. Die Jäger stehen für ein rücksichtslos auf Bereicherung und Anhäufung von Eigentum ausgerichtetes archaisches Jagd- und Beutesystem, wodurch Wolfsegg unter der Herrschaft eines „primitiven Geschäftsgeist[es]“ (Aus 32) zu einem „Besitzklumpen“ (Aus 37)
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verkommen ist, den Murau aufzulösen gewillt ist. Wolfsegg besteht nicht nur aus den zahlreichen Gebäuden, die Murau im zweiten, mit „Testament“ überschriebenen Textteil nacheinander aufsucht, sondern obendrein aus zwölftausend Hektar Land und mehreren Bergwerken (Aus 22). Wie jedoch im Begriff des „Besitzklumpens“ anklingt, ist Murau weniger am materiellen Wert des Erbes interessiert als am ideellen. Einzelne Gebäude, die eng mit positiven Reminiszenzen verbunden sind, verstärken seine Identifizierung mit Wolfsegg, darunter die Küche, die Orangerie, die fünf Bibliotheken und vor allem die Kindervilla, wogegen die übrigen der feindlichen Sphäre zugeordnet werden: Die Kapelle assoziiert er mit einem „Verdammungsraum“ und „Gerichtssaal“ (Aus 589), in der Meierei ekeln und ängstigen ihn die Tiere (Aus 593), die Leitzordnerwelt im Büro seines Vaters stößt ihn ab (602f.). Wie jedoch zuvor mit der Carraramarmorplatte inmitten des Negativen ein positives Element aufscheint, ist umgekehrt hier die Kindervilla, die für Murau eigentlich zum bewahrenswerten Bestand des Erbes zählt, mit Negativem kontaminiert, denn mit ihr verbindet er die schönsten und zugleich die traumatischsten Kindheitserinnerungen. Die Kindervilla, gebaut in der Art florentinischer Villen (Aus 184), ist (wie die Carraramarmorplatte und die Orangerie) als Element des Südens außergewöhnlich für die oberösterreichische Gegend. Murau schwärmt seinem Schüler Gambetti vor, dass sie das schönste Gebäude weit und breit im ganzen Land sei und einen unvorstellbaren Charme besitze (Aus 185). In ihr befindet sich ein Puppentheater, in dem einst kleine Theatervorstellungen stattfanden, bei denen die Kinder selbstgeschriebene Stücke zur Aufführung brachten (Aus 184). Da er schon lange den Wunsch hegte, diese Kindervilla restaurieren zu lassen, wofür seine Eltern jedoch kein Geld ausgeben wollten (Aus 184f.), keimt der Gedanke, das Erbe anzutreten, eben angesichts dieses Gebäudes seiner Kindheitsträume auf, das er nun wieder herrichten lassen möchte: „Die Kindervilla ist ein Kleinod, sagte ich, sie muß wieder so instand gesetzt werden, wie sie es einmal war, genau nach den alten Bildern, sagte ich. Und ich hatte den Gedanken, in kürzester Zeit mit der Restaurierung der Kindervilla anzufangen, ich hatte die größte Lust dazu.“ (Aus 400)
Doch ausgerechnet dieses von Murau so geschätzte Gebäude wurde den Nationalsozialisten „für ihre Versammlungen zur [...] Verfügung gestellt [...], [d]ie Hitlerjugend bastelte in der Kindervilla und studierte dort ihre stumpfsinnigen Nazilieder ein. Jahraus, jahrein flatterte von der Kindervilla die Hakenkreuzfahne“ (Aus 194). Überdies hatten seine Eltern in der Nachkriegszeit nationalsozialistische Freunde, zwei ehemalige Gauleiter, in diesem Gebäude versteckt und
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versorgt (Aus 441), weshalb Murau „die Kindervilla wegen ihrer Beschmutzer immer unheimlich geblieben“ (Aus 442) ist. Durch die Tatsache, dass dort lange Zeit zwei Massenmörder gehaust haben, ist ihm die Kindervilla unmöglich geworden (Aus 461). Gleichwohl hält er zunächst an der Idee einer Wiederherrichtung fest, um sie später wieder fallen zu lassen, da er die Absurdität seines Restaurationsplans erkennt und auch kein Erbe in Aussicht steht, der die Kindervilla einmal nutzen könnte: „In der Kindervilla suchte ich nach der Kindheit, aber ich fand sie natürlich nicht. In alle Räume trat ich, auf der Suche nach der Kindheit, ein, fand sie natürlich nicht. Zu welchem Zweck eigentlich, dachte ich, richte ich die Kindervilla her? Wo doch gar niemand mehr da ist, der die Kindervilla genießen, sie ausnützen kann, dachte ich darauf, daß es doch sinnlos wäre, die Kindervilla, so wie ich es bis zu diesem Augenblick vorgehabt habe, herzurichten, aus ihr wieder die Kindervilla zu machen, die sie einmal gewesen ist uns Kindern, dachte ich, das ist aber absurd, nur daran zu denken, denn die Kindheit läßt sich nicht mehr herrichten, indem ich die Kindervilla herrichte [...].“ (Aus 597f.)
Wie die Untersuchungen zum Jägerhaus (Carraramarmorplatte) und zur Kindervilla ergeben haben, bleibt ein Antritt sowohl des geistigen als auch des materiellen Erbes in aporetischen (Un-)Möglichkeitsbedingungen gefangen, die Murau buchstäblich hin und her treiben: In seiner Wohnung geht er auf und ab (Aus 301ff.), in Wolfsegg von einem Gebäude zum nächsten. Er befindet sich in einem Dilemma, das sich für ihn zunehmend zur Existenzfrage steigert. Einerseits sollte er sich schonen, da ihm sein Arzt in Rom ohnehin „kein längeres als nur noch ein kurzes Leben“ (Aus 620) prophezeit hat. Andererseits zwingt ihn das Erbe und die Ankündigung seines bevorstehenden Todes (vgl. Aus 155) gerade zu einer unverzüglichen Entscheidung, die die Realisierung der geplanten ‚Auslöschung‘ wie das Wolfsegger Erbe gleichermaßen betrifft. Das antiautobiografische Projekt würde indes auf eine „Selbstauslöschung“ (Aus 296) hinauslaufen, da Murau sich bei aller Ablehnung und Abgrenzung auch mit Wolfsegg identifiziert und er über die Verpflichtung gegenüber seinem Onkel hinaus persönliche Motive hat, über seinen „Herkunftskomplex“ zu schreiben, wodurch er glaubt, sich dessen entledigen zu können: „[...] denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist, alles [...]. Nach diesem Bericht muß alles, das Wolfsegg ist, ausgelöscht sein. Mein Bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung [...]. Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus. [...] Wir
26 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen.“ (Aus 199)
Im Erbe verknäulen sich historische, subjektive, ökonomische und literarische Motive, die sich wechselseitig bedingen und ein Hinausschieben der Annahme des Erbes bewirken. Wie oben gezeigt sind es jeweils historische Verbindungen zum Nationalsozialismus, die hier einer bedenkenlosen Erbübernahme im Weg stehen. Jacques Derrida spricht vom „Wesen des Tragischen“ in Bezug auf die „Bedingung dieser vor-ursprünglichen und im eigentlichen Sinne gespenstischen Vorgängigkeit des Verbrechens“1, das dem Begriff des Erbes innewohnt, den er in Marx’ Gespenster anhand von William Shakespeares Hamlet erörtert. Tatsächlich lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen Muraus und Hamlets existentiellem Dilemma ziehen. Wie im Staate Dänemark so ist auch auf Wolfsegg etwas zutiefst faul, die Zeit aus den Fugen geraten, und der durch seinen Onkel Claudius quasi enterbte Hamlet sowie der nie als Erbe vorgesehene Ersatz- und Zweiterbe Murau sind aufgerufen, Gerechtigkeit zu üben. Derrida sieht den dänischen Prinzen seine Mission als Rächer im Innewerden der Brüchigkeit dieser Grundlagen verfluchen, sofern Hamlet [...] das Recht aus der Rache kommen sieht, im Recht die Rache spuken sieht: Das Recht ist demnach immer schon von der Rache verdorben.2 Desgleichen ließe sich Muraus Auslöschungsprojekt als Racheplan3 gegen seine Familie deuten (vgl. Aus 99). Murau teilt Hamlets fundamentalen Skeptizismus 4 und zögert folglich das Handeln, das Treffen einer Entscheidung, ebenso hinaus: Sein oder Nichtsein, diese Frage schwebt auch über Muraus antiautobiografischem Projekt und steht im Zentrum von Hamlets wie Muraus Zögern. Bernhards Protagonist stolpert dabei in einer aufgeregten Gemütsverfassung über die Wolfsegger Bühne, die Hamlets „antic disposition“ (Ham I, V, 180) ähnelt und vor allem die Kommunikation mit seinen Schwestern und seinem Schwager immer wieder entgleisen lässt. Doch während Hamlet gänzlich in die Rolle des Wahnsinnigen verfällt, vermag sich Murau vermittels gegenläufiger Überlegungen ein ums andere Mal zu beruhigen und abzulenken.
1
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt am Main 1996, 43; vgl. Aus 458.
2
Anselm Haverkamp, Hamlet, Hypothek der Macht, Berlin 2001, 60f.
3
Vgl. Bernhard Sorg, „Die Zeichen des Zerfalls. Zu Thomas Bernhards ‚Auslöschung’ und ‚Heldenplatz’“, in: Text und Kritik 43 (1991), 78.
4
Zum Begriff des Skeptizismus in Hamlet siehe Christoph Menke, „Tragödie und Skeptizismus. Zu Hamlet“, in: DVjs 75 (2001), 561ff.
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Angesichts all des Unrechts und der Ungerechtigkeiten, angesichts der Unmöglichkeit, dem wirksam entgegentreten zu können, liegt der Selbstmord – ein fortwährend prominentes Bernhard-Thema – nahe. Doch Hamlet weicht zurück vor dem ‚Nichtsein’, weil er in ihm die Rückkehr des Seins ahnt („To die, to sleep; To sleep, perchance to dream – ay, there’s the rub“; Ham III, I, 65f.). Wie Emmanuel Lévinas in De l’existance à l’existant deutlich macht, heißt sterben (wie auch töten!), einen Ausweg aus dem Sein zu suchen: Flucht in eine Sphäre der Freiheit und der Negation. Im Leichnam indes erkennt er das Entsetzliche, weil dieser schon sein eigenes Phantom in sich trägt und von seiner möglichen Rückkehr kündet. In dieser Unmöglichkeit, aus einer anonymen und unzerstörbaren Existenz auszubrechen, offenbart sich für Lévinas das Tiefste der shakespeareschen Tragik, die er die „Fatalität des unverzeihlichen Seins [l’être irrémissible]“5 nennt, ein Sein, dessen Auslöschung Murau ebenso herbeisehnt wie verzweifeln lässt. Beider Weg führt letztlich in den Tod. Indes wird man bei Murau die Frage nach seinem Handeln am Ende anders beurteilen müssen als bei Hamlet.
1.2. G ENEALOGIE – Ö KONOMIE – G ESCHICHTE Die beschriebene Struktur des Erbe(n)s ist auch auf das soziale und kulturelle Feld übertragbar. Die Weitergabe von Traditionen gewährleistet das Fortdauern von kulturellen Errungenschaften. Die älteren Generationen nehmen somit Einfluss auf die jüngeren, wobei sie ihnen gleichzeitig ein gewisses Maß an Stabilität und Orientierung bieten, „indem diese auf bereits erprobtes Wissen und bewährte Erfahrungsschätze zurückgreifen können.“6 Dies stellt Anforderungen an eine Hermeneutik, alte Verbindlichkeiten und neue Erfordernisse zu deuten, um letztlich in einer Horizontverschmelzung beiden Rechnung zu tragen, was einem konstruktiven Traditionsverständnis Hans-Georg Gadamers entspräche.7 Da der Erbvorgang nicht von Automatismen bestimmt wird, bedarf es einer kulturellen Technik, die den Erbtransfer an nachfolgende Generationen sicherstellt. In modernen Gesellschaften ist dies der Aufgabenbereich der Erziehung. Die Zentralfigur auf diesem Gebiet ist die Mutter.
5
Emmanuel Lévinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg im Breisgau/München 1997, 74f.
6
Vgl. Ze’ev Levy, „Tradition, Erbschaft und Hermeneutik“, in: Werner Stegmaier (Hrsg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000, 488.
7
Ebd., 501.
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So auch in Wolfsegg: Ihr obliegt die Herrschaft über die Übergänge, indem sie „Hochzeiten und die Geburtenfeiern nach einem genau vorgegebenen Plan“ (Aus 322) nicht nur ablaufen, sondern zu Übungszwecken auch immer wieder von ihren Kindern und den Angestellten durchspielen lässt, um ein störungsfreies Prozedere zu garantieren sowie eventuellen Fehlinterpretationen vorzubeugen, „[...] weil man nie wissen kann“ (Aus 322), wie sie mit unfreiwillig luzider Plattitüde feststellt. Dieses mütterliche Vorgehen nach fixierten Plänen „für alle Arten von Festen“ ist Teil des Familienerbes auf Wolfsegg und schließt einen detaillierten Begräbnisplan ein (vgl. Aus 323). Die von uralten Traditionen überfrachtete transgenerationelle Erziehung in Wolfsegg wird – wie alles andere auch – vor allem von zwei Faktoren dominiert: dem Katholizismus und dem Nationalsozialismus. Muraus Eltern „[...] hatten von Geburt an immer nur nach den ihnen von ihren Vorgängern vorgeschriebenen Gesetzen gelebt und waren niemals auf die Idee gekommen, sich einmal eigene, neue Gesetze zu machen, um nach diesen von ihnen gemachten neuen Gesetzen zu leben [...].“ (Aus 46)
Als einziges Familienmitglied, das sich den Wolfsegger Konventionen widersetzt, wird Onkel Georg zum großen Vorbild für seinen Neffen. Er ist die wichtigste Bezugsperson in der Kindheit des Protagonisten. Die wenigen positiven Kindheitserinnerungen stehen meist direkt in Relation zu ihm und belegen dessen nachhaltigen Einfluss auf Muraus Haltungen. Die Kindheitserfahrungen mit Onkel Georg gleichen Initiationen, die ihm den Zugang zu einer Welt des Geistes eröffneten, welche jener der Eltern diametral entgegen stand. Er war es, der ihm die Schönheit der Literatur vermittelte (Aus 33) und ihm die Augen für die Musik und die Künste öffnete (Aus 34), was Murau schließlich dazu veranlasste, sein Leben als „Geistesmensch“ (ebd.) in Rom zu führen, und damit gleich seinem Onkel, der in Cannes gelebt hatte, dem elterlichen Wolfsegg den Rücken zu kehren, um eine schöngeistige Existenz in der südlichen Sphäre, im Exil zu führen. Onkel Georg, der Bruder seines Vaters, wird in Muraus Rückschau scharf mit seinen Eltern kontrastiert, weshalb er sich auch eher in dessen Nachfolge als in der seiner Eltern sieht: „Oft denke ich, daß ich viel von meinem Onkel Georg habe, mehr jedenfalls als von meinem Vater.“8 (Aus 31)
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Interessanterweise setzt sich Muraus Identitätssuche hier von seinem Vater ab, nicht von der verhassten Mutter. Die Aussage impliziert sogar, dass er eher Ähnlichkeiten mit dieser aufweist. Ich werde im Folgenden gleich darauf zurückzukommen.
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Anders als Muraus Eltern lebt Onkel Georg nur „nach seinen eigenen, von ihm gemachten Gesetzen“, die er zudem auch noch „alle Augenblicke umgestoßen“ hat (Aus 46). Er ist schließlich auch derjenige, der gegen die katholische Erziehung auf Wolfsegg aufbegehrt, was für Muraus weitere Entwicklung wegweisend werden sollte: „Meine Eltern hatten naturgemäß nur eine katholische Erziehung meinerseits in Betracht gezogen, sie hatten sich eine andere überhaupt nicht vorstellen können, hatte ich zu Gambetti gesagt. Soweit zurückgedacht werden kann, sind alle Generationen auf Wolfsegg katholisch erzogen worden. Bis mein Onkel Georg aufgetreten ist vor allem gegen den Katholizismus, was nichts anderes bedeutete als gegen alles. Mein Onkel Georg hat mir den Weg geebnet, ihn mir ermöglicht. Mich zuerst auf die Idee, dann auf den tatsächlichen Weg gebracht, auf den Gegenweg [...].“ (Aus 146f.)
Diese Gegenrichtung zum Katholizismus, für Murau „der Zerstörer der Kinderseele, der große Angsteinjager, der große Charaktervernichter des Kindes“ (Aus 141), deutet auf ein freies Denken hin und versinnbildlicht sich in Onkel Georgs ‚Sakrileg’, die fünf Bibliotheken zu öffnen, in denen die „weltlichen Bücher“ von der Familie „Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte“ unter Verschluss gehalten wurden, während „die katholischen allein frei zugänglich“ waren (Aus 147): „Niemals waren diese Kästen geöffnet worden, als man sie eines Tages, weil mein Onkel Georg darauf bestanden hatte, öffnete, war es den Meinigen gewesen, als hätte mein Onkel Georg einen jahrhundertelang versiegelten Behälter geöffnet, dem im Moment der Öffnung ein fürchterliches Gift entströmte, vor welchem sie augenblicklich die Flucht ergriffen, weil sie tatsächlich glaubten, es sei ein tödliches. Die Meinigen haben meinem Onkel Georg niemals verziehen, daß er diesen Behälter geöffnet hat [...], daß er das Gift des Geistes auf einmal herausgelassen hat.“ (Aus 147f.)
„Gegenweg“ und „Gift des bösen Geistes“ verdichten sich wiederum in Muraus Auslöschungsplan, liefern ein erstes Indiz auf den Begriff der „Antiautobiografie“9 und unterstreichen die Referenz zu Onkel Georg. Er identifiziert sich hier ungebrochen über eine genealogische Linie, an die er anzuschließen gedenkt, wenngleich sich diese am äußersten Rand der Familie befindet.
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Mutmaßlich befindet sich darin eine „Wolfsegg betreffende Eintragung” (Aus 188), bei der es sich „um einen radikalen Satz“ handeln soll, „vor welchem [die Wolfsegger Familie] möglicherweise tödlich erschrocken wäre[].“ (Aus 189)
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Wie anhand der Untersuchungen zur Kindervilla und zum Jägerhaus dargelegt, basieren ‚Richtung’ und ‚Gegenrichtung’ auf einem Doublebind, weshalb es nicht verwundern kann, dass es durchaus Bräuche auf Wolfsegg gibt, die Murau schätzt, für bewahrenswert hält oder gar wieder aufgreifen möchte. Einst von den Familienahnen gegründet, wären hier zuvorderst die fünf Bibliotheken zu nennen, die ein Erbe der Urururgroßeltern (Aus 56) sind. „Den ersten, die Wolfsegg gebaut und bewohnt hatten, hatte eine einzige Bibliothek nicht genügt“ (Aus 263), und so wähnt Murau in den Ursprüngen Wolfseggs ein „naturgemäßes Bedürfnis nach Geist und Denken“ (ebd.), das bis in die Gegenwart zur „Stumpfsinnigkeit“ (ebd.) seiner Eltern degenerierte, die es unterlassen, auch nur einen einzigen weiteren Band anzuschaffen (Aus 23). Daraus erklären sich seine Ambitionen, den Geist der Anfänge wieder aufleben zu lassen, wenn er nach seinem Weggang aus Wolfsegg in Wien als erstes eine Bibliothek anlegt, „die alles das beinhalten sollte, auf das [ihn] [s]ein Onkel Georg als für einen sogenannten Geistesmenschen vordringlich aufmerksam gemacht hatte; schon in der kürzesten Zeit hatte [er], beinahe [s]ein ganzes [ihm] zur Verfügung stehendes Geld dafür ausgebend, die wichtigsten Bücher beisammen, [sich] selbst eine Bibliothek sozusagen des bösen Geistes zusammengestellt [...].“ (Aus 149)
Bei der Anschaffung der Bücher folgt Murau nun seinerseits einem genauen Plan, den ihm sein Onkel vorgegeben hatte (Aus 150), was selbst auf dem vermeintlichen „Gegenweg“ eine typische Wolfsegger Vorgehensweise ist. Muraus Fixierung auf die fünf Bibliotheken illustriert, dass für ihn das intellektuelle und geistige Erbe Priorität hat, nicht das materielle, das im Fokus der übrigen Familienmitglieder steht. Er sieht sich als geistiger Nachfahre seines Onkels und ‚erbt‘ dessen Erzieherrolle, indem er seinerseits sein Wissen und seine Erfahrungen an seinen Schüler Gambetti weitergibt: „Gambettis Kopf hat schon viel aus meinem Kopf aufgenommen, dachte ich, bald wird mehr aus meinem Kopf in Gambettis Kopf sein, als von ihm.“ (Aus 209) Indessen gibt es auch Wolfsegger Traditionen, die unabhängig von Onkel Georg mit Muraus Denkweise übereinstimmen. Diese sieht er durch seine Mutter gefährdet, die als kleinbürgerlicher Eindringling in das feudalherrschaftliche Wolfsegg, als Usurpatorin sein „Vaterhaus“ zu einem „Mutterhaus“ gewandelt hat (Aus 102). Zu Muraus Entsetzen richtet die Mutter schrittweise alles nach ihrem Geschmack ein:
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„[...] alles in Wolfsegg, auch die Gärten, sind nach und nach unter den Einfluß meiner Mutter geraten und letzten Endes schon lange unter ihrem Geschmack verkommen. Jahrhundertelang waren die Gärten in Wolfsegg eine nach streng eingehaltenen Plänen gepflegte Anlage, bis meine Mutter auch sie von Grund auf veränderte, aus einer, wie ich weiß und wie alte Stiche beweisen, weitläufigen und großzügigen Natur, um Wolfsegg herum, ist eine ziemlich konventionelle, stupid-langweilige Anlage geworden, um nicht sagen zu müssen, eine kleinbürgerliche.“ (Aus 102)
Murau tritt hier als Traditionsbewahrer auf, der das familiäre Erbe und das damit verbundene gutsherrschaftliche Milieu bedroht, ja „proletarisiert“ (Aus 176) wähnt durch seine kleinbürgerliche Mutter, durch eine „Frau von unten“ (Aus 175), wie sein Vater sie in den Anfangsjahren seiner Ehe noch scherzhaft genannt hatte. Er wehrt sich gegen die von ihr vorgenommenen Veränderungen, mit denen sie sich zur Herrin der Natur stilisiert und gleichsam Wolfsegg korrumpiert und verunstaltet. Auch Onkel Georg betont, dass seine Schwägerin, aus dem „Garnichts“ komme. Sie habe aus seinem Bruder einen „Hampelmann“ gemacht und ihn ohnehin nur aus Habgier und „Berechnung“ (Aus 49) geehelicht. Er unterstellt ihr, allein aus wirtschaftlichen Motiven und zum Zwecke des sozialen Aufstiegs und Prestigegewinns auf Wolfsegg eingeheiratet zu haben, was jedoch wiederum zur dortigen Jagdtradition passt, denn die „Jagdexzesse[] der Familie“ (Aus 33) stehen für eine kapitalistische „Geld- und Wirtschaftsmühle“ (Aus 45), für die Akkumulation von Reichtum. ‚Geld‘ bildet sowohl den Kern des Wolfsegger Erbes als auch ein zentrales familiäres Konfliktfeld: „[...] hier liegen überall die teuersten Schätze, die die Unsrigen im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben.“ (Aus 173) „Starr und steif saßen sie, so wie sie darauf gemacht worden sind, auf ihrem Erbe zu keinem anderen Zweck, als immer nur darauf zu achten, daß sich dieses Erbe als gigantischer Besitzklumpen nur noch mehr und mehr verfestigte, ja nicht auflöste.“ (Aus 37)
Es herrscht ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Erbe vor und damit einhergehend für denjenigen, der dieses Erbe übernehmen, bewahren und traditionsgemäß in die Zukunft überführen soll: den Erben. Mit dem Tod der Großeltern gewinnt die Frage nach der familialen Kontinuität an Bedeutung, rückt die Notwendigkeit des durch den Tod forcierten Generationenwechsels in den Mittelpunkt. Folgerichtig beteuert Murau von diesem Moment an die Bevorzugung seines Bruders durch seine Eltern (Aus 262f.). Dieser gerät mit seiner Mutter in Streit, weil er noch nicht verheiratet ist und somit der erwünschte zukünftige Er-
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be noch aussteht (Aus 349f.). Dass die Mutter ihren Töchtern dagegen jeglichen Umgang mit Männern untersagt und ihnen gar mit Enterbung droht (Aus 381), weist die Wolfsegger Erbstruktur eindeutig als patrilinear aus, wobei die Verhinderung von Verheiratungen und weiteren Filiationen seitens der Töchter auf das Bestreben hindeutet, das Erbe als Ganzes zu erhalten und jegliche Aufteilung zu vermeiden. Als logische Konsequenz der Erbtradition und Kultur der Besitzstandwahrung bringen die Eltern, und zuvorderst die Mutter, nach Erfüllung ihrer Familienpflicht, einen Erben zu zeugen, kein Interesse für ihre weiteren Kinder auf. Murau kommt dabei als „Ersatzerbe“ im Gegensatz zu seinen Schwestern wenigstens noch eine potentielle Funktion zu: „Wolfsegg mußte einen Erben haben. Als sie Johannes auf die Welt gebracht hat, soll sie geschworen haben: kein Kind mehr. Aber schon ein Jahr später war ich auf die Welt gekommen, das Schwierige, das Teuflische, das Unglücksbringende. Sie hatte mich, wie ich immer gehört habe, nicht haben wollen, sich gegen mich gewehrt. Aber sie hatte mich gebären müssen. Ihren Unheilbringer, wie sie so oft gesagt hat, mir auch ins Gesicht bei allen möglichen Gelegenheiten, die gar nicht mehr aufgezählt werden können. Aber auch mit meinen Schwestern, die auf mich folgten, war sie nicht glücklich gewesen, sie war niemals gewesen, was allgemein als glückliche Mutter bezeichnet wird, wenn es diese glückliche Mutter überhaupt gibt. Der Erbe war akzeptiert worden, als sein Stellvertreter war ich anerkannt, nicht als mehr, zeitlebens habe ich mich als Ersatz für Johannes zu fühlen gehabt und ist mir zu verstehen gegeben worden, daß ich nur der Ersatzerbe sei, sozusagen für den äußersten Notfall erzeugt [...].“ (Aus 289f.)
Murau zufolge wollte sein Vater überhaupt kein Kind, sondern nur einen Erben. Er hatte seine Frau nur aus „Habgier nach einem Erben“ geheiratet (Aus 294), womit sich im Ehebund seiner Eltern der Wunsch nach ökonomischer Sicherheit und genealogischer Kontinuität überschneidet. Mit Geburt des ersehnten Erben habe der Vater schnell das Interesse an seiner Frau wieder verloren. Muraus Angaben nach agiert der Vater tatsächlich als Repräsentant der alten feudalen Territorialmaschine, die Mutter als Repräsentant der direkten Filiation.10 Die Wolfsegger Familie fungiert somit „als der von der Repression beauftragte Agent, insofern sie die massenpsychologische Reproduktion des ökonomischen Systems einer Gesellschaft garantiert.“11
10 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Anti-Ödipus, Frankfurt am Main 1974, 277. 11 Ebd., 153.
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Obwohl der genaue Wortlaut nie erwähnt oder zitiert wird, gibt Murau an, dass allen das Testament bekannt sei (Aus 483), und da er lediglich als Ersatz- und Zweiterbe galt, kann dies nur heißen, dass Wolfsegg als Erbe in seiner Gesamtheit zu erhalten war und demnach nicht aufgeteilt werden durfte. Diese oberste Maxime, den Wolfsegger Besitz zu konsolidieren, spiegelt sich im Verhalten der Eltern wider, die Onkel Georg bei dessen Weggang nach Cannes den Vorschlag unterbreiten, seinen Erbanteil nicht abzuziehen, „sondern sich mit einer quasi sicheren Rente zufriedenzugeben“ (Aus 38). Dies lehnt er jedoch ab und lässt sich stattdessen seinen Erbanteil auszahlen (Aus 30), was zum Grundstock seines schnell wachsenden Vermögens werden sollte. Als Onkel Georg stirbt, reist die Familie in der Hoffnung einer Restitution, wenn nicht gar Erweiterung der Wolfsegger Erbmasse, „in Erwartung eines ungeheuerlichen Vermögens“ nach Cannes, um dann entsetzt festzustellen, dass er alles seinem Diener Jean vermacht hatte, was Muraus Mutter immer wieder als „die größte Enttäuschung ihres Lebens“ (Aus 43) bezeichnet hat: „Der gute Jean, Sohn eines armen Fischerehepaars aus Marseille, hatte nicht weniger als vierundzwanzig Millionen Schilling in Aktien und ein mindestens doppelt so hohes Vermögen an realem Besitz geerbt. Die Kunstsammlung hatte mein Onkel Georg den Museen in Cannes und Nizza vermacht.“ (Aus 43)
Es wird im Folgenden noch genauer zu demonstrieren sein, inwieweit Murau bei der Handhabung des Erbes seinem Vorbild Onkel Georg nacheifert bzw. sich von ihm absetzt. Zunächst aber macht er sich den weltmännischen Lebensstil seines Onkels zu eigen, unternimmt wie dieser viele Reisen und verlässt Wolfsegg, um in Wien, Lissabon und schließlich in Rom zu leben. Er erbt die Rolle des genießerischen Lebemanns und damit des Sündenbocks von seinem Onkel („[...] ich spiele die Rolle Onkel Georgs“, Aus 208), dem Caecilia und Amalia zunächst „alle Schuld [...] in die Schuhe geschoben“ hatten (Aus 68). Verbittert werfen sie ihm sein Renegatentum und mangelndes Verantwortungsgefühl vor, wobei sie vor allem den Wertverlust ihres Erbes durch Muraus feudalen Lebenswandel beklagen (ebd.), weshalb sie von ihren Eltern eine drastische Kürzung seiner Geldmittel fordern (Aus 69). Auch sein Bruder Johannes macht ihm Vorhaltungen, wonach Wolfsegg nicht in der Lage sei, ihn „in einer derartig aufwendigen Weise zu finanzieren“ (ebd.). Während die Eltern sich ständig in einer „katastrophalen Wirtschaftskrise“ wähnen und einem Kult des Mangels12 und der Sparsamkeit frönen, der vor allem Caecilia und Amalia einen frugalen
12 Vgl. ebd., 397.
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Lebensstil abverlangt, wird Murau als „Verschwender“ (Aus 261) beschimpft, dessen aufwendiges Luxusleben als Angriff auf die Wolfsegger Substanz gewertet wird: „Du lebst im Luxus, während wir hier schuften, um Wolfsegg erhalten zu können.“ (Aus 72) In Wolfsegg habe immer ein fürchterlicher Geiz geherrscht, behauptet Murau. Die Mutter gibt zwar aus seiner Sicht „Unsummen für Kleidung“ aus, wird aber sonst als überaus sparsam charakterisiert (Aus 180). Der Wolfsegger Reichtum wird nur zu Repräsentationszwecken genutzt, um „sogenannte[n] wichtige[n] Besuch“ zu beeindrucken (Aus 181). Mit der Mutterfigur verbindet sich vordringlich der zweite Hauptaspekt der Wolfsegger Erziehung, der Muraus harsche Ablehnung ihr gegenüber wieder in ein anderes Licht rückt. Sie, die „hysterische Nationalsozialistin“ (Aus 193), sorgt dafür, dass ihre Kinder auch nach dem offiziellen Ende der Nazizeit nationalsozialistisch erzogen werden und sichert der faschistischen Tradition somit ein Überleben und Nachleben über das Kriegsende hinaus, was Murau nicht nur für seine Familie, sondern für ganz Österreich geltend macht (Aus 291). Das Regiment der Mutter auf Wolfsegg und der sich ausbreitende Nationalsozialismus sind letztlich auch der Anlass für Onkel Georg, aus Wolfsegg abzuwandern und nach Cannes zu ziehen. Aus seiner Sicht ist sie das größte Unglück, das über Wolfsegg hereingebrochen ist (Aus 189). Tradition und Erbe vermitteln nicht nur Stabilität und Orientierungshilfe. Wie Derrida in Marx’ Gespenster aufzeigt, liegt stets etwas Gespenstisches im Vorgang des Erbens, was er als „Hantologie“13 bezeichnet. „Ein Erbe ist niemals eins mit sich selbst.“14 Wie zuvor erwähnt, gilt es stets das Erbe qua testamentarischer Verfügung zu lesen mittels einer Hermeneutik, die die ultimative Bedeutung des Erbes nicht endgültig zu fassen vermag. Die Reaffirmation des Erbes erfolgt unweigerlich nach einer kritischen Wahl, die die Bedingung der Endlichkeit ist. Im Kern des Erbens aber bleibt ein Geheimnis.15 Dementsprechend ist Muraus Familie die Möglichkeit fortwirkender Kräfte der Vergangenheit unheimlich, weshalb sie, wo ihre Aktualisierung nicht von der Mutter kontrolliert und gezügelt werden kann, geflissentlich ignoriert wird. Bei allem Traditionsbewusstsein sind die Familienmitglieder mit Ausnahme von Onkel Georg und Murau nahezu geschichtsvergessen.
13 Derrida 1996, 27. 14 Ebd., 36. 15 Ebd.
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Wie die weltlichen Bücher in den fünf Bibliotheken von einer intellektuellen Vergangenheit künden, die für sie unüberschaubar und daher auch unbegreifbar ist, fürchten sie alles, was ihr Vergangenheitsideal (zer-)stören, was i h r e ‚Wahrheit‘ ins Wanken bringen könnte: „Von Anfang an war ich der Neugierige, vor welchem sie sich zu fürchten hatten, sagte der Onkel Georg. Und ich hatte angefangen, in unseren jahrhundertealten Schriften zu blättern, die in großen Kisten auf den Dachböden gelagert waren, von welchen sie immer Kenntnis gehabt, die sie aber niemals näher in Augenschein genommen haben. Sie fürchteten unliebsame Entdeckungen. Mich, sagte der Onkel Georg, hatte immer alles interessiert und naturgemäß interessieren mich vor allem unsere Zusammenhänge. Die Geschichte interessierte mich, aber nicht so, wie sie sich für unsere Geschichte interessierten, sozusagen nur für die als zu Hunderten und zu Tausenden aufeinandergelegten Ruhmesblätter, sondern als Ganzes. Was sie niemals gewagt hatten, in ihre fürchterlichen Geschichtsabgründe hinein und hinunter zu schauen, hatte ich gewagt.“ (Aus 56f.)
Neben völliger Geschichtsvergessenheit herrscht auf Wolfsegg allenfalls eine monumentalische Geschichtsauffassung im Sinne Friedrich Nietzsches vor, was sich in einer ehrfürchtigen Betrachtung der Abfolge mutmaßlich ‚großer’ Taten der Mächtigen äußert, die man musealen Denkmälern gleich der Reihe nach andächtig abschreitet. In dieser Manier arbeiten die Eltern bei ihren so genannten Bildungsreisen gewissermaßen eine Liste bekannter Sehenswürdigkeiten ab. Der Vater sucht all die Stätten und Kunstwerke auf, die ihm von „fürchterlichen Kleinbürgerköpfe[n]“ (Aus 51) empfohlen wurden, wie Onkel Georg meint. Geschichtskenntnisse beschränken sich auf berühmte Namen und Orte, welche nur Teil der gesellschaftlichen Etikette sind, die Muraus Eltern gewahrt wissen wollen. Ihr Sohn hingegen erlernt und übernimmt Onkel Georgs „Wissenschaft des Reisens“ (Aus 45): „Ich habe durch meinen Onkel Georg keine toten, sondern sehr lebendige Städte kennengelernt, keine toten Völker aufgesucht, sondern lebendige, keine tote Musik gehört, sondern eine lebendige, keine toten Bilder gesehen, sondern lebendige. Er, niemand anderer, hat mir die großen Namen der Geschichte nicht als fade Abziehbilder einer ebenso faden Geschichte auf die Innenwände meines Gehirns geklebt, sondern sie mir immer als lebendige Menschen auf einer lebendigen Bühne vorgeführt.“ (Aus 45f.)
Auffällig ist die Emphase des Lebendigen, die eine revitalisierende Erinnerung unterstellt. Im Gegensatz dazu ist die Art von Geschichtsbetrachtung, die Murau wiederholt bei seinen Eltern, vor allem aber bei seiner Mutter moniert, lediglich
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Beiwerk einer opportunistischen Momenten geschuldeten, gekünstelten Verrenkung, die auf keiner echten historischen Haltung basiert. Murau indes sieht Geschichte als einen ständigen Prozess und vermag, angeleitet durch seinen Onkel („Ihm verdanke ich die Tatsache, daß ich nicht nur lesen und schreiben, sondern auch tatsächlich denken und p h a n t a s i e r e n [meine Hervorhebung, T. M.] gelernt habe“, Aus 44), qua Phantasie eine lebendige Anschauung der Vergangenheit vorzunehmen. Darüber hinaus interessiert er sich wie Onkel Georg gerade für die „Geschichtsabgründe“ (Aus 57), für die verdrängte(n) Geschichte(n), für jene Brüche, über die Traditionen und testamentarische Verfügungen hinweghelfen, bisweilen sogar -täuschen sollen. Mit anderen Worten: Er will gerade jene historischen Ereignisse ent- bzw. aufdecken – und damit: erinnern –, die von seiner Familie aus der (Familien-)Historie ausgeschlossen und vergessen wurden. Zweifellos beruht dieses historische Interesse Muraus zuvorderst auf seiner Ablehnung des Nationalsozialismus, denn „[k]aum waren die Nazis weg [...], hatten sich die Meinigen den Amerikanern an den Hals geworfen und wiederum nur Vorteile aus dieser widerlichen Beziehung gehabt. Die Meinigen sind immer Opportunisten gewesen, ihr Charakter darf ruhig als niedrig bezeichnet werden. Sie paßten sich immer den jeweiligen politischen Verhältnissen an und es war ihnen jedes Mittel recht, einen Vorteil aus gleich was für einem Regime herauszuschlagen.“ (Aus 195)
Die Wolfsegger Geschichte stellt eine so enorme Hypothek dar, dass sich der Protagonist diesem Umfeld nicht mehr aussetzen möchte (Aus 108). Die Familie ihrerseits bemüht sich, den nationalsozialistischen Kulturbruch zu überspielen: Die zahlreichen Hakenkreuzfahnen werden von der Mutter eiligst eingeholt (so eilig, dass sie sich dabei den Hals verrenkt!), von ihr „höchstpersönlich dunkelblau eingefärbt“ und nur noch die Löcher in den Röcken des Vaters, die vom jahrelangen Tragen des Parteiabzeichens stammen, zeugen von der Kooperation mit den Nationalsozialisten (Aus 194). Indes sieht Murau die nationalsozialistische Ära nach dem Krieg keineswegs als beendet an. Seinen Eltern war, wie er wiederholt konstatiert, der Nationalsozialismus „angeboren“ und sie „pflegten“ ihn weiter (Aus 291), wie die Unterbringung der beiden ehemaligen Gauleiter in der Kindervilla belegt. Eben aus dieser Kontinuität der Nazizeit in die Nachkriegszeit hinein, aus der „Vertuschung [der] Greueltaten“ (Aus 446) und dem Verschweigen der Naziverbrechen erwächst Murau die Pflicht, alles Verschwiegene und Unterdrückte dem Vergessen zu entreißen und öffentlich zu bezeugen. Exemplarisch tritt hier sein Anliegen hervor, an die missachteten Opfer des Nationalsozialismus, namentlich an den in ein holländisches Konzentrationslager
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deportierten Bergmann Schermaier zu erinnern. Auch dies geht – ausgerechnet (!) – in sein allumfassendes Auslöschungsprojekt, in/mit dem alles ausgelöscht werden soll, ein: „Auf dem Weg zur Kindervilla dachte ich, daß der Schermaier niemals über seine Haft in den Strafanstalten und Gefängnissen und in dem niederländischen Konzentrationslager gesprochen hat und daß, wenn schon er nicht darüber spricht, ich einmal darüber schreiben werde, in der von mir geplanten Auslöschung, dachte ich, werde ich über den Schermaier schreiben, über das ihm zugefügte Unrecht, über die an ihm vollzogenen Verbrechen. [...] Deshalb ist es meine Pflicht, in der Auslöschung von ihnen zu reden und auf die aufmerksam zu machen stellvertretend für so viele, die über ihr Leiden während der nationalsozialistischen Zeit nicht sprechen, sich nur ab und zu darüber zu weinen getrauen, über die Schermaier, die das nationalsozialistische Denken und Handeln auf dem Gewissen hat, das nationalsozialistische Verbrechertum, das heute nur totgeschwiegen wird, nachdem es so viele Jahrzehnte gründlich verdrängt worden ist.“ (Aus 457f.)
Damit ist in das vordergründig auf Obliteration und Vergessen zielende Auslöschungsvorhaben die moralische Verpflichtung, an das Vergessene zu erinnern, mit eingeschrieben. Infolgedessen sind Erinnern und Vergessen aporetisch miteinander verflochten. Nicht zuletzt diese Textstelle hat einige Interpreten vom Scheitern der Auslöschung an ihren ethischen Implikationen sprechen lassen, was ganz entscheidend davon abhängt, ob man den vorliegenden Text als Realisierung der geplanten Schrift ansieht oder nicht bzw. wie man die Erbabschenkung unter Vermittlung Eisenbergs deutet. Dies ist eine der wesentlichen Leitfragen dieser Arbeit, die entsprechend im Folgenden zu klären sein wird.
1.3. I CH -K OMPLEX In Kapitel 1.2. wurden die antagonistischen Kräfte erörtert, die Muraus Kindheit bestimmten, Einfluss auf seine Persönlichkeitsentwicklung nahmen und somit seinen „Herkunftskomplex“ grundierten. Seine nur supplementäre Existenzberechtigung, die ‚Schwarze Pädagogik’ seiner Eltern, die feindselige Haltung seiner Geschwister und das katholisch-nationalsozialistische Umfeld drängen ihn in eine Außenseiterposition, in der ihm die Entfaltung seiner Persönlichkeit und Entwicklung seiner Interessen nahezu unmöglich werden. Die jeweils wieder in sich selbst gespaltenen und widersprüchlichen Oppositionen (Gärtner–Jäger, Jägerhaus–Kindervilla, (ur-)alte Geschichte Wolfseggs–jüngere Geschichte Wolfseggs etc.) sind Spiegelbilder der inneren Zerrissenheit des Helden („Wir alle tra-
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gen ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung […]“, Aus 199), die er durch die Durchführung seiner geplanten Schrift zu überwinden hofft. In seiner Position als Ersatzerbe sind indes noch tiefer liegende Konflikte verankert, die dem Begriff des „Herkunftskomplex[es]“ eine weitere Dimension hinzufügen, in den einschlägigen Interpretationen der Auslöschung aber bislang noch keine Beachtung gefunden haben und einmal mehr auf Parallelen zwischen Murau und Hamlet hindeuten. Wie nämlich Hamlet sich mit der Frage konfrontiert sieht, ob das Verhältnis seiner Mutter zu Claudius nicht bereits vor der Ermordung des Königs begonnen haben könnte16, wodurch seine Rache zu einem ödipalen Akt gegen den mutmaßlichen Vater geriete, scheint eine Vaterschaft Spadolinis, mit dem die Mutter ein heimliches, aber kontinuierliches Verhältnis pflegte, erwägenswert, wie mehrere Textstellen suggerieren. Dies jedenfalls könnte als weitere Erklärung dafür dienen, dass er für seine Mutter von Anfang an „unerwünscht“ war: „[...] am liebsten hätte sie mich bei meiner Geburt gleich wieder in den Bauch zurückgesteckt, mit allen Mitteln, wenn das möglich gewesen wäre [...].“ (Aus 152) Seine Mutter hatte ihn nicht haben wollen (Aus 289). Die strenggläubige Katholikin, die sich jeden Abend zum Gebet in die Kapelle zurückzieht (Aus 190), soll sogar eine Abtreibung erwogen haben, was daran liegen könnte, dass er als ‚Bastard’ die familiale Kohärenz zu zerstören drohte, indem er sie mutmaßlich exzentrierte17: „Meine Mutter soll einen Internist in Wels aufgesucht haben in der Absicht, sich durch diesen von mir zu befreien, aber der Internist hat das abgelehnt, als für meine Mutter lebensgefährlich. Die sogenannte Abtreibung war damals noch nicht so einfach gewesen, tatsächlich immer mit einem Lebensrisiko verbunden. So hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. Lebenslänglich betrachtete sie mich als unerwünscht und sie stellte mich auch immer nur als unerwünscht hin, gleich bei welchen Gelegenheiten, bezeichnete mich auch oft als das überflüssigste Kind, das man sich vorstellen kann.“ (Aus 290)
Zwar heißt es zunächst noch bei der Betrachtung des Fotos seiner Eltern „mein Vater hat mich gemacht“ (Aus 152) und später, er sei für den „äußersten Notfall erzeugt [worden], [...] an einem Sommerabend in der Kindervilla“ (Aus 290), doch dies könnte nichts weiter als eine kindliche Phantasie Muraus sein, mit der er den geradezu poetischen Moment seiner Schöpfung, einen überaus märchen-
16 Vgl. Haverkamp 2001, 31. 17 Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, München 1991, 154.
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haften Ursprung in der idealen Umgebung der Kindervilla imaginiert – wenngleich vergiftet von der Annahme, der Zeugungsakt sei „widerwillig“ geschehen, wie die Mutter angeblich verbreitete (Aus 290). Dies findet Erwähnung, nachdem er das Verhältnis seiner Mutter zu Erzbischof Spadolini, das er überdies unfreiwillig deckt („Ich bin die Lüge, Gambetti, […], die Spadolini ermöglicht“, Aus 283), ausführlich beschrieben hat (Aus 279ff.) und daran weniger die Liebschaft an sich kritisiert als die „abstoßende[] Heimlichkeit“ dieses „unappetitlichen Verhältnis[ses]“ (Aus 281). Die Vaterschaft ist damit keineswegs eindeutig geklärt. Zudem glaubt Murau keinerlei Merkmale des (vorgeblichen) Vaters zu tragen18 (Aus 89), den er später nur als eine „väterliche Instanz“ bezeichnet – „was immer das ist“ (!) –, von der er allenfalls „als Ersatzerbe[] zur Kenntnis genommen [...]“ wird (Aus 506). Von Spadolini hingegen wird er „anerkannt“ (!) (Aus 500): „Meiner Mutter hat er immer wieder klar zu machen versucht, was und wer ich sei, aus welchem Geiste sozusagen, aber sie hatte für seine Bemühungen in diesen mich betreffenden Richtungen niemals ein Ohr gehabt [...].“ (ebd.) „Da meine Mutter aber alles von Spadolini wie sonst nichts aufgenommen hat, ist es doch unbegreiflich, daß sie alles, das ihr Spadolini, mich betreffend, sozusagen immer wieder gesagt hat, nicht aufgenommen hat, sie hat es nicht gehört, weil sie es nicht hören wollte.“ (Aus 501)
Als weiteres Indiz, das die These einer möglichen Vaterschaft Spadolinis plausibel macht, wäre der Ätna-Ausflug anzuführen. Im Nebel auf dem Ätnaplateau, allen Augen der Öffentlichkeit entzogen, „[...] waren wir die glücklichsten Menschen, die sich denken lassen“ (Aus 559) – ein bemerkenswertes Statement für Murau, der sonst das negative Verhältnis zu seiner Mutter mit schonungsloser Härte zur Sprache bringt. Es ist die einzige unumwunden positive Aussage über sie, die nicht sofort wieder relativiert wird19 oder von einem negativen Kontext20
18 Später widerspricht sich Murau (scheinbar) wieder, indem er bei seinem (offiziellen) Vater die gleiche Schlaflosigkeit diagnostiziert (Aus 508), unter der er selbst zeitlebens leidet. Es stellt sich jedoch heraus, dass Spadolini ebenfalls schwere Schlafstörungen hat (Aus 582). 19 Wie bei der Gärtnerjause, wo es der positive Einfluss der Gärtner auf die Mutter ist. 20 Wie die einzige Szene, in der ihm seine Mutter bei einem schwachen Licht „schön“ erscheint (Aus 265), die in die Siebenkäs-Szene eingebettet ist, in der sie ihren Sohn ohrfeigt (Aus 268), weil sie das Wort „Siebenkäs“ als Provokation missdeutet.
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umgeben ist. Die „glücklichsten Menschen, die sich denken lassen“, können sie wohl nur deshalb sein, weil ihr illegitimes Familienverhältnis, durch den Nebel auf dem Ätnaplateau der gesellschaftlichen Kontrolle enthoben, für einen Augenblick lebbar wird. Eine Vaterschaft Spadolinis ist zumindest mit in Betracht zu ziehen.21 Überdies wohnt Murau anonym in Rom, ohne Namensschild an der Tür und damit nicht auf irgendeine familiäre Linie festgelegt. In der Nacht vor dem Begräbnis schließlich, in einem Moment größter Anspannung, rettet ihn ein Satz aus einer „Monografie über Descartes“: „Anscheinend ist keine sichere Erkenntnis möglich, solange man nicht den Urheber seines Daseins kennt [...].“ (Aus 623) Die mögliche Vaterschaft Spadolinis als eines der höchsten Repräsentanten der katholischen Kirche und seine Mutter als „hysterische Nationalsozialistin“ würden Muraus Furor gegen Katholizismus und Nationalsozialismus auch auf einer ödipalen Ebene ansiedeln und erklären, ebenso sein Schwanken zwischen nördlicher (Wolfsegg) und südlicher (Rom) Sphäre. Dementsprechend wären „Antiautobiografie“ und „Auslöschung“ antiödipale Projekte, die mit seiner Flucht aus Wolfsegg, seinem anonymen Leben in Rom und der Schwierigkeit, das Wolfsegger Erbe anzunehmen und anzutreten, korrelieren. Der „Herkunftskomplex“ wäre folglich als Ödipuskomplex zu bestimmen, bei dem man stets auf das zurückgeworfen wird, was man verlassen hat 22 , resp. als ‚HamletKomplex‘, da sich die Gewalt des Kindes gegen die Mutter richtet. Der mutmaßliche Vater wird vielmehr zu einem Fluchtpunkt beim Verlassen des zum Mutterhaus degenerierten Vaterhauses:
21 Helms-Derfert dagegen will in Spadolini bloß eine „Vaterprojektion“ Muraus erkennen. Helms-Derfert 1997, 241. Er lässt die Beziehung zwischen dem Erzbischof und seiner Mutter „vor dreißig Jahren“ beginnen, was gegen meine These sprechen würde. Ebd., 229. Allerdings heißt es im Text, die „Freundschaft“ dauere schon „über 30 Jahre“ (Aus 556). Zum einen werde ich im weiteren Verlauf noch mehrfach zeigen, dass Zeitangaben in der Auslöschung grundsätzlich zu misstrauen sind, zum anderen könnte hier Spadolini selbst in seiner ohnehin alles idealisierenden Gedenkrede darauf bedacht sein, seine (möglicherweise viel länger andauernde) (Liebes-)Beziehung zur Mutter zu vertuschen. – Der oft zitierte Satz „Ich hatte mich sogleich, das ist die Wahrheit, in Spadolini verliebt gehabt“ (Aus 282, vgl. 636) ist keineswegs ein homoerotisches Bekenntnis, wie etwa Pfabigan insinuiert, sondern eher Ausdruck seines Begehrens, einen anderen Vater zu haben. Er unterstreicht die Erotik d i e s e r Vaterfigur, d i e s e r Wahrheit. Vgl. Pfabigan 2009, 201. 22 Vgl. Deleuze/Guattari 1974, 160.
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„Denn nicht zuletzt Spadolini ist ein Grund dafür gewesen, daß ich überhaupt nach Rom gegangen bin, der mich mit Zacchi bekanntgemacht hat, welcher mir meine Wohnung auf der Piazza Minerva verschafft hat, der mich durch Rom geführt hat, der mich sozusagen i n d i e r ö m i s c h e G e s e l l s c h a f t e i n g e f ü h r t h a t [meine Hervorhebung, T.M.], zuerst mir Rom mehr oder weniger aufgeschlüsselt hat. […] Ich bin sehr oft mit ihm durch Rom gegangen und er hat mich aus jeder bösen Stimmung gerettet, aus allen möglichen Verzweiflungen vor allem in meiner römischen Zeit, in welcher ich mit mir nicht viel anzufangen gewußt habe und ins Grübeln gekommen bin und in monatelange Schlaflosigkeit, ja Selbstmordgedanken. Bis Spadolini mich darauf gebracht hat, a u f z u w a c h e n [meine Hervorhebung, T.M.], mich vor allem meinen wissenschaftlichen Bemühungen zu öffnen, […]. Er hat mich an meine Fähigkeiten e r i n n e r t [meine Hervorhebung, T.M.], an mein Geisteskapital sozusagen, das ich selbst schon v e r g e s s e n [meine Hervorhebung, T.M.] gehabt hatte, zu welchem Zweck ich denn nach Rom gegangen sei, hat er gemeint, wenn nicht zu deinem Geisteszweck. Meine geistigen Leidenschaften waren ja schon verkümmert, beinahe gänzlich abgestorben gewesen, als sie mir Spadolini w i e d e r e r w e c k t [meine Hervorhebung, T.M.] hat, Spadolini, kein anderer.“ (Aus 499f.)
Es ist vorab festzuhalten, dass Spadolini als mutmaßlicher Vater wesentlich zu Muraus ‚Rettung‘ beiträgt, die sich vornehmlich seiner gesellschaftlichen Integration und der Wiederaufnahme seiner geistigen Aktivität verdankt. Die ‚väterliche‘ Intervention bewirkt ein Erinnern, das Murau einem ‚Aufwecken‘ und einer ‚Wiedererweckung‘ gleichsetzt, worauf unten noch ausführlicher einzugehen sein wird. Das Erbe selbst sowie die Möglichkeit, die Rolle des Erben zu übernehmen, werfen Fragen nach Muraus Identität auf und stellen ihn vor eine komplizierte Entscheidung, die nur dann möglich wäre, wenn er zu einer sicheren Erkenntnis über seine Identität resp. über Wolfsegg, das diese wesentlich bestimmt, gelangen könnte. Selbstbeschreibung und Wolfseggbeschreibung verschmelzen auch im Text und vermischen sich in den Begriffen der „Antiautobiografie“ und „Auslöschung“. Die Problematisierung der Selbstbeschreibung taucht nämlich just inmitten der oben verhandelten Abschweifung über das Philosophieren auf, die die angekündigte Beschreibung von Wolfsegg zunächst substituiert: „Je mehr ich mich mit den Schriften dieser Leute beschäftige [...], desto hilfloser werde ich, ich kann nur im Größenwahn sagen, daß ich sie begriffen habe, wie ich über mich selbst nur im Größenwahn sagen kann, ich hätte mich begriffen, wo ich mich tatsächlich selbst nie begriffen habe bis zum heutigen Tag, je mehr ich mich mit mir beschäftige, des-
42 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES to weiter entferne ich mich von meinem Tatsächlichen, desto mehr verfinstert sich alles, das mich betrifft, [...], wie bei diesen Philosophen, ich glaube, ich habe sie verstanden, [...], dabei habe ich nichts verstanden, wahrscheinlich ist es mit allem, mit dem ich mich bisher beschäftigt habe, so.“ (Aus 153f.)
Wie Philosophie trotz wissenschaftlicher Methodik das Denken in keine allumfassende Systematik und Ordnung zu transformieren vermag, so kann es keine widerspruchsfreie und endgültige Anschauung von Wolfsegg geben. Analog dazu bleibt auch der Versuch der Selbstbetrachtung ein endloses Unterfangen, das weder stabile noch verifizierbare Ergebnisse produziert: „Bald wird das Leben vorbei, meine Existenz ausgelöscht sein, [...], und ich habe nichts erreicht, es ist mir alles ziemlich fest verschlossen geblieben. Wie die Auseinandersetzung mit mir selbst bis heute ziemlich erfolglos geblieben ist. Ich bin mein Feind und gehe gegen mich philosophisch vor [...], ich gehe mit allen mir möglichen Zweifeln an mich heran und ich versage. Ich erreiche nicht das Geringste. Den Geist muß ich als Feind betrachten und gegen ihn vorgehen auf die philosophische Weise [...], um ihn tatsächlich genießen zu können. Aber dazu ist wahrscheinlich meine Zeit zu kurz, wie sie eben alle eine zu kurze Zeit gehabt haben, das größte Unglück des Menschen, daß seine Zeit immer und in jedem Fall zu kurz ist, hat die Erkenntnis immer unmöglich gemacht. So hat es immer nur ein Angenähertes gegeben, ein Beinahe, alles andere ist Unsinn.“ (Aus 155)
Da die Frage nach dem Selbst nicht abschließend zu beantworten ist, kann sie nur immer wieder neu gestellt werden, wodurch aus dem „Herkunftskomplex“ die ständige Frage nach dem Ursprung hervorgeht, die dem infiniten Begründungsregress der Bewusstseinsphilosophie eignet. Endgültige Gewissheit ließe sich nur von einem Standpunkt des absoluten Überblicks, eines Außen oder Jenseits gewinnen, deren Grenze der Tod markiert. Diese Grenze rücksichtslos auszuloten, ist Programm des Auslöschungsprojektes, was ihn offensichtlich bereits an den Rand des Todes gebracht hat. In den Jahren vor Rom hatte er sich „nurmehr noch auf [s]ich selbst konzentriert“ und sich „dadurch [...] selbst auf das Gröbste und Unverzeihlichste vernachlässigt.“ Seine „andauernde[] Selbstbeobachtung und Selbstbetrachtung“ habe ihn tatsächlich „krank“ gemacht (Aus 205), weil er die „andere Welt“, das „Geistesleben“, die „Philosophen“, „Dichter“ und „Kunstschöpfer“ aus dem Blick verloren hatte – „vergessen“ (Aus 206), wie Murau gleich vier Mal betont. Erst Rom bringt die Erinnerung daran zurück, was als „existentielle Wirkung“ (ebd.) der Ewigen Stadt beschrieben wird. Unter diesen Bedingungen (des Scheiterns) versteht Murau den Versuch der Selbstbeschreibung, der Autobiografie, als Selbstzerstörung und behält dieses
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Problem hinsichtlich der antiautobiografischen Ausrichtung seiner ‚Auslöschung‘ in seinem Blickfeld, weshalb er es ständig – aus Selbsterhaltung – aufschiebt, um in Rom zu seiner „Geistesexistenz“ zurückzufinden. Probleme des Identitätsverlustes oder -defizits sind bei allen Protagonisten der im Unterricht mit Gambetti verwendeten kanonischen Texte der Auslöschung virulent. Sie alle suchen einen Fluchtweg aus dem genealogischen Gefängnis wie der Held von Ketten/della Catene in Robert Musils Portugiesin, dessen Name paradigmatisch für den Ich-Konflikt steht. Als Mann der Tat schöpft er wie seine familiären Vorgänger den Lebenssinn aus dem Kampf gegen den Bischof. Mit dessen plötzlichem Tod und dem Ende des Krieges geht ein ebenso schlagartiger Identitätsverlust einher, da er außerhalb der Tradition keine Existenzweise kennt.23 Nur durch das Erklimmen der steilen Felswand, das zum sprichwörtlichen Überwinden des Signifikanten selbst wird, vermag er das Andere, das Fremde, das seine Frau, die Portugiesin, verkörpert, zu verstehen24 und das Gespenst des Jugendfreundes seiner Frau zu bannen. In nahezu spiegelverkehrter Anordnung verliert der Protagonist Siebenkäs in Jean Pauls gleichnamigem Roman nach der Inszenierung seines Todes und der Trennung von seinem Doppelgänger und alter ego Leibgeber den Kontakt zum ‚Anderen’, was gleichbedeutend ist mit dem Verlust seines Humors und seiner Fähigkeit, satirische Texte zu verfassen. Er endet als schweigende Beamtenfigur ähnlich wie Hermann Brochs Protagonist August Esch in Esch oder die Anarchie, der, nachdem seine finanziellen Schulden beglichen sind, unter Einbüßung seiner „impetuose[n] Haltungen“ (E 48) als Beamter an seinen Ursprungsort zurückkehrt, um dort ein bürgerliches Dasein zu fristen. In Franz Kafkas Proceß entgleitet Josef K. die Kontrolle über sein Leben, indem er in einen Prozess verwickelt wird, der just mit seinem 30. Geburtstag einsetzt und ihm keine Chance zur Rechtfertigung seiner Existenz lässt. In Thomas Bernhards Amras schließlich geht es um die tödliche Relation von Herkunft, Erbkrankheit, Natur und Bedingung des menschlichen Daseins.25 Tod (der Eltern), Krankheit (Walters Epilepsie) und Schmerz steigern zwar die Emp-
23 Martin Siegel, Identitätskrise als Beziehungskonflikt. Robert Musils Erzählungen vor dem Problem gefährdeter Intersubjektivität, St. Ingbert 1997, 143f. 24 Die einzige Äußerung seiner Frau im gesamten Text ist ein abgewandelter NovalisSatz, der einer „Gotteslästerung“ entspricht: „Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden.“ (Por 45) 25 Markus Scheffler, Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa, Heidelberg 2008, 264.
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findsamkeit der Brüder und schärfen ihren Blick für das Trauma ihrer Herkunft, die Erkenntnis birgt jedoch keine Hoffnung auf Transzendenz.26 Walter leidet unter seiner unerfüllten Sehnsucht nach Selbstbestimmtheit: „Das ganze Leben: ich will nicht ich sein, Ich will sein, nicht ich sein...“ (Am 64); „[t]ägliche Frage: Warum bin ich aus mir?“ (Am 65). Auch die Naturwissenschaft – sein Bruder K. studiert Vererbungslehre (!) – vermag die Ursache des beschädigten Lebens nicht zu identifizieren und auszumerzen.27 K. ist außerhalb des Turms und nach Walters Selbstmord ohne seinen Bruder nicht überlebensfähig und wird in eine Psychiatrie eingewiesen. Wahnsinn und Freitod scheinen die einzigen Möglichkeiten des Entkommens in Amras zu sein.28 Auch in der Auslöschung steigert sich der Ich-Komplex zu einer Existenzbedrohung. Murau sieht sich durch die elterliche „Machtmischmethode“ (Aus 291) von katholischem und nationalsozialistischem Ungeist nahezu vernichtet. Nur Onkel Georg habe ihn gerettet: „Zuerst aber mußte ich, kurz gesagt, von meinen Eltern fast zur Gänze vernichtet werden, um dann, als ich fast schon über zwanzig gewesen war und, wie es schien, rettungslos verloren, von meinem Onkel Georg doch noch geheilt zu werden. […] Meiner Willensstärke, aus dem Unheil von Wolfsegg, also aus dem von meinen Eltern angerichteten Unheil herauszukommen, sowie der Hellsichtigkeit meines Onkels Georg verdanke ich aber letzten Endes meine Rettung.“ (Aus 36)
Durch ihn und seine Vorbildfunktion sei es ihm schließlich gelungen, „ein durchaus als frei zu bezeichnender Mensch“ (Aus 45) zu werden. Dieser Einschätzung Muraus kann jedoch – wie grundsätzlich all seinen Äußerungen – nicht langfristig Kredit eingeräumt werden, denn bald schon (ver-)zweifelt er wieder an seinem Erbe wie an seinen antiautobiografischen Auslöschungsbemühungen. Der einstweiligen Beteuerung, ein freier Mensch zu sein, steht Muraus zentrale Selbstaussage „Ich bin ein verstümmelter Mensch“ (Aus 339) diametral gegenüber. Die reklamierte „römische Existenz“ (Aus 512) stellt sich als reines Wunschdenken heraus. Vor dem Hintergrund der eben erarbeiteten Interferenzen stellen sich „Antiautobiografie“ und ‚Auslöschung‘ als existentielle Projekte dar, mittels deren sich
26 Ebd., 267. 27 Ebd., 271f. 28 Ebd., 273.
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Murau von den genealogischen Prägungen seines „Herkunftskomplex[es]“ zu befreien, ja sprichwörtlich loszuschreiben sucht. Da Schrift jedoch per se ein restaurativer Charakter eignet, der sich in ihrer medialen Vermittlung als Erinnerungsfunktion darstellt, bleibt der qua ‚Auslöschung‘ Tilgung und Vergessen suggerierende Weg zum anvisierten „Zukunftskomplex“ zweifelhaft, worin auch der Grund für den ständigen Aufschub der Niederschrift liegt. Die Verknäulung von Erbe, „Ursprungsort“ (Wolfsegg), „Antiautobiografie“, ‚Auslöschung‘, Geschichtsvergessenheit und Identitätsmangel bildet einen überaus dichten Komplex, der für Murau nicht durchschau- und entwirrbar ist und sein Schreibprojekt als postmodernes Phänomen von interreferentieller Unüberschaubarkeit vorstellt. Allein die existentielle Bedrängnis, möglicherweise nicht mehr lange zu leben zu haben und durch den Unfall der Eltern und des Bruders nun über die Zukunft von Wolfsegg bestimmen zu müssen, führen zur Perpetuierung der ‚Auslöschungs‘-Gedanken und Intensivierung der Bemühungen um einen Ausweg aus der Sackgasse. Im folgenden Kapitel sollen nun die aporetischen Interdependenzen von ‚Erinnern‘ und ‚Vergessen‘ systematischer gefasst und dazu vor der Folie der Simonides-Legende verhandelt werden, die als Gründungslegende der Mnemotechnik gilt und, wie gleich zu demonstrieren sein wird, wichtige Parallelen zur Auslöschung aufweist. Wo sich die auf das Thema ‚Gedächtnis‘ ausgerichteten Strukturen des Bernhard-Textes als miteinander konfligierend und unvereinbar präsentiert haben, ist anhand der rhetorischen ‚Fassung‘ des Gedächtnisses auszuloten, inwieweit einerseits Erinnern und Vergessen die zuverlässige Reproduktion einer histoire ermöglichen, andererseits Bernhard sich als notorischer ‚Geschichtenzerstörer’ die Funktionalität von Gedächtnis zu desavouieren, wenn nicht gar zu transzendieren anschickt.
2. Mnemotechnik der Auslöschung
2.1. S IMONIDES -L EGENDE : G EDÄCHTNISKULTUR Die Betrachtung der Fotografien im ersten Teil („Telegramm“) und das Abschreiten der Räume im zweiten Teil („Testament“), einhergehend mit der Untersuchung diverser Bilder (Bild des Urururgroßonkels Ferdinand, Bild der Muttergottes an der Außenwand der Meierei), legen einen Rückgriff auf jene Gedächtniskonzeption nahe, deren literarische Folie die Simonides-Legende darstellt: die Mnemotechnik. Es wird zu demonstrieren sein, inwiefern diese rhetorische ‚Fassung’ des Gedächtnisses einer Lektüre der Auslöschung dienlich sein kann, indem sie Zugang zu impliziten Themen des Bernhard-Textes bietet und den prominenten Begriff des ‚Scheiterns’ herauszupräparieren hilft.1 Im zweiten Teil dieser Arbeit, der sich mit der Mnemophantastik als einer Art Gegenkonzept befassen wird, soll dann dargelegt werden, inwiefern sich die ‚Gedächtnisfassung’ des Auslöschungsprojektes von der der Mnemotechnik abhebt und diese zu übersteigen sucht. Die Simonides-Legende als Gründungstext der Mnemotechnik liegt in drei Versionen vor (Rhetorica ad Herennium von einem unbekannten Verfasser 2 , De oratore3 von Cicero und Ausbildung des Redners4 von Quintilian). Die aus ihr 1
Auch Neumann sieht diesen Zusammenhang zwischen Simonides-Legende und Auslöschung, indem er Bernhards Text als Widerspiel zwischen ‚Ordnung‘ und ‚Chaos‘ liest. Gerhard Neumann, „Gedächtnis-Sturz“, in: Akzente 40 (1993), 100ff.
2
Vgl. Rhetorica ad Herennium, München/Zürich 1994. Der Text geht wohl auf ältere, verloren gegangene griechische Quellen zurück, war im Mittelalter wohlbekannt und wurde fälschlicherweise Cicero zugeschrieben. Vgl. Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 1994, 14.
3
Vgl. Markus Tullius Cicero, Über den Redner/De oratore, Stuttgart 1976.
4
Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, Darmstadt 1975.
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hergeleitete mnemotechnische Übung dient dem Andenken der Toten, das über deren Identifizierung ermöglicht wird und einzig vom Dichter mit seiner Routine im Memorieren von Texten zu vollbringen ist.5 Ihre zahlreichen Parallelen zur Auslöschung verheißen, sie gewinnbringend als Prätext auffassen sowie Analogien und Differenzen gleichermaßen für eine Lektüre der Auslöschung zurüsten zu können. Murau als „literarischer Realitätenvermittler“ (Aus 615) und Simonides von Keos (um 556 bis 468 v. Chr.) als Dichter sind Schwellengänger, die sich jeweils mit einer Katastrophe konfrontiert sehen. Simonides wird während eines Festessens, nachdem er den Gastgeber und, gemäß den Regeln der Dichtertradition, Kastor und Pollux besungen hat, zur Tür gerufen, wo angeblich zwei Männer nach ihm verlangt hätten. Dort findet er jedoch niemanden vor. Unterdessen stürzt das Gemäuer des Hauses just in dem Moment, als Simonides ins Freie tritt, ein und erschlägt die Festgesellschaft. Murau, der gerade das elterliche Wolfsegg verlassen hat und nach Rom zurückgekehrt ist, erhält von seinen Schwestern ein Telegramm, in dem ihm der Tod seiner Eltern und seines Bruders mitgeteilt wird. Sowohl Simonides als auch Murau scheinen mit ihrem Übertreten der (Haus-)Schwelle die Katastrophe mit verursacht zu haben. Das göttliche Zwillingspaar Kastor und Pollux – die Personifizierung der Verdoppelung als Grundfigur der Gedächtnisarbeit6 –, das jenseits der Schwelle nicht in Erscheinung tritt, hat Simonides aufgrund seines Lobliedes, das vom Gastgeber Skopas missbilligt worden war, von der Katastrophe ausgenommen. Murau wird hingegen durch das Telegramm der Schwestern, die er auch als „Zwillinge“ (Aus 61) apostrophiert, wieder an den Ort der Katastrophe zurückgerufen. In beiden Texten schlägt jeweils eine Festszene in ein Begräbnis um: in der Simonides-Legende ist es der Edelmann Skopas, der zum Bankett geladen und dessen Hybris den Einsturz des Gebäudes verschuldet hatte; in Wolfsegg folgt der Tod der Eltern und des Bruders von Murau unmittelbar der Hochzeit seiner Schwester Caecilia mit dem „Weinflaschenstöpselfabrikanten“, so dass bei den Begräbnisvorbereitungen die Hochzeitsdekoration gegen die Begräbnisdekoration ausgetauscht werden muss (Aus 322). Im Vergleich zur Simonides-Legende ist aber entscheidend, dass in der Auslöschung bereits die erste Ordnung, das (Hochzeits-)Fest mit Insignien des Todes versehen ist: der Bräutigam trägt die Jacke, in der Caecilias Großvater ums Leben kam (Aus 342); sein konstitutiver Höhepunkt, der Akt der Vermählung, ist von Vergessen und Na-
5
Haverkamp 1991, 26.
6
Weinberg 2006, 288.
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mensgebung gekennzeichnet, da der betrunkene Pfarrer die Namen des Brautpaares vergisst, welche ihm vom Vater souffliert werden müssen (Aus 346f.); die Personen treten wie Schauspieler kostümiert – Murau sieht die gesamte Hochzeitsgesellschaft im Narrenkostüm (Aus 343) – oder als Marionetten auf, die von der Mutter beherrscht werden (Aus 348). In der Auslöschung bietet sich schon die vermeintliche Ursprungsszene als künstliche, kostümierte und dekorierte dar, die zudem mit der Totenjacke des Großvaters, den „mindestens hundert Jahre alten Kostüme[n]“ (Aus 343) der Hochzeitsgesellschaft und der Namensgebung durch den Vater bei der Vermählung in ihre diversen historischen und genealogischen Traditionen eingeschrieben ist. Die maßgebliche Differenz zwischen beiden Texten liegt jedoch in der Reaktion der Schwellengänger Simonides und Murau – und dementsprechend in den daraus abzuleitenden Gedächtniskonzeptionen. Simonides vermag durch die Erinnerung der Sitzordnung der Festgesellschaft die verstümmelten Leichen zu identifizieren. Er gibt den gewissermaßen unlesbar gewordenen Gesichtern ihre Namen (zurück) und ermöglicht dadurch den hinterbliebenen Familienangehörigen eine ordnungsgemäße Bestattung der Toten. In der Auslöschung hingegen ist nur der Leichnam der Mutter verstümmelt, infolgedessen ihr Sarg im Gegensatz zu dem des Vaters und des Bruders gleich verschlossen werden musste (Aus 395). Die (Leichen-)Gesichter des Vaters und des Bruders indes sind ihm „fremd[]“ und deshalb nicht mehr (eindeutig) identifizierbar (Aus 396). Der Sarg der Mutter lässt sich trotz mehrmaliger Anläufe nicht öffnen und markiert somit selbst bei Muraus schamloser Bereitschaft zum Tabubruch eine unüberwindbare Grenze. Sowohl das Telegramm der Schwestern als auch die direkte Konfrontation mit den aufgebahrten Toten lösen bei Murau einen Reflexions- und Erinnerungsprozess aus, der, anders als bei Simonides, zu keinem endgültigen Schluss, zu keiner finalen Identifizierung führt und sich zugleich in seiner scheiternden Identifizierung selbst mitreflektiert. Wie Stefan Goldmann erarbeitet hat, liegt der Ursprung der Mnemotechnik im Totenkult. Simonides preist als Sänger und Dichter nicht nur die Sieger und die Toten und ermöglicht qua Erinnerung letzterer eine die soziale Ordnung restituierende Trauerarbeit, ihm kommt auch eine kultische Funktion zu, die sich im ‚magischen’ Überschreiten der Schwelle7 symbolisch als Vermittlung zwischen göttlicher und weltlicher Sphäre, zwischen den Lebenden und den Toten, aus-
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Stefan Goldmann, „Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos“, in: Poetica 21 (1989), 52.
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drückt. Der Einsturz des Gebäudes im Moment des Schwellenübertritts unterstreicht die Bedeutung der Schwelle. Simonides tritt somit als Schwellenkundiger auf, der die Trennlinie zwischen Innen und Außen, Leben und Tod, Menschen- und Götterwelt gefahrlos zu überschreiten vermag.8 Auch Murau ist schwellenkundig, wenngleich sich das Passieren der Schwelle, die zwischen Wolfsegg und Rom, zwischen dem ersten und zweiten Textteil zu situieren wäre, für ihn nicht gleichermaßen ungefährlich darstellt. Da die konfliktträchtigen Aufenthalte im Kreis der Familie seiner Gesundheit schaden, will er eigentlich von einer Rückkehr nach Wolfsegg absehen. Die Schwelle, die Innen und Außen, unverfügbar gewordene Realität und Verfügbarkeit suggerierende Fiktion trennt, ist indessen eine Denkfigur, die Muraus Gedankengänge grundlegend beherrscht, was sich wiederholt in seiner Kritik an der Foto- und Kameraperspektive seines Zeitalters niederschlägt. Sein Denken ist darauf ausgerichtet, diesen technisch-medialen Blick, den er als tautologische Verdoppelung denunziert, zu überwinden. Während die Vorstellung des Schwellenübertritts Murau in eine Endlosschleife von Reflexionen treibt, ihn Grenzen einreißen und, unter ständig scheiternden Bemühungen, ohne diese oder jenseits derselben denken zu können, (er)neu(t) konstruieren lässt, etabliert Simonides eine verbindliche zweite Ordnung nach dem Einbruch der Katastrophe, indem er den verstümmelten Leichen qua Erinnerungstechnik ihre Identität zu- und die untergegangene erste Ordnung damit zugleich überschreibt. Er erstattet den unkenntlichen Toten ihre Namen zurück, wodurch sie der Trauerarbeit der Angehörigen übergeben werden können. Der über die Rekonstruktion der Sitzordnung vollzogene Akt der Identifizierung erzeugt-bezeugt eine neue Ordnung, die behauptetes Abbild der ersten Ordnung und fundamentale Differenz zu ihr in eins ist, da seine Objekte unwiderruflich entstellt bzw. tot sind. Allein ihr Über-Leben in der Erinnerung der Hinterbliebenen wird dabei gewährt und gesichert. Mit der Etablierung der Mnemotechnik werden Einbruch und Erfahrung des Todes phantasmagorisch kompensiert, indem die Vorstellung das, was zuvor in der Realität untergegangen war, im Gedächtnisraum wieder aufrichtet.9 Die Urszene des Gedächtnisses heißt Zeugnis ablegen von der anatrope, dem Umschlagen vom Leben zum Tod10, vom Fest zum Begräbnis, vom Kult zum Gedenken und weist die Entstehung der Mnemotechnik als eine Epochen-
8
Ebd., 53.
9
Ebd., 61.
10 Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur, Frankfurt am Main 1990, 24.
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schwelle aus11, die sich auch als Übergang vom Mythos zum Logos lesen lässt. Über die Katastrophe hinweg wird das Zerstörte in eine Ordnung der Kultur zurückgerettet, womit die zerfallene Kultur (ihre) Sinnzuschreibungen erhält. Die Bewahrungs- und Verwahrungsordnung löst jene des Lebens, die distanzierende Trauer die unmittelbare Konsumption des Speisens ab.12 Unter diesen Prämissen nimmt Spadolini eine Gegenposition zu Murau ein. Er tritt ebenfalls als Schwellengänger auf, bewegt sich jedoch in beiden Welten mühe- und kritiklos und füllt seine jeweilige Rolle ohne Anzeichen eines Schwellenbewusstseins aus. Prägnant manifestiert sich der Kontrast beider Figuren in der Trauerrede, die Spadolini nach seiner Ankunft auf Schloss Wolfsegg beim Abendessen hält. Der Erzbischof beginnt diese Rede, indem er die Toten in der Vorstellung der Anwesenden als Quasi-Lebende heraufbeschwört: „Es ist, sagte er zu uns, als ob jeden Augenblick die Eltern hereinkommen würden. Als ob eure Mutter hereinkäme jeden Augenblick.“ (Aus 548) Getreu dem Motto „De mortuis nihil nisi bene“ und ihrer Charakterzüge eingedenk richtet Spadolini in seiner Rede die durch den Autounfall sprichwörtlich zerschmetterten Persönlichkeiten wieder auf und spendet Muraus Schwestern vor allem dadurch Trost, dass er diese dabei – aus Muraus Sicht maßlos – überzeichnet. Der Vater sei ein „anständiger Mensch“, ein „großer Herr“, „[e]in Philosoph“ (Aus 551), ein „Kunstkenner“ und „Naturmensch“ (Aus 554) gewesen. Dabei nähert sich Spadolini durchaus Muraus „Übertreibungskunst“ (Aus 611) an, obwohl er sich mit seiner Ein- und Überschätzung dem von Murau skizzierten Bild des Vaters kontrastiv entgegenstellt. Dieser merkt umgehend an, dass „alles, was Spadolini [...] über den Vater sagte, [...] völlig falsch“ (Aus 551) sei: „Spadolini hat einen Vater gezeichnet, den es nicht gegeben hat, der aber jetzt in Spadolinis Kopf zu sein hatte, dachte ich. Aber obwohl alles falsch ist, das Spadolini über den Vater gesagt hat, dachte ich, hatte es doch den Anschein des Authentischen. Wir hören sehr oft über einen Menschen lauter Unsinn und lauter Unwahrheiten und Falschheiten sagen, dachte ich, und glauben, es sei das Authentische über diesen Menschen, einfach die Wahrheit, weil es ein solcher überzeugender Mensch wie Spadolini gesagt hat. Aber in diesem Fall überzeugte mich Spadolini nicht, ganz offensichtlich hat er vom Vater ein Bild gezeichnet, das er von ihm haben wollte, nicht das, das der Wahrheit und Wirklichkeit entspricht, dachte ich. Der spadolinische Vater war der mit der größten Selbstverständlichkeit von Spadolini idealisierte und nicht einmal geschmacklos idealisiert von Spadolini, dachte ich, denn Spadolini hat seine Vaterskizze so charmant vorgetragen, ohne
11 Ebd., 18. 12 Ebd., 24.
52 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES den Trauerton außer Acht zu lassen, der jetzt angebracht war angesichts der Tatsache, daß der Vater erst zwei Tage tot war, daß die tatsächliche Geschmacklosigkeit seiner Verfälschung nicht zum Vorschein kommen konnte, [...].“ (Aus 552)
Murau kritisiert den Inhalt der Rede als idealisierende Verzerrung und ihren der Trauerszene geschuldeten Opportunismus, erkennt aber andererseits ihre reüssierende Wirkung und Funktionalität an. Die rhetorische Kunst des Erzbischofs hält er fraglos für bewundernswert. Doch diese Haltung birgt schon wieder Muraus Hang zur Ironisierung, denn durch das vermeintliche Höchstmaß an Authentizität bei naturalistischer Redewiedergabe gerät Spadolinis italienischer Akzent unwillkürlich zur Parodie, da diese äußerste Präzision gerade nicht auf eine zweifelsfreie Semantik hinausläuft, sondern im Gegenteil wieder in (mindestens) zwei Lesarten zerfällt: „Wenn die Italiener Herrlichkeit sagen, klingt es wie Ehrlichkeit, mehrere Male hat Spadolini geglaubt, er sagt Herrlichkeit und hat doch immer Ehrlichkeit gesagt, das belustigte mich.“ (Aus 550) „Daß er Oberösterreich so gut kenne, sei das Verdienst unserer Mutter, diese errlichen Seen und Berge, das Tote Gebirge, den hohen Priel, sagte er. Und alle diese errlichen Schlösser, die es sonst nirgends gibt. Dieses ganze errliche oberösterreichische Land, das schönste aller österreichischen, meinte er.“ (Aus 556)
Ähnlich wie es Onkel Georg gelungen war, Murau die großen Figuren der Geschichte wie „lebendige Menschen auf einer lebendigen Bühne“ (Aus 46) näher zu bringen, vermag Spadolini in seiner Rede an besondere Erlebnisse mit den Eltern in einer Weise zu erinnern, die sie wenigstens in der Wahrnehmung von Muraus Schwestern kurzzeitig wieder aufleben lässt. Bemerkenswerterweise geht es in beiden Erinnerungsszenen um Situationen zwischen Leben und Tod, die sich jeweils auf einem Berg ereignen. Im Falle des Vaters berichtet Spadolini von der „Bergtour auf den Ortler“, bei dem der Vater ihm das Leben rettet, indem er ihm „im allerletzten Moment“ an einer Felswand ein Seil zuwirft (Aus 553). Im Falle der Mutter erzählt der Erzbischof von ihrem Ausflug auf den Ätna, an dem auch Murau teilnimmt (Aus 559f.), wobei sie auf dem Ätnaplateau von einem Schneesturm überrascht werden. Murau fährt mit der Seilbahn zurück zur Talstation. Diese gerät durch den Wind so stark ins Schwanken, dass er um sein Leben fürchtet. Spadolini und seine Mutter dagegen bringen sich bei dem Versuch, zu Fuß ins Tal zu gelangen, in Absturzgefahr, können sich aber in eine
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Lavaspalte retten. Laut Spadolini war dies nicht das einzige Mal, dass die Mutter ihm das Leben gerettet habe (Aus 561). Der spadolinischen Darstellung der Mutter widerspricht Murau weitaus heftiger als dessen Reminiszenzen an den Vater und offenbart dabei den typisch murauschen Hang zur Übertreibung, auf deren Höhepunkt er die Mutter gar als „das personifizierte Böse“ (Aus 569; vgl. 297f.) brandmarkt: „[...] wenn er auch eine recht gute Beschreibung des Ätnaausflugs gegeben hat, dachte ich, sich Mühe gegeben hat, den Ätnaausflug so zu schildern, daß ich mehr oder weniger nichts daran auszusetzen hatte, ihn aber auch so geschildert hat, daß er doch nur als eine oberflächliche Episode bezeichnet werden kann von denen, die seine Schilderung gehört haben, die ja nicht Zeugen dieser Episode gewesen sind zum Unterschied von mir, der ich doch auch das Dämonische dieser Ätnaepisode im Kopf habe, [...] die Ätnaepisode hat er als eine doch mehr oder weniger unbedeutende Äußerlichkeit beschrieben, über sie berichtet, als hätte sie nichts Teuflisches an sich, wie ich dachte, wo sie doch teuflisch gewesen ist, durch und durch teuflisch, dachte ich jetzt.“ (Aus 567) „Der Abstieg der beiden vom Ätnaplateau war teuflisch gewesen, ausgeklügelt von beiden, dachte ich, von meiner Mutter ebenso, wie von Spadolini. Sie hatten den Schneesturm ausgenützt, dachte ich. Sie hatten die Eisspalten ausgenützt. Sie hatten die Schneeverwehungen in Rechnung gestellt und sind bewußt in diesen Schneesturm hinunter, dachte ich, hatten mich auf unverschämte Weise auf dem Ätnaplateau alleingelassen in meiner Ahnungslosigkeit, wie sie dachten, denn die beiden waren ja selbst immer alles andere als harmlos, dachte ich, haben sich die Berechnung immer zu ihrem Prinzip gemacht.“ (Aus 568)
Auf die möglichen ödipalen Implikationen13, mit denen Murau sich zunehmend in eine harsche Ablehnung von Spadolinis Mutter-Skizze hineinsteigert, sowie die Ätnaszene insgesamt wird später in einem anderen Kontext zurückzukommen sein. Zunächst ist zu vermerken, dass Murau für sich reklamiert, mit seiner Mnemonik die „oberflächliche“ Darstellung durchdringen und auch das dahinter verborgene „Teuflische“ und „Dämonische“ begreifen zu können. Beide Begriffe bilden mit dem „Böse[n]“ (Aus 568 u. 569) ein Ensemble und zielen auf einen Bereich, der, bezogen auf das Schwellenschema der Simonides-Legende, jenseits der Schwelle anzusiedeln wäre. Murau behauptet somit, im Sinne meiner These, ihn für schwellenkundig zu befinden, hinter die rhetorische Maskierung blicken zu können, die Spadolini in seiner Rede vornimmt.
13 Wie Pfabigan in dieser Szene „keine ödipale Rivalität“ erkennen kann, entzieht sich meinem Verständnis. Pfabigan 2009, 201.
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Die (Un-)Möglichkeit der Überwindung dieser Schwelle wird im Fokus des zweiten Teils dieser Arbeit stehen, der sich der Mnemophantastik widmet. Goldmann gelang es, den archaischen Mythos zu rekonstruieren, der der Simonides-Legende als Folie zugrunde liegt und in den Überlieferungen Ciceros und Quintilians verdeckt wurde. Dieser Mythos rekurriert auf den Toten- und Ahnenkult, die mit der Begründung der Gedächtniskunst als epochalem Einschnitt abgelöst werden.14 Einzelne Bausteine des Mythos, das Loblied des Simonides auf einen Faustkämpfer, das Festmahl, der Tod und die Bestattung sind Wesensmerkmale eines Totenkultes, die je nach historischer und geografischer Ausprägung in ihrer Abfolge leichten Variationen unterworfen waren.15 Goldmann führt hier als Beispiele die Leichenspiele zu Ehren des Patroklos an, wie sie im 23. Gesang der Ilias beschrieben sind, oder die von Herodot überlieferten Begräbnissitten der Thraker, die im Wesentlichen die Ausstellung der Leiche(n), Totenklage, Schmaus, Bestattung und Leichenspiele beinhalteten. Die Agone, wie der Faustkampf, von dem die Simonides-Legende indirekt Zeugnis ablegt, waren zum Ehrengedächtnis eines Heros eingerichtet. Das anschließende Festessen erneuerte die alte Speisegemeinschaft zwischen ihm und seiner Gemeinde, die überwiegend verwandtschaftlich organisiert war. Da der Faustkämpfer weder der Vergangenheit noch der Zukunft, und demnach weder dem Ahnherrn noch dem Dichter als Sprachrohr des Nachruhmes, Tribut zollt, was einer Aufkündigung der traditionellen Gott-Mensch-Beziehung gleichkommt, ist sein Haus dem Untergang geweiht.16 Die enge Verflechtung von Totenkult, Ahnenverehrung und Gedächtniskunst zeigt sich auch in den römischen Ahnengalerien, in denen Goldmann das reale Vorbild für den mnemonischen Gedächtnisraum erkennt, wo die Grundelemente loci und imagines wieder auftauchen. Die Römer nahmen ihren verstorbenen Ahnen Totenmasken aus Wachs ab, die von den Nachkommen an eine markante Stelle im Haus platziert wurden. In der genealogischen Ordnung der im Lararium aufgestellten Ahnenbilder kehrt die verwandtschaftlich strukturiert zu denkende Sitzordnung der Festgesellschaft wieder, wodurch sich die Genealogie sowohl als Ausgangspunkt als auch als Inhalt der Gedächtniskunst ausweist.17
14 Lachmann 1990, 18. 15 Goldmann 1989, 51. 16 Ebd., 52. 17 Ebd., 61f.
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In diesem Kontext erhält Muraus Aussage, Spadolini habe in seiner Erinnerungsrede an die Eltern das „Dämonische“ und „Teuflische“ unterschlagen, eine besondere Pointe, denn eben jene genealogische Grundordnung wird von Spadolini durch sein Verhältnis zur Mutter, das der von mir eingebrachten Möglichkeit, Muraus Vater zu sein, erst Raum gibt, erschüttert und in Frage gestellt. Murau selbst wehrt sich nicht gegen diese Infragestellung, die seinem eigenen – besonders den „Herkunftskomplex“ betreffenden – Auslöschungsprogramm als einer Gegenrichtung zum herkömmlichen Gedächtnis entspräche, er prangert die Berechnung Spadolinis an (Aus 571) und rügt vor allem seine Heuchelei und Verlogenheit: „Spadolini hat uns eine völlig verfälschte Mutter aufgetischt18, sagte ich mir. Wie abgeschmackt erschien mir auf einmal Spadolinis Muttervortrag, durch und durch geheuchelt, verlogen, durch und durch zurechtgeschnitten für den Anlaß, den er auch immer als traurigen Anlaß bezeichnete bei Tisch, ohne dabei wirklich Traurigkeit zu empfinden, dazu war er gar nicht imstande.“ (Aus 569f.)
Auch die Auslöschung spürt dem Totenkult nach und analysiert dessen mnemonische Implikationen. Die über Familiengenerationen hinweg tradierte Aufbahrung der Toten in der Orangerie verdichtet sich zu einem Bild, das sich als mnemonischer Gedächtnisraum in Verbindung zum Toten- und Ahnenkult stellt. Murau erachtet diese Aufbahrung als Kunstwerk und Schauspiel (Aus 324), die er als solche auch zu würdigen weiß. Mit den tatsächlichen Leichen jedoch physisch konfrontiert, „den Geruch eingeatmet, der für aufgebahrte Leichen charak-
18 Mit dem Ausdruck „aufgetischt“ deutet sich ein Zusammenhang zwischen Produktion und Konsumtion an, nach dem Murau die von Spadolini gewissermaßen ‚zum Verzehr‘ dargebotene Rede ablehnt. Vgl. Aus 500: „[…] gut essen einerseits, gut denken andererseits, das waren sehr oft die Worte Spadolinis gewesen, die er mir eingehämmert hat.“ Diese Diätik, die Signifikanz der diversen Tische und des Essens in der Auslöschung, gilt es im Weiteren im Auge zu behalten. Als radikale Ablehnung der Konsumtion und des Essens firmiert der Ekel, von dem im Folgenden noch die Rede sein wird. Zum Konnex von Ess- und Schreibtisch im Siebenkäs siehe Mathias Weingärtner, „...bis daß der Tod euch scheidet.“ Autorschaft und Ehediskurs in Jean Pauls Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs und Goethes Die Wahlverwandtschaften, 2001, URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/5478 (letzter Zugriff: Dezember 2012), 206ff.
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teristisch ist“ (Aus 396), lehnt er es ab, sie als (Abbilder seines) Vater(s) und Bruder(s) (an-)zu(-)erkennen. Der Anblick ekelt ihn: „Meine Verbindung hatte ich zu meinen lebenden Eltern und zu meinem lebenden Bruder, nicht zu diesen stinkenden Leichnamen. [...] Die aufgebahrten Gesichter meines Vaters und meines Bruders erkannte ich nicht einmal als diese, sie waren so verändert, als wären es fremde, die mit meinem Vater und meinem Bruder nichts zu tun haben.“ (Aus 396)
In der bewussten Wahrnehmung der Differenz der toten Gesichter19 zu ihren lebenden Vor-Bildern, ihrem unaufhaltsamen Verfall, der die Gesichter des Vaters und Bruders derart verfremdet und unleserlich macht, dass sie ihn nicht mehr an die einst lebenden Personen erinnern, weist Murau eine Kontinuität stiftende Erinnerung über eine zweite, mimetische Ordnung zurück: Er wendet sich angeekelt ab.
2.2.
LOCI ET IMAGINES
Die Mnemotechnik beruht im Wesentlichen auf dem Konzept des Zusammenwirkens von loci und imagines, das ein künstliches Gedächtnis konstituiert. Unter locus versteht man einen Ort in einem Gedächtnisraum, z.B. in einem Gebäude, in einem durch Säulen unterteilten Raum, einem Garten oder einem Labyrinth.20 Als imagines können Formen, Zeichen oder Simulakra gelten, die beim Memorieren an genau definierten loci deponiert werden. Wichtig ist dabei die Reihenfolge der loci, deren Ordnungsgefüge memoriert werden muss, wodurch ein Erinnerungsvorgang an jedem beliebigen locus beginnen und sich von dort aus wahlweise vorwärts oder rückwärts fortsetzen kann.21 Imagines fungieren als Statthalter für Dinge und deren Namen, die in den vorgegebenen Ordnungsraum eingetragen werden. In ihren Repräsentanten konserviert können Dinge und Namen unkenntlich oder vergessen werden, d.h. aus der Gegenwart herausfallen. Durch das Abschreiten der Bilddeponien und Benennen der Dinge können sie jedoch reaktiviert und kenntlich gemacht werden. Um dem Vergessen entgegenzuwirken, verlangt die Schrift Rhetorica ad Herennium gerade möglichst auffallende/ausgefallene Bilder, die von einer be-
19 Gleich zu Beginn ihrer ‚Wiederentdeckung’ der Gedächtniskunst geht Frances Yates auf die Relevanz des Gesichtssinns für die Mnemonik ein. Yates 1994, 13. 20 Lachmann 1990, 19. 21 Yates 1994, 23.
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sonderen Aktivität gekennzeichnet, von „außerordentlicher Schönheit“ oder „einzigartiger Häßlichkeit“ geprägt sind. Als Beispiele werden diverse Ornamente angeführt wie „Kronen“ oder „Purpurmäntel“, gewisse Markierungen wie Blut- oder Lehmbeschmierungen oder rote Farbe gefordert oder „komische Wirkungen“, die den Bildern beizufügen sind. 22 Diese phantastischen imagines agentes, die durch Techniken der Hervorhebung und Übertreibung helfen sollen, die Merkbilder gegen Verblassen und Verlöschen zu immunisieren, wurden in der späteren Rhetorik-Fassung Quintilians unterschlagen. Das Unkenntlichgewordene, das Entstellte, ist das zu erinnernde Vergangene. Diesem entsprechen in der ciceronischen Version der Simonides-Legende die zerschmetterten Leichen, die die nicht mehr entzifferbare Zeichenordnung vor der Katastrophe darstellen.23 Diese Katastrophe besteht im Einbruch des Vergessens, in der Verwüstung des Zeichenraums. Simonides identifiziert die unkenntlichen Toten, indem er qua Erinnerung ein (Ab-)Bild der Sitzordnung erzeugen bzw. eine Abfolge der Namen benennen kann. Die Bildfindung ‚heilt’ gewissermaßen die Zerstörung. Über die Feststellung ihres Ortes (Sitzes) im Leben gibt die Kunst der Memoria den Zerschmetterten ihre Gestalt und somit ihre Lesund Adressierbarkeit zurück.24 Auch in der Auslöschung fungieren loci und imagines – vordergründig – als die zentralen Konzepte, die jedoch in unterschiedlicher Gewichtung im Text verteilt sind und deren Komplementärverhältnis von Murau dahingehend inszeniert und analysiert wird, dass sein Effekt den der Simonides-Legende negiert. Im ersten Kapitel „Telegramm“ dominiert das Konzept der imagines, das in Muraus Reflexionen über die Fotografien verhandelt wird. Personen tauchen nur auf Bildern oder in Muraus Imagination auf, die von Bildern erzeugt und getragen wird. Dagegen ist das zweite Kapitel „Testament“ vorwiegend durch Gebäude und Räume strukturiert, in denen die Personen wie Schauspieler auf einer Bühne agieren. Dennoch ist in beiden Teilen das jeweilige konzeptuelle Pendant vorhanden und ihre Anordnung bzw. ihr Verhältnis zueinander ist keineswegs so stabil, wie die meisten Interpretationen glauben machen wollen, weil eine klare Ordnung der (Gedächtnis-)Räume bzw. eine Trennung zwischen Rom und Wolfsegg nicht möglich ist, wie in den Kapiteln 2.4. und 2.5. des zweiten Teils auszuführen sein wird.
22 Ebd., 18. 23 Lachmann 1990, 21. 24 Ebd., 22.
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Entgegen der platonischen Hierarchisierung, in der die hypomnesis der mneme untergeordnet ist, konstituiert die Mnemotechnik mit Simonides’ Überschreiten der Schwelle beim Verlassen des Gebäudes ein Gedächtnis der Auswendigkeit25, in dem es gleichwohl die Authentizität der res unterstellt, die von den imagines repräsentiert werden – unabhängig davon, ob man die loci vorwärts oder rückwärts aufsucht. Wo in Hesiods Theogonie das musische Erinnern an die Selbstvergessenheit des Dichters gebunden ist, erinnert (sich) Simonides (an) den status ante quem, wie in der Platonischen Gedächtniskonzeption die Seele des Philosophen sich an die im vorgeburtlichen Flug eingeprägten ‚Ideen’ zu erinnern vermag. In seiner Habilitationsschrift Das unendliche Thema weist Manfred Weinberg darauf hin, dass die Angehörigen der Opfer einfältig auf die Authentizität der von Simonides behaupteten Namen vertrauen und damit der Haltung der Platonischen ‚Alten’ zum ‚musischen logos’ entsprechen26, was bedeutet, dass die Frage nach der Wahrheit in der Simonides-Legende überhaupt nicht gestellt wird. Im ersten Teil der Auslöschung kommt Murau mit seiner der recollectio vergleichbaren Betrachtung der drei Fotografien, die seine Eltern auf dem Viktoriabahnhof in London, seinen Bruder beim Segeln in Sankt Wolfgang und seine Schwestern Amalia und Caecilia vor Onkel Georgs Villa zeigen, offenbar zu demselben Schluss, wenn er diese Denkweise anhand der Fotografie (und später der Zeitungspresse) zwar einer scharfen Kritik unterzieht, ihre Produkte aber letztlich doch als authentische (an-)erkennt: „Die Fotografie zeigt nur den grotesken und den komischen Augenblick, dachte ich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eine heimtückische perverse Fälschung, jede Fotografie, gleich von wem sie fotografiert ist, gleich, wen sie darstellt, sie ist eine absolute Verletzung der Menschenwürde, eine ungeheuerliche Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit. Andererseits empfand ich die beiden Fotos als geradezu ungeheuer charakteristisch für die darauf Festgehaltenen, für meine Eltern genauso wie für meinen Bruder. Das sind sie, sagte ich mir, wie sie wirklich sind, das waren sie, wie sie wirklich waren. […] Ich hätte ja, dachte ich, keine Verfälschung meiner Eltern und meines Bruders in meinem Schreibtisch geduldet. Nur die tatsächlichen, die wahren Abbilder. Nur das absolut Authentische, und ist es noch so grotesk, möglicherweise sogar widerwärtig.“ (Aus 26f.)
25 Vgl. Weinberg 2006, 283. 26 Ebd., 284.
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Gerade das ‚Groteske‘ und ‚Widerwärtige‘, so die Lehre aus der Rhetorica ad Herennium, gewährt ja eine tiefe Verankerung der Erinnerungsbilder im Gedächtnis und lässt sie somit in der Rückschau stets lebendig und authentisch wirken. Dass die Fotografien in/durch ihre(r) Naturverfälschung „charakteristisch“ und ‚authentisch’ sind, ist allerdings der Ironie von Muraus Authentizitätsdiskurs geschuldet, der sich letztlich gegen die „Teufelskunst“ (Aus 243) der Fotografie und ihre Synthetisierungsmechanismen wendet. Allein die Abbildung, die per definitionem nur noch zweite Realität sein kann, gibt den Maßstab der Authentizität vor. Jegliches Bemühen, die Wirklichkeit festzuhalten oder zu rekonstruieren, zieht aufgrund perspektivischer Zurichtung ihre Mortifikation und Destruktion nach sich: Stattdessen werden Substitute entworfen, ein Zeichen anstelle eines anderen gesetzt. Substitut und Simulakrum sind insofern ‚authentisch’ und „charakteristisch“, als das abzubildende Zeichen selbst immer schon ein referentielles und dupliziertes Simulakrum gewesen sein muss. Die Möglichkeit der ErSetzung geht der Möglichkeit der Setzung voraus. Derrida definiert diese Iterierbarkeit als Supplementierung, wodurch die Idee eines originären, ontotheologischen Signifikats getilgt wird.27 Authentizität kann folglich nur an Supplementen bemessen werden, denen eo ipso ihre eigene Supplementierung inhärent ist, woraus sich eine Supplement-Kette ableitet, in der ‚Realität’ und ‚Bedeutung’ nicht mehr verortbar sind. Sie werden in einer unendlichen Reihe von Supplementen fortgerissen, was jegliche Frage nach Authentizität ad absurdum führt. 28 Dieser Verlust natürlicher Selbstbezogenheit verursacht das objektive Entschwinden erfahrbarer Natur: „Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr.“ (Aus 126) Im Hinblick auf das Verfahren der Mnemotechnik ist es wichtig, auf die Beschriftung der Rückseiten der Fotografien (Aus 30f.) und auf Muraus Reflexion und Imagination bei ihrer Betrachtung zu verweisen, da die Wechselbeziehung von Wort und Bild, die die unterschiedlichen Aggregatzustände der Repräsentation der phänomenalen Welt manifestieren, ein zentrales Moment der Mnemonik und der Rhetorik darstellt. Muraus Gedanken schweifen immer wieder von den Illustrationen der Fotografien ab und simulieren in ihrer oft überraschenden Rückkehr zum Bild seine Verflüssigung beim Vortrag durch den Rhetor sowie das schweigende, zum Bild geronnene Wort (vgl. Aus 251f.). Yates zufolge gleicht die Gedächtniskunst einem ‚inneren Schreiben’.29
27 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1974, 250 u. 418. 28 Vgl. ebd., 401f. 29 Yates 1994, 15.
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Die Aporie der Authentizität spiegelt sich nicht nur in den Fotografien wider, sondern auch in den Zeitungsberichten über den Unfall, in der sich abermals die Dysfunktion der Grenze zwischen Natur und Kunst, zwischen Wahrheit und Lüge offenbart. Sie bieten sich als Supplemente, Bild(er) oder Schrift dar, die bloßes Simulakrum, re-präsentierte Realität und Maßstab für Authentizität sind: „So las ich, zum ersten Mal zitterten mir die Hände, so ziemlich alles, was die Zeitungen über die Meinigen geschrieben haben und ich hatte während des Lesens den Eindruck, die Zeitungen schreiben zwar mit der allergrößten Verlogenheit, gleichzeitig aber auch die Wahrheit, sie schreiben mit der größtmöglichen Gemeinheit, gleichzeitig aber auch nichts als die Tatsachen, daß sie zwar alles in diesen Berichten bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, wie sie selbst über die Leiche meiner Mutter schreiben, daß sie aber gleichzeitig nichts als authentisch sind. So verlogen alles ist, das in den Zeitungen steht, sagte ich mir bei dieser Lektüre, so wahr ist es in Wirklichkeit, die Zeitungen schreiben, wenn sie verlogen schreiben, ja doch nichts als die Wahrheit und je verlogener sie schreiben, desto wahrer ist es. Diese Feststellung muß ich beim Zeitungslesen immer machen, daß die Zeitungen nichts als verlogen sind, gleichzeitig aber doch auch nichts als die Wahrheit schreiben, dieser Absurdität bin ich während des Zeitungslesens noch niemals entkommen.“ (Aus 405)
Diese „Wahrheit“ offenbart sich nur in einem Medium, das stets lügt und die Wahrheit unweigerlich verfehlt, womit gerade die Wahrheit der medialen Verfasstheit und Verfehlung ihren Ausdruck findet. Dabei räumt Murau die Unerlässlichkeit der Identifizierung nichtsdestotrotz ein und konzediert, dass die Simultaneität von Realität erzeugendem u n d verzerrendem Denken unhintergehbar ist. Dennoch lässt er nichts unversucht, einen Ausbruch aus dieser ontologischen Falle zu wagen und sich auf eine potentiell infinite Prozessualisierung des aporetischen Authentizitätsdiskurses einzulassen, der durch das Variieren der Fotokonstellation fortwährend neue Textpassagen generiert, welche gemäß des auslöschenden Zerfallsprozesses direkt von einem folgenden überschrieben und ausgelöscht werden. Die Reflexionen über den Fotos, deren Funktion wiederum der Deckerinnerung der Sekundärbearbeitung bei Freud vergleichbar ist, führen somit die Textgenese vor: Man beobachtet einen Text beim Entstehen, womit die Auslöschung auch als work in progress zu beschreiben wäre, als permanente Verschiebung und Ersetzung der Supplemente, nicht als Produkt eines mechanischen Gedächtnisses, sondern als Prozess seiner Elemente in einer unausgesetzten Zirkulation und Variation.
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Die Identität und Kontinuität stiftende Funktion der recollectio der imagines wird von Murau scharfsinnig analysiert und geprüft. Beispielsweise geben die Kunstgegenstände, deren zugehörige loci der Vater ohne „Lust und Leidenschaft“ aufsucht (Aus 50f.), nur um sie gesehen zu haben und damit für seine gesellschaftlichen Kreise anschlussfähig zu bleiben, das Prinzip der imagines wieder. Auch Muraus Schelte gegen Zeugnisse und Titel und seine Häme gegen Vater und Bruder, die sich ihre Abschlusszeugnisse gerahmt an die Wand gehängt haben (Aus 80f.), sind als Kritik an dieser Form von Idolatrie zu verstehen. Hinsichtlich ihrer Authentizität stellt er das Konzept der imagines der Fotografie gleich: „In ihren Wohnungen hängen sie sich die Fotografien auf, die sie von sich machen haben lassen, als eine schöne und glückliche Welt, die in Wahrheit die häßlichste und unglücklichste und verlogenste ist. Lebenslänglich starren sie ihre schönen und glücklichen Bilder an ihren Wänden an und empfinden dabei Befriedigung, wo sie doch nur Abscheu dabei empfinden müßten. Aber sie denken nicht, und das bewahrt sie vor der fürchterlichen Erkenntnis, daß sie häßlich, unglücklich und verlogen sind. Sie gehen so weit, daß sie den Besuchern ihrer Wohnungen, die sie, die Einladenden, als häßliche und unglückliche und stumpfsinnige und gemeine Menschen kennen, die Fotos zeigen, auf welchen sie, wie sie glauben, als glückliche und schöne Menschen abgebildet sind, sie schämen sich nicht, diese Fotografien auch denen zu zeigen, die sie in Wirklichkeit kennen und also auf dem Foto selbstverständlich als Lügner und tatsächlich durch und durch Verlogene und Verlorene kennen. Wir leben in zwei Welten, sagte ich zu Gambetti, in der wirklichen, die traurig und gemein ist und letzten Endes tödlich und in der fotografierten, die durch und durch verlogen, aber für den Großteil der Menschheit, die gewünschte und die ideale ist. Nimmt man dem Menschen heute die Fotografie, reißt man sie ihm von den Wänden herunter, hatte ich zu Gambetti gesagt, und vernichtet sie, ein für allemal, nimmt man ihm mehr oder weniger alles. So kann folgerichtig gesagt werden, daß die Menschheit an nichts mehr hängt, sich an nichts mehr anklammert und schließlich von nichts mehr abhängt, als von der Fotografie. Die Fotografie ist ihre Rettung [...].“ (Aus 127f.)
Murau verkennt keineswegs die Notwendigkeit der Subjektkonstitution und Identitätsstiftung durch Konservierung und Reaktivierung von Gedächtnisbildern. Wogegen er sich wendet, ist der Automatismus des Erinnerungsprozesses und seine unreflektierte Anwendung bzw. die verkürzte und naive Annahme einer unhistorischen, tautologischen Gedächtnismechanik, von der er Onkel Georgs Geschichtsauffassung und -erzählung emphatisch abhebt: „Er hat mir die großen Namen der Geschichte nicht als fade Abziehbilder einer ebenso falschen Geschichte auf die Innenseite meines Gehirns geklebt, sondern sie mir immer
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wieder als lebendige Menschen auf einer lebendigen Bühne vorgeführt.“ (Aus 45) In diesem Sinne eifert der Neffe mit seiner Selbstkorrektur bei der Lektüre der Fotografien seinem Vorbild und dessen ‚Gedächtnistheater’ nach: „Ich setzte mich an den Schreibtisch und betrachtete die Fotografien, die ich schon den ganzen Nachmittag betrachtet hatte, b e o b a c h t e t [meine Hervorhebung, T.M.], wie ich mich sogleich verbesserte.“ (Aus 310) Dem ist zu entnehmen, dass die Bilder nicht starr und unveränderlich, sondern aktiv und wandelbar sind, womit Muraus Bildbetrachtung und Gedächtnis(-auf-) ‚fassung‘ Onkel Georgs (auslöschende) Lebensauffassung nachahmt, nach der ständig neue Regeln aufzustellen sind, um sie kurz darauf schon wieder für nichtig zu erklären. Bezüglich der vehement geforderten Überwindung des „Verdummungsprozesses“ (Aus 645), der mit der „Erfindung der Fotografie“ (ebd.) eingeleitet und der Weiterentwicklung zum Film beschleunigt wurde und durch den Murau das Denken „an der Jahrtausendwende“ (Aus 646) existentiell gefährdet sieht, kündigt sich der Horizont einer anderen Gedächtniskonzeption an, die tendenziell eher einen Rekurs auf die phantastischen imagines agentes der Rhetorica Ad Herrenium vorgibt. Dass Murau mit dieser Einstellung von seinem gesellschaftlichen Umfeld als Bedrohung empfunden wird, erklärt sich von selbst. In Wolfsegg wird er wegen seiner „abwegigen Gedanken“ (Aus 259f.), denen er nach Einschätzung der Familie besonders in den Bibliotheken nachhing, gefürchtet und sanktioniert, weil sein fundamentaler Skeptizismus und radikaler Wissensdrang die Kontinuitätsstiftung traditioneller Werte und Vorstellungen unterminiert. Als Ersatzerbe und in Anbetracht seiner historischen Vorbelastung will Murau das Erbe weder unreflektiert noch vorbehaltlos antreten. Nur unter bestimmten Voraussetzungen wäre er bereit, die Kontinuität der Wolfsegger Traditionen und Perpetuierung des Machtspiels in Erwägung zu ziehen. Dazu sollen zunächst „alle Bilder an den Wänden und auf den Dachböden [geprüft werden], [um] so einen Überblick über ihren tatsächlichen Wert zu [erhalten]“ (Aus 374), womit keine kategorische Ablehnung aller Wolfsegger Traditionen gegeben ist, wohl aber eine Verabschiedung der Automatismen einer atavistischen, transgenerationellen Erbstruktur, die, ohne zu hinterfragen, ohne Mut zu Veränderung oder Perspektivwechsel, eine scheinbare, sich ewig gleich bleibende Ordnung aufrechterhält. Dass dieser Ordnung keine Substanz eignet, wird Murau bei seinen Überlegungen, die Kindervilla restaurieren zu lassen, bewusst, indem er die Elemente der Mnemonik nicht zusammendenkt, sondern (sich mit ihnen) auseinandersetzt. Eine fundamentale Differenz zwischen imaginierten (Gedächtnis-)Bildern seiner
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Kindheit und tatsächlichen Bildern der Kindervilla, die von seiner Mutter verkauft wurden (Aus 460), konstatierend, bleibt als Resultat dieser mnemonischen Operation lediglich ein seiner Aura beraubtes Gebäude, in dem große Risse seinen Zerfall ankündigen (Aus 462). Im Gegensatz zur magischen Vitalität im Gedächtnistheater seines Onkels ist Murau nicht in der Lage, die alten (Kindheits-) Vorstellungen zu reanimieren. Er selbst hat, wie er zugibt, diese Bilder „verschleudert“ und findet nur noch eine „gähnende Leere“ in der Kindervilla vor (Aus 598ff.). Ebendiese abgründige Leere, dieses chaotische Halt- und Hilflose ist die Realität, die von den Bildern zugedeckt wird, ist das Nichts hinter der (Theater-)Fassade, hinter der Maske, vor dem die Gedächtnisbilder retten und schützen. Murau gewärtigt hier die Brüchigkeit des Gedächtnisses, den fundamentalen, in Wirklichkeit unüberbrückbaren Riss zwischen res und imagines, wenngleich er zugesteht, dass auch er grundsätzlich und zwangsläufig der Fiktion einer adäquaten Repräsentation und Aneignung der phänomenalen Welt erliegt, die Kommunikation erst ermöglicht: „[...] denn das mit der Kindervilla herrichten lassen und gleichzeitig die Kindheit, ist dir ja nicht zum ersten mal eingefallen, dachte ich. Das hast du schon oft praktiziert, diese Idee anderen aufgezwängt und gesehen, wie sie in dieser Idee gescheitert sind, in dieser absurdesten aller Ideen.“ (Aus 601)
2.3. I NITIATION Der Schwellenübertritt Simonides’ lässt sich kulturtheoretisch als epochale Zäsur eines einsetzenden Säkularisierungsprozesses auslegen, als Übergang vom Fest zur Kultur und gleichsam als Eintritt des Individuums in die Gesellschaft. Er deutet auf einen Initiationsritus hin30, wodurch Simonides als Initiierter, in die Geheimnisse der Differenz zwischen Leben und Tod eingeweiht und zwischen Lebenden und Toten, zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre vermittelnd, sich als Kultur-Mensch in den Dienst der Gesellschaft stellt, indem er die Mnemotechnik begründet und somit Trauerarbeit ermöglicht. Die Verbindungen zwischen Gedächtnis, Erbe und Initiation werden sofort augenfällig, wenn man den Ablauf von Initiationsprozessen analysiert, wie sie Arnold van Gennep 1909 in seiner klassischen Studie beschrieb, in der er drei Phasen der Initiation unterschied: die Trennungsriten (rites de séparation), die Schwellen-, Übergangs- oder Umwandlungsriten (rites de marge) und schließ-
30 Vgl. Weinberg 2006, 284.
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lich die Angliederungsriten (rites d’agrégation).31 Die Problemstruktur, die sich mit der Frage des Erbe(n)s in Bezug auf das Gedächtnis eröffnet, wiederholt sich hier auf dem Feld des Subjektes und seiner identitätsstiftenden Selbstkonstitution. Der mittleren Phase fällt dabei besonderes Gewicht zu, „in der dem Initianden in einem dramatischen Erlebnis von Einsamkeit, Schmerz oder psychischer Entgrenzung eine Erfahrung des Todes vermittelt wird, die ihn endgültig von seinem kindlichen Dasein löst und als Neugeborenen in die Welt der Erwachsenen entlässt.“32 Die Geburt des neuen Subjekts macht aus dem Neophyten einen Anderen, der über die Initiation zu einer andersartigen Seinsweise findet. In diesem Schema lässt sich unschwer Muraus Erbdilemma wiedererkennen und sein Auslöschungsprojekt in Rom in der Übergangsphase ansiedeln, wodurch Auslöschung sprichwörtlich als Übergangstext interpretiert werden kann, in dem die Rückkehr jedoch nicht in eine neue soziale Ordnung, sondern – unter der Last des (unauslöschbaren) Erbes – in den Tod führt, an den sich keine Wiedergeburt anschließt. Die (mögliche) Neugeburt (in) einer neuen sozialen Ordnung wird bei Bernhard in die Bereiche des Traumes und des Anderen verwiesen, wie noch näher zu untersuchen sein wird. Wenn Muraus Reflexionen über das Erbe, die unmittelbar mit dem Erhalt der Todesnachricht einsetzen, zunächst von seinen Überlegungen zur Literatur unterbrochen werden, namentlich von dem von ihm aufgestellten Textkanon, den er für den Unterricht mit seinem Schüler Gambetti als wichtig erachtet, so lässt sich deduzieren, dass Literatur im Allgemeinen essentieller Bestandteil des Auslöschungs- und Reflexionsprozesses ist. Was das Initiationsschema betrifft, ist literaturhistorisch die Zeit um 1800 zu befragen. Hans Richard Brittnacher spricht hier von einer „Epoche der Anfangsphantasien, die von der Geburt des neuen Subjekts in eine neue Welt erzählen“, weshalb sich „die Erzählungen dieses Zeitalters [...] häufig am Schema der Entwicklung von der Adoleszenz zu [sic] Reife [orientieren].“33 Häufig werden Reisen oder Etappen eines Lebenslaufes beschrieben, bei denen sich der Held durch Begegnungen mit dem Unbekannten oder Bösen zunächst verliert, schließlich aber über einen Reifeprozess zur Selbstfindung kommt, der ihm seinen Lebens-
31 Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt am Main 1986, 21. 32 Hans Richard Brittnacher, „Gescheiterte Initiationen. Anthropologische Dimensionen der literarischen Phantastik“, in: Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May (Hrsg.), Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, 23. 33 Ebd., 22.
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weg vorgibt und mit seiner (Re-)Integration in die Gesellschaft abgeschlossen wird.34 Getragen von einer tiefen Skepsis gegenüber dem Entwicklungsgedanken des klassischen Zeitalters, arbeitet sich die romantische Erzählliteratur um 1800 im verstärkten Maße am Modell der Initiation ab: „Wenn die Initiationsgeschichten unterstellen, daß eine höhere Form der Existenz nur durch die radikale Verleugnung der ursprünglichen Existenzform, und das bedeutet letztlich: durch die Zerstörung der ursprünglichen Form, erreicht werden kann, setzen sie eine strikte Geschiedenheit der Lebensphasen voraus und beharren auf einem zyklischen Weltbild, dem gerade die Aufklärung und vollends die Autonomieästhetik eine entschiedene Absage erteilt hatten. Diese hatten ihr pädagogisches Ethos im Bildungsroman ausbuchstabiert, deren Protagonisten sich in einem von Konflikten rhythmisierten Prozess allmählicher Reife zu musterhaften Mitgliedern der Gesellschaft entwickelten. Eben dieses Konzept eines langsamen, säkularisierten und teleologischen Reifeprozesses wird von den romantischen Erzählungen, die auf das Modell der Initiation zurückgreifen, revidiert.“35
Diese kritische Haltung gegenüber dem Initiationsgedanken ist zweifellos in den kanonischen Texten der Auslöschung mit angelegt und zielt auf den Begriff der „Antiautobiografie“.36 Mit Muraus massiver Goethekritik, von der einige seiner Gedichte sowie vor allem Die Wahlverwandtschaften explizit ausgenommen werden, da sie immerhin einen der Grundlagentexte für Muraus Denken (vgl. Aus 149), Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, im Unterrichtsprogramm verdrängen (Aus 8), und der Nennung von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen als erstem Band (Aus 150) seiner selbst angelegten „Bibliothek […] des bösen Geistes“ (Aus 149), den Novalis explizit als Anti-Text zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] verfasst hatte, bietet sich eine Einbeziehung der Goethetexte in meine Überlegungen an, zumal die Auslöschung zahlreiche Motive aus Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] (das verbotene Kindertheater, die veräußerten Kindheitsbilder, das ertrinkende Kind, Brände, Erhabenheitsmotive, Entwurf
34 Ebd., 23. 35 Ebd. 36 Den hat Höller wohl aus dem Blick verloren, wenn er Auslöschung leichtfertig als „österreichische[n] Bildungsroman“ bezeichnet. Hans Höller, „Thomas Bernhards Auslöschung als Comédie humaine der österreichischen Geschichte“, in: Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.), Thomas Bernhard: Beiträge zur Fiktion der Postmoderne, Frankfurt am Main u.a. 1997, 53. Vgl. Hermann Korte, „Dramaturgie der ‚Übertreibungskunst’. Thomas Bernhards Roman ‚Auslöschung. Ein Zerfall’“, in: Text und Kritik 43 (1991), 95.
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einer Art ‚Gegenfamilie‘ etc.) – aber auch aus den Wanderjahre[n] und Faust – wiederholt aufgreift, weshalb sie im Folgenden immer wieder dem BernhardText gegenübergestellt werden.37 Wilhelm Meisters Lehrjahre stellen d a s Paradigma des Bildungsromans am Ende des 18. Jahrhunderts dar. Der gesamte Text ist durch ein Geflecht von Metamorphosen und vielfältigen Variationen des Einweihungsschemas von Tod und Neugeburt strukturiert. Die Initiation des Protagonisten Wilhelm Meister vollzieht sich nach dem Verlust des Vaterhauses und seiner Enterbung38 (!) mit der Loslösung von der bürgerlichen Welt. Sein Bildungsweg führt Wilhelm „durch eine Welt, die den Ordnungen und Gewohnheiten seiner Herkunftswelt fremd gegenübersteht“39: die Scheinwelt des Theaters. Mit der Übernahme der HamletRolle „gelingt Wilhelm der Übergang von regressiv-imaginären Verstrickungen, denen wie seine Kindheit und seine erste Liebe das Schauspiel medial verhaftet ist, zur symbolischen Ordnung [...]“40, während er gleichzeitig als Regisseur des Hamlet den väterlichen Geist unbesetzt lässt und somit „eben demjenigen einen unverfügbaren Platz ein[räumt], dessen signifikante Präsenz das narzißtische Kind verdrängen und selbst einnehmen wollte: dem Anderen, den der Name-desVaters symbolisiert.“41 Dass Wilhelm den Geist des toten Vaters nicht verdrängt, legt Jochen Hörisch als „die einen ‚Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, also einen Kulturfortschritt’ kennzeichnende ‚Wendung von der Mutter zum Vater’“ aus.42 Wilhelm gibt sein narzisstisch-cartesianisches Selbstverständnis auf, um sich als nützliches Glied der (Turm-)(Gesellschafts-)Kette zu begreifen. 43 Mit der Aufnahme in die Turmgesellschaft durch ein freimaurerisches Zeremoniell sieht Michael Neumann das Ende seines Bildungswegs markiert44, weist aber darauf
37 Auch Wilhelm Vosskamp zieht diese Verbindung zwischen Goethes Lehrjahre[n] und der Auslöschung. Vgl. Vosskamp 2004. 38 David Roberts, The Indirections of Desire. Hamlet in Goethes „Wilhelm Meister“ (Reihe Siegen 14), Heidelberg 1980, 148f. 39 Michael Neumann, Roman und Ritus: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Frankfurt am Main 1992, 25. 40 Jochen Hörisch, Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe, Frankfurt am Main 1983, 46. 41 Ebd., 48. 42 Ebd., 51. 43 Ebd., 49. 44 Neumann 1992, 54f.
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hin, dass diese Zeremonie für Wilhelms Entwicklung bedeutungslos bleibt und die eigentliche Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft durch die Annahme der Vaterrolle und die Gründung einer neuen Familie mit Felix und Natalie gelingt.45 In Novalis’ Gegenentwurf Heinrich von Ofterdingen dagegen gibt es kein Ende, kein Ziel, kein Wohin.46 Sein Protagonist wird nicht Mitglied einer aufgeklärten Adelsgesellschaft, sondern als Dichter freies Individuum. Goethes Turmgesellschaft als geheimer informeller, steuernder Institution setzt Novalis die ‚blaue Blume’ entgegen, die endlose Verweise, Verwandlungen und Ersetzungen umschließt, was zu einem Fließen führt, einer grundlegenden Substitution, die alles mit allem verwechselbar macht.47 Was einmal im Aufklärungsroman elementare Genese, Entwicklung, Plan und Übersicht gewesen war, ist nun im Heinrich von Ofterdingen zu einem Prozess endloser Vermittlungen geworden.48 Wo Wilhelm Meisters Lehrjahre als Roman unter Romanen sich in den Aktenschränken der Biografien sammelnden und archivierenden Turmgesellschaft wiederfindet und vollendet, kann nach Novalis’ Ansicht der Roman aller Romane nur unabschließbar sein49, womit sich im poetologischen Konzept des Heinrich von Ofterdingen eine Tendenz zur „Antiautobiografie“ abzeichnet. Die Auslöschung selbst erwähnt Wilhelm Meisters Lehrjahre namentlich gar nicht, sondern erinnert an einen von Goethe geschmähten – wenngleich später rehabilitierten – und an den Rand des literaturhistorischen Gedächtnisses gedrängten Schriftsteller: Jean Paul. Im Zentrum seines humoristischen Liebesund Eheromans Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel steht die ironische Subvertierung des bürgerlichen Eheideals am Ende des 18. Jahrhunderts und des von Niklas Luhmann in Liebe als Passion für diese Zeit formulierten Anspruchs, „für Liebe, Sexualität und Ehe eine neue Einheitsformel [zu suchen] und in der Idee der persönlichen Selbstverwirklichung [zu finden]“.50 Sascha Michel kommentiert:
45 Ebd., 58. Neuere Forschungen stellen diese optimistische Lesart des Textes mittlerweile in Frage. Ich werde dies im zweiten Teil dieser Arbeit erneut aufgreifen. 46 Vogl 2002, 269. 47 Ebd., 267. 48 Ebd., 270. 49 Ebd., 268. 50 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994, zit. n. Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz, Tübingen 2006, 132.
68 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES „Da um 1800 die Sozialität des Liebens [...] als Steigerung der Chance zur selbstbewußten Selbstbildung begriffen‘ wird, genau diese Sozialität jedoch, die nach Luhmann darin besteht, daß die Frau den Mann liebt, damit dieser selbstreferentiell das Leben lieben kann, in der Ehe zwischen Siebenkäs und Lenette fehlt, führt der Selbstverwirklichungs- und Liebesanspruch des männlichen Helden zwangsläufig aus der Ehe heraus.“ 51
Folgerichtig interpretiert Michel Jean Pauls Siebenkäs als „Inversion des modernen Bildungsromans“, wenngleich er ihn dieser Gattung nicht zuordnen möchte und in ihm eher den „narrativen Typus des Initiationsromans“ erkennen will. 52 Ichverlust und Rückkehr zum (neuen) Ich des Protagonisten Siebenkäs werden anhand des Erbverlustes, den er durch den Namentausch mit seinem narzisstischen Spiegelbild und Doppelgänger Leibgeber erleidet, der Ehe mit Lenette, seines Scheintodes und der Wiederbegegnung mit Natalie an seinem eigenen Grab durchdekliniert. Siebenkäs’ Eintritt in die Gesellschaft qua Verheiratung mit Lenette missglückt nicht zuletzt wegen seiner Impotenz und Unfähigkeit, einen Nachkommen zu zeugen (Sk 295). Erst die Flucht aus der Ehe-Hölle, die Loslösung von Lenette und Aussicht auf Freiheit, die sich bei seinem Weggang aus Kuhschnappel – von Jean Paul als „Auszug aus Ägypten“ (Sk 361) umschrieben – in der Schmetterlingsmetaphorik 53 (Sk 364) entfaltet, deuten eine (mögliche) Neugeburt von Jean Pauls Helden an. Der Sarg für seinen inszenierten Tod, das „Kokons-Grab[]“ (Sk 466), fungiert als Durchgangsstation für sein neues Leben als Beamter beim Grafen in Vaduz, wo Siebenkäs als der scheinen muss, der er eigentlich ist: Leibgeber. Siebenkäs’ Ehe- und Finanzprobleme lösen sich in der Folge kurzerhand auf, allerdings mit Hilfe eines doppelten Versicherungsbetrugs sowie auf Kosten seines schriftstellerischen Vermögens (vgl. Sk 359), seines satirischen Humors und seiner narzisstischen Erfüllung in der (Selbst-)Bespiegelung mit Leibgeber. Nach der endgültigen Trennung von ihm taucht dieser, als Siebenkäs’ Geist durch Kuhschnappel spukend, immer wieder auf und veranlasst so den Heimlicher von Blaise aus Angst und in unfreiwilliger Erfüllung von Siebenkäs’ testamentarischer Verfügung (Sk 513f.) die Auszahlung des zuvor unterschlagenen Erbes an Leibgeber in Vaduz (d.h. an ihn – Siebenkäs – selbst!), der es schließlich an seine ‚Witwe‘ Lenette übergibt, welche jedoch kurz darauf während ihrer zweiten Ehe mit dem Schulrat Stiefel im Kindbett verstirbt.
51 Ebd. 52 Ebd., 132f. 53 Siehe dazu ausführlich Weingärtner 2001, 40ff.
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Das Trauma der Subjektivität ist ein Grundzug, der Jean Pauls Texte beherrscht. Seine Prosa inszeniert „die gespenstischen Derivate und Devianzen der verschiedenen möglichen Konstellationen des Kompositums ‚Charaktermaske’“ und lässt die Figuren von einer Befreiung von Identität träumen, die sie als Zwang und als Enteignung des Selbst erfahren.54 Wo die Lehrjahre vor allem in puncto Vaterschaft die gesellschaftliche und historische Kontinuität gewahrt sehen und das Individuum, wenn schon nicht seine künstlerische, so doch wenigstens (s)eine ‚sinnvolle‘ Rolle in der Gesellschaft (als Arzt) finden lassen – in der er am Ende der Wanderjahre seinem Sohn am Lethe-Fluss (!) das Leben rettet (WMW 744f.) –, womit sich ein Ausgleich von individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Anforderung andeutet, macht Jean Paul eine ironische Verlustrechnung auf, nach der Erb- und Versicherungsbetrug in einem Nullsummenspiel enden (Sk 389; vgl. E 218), Siebenkäs jedoch zeugungsunfähig bleibt und überdies in seinem Beamtendasein in Vaduz, auch seiner humoristischen und schriftstellerischen Potenz beraubt, verstummt.55 Das Ende dieses Anti-Eheromans unterstellt zwar eine Art himmlischer Hochzeit zwischen Siebenkäs und Natalie, für die indes „kein Ort mehr innerhalb der bürgerlichen Ordnung vorstellbar ist“56 und die nur mittels einer Mortifizierung und Verklärung Natalies arrangierbar wird, indem sie im Gedächtnisbild des Engels als Surrogat die Deprivation des Eigentlichen überspielt.57 Genealogische sowie gesellschaftliche Zwänge, prekäre oder nicht vorhandene (kinderlose) Liebes- und Eheverhältnisse in Kombination mit Erbverlust bzw. -krankheit, fehlschlagenden Initiationen oder schwierigen Selbstfindungsprozessen sind wesentliche Gemeinsamkeiten der übrigen kanonischen Texte der Auslöschung: Brochs Esch oder die Anarchie, Kafkas Proceß sowie Bernhards Amras. Wo Goethe in Dichtung und Wahrheit das Leben als Ganzes noch mit aufklärerischem Optimismus aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt sah58, wird bei Broch, Kafka und Bernhard dagegen das Individuum von seinen historischen, familiären und gesellschaftlichen Determinationen in Geiselhaft genommen, aus der es sich nicht mehr zu befreien vermag. Broch und Kafka antizipieren instinktiv all die historisch-kulturellen Kataklysmen, die Bernhards
54 Hörisch 1983, 38. 55 Vgl. Sk 563: Siebenkäs‘ „innere Sprachlosigkeit“. 56 Michel 2006, 134. 57 Vgl. dazu ausführlich Weingärtner 2001, 119f. 58 Vgl. Roberts 1980, 27.
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Protagonisten als historische Gewissheiten und persönliche Erlebnisse in ihrem Bestreben nach Selbstentfaltung ersticken lassen. Amras ist ebenfalls als invertiertes Initiationsgeschehen beschreibbar.59 Der Aufenthalt der Brüder Walter und K. im Turm von Amras nach dem Selbstmord der Eltern und der Abwicklung resp. Pfändung des Familienerbes infolge der Spielschulden des Vaters führt über einen Bruch mit der Kindheit in die Isolation, wobei der Turm als Schwellenraum fungiert, der vor allem durch undurchdringliche Finsternis gekennzeichnet ist, was Amras einen antiaufklärerischen Akzent verleiht. Walters Sturz aus dem Turm in den Apfelgarten wird zum Sinnbild eines Rückfalls in den Mythos und markiert seinen Tod im Ödipuskomplex. Von Walter in die Geheimsprache der toten Eltern und Ekstasetechnik eingeübt, wird K. zu einer Art Schamane60, der Trancen und Absencen, denen Walter durch seine von der Mutter ererbte Epilepsie zeitlebens ausgeliefert war, zu beherrschen versteht. Dies befördert jedoch nur seine gesellschaftliche Desintegration und „Ungehörigkeit“ (Am 99), die in der völligen Isolation eines Irrenhauses ihren Abschluss findet. Der Finsternis des Turms in Amras korrespondieren in der Auslöschung die „fast völlig“ abgedunkelten Räume (Aus 200 u. 301) von Muraus Wohnung in Rom, die er auch seinen „Denkkerker“ (Aus 310) nennt. Abgeschiedenheit von der Gesellschaft sowie das Eingeschlossensein im Dunkeln spielen auf den fötalen Zustand an, wobei man vor den Beginn des Lebens, vor die Geburt zurückzugehen gedenkt, um nach erfolgreichem Absolvieren der Initiationsriten neu geboren zu werden. In dieser Rückkehr zum Ursprung, die in archaischen Gesellschaften gleichzeitig als Heilungsritual zelebriert wurde61, erklärt sich Muraus Präferenz von Rom, das er als Ursprungsort der europäischen Zivilisation in Bezug auf sein Geistesprojekt für ideal ansieht, wobei sich „Selbstauslöschung“ (Aus 296) mit dem Wunsch nach einer ultimativen Weltauslöschung verknüpft („[...] ich weiß nur, sie [die Welt, T.M.] muß zuerst völlig vernichtet werden, um wieder hergestellt zu werden, denn ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert sein [...], Aus 209), aus der das neue Ich, die (mögliche) Selbstfindung (am Ort seines ‚anderen’ Vaters), und die neue (geheilte) Welt hervorgehen könnten.62
59 Wertvolle Hinweise in diesem Zusammenhang verdanke ich Kim Bachmann, Universität Konstanz, FB Literaturwissenschaft. 60 Ena Jung, „…ellipses … epilepsies…“, in: Modern Austrian Literature 42 (2009), 91. 61 Mircea Eliade, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1988, 38. 62 Vgl. ebd., 57.
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Über die Dunkelheit in Muraus Wohnung hinaus gibt sich auch seine notorische Schlaflosigkeit als Teil des Initiationsritus zu lesen, da „der Sieg über den Schlaf und das lange Wachen eine recht typische Initiationsprüfung darstellen.“63 Nicht schlafen bedeutet nicht nur, „die körperliche Müdigkeit überwinden, sondern vor allem, geistige Kraft beweisen: ‚wachbleiben’, bei vollem Bewußtsein sein, in der Welt des Geistes gegenwärtig sein.“64 Murau selbst beteuert zwar, dass „[s]ein Entschluß nach Rom zu gehen, die Erneuerung [s]einer Existenz gebracht ha[be], sozusagen die Geisteswende“ (Aus 203) und benennt die Piazza Minerva als den Ort, wo er in seinem „Renaissancepalast“(!) (Aus 308) „ein neuer Mensch geworden“ (Aus 202) sei. Ganz offensichtlich steht dies im Zusammenhang mit Erinnerungen, die zur Besserung von Muraus kränklichem Zustand führten, der ihn vor seinem Umzug nach Rom belastet hatte: „Ich hatte ganz v e r g e s s e n , daß es außer der meinigen entsetzlichen auch noch eine andere Welt gibt, die nicht nur entsetzlich ist. Ich hatte vor allem v e r g e s s e n , daß es ein Geistesleben gibt. Ich hatte meine Philosophien v e r g e s s e n , meine Dichter, alle meine Kunstschöpfer, Gambetti. Ich hatte überhaupt, kann ich sagen, meinen Kopf v e r g e s s e n [ meine Hervorhebungen, T.M.], ich war an meinen krank gewordenen Körper angeklammert und hatte mich in dieser ununterbrochenen Anklammerung an meinen kranken Körper beinahe ruiniert. Bis ich nach Rom gekommen bin.“ (Aus 206)
Indessen signalisiert seine Selbsterkenntnis („Ich bin ein verstümmelter Mensch“, Aus 339), dass die beschworene Initiation eher gescheitert oder wenigstens unvollendet ist, bzw. dass Murau sich als ein von der Initiation Gezeichneter erkennt und sich somit an das erinnert, was er eigentlich hätte vergessen sollen: seinen ‚unschuldigen’ Zustand als Neophyt. Sein anonymes Dasein in Rom (Aus 275) ist Anzeichen seiner noch unabgeschlossenen Selbstfindung in der Übergangsphase. Diese Anonymität ist als Verleugnung seines (Familien-)Namens zu rezipieren, als antigenealogische und antiautobiografische Geste, die der Unsicherheit bezüglich der väterlichen Linie Ausdruck verleiht. Dabei bleibt er allerdings in seinem „Denkkerker“ im Ödipuskomplex gefangen65, da die Flucht aus dem pervertierten Wolfsegger „Mutterhaus“ nach Rom zum vermeintlichen Va-
63 Ebd., 129. 64 Ebd. 65 Siehe seine verzweifelten Beteuerungen gegenüber seinen Schwestern „[...] ich bin nicht der Vater, ich bin nicht die Mutter [...]“, Aus 460.
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ter (noch) nicht als geglückt gelten kann, was durch die Ambivalenz des Ortes, die sich mit der Funktion Roms als Zentrum des Katholizismus ergibt, ohnehin äußerst fragwürdig ist. Der Eintritt in die Gesellschaft ist nur über eine Lösung des Ödipuskomplexes möglich – „unter der Bedingung restlos verriegelter Ausgänge.“ 66 Muraus Zögern in Bezug auf die Übernahme des Erbes und seine Selbstwahrnehmung als „verstümmelter Mensch“ deuten an, dass er sich dieser ödipalen Sackgasse vollauf bewusst ist und sein Auslöschungsprojekt in jedem Fall davor bewahren möchte. Er sucht nach einem anderen Weg, einem „Gegenweg“ (Aus 147), der den Brüdern in Amras noch verwehrt geblieben war. Am Initiationsschema bemessen spielt die ‚Auslöschung‘ in der Übergangsphase, ohne die Schwelle hin zur (Neu-)Geburt zunächst zu überschreiten. Der Tod würde genau die Schwelle/den Eintritt in die symbolische Ordnung markieren. Anders gesagt: Die ‚Auslöschung‘ wie auch die „Antiautobiografie“ lassen sich als Gegenkonzepte zum Bildungsroman begreifen, zumal Muraus ‚Plan‘ für Wolfsegg strukturell wie inhaltlich keine Entwicklung, sondern vielmehr eine Abwicklung vorsieht, wie sie sich auch in Amras, Siebenkäs, Esch oder die Anarchie und im Proceß abzeichnet. Muraus unruhiges Auf- und Abgehen steht für das Hin und Her der Textbewegung zwischen „Herkunftskomplex“ und „Zukunftskomplex“, das sich zu keiner linearen Entwicklung extrapolieren lässt und gar Regressionen einschließt, was einem Zurückgehen in eine „anti-strukturelle“ Phase67 bzw. im Extremfall einer Annäherung an die Inzestgrenze entspricht, wie es sich in Muraus wiederholten Versuchen, den Sarg der Mutter zu öffnen, verbildlicht. Eine Verdrängung inzestuöser Wünsche ist jedoch Konstitutionsbedingung der Gesellschaft wie auch des (ökonomischen) Tausches68, dem sich das folgende Kapitel widmen wird.
2.4. Ö KONOMIE Wie das Initiationsschema so verweist auch der ökonomische Zusammenhang von Familie und Staat auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, in dessen Verlauf die Wirtschaftsordnung von Familienökonomie auf Nationalökonomie umge-
66 Alain Besançon, „Vers une histoire psychoanalytique“, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, Bd. 24/3 (1969), zit. n. Deleuze/Guattari 1974, 102. 67 Neumann 1992, 98f. 68 Deleuze/Guattari 1974, 146.
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stellt wird. Der Staat wird zur vorherrschenden regulierenden Instanz, die wirtschaftliche Vorgänge anstößt, überwacht und steuert, gleichsam Informationen von den ökonomischen Akteuren einholt, sammelt und auswertet, um durch Fachkenntnisse sowie aus diesen abgeleiteten Gesetzen, ökonomische Prozesse zu fördern, abzusichern und zu optimieren. Insofern ist es nur konsequent, wenn Murau die makroökonomischen Strukturen in gleicher Weise anprangert wie jene, die dem „Besitzklumpen“ Wolfsegg zugrunde liegen, und den Staat Österreich mit ähnlichen Invektiven überzieht wie seine Familie: Überall sieht er von Staats wegen „rücksichtslose Ausbeuter“ (Aus 112) am Werk, wodurch „[d]ie schönsten Gebiete der Geld- und Machtgier der neuen Barbaren zum Opfer gefallen“ sind (Aus 113). „Ganz Österreich ist zu einem skrupellosen Geschäft geworden, [...] ein pervers geführtes Geschäftshaus.“ (Aus 117) Es gibt vielleicht kaum eine mehr überlesene und unterschätzte Textstelle der Auslöschung wie jene, in der Murau gleich zu Beginn nach Schließung des Fensters die vielen „Droh- und Bettelbriefe“ von Leuten auf seinem Schreibtisch erwähnt, die von ihm „Geld oder Aufklärung“ (Aus 19) fordern, was sich auf seine „Denk- und Lebensweise“ sowie auf ein paar seiner zuletzt veröffentlichten Zeitungsartikel bezieht. Da er sie sofort wegwirft, ist anzunehmen, dass weder Aufklärung noch harte Devisen von Murau bzw. von seinen Schriften zu erwarten sind – und sich sein Projekt bestenfalls als ‚Falschgeld’ herausstellen wird. Ökonomische Vorgänge gleichen denen der Gedächtnismechanik und stellen über Vergleiche Rückschlüsse auf eine in dieser Arbeit unterstellte GegenGedächtnis-Konzeption der ‚Auslöschung‘ in Aussicht. Indem imagines an klar definierten loci als Pfänder hinterlegt werden, die später im Erinnerungsprozess einzulösen sind69, funktionieren die Gedächtnisbilder wie Spielmarken einer Zirkulation, deren Analogie zu der des ökonomischen Tausches unabweisbar ist. Sowohl zirkulierende Memoria als auch ökonomischer Kreislauf unterliegen einer dialektischen Struktur aus Pfand/Schuld und Einlösung/Erlösung. Geld ist die gleiche Funktion wie der von Gedächtnisbildern zuzuschreiben. Sie versprechen den (Rück-)Tausch einer adequatio ad rem. Das heißt, Geld ist selbst nichts anderes als ein Erinnerungs- und Merkzeichen.70
69 Yates 1994, 12. 70 Vogl 2002, 121.
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Insgesamt haben die ökonomischen Implikationen der Auslöschung bislang erstaunlich wenig Beachtung gefunden.71 Dabei verspricht das ökonomische Bildfeld, entscheidende Hinweise auf Unterschiede zwischen Murau und seinem Vorbild Onkel Georg zu geben. Beide profitieren vom Kapital der Wolfsegger „Geld- und Wirtschaftsmühle“ (Aus 45), die ihnen einen luxuriösen Lebensstil ermöglicht, obschon sie das Wirtschaften des Familienunternehmens heftig kritisieren. Vor Murau erbt zunächst Onkel Georg einen Teil des „Besitzklumpen[s]“ (Aus 37) und vermag mit ökonomischem Geschick seinen Reichtum schnell zu vergrößern: „Mein Onkel Georg war ein passionierter Kunstsammler und wie ich weiß, hat er die Zinsen seines Vermögens zum Großteil für die Anschaffung von Bildern und Plastiken zeitgenössischer Künstler ausgegeben. Da er einen guten Geschmack und einen ganz und gar außergewöhnlichen Instinkt, den Wert der von ihm bevorzugten Kunstwerke betreffend, hatte, war er in seiner Sammelleidenschaft bald neben seinem eigentlichen, zu einem zweiten bedeutenden Vermögen gekommen, das ruhig als ein Millionenvermögen bezeichnet werden kann.“ (Aus 32)
Onkel wie auch Neffe erben und verschenken letztlich ihr Erbe, doch deutet sich bezüglich einer (moralischen) ‚Schuld’, die mit der Nutzung des Wolfsegger Vermögens und mit dem Erbe – abgesehen von der Involviertheit in nationalsozialistische Verbrechen – durch die Ausbeutung der Natur und der Angestellten auf Wolfsegg (vgl. Aus 331, 356ff.) und schließlich durch eine „gigantische Steuerhinterziehung“ (Aus 643) zu unterstellen ist, eine Differenz zwischen Murau und seinem Idol an, in deren Licht später Muraus Erbabschenkung zu beurteilen sein wird. Wenn Onkel Georg das eher noch dem 19. Jahrhundert verhaftete und landwirtschaftlich organisierte, ausbeuterische Kapitalsystem von Wolfsegg in ein modernes unternehmerisches, dem Kunsthandel verschriebenes Spekulantentum überführt, so bleibt er in seiner „Sammelleidenschaft“ doch stets Kapitalist, der seinen Reichtum allenfalls stilvoller vermehrt und ihn darüber hinaus besser zu genießen versteht als Muraus Eltern, die unentwegt über Mangel, Wirtschaftskrisen (Aus 75) und schlechte Geschäfte klagen. In seiner Untätigkeit und Unproduktivität (die meisten seiner Texte werden von Maria in einer Art ritueller Zeremonie verbrannt, Aus 541f.) nimmt Murau hingegen so
71 Huntemann versteigt sich gar zu der Behauptung, dass die „Bereiche Technik, Industrie und Wirtschaft […] bei Bernhard keine thematische Rolle spielen.“ Huntemann 1991, 45.
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gut wie gar nicht am wirtschaftlichen Prozess teil. Selbst das Honorar, das er für den Privatunterricht erhält, erfüllt für ihn keine ökonomische Funktion: „[...] denn die Stunden, die ich Gambetti gebe, sind nicht billig, der Preis dafür übersteigt alles sonst dafür bezahlte, aber die Gambettis sind reiche Leute, sage ich mir, und ich habe mir kein schlechtes Gewissen daraus zu machen, von ihnen so viel Geld zu nehmen, das ich im übrigen nicht brauche, weil ich selbst es im Überfluß habe. Aber davon ahnen die Gambettis nur etwas, sie wissen nichts Genaues darüber. Gambetti allerdings weiß über meine finanziellen Verhältnisse Bescheid, er hat zu mir gesagt, wenn meine Eltern wüßten, wie reich Sie sind, würden sie Ihnen nichts bezahlen, dann erlaubten sie mir den Unterricht bei Ihnen nicht. So aber sind sie in dem Glauben, eine großzügige Mäzenatengeste spiele in diesem ihnen tatsächlich schon lange unheimlichen Unterricht eine Rolle [...]. Gambetti findet es aber in voller Ordnung, daß seine Eltern sozusagen Geld zum Fenster hinauswerfen [...].“ (Aus 210)
Was hier über die Bezahlung von Muraus Unterricht durch Gambettis Eltern gesagt wird, kennzeichnet grundsätzlich den Umgang des Protagonisten mit Geld und suggeriert, dass er die Absicht verfolgt, das Wolfsegger Kapital, wo und wann immer möglich, großzügigst auszugeben. In ökonomischer Hinsicht folgt Murau nicht dem unternehmerischen Spekulantentum seines Vorbilds und Erziehers: Er verschwendet das Geld. Bereits als Kind wird ihm vorgehalten, „ein Verschwender“ (Aus 261) zu sein, dem man kein Geld anvertrauen kann (Aus 255). Insofern Murau das Wolfsegger Kapital mutwillig mit vollen Händen ausgibt (vgl. Aus 205), sind die Klagen seiner Geschwister vordergründig nachvollziehbar, besonders die seiner von der Mutter gezielt unterfinanzierten Schwestern (Aus 62 u. 296f.), die ihm Vorwürfe wegen seines aufwendigen Lebensstils machen, weil sie darin eine Wertminderung ihres Erbes sehen: „Ihr ganzes Geld, das auch ihnen zugestanden wäre, hätten die Eltern in mich sozusagen hineingesteckt und ihnen entzogen. Ich hätte durch meinen teuren Lebenswandel, so Caecilia, ihren Lebensunterhalt geschmälert, schließlich die Schuld an der immer fataleren Wertlosigkeit ihres Erbes etcetera. [...] Sie nannten mich fortwährend, solange ich zurückdenken kann, ihren größenwahnsinnigen Bruder, der ihr Geld verwirtschaftete, obwohl es sich um mein Geld handelte, bestenfalls kann gesagt werden, um das Geld der Eltern.“ (Aus 68) „[...] sie warfen mir vor, ich verschleudere, indem ich die Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, ihr Geld in einer Zeit, in welcher Geld so knapp sei und Holz so teuer.“ (Aus 71)
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„Fensteröffnen“ und „frische Luft“ sind durchaus auch in figurativer Konnotation als unerwünschter Kontakt und Austausch mit dem Äußeren/Anderen zu verstehen, der, ähnlich dem „Gift“, das den geschlossenen Bibliotheken bei Öffnung entweicht, mit einer Kontaminierung oder gar Diffusion des „Besitzklumpen[s]“ Wolfsegg droht. Die Anhäufung von Reichtümern bewirkt ein Stocken der Zirkulation72, die in dem zuvor beschriebenen Zusammenhang von Geld und imagines als Erinnerungs- und Merkzeichen eine quasi unhistorische Stabilität des Wolfsegger Gedächtnisses gewährleisten soll. Diesbezüglich stellt Muraus Plan einer Generalinventur aller Bilder auf Wolfsegg (Aus 362) ein für die Wolfsegger ‚Geschichte’ gefährliches Unterfangen dar, das die zum Erliegen gekommene Zirkulation erneut in Gang setzen soll, um das erstarrte Wolfsegger Gedächtnis zu revitalisieren.73 Ohnehin fordert er mit Blick auf die geplante Restaurierung der Kindervilla, dass „[d]as Wolfsegger Geld [...] unter die Leute [gehöre], [...] es in den Banken verschimmeln zu lassen, [sei] Wahnsinn“ (Aus 461). Die Analogie von Geld und Erinnerungsbildern sowie die Dialektik von Erinnern und Vergessen wird an Muraus Kindheit und die in seinen Erinnerungen emphatisch daran geknüpfte Kindervilla evident, wenn Murau frustriert feststellt, dass seine Mutter die Bilder der Kindervilla „verschleudert“ habe: „Ich dachte, wo sind die schönen Bilder hingekommen, die ich noch vor einem Jahr hier gesehen habe im Vorhaus, links und rechts davon, in den ebenerdigen Zimmern an den Wänden. Die Mutter habe die Bilder, die von frühen Vorfahren gemalt worden sind, an einen Antiquitätenhändler in Wels verkauft, wie ich gleich feststellte, verschleudert.“ (Aus 460)
Muraus Situation ähnelt hier der von Wilhelm Meister, der ebenso den Verlust der Kunstschätze beklagt, die einst sein Großvater gesammelt hatte, von seinem Vater jedoch verkauft wurden (WML 392), was für Wilhelm einer Enterbung gleichkommt. Murau indes konzediert später, dass er selbst die ‚Kindheitsbilder’ verschleudert habe und beschließt, die Pläne zur Renovierung der Kindervilla wieder aufzugeben: „[...] ich hatte geglaubt, indem ich die Kindervilla von Grund auf herrichten, renovieren lasse, wie meine Schwestern sagen, richte ich die Kindheit wieder her, renoviere sie sozu-
72 Vogl 2002, 228. 73 Vgl. Aus 45.
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sagen von Grund auf. Die Kindheit ist jetzt schon so verwahrlost wie die Kindervilla, dachte ich. Die Kinderzimmer sind genauso ausgeräumt und verschleudert worden, ausgeraubt worden wie die Kindervilla, die Kindheit aber nicht, wie die Kindervilla, von der Mutter, sondern von mir selbst, ich habe die Kindheit mit einer noch viel größeren Rücksichtslosigkeit ausgeraubt und verschleudert, wie die Mutter die Kindervilla, vor allem die schönsten Stücke der Kindheit verschleudert, genauso wie die Mutter die schönsten Stücke der Kindervilla [...]. Die Kindheit ist vollkommen ausgenützt und von mir verbraucht worden, dachte ich, verramscht worden, dachte ich. Die Kindheit habe ich ausgebeutet bis zum letzten.“ (Aus 598)
Geld und Erinnerungsbilder werden bei Murau vergeudet, folgen einer Ökonomie der exzessiven Verausgabung, die sein Projekt einer allumfassenden Annihilation bezüglich des ‚Gedächtnisses’ einem totalen Vergessen zustreben lässt. In der Kindervilla findet sich statt der Kindheit nur noch eine „gähnende Leere“ (Aus 598), die zuvor augenscheinlich von den Bildern kaschiert worden war. Das Bild der leeren Kindervilla erinnert an die sich nach und nach leerende Stube von Jean Pauls Protagonisten, dem Armenadvokaten (!) Siebenkäs, der, aufgrund des ihm unterschlagenen Erbes in akuter Geldnot, sein Haushaltsinventar verpfändet. Während seine Frau Lenette erheblich unter der Armut leidet, wird der Mangel für Siebenkäs zum Auslöser seiner schriftstellerischen Tätigkeit, namentlich der Produktion von Satiren (Sk 80). Auch Siebenkäs ist ein Verschwender, der die Verschleppung des Prozesses um sein unterschlagenes Erbe gelassen hinnimmt (Sk 216f.) und, selbst als er nach erfolgreichem Abschneiden beim Schützenfest kurzfristig wieder zu Geld kommt, die verpfändeten Güter nicht zurücktauschen möchte („[...] er prozessierte [...]“, Sk 259). Siebenkäs’ Auseinandersetzungen mit Lenette um die Pfänder, mit denen sie gegen ihre Armut ankämpfen, wird zum Streit der Erinnerungszeichen und damit der Gedächtniskonzeptionen, wenn Siebenkäs auf der Versetzung von Lenettes Trauerkleid (!) besteht, sie jedoch lieber das Bouquet ihres Verlobungsstraußes – eine weiße Rose und zwei rote Rosenknospen in Vergissmeinnicht (!) eingefasst – verpfänden will.74 Der entgrenzende Exzess wird bei Jean Paul zur Grundlage seiner Poetik, die seinen Text zu einem unendlichen Prozess geraten lässt, der erst mit dem (Schein-)Tod seines sich in einem endlosen Erb-Prozess befindlichen Protagonisten zu einem Abbruch kommen kann („[...] ich habe aller prozessualischen Weitläufigkeiten satt“, Sk 499).
74 Vgl. Weingärtner 2001, 94f.
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Im Gefolge von Schlegels Transzendentalpoesie spüren Jean Paul und Novalis im Geld wie in der Sprache eine selbstreflexive Autonomie auf, die „nur ein sich Entziehendes und ein Verfehlen intensiviert.“ Geld und Poesie besitzen das Vermögen, „Vermittlungen herzustellen“ sowie „starre Zweck/Mittel-Verhältnisse und lineare Kausalitäten auf[zu]lösen, um sie in Regelkreise, in zirkuläre Kausalketten zu transformieren.“ 75 Für den Wolfsegger „Besitzklumpen“ und den bernhardschen Gedächtnisdiskurs von vorrangiger Signifikanz ist, dass Novalis dies als „Belebung“76 bezeichnet. Zugleich ist es eben jener ökonomischpoetische Komplex, an dem Hardenbergs Kritik an Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] ansetzt, da Wilhelm, von seinen Theaterplänen abgebracht, aufs Ökonomische gelenkt wird und dieser Prozess wie von unsichtbarer Hand durch die Turmgesellschaft gesteuert wird. Eben diese Steuerung ist Novalis nicht poetisch genug, wittert er doch offenkundig in der Turmgesellschaft ein Relikt klassischer bedeutungsgebender Zentralinstanz, die selbst jenseits von Vermitteltheit angesiedelt ist. Vor allem aber „ist der Wilhelm Meister als Figur und Text durch sein Ende beschränkt, durch ein Ende, dem der Ofterdingen als Text und Figur schließlich Endlosigkeit und ein endloses Prozessieren entgegensetzt.“77
2.5. G ERECHTIGKEIT Bei seiner Dekonstruktion der historischen Deckerinnerung der SimonidesLegende kam Goldmann auch der ökonomischen Dimension des Mythos auf die Spur. So soll Simonides der erste Dichter gewesen sein, der in Auftrag und gegen Honorar nicht nur Götter und Heroen besungen hat, sondern auch sterbliche Menschen. Die Überlieferungen von Cicero und Quintilian thematisieren jedoch nicht Simonides’ Geldgier und die ökonomischen Zwänge des von ihm eingeleiteten Säkularisierungsprozesses, sondern den sich als Hybris äußernden Geiz des von ihm besungenen Faustkämpfers (bei Cicero: Skopas).78 Aus dem römischen Namen der Mnemosyne, Moneta, lässt sich ein weiterer Konnex von Geld und Gedächtnis herleiten. Moneta tritt als Verteilerin auf, die den Bürgern des Staates das Ihrige zumisst. Die Verteilungsfunktion spielt bei der Fleischverteilung im Fest- und Opfermahl eine Rolle, wie es in der Festszene bei Skopas mit angelegt ist. Im Gegensatz zu Simonides, der nach traditioneller
75 Vogl 2002, 267. 76 Ebd. 77 Ebd., 268. 78 Goldmann 1989, 46f.
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Maßgabe den Helden und die Götter belobigt, vergreift sich Skopas im rechten Maß, wenn er dem Dichter aufgrund der Lobpreisung der Dioskuren die Hälfte seines Honorars vorenthalten will. Als Vermittler zwischen göttlicher und weltlicher Sphäre steht der Dichter Simonides hingegen für einen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen, zwischen Anwesendem und Abwesendem und spiegelt sich in seinem poetischen Akt eine Art Verteilungsgerechtigkeit wider.79 Das Streben der Auslöschung nach Gerechtigkeit wird zuvorderst in der bereits thematisierten Multiperspektivität reflektiert, wie sie beispielsweise in den kontroversen Darstellungen der Eltern durch Murau und Spadolini zum Tragen kommt. Murau selbst hält als Erzähler seinen eigenen Schimpftiraden Argumente entgegen, die auch in ihrer Subtilität das zuvor Gesagte angreifen, aufbrechen und dem Zerfall preisgeben.80 Er ist bemüht, alles zu erinnern, selbst wenn es seinen Intentionen zuwiderläuft. Im Text als fortlaufende Autokorrektur lässt Murau seine Aussagen von anderen zurechtweisen (Spadolini, Maria, Gambetti, Zacchi), wodurch er ihre eigene, immanente Widersprüchlichkeit denunziert.81 Desgleichen korrigiert er sich selbst ebenso rücksichtslos, wie er anderen widerspricht. Überdies trifft er Aussagen, die aus seiner Sicht unabdingbar sind, bisher jedoch unterlassen, verdrängt und vergessen wurden, weshalb sie der Stille und dem Schweigen gewissermaßen abgerungen werden müssen. Auf dieser Motivation beruht seine ‚Auslöschung‘, mit/in der er (an) das Schicksal des Bergmanns Schermaier erinnern will, der als Opfer der Nationalsozialisten in einem holländischen Konzentrationslager interniert war. Hier wird die Interdependenz von Gedächtnis, Ökonomie und Gerechtigkeit evident: „[Der Gauleiter und Blutordensträger] lebt heute in Altaussee und genießt die ihm vom Staat monatlich ausgezahlte Pension, die, wie alle anderen Pensionen in unserem Staat,
79 Ebd., 64f. 80 Vgl. die Szene beim Briefeordnen, in der Murau ein einziges Mal „ein [...] schwaches Licht auf [das] Gesicht [s]einer Mutter“ (Aus 265) fallen lässt und es als „ein schönes“ empfindet. 81 Sorgs Pauschalurteil, wonach in Bernhards Texten „nie Argument und Gegenargument ausgetauscht“ werden, macht es sich zu einfach angesichts der Selbstauslöschungspoetik, die z.B. auch für Korrektur zu postulieren wäre. Sorg 1991, 84. Wenn es auch nicht um einen argumentativen Austausch geht, so doch darum, das Gegenteil stets mitzudenken, was eine Adaption von Nietzsches Denken sein könnte, „das so weit in das Scheitern hineingetrieben ist, bis es nurmehr noch als wahnsinnig bezeichnet werden konnte […].“ (Aus 371) Vgl. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, 175.
80 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES automatisch jedes halbe Jahr um vier oder fünf Prozent erhöht wird und die ihm der Staat schon vor genau dreißig Jahren nach der Vertuschung seiner Greueltaten und Niederschlagung seines Verfahrens, wie gesagt wird, ohne mit der Wimper zu zucken, zugesprochen hat. Und ich dachte an den Bergmann Schermaier [...], zu welchem ich immer gegangen bin, um mich aus meiner Wolfsegger Verzweiflung zu retten, der mit seiner Frau lebenslänglich neben dem Bergmannsberuf eine kleine Landwirtschaft betrieben hat [...], an jenen Menschen, dem ich wie keinem anderen in der Nähe von Wolfsegg verbunden bin noch heute, und den ich, immer, wenn ich in Wolfsegg bin, aufsuche, den einer seiner unmittelbaren Nachbarn in den Kriegsjahren angezeigt hat, weil er den Schweizer Sender hörte. Der beste Schulfreund hat den Schermaier angezeigt und vor Gericht und schließlich in die Strafanstalt Garsten und in eine niederländische Zweigstelle eines deutschen Konzentrationslagers gebracht. Der unmittelbare Nachbar und einstige beste Freund hat ihn auf zwei Jahre aus dem Haus vertrieben in jene Zuchthäuser und Menschenvernichtungsanstalten, die diese Gauleiter, die morgen [zum Begräbnis, T.M.] kommen werden, auf dem Gewissen haben. Der Schermaier ist angezeigt und in die Strafanstalten und Zuchthäuser und Konzentrationslager geschickt und dadurch mehr oder weniger für sein Leben ruiniert worden, dachte ich, und kein Mensch hat später danach gefragt und er hat auch nicht die geringste Entschädigung bekommen für diese Jahre der Grausamkeit. Der ihn angezeigt hat und in die Strafanstalten und Zuchthäuser und Konzentrationslager gebracht hat, hat ihn nach dem Kriegsende auf den Knien angebettelt, er möge sich nicht an ihm rächen. Der Schermaier rächte sich nicht, er spricht nicht mehr darüber, mit niemandem, nur manchmal bricht seine Frau, wenn ich bei ihnen bin und mit ihnen ihr einfaches Essen esse, in Tränen aus, weil sie noch heute die Zeit nicht ertragen kann; der Schermaier ist nicht entschädigt oder doch nur auf die abstoßendste Weise vom Staat mit einem lächerlichen, bescheidenen Geldbetrag sozusagen abgefunden worden für seine Leiden, die ihm der nationalsozialistische Ungeist zugefügt hat, während dem Massenmörder, der heute in Altaussee lebt, von demselben Staat eine immense Pension an jedem Monatsende überwiesen wird, die ihm ein luxuriöses Leben garantiert, dachte ich. Der Schermaier ist für sein Leben gedemütigt und aus der Demütigung von diesem Staat niemals entlassen worden, dachte ich, der Massenmörder, der in Altaussee lebt, ist von demselben Staat in alle bürgerlichen Rechte schon bald nach Kriegsende eingesetzt und damit in seinem Denken und Handeln bestätigt worden. [...] Was ist das für ein Staat, frage ich mich, der dem Massenmörder eine saftige Pension ins Haus schickt und ihn mit Ehrenzeichen überhäuft, mit Belobigungen und sich um den Schermaier nicht gekümmert hat? Was ist das für ein Staat, der den Massenmörder im Luxus leben lässt und den Schermaier vergessen hat? dachte ich. Sobald ich nur kann, werde ich den Schermaier aufsuchen [...].“ (Aus 446ff.)
Vor dem Hintergrund dieser Textstelle, die die Erinnerung an die Opfer als moralische Obliegenheit und gleichsam als gerechte Verteilung der öffentlichen
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Aufmerksamkeit anmahnt, hat die vielfach behauptete Realisierung der projektierten Schrift sowie das Verschenken des Erbes am Ende des Textes kontroverse Diskussionen über die ethischen Implikationen der Auslöschung ausgelöst,82 was Gegenstand des letzten Kapitels sein wird. Zunächst aber ist zum wiederholten Male die irreduzible Verschränkung von Erinnern und Vergessen zu konstatieren, die unter dem Gerechtigkeitspostulat zum Problem gerät. Die geforderte Gerechtigkeit, mit einem totalen, erschöpfenden Gedächtnis konvergierend, bleibt eine uneinlösbare Aufgabe, wie die Absicht, ausgerechnet in der ‚Auslöschung‘, in der alles Beschriebene ausgelöscht werden soll, an das Opfer Schermaier erinnern zu wollen, selbstredend nahelegt. Gleichwohl bleibt die gerechte Forderung, die Leidensgeschichte Schermaiers dem Schweigen und dem Vergessen zu entreißen, unter der Hypothese, dass der manifeste Text n i c h t mit Muraus geplanter Schrift identisch sowie als Fragment unabgeschlossen und potentiell unendlich ist, bestehen.
2.6. T HEATER Das Theater stellt in der Auslöschung den alles dominierenden Diskurs dar. Alle Figuren, einschließlich der des Erzählers Murau, werden als Schauspieler präsentiert, wenn auch mit unterschiedlichen Motivationen und Qualitäten. Sämtliche Wolfsegger Gebäude und Räume im zweiten Teil fungieren als Bühnen (vgl. Aus 96), auf denen sich das ‚Begräbnistheater’ abspielt. Das Leben wird (hier von Onkel Georg) ausnahmslos als Theater beschrieben, womit es – typisch für Bernhard – zur Existenzmetapher wird: „Diese Leute, ich meine deine Eltern, sagte er, haben nicht nur ein Abonnement für das Theater und für das Konzert genommen, sie leben ihr Leben auf Abonnement, sie gehen auch tagtäglich in ihr Leben wie in das Theater, in eine scheußliche Komödie, und schämen sich nicht, in ihr Leben zu gehen, wie in ein abstoßendes Konzert, in welchem nur die falschen Töne die beherrschenden sind und sie leben, weil es sich gehört, nicht weil sie es haben wollen, weil es ihre Leidenschaft ist, ihr Leben, nein, weil es abonniert ist von ihren Eltern. Und wie im Theater an den falschen Stellen, klatschen sie auch in ihrem Leben an den falschen Stellen und jubeln wie im Konzert in ihrem Leben andauernd da, wo überhaupt nichts zu jubeln ist, und verziehen da auf die abstoßendste Weise ihr arrogantes Gesicht, wo sie herzhaft lachen sollten. Und wie die Stücke, die sie auf ihr Abonnement auf-
82 Irene Heidelberger-Leonhard spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verhöhnung der jüdischen Opfer“. Heidelberger-Leonhard 1995, 192.
82 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES GEGEN -G EDÄCHTNISSES suchen, eine Katastrophe und das niedrigste Niveau sind, ist auch ihr Leben eine Katastrophe und das niedrigste Niveau.“ (Aus 58f.)
Anders als im hochgeschätzten ‚Phantasietheater‘ von Onkel Georg bilden ‚Leben‘ und ‚Theater‘ hier einen Gegensatz, wonach ‚Lebendigkeit‘ eine vom Theater überspielte ‚Realität‘ suggeriert, die es wieder freizulegen gälte. Dass das Leben als Theater nicht gelebt, sondern nur vorgespielt wird, scheint zudem Teil der Tradition bzw. des familiären Erbes, Resultat einer unüberwindbaren Differenz zum ‚Leben’ zu sein, die sich in deplatzierten, asynchronen Affekten (Applaus, Jubel und Lachen) äußert. Muraus Eltern wird jegliche ästhetische Kompetenz abgesprochen, da sie offenkundig unfähig sind, den Theater-Code überhaupt als solchen wahrzunehmen. Interessanterweise zielt Onkel Georgs Kritik hier auf den Bereich der Ästhetik, wenn er seinem Bruder und seiner Schwägerin nicht etwa vorhält, dass sie ihr Leben als Theater leben, sondern dass sie die ‚falschen‘ Aufführungen besuchen und dieses Theater-Leben stil-, geschmack- und humorlos auf „niedrigste[m] Niveau“ sowie gänzlich ohne „Leidenschaft“ führen. Muraus Kritik an seinem Vater und Bruder hinsichtlich ihrer Arbeit schließt sich dem nahtlos an und weitet die gesellschaftliche ‚Theaterkritik‘ seines Onkels auf den ökonomischen Bereich aus, was an Karl Marx und seinen Jean Paul entlehnten Terminus der „Charaktermaske“ erinnert.83 Unter der Suprematie der Universalinstanz ‚Theater’ und unter Anspielung auf seine berühmte 11. Feuerbachthese wird jeglichem Begriff einer wirklichen und gleichsam in die Realität eingreifenden und diese transformierenden ‚Handlung‘ das Fundament entzogen. „Auch das Volk ist längst darauf gekommen, daß geschauspielerte Arbeit einträglicher ist, als wirklich getane, wenn auch bei weitem nicht gesünder, im Gegenteil, und schauspielert Arbeit nur noch, anstatt sie tatsächlich zu verrichten, wodurch die Staaten auf einmal, wie wir sehen, vor dem Ruin stehen. In Wahrheit und in Wirklichkeit gibt es nurmehr noch Schauspieler auf der Welt, die Arbeit spielen, nichts mehr wird wirklich getan.“ (Aus 95)
Ohne dies schon vertiefen zu wollen, sei abermals darauf aufmerksam gemacht, dass der Erzähler „geschauspielerte Arbeit“ kritisiert, ohne selbst am gesellschaftlich-ökonomischen Prozess zu partizipieren. Stattdessen profitiert er vom Reichtum seiner Familie und frönt einem Luxusleben. Seine ‚geistige Produktion’ ist dagegen als äußerst spärlich einzustufen, wenn man von einigen zu Be-
83 Jochen Hörisch, Die andere Goethezeit, München 1992, 35f.
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ginn der Auslöschung erwähnten Zeitungsartikeln absieht. Sein Großprojekt einer allumfassenden ‚Auslöschung‘, das mit der Lösung des Erbdilemmas und des „Herkunftskomplexes“ verknüpft ist, stellt sich ebenso als Arbeit dar, als „Geistesarbeit[]“ (Aus 200) immerhin, die stets nur angekündigt ganz im Zeichen des ‚Theaters’ steht, ohne in die Tat umgesetzt zu werden: „Wir ziehen alle möglichen Geister, die alle nur böse Geister sein können, an, um nicht anfangen zu müssen, wo wir anfangen sollten. Das ist die Tragödie dessen, der etwas aufschreiben will, daß er immer wieder die Verhinderer seines Aufschreibens anruft, hatte ich zu Gambetti gesagt, die Tragödie, die gleichzeitig eine perfekte und perfide Komödie ist.“ (Aus 200)
Ob und inwiefern die Position zu vertreten ist, dass die Geistesarbeit – und damit die ‚Auslöschung‘ – bzw. ihre Hinauszögerung ‚geschauspielert‘ ist, wird später noch umfassend zu klären sein. Einstweilen ist hervorzuheben, dass die Mutter die zentrale Figur des Wolfsegger Theaters ist, vor allem in ihrer Funktion als „Regisseurin“ (Aus 97), aber auch als Schauspielerin, deren „Schauspielkunst […] bei [Caecilias] Hochzeit die höchsten Höhepunkte“ (Aus 65) erreichte, da die Hochzeit ihrer Tochter, die die so genannte „Titiseetante“ (Aus 65) in einer Art Racheakt eingefädelt hatte, zum einzigen inszenatorischen Moment wird, der sich ihrer Kontrolle entzieht, weshalb auch „diese Heirat von Anfang an als nichts als ein Verbrechen Caecilias bezeichnet“ (Aus 376) wurde. Ansonsten ist sie die alles beherrschende Instanz, die Wolfsegg als ihr „Puppenhaus“ 84 (Aus 123) einrichtet, Muraus Schwestern „wie Puppen behandelt“ (Aus 122; vgl. die „Marionetten ihrer Mutter“, Aus 73) und seinen Bruder zum „Kasper“ bzw. „Ersatzhampelmann“ für ihren Mann macht (Aus 123). Während Murau und seine Schwestern in der Kindervilla Puppentheater nach „selbstgeschriebene[n] Stücken“ spielen (Aus 184f.), drängt die Zuchtmeisterin sämtlicher Inszenierungen ihre Kinder in die von ihr gewünschte und zugewiesene Rolle, wobei Murau als „Ersatzerbe“ nicht über die Rolle eines Stellvertreters für seinen Bruder hinauskommt (Aus 289). Insofern gilt es zu überprüfen, ob und wie Murau diese Rolle annimmt und ausfüllt. Auch er tritt gleich zu Beginn wie ein Schauspieler auf, der seinen Text probt. Mehrere Male rezitiert Murau den Satz „Aber ich kann die Meinigen ja
84 Das „Puppenhaus“ weist wie die beklagte Verkitschung der Wolfsegger Naturlandschaft in seiner Miniatur auf die Einrichtung einer (kleinbürgerlichen) Idylle hin, der Murau im Gegensatz zu Spadolini („errliche Landschaft“) nicht verfällt. Vgl. Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995, 75.
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nicht, weil ich es will, abschaffen“ (Aus 17), um die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen, die sich angesichts des „tatsächlichen Tod[es] [s]einer Eltern und [s]eines Bruders“ (Aus 18) aus dem Satz ergeben könnten, auszuloten. Mit dem plötzlichen Ableben des Bruders rückt Murau in die Rolle des Erben und somit des unverhofften Hauptdarstellers auf der Wolfsegger ‚Bühne‘, was er bei seiner Ankunft dort eingängig und genüsslich reflektiert: „Die Hauptfigur in diesem Theater aber fehlt, habe ich gleichzeitig gedacht, und ebenso, das eigentliche Schauspiel kann erst anfangen, wenn ich auftrete, sozusagen der Hauptdarsteller, welcher aus Rom herbeigeeilt kommt für dieses Trauerspiel. Was ich vom Mauertor aus sehe, habe ich gedacht, sind nur die Vorbereitungen auf jenes Schauspiel, das ich, und niemand sonst, eröffne.“ (Aus 319)
Derweil scheint er als Teil des mütterlichen Begräbnisplans noch immer unter deren Regie zu agieren. Vor seinem ‚Auftritt’ geht er noch einmal alle Schritte durch, die er beim regelmäßig von der Mutter veranlassten Exerzieren gelernt hat: „Die Ruhe überraschte mich, mit welcher ich am Torbogen gestanden bin und meine Rolle rekapituliert habe für ein Schauspiel, welches mir auf einmal gar nicht mehr neu vorgekommen ist, sondern schon hunderte Male, wenn nicht tausende Male erprobt. Ich kenne dieses Schauspiel durch und durch, habe ich gedacht. Mich quälten die aufzusagenden Wörter nicht, sie kamen mir wie von selbst, meine Schritte, meine Handbewegungen waren so perfekt einstudiert, daß ich gar nicht nachdenken brauchte, wie sie ausführen, wie sie vollendet zur Geltung bringen. Ich bin als Hauptdarsteller in diesem Trauerspiel aus Rom angereist, dachte ich und ich habe auf den Genuß dieses Gedankens nicht verzichtet, ich hatte keinerlei Scham bei diesem Gedanken.“ (Aus 319f.)
Die wiederholte Bekundung, dem Wolfsegger Ungeist entkommen und ein freier Mensch geworden zu sein, wonach er seine Rolle in der Gesellschaft gefunden haben müsste, widerspricht meiner gesamten Analyse bezüglich des Initiationsschemas. Sein Onkel habe ihn „doch noch geheilt“, nachdem die Eltern ihn „fast zur Gänze vernichtet“ hatten (Aus 36); ihm verdanke er seine „Unabhängigkeit“ (Aus 139). In Bezug auf seinen Schüler Gambetti (Aus 208), den er aus der elterlichen Welt zu vertreiben sucht, wie Onkel Georg einst ihn auf den Gegenweg gebracht hat, sieht Murau sich selbst in der Rolle seines Onkels. Doch auch in diesem Punkt bleibt seine Identifikation brüchig. Während er eingangs das Verhältnis zu seinem Schüler noch als „Idealzustand“ (Aus 10) darstellt, fragt Murau sich am Ende, ob er Gambetti nicht „möglicherweise schon zerstört“ (Aus 645) habe.
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Der alle(s) überragende Schauspieler aber ist der römische Erzbischof Spadolini, den Gambetti als den „außerordentlichste[n] und verführerischste[n]“ Schauspieler (Aus 638) deklariert. So stellt Murau bei der Totenmesse fest, dass „[e]r […] der Hauptdarsteller des Ganzen [ist]“ (Aus 634). Folglich widmet er ihm seine ganze Aufmerksamkeit: „Mit gefalteten Händen war er sozusagen vollkommen in Trauer versunken und als von unserer Mutter die Rede war, schien es, als wäre diese Trauer nicht einmal gespielt, sondern echt, aber nur einen Augenblick war es mir so vorgekommen, gleich darauf dachte ich wieder, er beherrscht seine Rolle tadellos. Tatsächlich liebte ich ihn, wenn ich ihn in dieser Haltung sah, denn ich liebte in ihm den großen Schauspieler Spadolini, ich kenne keinen größeren, keinen mit einer größeren Publikumswirksamkeit, wie gesagt wird.“ (Aus 636)
Nur für einen kurzen Augenblick scheinen in Muraus Beobachtung ‚Theater’ und ‚Leben’, Mensch und Rolle wieder zusammenzufallen. Was die SpadoliniSzene so pikant macht, ist das „katholische[] Welttheater“ (Aus 635), das der römische Erzbischof so perfekt zu spielen weiß und als langjähriger Liebhaber der Mutter und mutmaßlicher Vater Muraus in dieser Szene spielen muss. Murau wartet förmlich darauf, dass Spadolini wenigstens für einen Moment aus seiner Rolle fällt, doch anders als Shakespeares Protagonist vermag der vorreformatorische, „erzkatholische Hamlet“ (Aus 638) sich gänzlich damit zu identifizieren: „Von der Seite betrachtete ich ihn, wie man einen großen Schauspieler betrachtet, jede seiner Bewegungen studierend, zweifellos ist es eine große Kunst, die er vollzieht, dachte ich, er zeigt keine Schwäche, er erlaubt sich nicht die geringste Nachlässigkeit.“ (Aus 637)
Spadolini beherrscht das „Trauertheater“ (578f.) in Perfektion, weshalb Murau verärgert in hamletartiger Manier plötzlich auf den wahnsinnigen Gedanken verfällt, ihn zu zwingen, einen Blick in den Sarg der durch den Unfall entstellten Mutter zu werfen, um „den Inhalt des Sarges anzuschauen“ (Aus 592), das heißt, die ‚Heilung’ durch mnemonische Substitute als Phantasma zu entlarven und ihn zur Aufgabe des ideologischen Maskenspiels zu zwingen. Andererseits aber bewundert Murau bei Spadolini – im Gegensatz zu seinen Eltern oder seinem Bruder – die Ästhetik seiner Schauspielkunst. Es ist eben jene Differenz zwischen amorphem, zerfallen(d)em ‚Leben’ und maskierendem, synthetisierendem Gedächtnis, der Muraus gesamte Reflexion gilt – und die er in/mit seinem Auslöschungsprojekt ähnlich dem artaudschen
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‚Theater der Grausamkeit’85 zu überwinden sucht, um hinter den Masken wieder in Kontakt mit dem ‚Lebendigen’ zu treten. Mit anderen Worten: Es geht Murau eben nicht um kompensatorische und identifikatorische Trauer, sondern um eine andere Art von (Ge-)Denken. Der Mnemotechnik ist a priori eine gewisse Theatralik inhärent. Im Theater gibt es in der Regel einen vorgeschriebenen Text, einen Spielplan, festgelegte Gesten und Bewegungsmuster, die an zuvor definierten Orten (im Theater- bzw. Bühnenraum) artikuliert und durchgeführt werden. Im Zusammenwirken dieser Elemente, die den mnemotechnischen Elementen loci und imagines (agentes) gleichen, bilden sie ein Gedächtnis.86 Das Theater ist mit Blick auf die mnemotechnische Folie der Simonides-Legende als Repräsentationsraum beschreibbar, wo das Nicht-(mehr)-Repräsentierbare, das Absente maskiert zur Aufführung gelangt, indem die (eigentlich) zerschmetterten, nicht identifizierbaren Gesichter der Toten mit einem Namen versehen als Prosopopoie zum verfüg- und verhandelbaren Zeichen einer zweiten Ordnung werden. Die Prosopopoie ist der Gründungsakt der ‚Person’ (lat. Persona = Maske, Rolle), der gleichzeitig eine Selbstauslöschung ist und zur Autorisierung einer stellvertretenden Fiktion führt, die (re-)präsentativ redet und handelt, wie es vornehmlich im Theater und im Gerichtssaal vonstattengeht.87 An diesem Punkt verschmelzen die unter dem Aspekt der ‚Initiation‘ angeführten Probleme des Protagonisten mit der die ganze Auslöschung durchziehenden Theatersphäre und kulminieren in seiner Erkenntnis, dass es „heute schon nurmehr noch Kunstmenschen [gibt], künstliche Menschen, keine natürlichen [...]“ (Aus 125). Das ‚Begräbnistheater’ der Auslöschung wird somit nicht nur zur Kritik an der unreflektierten Exekutierung des präzise von der Mutter festgelegten und regelmäßig durchgeprobten Begräbnisplanes, sondern zur Universalmetapher der Wahrnehmung auf der Basis einer unhintergehbaren mnemonischen Mechanik, aus der Prosopopoien resultieren, die den Einbruch des Todes und den Einsturz des Zeichenraumes vergessen machen, um die sekundäre Ordnung für die primäre auszugeben. Kunst überdeckt den Tod: „Eine Aufbahrung ist ein großes Schauspiel, habe ich gedacht, ein Kunstwerk, das nach und nach unter vielen Händen, die wissen, wie ein solches Kunstwerk zu machen ist, ent-
85 Vgl. Kapitel 2.4.3. des zweiten Teils. 86 Vgl. Gerald Siegmund, Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas (Forum Modernes Theater, Schriftenreihe Bd. 20), Tübingen 1996, 64. 87 Vogl 2002, 21.
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steht. Daß meine Eltern selbst und mein Bruder in der Orangerie aufgebahrt sind, diesen Gedanken verdrängte ich gleich, ich dachte nicht an die Tragödie, sondern an das Kunstwerk, an das Großartige der Aufbahrung, nicht an ihre tatsächliche Furchtbarkeit wie in diesem Fall.“ (Aus 324f.)
Mit der Aufbahrung und vermeintlichen Überwindung der Tragödie – immerhin wird der Gedanke daran inmitten einer Erinnerung verdrängt, eine dialektische Struktur von Erinnern und Vergessen, die den gesamten Text grundiert und sich immer wieder in den Vordergrund spielt – ist man erneut auf Hamlet und Wilhelm Meister verwiesen. In Goethes wie in Bernhards Text wird den Protagonisten das Puppentheater verboten. In den Lehrjahre[n] geht es nicht nur um eine Verdrängung der Sphäre des Theaters zugunsten von Wilhelms Tätigkeit als Wundarzt, sondern auch der des Tragischen, was nicht zuletzt den realen Selbstmorden, die auf Die Leiden des jungen Werthers folgten, geschuldet sein dürfte, zugleich aber zum Kern der Aufklärung und der gesamten Geschichte des Abendlandes zu zählen ist. Überdies wird hier Platons Bestreben, die Tragödie aus seinem Entwurf eines idealen Staates zu verbannen, in Erinnerung gerufen, da „[d]er tugendhaften und staatstragenden Identität des Subjekts [...] in der Tragödie eine Vielheit entgegengesetzt [wird], die – durch die Multiperspektivität des Dialogs ohne episches Zentrum vorgegeben – keiner moralischen Richtschnur mehr folgt“88, womit aus platonischer Sicht eine ethische und ästhetische Suprematie der Epik über die Dramatik begründet wäre. Die Philosophie der Tragödie fußt nach Walter Benjamin auf einer Dialektik von ‚Schuld’ und ‚Sühne’ und gilt gleichzeitig als Theorie der sittlichen Weltordnung, die das schicksalhafte Zusammenwirken des Einzelnen und der gesetzmäßig geordneten Umwelt umfasst.89 Manifestiert sich der schicksalhafte „Schuldzusammenhang des Lebendigen“ als jener Mangel der Verschränkung von Sein und Zeit, dem die Sterblichen unterliegen und den die Suprematie der Zeichen über sie spiegelt, so setzt Wilhelm gegen das daraus abzuleitende „Dogma von der natürlichen Schuld des Menschenlebens“ die „Vision von der natürlichen Unschuld des Menschen“.90 Goethe, zu jener Zeit gerade Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie lesend, war Anhänger von Pelagius, der die Lehre von der Erbsünde verwarf und deshalb von Augustinus angegriffen wurde, dessen Name der Harfner in Wilhelm
88 Siegmund 1996, 73. 89 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I, Frankfurt am Main 1990, 279. 90 Hörisch 1983, 81.
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Meisters Lehrjahre[n] trägt. Wie Mignon der Sphäre der Kunst unmittelbar zugehörig, besiegelt der Roman das Ende dieser Figur, die unter Überschreitung des Inzesttabus von religiöser Schwärmerei gekennzeichnet ist. 91 Somit wird nachvollziehbar, warum Murau in seiner großen Goetheschelte als einzig namentlich erwähnten Goethe-Text Faust angreift und ihn mit Shakespeare kontrastiert: „[...] und seine Theaterstücke sind gegen die Stücke Shakespeares beispielsweise so gegeneinander zu stellen, wie ein hochgewachsener Schweizer Sennenhund gegen einen verkümmerten Frankfurter Vorstadtdackel. Faust, hatte ich zu Gambetti gesagt, was für ein Größenwahnsinn!“ (Aus 576f.) Muraus Goethe-Kritik fügt sich in den Kontext (des Theater- und Tragödiendiskurses) der Auslöschung ein, insofern er sich gegen das Erlösungsversprechen des Faust wendet, gegen die in Aussicht gestellte Möglichkeit, sich von der schuldbeladenen Vergangenheit befreien zu können, wie Fausts Schlaf am Lethefluss in der Eingangsszene des Faust II sowie die mythische Errettung seiner Seele im Schlussakt suggerieren. Beide Teile der Tragödie sind durchwoben von aufeinander folgenden „Gedächtnislöschungen“, die Mephistopheles dadurch erreicht, dass er Doktor Faust unter raschen, desorientierenden Ortswechseln fortwährend mit Neuigkeiten konfrontiert.92 Poetisch steht Faust mit seinem „Wissensqualm“, wonach „die Frage des Wissens an die seiner Darstellung und diese wiederum an ihren Zerfall“93 gebunden ist, dem murauschen Auslöschungsprojekt durchaus nahe, indessen muss Fausts finaler Freispruch für Murau (ethisch wie poetologisch) inakzeptabel sein, da sich ihm der historisch belastete „Herkunftskomplex“ als unüberwindbares Erbdilemma darbietet. Während in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] der Protagonist in seinem Bestreben, „[s]ich selbst, ganz wie [er] da [ist], auszubilden“ entgegen seinem Schicksal, das sich im „Bild des unglücklichen Königssohnes“ zu verdichten und anzukündigen scheint, in gewisser Weise reüssiert, bleibt Murau als Geisel des elterlichen Erbes der Thanatologie des Textmottos („Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da.“) verhaftet.
91 Neumann 1992, 51. Vgl. Werner Keller, „Größe und Elend, Schuld und Gnade: Fausts Ende in wiederholter Spiegelung“, in: ders. (Hrsg.), Aufsätze zu Faust II, Darmstadt 1991, 338. 92 Harald Weinrich, Gibt es eine Kunst des Vergessens?, Basel 1996, 23. 93 Vogl 2002, 311.
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Wilhelms Hamlet-Aufführung gleicht der Einübung sozialer Rollen, was in Anbetracht des Initiationsschemas heißt, dass der Schauspieler und das Theater in Goethes Bildungsroman überwunden werden müssen, da sie gesellschaftlich nicht strukturiert und nicht in Rollen eingebunden sind, wie es der Übergangsund Schwellenphase eines Initiationsritus entspricht.94 Folglich bricht das Theaterspiel die Illusion und beendet Wilhelms illusorische Existenz, was seinen Heilungsprozess in Gang setzt, der vom Theater zur Gesellschaft führt, von der Tragödie zum Roman.95 Wilhelm Meister zieht in die Welt hinaus, um zum Theater zu gehen und um durch das Theater (geheilt) in die (Turm-)Gesellschaft integriert zu werden. Bernhards Protagonist der Auslöschung hingegen kehrt nach Hause zum Begräbnis seiner Eltern und seines Bruders zurück, um es als Theater vorzufinden, das unverändert der Regie der Mutter untersteht. Wo Wilhelm Meisters Lehrjahre eine Trennung zwischen Theater und bürgerlicher Welt inszenieren, sind beide Sphären in der Auslöschung von Beginn an untrennbar miteinander verzahnt und bilden einen Grundzug in Muraus (mnemonischen) Reflexionen. Sie richten sich, ganz im Sinne meiner These, Murau als schwellenkundig aufzufassen, auf den Übergang vom Sein (oder Nicht-Sein) zum Schein, auf die Gerinnung von unverfügbarer, toter Vergangenheit zu manifester, verhandelbarer (Re-)Präsentation, mit der stetigen Absicht, die Maskerade zu demontieren, um dem Tod in sein amorphes Antlitz zu blicken, wie seine mehrmaligen Bemühungen, den verschlossenen Sarg der (verstümmelten) Mutter zu öffnen, exemplifizieren, womit sein Denken und Auslöschen als ikonoklastisch bestimmbar wären. Anders als Murau (und Hamlet) verkörpert sein möglicher Vater Spadolini einen handlungsmächtigen Schauspieler96, der sich mit all seinen der jeweiligen Situation angepassten Rollen unverbrüchlich identifiziert, wie Muraus Formulierung vom „erzkatholischen Hamlet“ (Aus 638) veranschaulicht. 97 Er dagegen
94 Vgl. Brittnacher 2006, 26. 95 Vgl. Roberts 1980, 156: Hamlet in the Lehrjahre thus possesses a function comparable to the play within the play in Hamlet: the cathartic effect of the performance is decisive for Wilhelm, but Hamlet is also [just as the play within the play for Hamlet] the tragic mirror of the novel itself, whose function is echoed in the inset narrative of the Harfner’s prehistory with its parallel to Oedipus. 96 Vgl. Menke 2001, 570f. 97 Vgl. Stephan Laqué, Hermeneutik und Dekonstruktion. Die Erfahrung der Transzendenz in Shakespeares Hamlet, Heidelberg 2005, 170, Anm. 41. Laqué liest Hamlets Studienort Wittenberg als Inbegriff des reformatorischen Geistes als generelles Symbol für die Zurückweisung transzendental begründeter Herrschaftsformen.
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fällt ständig (wie Hamlet) aus seiner Rolle und gerät von der ersten ‚Schauspielszene’ an immer wieder ins Stocken, was in deutlichem Kontrast zur perfekten Rhetorik des Erzbischofs steht. Als würde er seine Rolle einstudieren, führt dies zu zahlreichen Repetitionen: „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, hatte ich gesagt. Deutlich höre ich mich diesen Satz sprechen und die Furchtbarkeit, die er jetzt durch den tatsächlichen Tod meiner Eltern und meines Bruders in sich hatte, ließ mich diesen Satz, noch immer am Fenster stehend und auf die Piazza Minerva hinunter schauend, noch einmal laut aussprechen. Da ich den damals Gambetti gegenüber mit der größten Abneigung gegen die Betroffenen ausgesprochenen Satz Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, jetzt ziemlich laut und geradezu mit einem theatralischen Effekt wiederholte, so, als sei ich ein Schauspieler, der den Satz zu proben hat, weil er ihn vor einem größeren öffentlichen Auditorium vorzutragen hat, entschärfte ich ihn augenblicklich. Er war auf einmal nicht mehr vernichtend. Dieser Satz Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, hatte sich jedoch bald wieder in den Vordergrund gedrängt und beherrschte mich. Ich bemühte mich, ihn zum Verstummen zu bringen, aber er ließ sich nicht abwürgen. Ich sagte ihn nicht nur, ich plapperte ihn mehrere Male vor mich hin, um ihn lächerlich zu machen, aber er war nach meinen Versuchen, ihn abzuwürgen und lächerlich zu machen, nur noch bedrohlicher. Er hatte auf einmal das Gewicht, das noch kein Satz von mir gehabt hat. Mit diesem Satz kannst du es nicht aufnehmen, sagte ich mir, mit diesem Satz wirst du leben müssen. Diese Feststellung führte urplötzlich zu einer Beruhigung meiner Situation. Ich sprach den Satz Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, jetzt noch einmal so aus, wie ich ihn Gambetti gegenüber ausgesprochen hatte. Jetzt hatte er dieselbe Bedeutung wie damals Gambetti gegenüber.“ (Aus 17ff.)
Murau führt hier Identität und Differenz ein und desselben Satzes vor, wie sie sich aus seiner phonetischen und prosodischen Artikulation ergeben (könnten). Erstaunlicherweise wird die Beunruhigung, die der Satz „durch den tatsächlichen Tod [s]einer Eltern und [s]eines Bruders“ auslöst, just in dem Moment überwunden, in dem seine Unkontrollierbarkeit und Nicht-Identifizierbarkeit anerkannt wird, was dann (angeblich) wiederum zu seiner Identität mit dem ursprünglichen Satz führt – zumindest aber zu einer „Beruhigung [s]einer Situation“, wodurch der Fortgang des Reflexionsprozesses ermöglicht wird, dem zuvor eine Blockierung drohte. Die zahlreichen Wiederholungen zielen auf einen disseminatorischen Effekt ab, der analog zu den „verschleuderten Bildern“ und dem Verblassen von Erinnerungsbildern keine Identifizierung mehr zulässt. Eben dies erfährt jedoch in
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Muraus Gedächtnispoetik eine positive Wendung, der im nächsten Kapitel weiter nachgegangen werden soll.
2.7. D AS S CHEITERN
DER
E RINNERUNG
Auch wenn die irreduzible Heterodoxie von Erinnern und Vergessen in der bisherigen Analyse ein ums andere Mal zutage trat, so ging das soweit Erörterte grosso modo von einer mnemotechnischen Funktion des Gedächtnisses aus, von einer intelligiblen Textordnung, in der eine Kongruenz des manifesten Textes mit dem Auslöschungsprojekt vorausgesetzt wird. Doch gerade die Untersuchung von Muraus schauspielartiger Erprobung des Satzes „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen“ illustriert, dass die mnemotechnisch notwendige Identifizierung keineswegs verlässlich ist und dass just die Nicht-Identifizierbarkeit zu einer „Beruhigung [der] Situation“ geführt hat, wo sie doch eigentlich beunruhigen müsste. Dies legt die Vermutung nahe, dass es in der Auslöschung um eine andere ‚Fassung‘ von Gedächtnis geht, die das mnemotechnische ‚Trauertheater‘ hinter sich lässt. Murau, der zunächst vor seinem ‚Auftritt’ auf Wolfsegg heimlich die Vorbereitungen des ‚Begräbnistheaters’ beobachtet, beansprucht, seine Rolle perfekt einstudiert zu haben und alle „aufzusagenden Wörter“ zu kennen (Aus 319f.). Wie zuvor dargelegt, lässt dies den Rückschluss zu, dass er noch immer den mütterlichen Regieanweisungen Folge leistet, die er als Kind beim regelmäßigen Proben von Festakten verinnerlicht hatte. Doch entgegen seinen Versicherungen, seine Rolle zu beherrschen, tritt der unvorhergesehene „Hauptdarsteller“ alles andere als unbekümmert und selbstsicher auf die Wolfsegger ‚Bühne’, sondern zieht „[s]einen tatsächlichen Auftritt in Wolfsegg auf die ungeheuerliche Weise hinaus“ (Aus 329): „Aber das Verharren am Mauertor ist andererseits charakteristisch für mich, sagte ich mir, ich bin nicht der Mensch, der sofort eine Szene betritt, gleich welche, der augenblicklich auftreten kann. Das Zögern ist meine Art, das mich vorher auf einen günstigen Beobachtungsposten zurückziehen läßt. Ganz einfach das Indirekte ist mir angemessen.“ (Aus 333)
Mit dem Zögern geht eine umfassende Reflexion der Auftrittskonditionen und -möglichkeiten einher. Anders als der schauspielerisch versierte Spadolini ist Murau „verkrampft“ (Aus 338) und tritt wie eine Marionette (seiner Mutter) auf, gibt jedoch zunächst vor, nicht zu wissen, warum er nicht einfach zu den von ihm beobachteten Gärtnern gehen kann, um sie zu begrüßen. Kurz darauf be-
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merkt er, dass er als Kind immer die richtigen Wörter gefunden habe, nur jetzt nicht mehr (Aus 338). Ihm wird bewusst, dass er unausgesetzt Teil des (mütterlichen) Plans ist, aus dessen Umfesselung er sich nicht zu befreien vermag: „Ich hatte einen Augenblick das Gefühl, daß ich mich in den Jahrzehnten, in welchen ich alles getan habe, um mich von Wolfsegg zu befreien und unabhängig zu machen, und nicht nur von Wolfsegg, sondern von allem unabhängig, nicht befreit und nicht unabhängig gemacht habe, sondern im Gegenteil auf die deprimierendste Weise verstümmelt.“ (Aus 338f.)
Wie zuvor anhand der Analyse des Initiationsschemas dargelegt, sind Muraus frühere Versicherungen, dass sein Onkel ihn gerettet habe und er in Rom frei und unabhängig geworden sei, nicht haltbar. Auch nach dem Tod der Eltern bleibt Murau ein Gefangener der Wolfsegger Traditionen sowie des Ödipuskomplexes, was sich unter anderem daran ablesen lässt, dass er unentwegt ihre „Sätze […] im Ohr“ (Aus 495) hat, vor allem aber noch die Stimme des Vaters (!) hört: „Der die Hochzeitsgesellschaft erheiternde Lapsus des betrunkenen Pfarrers [er vergisst während der Trauungszeremonie die Namen des Brautpaars, die ihm vom Vater souffliert werden müssen; T.M.; vgl. Aus 346f.] war mir eingefallen und ich hörte jetzt noch immer das schallende Gelächter des Hochzeitsauditoriums. Meine dann doch nicht veröffentlichte Infamie [Murau wollte anstelle des Namens des Schwagers das Wort „Weinflaschenstöpselfabrikant“ in die Kapelle hineinrufen; T.M.; vgl. Aus 347] kam mir in den Kopf und ich hörte jetzt wieder meinen Vater den Namen Caecilia rufen, der die vollkommen zum Stillstand gekommene Verheiratungsszene wieder in Gang gebracht hat. Wie lange hören wir eigentlich die Stimme eines Menschen, die wir ein paar Tage vorher noch in Wirklichkeit als die Stimme des Lebenden gehört haben, wenn er plötzlich tot ist? fragte ich mich.“ (Aus 363f.)
Es ist ausgerechnet die Stimme des Vaters, die eingedenk des konstitutiven Aktes der Namensnennung die Fortsetzung der angehaltenen Hochzeitszeremonie bewirkt und, wie Muraus Frage erahnen lässt, sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt hat. Der identifikatorische Akt der Benennung durch den Vater legitimiert und implementiert das zum Zweck der Kontinuität auf Prokreation eines Erben abzielende genealogische Machtspiel, das die Hochzeit symbolisiert. Murau indessen sucht nach einem Ausweg aus dem mit dem „Herkunftskomplex“ verstrickten Erbdilemma, das von einem Mangel an wirklichen Hand-
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lungsmöglichkeiten geprägt ist. Er will den „Gegenweg“ (Aus 147) einschlagen und setzt den zögerlichen Auftritt in Wolfsegg mit einer überraschenden Selbsterkenntnis fort, die den eben vorgeführten identifikatorischen Akt der Namensnennung durch seinen Vater negiert: „Ich bin ein verstümmelter Mensch, habe ich gedacht. Gleich darauf aber bin ich zu den Gärtnern hingegangen und habe ihnen die Hände geschüttelt. Sie waren über mein für sie plötzliches Auftreten nicht überrascht gewesen. Ich nannte ihre Namen, ich schüttelte ihre Hände, ich sagte, ich sei zu Fuß aus dem Ort herauf nach Wolfsegg, ich sagte, ich habe sie eine Zeitlang beobachtet, stehengeblieben am Mauertor, sagte ich, auf dieses zurückblickend.“ (Aus 339)
Auch Murau identifiziert (hier die Gärtner), benennt Namen, doch die erstarrte Szene wird erst durch ein Moment der negativen (Selbst-)Identifikation überwunden: Er erkennt sich als „verstümmelte[n] Mensch[en]“, einen sich in Bezug auf das Initiationsschema in der Übergangsphase befindlichen Menschen, der gar nicht identifizierbar wäre. Murau wird hier angeblich seiner selbst unmittelbar, d.h. unmaskiert ansichtig. Seine vermeintliche Identifikation verkehrt sich in eine Defiguration. Direkt im Anschluss an die eben analysierte Passage droht Muraus Auftritt beim Gang auf das „weit offene Portal“ zu ein erneuter Stillstand. Diese Szene wird in Kapitel 2.4.2. des zweiten Teils in einem anderen Kontext untersucht, so dass es vorderhand Muraus zweiten Auftritt in Wolfsegg in den Blick zu nehmen gilt, der zur Begegnung mit seinen Schwestern und dem „Weinflaschenstöpselfabrikanten“ führt. Im ersten Stock des Wolfsegger Haupthauses verharrt er am Treppenende, um die drei durch die Tür zu belauschen (Aus 380f.): „Plötzlich kamen sie auf mich, sie konnten sich nicht erklären, warum ich bis jetzt nichts hören habe lassen, wo sie das Telegramm ja doch sofort nach Bekanntwerden des Unglücks an mich aufgegeben hatten. Kein Anruf, nichts, sagte Amalia. In diesem Augenblick hatte ich einzutreten.“ (Aus 385)
Wieder ist es eine negative Identifikation, die Feststellung einer Absenz, die die sich abzeichnende Blockierung der Szene löst, wieder sind es negative Stichwörter, die letztlich Muraus Auftritt ermöglichen, wenngleich die Formulierung „hatte ich einzutreten“ ambivalent bleibt. Zum einen klingt darin eine Inszenierungsanweisung an, zum anderen könnte die benannte Negativität die Chance offerieren, diese Leerstelle spielerisch zu besetzen.
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Das ‚Gedächtnis’ betreffend steht die atavistische Bildbetrachtung der Wolfsegger und die Unverrückbarkeit der Bilder für die (kulturelle und mentale, aber auch ökonomische) Gleichförmigkeit, die Murau ebenso wie vor ihm sein Onkel scharf attackiert. Alle potentiell bedrohlichen Bilder und Schriften werden unter Verschluss gehalten. Psychoanalytisch wäre dies als Verdrängung erfassbar. Mnemotechnisch könnte man sagen, dass sie dem Vergessen anheim gegeben sind, wobei die gesamte Zirkulation der Erinnerungsbilder zum Erliegen kommt bzw. sämtliche imagines an den immer gleichen loci aufbewahrt werden, um beim Abschreiten der Bilddeponien entweder gänzlich übergangen zu werden oder aber stets die gleichen verlässlichen Erinnerungen und Bedeutungen zu ergeben.98 „Die Meinigen haben Wolfsegg immer genauso betrachtet, wie ihre Bilder an den Wänden, die immer so und nicht anders an den Wänden hingen und niemals verändert, oder gar heruntergenommen werden durften, sie durften sich in nichts verändern, wer sich verändern ließ, oder von sich aus veränderte, wie mein Onkel und wie ich, dachte ich, den schlossen sie aus, der hatte unter ihnen und, wie sie glaubten, mit ihnen, nichts mehr zu tun.“ (Aus 365f.)
Unter diesen Gegebenheiten ist damit zu rechnen, dass die Erinnerungen und Bedeutungen sich abschwächen, wodurch dem Gedächtnis langfristig der Verlust der Stabilitäts- und Ordnungsfunktion bevorsteht.99 Muraus Plan, alle Bilder auf Wolfsegg einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen, inklusive der aus der öffentlichen Betrachtung ausgeschlossenen, lässt demnach auf eine intendierte Generalüberholung und Wiederbelebung des Gedächtnisses schließen, wobei „alle Bilder an den Wänden und auf den Dachböden [geprüft werden sollen], [um] so einen Überblick über ihren tatsächlichen Wert zu [erhalten]“ (Aus 374). Dies deutet auf das Bemühen hin, bezüglich des erwünschten „Zukunftskom-
98 Vgl. dazu Fürst Saurau in Verstörung: „Meine Gewohnheit, wöchentlich einmal sämtliche Bilder in Hochgobernitz von den Wänden herunterzunehmen und untereinander auszutauschen, und zwar nach einem nur mir bekannten System, vier vor, zwei zurück, dann wieder sechs vor, acht zurück, habe ich die ganzen Jahre bis zum heutigen Tag beibehalten.“ (Ver 189) – Auch in diesem ‚raffinierten‘ System bleiben alle Bilder letztlich an ihren angestammten Plätzen. 99 Wobei anzumerken ist, dass alle verdrängten/zensierten ‚Bilder’ in den Status einer zumindest potentiellen (Wieder-)Entdeckung rücken. Das Gedächtnis bleibt hinsichtlich der Reziprozität von ‚Erinnern’ und ‚Vergessen’ unhintergehbar und letztlich unauslöschlich.
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plex[es]“ innerhalb der Wolfsegger Genealogie eine anschlussfähige und fortsetzungswürdige Traditionslinie wiederzufinden. Offenkundig wird diese Ambition bei den Überlegungen zum Bild des Urururgroßonkels Ferdinand, bei denen sich Wolfsegg erneut als Gedächtnisraum präsentiert, in dem die mnemotechnischen Konzepte der loci und imagines im Sinne des Ahnenkults ihre Wirkung entfalten, die von Murau eingängig analysiert und hinterfragt wird. Bei seinem Vorhaben, alle Bilder in Wolfsegg prüfen zu lassen, entdeckt er dieses Bild seines Urururgroßonkels (neu), das dort an der Wand hängt, „wo die Treppe in den ersten Stock hinauf führt“ – gemäß den Regeln der Mnemotechnik an einer markanten Stelle: „Der Mann sieht, dachte ich, tatsächlich Descartes ähnlich, was mir vorher nie aufgefallen war, schließlich lebte er zur gleichen Zeit wie der Philosoph, aber es war dann doch mehr die Kleidung, die ihn Descartes ähnlich erscheinen ließ, weniger sein Kopf. Aber die Ähnlichkeit zwischen diesem Urururgroßonkel und Descartes war auf einmal verblüffend für mich. Warum ich nie darauf gekommen bin, fragte ich mich und betrachtete das Bild mit noch größerer Neugierde. Tatsächlich hatte mein Urururgroßonkel auf dem Bild auch diesen charakteristischen Descartesbart und die hochgezogene Descartesbraue. Das Bild ist durchaus kein lächerliches, habe ich gedacht und ich fragte mich gleichzeitig, ob es nicht tatsächlich möglich sei, daß dieser hier zu einem Ölbild gemachte Urururgroßonkel auch ein Philosoph gewesen sei, denn er hatte etwas Philosophisches an sich. Ich beschloß in unseren Bibliotheken nachzuforschen, ob sich dort etwas von diesem Urururgroßonkel Aufgeschriebenes finden lasse, vielleicht irgendwelche Essays, dachte ich, von welchen ich bis jetzt nichts gewußt habe, tatsächlich philosophische Schriften, ich glaubte, mich nicht zu irren, einen philosophischen Schriftsteller auf dem Ölbild abgebildet zu sehen und vermutete schon dessen Werke in einer unserer fünf Bibliotheken. […] Ich bildete mir jetzt sogar ein, schon einmal etwas über den Philosophen Ferdinand, so nannte ich ihn für mich, gehört zu haben.“ (Aus 360f.)
Murau führt hier wie bei den Reflexionen zu den Fotografien im „Telegramm“Teil vor, dass die Begrenzung eines Bildes keineswegs semantische Stabilität zu garantieren vermag, sondern im Wesentlichen vom ästhetischen Prozess der Imagination abhängt, der potentiell unendlich ist. Wo die Imagination im Erinnerungsprozess ‚am Werk’ ist, lässt sie sich auch von einem fixierten Bild nicht eingrenzen. Durch Muraus Vorstellungskraft belebt gewinnt das (umbenannte) Konterfei vom „Philosophen Ferdinand“ eine solch starke Präsenz, dass er geneigt ist, ihm einen realen Hintergrund zuzuschreiben. Die Imagination überschreibt gewissermaßen den einstigen Urahnen und macht aus ihm – möglicherweise – wirklich einen „Philosophen“, dessen Schriften in den Bibliotheken zu
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finden sein könnten. Er b i l d e t s i c h gar e i n , „schon einmal etwas über den „Philosophen Ferdinand“ gehört zu haben, womit das imaginierte Bild selbst von einer imaginierten Erinnerung unterfüttert wird, die nur Teil einer potentiell unendlichen Supplementkette von einander grundierenden Erinnerungen ist, die Wahr-Scheinlichkeit von Muraus Vorstellung aber dennoch erhöht. Indessen bemerkt Murau, dass er „Bilder […] in Wolfsegg immer genauso angeschaut [hatte], wie die [S]einigen“ (Aus 361). Somit gerät das zum Zweck einer Revitalisierung geplante Unternehmen einer Inventur der Gedächtnisbilder zu einer Ersetzung der „gewohnheitsmäßig[en]“ und „oberflächlich[en]“ (Aus 361) Betrachtungsweise durch eine neue. Dieses Verfahren gleicht Muraus Ratschlag an Gambetti, Kafkas Proceß einer zweiten Lektüre (Aus 139f.) zu unterziehen (und damit natürlich auch einer potentiellen dritten, vierten und fünften etc.), woraus abzuleiten ist, dass dabei stets neue Entdeckungen zu vermuten sind, die von der Qualität der Literatur Kafkas im Gegensatz zur verhassten „Beamtenliteratur“ zeugen, welche, um den Begriff vorläufig aufzuhellen, analog zur Wolfsegger Ordnung auf der Identität und Berechenbarkeit der Erinnerungsbilder basieren müsste. Getreu dieser Programmatik unterwirft er später das Bild des Urururgroßonkels erneut seinem kritischen Blick, um festzustellen, dass er in der Zwischenzeit seine philosophische Größe eingebüßt hat und „mit diesem Gesicht“ (!) keine Essays geschrieben haben kann (Aus 438). Die phantasmagorische Wiederbelebung des Erinnerungsbildes stellt sich als Fehlschlag heraus. Murau findet in der historischen Tradition seiner Familie keinen Ansatzpunkt, der ihn zu einer Restaurierung (vgl. Aus 362), Wiederaneignung und Wiederbelebung inspirieren könnte, zumal es dem „Wolfseggkomplex“ grundsätzlich an einer Zukunftsperspektive mangelt. Der Held der Auslöschung bleibt sich selbst und seinen Perzeptionen gegenüber unerbittlich und so strengt er einen weiteren Versuch an, hinter den einsturzgefährdeten, leblosen Fassaden einer wahren, lebendigen Welt zu begegnen, deren Erbe zu sein er gewillt wäre und deren Aneignung und Tradierung er als geboten erachten würde. Er schreitet die loci des Wolfsegger Gedächtnisraumes ein zweites Mal ab auf der Suche nach Erinnerbarem und Erinnerungswürdigem. Doch dieser zweite Rundgang bestätigt nur sein aporetisches, anti-identifikatorisches Denken: die ordnungsgemäßen und ritualisierten Abläufe in der Küche, die er bei seiner Ankunft in ihrer Vertrautheit als angenehm empfunden hatte (Aus 373), haben am Ende des Tages „schlampige Zustände“ (Aus 588) hinterlassen; die Möglichkeit, die Zeitungen mit den Berichten über den Autounfall zu lesen, was er sich zuvor als schamlosen „Genuss vorgestellt hatte“, stößt ihn „plötz-
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lich“ ab („ekelerregend“, Aus 589); die Ästhetik des „schöne[n] elegante[n] Bild[es], das die Trauergesellschaft zuvor im Park dargeboten hatte (Aus 493), ist dem Verwesungsgeruch, den die Leichen von der Orangerie her ausströmen, gewichen (Aus 591); in der Orangerie scheitert sein skrupelloses Bemühen, den verschlossenen Sarg seiner Mutter zu öffnen, ein weiteres Mal (Aus 591); die Tiere in der Meierei ekeln und beunruhigen ihn, zumal er seit der Kindheit immer wieder von fürchterlichen Tierträumen heimgesucht worden war (Aus 593); in der Kindervilla, die er aufsucht, um seine „Verfassung zu verbessern“ (Aus 592), findet er anstelle der (Bilder der) Kindheit nur eine „gähnende Leere“ (Aus 598ff.), wodurch ihm die Absurdität seiner Restaurationsidee bewusst wird (Aus 597f.). Schließlich sucht er im Büro des Vaters, dessen „Kommandobrücke“ (Aus 606), nach dem Leitzordner mit seinem Namen und der „Unsumme“ der Ausgaben für seinen verschwenderischen Lebenswandel (Aus 603), doch weder sein Name noch seine ‚ökonomische Biografie’ sind im sonst so ordentlichen und buchhalterischen Wolfsegger Gedächtnis vorhanden. Das abermalige Aufsuchen der Gebäude produziert keine kongruenten Erinnerungen. Die imagines verbürgen keine semantische Kontinuität, vielmehr sind sie veränderlich, brüchig, zerstört oder gar absent, so dass ihre Differenzen zu gewärtigen sind. Auch der zweite Rundgang durch die (Gedächtnis-)Räume generiert keine Erkenntnisse oder Identifikationen, die Murau Gewissheit und Beruhigung bezüglich des „Herkunftskomplexes“ und Erbdilemmas bieten könnten: „Natürlich habe ich nicht einschlafen können und während meiner Schlaflosigkeit nur daran gedacht, was geschieht jetzt mit allem? Mit Wolfsegg und allem, was dazugehört. Über zwei Stunden war ich allein mit diesem Gedanken beschäftigt, nicht was geschieht mit Wolfsegg? habe ich gedacht, sondern, was mache ich aus Wolfsegg, das mir durch den Tod der Eltern tatsächlich und im allerwahrsten Sinne des Wortes jetzt auf den Kopf gefallen ist, das mich jetzt zu erdrücken drohte, mit seiner ganzen ungeheuerlichen Wucht ist mir Wolfsegg auf den Kopf gefallen, dachte ich. Es war verrückt mir einzureden, ich könne mich, indem ich mich im Bett einmal auf die eine, einmal auf die andere Seite drehte, beruhigen, der Zustand der Ausweglosigkeit, der mir auf einmal in der ganzen Fürchterlichkeit bewußt geworden war, ließ mir keine Ruhe, er ließ mich keinen vernünftigen Gedanken denken […].“ (Aus 619)
Was Murau trotz gescheiterter Identifizierung und Erinnerung in der Nacht vor dem Begräbnis letztlich zwar keinen Schlaf – eine Phase des Vergessens –, jedoch zeitweilig Beruhigung verschafft, ist die Einsicht, dass es keine sichere Erkenntnis geben kann, dass sich über das aus den Fugen geratene Leben – das aus
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dem Rhythmus gekommene Herz (Aus 620 u. 622) – qua Gedächtnis nur scheinbar und nicht wirklich verfügen lässt, dass die gescheiterte und ewig scheiternde Suche nach Wahrheit die Wahrheit selbst ist: „Anscheinend ist keine sichere Erkenntnis möglich, solange man nicht den Urheber seines Daseins kennt, las ich und war abgelenkt, gerettet.“ (Aus 623) Ausgerechnet dieser Satz von Descartes, dem Begründer der modernen Bewusstseinsphilosophie, spiegelt ihm die Erfahrungen der letzten Stunden und eigentlich seiner gesamten mnemonischen und antiautobiografischen Überlegungen wider. Damit ist zwar sein „Herkunftskomplex“ nicht gelöst, es hält aber den Ausweg offen, mit Spadolini als möglichem Vater gewissermaßen gar nicht direkt der Wolfsegger Familienlinie zu entstammen. Dieses Scheitern der Identifikation bzw. das Erkennen der Nicht-Identifizierbarkeit der Wahrheit und der Realität lassen ihn die Stunden bis zum Beginn des Begräbnisses ertragen und führen (ansatz- und übergangsweise) zu einer Konsolation.
Teil II Gegen-Gedächtnis [Mnemophantastik]
1. Zukunftskomplex 芸術は爆発だ!– Kunst ist Explosion! (TARO OKAMOTO)
1.1. Ü BERWINDUNG
DES
F OTOGRAFIEZEITALTERS
Der Vergleich zwischen Simonides-Legende und Auslöschung hat deutlich gemacht, dass Murau die Absicht verfolgt, die auf Wolfsegg – und darüber hinaus in Österreich und ubiquitär – herrschende Ordnungsmacht des metaphysischen Gedächtnisses, seine Realität und Identität vortäuschende Mechanik zu entlarven, um hinter der erstarrten medialen Oberfläche der (Gedächtnis-)Bilder wieder an das ‚Vitale‘ anzuknüpfen und eine ‚andere’ Gedächtnisfunktion zu etablieren, die dem verlebendigenden ‚Gedächtnistheater’ seines Onkels Georg ähnlich ist. Dieser hegte bei aller Kritik an der musealen Denk- und Lebensart auf Wolfsegg, der er nach Cannes entflohen war, offensichtlich trotzdem die Hoffnung auf eine radikale Veränderung: „Es wird nicht mehr lange dauern, sagte er, unbekümmert um die Anwesenheit der das Essen auftragenden Mädchen, daß niemand mehr da ist, der euch bedient. Dann werdet ihr auf einmal l e b e n d i g werden. Es liegt so etwas Revolutionäres in der Luft, sagte er. Ich habe so ein Gespür, es wird etwas kommen, das alles wieder ein wenig z u m L e b e n e r w e c k t [ meine Hervorhebungen, T.M.].“ (Aus 41)
Es findet sich keine weitere Textstelle in der Auslöschung, die erläutern würde, wie Onkel Georg zu dieser optimistischen Einschätzung kommt. Man kann nur spekulieren, dass er schlichtweg auf die Zeit vertraut, auf die unweigerlich herannahende, offene Zukunft mit ihren Zufällen und Unwägbarkeiten, der sich auf Dauer auch die Wolfsegger Festung mit ihren uralten Traditionen, Plänen und Ritualen nicht erfolgreich entgegenstemmen kann. Seine Zuversicht könnte sich wie die seines Neffen unter anderem aus den gemeinsamen Begegnungen mit
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dem jungen Gambetti speisen, bei denen sie sich „über alles mögliche“ (Aus 32) unterhalten. Dies scheint hier nicht nur die Bedeutung von „allerlei“ oder „irgend etwas“ anzunehmen, sondern auch explizit ‚alles, was möglich ist’ oder ‚möglich werden könnte’ 1 – also auch ein bislang undenkbarer Umsturz der Wolfsegger Verhältnisse –, was zugleich die zentrale Bestimmung des Poetischen von Aristoteles mit aufruft. Dementsprechend ließe sich für die von mir aufgestellte These einer der Auslöschung zugrunde liegenden Bewegung von „Herkunftskomplex“ zu „Zukunftskomplex“ formulieren, dass auf Wolfsegg wieder alles möglich werden soll, was auf einen Bruch mit den Jahrhunderte alten Traditions- und Tradierungsvorschriften hinauslaufen würde, eine Auflösung des verfestigten „Wolfseggkomplex[es]“ (Aus 387), wie sie Muraus Auslöschungsprojekt anvisiert. Nur unter dieser Bedingung wäre es vorstellbar, dass Murau bereitwillig das Erbe annimmt und antritt. Diese conditio sine qua non zeigt indes ein zeitliches Dilemma an, eine Zeitfalle, der sich Murau durchaus bewusst ist, denn unter diesen Voraussetzungen müsste Wolfsegg bereits ein anderes sein und könnte folglich auch nicht mehr als ‚Wolfsegg’ ererbt werden. Mnemonisch gewendet: Es ist nur das erinnerbar, was im Gedächtnis schon angelegt bzw. über Analogisierung erschließbar ist. Das ganz andere, neue ‚Wolfsegg’, das dann – nach der ‚Auslöschung‘ – nicht mehr diesen Namen tragen dürfte, kann dem Gedächtnis nicht integriert werden. Was der Memoria hier fehlt, ist eine eigenständige Dimension der Zukunft, eine mögliche Erinnerung der Zukunft, die nicht gemäß den Spuren des Vergangenen vorgezeichnet wäre. Murau verhandelt dieses Problem folgendermaßen: „Die zeitgemäßen Gedanken sind ihrer Zeit immer unzeitgemäß, dachte ich. Die zeitgemäßen Gedanken sind ihrer Zeit immer voraus, wenn sie die tatsächlichen zeitgemäßen Gedanken sind, dachte ich. Das Zeitgemäße ist also tatsächlich immer das Unzeitgemäße, dachte ich [...]. Ich bin zeitgemäß, heißt, ich habe voraus zu sein mit meinem Denken [...].“ (Aus 368f.)
Ein der Zeit gemäßes Denken müsste also stets avantgardistisch sein, weil es sonst vom Fortschreiten der Zeit sofort eingeholt und damit der Dimension der Vergangenheit anheimfallen würde. Um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, müsste es fortlaufend der Zeit voraus sein und damit ohne jegliche Thesaurierung und
1
Vgl. Am 55: „Ein Buch über alle Wahrnehmungen, die ich im Turm gemacht habe, müßte natürlich ein Buch über Alles sein, über das ganze Mögliche. Aus diesem Grund ist es unmöglich, ein Buch über alle Wahrnehmungen, die ich im Turm gemacht habe, zu verfassen.“
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Re-Flexion, ohne Rückbindung resp. Rückerinnerung an die Vergangenheit ungebremst in die Zukunft vordringen. Dies entspräche einem entgrenzten, deterritorialisierten ‚Gedächtnis’, das von keinem Denken der Metaphysik mehr beherrschbar wäre. Die fehlende Dimension der Zukunft ist in einer älteren ‚Fassung’ der Memoria vorzufinden, die noch weit vor der mit der Simonides-Legende begründeten Mnemotechnik liegt und die Vorgeschichte der Hesiodschen Musen bildet. Reinhart Herzog bezieht sich bei seiner Genealogie der memoria auf einen Hinweis Pausanias’, dem bei seinem Besuch des Helikon-Heiligtums der Musen in Böotien berichtet worden sei, dass dort die Töchter der Mnemosyne, Melete, Mneme und Aoide, als die drei Musen verehrt würden (Paus. 9, 29, 2).2 Mneme (als „Erinnerungsvermögen im eigentlichen Sinne“) und Aoide („der Gesang“) könnten dabei als Personifikationen aufgefasst werden, Melete dagegen sei alt, Darstellungen bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt: „[V]erhüllt, abseits gewendet sitzt sie und versonnen.“ Diese ‚Haltung’ spiegele sich in ihrem Namen wider, der „das deutsche ‚Sinnen’ als ‚Sinnen auf etwas’, Planen, ein handlungsund zukunftszugewandtes Gesammelt-Sein also, aber gerade darin eine Ausprägung der memoria“3 bedeute. Nach Herzog steht sie somit für ein Gedächtnis des Künftigen, das in „den phänomenologischen Erfassungen unserer Zeit nicht als Funktion der memoria in den Blick“ 4 komme. Bis zur Neuzeit verkürzte sich demnach „der gesamte Prozess zwischen Handlungsentwurf und Konstitution von Gedächtnis auf einen ‚innerlichen’ Begriff von memoria“, was nicht nur zur Folge hatte, dass „Melete vor ihrer jüngeren Schwester Mneme zurücktrat“ 5 , sondern gleichzeitig die Selbstreflexivität des Erinnerns und damit die dem Erinnerungsprozess inhärente Unendlichkeit eskamotierte: „Die Rückwirkung, Reflexivität, die jedem entwerfenden Gedenken des Künftigen offenbar eigentümlich ist, hat nicht nur eine ablagernde, thesaurierende Leistung, welche Vergangenheit, erfahrene Welt und das Gedächtnis im Sinne der Mneme erzeugt. Sie ist bekanntlich selbstreflexiv, läßt Erinnern sich als Erinnern erfahren, Melete als Bewußtsein begreifen – sie ermöglicht, temporal gesehen (zwischen futurischer und vergangenheits-
2
Zit. n. Reinhart Herzog, „Zur Genealogie der memoria“, in: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria. Vergessen und Erinnern (Poetik und Hermeneutik XV), München 1993, 3.
3
Ebd.
4
Ebd., 4f.
5
Ebd., 5.
104 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES zugewandter memoria), eine Erfahrung von der die Zeit transzendierenden Endlosigkeit des Schachts.“6
Es scheint diese Art des (meleteschen) Bewusstseins zu sein, die Murau einfordert und von der seine Schlaflosigkeit, seine ‚Überwachheit’ zeugt. Auf die Momente der ‚Schlaflosigkeit’ und des ‚Erwachens’ wird noch umfassender einzugehen sein. Vorerst ist unter der Frage (nach) der ‚Zukunft’ der Aspekt des ‚Handlungsentwurfs’ resp. des Handelns im Blick zu behalten und das obige Zitat fortzuführen: „[…], sind die in Wolfsegg sehr bewußt, sie mögen mich abstoßen, ich mag mich ihnen aus Abscheu entzogen haben, aber daß sie bewußter handeln, ich verbesserte mich, handelten, als der Großteil der übrigen Welt, bestreite ich nicht, dachte ich. Auf ihre Weise, sagte ich mir.“ (Aus 369f.)
Während Muraus Gedanken in hypermnemischer Überwachheit in der selbstreflexiven Unendlichkeit seines Auslöschungsprojektes zirkulieren, sind für die Mitglieder seiner Familie, die sich mittels ihrer Fähigkeit zu vergessen nicht in unendlichen Aporien des Denkens verlieren, um alle Gedanken, die möglich sind, in Betracht zu ziehen, wirkliche Handlungen zu veranschlagen, die Konsequenzen nach sich ziehen. Dass sie zudem auch noch bewusster handeln, als „der Großteil der übrigen Welt“ dürfte eine ironische Pointe haben, da sie mit diesem (dem Vergessen geschuldeten) Handeln ein (Ge-)Denken perpetuieren, das die Idealität i h r e r Realität zementiert, wobei diesem autistischen Selbst-Bewusstsein jegliches Bewusstsein für eventuelle Auswirkungen auf Andere abgeht. Auffällig ist an dieser Stelle nicht nur der markierte Umschlag vom Präsens ins Präteritum, sondern auch die Plausibilität der alternativen Konnotation von ‚handeln’ im Sinne von ‚ökonomischem Handeln’, ‚Tausch’, so dass bewusstes Handeln bei den Seinigen einer Axiomatik des ökonomischen Wachstums und der Gewinnmaximierung untersteht, die den Sukzess, den ‚Er-folg’ der Wolfsegger Ordnungsmacht ausmacht: „Die Tatsache ist doch, sagte ich mir, daß die Welt sich augenblicklich in einem chaotischen Zustand befindet, während in Wolfsegg die Ordnung herrscht […].“ (Aus 369) Das Wolfsegger Denken und Handeln widersetzt sich mit aller Macht dem Zerfall, der allenthalben für „chaotische Zustände“ sorgt. Diese ‚Ordnung’ gilt es als eine scheinheilige zu enttarnen, ihre Herrschaft zu beenden und nach einer Generalinventur der Wolfsegger Bilder durch eine ‚neue Form‘ der Erinnerung,
6
Ebd.
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eine ‚andere Weise‘ des (Ge-)Denkens zu substituieren. Da die Mutter die alle(s) beherrschende Instanz und Regisseurin des Wolfsegger ‚Theaters’ ist, kündigt sich im Bild ihrer Enthauptung die Möglichkeit eines Machtwechsels an: „Wolfsegg hat sein Haupt verloren“ (Aus 406), wie die Zeitungen in ihrer ironisch präzisen Geschmacklosigkeit titeln. Murau könnte diesen Umsturz der Machtverhältnisse herbeiführen, wenn er sich als Erbe zum neuen Herrn über Wolfsegg erheben würde. Dies wäre jedoch nur über eine wenigstens partielle Anerkennung und Fortführung der Wolfsegger Tradition mit all ihren manifesten Schandtaten und unbeherrschbaren Gespenstern des Vergangenen zu bewerkstelligen unter der Voraussetzung einer offenen, ins Unbekannte vordringenden Zukunftsvision. Wie Murau durch eine längere Digression am Ende des Textes kurz vor der Entscheidung, die ihn letztlich das Erbe verschenken lässt, expliziert, ist dazu vor allem das ‚fotografische Denken’ als Charakteristikum des „Maschinenzeitalters“ (Aus 380) zu bezwingen: „Mit der Erfindung der Fotografie, also mit dem Einsetzen des Verdummungsprozesses vor weit über hundert Jahren, geht es mit dem Geisteszustand der Weltbevölkerung fortwährend bergab. Die fotografischen Bilder, habe ich zu Gambetti gesagt, haben diesen weltweiten Verdummungsprozeß in Gang gebracht und er hat tatsächlich für die Menschheit tödliche Geschwindigkeit in dem Augenblick erreicht, in welchem diese fotografischen Bilder beweglich geworden sind. Stumpfsinnig betrachtet die Menschheit heute und seit Jahrzehnten nichts anderes mehr, als diese tödlichen fotografischen Bilder und ist wie gelähmt davon. An der Jahrtausendwende wird dieser Menschheit Denken gar nicht mehr möglich sein, Gambetti [sic] und der Verdummungsprozeß7, der durch die Fotografie in Gang gebracht und durch die beweglichen Bilder zu weltweiter Gewohnheit geworden ist, auf dem Höhepunkt sein. In einer solchen, nurmehr noch vom Stumpfsinn beherrschten Welt zu existieren, kann kaum mehr möglich sein, Gambetti, sagte ich zu diesem, dachte ich jetzt an der offenen Gruft, und es wird gut sein, wenn wir uns gerade noch bevor dieser Verdummungsprozeß der Welt total eingetreten ist, umbringen. Insofern ist es nur logisch, Gambetti, daß sich an der Jahrtausendwende diejenigen, die aus dem Denken und durch das Denken existieren, umgebracht haben. Mein Rat an den denkenden Menschen kann nur der sein, sich vor der Jahrtausendwende umzubringen […].“ (Aus 645f.)
Der von der Fotografie angestoßene „Verdummungsprozess“ ist umso tückischer und gefährlicher, als er in der Weiterentwicklung zum Film Bewegung und
7
Es sei hier schon einmal vorab auf die eigensinnige und mutmaßlich falsche Interpunktion hingewiesen, die eine Parallelisierung von „Gambetti“ und „Verdummungsprozeß“ zulässt. Weitere Untersuchungen derart ‚falscher‘ Interpunktionen werden folgen.
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gleichsam ein noch höheres Maß an Authentizität vortäuscht. In Muraus apokalyptisch anmutender Vision droht das Denken, auf Foto- und Kameraperspektive reduziert, zu degenerieren. Der Hinweis auf die „Jahrtausendwende“ propagiert die erwünschte Beendigung des ‚Fotografiezeitalters’, die mit einer Lösung des Erbdilemmas und folglich einer Realisierung des Auslöschungsprojektes einherginge, als epochalen Einschnitt, dessen existentielle Relevanz für das Denken und die Denker so zugespitzt wird, dass allein der Selbstmord eine Alternative zu ihm darstellt. Es geht demnach um alles oder nichts, um Sein oder Nichtsein. Die von Fotografie und Film verursachte Engführung und Lähmung (des Denkens) gründet in der Vortäuschung eines Spektakels, das seine mediale tautologische Funktion kaschiert, wie sie anhand des Bildes der enthaupteten Mutter in der Zeitung präsentiert wird: „Auf einem der Bilder war der Kopf meiner Mutter abgebildet, der noch mit einem dünnen Fleischfetzen mit ihrem im Wagen sitzenden Rumpf verbunden ist und darunter hat die Zeitung geschrieben: Der vom Rumpf getrennte Kopf.“ (Aus 406)
Ausgerechnet die enthauptete Mutter, deren Antlitz und ‚Lesbarkeit‘ der verschlossene Sarg nicht preisgibt, dient hier als Folie, um die Tautologie von Bild und (Bildunter-)Schrift in der Zeitung in scharfem Kontrast zu Muraus ‚Beobachtung’ der Fotografien im ersten Teil vorzuführen. Dort sind die Bilder ebenfalls durch die Beschriftung der Rückseiten tautologisch gedoppelt (Aus 30), doch in seinem Denken veränderlich zeugen sie von seinem „Bewußtsein der Bewegung“ 8 , was zur Kritik an der statischen, fotografischen Denk- und Betrachtungsweise führt, die ihre vitalen Objekte mortifiziert (vgl. Aus 618). Muraus Gedanken richten sich zudem auf etwas völlig anderes als das auf den Fotografien Festgehaltene, nämlich auf Personen und Ereignisse, die weder abgebildet noch auf der Rückseite beschrieben sind, und konstruieren somit eine ‚andere’ Erinnerung: Erinnert wird an ein Mehr jenseits des Sichtbaren und medial Vermittelten, das über den Rahmen des Bildes hinausgeht und diesen somit sprengt. Die Fotografie des „vom Rumpf getrennte[n] Kopf[es]“ wird zum Sinnbild der Mortifikation, der Trennung von Körper und Geist, von Signifikant und Signifikat. Sie be-hauptet eine nicht fassbare Realität9 als einzige Realität, indem sie
8 9
Deleuze/Guattari 1974, 57. Vgl. Muraus Äußerung zu der im Sarg liegenden Mutterleiche: „ […] das Wort liegt war mir dabei ein groteskes.“ (Aus 449)
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der inhärenten Imagination ihre standardisierten Wahrnehmungsgesetze oktroyiert und die impliziten Synthetisierungsprozesse zugleich eskamotiert. Julia Kristeva schreibt: “What happens when the imaginary is reified in the society of the spectacle? Not only when we pass from the mental image that Sartre investigates to the real thing (painting, photography, film) but when this universe of the real image becomes the only reality, decreeing its laws and logics, imposing a stereotype of representation that kills individual phantasmatic creation in favor of a standardized imaginary? An imaginary that no longer has anything to do with Sartre’s ‘fatally free’ imaginary but rather attains the status of the one and only reality for subjects of the society of the spectacle, even though it is virtual: a reality cliché with no way out? This is not a matter of demonizing the universe of images characterized at once by its vast information and impact – unequaled by other means of communication – in terms of immediate sensation and pleasure. But it is a matter of assessing the deviations when commercial control of this omnipresent imaginary-spectacle and its attendant diminishing or weakening of verbal culture end up erasing the annihilating vector in favor of illusion: I get drunk on the image; I no longer perceive it as a fatally liberating, annihilating image; I cling instead to its so-called reality; I believe in it. More than imaginary: the imaginary is realized. Or, rather: if everything is imaginary, the imaginary is dead, along with my margin of freedom.”10
Mit Kristeva wäre ein positiver Begriff von ‚Auslöschung‘ eingeführt („fatally liberating, annihilating image“). Ihr zufolge liegt die Gefahr der Fotografie (wie des Films und des Gemäldes) in einer Verwechslung von imaginären Bildern mit der Realität bzw. in einer Verdrängung der freien Imagination, die mit einem Verlust der individuellen Freiheit einhergeht. Deleuze und Guattari diagnostizieren in diesem Kontext eine „kollektive[] Besetzung von Organen“, die eine „unmittelbare Codierung der Menschen bewirkt.“11 Das Bild fungiert als ödipales Machtinstrument, das sich der Kapitalismus zunutze macht, um „sein Immanenzfeld mit Bildern“ zu füllen12, woraus illusionäre Privatpersonen hervorgehen, „Bilder von Bildern oder Derivate von Derivaten.“13
10 Julia Kristeva, Intimate Revolt. The Powers and Limitations of Psychoanalysis, New York 2002, 127f. 11 Deleuze/Guattari 1974, 319. 12 Ebd., 340. 13 Ebd., 341.
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Analog zum Bild erscheint Geld (vgl. die von der Mutter „verschleuderten Bilder“, Aus 460) als Fetisch und Werkzeug des Kapitalismus, das Kalkulationen erlaubt, Providenz ermöglicht, Ströme reguliert und Zirkulationen in Gang hält, um sich als (Ordnungs-)Macht zu etablieren. So überrascht es nicht, wenn auf die Kritik am ‚Fotografiezeitalter’ eine Schimpftirade auf die politischen und ökonomischen Verhältnisse in Österreich folgt: „ein Land, das von skrupellosen Geschäftemachern gewissenloser Parteien regiert wird“ (Aus 647). Abermals sei Muraus implizite Verweigerung von ‚Geld‘ und ‚Aufklärung‘ (vgl. Aus 19) herbeizitiert, die darauf hindeutet, dass er im Bewusstsein des Intrigierens zwischen ‚Handeln’ und ‚Handel’ sein Auslöschungsprojekt nicht veröffentlicht sehen will, weswegen er es ständig aufschiebt und sich dem „geheimgehaltenen Denken“ ver-schreibt: „Wir haben uns mit der Zeit angewöhnt, alles in uns geheimzuhalten, jedenfalls das, das wir denken, das wir uns zu denken getrauen, um nicht umgebracht zu werden, denn wie wir wissen, wird umgebracht, wer sein Denken nicht geheim halten kann, sein tatsächliches Denken, von welchem niemand, außer er selbst, eine Ahnung haben kann, hatte ich zu Gambetti gesagt. Das geheimgehaltene Denken ist d a s e n t s c h e i d e n d e [meine Hervorhebung, T.M.], hatte ich zu Gambetti gesagt, nicht das ausgesprochene, nicht das veröffentlichte, das mit dem geheimgehaltenen sehr wenig, meistens überhaupt nichts gemeinsam hat und immer ein viel niedrigeres ist, als das geheimgehaltene, welches doch immer Alles ist, während das veröffentlichte, nur das notdürftigste ist.“ (Aus 160f.)
Dies unterstreicht Muraus Sorge um seine individuelle phantasmagorische Schöpfung, sein Auslöschungsprojekt, und weist es, wenn man es mit „Sartre’s ‚fatally free’ imaginary“ gleichsetzt, gerade wegen seines auslöschenden Impetus als legitim und akut aus. Der „Verdummungsprozeß“ des ‚Fotografiezeitalters’ blockiert das „verhängnisvoll/tödlich freie Imaginäre“, indem die illusorische Realität des verdinglichten Imaginären der Fotografie die freie Imagination, in der prinzipiell alles möglich wäre, ‚abtötet‘. Dies ergibt noch keine automatisch positive Wendung hin zu einer Ethik des Auslöschungsbegriffs, bringt eine solche aber aufs Tableau. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, diese (‚verhängnisvolle/tödliche’) Freiheit und damit in Bezug auf das Erbe und den „Herkunftskomplex“ eine Handlungsfreiheit zurückzugewinnen, gleichzeitig das ‚Trauma’ der schuldbeladenen Vergangenheit zu überwinden, das wiederum unausgesetzt mit der Rückkehr der gebannten Gespenster, mit einer möglichen Erinnerung und (Re-)Präsentation auflauert. Die Rückeroberung der Freiheit erfordert eine unbedingte Zukunft, die nicht vom Erbe des Vergangenen affiziert wäre. Muraus endlose Gedankenzyklen und sein Hamlet ähnliches notorisches
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Zaudern sind ebenso Ausdruck seiner angestrengten Suche nach einem Fluchtweg wie fundamentaler Skepsis gegenüber einer Lösung des oben beschriebenen Zeit- und Erbdilemmas. Und dennoch: Die Situation erzwingt eine Handlung, über das Erbe m u s s entschieden werden, es lässt sich nicht wie die projektierte Schrift fortwährend im Aufschub halten. Es gilt die Frage nach Sein oder Nichtsein mit all ihren fürchterlichen Implikationen und Konsequenzen zu beantworten, und tatsächlich fällt kurz auf den Rat zum Selbstmord zumindest eine Vor-Entscheidung, die von Muraus Beantwortung/Verantwortung zeugt, in den meisten Interpretationen der Auslöschung jedoch gar keine Erwähnung findet. Murau verweigert beim Begräbnis den kondolierenden Mitgliedern des nationalsozialistischen Kameradschaftsbundes sowie der Jagdgesellschaft den Händedruck: „Einige machten den Versuch mir ihre Hand zu geben, aber ich nahm ihre Hand nicht. Diese Peinlichkeit habe ich bewußt auf mich genommen.“ (Aus 647) Ein Händedruck mit den Altnazis und Jagdfreunden des Vaters hätte zum einen einem Ausdruck der Anerkennung und Bestätigung geglichen, zum anderen einer Geste der Vergebung, wenn nicht gar der Dankbarkeit für die Ansprachen, die unter anderen vom Obmann des Kameradschaftsbundes, dem Vorstand der Jagdgesellschaft, den zwei ehemaligen Gauleitern und zwei SS-Obersturmbannführern gehalten werden (Aus 641f.), um die öffentliche Bühne des Begräbnisses für ihre ideologischen Zwecke zu nutzen (Aus 642f.).14 Darüber hinaus hätte ein solcher Handschlag als Zeichen der Vertragsbesiegelung zu einer Initiation geraten können, die Murau als legitimen Erben von Wolfsegg offiziell inauguriert hätte. Da Murau das Erbe in seiner Heterogenität nicht einfach annehmen und anerkennen kann, ist er zu einer Auswahl und Filterung gezwungen. Jacques Derrida schreibt dazu: „Ein Erbe versammelt sich niemals, es ist niemals eins mit sich selbst. Seine vorgebliche Einheit, wenn es sie gibt, kann nur in der Verfügung bestehen, zu reaffirmieren, indem man wählt. Man muß, das heißt: Man muß filtern, sieben, kritisieren, man muß aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen. Die ihm auf widersprüchliche Weise innewohnen, um ein Geheimnis herum. Wenn die Lesbarkeit eines Vermächtnisses einfach gegeben wäre, natürlich, transparent, eindeutig, wenn sie
14 Wobei Murau wieder an das Vergessen(e) erinnert, in diesem Fall ausgerechnet an die verhasste Mutter, die wie auch sein Bruder Johannes in den Reden völlig übergangen wird. Siehe Aus 641.
110 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES nicht nach Interpretation verlangen und diese gleichzeitig herausfordern würde, dann gäbe es niemals etwas zu erben. Man würde vom Vermächtnis affiziert wie von einer Ursache – natürlich oder genetisch. Man erbt immer ein Geheimnis – ‚Lies mich!’ sagt es, ‚Wirst du jemals dazu imstande sein?’ Die kritische Wahl, nach der jede Reaffirmation des Erbes verlangt, ist gleichzeitig, wie das Gedächtnis selbst, die Bedingung der Endlichkeit. Das Unendliche erbt nicht, und es vererbt sich nicht.“15
Diese „kritische Wahl“ als „Bedingung der Endlichkeit“, die die Bedingung des Gedächtnisses selbst ist, fordert eine Dezision, die unweigerlich mit der Übernahme der Verantwortung verbunden ist. Die Handlung und Vor-Entscheidung, die sich in der Szene des verweigerten Händedrucks abzeichnet, ist wohl die erste und soweit einzige wirkliche Abweichung vom Begräbnisplan der Mutter, der nach ihrem Tod von Muraus Schwester Caecilia in der geerbten Rolle der Regisseurin überwacht und exekutiert wird (Aus 592). Während Murau in der Bedrängnis, das Erbdilemma in seiner ganzen Verstrickung mit dem „Herkunftskomplex“ und der historischen Schuld Wolfseggs lösen zu müssen, in einer Verfassung über die Wolfsegger Bühnen stolpert, die Hamlets „antique disposition“ vergleichbar ist, bei der er entgegen seinen Beteuerungen, seine Rolle „perfekt einstudiert“ (Aus 319) zu haben, immer wieder seine ‚Fassung’ verliert, ist die Verweigerung des Händedrucks16 wenn schon nicht als Handlung, so doch immerhin als ‚Haltung‘ zu werten, die die „Peinlichkeit“ dieses ‚Aus-der-RolleFallens’ ob seines offiziellen Charakters und seiner öffentlichen Wirkung auf der Bühne des ‚Begräbnisdramas’ (Aus 634) einkalkuliert. Insofern Murau bei seinem ersten ‚Auftritt’ in Wolfsegg den von ihm geschätzten Gärtnern die Hände schüttelt (Aus 339) und diese Geste der Begrüßung, des Dankes und der (vertraglichen, wechselseitigen) Anerkennung den Altnazis und Mitgliedern der Jagdgesellschaft 17 versagt, könnte sich hier eine ‚Auswahl’ Muraus bezüglich
15 Derrida 1996, 36. 16 Nachdem Murau das Händeschütteln schon „[i]m Geiste“ geübt und „die abgeschmackten Wörter“ einstudiert hatte, die er „ihnen zu sagen gezwungen“ ist (Aus 439), weigert er sich bereits am Morgen vor dem Begräbnis in der Küche den Leuten die Hand zu schütteln, um sich nicht „als Heuchler zu produzieren.“ (Aus 627) – Siehe auch Sauraus Sohn, der Moser den Händedruck verweigert (Ver 134f.) Vgl. außerdem das Händeschütteln sowie Handberührungen bzw. deren Unterlassen in Kafkas Proceß (z.B. Pro 53, 55, 65, 68 etc.) sowie Lenettes Ekel vor Leibgebers Hand (Sk 497). 17 Dietmar Kamper bietet eine Lesart der ‚Jagd’ an, die sich der Kritik am ‚Fotografiezeitalter‘ einfügt, indem er auf den Zusammenhang von ‚Jäger‘ und ‚Auge‘ abhebt, da
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der Übernahme des Erbes abzeichnen. Die Unhaltbarkeit der Gärtner-JägerDichotomie sowie das Scheitern aller Versuche, Wolfsegg in einer Murau gemäßen Idealität zu restituieren, wurden allerdings bereits aufgezeigt, und so fasst Murau am Ende den radikalen Entschluss, „ganz Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörende“ mit Hilfe der Vermittlung durch seinen Freund Eisenberg „als ein völlig bedingungsloses Geschenk“ (Aus 650) der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien zu vermachen. Hinsichtlich des anvisierten „Zukunftskomplex[es]“ wird der Frage nachzugehen sein, inwiefern das Verschenken des Erbes eine Lösung darstellen, inwiefern es als eine in die Zukunft weisende Geste gedeutet werden kann und ob sich damit der „Herkunftskomplex“ und „Wolfseggkomplex“ tatsächlich auflösen lässt. Zugleich gilt es die in sämtlichen (Un-)Möglichkeitsbedingungen daran geknüpfte, noch ausstehende Realisierung seiner Schrift im Blick zu behalten.
1.2. D IE (U N -)M ÖGLICHKEIT DER E NTSCHEIDUNG : DAS E RBE VERSCHENKEN Helmuth Rath hat den Versuch unternommen, Thomas Bernhards Texte mit Carl Schmitts Politische[r] Theologie zu vergleichen. 18 Seine Methode der Kurzschließung von Zitaten aus Verstörung (vornehmlich Äußerungen des Fürsten Saurau) mit Schmitts Axiomen (oder Emile Ciorans Kommentierung von de Maistre), um zu erzeigen, dass sie demselben reaktionären Geist entstammen, ist der Ästhetik des Textes unangemessen und produziert keine verifizierbaren Erkenntnisse, denn sie übergeht sämtliche Vorbehalte und Brechungen, die der literarische Kontext und die ästhetischen Ausgestaltungen vermitteln. Im Gegensatz zu Schmitt ist der Fürst, hinter dessen Äußerungen Rath selbstverständlich Bernhard (be-)greifen zu können glaubt, eine äußerst komische Figur, die sich in ihrer grotesk-outrierenden Suada selbst dekonstruiert. Bernhards Prosa wird nicht selten als konservativ, wenn nicht gar als „reaktionär“19 eingestuft, was gewiss weniger an seiner vermeintlichen Affinität zur
es die Realität für das Subjekt anzueignen trachtet und den Stillstand der Dinge wünscht, um sie leichter ‚erbeuten‘ zu können: „Weltaneignung im Suchraster der visuellen Wahrnehmung ist Mortifikation.“ Kamper 1995, 58. 18 Helmuth Rath, „Thomas Bernhard und Carl Schmitt“, in: Text und Kritik 43 (1991), 30ff. 19 Jansen 2005, 205. Vgl. Helms-Derfert 1997, 155ff. u. Jost Hermand, Nach der Postmoderne. Ästhetik heute, Köln/Weimar/Wien 2004, 84, der Bernhard in eine Reihe
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Ideologie Carl Schmitts als an seiner Nähe zur Poetologie Heinrich von Kleists liegen dürfte, der als Gründungsfigur „jene[r] spezifisch deutsche[n] militant konservativ[en] Tradition“20 gilt – und in der Auslöschung abseits des Kanons seine Wertschätzung findet, indem Murau ihn als „de[n] großen Dramatiker“ hinstellt, der Goethe dagegen nicht sei (Aus 577). Diese Parallele zu Kleist ist unter anderem deshalb interessant, weil sie über das Bernhard-Thema ‚Selbstmord’ hinaus für eine literarische Tradition der Auslöschung stehen könnte, die von Heinrich von Kleist über Franz Kafka21 zu Thomas Bernhard führen würde. Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, den Schriftsteller und die Person Thomas Bernhard angesichts solch stereotyper Etikettierungen wie ‚konservativ’ oder ‚reaktionär’ 22 zu rehabilitieren, zumal solche Kritik und desgleichen jegliche Bemühung ihrer Widerlegung selbst unvermeidlich unter Ideologieverdacht gerät.23 Wohl aber möchte ich demonstrieren, dass die Auslöschung zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ein postmodernes24 poetisches Programm verfolgte, welches in
von Künstlern stellt, die sich „gegen die Herausbildung einer neuen politästhetischen Avantgarde [sperren].“ 20 Hörisch 1992, 112. 21 Vgl. Klaus Jeziorkowsky, „‚Bei der Sinnlosigkeit des Ganzen.’ Zu Kafkas Roman ‚Der Proceß’“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text und Kritik, Sonderband VII/94 Franz Kafka, München 1994, 286f.: „Weltkomödie“. Vgl. Proceß – Der zerbrochene Krug, ebd., 215 sowie Gilles Deleuze/Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main 1976, 76. 22 Vor dem Hintergrund noch darzulegender romantischer Züge der Auslöschung bietet Karl Heinz Bohrers Verteidigung der modernen Ästhetik der Romantik gegen ideologisch-inhaltliche Anfechtungen bezüglich des Themas ‚Revolution’, wobei auch er auf Kleist und Schmitt zu sprechen kommt, eine weitaus treffendere Abhandlung dieser Problematik. Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt am Main 1994, 8ff. 23 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974, 396. 24 Womit sich meine Analyse gegen jene von Huntemann stellt, der keinen Grund sieht, „Bernhard […] in die Reihe der […] als postmodern geltenden Autoren zu stellen“, da er die Erzählkonstruktion in Auslöschung für „ganz traditionell“ und auch den „Glaube[n] an die Repräsentationskraft der Fabel (wenn auch nicht linear erzählt)“ für ungebrochen hält. Huntemann 1991, 54 u. 60f. Vgl. Hans Höller/Matthias Part, „‚Auslöschung‘ als Antiautobiografie. Perspektiven der Forschung“, in: Hans Höller (Hrsg.), Antiautobiografie. Zu Thomas Bernhards „Auslöschung“, Frankfurt am Main 1995, 107. Alle postmodernen Charakteristika, die Huntemann Beckett zu- und Bernhard abspricht, werden im Folgenden noch in der Auslöschung nachgewiesen werden.
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den 80er Jahren durchaus auf der Höhe des philosophischen Diskurses stand, und dass diesem Text ein radikal modernes Potential eignet, das in vielen Lektüren übersehen wird25, insbesondere wenn man den aus den Fugen geratenen, dezentrierten Text als Realisierung von Muraus Auslöschungsprojekt unter Umgehung sämtlicher Widersprüche auf ein angeblich funktionales Subjekt (re-) zentriert, welches wiederum in lineare, exopsychologische Relationen zu seinem die Signatur ‚Thomas Bernhard’ tragenden – mutmaßlichen – Schöpfer gesetzt wird. Ein solches Vorgehen ignoriert nicht nur Muraus Anweisung an seinen Schüler Gambetti, dass die Schriftsteller als Personen zu meiden seien 26 („Das Werk ja, habe ich zu Gambetti gesagt, aber seinen Erzeuger nein […]“; Aus 616), sondern übergeht auch des Protagonisten Selbsteinschätzung als „literarischer Realitätenvermittler“ (Aus 615) und täuscht voreilig eine Bannung sämtlicher Gespenster anderer Autoren vor, die den Text unausgesetzt heimsuchen.27 Eines dieser Gespenster könnte mit dem Namen Heinrich von Kleists heraufbeschworen werden, mit dem eine „Ästhetik des Schreckens“ assoziiert wird, die den Menschen in seinem Rückfall in die naturgeschichtliche Vorwelt darstellt. 28 Bernhards Auslöschung partizipiert an der von Kleist thematisierten Dauerkrise 29 von Recht, Sprache und Ökonomie und folgt in einer Linie mit
25 Insofern verhält sich meine Lesart der Auslöschung kontrovers zu jener von Jansen, der Bernhards Text „mangelnde[s] Utopie- und Innovationspotential“ vorwirft. Jansen 2005, 205. 26 „Geistesniedertracht“ nennt der Protagonist Konrad im Kalkwerk die Vermischung von Person und Arbeit eines Schriftstellers (Kw 175). 27 Ganz zu schweigen von der gespenstischen Stimme, die den letzten Satz artikuliert – wenn nicht gar den gesamten Text. 28 Hörisch 1992, 96. Vgl. Bohrer 1994, 17. 29 Der Terminus der „Apokalypse“ birgt diese postmoderne „Dauerkrise“, auf die Murau mit dem Verweis auf die „Jahrtausendwende“ anspielt. Vgl. Jean Pauls apokalyptische Vision der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“, die sowohl Teil des Siebenkäs ist (Sk 274ff.) als auch in Amras Erwähnung findet, da die Brüder von dem Text fasziniert und erschüttert sind. (Am 24) Vgl. Claudia Becker, „Der Traum der Apokalypse – die Apokalypse ein Traum? Eschatologie und/oder Ästhetik im Ausgang von Jean Pauls ‚Rede des toten Christus’“, in: Gerhard R. Kaiser (Hrsg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, 129ff. Beckers Kritik an Derridas Dekonstruktion des Apokalypse-Begriffs infolge einer Abgleichung von ästhetischwissenschaftlicher und laienhafter Alltagshermeneutik stellt einen Versuch dar, der Philosophie (klein-)bürgerliche Zügel anzulegen.
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Schopenhauer und Nietzsche dessen „anti-transzendentalphilosophischem Impuls“30 und anti-aufklärerischem Skeptizismus. „Wo die Tradition der Aufklärung nach Sinn und Wahrheit fragte, hat die durch Kleist inaugurierte Tradition Dezision verlangt“31, da der symbolischen Ordnung ihr jeweils Anderes ununterscheidbar – gespenstisch – innewohnt und somit einem möglichen Umschlag in das Andere nicht vorzubeugen ist. Entscheidung bzw. Handlung setzt aber Erkenntnis voraus. Muraus – wie Hamlets – Zögern basiert auf einem alles mögliche hinterfragenden Skeptizismus, der zu keiner endgültigen Erkenntnis und im Falle Hamlets in den Tod führt, bei Murau indessen zur unumgänglichen Entscheidung, in der SelbstAufgabe und Selbst-Auslöschung miteinander verschmelzen. Vor diesem Hintergrund wird der Beschluss, das Erbe zu verschenken, zu beurteilen sein. Sollte dieser finale Schritt tatsächlich möglich werden und einer Dezision entsprechen, dann muss er sich wider den Wortlaut des Testaments vollziehen, sonst wäre er nichts weiter als eine Reaffirmierung des Erbes und Fortsetzung der Tradition. Eine Entscheidung im Sinne des angestrebten Zukunftskomplexes m u s s den Gang der Geschichte unterbrechen: „Eine Entscheidung (décision) müsste zerreißen oder aufschneiden [...] und sie müsste infolgedessen den Rahmen des Möglichen sprengen. Jedes Mal, wenn ich von ‚meiner Entscheidung’ spreche, wenn ich sage ‚Ich entscheide’, kann man sich sicher sein, dass ich mich täusche. Meine Entscheidung müsste immer die Entscheidung des Anderen sein [für die klassische Logik inakzeptabel]. Meine Entscheidung ist in der Tat die Entscheidung des Anderen. Das dispensiert oder befreit mich von keiner Verantwortung. Meine Entscheidung kann nie die meine sein, sie ist immer die Entscheidung des Anderen in mir, und in gewisser Weise bin ich in der Entscheidung passiv. Wenn die Entscheidung ein Ereignis sein soll, wenn sie meine Macht, mein Vermögen, meine Möglichkeiten und den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbrechen soll, dann muss ich von meiner Entscheidung getroffen werden, wie immer unakzeptabel das jeder Logik erscheint. Ich würde gern ein Denken der Entscheidung ausarbeiten, die immer Entscheidung des Anderen ist, weil ich dem Anderen verantwortlich bin und weil er es ist, für den ich entscheide; es ist der Andere, der in mir entscheidet, ohne dass ich darum von ‚meiner Verantwortung‘ dispensiert wäre. Deshalb ordnet Lévinas stets die Freiheit der Verantwortung unter. Wenn ich will, was ich nicht kann, dann muss dieses Wollen von allem entblößt sein, womit die Tradition es gewöhnlich bekleidet, wenn sie es als Wollen bestimmt, das heißt als Aktivität und als Herrschaft, als ‚Ich will, was ich will‘. Es müsste sich darum handeln, jenseits
30 Hörisch 1992, 105. 31 Ebd., 112.
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dessen zu wollen, was man wollen kann. Wenn dieser Satz akzeptabel ist, muss er seinerseits das Konzept des Willens selbst zerstören, dekonstruieren oder demontieren.“32
Wie Derridas Ausführungen nahelegen, muss die Möglichkeit einer Entscheidung selbst über den ‚Rahmen des Möglichen‘ hinausgehen, womit der Status von Muraus Entschluss in höchstem Maße prekär erscheint – und mit ihr die Frage der Zukunft, der Vollendung der ‚Auslöschung‘ und der Selbstauslöschung des Protagonisten. Demzufolge stellt eine Testamentsvollstreckung, wie sie bisweilen in den Text hineingelesen wurde, für Murau bezüglich seines Projekts keine Option dar. Ein Testament ist eine Art Vertrag mit dem Erben, der den kontinuierlichen und zukünftigen Status des Erbes sichern, vertragsförmige Verbindlichkeiten schaffen soll, um kontingenten Ereignissen vorzubeugen. Wie bereits an Onkel Georgs Erbe exemplifiziert, ist die Konsolidierung der Erbmasse und damit die Einheit und Kontinuität des „Wolfseggkomplexes“ als oberste Maxime ausgegeben, was die Mutmaßung über eine entsprechende testamentarische Regelung plausibel macht. Da diese Erbfolge patrilinear festgelegt ist, erwarten Caecilia und Amalia von ihrem Bruder die Rückkehr nach Österreich und die Fortsetzung der Geschäfte, um ihr Verbleiben auf Schloss Wolfsegg zu ermöglichen. Auch für sie steigert sich die Frage nach der Übernahme des Erbes und der Kontinuität der Tradition zur existentiellen (vgl. Aus 387f.). „Aber die Schwestern kennen mich wirklich nicht, sagte ich mir, sie glauben tatsächlich, ich werde mein Erbe so, wie es vorgeschrieben ist, antreten. Das Testament ist uns allen immer bekannt gewesen, es brauchte nicht erst geöffnet zu werden, um richtig verstanden zu sein.“ (Aus 482)
Diese Sätze lassen erahnen, dass er nicht daran denkt, sich an den Wortlaut des Testaments zu halten, obwohl dieser als unmissverständlich ausgegeben wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Muraus ‚Entscheidung’ sich tatsächlich der testamentarischen Verfügung widersetzt, wodurch wiederum ihre Möglichkeit grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wenn Muraus Herkunft indes unsicher ist und eben diese Erkenntnis der Unmöglichkeit sicherer Erkenntnis ihn ermutigt, am Ende entgegen der testamentarischen Verfügung (als Zweiterbe) für das Verschenken des Erbes zu optieren,
32 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, 44f.
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dann spiegelt sich in diesem Schritt der Wunsch ein ‚Anderer‘ zu sein (vgl. Aus 108: „[…] ich bin ein Ausländer geworden […].“) wider – eben nicht der zweitgeborene Sohn der Familie Murau, der der Familientradition folgen müsste. Das Erbe ist individualgeschichtlich die genealogische Prägung, die dem Streben des Individuums nach (selbst-)schöpferischer Autonomie widerstrebt.33 Muraus Tod am Ende des Textes ist ein Indiz dafür, dass die erträumte, auf individueller Freiheit basierende ‚andere’ Existenz nicht möglich ist. Die tödliche Konsequenz seiner Entscheidung macht aus seiner Handlung eine SelbstOpferung. Das Verschenken des Erbes wird in Anbetracht des Scheiterns des Subjekts zur Selbst-Aufgabe, zur Opferung, das Geschenk zur Hin-Gabe an das Andere/den Anderen: Selbstopferung, um Raum für den Anderen/das Andere zu eröffnen – die Dimension der unbekannten/unbedingten Zukunft. Muraus Abschenkung des Erbes und sein anschließender Tod am Ende der Auslöschung sowie der Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders am Anfang markieren plötzliche Einbrüche: Der Plötzlichkeit der Katastrophe zu Beginn korreliert die Plötzlichkeit der Lösung am Ende. Initiierung und Abbruch des Textes erfolgen scheinbar in einer Augenblicksekstase, wie sie Derrida oben für die Entscheidung als ein notwendig ‚vertikales Ereignis’34 eingefordert hat – „scheinbar“, weil sich diese Fulgurationen in doppelter Hinsicht (nur) medial vermittelt einstellen: die Katastrophe erscheint im ‚Telegramm’, das Verschenken des Erbes im ‚Testament’. Somit schließt sich zunächst für letzteres die Frage an, ob das Verschenken des Erbes nicht doch der Spur einer Vor-Entscheidung folgt – die Problematik der Ereignishaftigkeit der Katastrophe wird später anderweitig zu verhandeln sein, ist aber vorläufig so zu bewerten, dass ihr Status sich einer endgültigen Definition entzieht. In der Tat ist Muraus ‚Entscheidung’, das Erbe abzuschenken, von VorEntscheidungen präfiguriert, die als richtungweisend anzusehen sind: zum einen durch die oben explizierte Verweigerung des Händedrucks, zum anderen durch sein Vorhaben, die Schwestern auszuzahlen: „Sie haben von mir hören wollen, was ich gerade über ihre Wolfsegger Zukunft denke, aber ich habe es ihnen nicht gesagt, ich habe sie völlig im unklaren gelassen, die Entschei-
33 Gerhard Neumann erkennt darin einen wesentlichen Zug der Prosa Kafkas. Siehe Gerhard Neumann, „Franz Kafka: Der Name, die Sprache und die Ordnung der Dinge“, in: Wolf Kittler, Gerhard Neumann (Hrsg.), Schriftverkehr, Freiburg im Breisgau 1990, 16ff. 34 Siehe Derrida 2003, 34.
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dung liegt bei mir, nicht bei ihnen, habe ich gedacht und daß ich mich im Grunde schon gleich im Augenblick der Todesnachricht, m u ß i c h m i r s a g e n [meine Hervorhebung, T.M.], für die Auszahlung entschieden habe, nicht für die Teilung. Ich habe noch das Telegramm in Händen gehabt und mich für die Auszahlung entschieden, dachte ich, ich habe das Telegramm kaum durchgelesen gehabt, ich sehe mich am Fenster meiner römischen Wohnung stehen und auf die Piazza Minerva hinunterschauen, zu den Fenstern von Zacchi hinüber, auf die Pantheonkuppel und mir sagen, ich bin selbstverständlich für die Auszahlung, nicht für die Teilung. Dieser Gedanke an die Auszahlung meiner Schwestern war übrigens der allererste Gedanke gewesen, den ich nach Erhalt des Telegramms gedacht habe.“35 (Aus 528)
Sowohl diese Vor-Entscheidung als auch die finale, Wolfsegg zu verschenken, bleiben Teil des „geheimgehaltenen Denkens“, von dem die Schwestern nichts erfahren dürfen. Als er sich nach dem Begräbnis mit ihnen über die Zukunft von Wolfsegg unterhält, schweigt er weiter, „obwohl [er] es zu diesem Zeitpunkt schon gewußt ha[t]“, und behauptet, „[er] wisse nicht, was mit Wolfsegg geschieht“ und „hätte nicht die geringste Vorstellung in dieser Frage“ (Aus 650), was wohl der Wahrheit entspräche, wenn er Wolfsegg wirklich als „völlig bedingungsloses Geschenk“ der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien vermacht und für den „Wolfseggkomplex“ die erwünschte Fatalität der offenen Zukunft tatsächlich zurückgewonnen hätte. Der vorgefasste Entschluss gegen die Teilung würde noch im Einklang mit den mutmaßlichen Erbstatuten stehen. Die bedingungslose Abschenkung hingegen verstößt gegen das Testament, indem Murau das Erbe aus der Bedingtheit der testamentarischen Verfügung und historischen Kontinuität in eine Bedingungslosigkeit transferiert, was der intendierten Bewegung vom Herkunftskomplex zum Zukunftskomplex Rechnung trägt. Verschenkt und der völligen Auflösung und
35 In dieser Passage – und nicht zum ersten Mal – stürzen sämtliche Zeitekstasen ineinander, so dass unentscheidbar ist, ob es sich hier um eine rückwärtsgewandte ‚Korrektur’ der Erinnerung handelt – denn im Text galt sein erster Gedanke nach Erhalt des Telegramms dem Literaturkanon, den er seinem Schüler Gambetti vorgegeben hatte –, ob er sich das sagen m u s s , um die Kohärenz seiner Gedanken zu erweisen, oder ob er tatsächlich noch immer am Fenster steht und auf die Piazza Minerva blickt, was wiederum sämtliche Handlungen, die der Gedankenstrom nach der – vermeintlichen – Schließung des Fensters (Aus 19) impliziert, und insbesondere den Übergang nach Wolfsegg unterminieren würde.
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Auslöschung ausgesetzt, würde sich der Horizont der Zukunft öffnen, in dem wieder alles möglich wäre. Unterstellt man dem Testament die Verfügung, das Erbe in seiner Einheit zu erhalten, so könnte sich dies in ironischer Weise jedoch gerade durch die Abschenkung erfüllt haben, wofern Murau seiner mnemonischen Maxime der negativen Identifizierung und scheiternden Erinnerung folgt. „Die Identität mit sich selbst muß […] ein anderer gestiftet haben. Selbstbeziehung ist ein Effekt von Fremdbeziehung, und Ent-fremdung ist logisch und chronologisch früher als Bei-sich-selbst-Sein“36, schreibt Jochen Hörisch. Aus dieser Perspektive bliebe für Wolfsegg zumindest potentiell die Chance einer Wiederaneignung ebenso gewahrt wie die Gefahr einer Rückkehr des „Gespenstische[n]“ (Aus 458) bestehen. „Meine Entscheidung verdankt sich dem Anderen“37, wäre mit Derrida zu ergänzen, und tatsächlich manifestiert sich die Erbabschenkung erst mit der Entscheidung des Rabbiners Eisenberg, das Geschenk anzunehmen. Muraus „Geistesbruder“ (Aus 640) kommt also – sofern es überhaupt statthat – eine konstitutive Funktion für dieses Ereignis zu. Ihm wird sich das Kapitel 1.5. ausführlich widmen. Der Ereignisstatus der Katastrophe (Unfall) und der Entscheidung (Abschenkung), der Auslösung und Erlösung ist nicht zweifelsfrei verifizierbar. Spekulationen über (strukturelle, traditionelle, literarische etc.) Vorgaben lassen sich nicht ausräumen und verunsichern jegliche Antwort auf die Frage nach Eigenoder Fremdsteuerung, nach narrativer Poetik oder Autopoiesis und Kontingenz: Ob Muraus Handlung tatsächlich die angestrebte Loslösung vom „Wolfsegg“und „Herkunftskomplex“ bewirken kann, oder ob er weiterhin der Wolfsegger Ordnungsmacht, der Übermacht der Tradition, der Mutter und dem Testament unterworfen ist – ob mithin die geplante ‚Auslöschung’ verschriftet wurde und mit dem manifesten Text kongruiert, der von Thomas Bernhard unter gleichnamigem Titel veröffentlicht wurde. Treue oder Renegatentum, Übernahme der (erdrückenden) Erblast oder Gesetzesbruch? Eine weitere Präfiguration der Schluss-Szene vermag dieser Dialektik nicht zu entrinnen. Mit dem Verschenken des Erbes stellt Murau sich zumindest teilweise in die Tradition seines Onkels und Erziehers, der sein Vermögen sei-
36 Hörisch 1992, 100. 37 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mythische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 1991, 51.
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nem Diener Jean überlässt und gleichsam die Familie enterbt. Auch wenn beider Erbe ein antigenealogischer Zug eignet, deutet Onkel Georgs Vorgehen eher auf eine Inversion der Herr-Knecht-Motivik hin, wogegen Murau das Erbe an ‚das Andere’ adressiert: ‚das Judentum’, für das die Israelitische Kultusgemeinde und der Rabbiner Eisenberg als Vermittler paradigmatisch stehen. Wie in seiner Klage über das Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen und seinem Versprechen, in der ‚Auslöschung‘ die schweigenden Opfer zur Sprache zu bringen, angekündigt, verschiebt sich mit Muraus Handhabung des Erbes der Fokus historisch von den Tätern zu den Opfern, mnemonisch vom Erinnern zum Vergessen, ökonomisch von der Akkumulation zur Dispersion. Muraus Handlung stellt indes keinen totalen Bruch mit der Tradition dar, sondern knüpft an der äußersten Abweichung innerhalb derselben an: bei Onkel Georg und seinem Projekt einer Antiautobiografie – was einmal mehr die Irreduktibilität von Erinnerung attestiert –, entsagt jedoch einer Restauration des Erbes unter Inkraftsetzung eines ‚anderen‘ (Ge-)Denkens, in dem das Vergessen(e) anwesen kann, und schreibt somit das Erbe in eine andere Gedächtniskultur ein: die jüdische – die Erinnerungskultur par excellence. Indessen gibt es einen Aspekt in Onkel Georgs testamentarischer Verfügung, der nicht mit dem Geist des Auslöschungsprojekts in Einklang zu bringen ist und von dem sich Murau in/mit seiner ‚Auslöschung‘ distanziert: „Auf seinem Grabstein, den ihm der gute Jean hatte setzen lassen, sollte nur sein Name und folgende Wörter stehen: der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barbaren hinter sich gelassen hat.“ (Aus 44) Diese Inschrift dürfte durchaus im Einklang mit Muraus Humor stehen, ist jedoch mit seinen mnemonischen und poetischen (Auslöschungs-)Prinzipien unvereinbar, denn mit seinem Grabstein setzt Onkel Georg nicht nur sich selbst, sondern auch den „Barbaren“ ein Denkmal. Dem steht in der Begräbnisszene des Wolfsegger Begräbnisdramas die „offene Gruft“ gegenüber.
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OFFENE
G RUFT […] der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: D a s i s t ! da alles vorübergeht? […] Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend arme Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große, seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig sich verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer. (J.W. V. GOETHE, DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS, 52F.)
Wie anhand der Simonides-Legende vorgeführt, verwandelt sich an dem definierten Ort, an dem das Grab (µνῆµα) als Ort des Gedächtnisses (µνήµη) firmiert, Trauer in Tradition und Angedenken.38 Es stiftet eine Ordnung, in der das vom Einbruch des Todes verursachte Chaos zwar als Infragestellung anwesend bleibt, indem es den Hinterbliebenen eine Warnung vor dem Tode ist, durch die Identifizierung, für die Grabmäler und Inschriften bürgen, im Akt der Erinnerung aber beschwichtigt wird.39 Die offene Gruft hingegen ist im tiefsten Sinne des Wortes ein Gegen-Bild, die Abwesenheit eines Bildes oder Monuments, das Ort und Name identifizieren
38 Goldmann 1989, 58. 39 Weinberg 2006, 291 u. 345.
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könnte. Sie gerät zum Ab-Zeichen einer absoluten Beunruhigung, weil sie die klaffende Wunde zur Schau stellt, die das geschlossene und geschmückte Grab verdeckt. Ohne abschließende Grabplatte, ohne der Identifizierung dienendes beschriftetes Grabmal ist die offene Gruft Signum der Kastration – Absenz eines Signifikanten, der die Kontinuität der Opfer, die fortdauernde Wirkung des Todes kaschieren und die Zerstückelung des Körpers vergessen (machen) könnte. Mit der „offenen Gruft“ wird die heilende und ordnende Funktion des Grabes als Euphemismus desavouiert, womit die Gefahr der Unabschließbarkeit des Gedächtnisses und folglich einer möglichen Rückkehr der Toten heraufzieht. „Wie bei der Trauerarbeit nach einer Traumatisierung muß die Beschwörung sich versichern, daß der Tote nicht wiederkehrt. Bloß schnell alles tun, damit die Leiche an sicherem Ort verwahrt bleibt, in Auflösung selbst da, wo sie bestattet oder einbalsamiert wurde [...]. Schnell eine Gruft, deren Schlüssel man in Gewahrsam hält! Diese Schlüssel sind keine anderen als die zur Macht [...].“40
Die Öffnung der offenen Gruft als Eingang in den unendlichen Schacht des Gedächtnisses setzt sich ab von der abschließenden Monumentalisierung, die Onkel Georgs Grabstein evoziert und gleichsam dem Geist seiner geplanten „Antiautobiografie“ zuwiderläuft. Muraus Freundin Maria entlarvt diese sich in die Setzung des Monuments einschreibende Machtgeste als Verdrängung der Angst: „Die Toten werden gleich heilig gesprochen von uns, damit wir vor ihnen sicher sind und vor ihnen Ruhe haben […].“ (Aus 581) Diese Heiligsprechung soll das Unheil, das Fortdauern der Katastrophe und der Opfer(ung) bannen. Die offene Gruft hingegen gerät zu einer Defiguration, zu einer Allegorie der Ohnmacht. Seiner Macht entkleidet wird ‚der‘ Signifikant, der für die Ordnung des Diskurses (des Gedächtnisses) bürgt. Sie ist der heillose Ausdruck einer Unterminierung dieses Denkens des Selben, der Metaphysik der Präsenz und der Philosophie von der Gegenwärtigkeit des Gegenstandes. Diese Problematik wird in der Gräberdiskussion zu Beginn des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften entfaltet. Die Gemeindemitglieder beschweren sich über Charlottes Umgestaltung des Friedhofs, nach der die Grabmäler „von ihrer Stelle gerückt“ waren, um „an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz“ zu finden (Wv 395), wodurch die Referenz zwischen Bedeutungsursache (Leiche, Grab,
40 Derrida 1996, 157.
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Sarg) und Bedeutungsspender (Grabstein, Monument) aufgehoben wird.41 Charlotte rechtfertigt dieses Vorgehen mit dem grundsätzlichen Verlustcharakter des Bildes: „Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht, steht es für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabstätte bezeichne. [...] Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart richtig zu ehren.“ (Wv 399)
Der von den Grabmälern befreite Kirchhof wird „geebnet“ und „mit verschiedenen Arten Klee besäet“ (Wv 395), so „daß es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten“ (Wv 283). Die Erinnerungszeichen des Todes sind hier, von einer ästhetischen Raumgestaltung marginalisiert, einer „heitere[n] und würdige[n] Ansicht“ gewichen: „Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche [...] hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon und Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt der holprigen Grabstätten einen schönen bunten Teppich vor sich sah, der noch überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre hatte zusichern lassen.“ (Wv 395).
Die Beseitigung jeglicher Todesgedanken und -erinnerungen durch Charlotte, die wie keine andere Figur in den Wahlverwandtschaften für das Prinzip der Rationalität steht, wird indes von dem mythologischen Vergleich des Geistlichen mit Philemon und Baucis gleich wieder unterlaufen. Bernhard Malkmus weist auf die Gestaltung dieser Geschichte durch Ovid hin, „in der die schließliche Verklärung des alten Ehepaars in das Bild einer Linde und einer Eiche, die derselben Wurzel entwachsen, gefasst wird.“42 Die Eiche jedoch steht in den Wahlverwandtschaften am See, in dem später das Kind Otto ertrinkt. Aller ästhetischen Beschwichtigung zum Trotz bleibt dem idealisierten (Erinnerungs-)Raum – in der Gefühlswahrnehmung des Geistlichen – der Todesbezug eingeschrieben.
41 Bernhard Malkmus, „Erinnerungskult und Vergessensethos: Die Wahlverwandtschaften“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 58 (2009), H. 3, 285. 42 Ebd., 284.
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Nicht nur Kleist in seinem Überbietungsdrang gegenüber Goethe beschwört in seinen Texten immer wieder den Abgrund des ewig offenen Grabes43, auch Jean Paul entwirft eine alptraumhafte apokalyptische Vision in seiner im Siebenkäs enthaltenen „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“, in der sich unter dem Verlust des transzendentalen onto-theologischen Signifikats die Gräber öffnen und die Toten zurückkehren. Der Blick zur Sonne wendet sich zu einem Blick in den Ab-Grund, in die „leere[] bodenlose Augenhöhle“ anstelle des „göttlichen Auge[s]“: „[…] und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“ (Sk 277). In Erkenntnis der Furchtbarkeit dieses Gedankens folgt bei Jean Paul die notwendige Rückkehr zur kontinuierlichen Anbetung Gottes, was er in einem Kommentar auf die französische Übersetzung, die dieses Ende unterschlägt, als Schließung der „Wunde“ (vgl. Sk 279) bezeichnet44, die allein Gottes Anwesenheit hervorbringen kann. Christus‘ Aufforderung an die Menschen, ihn weiter anzubeten, deutet Thomas Wirtz als „Produktionsanleitung, die als transzendentale Bedingung eines Repräsentationssystems gelesen werden kann.“45 Die Auslöschung setzt sich über solche Furcht vor Transzendenzverlust hinweg und verfolgt die Gegenrichtung, in der sich die Frage nach Trauer und Treue nicht stellt: „Aber ich empfand keinerlei Scham, bis vor die offene Gruft nicht. Zu Gambetti habe ich einmal gesagt, wenn wir an einem offenen Grab stehen, ist doch in uns nur Verrat.“ (Aus 641) Die offene Gruft gibt Murau keinen Anlass zu Scham. Diese wäre angebracht, wenn er selbst – in seinem Kopf oder auf den zahllosen Zetteln, die als Vorarbeiten und Entwürfe der noch ausstehenden ‚Auslöschung’ aufzufassen sind – die Katastrophe vorab geplant und durchgespielt hätte; Trauer dagegen wäre zu erwarten, wenn sich der Unglücksfall – auf fiktionaler Ebene – tatsächlich ereignet hätte. Stattdessen ist in ihm „nur Verrat“, denn solange die Gruft nicht verschlossen ist, solange das (Ge-)Denken andauert und (sich) bewegt, bleiben (T)Räume einer unendlichen Zirkulation und Transformation der Gedächtnisbilder, unzählige Varianten des (sich) erschöpfenden Gedächtnisses im Spiel, bleibt in der Imagination weiterhin alles virulent und möglich.
43 Hörisch 1992, 93. 44 Thomas Wirtz, „‚»Ich komme bald«, sagt die Apokalypsis und ich.’ Vorläufiges über den Zusammenhang von Weltende und Autorschaft bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 32/33 (1997/98), 68, Anm. 42. 45 Ebd.
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Der „Verrat“ ist der Bruch mit der Vergangenheit, die Bewegung hin zur Zukunft, mit der a l l e s aufs/ins Spiel gesetzt/gebracht wird, weil der Gedankenflucht der Impetus innewohnt, j e t z t a l l e s zurückzulassen, in der Übernahme einer Verantwortung für das Andere/den Anderen, gegenüber dem Vergangenen verantwortungslos zu sein, Verrat an ihm zu üben, um sich davon abzutrennen und das absolut Neue zu wagen. Dieses Denken riskiert a l l e s , wagt seine ständige Deterritorialisierung und somit den totalen Gedächtnis- und Kontrollverlust. Als stetiges Werden ohne Stase entzieht es sich jeglicher Bilanzierung, Kapitalisierung und Historisierung. Gleichzeitig dauert unter ‚allen möglichen’ Möglichkeiten auch das Risiko der Reterritorialisierung fort. Irgendjemand, ein Anderer, könnte – in der Zukunft – kommen und (sich) an die ‚Auslöschung’ erinnern… Um die Allegorie der offenen Gruft sammeln sich die entscheidenden Fragen nach dem Verständnis der „Antiautobiografie“ und ‚Auslöschung’. Sie bildet das leere Zentrum, das die historischen Felder der Genealogie und Geschichte sowie die philosophischen der Hermeneutik resp. der Dekonstruktion und die literarischen des Bildungs- und Initiationsromans anbindet. Sie birgt den Schlüssel zum Verständnis dieser Fragen. Hans-Georg Gadamer schreibt in Wahrheit und Methode, dass die historische Methode einen abgeschlossenen Zusammenhang stillschweigend voraussetzt, weil nur so eine bleibende Bedeutung objektiv erkennbar wird. Das Erkenntnisobjekt muss dabei vollkommen tot sein. 46 Wo jeder Text und jede Geschichte zur ‚Biografie’ wird, die sich wie fiktional auch immer einem Subjekt zuschreiben lässt, ist ihr vermeintlicher Sinn nur aus der übergeordneten Sicht zu gewinnen, in der Ende und Tod als historisch verbürgt enthalten sind. Damit wird jede behauptete Autobiografie als literarische Gattung per se unmöglich, weil der Verfasser beim Schreiben am Leben sein und ‚seine’ Lebensgeschichte im Fortschreiten der Zeit permanent umschreiben müsste, da sich ihr Sinn erst aus dem Über- und Rückblick auf das Leben/den Text erschließen könnte. Wenn Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Bemerkungen zum Erzähler angibt, dass man der Romanfigur nur deshalb den Tod wünscht, um das Denkmal seines Verstehens auf ihr Grab zu setzen47, so gilt dies selbstverständlich auch für den Text selbst. Nur unter der Bedingung des Abschlusses ist eine epistemische Aneignung denkbar, sonst würde jeglicher Verstehensvollzug un-
46 Vgl. ebd., 49, Anm. 7. 47 Ebd., 47.
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endlich prozessualisiert. „Alle Verstehensbemühungen setzen immer schon den Tod ihres Gegenstandes voraus und betreiben seine Konservierung als schöne Leiche.“48 Eine Antiautobiografie aber müsste die Lösung des „Herkunftskomplex[es]“ verfolgen, sie hätte sich (einer Entwurzelung der Biografie) zu ver-schreiben, einem stetigen Weiter- und Zerschreiben des Lebens mit dem (unerreichbaren) Ziel, durch den Schreibvorgang ein ganz Anderer zu werden. Als potentieller Schreibort der Übernahme von Onkel Georgs Erbe und der Wiederaufnahme seiner Antiautobiografie könnte die ominöse Carraramarmorplatte zu einem Ab-Schluss oder Ver-Schluss der offenen Gruft werden – wenn Murau die projektierte Antiautobiografie wirklich zu Ende schreiben würde. Allerdings scheint gerade die Idealität dieses Ortes letztlich zum Argument gegen eine Verschriftung der Antiautobiografie und ‚Auslöschung‘ zu werden, wie sie in der Gedenkfunktion des Grabmals Onkel Georgs ihren Ausdruck und im Bild der enthaupteten Mutter auf dem „Prosekturtisch aus weißem Marmor“ (Aus 478) ihren kritischen Gegenentwurf findet. Vor der offenen Gruft drängt Murau immer mehr dem Ende des Begräbnisses, dem Be-Schluss seines Reflexionsprozesses und damit auch dem Ab-Schluss des Textes entgegen. Er führt den Leser gewissermaßen immer dichter an den Tod heran. Indem das Grab jedoch nie geschlossen wird, vielmehr der Erzähler selbst im endlosen dunklen Schacht verschwindet, vollzieht sich das Ende, das für die Möglichkeit eines den Text überblickenden und bilanzierenden Verständnisses konstitutiv wäre, nicht. Die gebrochene Rahmung des letzten Satzes gestattet keine verifizierbaren Aussagen darüber, ob Murau die Auslöschung verfasst hat bzw. ob jenem häufig bemühten „unbekannten Herausgeber“ 49 (die) Autorität über den Text zugebilligt werden kann (resp. wessen Stimme Muraus Tod verkündet), da er selbst hervorgebrachtes Referenzobjekt der Schrift sein könnte, was die sicher geglaubte Subjekt-Objekt-Relation in einen unendlichen Regress stürzen würde. Onkel Georg signiert seinen letzten Satz („der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barbaren hinter sich gelassen hat“, Aus 44) auf seinem Grabstein mit seinem
48 Ebd., 49. 49 So z.B. Pfabigan 2009, 225, Mariacher 1999, 149 o. Korte 1991, 102, Anm. 13. Vgl. Andreas Gößling, Die Eisenbergrichtung. Ein Versuch über Thomas Bernhards ‚Auslöschung’, Münster 1988, 39. Gößling glaubt, in Gambetti den unbekannten Herausgeber erkennen zu können. Heidelberger-Leonhard 1995, 191, insistiert, dass sich hinter dem Herausgeber ja doch nur Thomas Bernhard verbergen würde.
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Namen und maßt sich somit ein abschließendes Urteil über seine Familie (und wohl über die gesamte Menschheit) an. Murau aber verstaut trotz bissiger Kritik und Auslöschungsfuror die Familienfotos wieder in der Schreibtischlade, denn seiner Meinung nach können „die darauf Abgebildeten so nicht beurteilt werden“ (Aus 310). Aus dieser Warte besehen, denunziert die Funktion der offenen Gruft das anmaßende Endurteil von Onkel Georgs Grabstein. Wenn Murau noch auf Seite 616 der Auslöschung vorgibt, trotz jahrelanger Planung und Überlegung „nur einen ungefähren Begriff“ von der ‚Auslöschung‘ zu haben, ist nicht anzunehmen, dass es über die (ohnehin unmögliche) Lösung des Erbdilemmas zu einer Klärung dieses Begriffs gekommen wäre. Folglich fehlt die Voraussetzung für den tatsächlichen Beginn der Niederschrift. Die lapidare Aussage des Schluss-Satzes, dass „diese Auslöschung“ in Rom geschrieben wurde, gibt keinen Aufschluss darüber, ob und wie das „geheimgehaltene Denken“ seinen Abschluss findet. Sie behauptet eine unmögliche Möglichkeit. Vielmehr deutet meine bisherige Lektüre darauf hin, dass das Projekt ‚Auslöschung’ selbst Teil des Erbes ist, d.h. als (Auf-)Gabe – im ‚Testament’ – weitervererbt wird, fortdauert und – völlig bedingungslos – seiner (Wieder-)Aneignung, also Erinnerung, harrt. Mit der testamentarischen Verfügung der Grabmalsetzung konterkariert Onkel Georg die Maximen seines eigenen „Antiautobiografie“-Plans, während Murau mit der emphatischen Wiederholung des Motivs der offenen Gruft dem ideellen Erbe seines Onkels verpflichtet bleibt. Ein Text muss sich immer den Anschein der Geschlossenheit geben50, wogegen die Auslöschung mit ihrem gebrochenen Rahmen im letzten Satz sowie ihrem Fragment-Charakter diese ‚Scheinheiligkeit‘ denunziert und sich in einer potentiellen Unendlichkeit einrichtet. 51 „Das Begräbnis ist der Schlusspunkt“ (Aus
50 Weinberg 2006, 302. 51 Insofern ist Markus Janners These – zumindest in Bezug auf die Auslöschung – zu widersprechen, dass Werk und Lektüre bei Bernhard zum Grabmal werden. Siehe Janner 2003, 22. Bei aller Ausführlichkeit seiner Analyse zum Themenkomplex ‚Tod‘ bei Bernhard übergeht er das Motiv der offenen Gruft und m u s s dementsprechend eine Identität zwischen phänomenalem Text und Muraus Auslöschungsprojekt unterstellen: „[…] nachdem an einer Schrift gearbeitet wurde, die abgeschlossen ist und wesentlich von dem vorliegenden Roman repräsentiert wird.“ Ebd., 226. Formulierungen wie „wesentlich“, „in weiten Teilen“ oder „weitgehend“ sind Zeichen einer extrapolativen Verdrängungsgewalt, die typisch für Vertreter dieser Lesart ist und ihr
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645), heißt es in der Auslöschung, doch (mit der offenen Gruft) revoziert sie dessen Setzung. Stattdessen bleibt ihr Ab-Grund gegenwärtig, eine ewige Lücke, die als Leerstelle unausgesetzt der Möglichkeit der Metonymie und der Semiose stattgibt, womit sich die Frage nach ihrer (möglichen) Bedeutung fundamental stellt.52 Wo die ordnungsgemäße Bestattung das (kulturelle) Gedächtnis stiftet, gibt es mit der offenen Gruft keine finale, historisierende Erinnerung, jedoch eine andere Form der Beschwichtigung: das Kontinuum des jeweils scheiternden (Ge-)Denkens, das nicht die Realität des Todes ausgrenzt und vergisst, sondern in der Unendlichkeit der Transformation gegen ihn anschreibt, was mithin den Raum des Phantastischen eröffnet, wo man nie sicher gehen kann, ob die Toten nicht doch zurückkehren oder die „ungeheure Schrift“ (Aus 614) der ‚Auslöschung‘ nicht doch (noch) erscheint.
1.4. J UNGGESELLENMASCHINE I say we will have no mo marriage (WILLIAM SHAKESPEARE, HAMLET, III, I, 147.)
Das fehlende Grabmal dirigiert den Blick auf die philosophische Epoche der Sophistik, die sich vor der Aufrichtung des despotischen Signifikanten mit der aleatorischen Produktion philosophischer Aussagen begnügte. Im 6. Jahrhundert lag die Wahrheit bei den griechischen Dichtern noch in dem, was der Diskurs w a r und was er t a t – nicht in dem, was er s a g t e . Zwischen Hesiod und Platon verläuft eine historische Trennlinie, nach der „sich die Wahrheit vom ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben“53 hatte. Diese Zäsur im abendländischen Denken geht auf Sokrates zurück, der nicht mehr als zölibatärer Weiser lebt, sondern als verheirateter Philosoph Erkenntnisse unablässig in eine referentielle Ordnung von Wahrheit und Unwahrheit einträgt54, wodurch „das Geistzeichen des männlichen Genius“, das auf einer „Empfängnis ohne Schwangerschaft“ beruht, von einem genealogi-
eigenes Unbehagen bezüglich des schwankenden Untergrunds verrät, auf denen ihre Thesen jeweils fußen. 52 Vgl. die Rede Leibgebers, die er „mehr an unsichtbare Zuhörer als an sichtbare“ am offenen Grab von Siebenkäs hält, in dem der nur mit Steinen gefüllte Sarg liegt. (Sk 534f.) 53 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, 14. 54 Hörisch 1992, 47.
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schen System abgelöst wird, in dem Geistesprodukte gemäß den Regeln der symbolischen Ordnung vermittels eines „Zeugungsaktes von referentiellen Aussagen“ hervorgebracht werden.55 Diese Transformation in der philosophischen Systembildung, die Derrida als „Phallogozentrismus“ kritisierte, zeichnet Jochen Hörisch bei seiner Analyse der Junggesellenmaschine anhand der Dialoge des Kratylos und des Symposion nach und legt dar, wie der Fülle ein Mangel eingeschrieben wurde, um sie in eine repräsentative und referentielle Ordnung zu zwingen, die im phallogozentrischen Zeichen einer ‚Erektion des Wissens’ steht.56 Eros verkörpert das Begehren, das als Folge des Mangels in Erscheinung tritt, den die Spaltung des androgynen Menschen hervorbrachte und den die ‚Liebe’ zu kompensieren sucht. Wie Sokrates die intentionale Struktur des Begehrens, immer ein Begehren nach etwas zu sein, aus dem Mangel herleitet, der mit der Teilung des Androgyn einherging, so will er auch die Struktur der Rede darauf verpflichten, immer eine Rede über etwas zu sein, was voraussetzt, dass ihr eine Binarität zugrunde liegt, die die Fülle der referentiell ungezügelten Rede, die alles bedeutet und zugleich wahr und falsch ist, aufkündigt. Als Gegenspieler des Sokrates steht Kratylos noch für „die schöne Immanenz einer Mannigfaltigkeit von Diskursen, die eine Referenz und einen Herrn der Rede sich ebenso wenig oktroyieren lassen wie ihre Spaltung in Sätze propositionalen und kommunikativen Gehalts.“57 Murau folgt den Spuren solch häretischer Alternative zum metaphysischen Denken nach, wenn er Wörter oder Namen ihrer konventionalisierten Referenz enthoben als opake Signifikanten in ihrer reinen Materialität betrachtet, die auf nichts als ihre Iterabilität und Arbitrarität rückschließen lassen: „Montaigne, sagen Sie, Gambetti, und ich weiß im Augenblick gar nicht, was das ist, hatte ich zu Gambetti gesagt. Descartes? ich weiß es nicht. Schopenhauer? ich weiß es nicht. Ebenso könnten Sie Butterblume sagen und ich wüßte nicht, was es ist, hatte ich zu Gambetti gesagt.“ (Aus 158)
Beweggrund dieser referentiellen Dissoziation ist die „Denkmaschine“ (Aus 157). Was mit ihr zum Ausdruck kommt, ist nicht, wie einige Interpreten fälschlicherweise glauben, auf einer Ebene mit der Kritik am Maschinen- und Fotogra-
55 Ebd., 48. 56 Ebd. 57 Ebd., 49.
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fiezeitalter zu situieren und somit zwangsläufig negativ konnotiert.58 Gleichwohl stehen ‚Maschine’ und ‚Fotografie’ als Instrumente einer kompensatorischen Kybernetik in Relation zu dieser „Denkmaschine“, die vermöge einer in der historischen Entwicklung fortlaufend sich selbst überbietenden und perfektionierenden technischen Supplementierung darauf abzielt, das Uneinholbare ‚endlich’ einzuholen und zu repräsentieren. Mit dem Begriff der „Denkmaschine“ erhellt sich die „systematische Verkennung des Diskurses des Bewußtseins“59, was die unhintergehbare Fremdheit des Menschen sich selbst gegenüber zur Folge hat. Deleuze und Guattari bezeichnen dies als irreduzible Differenz zwischen einer „Produktion der Aufzeichnung“ und der „Produktion der Produktion“ 60 , zwischen Bildproduktion und vor-bildlicher Triebenergie – freudianisch: zwischen Sekundärvorgang und Primärvorgang –, wodurch eine unmögliche Gleichzeitigkeit von Produktion und Aufzeichnung gegeben ist: „Wir müßten die Fähigkeit haben, etwas zu sagen, auszusprechen also und dieses gerade Ausgesprochene gleichzeitig zu protokollieren in unserem Kopf, das ist aber nicht möglich, hatte ich zu Gambetti gesagt. Ich weiß gar nicht mehr, warum ich etwas über Montaigne in diesem Augenblick gesagt habe […], naturgemäß noch weniger, was über Montaigne. Wir glauben, wir haben es schon so weit gebracht, daß wir eine Denkmaschine sind, aber wir können uns auf das Denken dieser unserer Denkmaschine nicht verlassen. Sie arbeitet ununterbrochen im Grunde gegen unseren Kopf […], sie produziert fortwährend Gedanken, von welchen wir nicht wissen, woher sie gekommen sind und wozu sie gedacht werden und in welchem Zusammenhang sie stehen […]. Wir sind tatsächlich von dieser Denkmaschine, die ununterbrochen arbeitet, überfordert, unser Kopf ist davon überfordert, aber er kann nicht mehr aus, er ist unweigerlich lebenslänglich an diese unsere Denkmaschine angeschlossen. Bis wir tot sind.“ (Aus 157f.)
Diese „Denkmaschine“ erschüttert den Glauben an die Funktionstüchtigkeit und Stabilität der Memoria, insofern sie gemeinhin für eine Apparatur gehalten wird, die mit unfehlbarer Mechanik immerzu die gleichen Erinnerungen und Wahr-
58 Butzer spricht hier beispielsweise von der „tote[n] Äußerlichkeit der Maschine“, die im Kontrast zu einer platonisch gedachten, lebendigen Innerlichkeit steht. Günter Butzer, Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998, 243. Vgl. E 173: „Mord und Gegenmord ist diese Ordnung, Esch – die Ordnung der Maschine.“ Siehe auch E 210. 59 Ulla Haselstein, Entziffernde Hermeneutik. Zum Begriff der Lektüre in der psychoanalytischen Theorie des Unbewußten, München 1991, 151. 60 Deleuze/Guattari 1974, 19.
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nehmungen zu generieren und den Menschen somit ein verlässliches Abbild der Realität darzubieten vermag. Überdies konterkariert sie jede genealogische Fundierung, wenn nicht zu erschließen ist, woher die Gedanken gekommen sind – wenn sozusagen der ‚Vater des Gedankens‘ unbekannt bleibt. Die hier thematisierte „Denkmaschine“ ist gerade nicht ‚das‘ Gedächtnis, sondern der unvorstellbare ‚(An-)Trieb’, der dem reflexiven Denken vorausgeht, es gewissermaßen unterläuft und hintergeht. Das Denken wird davon erfasst und bewegt, ohne dass es seinen (An-)Trieb begreifen, geschweige denn steuern könnte, da es „[d]em Bewußtsein [fremd] ist […], selbst bloß geistiger Effekt einer anderen Produktion als der eigenen zu sein.“61 Obgleich in seinem „Kopf“ lokalisiert, besteht keine Identität zwischen Mensch und „Denkmaschine“. Er ‚ist’ keine „Denkmaschine“ („Wir glauben, wir haben es schon so weit gebracht, daß wir eine Denkmaschine s i n d “ [meine Hervorhebung, T.M.]), sondern er ist an sie wie an ein Äußeres ‚angeschlossen’, das als Fremdes im „Kopf“, im Inneren eingeschlossen ist und gegen sein Bewusstsein intrigiert. Die hier benannte „Denkmaschine“ ist unschwer als das Unbewusste auszumachen, mit einer Wunschmaschine übereinstimmend, wie sie Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus als „zölibatäre Maschine der ewigen Wiederkunft“ beschreiben.62 Der Begriff der Denk- und Wunschmaschine bzw. der zölibatären Maschine lässt sich auf das zurückwenden, was Murau bezüglich des „geheimgehaltene[n] Denken[s]“ (Aus 161) anmerkt, und dekuvriert die ‚Auslöschung‘ als – geheimen – Wunsch sowie die Funktion Muraus als zölibatäre Figur. Er weiß, dass er die „Auslöschung im Kopf“ (Aus 543) hat und dass es diese „Denkmaschine“ ist, die die Aufzeichnung der Produktion permanent hintertreibt und über-schreibt, womit sie eo ipso zur Auslöschungsmaschine wird. Das Denken selbst ist hoffnungslos dezentriert. Gedanken-/Textproduktion und – tilgung fallen zusammen und verhindern eine tatsächliche ‚Gedanken-/Textgeburt’.63 Die „Denkmaschine“ produziert unablässig „Gedanken, von welchen wir nicht wissen, woher sie gekommen sind und wozu sie gedacht werden und in welchem Zusammenhang sie stehen“, d.h. sie sind ursprungs- und ziellos, nur in Form von Durch- und Übergängen als (energetische) Intensitäten, jedoch von keiner Systematik der/als Sprache erfassbar, womit sich zugleich, eingedenk des
61 Georg Christoph Tholen, Wunsch-Denken oder Vom Bewußtsein des Selben zum Unbewußten des Anderen. Ein Versuch über den Diskurs der Differenz (Kasseler Philosophische Studien 20), Kassel 1986, 49. 62 Deleuze/Guattari 1974, 29. 63 Vgl. Murau in Erwartung der „Geburt [eines] „Novalisschen Gedankens“ (Aus 83).
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Untertitels „Ein Zerfall“, die Frage der möglichen Verkettung von Gedanken bzw. Sätzen fundamental stellt.64 Die Ordnung des Gedächtnisses basiert demnach auf einer irreduziblen Unordnung, sein Beweggrund ist ein unergründlicher Ab-Grund. Der Wunsch (als unausgesetzte Produktion der Produktion) ist vor seiner Artikulation, die gleichzeitig seine Auslöschung wäre, nichts, da er von jeglicher Repräsentation entkoppelt ist: Er ist namen-, objekt- und intentionslos.65 Vor diesem Hintergrund erhält Muraus Eingeständnis, wonach er „die meiste Zeit einen völlig leeren Kopf [hat], in welchem tatsächlich nichts ist“ (Aus 160) – bzw. seine Antwort auf die Frage seiner Mutter, was in ihm vorginge: „Nichts“!66 (Aus 278) – eine luzide Qualität. Der Gedankenstrom ist unbewusst und somit keinem Subjekt zuzuordnen. Da sich die Denkmaschine der Kontrolle des Protagonisten und mutmaßlichen Erzählers entzieht, stehen einmal mehr Autorschaft und Ontologie des Textes zur Disposition, was ihn einem Traum(-text) annähert, in dem der unfassbare Wunsch wenigstens zensiert zur Darstellung gelangt – wovon Kapitel 2.3. handeln wird. Die (Rede von der) „Auslöschung im Kopf“ muss folglich als ein (sich selbst) entziehender und entzogener ‚Text’ gedeutet werden, der seiner Phänomenalität stets vorausgeht und seine Realisierung (in) der Zukunft aus-setzt: zeitgemäße Gedanken, die per definitionem in einer unendlichen Flucht immerfort unzeitgemäß sein müssen (vgl. Aus 368f.). Als rein aleatorische Rede jenseits von Wahrheit und Lüge situiert sie sich in einer präreferentiellen Unschuld und ist somit – (un-)eigentlich – nicht (als ‚Text’) (be-)schreibbar. Sie ist selbst nichts als (un-)reine Schrift. Zölibat ist Ent-sagung, womit die Möglichkeit in Betracht zu ziehen ist, dass die Auslöschung unartikuliert bleibt, stumm, bestenfalls musikalisch akzentuiert, Gesang eines selbstvergessenen, museninspirierten Dichters 67 gemäß Hesiods
64 Vgl. Petra Gehring, Innen des Außen – Außen des Innen: Foucault, Derrida, Lyotard, München 1994, 232. 65 Vgl. Hörisch 1992, 57. 66 Gegenstand seiner geheimen Reflexion ist gerade der ‚(Ab-)Grund des Gedächtnisses‘ in der „Safeschlüsselaffäre“ (Aus 275ff.), da seine Mutter ihm als Kind unterstellte, den verschwundenen Safeschlüssel in den Brunnenschacht geworfen zu haben, woraufhin sie einen Gärtner in den ausgetrockneten Schacht steigen lässt, der jedoch nur einen alten Schuh zutage fördert. Andernorts hingegen gibt Murau zu, dass er durchaus fähig und willens ist, Dinge im Brunnenschacht zu entsorgen (Aus 150). 67 In diesem Zusammenhang wäre auf die enthusiastische Stimmung des Protagonisten eingangs der Auslöschung Bezug zu nehmen, die von einem Gespräch mit Gambetti
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Theogonie, der weltlichen Bezügen und der Verpflichtung verlässlicher, logischer Kommunikationsgehalte enthoben ist. Die Denkmaschine durchkreuzt die Funktionalität konventioneller Sprachspiele und „produziert stattdessen einen reinen Überschuß referenzloser Zeichen“68: eine Hyperinflation der Zeichen. Die Junggesellenmaschine verweigert den Eintritt in die symbolische Ordnung, der den Tod des ‚Eigentlichen’, des lebendigen unendlichen Wunsches bewirkt, von dessen Spuren der Auslöschungstext dennoch zeugt. Er reiht sich damit in die kryptische, anti-sokratische Linie der „zölibatären Maschine“69 ein, die Michel Carrouges anhand einer Anzahl von Maschinen der Phantasie beschrieben hat70, als deren prominentestes Beispiel vielleicht Kafkas Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie gelten kann. „Die Junggesellenmaschine ist nicht zweckgebunden wie eine von den physikalischen Gesetzen der Mechanik und den gesellschaftlichen Gesetzen des Nutzens abhängige Maschine“, sie ist „ein Trugbild, dem man im Traum begegnet, im Theater, im Kino.“ Zölibatäre Maschinen sind „unmöglich, unnütz, unverständlich, wahnsinnig“ 71 . Antigenealogisch ausgerichtet implementieren sie eine Unterbrechung der Verwandtschaftssysteme sowie intendierte Flucht aus ihnen. Wie die von Carrouges angeführten Beispiele demonstrieren, ist die Identifizierung einer Junggesellenmaschine ein schwieriges Unterfangen. 72 Generell eignen ihr zwei jeweils gedoppelte Bildbereiche, von denen der eine mechanisch, der andere sexuell kodiert ist, wobei die Bereiche gleichwertig sind und ihre Entsprechungen jeweils im anderen finden.73 Für die Auslöschung ließen sich hierfür das (Unfall-)Auto und die Eisenstange sowie der Seziertisch und der überlange Hals der Mutter veranschlagen. Um ihre Interferenzen zu konkretisieren und zu präzisieren, werden diese Motive im Weiteren noch Gegenstand umfänglicher Untersuchungen werden.
herrührt und ihn „begeistert“ zum Flaneur werden lässt, so dass er „ganz gegen [s]eine Gewohnheit“ (Aus 7) auf Umwegen nach Hause zurückkehrt, wo er dann – unvermittelt – das Telegramm mit der Todesnachricht erhält. Kapitel 2.4.4. wird sich ausführlich mit der Stummheit des Textes auseinandersetzen. 68 Vgl. Hörisch 1992, 54. 69 Ebd., 60. 70 Deleuze/Guattari 1974, 25. 71 Michel Carrouges, „Gebrauchsanweisung. Was ist eine Junggesellenmaschine?“, in: Hans Ulrich Reck, Harald Szemann (Hrsg.), Junggesellenmaschinen, Wien 1999, 74. 72 Ebd., 76f. 73 Ebd., 75.
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Der Begriff der Junggesellenmaschine eröffnet weitere Einsichten in die intertextuelle Vernetzung der Auslöschung sowie das Verschenken des Erbes, indem er Murau als Junggesellen, desgleichen alle anderen Junggesellen-Figuren seines Literaturkanons ins Visier nimmt: Siebenkäs (als restaurierter Junggeselle), Leibgeber, August Esch 74 und Josef K. 75 Die Protagonisten der kanonischen Texte wie der der Auslöschung sind Leidensgenossen und Waffenbrüder, sie tragen die Charaktereigenschaften des Typus ‚Junggeselle’, wie Deleuze und Guattari sie für die Junggesellenmaschine formulieren76: das Kreisen um sich selbst; die ödipale Versuchung, das Eremitendasein zu verlassen77; der selbstmörderische Wunsch nach Selbstauslöschung; das Leben als Einsiedler oder Schmarotzer; die Flucht auf der Stelle in reine Intensität.78 Ihre kollektive Funktion besteht darin, eine Fluchtlinie zu ziehen und eine ganze Gemeinschaft zu vertreten, deren Bedingungen aktuell noch nicht gegeben sind79, was allgemein als Zukunftsbezogenheit bestimmbar wäre.
74 „Sie sind ja auch ein eingefleischter Junggeselle, Herr Lohberg?“ (E 66), womit Erna auf Esch anspielt. 75 Von Ketten in Musils Portugiesin ist zwar verheirateter Vater, doch sein Name selbst stellt ihn inmitten eines Kampfes gegen die genealogische Ordnung und Übermacht des Erbes; Walter und K. in Amras sind Jugendliche ohne Perspektive, dem Junggesellen-Schicksal zu entgehen, und werden von der genealogischen Ordnung resp. der – von der Mutter vererbten – Erbkrankheit zugrunde gerichtet; daneben steht das Junggesellen-Schicksal Hamlets, dazwischen/dagegen das Wilhelm Meisters in den Lehrjahre[n] (wo Laertes der eigentliche Junggeselle ist); sein Fall verlangt eine differenziertere Betrachtung, denn seine ‚Familie’ erfüllt keineswegs die gesellschaftlichen Normen. Ohnehin eher dem Typus des Androgyn (!) zugehörig ist seine Frau Natalie nicht die leibliche Mutter seines Sohnes. In den Wanderjahre[n] – mit dem Untertitel „Die Entsagenden“ (!) – ist sie fortwährend von ihm getrennt und nur über Briefe zu vernehmen. Gleichwohl steht Goethes Wilhelm Meister für die Kontinuität der Generationen. Auf die schwierige Einordnung der Lehr- und Wanderjahre wird später noch einmal einzugehen sein. 76 Deleuze/Guattari 1976, 97f. 77 Vgl. dazu die zahlreichen Einladungen, die an Murau gerichtet sind, vor allem jene Marias (Aus 21) und Gambettis (Aus 214) im Gegensatz zu Eisenbergs (Aus 20). Kennzeichen der Junggesellenmaschine ist, dass Murau allein der Einladung Eisenbergs, nicht der ödipal strukturierten ‚Versuchung‘ Gambettis und Marias folgen wird. 78 Ebd., 98. 79 Ebd., 90.
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In der Auslöschung tritt Muraus mutmaßlicher Vater, der die Figur des Junggesellen nur schauspielernde Erzbischof Spadolini, gerade als Gegenfigur hervor: Er ist der nach Genuss strebende erotische und erotisierte Mensch (vgl. Aus 541), wo Zölibat und Askese den Wunsch, sich etwas anzueignen und zu besitzen, gerade untersagen müssten. Hier kehrt die ökonomische Dimension der Auslöschung zurück ins Spiel: Karl Marx charakterisierte den Kapitalisten als erotisierten Menschen. Erotische und kapitalistische Sphäre verschmelzen in Muraus wiederholter Kritik an Spadolinis Geldgier sowie an seiner Neigung, sich von seiner Geliebten, Muraus Mutter, finanziell aushalten zu lassen (Aus 583ff.; vgl. Aus 284). Mit dem Verweis auf die „Gleichsinnigkeit von Geldkapital und Fruchtbarkeit“80 sowie die „motivische[] Verschränkung von Zeugungskraft und Geld“, die die „Fortzeugung des Lebens unmittelbar an die Verfügung über monetäres Kapital“81 anbindet – was explizit im Siebenkäs verhandelt wird –, geraten all die ungeborenen, geborenen und gestorbenen Kinder 82 der kanonischen Texte in den Fokus, die die dazugehörigen Heiratsverbindungen und ihre Filiationen in ihre hierarchischen, administrativen, ökonomischen und politischen Kontexte einschreiben.83 Wenn das Scheitern ein Gegenweg zu Glück und zu(r) Er(b)folg(e)84 ist und Murau als Zweiterbe trotzdem seine Chance ergreifen möchte, dann muss dieser Gegenweg im Abbruch der Erbfolge und der Aufkündigung des Erbes liegen, die den Sukzess – die Nachfolge, das Erbe, den Nachwuchs – gerade verhindern. Mit der Aussage „In dem Wort Zweiterbe witterte ich meine Chance“ (Aus 507) offenbart sich Muraus Auslöschungsprojekt als ein von äußerster Dringlichkeit gekennzeichneter Wunsch, da sich nach der Hochzeit von Caecilia mit dem „Weinflaschenstöpselfabrikanten“ für Wolfsegg die Aussicht auf einen Erben ergibt, der sowohl die Pläne der Mutter als auch Muraus durchkreuzen könnte, die hier eine merkwürdige Allianz eingehen:
80 Vogl 2002, 180; griechisch ‚tokos’ bedeutet sowohl ‚Zins’ als auch ‚Junges’. 81 Ebd., 181. 82 Vgl. Siebenkäs, der als „Armenadvokat“ eine angebliche Kindsmörderin verteidigt (Sk 86). 83 Deleuze/Guattari 1974, 186: „Filiation und Heiratsverbindung sind wie zwei Formen primitiven Kapitals, fixes Kapital oder filiativer Bestand, zirkulierendes Kapital oder bewegliche Schuldblöcke. Ihnen entsprechen zwei Formen von Gedächtnis, biofiliativ das eine, Gedächtnis der Heiratsverbindung und der Worte das andere.“ 84 Siehe „Felix“ als Sohn von Wilhelm Meister; vgl. Hörisch 1983, 40: ‚Glück’ und ‚Lücke’.
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„[Die] Mutter hatte diese Heirat von Anfang an als nichts als ein Verbrechen Caecilias bezeichnet“ (Aus 376), […] „denn [die] Schwester hat ihn [ihren Mann, T.M.] ja ganz bewußt gegen ihre Mutter nach Wolfsegg gebracht, mit ihm an ihr ein K a p i t a l v e r b r e c h e n [meine Hervorhebung, T.M.] begangen.“ (Aus 378)
Dieses „Verbrechen“ ist ein doppeltes: Caecilia widersetzt sich nicht nur dem Plan der Mutter, ihre Töchter unverheiratet zu lassen, um die Einheit des Erbes zu garantieren, sie droht vielmehr, sich mit einem möglichen Erben in Konkurrenz zur privilegierten und ‚legitimen’ Erblinie des erstgeborenen Sohnes Johannes zu positionieren, der, von den Eltern als traditionsgemäßer Nachfolger festgelegt, immer noch unverheiratet ist. Mit Caecilias Heirat steht somit Einheit und Fortbestand des Wolfsegger Erbsystems zur Disposition. Diese Provokation steigert sich (auch in Muraus Wahrnehmung) zu einer Rebellion gegen das atavistische Vermächtnis und zu einer Brüskierung des familiären Machtgefüges. Im Streit um das Erbe gerät die Familie zur traditionellen Kampfzone, in der die Konflikte sowohl innen entlang der direkten Filiationslinien (Onkel Georg– Vater, Johannes–Murau) als auch außen entlang der Heiratsverbindungen (Mutter–Titiseetante) ausgetragen werden.85 Grundlage dieser These ist Onkel Georgs Ablehnung der Schwägerin, die sich in Muraus Ablehnung des Schwagers wiederholt. Beide wollen die vermeintliche Idealität des Inneren gegen ein angeblich bedrohliches Äußeres schützen. Zwar geben sie vor, in keiner direkten Konkurrenz zu ihren jeweils älteren Brüdern zu stehen, doch die folgende Textpassage suggeriert einen uneingestandenen, archaischen Bruderkonflikt, in dem beide ‚Zweiterben’ von dem (verdrängten) Wunsch getrieben sind, Wolfsegg in der ihnen gemäßen Idealität einzurichten bzw. zu restaurieren: „Andererseits, sagte [Onkel Georg], sollte es uns langsam gleich sein, was sie tun, was sie aus ihrer Existenz gemacht haben, es geht uns nichts an. Und wer sagt, daß wir selbst den richtigen Weg gegangen sind? Wir selbst sind auch nicht die Glücklichsten. Und immer auf der Suche nach dem Idealen gewesen, ohne es zu finden. Tatsache ist, daß wir alle immer einen Weg gesucht haben, uns näher zu kommen und uns dabei immer mehr vonei-
85 Murau glaubt, dass sich die Titiseetante durch die Verheiratung Caecilias mit dem „Weinflaschenstöpselfabrikanten“ an der Mutter gerächt habe (Aus 65); vgl. Aus 426: „Sie [die Titiseetante, T.M.] hat es nicht verwinden können, daß sie sozusagen von meiner Mutter aus Wolfsegg verbannt worden ist vor dreißig Jahren, neben meinem Vater, ihrem Bruder, von meiner Mutter nicht mehr geduldet worden ist, in den Schwarzwald verbannt auf einen kleinen Jagdsitz, der uns immer gehört hat.“ Siehe auch Amalias Rückzug ins Gärtnerhaus nach Caecilias Heirat (Aus 63 u. 132f.).
136 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES nander entfernt haben, je größer unsere Versuche gewesen sind, uns wieder zu nähern, desto weiter haben wir uns voneinander entfernt. Unsere Versuche in dieser Richtung, sagte er, endeten immer nur in Verbitterung. Wir haben unsere Versuche immer nur deswegen aufgegeben, weil wir sonst an unseren Vorwürfen erstickt wären, sagte er. U n s e r Fehler ist, daß wir uns niemals damit abgefunden haben, daß uns Wolfsegg nichts mehr angeht, es ist ihr Wolfsegg, sagte e r , n i c h t u n s e r W o l f s e g g [meine Hervorhebung, T.M.]. Wir haben ihnen immer ein Wolfsegg aufdrängen und aufzwingen wollen, das unser Wolfsegg ist, aber nicht das ihrige, anstatt sie in Ruhe zu lassen. Wir haben uns immer hineingemischt in ihr Wolfsegg, wo wir besser daran getan hätten, sie gehen zu lassen. Sie haben uns ausgezahlt, damit hätten wir uns ein für allemal zufrieden geben sollen. Wir haben kein Recht mehr auf Wolfsegg, sagte er.“ (Aus 59)
In diesem von Murau nie eingeräumten und von Onkel Georg hier nur angedeuteten Erbkonflikt geht es um nicht weniger als um Kapital, Wahrheit, Identität, Geschichte und Recht sowie um die Macht selbst. Mit dem Einbruch der Katastrophe wird Murau just in das Spiel der symbolischen Ordnung hineingezogen. Dies wirft den Verdacht auf, dem im folgenden Kapitel ausführlicher nachzugehen ist, dass er sie qua ‚Auslöschung‘ selbst herbeiführen möchte bzw. herbeigeführt hat – je nachdem, ob das Auslöschungsprojekt als vollendet oder noch im Prozess befindlich gedacht wird. Wenn Murau indes „in dem Wort Zweiterbe“ eine Chance erahnt, dann duldet sein Vorhaben keinerlei Verzug, denn es gilt, die ‚Auslöschung’ j e t z t zu schreiben und in Kraft zu setzen, bevor aus Caecilias Ehe ein Erbe hervorgehen und seine Pläne obstruieren könnte. Die Hochzeit wird demzufolge für Murau zum Auslöser zu ‚handeln’, sich selbst zum Erben zu ermächtigen und damit die Macht über Wolfsegg zu erringen, die ihm gestattet, über die Zukunft des Erbes zu gebieten. Sämtliche Aporien, Dilemmata und implizite (Un-)Möglichkeitsbedingungen dieser Usurpation sowie der damit verknüpften Entscheidung wurden nunmehr erörtert. Nachdem Murau das Erbe in seiner ganzen Wucht „auf den Kopf gefallen“ (Aus 619) ist und er, um darüber verfügen zu können, nicht umhin kann, es anzunehmen, will er sich nur noch allem entziehen: „Entziehen, sich allem entziehen, dachte ich, ich hatte keinen anderen Gedanken mehr. Die [Begräbnis-] Zeremonie über mich ergehen lassen und mich dann für immer entziehen, dachte ich.“ (Aus 644)
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Der Zweiterbe möchte offenbar auf den Junggesellenpfad zurückzukehren. Doch ist dieser Ent- und Rückzug überhaupt möglich? Und wie stellt sich seine Entscheidung, das Erbe zu verschenken, innerhalb des (Anti-)Konzepts der Junggesellenmaschine dar? Ist die ‚Auslöschung’ damit ins Werk gesetzt und welche Konsequenzen hätte dies für das (Ge-)Denken Wolfseggs – als subjektiver und objektiver Genitiv?
1.5. E ISENBERGRICHTUNG Der Roman endet mit dem Rabbiner Eisenberg, was Ihnen noch nichts sagen kann, mir aber das Wichtigste ist. (THOMAS BERNHARD AN SIEGFRIED UNSELD, 7.4.1982)86
Damit gerät eine andere Junggesellenfigur in den Fokus, der die Interpreten der Auslöschung in der Regel kaum Aufmerksamkeit schenken, da der Text ihr als vorgeblicher Randfigur nur wenige Zeilen einräumt: der Rabbiner Eisenberg. Er steht Pate für einen zentralen Begriff des esoterischen Vokabulars der Auslöschung, die so genannte „Eisenbergrichtung“, mit dem sich bislang nur Andreas Gößling ausführlich auseinandergesetzt hat, ohne jedoch seiner Komplexität gerecht zu werden. Dabei kommt Eisenberg eine entscheidende Funktion zu, wie Murau selbst anmerkt: „Eisenberg hat drei Jahre vor seiner Wiener Zeit in Rom gelebt, ist aus seinem Elternhaus in der Schweiz ausgebrochen, um nach Wien zu gehen, wo er mein innigster Freund geworden ist. Die Wiener Zeit mit Eisenberg ist, dachte ich jetzt, nach meiner Flucht aus Wolfsegg, die ich wiederum dem Onkel Georg verdanke, die für meine ganze weitere Geistesentwicklung entscheidende, sie ist ganz in die E i s e n b e r g r i c h t u n g gegangen, die Welt zu studieren und sie in diesem Studium nach und nach aufzuschlüsseln und aufzulösen. Eisenberg, der Gleichaltrige, war nach meinem Onkel d e r e n t s c h e i d e n d e
86 Zit. n. Birgit Nienhaus, „Rom als Zentrum der Welt? Die Topografie einer Stadt bei Thomas Bernhard“, in: Martin Huber, Bernhard Judex, Manfred Mittermayer, Wendelin Schmidt-Dengler (Hrsg.), Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/6, Wien/Köln/Weimar 2006, 126.
138 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES K o p f [ meine Hervorhebungen, T.M.] für mich, der meinen Ideen die richtige Richtung gegeben hat.“ (Aus 231f.)
Muraus Geistesentwicklung und damit sein Denken, das zur Entscheidung führt, die (nicht mehr als) eine Richtung vorgibt und in die Zukunft weist, ist wesentlich durch Eisenberg mitgeprägt, den „Gleichaltrige[n]“, der gleichen Generation wie Murau entstammend und gleichermaßen aus dem Elternhaus ausgebrochen, mit dem Murau zudem die Lebensorte Wien und Rom geteilt hat. Wortwörtlich entscheidend ist die „Eisenbergrichtung“ vor allem in seiner Denkweise, „die Welt zu studieren und sie in diesem Studium nach und nach aufzuschlüsseln und aufzulösen“, weil das Erbe genau in/an diese Richtung übergeben wird, womit es zu bestimmen gilt, wie die Geste des Verschenkens in diesem Sinn zu verstehen ist, wie darin der angestrebte „Zukunftskomplex“ aufscheint und welche Konsequenzen sich daraus für das Erbe wie für die betroffenen Figuren ergeben. Ein Teil der Antwort kann vorerst nur angedeutet bzw. muss auf das Kapitel 2.3. verschoben werden, da Eisenberg für den/im Traum(-text), in dem er auf Muraus Freundin Maria zugeht und gleichsam die „Eisenbergrichtung“ vorgibt, die zentrale Rolle (vor-)spielt. Die Erbabschenkung wird als Ereignis erst mit der Annahme durch Eisenberg manifest. Die Unterlassung des Händedrucks beim Begräbnis steht dabei in Kontrast zur gegenseitigen Anerkennung zwischen Murau und Eisenberg, die durch die Annahme des Geschenks und Muraus Dank besiegelt wird. Umso überraschender ist die bereits erwähnte geringe Beachtung, die der Figur ‚Eisenberg’ in der Forschungsliteratur zur Auslöschung zuteil wird.87 Dies gilt auch für den Brief Eisenbergs zu Beginn des Textes, mit dem er Murau zu einem Treffen ins Theater (!) nach Venedig in Monteverdis Tancredo einlädt (Aus 20). Ebenso findet er einen Zettel von Maria, „[s]einer großen Dichterin“, die „Samstag
87 Selbst Silvia Kaufmann, die die Auslöschung vor dem Hintergrund romantischer Ästhetik und Poetik interpretiert, schenkt Eisenberg keine Beachtung, was dazu führt, dass sie sämtliche romantischen Potentiale des Bernhard-Textes in eine nihilistische Auslöschung münden sieht, die nur durch die Annahme eines Meta-Erzählers zu kompensieren ist, was den Text seiner Dynamik beraubt und mögliche andere Lesarten verschenkt. Während sie den Auslöschungsbegriff selbst nicht in Verbindung zur romantischen Poetik zu stellen vermag, liegt bei ihr die Chance des Scheiterns allein in der Möglichkeit eines Meta-Erzählers, sich an die Stelle Muraus zu setzen und seinen Text zu zitieren. Siehe Silvia Kaufmann, The Importance of Romantic Aesthetics for the Interpretation of Thomas Bernhard’s „Auslöschung. Ein Zerfall“ and „Alte Meister. Komödie“, Stuttgart 1998, 95.
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abend mit [ihm] essen gehen will“ und außerdem ankündigt, neue Gedichte für ihn geschrieben zu haben (Aus 21). Murau erhält Einladungen von seinen engsten Vertrauten, wird sie aber nicht treffen. Stattdessen kommt es zum Zusammentreffen der beiden im Traumgeschehen, das Murau Gambetti im ersten Teil ausführlich schildert. In der Figur ‚Eisenberg‘ überschneiden sich mehrere Ebenen, die für den unendlichen Themenkomplex des Gedächtnisses, des Erbes und der Zukunft buchstäblich richtungweisend sind. In ihr ist zuvorderst eine jüdisch-zölibatäre Dimension angelegt. Mit der „Eisenbergrichtung“ kündigt sich die Einschreibung des Erbes in die unfruchtbare, sinnlose Erblinie der Junggesellenmaschine an, die es der familiären Kampfzone und damit dem (Macht-)Spiel der symbolischen Ordnung entreißt. Mit dem Abbruch der genealogischen Vererbung droht dem Familienerbe der Sturz ins Vergessen bzw. in den Un-Sinn. Die Deterritorialisierung des „Besitzklumpen[s]“ Wolfsegg be-wegt es in „Eisenbergrichtung“ auf sein Anderes zu, es wird in sein Äußer(st)es ver-setzt, gerät außer sich, wird ver-rückt und ent-eignet. Die Erbabschenkung wird vermittels einer Dezentrierung, Desemiotisierung und Decodierung zur Enterbung. Murau enterbt sich selbst, er enterbt Wolfsegg und die Erbmasse selbst, indem er sie an andere Ströme, an eine Junggesellenmaschine, an die „Eisenbergrichtung“ anschließt. Zugleich wird sie zum Zeichen dafür, dass in einem deterritorialisierten Gedächtnis der undenkbare Ort keineswegs völlig beliebig und jeglicher Verpflichtung enthoben ist, denn als Jude ist Eisenberg der Andere, der mit der Annahme des für ihn Anderen, mit der Annahme des Geschenks, das Verschenken des Erbes erst ermöglicht. Das decodierte Erbe wird demnach in ein anderes Gedächtnis eingetragen, das christlich-transzendentale Wolfseggs durch das jüdisch-zölibatäre der „Eisenbergrichtung“ abgelöst. Das Erbe wird von seinem zuvor Ausgeschlossenen, seinem vergessenen Anderen affiziert und er-innert – vom Judentum: der Erinnerungskultur par excellence. Bei Derrida firmiert ‚der Jude’ als Figur ohne Eigentum, die alles, was sie besitzt, nur geborgt hat.88 Zu Zeiten von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Geist des Christentums galt dies noch als antisemitisches Klischee, demzufolge die Juden
88 Beth Sharon Ash, „Jewish Hermeneutics and Contemporary Theories of Textuality: Hartman, Bloom, and Derrida”, in: Modern Philology 85 (1987), 77f., zit. n. Elisabeth Weber, „Gedächtnisspuren. Jacques Derrida und die jüdische Tradition“, in: Werner Stegmaier (Hrsg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000, 475.
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„alles nur als geliehen, nicht als Eigentum besaßen“, weil sie „als Staatsbürger alle Nichts waren.“89 Daraus leitet sich sein Hauptvorwurf gegen das Judentum ab, dass es nämlich kein eigenständiges Selbst sei, sondern nur Simulakrum.90 Mit dem Verschenken des Erbes an Eisenberg markiert Murau die enteignete Figur und folgt der Verpflichtung, diese weder zu vergessen noch zu übergehen. Das Erbe wird nicht innerhalb der Familie von Vater zu Sohn oder erstgeborenem zu zweitgeborenem Bruder weitergereicht, sondern von Junggesellen zu Junggesellen. Blutsverwandtschaft wird durch Wahl- und Geistesverwandtschaft ersetzt, Bruderkonflikt durch Freundschaft. ‚Der Jude’ Eisenberg bleibt wohlgemerkt eine enteignete Figur, da das Erbe nicht in seinen Besitz übergeht: Er vermittelt es an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien. Als „Geistesbruder“ Muraus, dem „literarischen Realitätenvermittler“ (Aus 615), wäre er demnach als ‚Erbvermittler’ aufzufassen.91 An ihn delegiert Murau die Aufgabe einer (unmöglichen) Erinnerungsarbeit, bei der er selbst versagt, weil die Dilemmata und Aporien der ‚Auslöschung‘ unaufhörlich daran aufscheinen. Hintergrund dieser Geste und schwankender Untergrund der gesamten Auslöschung ist die von Murau zur Pflicht erhobene Erinnerung an den Bergmann Schermaier und seine Frau, stellvertretend für alle Opfer des Holocaust, die in der Nachkriegszeit nicht nur keinerlei Entschädigung erhielten, sondern schlichtweg vergessen wurden. Ihnen möchte er in/mit seinem Auslöschungsprojekt endlich die verdiente und gerechte Aufmerksamkeit zukommen lassen, um das peinliche Schweigen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit anzuprangern und zu durchbrechen. In diesem Zusammenhang gilt es das Phänomen des Schweigens und des Erinnerns im Lichte des jüdischen Denkens zu befragen, um in dieser Verstrickung einer möglichen Lesart der „Eisenbergrichtung“ auf die Spur zu kommen. Muraus Ansinnen, der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen zu gedenken, richtet sich explizit gegen das Schweigen, das er zum größten Verbrechen erklärt: „Der beste Schulfreund hat ihn [den Bergmann Schermaier; T.M.] angezeigt, sagte ich, […] ihn auf das gemeinste denunziert, ins Konzentrationslager gebracht, das ginge mir
89 Ebd., 476. 90 Ebd., 471. 91 Vgl. außerdem Zacchi als „Menschenvermittler“ (Aus 231). Im Gegensatz zu Onkel Georg und Spadolini füllen sie keine Rolle als Besitzer, Sammler, Genussmenschen oder Kapitalisten aus.
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nicht aus dem Kopf, in Rom läge ich sehr oft auf meinem Bett und hätte darüber nachzudenken, daß sich unser Volk Tausender, ja Zehntausender solcher gemeiner Verbrechen schuldig gemacht habe und sie verschweige. Das Schweigen unseres Volkes über diese tausende und zehntausende Verbrechen ist von allen diesen Verbrechen das größte, sagte ich zu den Schwestern. Das Schweigen dieses Volkes ist das Unheimliche, sagte ich. Das Schweigen dieses Volkes ist das Entsetzliche, dieses Schweigen ist noch entsetzlicher als die Verbrechen selbst, sagte ich.“ (Aus 458f.)
Murau wendet sich hier nachdrücklich gegen das Verschweigen nationalsozialistischer Untaten und scheint einem moralischen Imperativ der Erinnerung das Wort zu reden. Dass er diesem Schweigen jedoch nicht einfach einen verzweifelten Schrei nach Gedenken, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung entgegensetzt, dass darüber hinaus die Auslöschung, in/mit der erinnert werden soll, ein höchst fragwürdiger Text ist, der seine eigene Nicht-Existenz resp. Nicht-Artikuliertheit unterstellt – womit es schlichtweg nichts zu erinnern gäbe und nicht nur die geforderte Erinnerung an Schermaier, sondern die Forderung selbst unterbliebe –, und das verschenkte Erbe eine höchst zwiespältige Gabe darstellt, die – wie noch zu zeigen sein wird – keineswegs als Geste der Wiedergutmachung zu lesen ist, ruft all die Kritiker auf den Plan, die dieses Scheitern (der Erinnerung) über den Protagonisten hinaus Thomas Bernhard als eine ethische Verfehlung zur Last legen. Dabei wird allzu willfährig übersehen, dass die Erinnerung des Holocaust und seiner Opfer das mnemonische Problem aufwirft, den Einbruch einer Katastrophe, ein Ereignis, eine Zäsur adäquat darzustellen, wovon die Auslöschung aber gerade in ihrer Widerspenstigkeit und ihrem Scheitern zeugt. Dies gilt es im Kontext der jüdisch-zölibatären „Eisenbergrichtung“ zu beleuchten. Manfred Weinberg widmet der Unmöglichkeit, den Holocaust zu erinnern, ein eigenes Kapitel in seiner umfassenden Arbeit zum „unendlichen Thema“ des Gedächtnisses. Darin stellt er die Diagnose, „[d]ass […] die Gräueltaten der nationalsozialistischen Verbrechen gar nicht zu erinnern sind, weil sie menschliches Fassungs- und Darstellungs- und somit auch Erinnerungsvermögen überst[ei]gen.“92 Die Erinnerung des Holocaust ist für das Gedächtnis dabei keineswegs ein strukturell besonderes Problem. Abgesehen davon, „dass das Gedächtnis eine außermoralische Institution ist“, liegt eine seiner fundamentalen Funktionsweisen gerade darin, das unfassbare Unendliche schlichtweg zu vergessen. Eben dieses Vergessen aber „wird angesichts des Holocaust skandalös und somit seinerseits erinnerungswürdig.“ Was also bei jedem anderen Ereignis
92 Weinberg 2006, 182.
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vergessen werden kann, ja sogar „in Vergessenheit geraten [muss], damit Zukunft überhaupt möglich wird“, soll angesichts des Holocaust selbst zum Thema werden. Weinberg insistiert jedoch auf der unmöglichen Erfüllbarkeit dieser Forderung. Da das Gedächtnis Unendliches „zum Thema reduziert und mit bloß noch simulierten Unendlichkeiten umgeht“, ist eine „Thematisierung des Holocaust […] aus den gleichen strukturellen Gründen wie eine Thematisierung des Gedächtnisses ‚selbst’“ nicht zu bewerkstelligen.93 Weiter liest man: „Der Holocaust macht […] nicht nur seine eigene Erinnerbarkeit, sondern Erinnern ‚als solches’ frag(-)würdig. In der Unmöglichkeit, sich seiner zu erinnern, spiegelt sich die Unmöglichkeit allen Erinnerns, weil sich darin jenes Vergessen ‚meldet’, das Erinnern erst Erinnerung ‚sein’ lässt, und das, damit Erinnerung ‚ist’, in Vergessenheit bleiben muss.“94
Wie bei der Untersuchung des Erbtransfers und der Schwelle in der SimonidesLegende diskutiert, fällt auch der Umgang mit der Shoah unter die allgemeine Frage nach einer temporalen Zäsur, „die nicht schlicht als Diskontinuität präsentiert werden kann. Denn als einmaliges historisches Datum in einer vorgegebenen chronologischen Kontinuität wäre sie stets schon von dieser verortet und im Schema der Zeit als einer puren Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verrechenbar. Die Zäsur muß sich also ‚selbst’ entzogen bleiben und existiert gleichsam nur als unsichtbarer Einbruch in homogenen Zeitverläufen. Sie kommt – als Schock oder Trauma – dazwischen.“95
Da der Holocaust sich demnach weder in eine Chronologie einreihen noch sich als bloße Diskontinuität erfassen lässt, gilt es beides zugleich als (Ab-)Grund jeden Erinnerns und als „allgemeinere Frage nach einer temporalen Zäsur“ zu denken: die Unterstellung einer chronologischen Geschichte u n d ihrer Unterbrechung, diese aber als „unsichtbarer Einbruch“, zu dem man sich nicht direkt verhalten kann.96 Georg Christoph Tholen weist hier auf die Gefahr hin, dass der Versuch unternommen wird, „Auschwitz als eine der historischen Narration auf ewig entzo-
93 Ebd., 183. 94 Ebd., 184. 95 Georg Christoph Tholen, „Anamnesen des Undarstellbaren. Zum Widerstreit um das Vergessen(e)“, in: Elisabeth Weber (Hrsg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, 225. 96 Weinberg 2006, 184.
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gene Leerstelle zu verorten“ und somit „diese Leerstelle oder Ausnahme als negative Abwesenheit anwesend zu machen, also die Lücke des Zeitbruchs wieder zu schließen.“97 Die Versuchung, ‚Auschwitz’ in Bildern und Worten wiederzugeben, würde folglich paradoxerweise exakt in eine Weise des Vergessens umschlagen.98 Eben dieser drohenden Historisierung und Distanzierung widerstrebt die Allegorie der offenen Gruft, indem sie keine Beruhigung und Ent-Sorgung gestattet. Der Text in seinem ständigen Bemühen, die ‚Auslöschung’ doch irgendwie, irgendwann zu denken – und damit zu erinnern –, hält diese Wunde offen und gleichsam die Forderung nach notwendiger Erinnerung, wie unangemessen und chancenlos auch immer sie sein mag, aufrecht, ohne der Verführung, das Darzustellende in/mit der Darstellung zu historisieren und auszulöschen, nachzugeben. Dies ist mithin das entscheidende Argument, warum die Auslöschung als verborgener, unabgeschlossener und potentiell unendlicher ‚Text’ zu lesen ist, in dem das Vergessen(e) wesentlich und anwesend bleibt. Die Opfer des Nationalsozialismus sind als Vergessene fortgesetzt Opfer des Vergessens und des Schweigens der Täter und Zeugen, zumal sie selbst nicht in der Lage sind, dieses Schweigen zu brechen und Gerechtigkeit einzufordern. So auch der Bergmann Schermaier in der Auslöschung: „Der ihn angezeigt hat und in die Strafanstalten und Zuchthäuser und Konzentrationslager gebracht, hat ihn nach dem Kriegsende auf den Knien darum angebettelt, er möge sich nicht an ihm rächen. Der Schermaier rächte sich nicht, er spricht nicht mehr darüber, mit niemandem […].“ (Aus 447)
Das Schweigen des Opfers Schermaier fügt sich nahtlos in die Argumentation Weinbergs zur Unerinnerbarkeit des Holocaust ein, nach der die Unmöglichkeit der Zeugenschaft nicht nur an der sprachlichen Unfassbarkeit des ‚Ereignisses’ liegt, sondern auch an der Notwendigkeit, jeglicher Vorstellung von Subjektivität und Zukunft abzuschwören, um die permanente Extremsituation der Lebensbedrohung sowie Herabwürdigung als Subjekt überhaupt aushalten zu können.99 Weinberg schreibt:
97 Tholen 1997, 228. 98 Vgl. Jean-François Lyotard, Heidegger und „die Juden“, Wien 1988, 37. 99 Weinberg 2006, 190f.
144 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES „Vergessen wird/bleibt in jeder medialen Repräsentation der Erinnerung von HolocaustÜberlebenden, dass der Holocaust nicht (angemessen) erinnert werden kann, weil er keinem ‚Selbst’ widerfahren ist, das sich nun seiner (im doppelten Sinne) zu erinnern vermöchte. Nicht erst die Opfer der Massenvernichtung, sondern schon die unter dieser Bedrohung lebenden Häftlinge der Vernichtungslager wurden getötet, das heißt im Falle der Überlebenden: um ihr ‚Selbst’ gebracht. Ihre unleugbare Anwesenheit in ihrer gefilmten, videographierten, auf Tonband aufgenommenen Erinnerungserzählung leugnet gerade diese Erfahrung: nicht mehr da gewesen und erst mit der Befreiung in Zusammenhänge zurückgekehrt zu sein, in denen man als Individuum, als Selbst existiert. Gerade diese Erfahrung aber kann weder wahrgenommen (wer sollte dies wahrnehmen, wenn kein ‚Selbst’ mehr da ist?), noch erinnert werden (weil nur Wahrnehmungen erinnerbar sind). Dies heißt jedoch nicht nur, dass ein ‚Selbst’ die unhintergehbare Voraussetzung von Wahrnehmung wie Erinnerung ist, sondern, dass eben solches Selbst im Wahrnehmen und Erinnern erst hervorgebracht wird.“100
Hiermit lässt sich der Sinn der Delegierung des Erbes an jüdisches (Ge-)Denken präziser fassen, wie es mit der „Eisenbergrichtung“ um(ge)schrieben wird. In seiner Studie Heidegger und ‚die Juden’ legt Jean-François Lyotard dar, dass es gerade jenes Vergessen(e) ist, was sich im Bilderverbot des jüdischen Glaubens jeglicher Darstellung widersetzt und den Kern der jüdischen Erinnerungskultur ausmacht. Er skizziert, wie ‚die Juden’101 von einer „Offenbarung“, von der „ungewissen Enthüllung einer namenlosen Sache“ und einer „Stimme, die nicht eigentlich […] spricht“102, in Geiselhaft genommen werden: „Vom Anderen als Geisel genommen, wird dieses Gemeinwesen zu ‚seinem’ Volk, zum Volk des Anderen, zu einem von den anderen Völkern verschiedenen ‚Volk’. Es wird keinen Gott haben in der Weise, wie die anderen Völker Götter haben, noch ein Territorium oder eine Überlieferung (einen Raum und eine Zeit) wie die anderen Völker.“103
Mit dieser Diagnose deduziert Lyotard eine metaphysische Deutung des europäischen Antisemitismus, die an Elisabeth Webers Analyse von Hegels Verurteilung ‚der Juden’ durch den Weltgeist anknüpft:
100 Ebd., 192f. 101 Siehe seine Erläuterungen zur Verwendung dieses Begriffs zu Beginn des Textes. Lyotard 1988, 11. 102 Ebd., 32. 103 Ebd., 33.
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„[…], daß ‚die Juden’ in dem mit seiner Selbstbegründung beschäftigten ‚Geist’ des Abendlands dasjenige sind, das sich diesem Geist widersetzt, in seinem Willen, den Willen zu wollen, dasjenige, das diesen Willen durchkreuzt, und in seiner Vollendung, seinem Projekt und Fortschritt, dasjenige, d a s s t e t s v o n n e u e m d i e W u n d e d e s U n v o l l e n d e t e n s c h l ä g t . Die Nicht-Vergebung in einer Bewegung, die Remission, Rückgabe und Verzeihung ist. […] [Eine] Tradition, an deren Beginn der Auszug, die Beschneidung, die Unangemessenheit und die A c h t u n g d e s V e r g e s s e n e n [meine Hervorhebungen, T.M.] steht.“104
Demzufolge spiegelt sich in der ‚Endlösung’ die Intention, die ‚Judenfrage’ ein für allemal zu beantworten, wider, indem dem Endlosen, dem Nicht-endenWollenden ein Ende, d.h. dem Ende selbst ein Ende gesetzt werden sollte.105 „‚Die Juden’ dagegen stehen dafür ein […], daß das Elend des Geistes, seine Knechtschaft gegenüber dem Unvollendeten, dem Geiste wesentlich ist.“106 In diesem Sinne ist die von der (Schrift der) Auslöschung eingeschlagene „Eisenbergrichtung“ zu verstehen als eine Öffnung der vergeblichen Immanenz des Denkens hin auf sein Anderes, von ihm Ausgegrenztes. Eisenberg als ‚Jude’, als jüdischer Junggeselle, steht für die Figur des Anderen, dessen (Ge-)Denken das vergessene Vergessen unablässig im Spiel hält. Des Weiteren ließe sich im Namen ‚Eisenberg’ eine romantische Ebene verorten, sofern man Referenzen der Figur Eisenberg auf die des Bergmanns Schermaier (inklusive sämtlicher ‚Bergszenen’ der Auslöschung, in erster Linie die Traum-Szene, aber auch die Ätna-Szene) in Anschlag bringt. Bergleute – wie auch Gärtner und Jäger – stehen paradigmatisch für ein romantisches Bildarsenal107, das Andreas Gößling in seiner Studie zur „Eisenbergrichtung“ analysiert hat. Wohlbegründet merkt er die Signifikanz von ‚Eisen’ an, das zur materialen Grundlage mehrerer Motive der Auslöschung wird, zuvorderst der Eisenstange, die die Mutter beim Autounfall enthauptet. Wo das eine Objekt dieses sich durch Härte auszeichnenden Materials der Mutter den Tod bringt, rettet ein anderes Murau das Leben, nämlich der Eisenring im Teich, an den er sich festklammert,
104 Ebd., 33f. 105 Ebd., 36. 106 Ebd., 39. 107 Es ist verwunderlich, wie selten sich die Bernhardforschung mit Zügen romantischer Poetik in seinen Texten auseinandergesetzt hat, nachdem Karl Heinz Bohrer schon 1981 zu Recht eine „Vorliebe für die Romantik“ bei ihm diagnostizierte. Bohrer 1981, 25.
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um nicht zu ertrinken, nachdem sein Bruder ihn ins Wasser gestoßen hat (Aus 256).108 Erstaunlicherweise übersieht Gößling bei seinem Ansatz eine wichtige Szene, nämlich die Risse in den Stuckaturen der Kindervilla: „[…] und an den Decken sind genau die Stukkaturen angebracht, die ich Gambetti zu beschreiben versucht habe, lauter Szenen aus klassischen Schauspielen wie beispielsweise dem Nathan von Lessing oder den Räubern oder aus dem Urfaust. […] Große Risse gehen durch diese Stukkaturen und es ist höchste Zeit, sie zu reparieren, dachte ich.“ (Aus 462)
Die Kräfte, die sich gewissermaßen hinter den klassischen Szenen und quer durch sie hindurch ihren Weg bahnen sowie vom möglichen Einsturz des Gebäudes künden, wenigstens aber von einem Durchbruch nach Außen, könnten als jene der Romantik zu identifizieren sein. Sie lassen das Gebäude zwar (noch) nicht einstürzen, brechen jedoch die klassische Idealität der Oberfläche auf und machen die Risse, die sie durchziehen, sichtbar – jene Risse, die unumgänglich jeder Vorstellung, jedem Erinnerungsbild zugrunde liegen und von diesem überdeckt werden. Bei der Rückbesinnung auf die Stuckaturen resp. auf das Gespräch mit Gambetti über dieselben wird sich Murau seiner hypermnemischen Fähigkeiten bewusst: „Ich kann mir einmal genau betrachtete Bilder, auch Stukkaturen, wie ich jetzt den Beweis habe, dachte ich, über Jahre und Jahrzehnte in allen Einzelheiten auf das präziseste merken und es auch mündlich dann so wiedergeben bei Gelegenheit, daß es authentisch ist, mein wiedergegebenes Bild deckt sich vollkommen mit dem einmal gesehenen. Ich brauche ein Bild oder eine Stukkatur wie die in der Kindervilla nur ein einziges Mal zu sehen und gleichzeitig zu studieren und behalte das Bild präzise über Jahre, wie ich jetzt sehe, Jahrzehnte.“ (Aus 463)
108 Eine Szene, die zudem für den oben postulierten Bruderkonflikt spricht. Gößlings Interpretation ist hier nur teilweise zuzustimmen, insofern sich im Eisenring meines Erachtens weniger „‚Schuld’ und ‚Verstümmelung’ des Einzelnen als nationalsozialistisches ‚Erbe’ verbildlichen“ als die notwendige hermeneutische Rück- und Wiederkehr zu sich selbst in der Geschlossenheit eines – ‚harten’, stabilen – metaphysischen Denkens, das vor dem „[u]nterhalb der durch den ‚Eisenring’ markierten Tiefe lauer[nden] […] Wahnsinn als Drohung gänzlichen und irreversiblen Bewußtseinsverlustes“ bewahrt – sowie schlichtweg vor dem Tod. Siehe Gößling 1988, 57.
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Wenn sich die außergewöhnliche Präzision von Muraus Erinnerungsvermögen ausgerechnet an diesen Stuckaturen beweisen soll, so ist zu fragen, wie ein solches Gedächtnis überhaupt funktionieren kann angesichts der Risse, die sich durch die klassischen Bildszenen ziehen. Dieses Hypergedächtnis besäße demnach die Fähigkeit, den erratischen Verlauf von Rissen, den Zerfall, den Abgrund mitzudenken, das Vergessen, das für jede Erinnerung konstitutiv ist, dem Erinnerungsprozess zu integrieren. Ein solches Gedächtnis der Simultaneität von Erinnerung durch das Vergessen und Erinnerung an das Erinnerung konstituierende Vergessen könnte nur ein unmögliches, phantastisches sein. Die Postulierung einer romantischen Dimension der „Eisenbergrichtung“ ist allemal heikel – besonders hinsichtlich der umstrittenen ethischen Problematik der Auslöschung –, weil gerade die Romantik von antisemitischen Zügen durchsetzt ist109 wie etwa bei Clemens Brentano oder bei Achim von Arnim. Nicht weniger diffizil müsste sich zudem der Konnex zwischen Romantik und Christentum darstellen.110 Geht man von einer positiven Besetzung des Begriffs der „Eisenbergrichtung“ aus, dann wäre unter dem Vorbehalt des noch zu erbringenden Nachweises einer ethischen Programmatik der angekündigten Schrift eine dekonstruierte Romantik, eine Art Neo-Romantik zu veranschlagen, die bezüglich des Antisemitismus auf unverfänglicheren Grundlagen der Frühromantik von Schlegel und Novalis basieren müsste, welche ihrerseits wiederum postmoderne Vorstellungen vom Gedächtnis präfigurieren. Ferner wäre darzulegen, welche Verbindungen zwischen einem selektiven, (neu gefassten) romantischen Begriff und einer positiven Vorstellung der jüdischen Erinnerungskultur bestehen. Einer solchen Neufassung müsste zunächst der positive Staatsbegriff zum Opfer fallen, wie ihn die Romantiker einst als fortschrittliches Projekt zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten. In der Auslöschung wird der Staat mit aller Vehemenz abgelehnt, wie unter anderem just die Österreich-Schelte illustriert, die die negative Kehrseite jenes in Kapitel 2.5. des ersten Teils zitierten Textab-
109 Zu antisemitischen Tendenzen in der Romantik siehe ausführlich Wolf-Daniel Hartwich, Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner, Göttingen 2005. Antisemitische Anspielungen spuken auch durch die Intertexte: Hamlet, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Siebenkäs, am deutlichsten in Esch oder die Anarchie. 110 Vgl. beispielsweise die von Achim von Arnim und Adam Müller initiierte ‚Christlich-Deutsche Tischgesellschaft’. Ebd., 13. Vgl. Gunnar Och, „Alte Märchen von der Grausamkeit der Juden. Zur Rezeption judenfeindlicher Blutschuld-Mythen durch die Romantiker“, in: Aurora 51 (1991), 82f.
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schnitts bildet, in dem Murau vehement die Erinnerung von Schermaiers Schicksal anmahnt, da der Staat die Täter in Schutz nimmt und ihnen nach dem Krieg ein auskömmliches Leben sichert, während das Leid der Opfer durch die ausbleibende historische und juristische Aufarbeitung fortdauert und in Vergessenheit gerät (vgl. Aus 447f.). ‚Staat’ und ‚Nation’ sind Entitäten, deren Begründung nachgerade auf Einheits- und Identitätsvorstellungen beruht, die, unhintergehbar aus einem (un-)reinen mythischen Ursprung deduziert, zwangsläufig den Ausschluss und das Vergessen alles Anderen und Heterogenen nach sich ziehen müssen. Wie Webers Hegel-Kritik demonstrierte, koinzidiert der positive Staatsbegriff mit der Vorstellung von staatsbürgerlichem Besitz. Eine zentrale Bestimmung des ‚Juden’ hingegen ist das Nomadentum111, das sich durch nur temporäre Besitznahme auszeichnet. Die Eigenheit des ‚Judentums’ gründet in einer Idee des Exils, die Maurice Blanchot als „richtige Bewegung“ deklariert, weil sich durch das Exil und „durch die Initiative, die der Exodus ist, die Erfahrung der Fremdheit in einer irreduziblen Beziehung offenbart“ mit dem Zweck, „durch die Macht dieser Erfahrung, zu sprechen zu lernen.“ Das Judentum gemahnt an eine permanente Bereitschaft, „sich auf den Weg zu machen, weil hinausgehen (nach draußen gehen) die Forderung ist, der man sich nicht entziehen kann, wenn man an der Möglichkeit einer gerechten Beziehung festhalten will.“ Blanchot nennt dies die „Forderung der Trennung“ sowie die „Bejahung der nomadenhaften Wahrheit“112. Ferner schreibt er: „Dieses Exil aber, so schwer es auch ist, wird nicht nur als ein unverständlicher Fluch begriffen. Es gibt eine Wahrheit des Exils, es gibt eine Bestimmung des Exils und wenn Jude sein bedeutet, der Zersplitterung geweiht zu sein, dann deshalb, weil die Zersplitterung, so wie sie zu einem Aufenthalt ohne Ort aufruft, so wie sie jede feste Beziehung der Macht mit einem Individuum, einer Gruppe oder einem Staat zerstört, angesichts der Forderung nach dem Ganzen auch eine andere Forderung beseitigt und schließlich die Versuchung der Einheit-Identität verbietet.“113
111 Vgl. Muraus positive und nachsichtige Beurteilung der Landstreicher, obwohl diese einen Brand in seinem Lieblingsgebäude, der Kindervilla, verursacht haben. (Aus 398f.) 112 Maurice Blanchot, Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München 1991, 184. 113 Ebd., 185.
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Anklänge frühromantischer Poetik sind mühelos in Blanchots Ausführungen aufzuspüren, assoziiert man doch gerade in der Romantik mit der Idee des ‚Experiments’ die Vorstellung eines Aufbruchs ins Unbekannte, einer Transzendierung vermeintlich gesicherter Wahrheiten. Sie offeriert ein poetisches Konzept, das sich dem Unbekannten, Ausgeschlossenen und Verborgenen zuwendet, jenen Elementen, die in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie als „formlos“ und „namenlos“114 spezifiziert werden. Im romantischen Begriff des Fragments wiederum findet sich eben jene poetologische Entsprechung der „Zersplitterung“ wieder, die sich der „Versuchung der Einheit-Identität“ dezidiert widersetzt. Mit Eisenberg als Jude wird das Erbe einer Figur anvertraut, die durch die Erfahrung des Exodus und des Exils per se zum Ausdruck bringt, „daß die Wahrheit des Anfangs in der Trennung liegt.“115 Als ‚Erbvermittler’ steht Eisenberg für den Transit in „eine Welt, die ‚noch nicht Welt’ ist“116, in den Zukunftskomplex, wie ihn Murau unter dem utopischen Impetus seines Auslöschungsprojektes anstrebt (vgl. Aus 209). Während der Protagonist der Auslöschung den antagonistischen Kräften dieser Passage nicht gewachsen ist, bürgt Eisenberg für deren Vollzug und Bewältigung mit seinem Namen, der zum Emblem der Unzerstörbarkeit selbst – und damit zum Gegenbegriff von ‚Auslöschung’ – wird: „[…] Eisenberg ist ein härterer Mensch mit einem noch viel klareren Kopf als Maria und ich […].“ (Aus 234) Wo also Maria, in der „immer Alles gegenwärtig ist“ (Aus 227) und die, „von Natur aus“ der Mittelpunkt (Aus 229), für Alles und die „Kraft [des] Geistes“ steht, „dieses Alles auszuhalten“ (Aus 227), verkörpert Eisenberg die Wucht des Übergangs, die Widerstandskraft der Differenz und den Elan des Neuen. Für Blanchot spiegelt sich in ‚Exil’ und ‚Exodus’ derselbe Bezug zum Außen wider, der den Begriff der Existenz fundiert. Im ‚Nomadentum’ meldet sich das Widerspiel der Kräfte, die den gesamten Auslöschungstext grundieren und unter extreme Spannung setzen, der Beharrung und der Bewegung, der Bewahrung und der Auslöschung, der Herkunft und der Zukunft, indem es einerseits „oberhalb dessen, was festen Bestand hat, das Recht aufrecht[erhält], die Aufteilung des Raumes in Frage zu stellen [und] an die Initiativen der menschlichen Bewegung und Zeit [zu] appellier[en]“, andererseits für den Menschen eine andere
114 Zit. n. Kaufmann 1998, 29. 115 Blanchot 1991, 187. 116 Ebd., 186.
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Dimension sichtbar macht, „in der er sich, jenseits von jedem Horizont, auf das beziehen muß, was sich außerhalb seiner Reichweite befindet“, weil „die Ordnung der Wirklichkeiten, in denen es Verwurzelung gibt, nicht den Schlüssel zu allen Beziehungen [besitzt], denen wir entsprechen müssen.“117 Den Ort, an dem die Menschen sich zu diesem unendlich Entfernten und vollkommen Fremden in Beziehung setzen, markiert die Sprache. Diese Missachtung hält Blanchot Hegel bezüglich seiner Klage, dass der Gott der Juden die höchste Trennung sei und jede Vereinigung ausschließe, entgegen: „[W]enn es tatsächlich eine unendliche Trennung gibt, dann ist es die Aufgabe der Sprache, daraus den Ort der Verständigung zu machen, und wenn es einen unüberwindlichen Abgrund gibt, dann überquert die Sprache den Abgrund. Der Abstand ist nicht beseitigt, er ist noch nicht einmal verringert, er ist im Gegenteil bewahrt und rein erhalten durch die Strenge der Sprache, die das Absolute der Differenz bestärkt. Räumen wir ein, daß das jüdische Denken die Vermittlung und die Sprache als Vermittler nicht beachtet oder ablehnt. Aber seine Wichtigkeit besteht gerade darin, uns zu lehren, daß Sprechen eine ursprüngliche Beziehung eröffnet, diejenige, durch die die einander gegenüberstehenden Terme diese Beziehung nicht büßen oder sich zugunsten irgendeines sogenannten gemeinsamen Maßstabes verleugnen müssen, sondern gerade aufgrund dessen, was sie an nicht Gemeinsamem besitzen, Aufnahme verlangen und erfahren. Mit jemandem sprechen, heißt die Bedingung annehmen, ihn nicht in das System der zu erfahrenden Dinge oder zu verstehenden Wesen einzuführen, es bedeutet, ihn als unbekannt anzuerkennen und ihn als fremd aufzunehmen, ohne ihn zu zwingen, seine Differenz aufzuheben.“118
Eben dies realisiert sich am Ende der Auslöschung im einzigen dialogischen und in seiner Radikalität und Tragweite verkannten Moment mit Eisenbergs Annahme des verschenkten Erbes sowie Muraus Dank: „Dieses Gespräch habe ich schon zwei Tage nach dem Begräbnis mit Eisenberg, meinem Geistesbruder, geführt und Eisenberg hat mein Geschenk im Namen der Israelitischen Kultusgemeinde angenommen. Von Rom aus, wo ich jetzt wieder bin und wo ich diese Auslöschung geschrieben habe, und wo ich bleiben werde, […] dankte ich ihm für die Annahme.“ (Aus 650f.)
117 Ebd., 188. 118 Ebd., 189.
2. Die ungeheure Schrift To be, or not to be, that is the question: Whether ’tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles And by opposing end them. To die – to sleep, No more; and by a sleep to say we end The heart-ache and the thousand natural shocks That flesh is heir to: ’tis a consummation Devoutly to be wish’d. To die, to sleep; To sleep, perchance to dream – ay, there’s the rub: For in that sleep of death what dreams may come, When we have shuffled off this mortal coil, Must give us pause – there’s the respect That makes calamity of so long life. (WILLIAM SHAKESPEARE, HAMLET, III, I, 56FF.)
2.1. I NTERTEXTUALITÄT 2.1.1. Zwischen Telegramm und Testament Gibt es (die) ‚Auslöschung‘ oder nicht? Schon am Beginn dieser Arbeit stand die Diagnose, dass in Thomas Bernhards Auslöschung analog zum Gedächtnisdiskurs Textinhalt und -theorie koinzidieren und einer Struktur folgen, die sich anschickt, eine Bewegung vom „Herkunftskomplex“ zum „Zukunftskomplex“ zu vollziehen, was auf fiktionaler Ebene der Verwiesenheit des ideellen Erbes (Onkel Georgs „Antiautobiografie“) auf das materielle Erbe (Wolfsegg) entspricht. Dieses wird nach einem langen Reflexionsprozess als „bedingungsloses Geschenk“ (Aus 650) unter Vermittlung
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von Eisenberg der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien vermacht. Der Text hingegen beantwortet die Frage, ob die vom Protagonisten in Aussicht gestellte ‚Auslöschung‘ in der Traditionsfolge von Onkel Georgs „Antiautobiografie“ tatsächlich geschrieben wird, nicht eindeutig. Entsprechend strittig und divergent nehmen sich die Positionen der Bernhard-Exegeten dazu aus. Wie lässt sich für das ideelle Erbe des noch ausstehenden Textes eine Parallele zur bedingungslosen Abschenkung des materiellen Erbes ziehen? Überwiegt die Tatsache, dass man sich mit einem materialen Text konfrontiert sieht, die ihm zugrunde liegende Unterstellung seiner Nichtexistenz bzw. die in ihm behauptete Aufschiebung seiner Realisierung? Wurde das Manuskript, wofern ein solches überhaupt (Von wem? Von Murau? Wo? In Rom? „Und zu welchem Nutzen? sagte ich mir jedesmal und war immer darauf gekommen, daß ein solcher Bericht zu gar keinem Nutzen sein kann“, Aus 198) angefertigt wurde, verbrannt1 (Von Maria? Vgl. Aus 541f., wie mutmaßlich Onkel Georgs „Antiautobiografie“? Vgl. Aus 188), oder hat ein von vielen Interpreten postulierter unbekannter Herausgeber Muraus Notizen gefunden, jene Hunderte und Tausende von Zetteln, die er angeblich vollgeschrieben (Aus 201) hat (auf der Carraramarmorplatte im Schreibzimmer seines Vaters im Jägerhaus? Aus 190) über seine „lebenslängliche Thematik“, seinen „Herkunftskomplex“ (Aus 201)? Die auf der Carraramarmorplatte aufgeschriebenen Notizen habe er wieder vernichtet „wie so vieles“, versichert Murau (Aus 190). Angenommen jener unbekannte Herausgeber hätte Notizen und Entwürfe zur ‚Auslöschung‘ nach Muraus Tod2 gefunden, hätte er sie bei Muraus kaum zu lesender Handschrift („[…] wenn ich schrieb, schrieb ich immer schnell und dadurch schlampig und, wie gesagt, beinahe unleserlich […]“, Aus 89) überhaupt entziffern können? Hätte er die „Hunderte und Tausende von Zetteln“ ordnen können?3 Hat, da in der Bernhard-Forschung weitgehend Konsens über den Zitatcharakter der Auslöschung besteht, der vielerorts bemühte unbekannte Herausgeber Muraus Text(e) richtig zitiert? Hat er die zahlreichen (Ausdrucks-,
1
Vgl. die Erzählerbemerkung in Siebenkäs, nach der der Protagonist (Siebenkäs) die Beschreibung seiner Gefühle durch den Erzähler ins Feuer geworfen hätte (Sk 453).
2
Der – soweit – keineswegs als sicher gelten kann, ebenso wenig dass die Eltern „unwiderruflich tot“ (Aus 25) sind, wie sich noch herausstellen wird; „‚[…] aber die meisten sterben vage, für das Auge vage, für das Gehirn vage, sind niemals tot. Gleich, worüber wir uns amüsieren, uns beschäftigt doch immer nur der Tod’, sagte er [Fürst Saurau, T.M.]. ‚Das ist am deutlichsten menschlich’, sagte er, ‚daß alles i m [meine Hervorhebung, T.M.] Tod geschieht.’“ (Ver 160)
3
Man denke an die letztlich scheiternden Versuche des Protagonisten in Korrektur, Roithamers Schriften zu sichten und zu ordnen.
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Grammatik- und Interpunktions-)‚Fehler’ übernommen oder selbst verschuldet? Zumal es für eine präzise Textanalyse auf jedes Komma ankommt, wie ich in diesem Teil der Arbeit noch demonstrieren werde und wie Murau selbst in Bezug auf seinen Janáček-Artikel, der im Corriere della Sera erschienen ist, betont: „[…] zweitens entdeckte ich in ihm schon beim ersten kurzen Durchlesen eine Reihe von unverzeihlichen Druckfehlern, also das Fürchterlichste, das mir passieren kann.“ (Aus 21) Wie ist im Zusammenhang mit der Zitatproblematik überhaupt der Kursivdruck aufzufassen? Markiert dieser ausschließlich Zitate? Und wenn nicht (nur), was wird dann (außerdem noch) hervorgehoben?4 Dies sind bei weitem noch nicht alle (Un-)Möglichkeitsbedingungen und Unsicherheiten, die den phänomenalen Status des manifesten Textes hinterfragen. Des Weiteren wären sie mit gravierenden intratextuellen Widersprüchen auf den fiktionalen Textebenen zu verbinden sowie der Unmöglichkeit, zwischen Sagen und Denken bzw. zwischen Äußern und Schweigen zu differenzieren, was in den folgenden Kapiteln zum Gegenstand der Untersuchung werden wird. Schließlich stellt sich jedem Interpreten die Frage, wie man sich überhaupt zu einem Text positionieren soll, dessen – vermeintlicher – Verfasser sich selbst widerlegt, der ständig maßlos übertreibt und amüsiert gesteht, ein „raffinierter Vertuscher [s]einer Abscheulichkeiten“ zu sein (Aus 471)? Ein lügender Autor, der seine Lügen offen zugibt, sagt ja wieder die Wahrheit! Auf mnemonischer Ebene gleicht dies der Phänomenalitätsproblematik des Textes: Wenn Murau alles, was in der ‚Auslöschung‘ verhandelt werden soll, auslöscht, so löscht er damit auch die ‚Auslöschung‘ selbst aus, die in ihrer Autoreflexivität ja gleichsam Gegenstand der zu verfassenden Schrift ist. Die auslöschende und ausgelöschte ‚Auslöschung‘ wäre folglich ausgelöscht, mithin nicht erfass- oder erinnerbar: Nichts. Jeder Versuch einer interpretatorischen Aneignung stürzt dabei unwillkürlich in einen regressus ad infinitum. Kurzum, nichts in/an diesem Text ist sicher, nicht einmal sein phänomenaler Status. Der Text ergeht sich in allen möglichen (und unmöglichen) Wendungen, um sich selbst zu unterminieren. Dementsprechend wird ihm auch nicht mit e i n e r Interpretation beizukommen sein, schon gar nicht mit einer widerspruchsfreien. Tatsächlich müssten es unendlich viele sein und diese müssten überdies
4
Der Kursivdruck würde eine eigene Untersuchung erfordern. Vorläufig ist zumindest festzuhalten, dass er keineswegs nur auf eine Zitatmarkierung oder Betonungsfunktion reduziert werden kann und an vielen Stellen rätselhaft, wenn nicht gar idiosynkratisch ist. Zumindest ist nicht auszuschließen, dass kursive Markierungen ‚fehlerhaft‘ sind und folglich auf eine Spur hindeuten, die mutmaßlich ins Leere läuft.
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stets unabgeschlossen bleiben. Da mit einer unendlichen Analyse nicht zu rechnen ist, bleibt nur die Option, das Vergessen und damit die Inkommensurabilität einzelner Textteile zu riskieren und im selben Zug immer wieder an dieses unvermeidbare Vergessen zu erinnern. Es war hier eben bewusst von „fiktionalen Textebenen“ die Rede, denn es wird zu explizieren sein, wie wiederholt scheinbar gesicherte Fiktionsebenen und wichtige Handlungselemente, sei es der Unfall der Eltern und des Bruders oder Muraus Reise nach Wolfsegg, die jeder Leser unterstellen muss, um folgende Textereignisse auf der Basis dieser Annahmen an- und einordnen zu können, durch den Text selbst in Zweifel gezogen werden bzw. miteinander unvereinbar sind. Gleiches gilt für die Erzählebenen, die der Errichtung von zeitlichen und örtlichen Differenzen dienen (sollen). Günter Butzer konstatiert in seiner Analyse der Narrationsebenen der Auslöschung, dass „die Auslöschung der Textsemantik […] mit der Auslöschung der Textstruktur korrespondiert“: „Ebensowenig wie die Erinnerung Muraus ein konsistentes Bild des Vergangenen entstehen läßt, führt das Gedächtnis des Textes selbst zu einer geordneten Erzählstruktur.“5 Desgleichen machen idiosynkratisch anmutende Wechsel zwischen Indikativ und Konjunktiv6 sowie inkohärente Tempusverwendungen Differenzierung und Zuordnung von ‚eigener’ und ‚fremder’ Rede unmöglich und kündigen jede Vorstellung einer linearen Ereignisabfolge auf. Butzer kommt zu dem Schluss, dass „[j]eder einzelne Satz die Möglichkeit zusammenhängenden Erzählens in Frage [stellt], und die Zerstörung der narrativen Strukturen, der Übergang von der Hierarchie zur ‚Heterarchie’ der Erzählebenen, […] zugleich ein wesentliches Moment der Auslöschung des Vergangenen [bildet] – denn was sich nicht erzählen läßt, ist auch nicht in der Erinnerung zu bewahren.“7 Von grundlegender Bedeutung für eine epistemische Aneignung des Textes ist der in der Forschungsliteratur zur Auslöschung nach wie vor viel diskutierte letzte Satz: „Von Rom aus, wo ich jetzt wieder bin und wo ich d i e s e [meine Hervorhebung, T.M.] Auslöschung geschrieben habe, und wo ich bleiben werde, schreibt Murau (geboren 1934 in Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom), dankte ich ihm für die Annahme [des Geschenks/des Erbes, T. M.].“ (Aus 651)
5
Butzer 1998, 250.
6
Siehe Butzers Analyse einer Passage der Auslöschung (Aus 364), ebd., 254.
7
Ebd., 256.
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Claude Haas hat sehr hellsichtig herausgearbeitet, dass auch der erste8 und letzte Satz eines mutmaßlichen Herausgebers von (Muraus) Auslöschung keinen bedeutungssichernden Rahmen bilden und mitnichten als Beleg für eine Realisierung seines Auslöschungsprojektes gelesen werden können9, da sich im letzten Satz die narrativen Instanzen der Erzählfigur Murau und des vermeintlichen Herausgebers überschneiden. Wie Butzer korrekt darlegt, muss sich die Deixis des Demonstrativpronomens „diese“ nicht nur auf den vorhergehenden Text beziehen, sondern auch auf den Satz, in dem sie verwendet wird, wodurch „[g]erade der Satz, der den Text abschließen soll, dessen Grenze [überschreitet].“10 Demzufolge bleibt ein Bruch im Rahmen, der den Fragmentcharakter des Textes unterstreicht und keine endgültige Beurteilung bezüglich der Vollendung des Auslöschungsprojektes (und damit der Selbstauslöschung Muraus) gestattet. Auch Steffen Vogt hält fest, dass „[…] unmöglich zu klären [ist], ob der fiktive Herausgeber Muraus Schrift präsentiert oder ob er selbst nur ein Produkt dieser Schrift ist.“11 Aus dem Kurz-
8
Man braucht über eine Vollendung der Schrift aufgrund des inhärenten Erbdilemmas nicht lange zu spekulieren, denn sie hat auch keinen Anfang, d.h. sie kann nicht einmal beginnen: „Die Schwierigkeit ist ja immer nur, wie einen solchen Bericht anfangen, wo einen tatsächlich brauchbaren ersten Satz einer solchen Aufschreibung hernehmen, einen solchen allerersten Satz. In Wahrheit, Gambetti, habe ich ja schon oft angefangen mit diesem Bericht, aber ich bin schon in dem allerersten aufgeschriebenen Satz gescheitert.“ (Aus 198) Dies entspricht der Hauptthese der leider wenig beachteten Interpretation Neumanns zur Auslöschung, die er über einen Vergleich zu Jean Pauls Siebenkäs aufstellt, wonach der Anfang immer schon von seinem Ende überschrieben ist. Siehe Gerhard Neumann, „Der Anfang vom Ende. Jean Pauls Poetologie der letzten Dinge im Siebenkäs“, in: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning (Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denkform (Poetik und Hermeneutik 16), München 1996, 481f. – Zum Begriff der ‚Hypertelie’ vgl. Wolfgang Welsch, „Vielheit ohne Einheit? Zum gegenwärtigen Spektrum der philosophischen Diskussion um die ‚Postmoderne’. Französische, italienische, amerikanische, deutsche Aspekte“, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), 125.
9
Claude Haas, Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa, München 2007, 208.
10 Butzer 1998, 264. Markanterweise reiht sich Butzer nichtsdestotrotz unter die Interpreten ein, die von einer Identität der vorliegenden Schrift mit Muraus Auslöschungsvorhaben ausgehen: „Vom letzten Satz aus betrachtet, muß jedoch der Text, zumindest gemäß der Intention des Erzählers, notwendig als ‚Auslöschung’ gelesen werden.“ 11 Vogt 2002, 127; auch er schließt sich schlussendlich der Gruppe derer an, die die Auslöschung als von Murau vollendet ansehen (darunter besonders euphorisch Pfabigan
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schluss der Erzählinstanzen ergibt sich die Möglichkeit, dass Murau selbst den Herausgeber – und mit antiautobiografischer Geste seine eigenen Lebensdaten – fingiert haben könnte, womit sein Tod sich nicht hätte ereignen können.12 Folglich sind die Positionen des Subjekts und Referenzobjekts nicht definitiv zu klären. Mit der Auflösung der Subjekt-Objekt-Grenze werden beide Instanzen ihrem Zerfall preisgegeben, was im Extremfall bedeutet, dass es weder Subjekt noch Objekt gäbe. Andererseits würde gerade eine stabile Subjekt-Objekt-Relation unweigerlich eine Mortifikation des Objekts nach sich ziehen. Ist diese nicht gegeben, so dass eine Objektivierung Muraus als Verfasser der Auslöschung aus der Position eines Herausgebers nicht gesichert ist, bleibt der Tod Muraus nicht verifizierbar. Subjektlos und von äußerst prekärer Phänomenalität ist der Text wahrlich als „ungeheure Schrift“ (Aus 614) zu bezeichnen. Was Murau mit seinem Auslöschungsunternehmen versucht ins Werk zu setzen, ist tatsächlich etwas „Ungeheuerliches und Einmaliges“ (Aus 614), geht es dabei doch um nicht weniger als um die Realisierung eines absoluten Textes: Text(e), Gegen-Text(e) und NichtText(e) in eins, die sich wechselseitig reflektieren, infiltrieren, kommentieren, korrigieren, komplementieren und unendlich perpetuieren 13 , was der romanti-
2009, 177 u. 181; ebenso Nienhaus 2006, 123, Helms-Derfert 1997, 148 oder Alexandra Barbara Scheu, „‚Ich schreibe eine ungeheure Schrift’. Sprache und Identitätsverlust in Thomas Bernhards ‚Auslöschung’“, in: Thomas Bernhard Jahrbuch 2004, 56). Diese Position ist umso erstaunlicher, als nicht wenige unter ihnen mit Blick auf Bernhards Œuvre intertextuelle Argumente bemühen, ohne zu berücksichtigen, dass schriftlich abzufassende Großprojekte, an denen die Protagonisten scheitern, ein spezieller Bernhard-Topos sind. Die Behauptung einer zum Abschluss gebrachten Verschriftung der ‚Auslöschung‘ müsste demnach über eine entsprechende Interpretation des letzten Satzes hinaus im Einklang mit der spezifischen Poetik des Textes sowie dem Begriff der „Antiautobiografie“ darlegen, wie und warum gerade der Protagonist der Auslöschung sein geplantes Schriftprojekt verwirklichen kann. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf Korrektur, denn hier gelingt dem Protagonisten Roithamer (angeblich) die Fertigstellung des perfekten Wohnkegels, was jedoch zum Tod des Adressaten, Roithamers Schwester, führt, sowie zum Selbstmord seines Schöpfers. Der Kegel inmitten des Kobernaußerwaldes bleibt im Verborgenen den Augen der Öffentlichkeit entzogen und ist dem Zerfall in der Natur preisgegeben. 12 Vgl. Haas 2007, 209. 13 Vgl. Lachmann 1990, 63: „Das führt dazu, sich zu fragen, ob nicht umgekehrt jede Rede, da sie zunächst den Status einer Gesamtheit hat, als Untermenge einer noch un-
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schen Konzeption eines absoluten Kunstwerks gliche, das alle Ideen, Kritiken und Gegenentwürfe in sich vereint, basierend auf der Vorstellung eines gerechten Gedächtnisses, das freilich ein (sich) erschöpfendes sein müsste. Nicht zuletzt diese wortwörtlich größenwahnsinnige und maßlose Ausrichtung drängt die Literaturwissenschaftler immer wieder zum Vergessen von Textdetails, die sich nicht ihrem Theoriedesign fügen, wie es für das Gedächtnis üblich ist, wenn es mit Unendlichem konfrontiert wird. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die meisten Interpretationen auf der Annahme beruhen, der manifeste Text sei die von Murau anvisierte Schrift, wenn dies auch – mindestens – eine andere Erklärung des letzten Satzes sowie eine Unterschlagung oder Umdeutung des Motivs der offenen Gruft voraussetzen würde. Allenfalls ist zu beklagen, dass solche Lektüren den radikalen Charakter des Textes verfehlen, weil sie ihn seiner Multidimensionalität, Spannung und Dynamik berauben, indem sie seine maßlosen Übertreibungen auf ein berechenbares Maß reduzieren. Indessen lässt sich die Komplexität und (buchstäbliche) Unerhörtheit14 des Textes nicht einmal auf seine Subjekt- (kein Autor, keine Autorität, die ihn steuern könnte) und Objektlosigkeit (kein Thema, dass sich definieren oder identifizieren ließe – Murau gibt zu, dass er „auch nach Jahren noch, nur einen ungefähren Begriff“ von dem hat, was er ‚Auslöschung’ nennt, vgl. Aus 615) beschränken, denn er ist auch nicht verortbar – was bedeutet, dass er nicht s t a t t hat –, folgt man der Textaussage, dass er (Von Murau?) in Rom geschrieben wurde, das als ausgewiesenes „Zentrum des Chaos“ die Außerkraftsetzung der konventionellen Raummuster von Rand und Mitte suggeriert: „Das Wort Italien ist auch für die Meinigen immer das Wort für chaotische Verhältnisse gewesen, für das Land der chaotischen Verhältnisse und sie haben mich oft gefragt, warum ausgerechnet in Italien ich mich sozusagen ansässig gemacht habe, wo doch die chaotischsten Verhältnisse überhaupt herrschten seit Jahrzehnten. Darauf hatte ich ihnen gesagt, daß es gerade diese chaotischen Verhältnisse seien, die mich Italien zu meinem Wohnort machen haben lassen, gerade Rom, wo die chaotischen Verhältnisse am größten sind, die Unberechenbarkeiten, die Unmöglichkeiten, wie ich ihnen gegenüber immer gesagt habe. Gerade weil Italien das chaotischste Land Europas, wahrscheinlich das chaotischste Land der Welt ist, habe ich zu ihnen gesagt, ist es mein Wohnsitz, Rom, das Zentrum des Chaos […].“ (Aus 393f.)
erkannten Totalität betrachtet werden könne. Jeder Text umschließt und ist umschlossen. Jeder Text ist ein produktives Produkt.“ 14 Zum Thema ‚Schweigen’ siehe Kapitel 2.4.4.
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Einst war Rom das Zentrum der europäischen Kultur und Politik, die Metropole, von der aus die (aufständischen) Provinzen kontrolliert und regiert wurden. Man betrachtete das Besondere aus dem Allgemeinen heraus. Informationen wurden gesammelt, übersetzt und gewichtet, Pläne erstellt, Direktiven erarbeitet und erteilt, um Differenzen zu harmonisieren, um die Peripherie an das Zentrum zu binden und somit die Stabilität der hierarchisch strukturierten Ganzheit zu gewährleisten. Heute jedoch gibt es keine ordnungsstiftende Metakultur, kein funktionierendes Herrschaftszentrum. Entsprechend zersplittert präsentiert sich der Text: Er zerfällt in Einzelteile, die sich nicht mehr auf ein intaktes Zentrum hin ausrichten lassen. Den Zentrifugalkräften der ‚Äußerungen‘ stehen keine Gleichgewicht erzeugenden Bindekräfte einer Zentralmacht gegenüber. Der arabeske Text ist so zergliedert, dass kein Gedächtnis ihn mit einer bilanzierenden und totalisierenden Anamnese einholen könnte, es sei denn in einer unendlich prozessualisierten. Gleichwohl ist die Vorstellung eines Zentrums für die Definition des Chaos ebenso konstitutiv wie umgekehrt. Das, was der Antiautobiograf ansteuert, ist nur unter der Prämisse eines funktionierenden Zentrums, die Aushebelung der Logik nur inmitten der Logik selbst, denkbar. Die postmoderne Welt ist multipolar und bildet kein Ganzes. Vielmehr besteht sie aus zahllosen Differenzen und Übergängen. Man lebt im Zwischen15, von wo
15 Italien und Rom sind, anders als bei Goethe, nicht mehr Orte der Sehnsucht, sondern vielmehr Orte „einer Zwischenzeit“, Paola Bozzi, „Zimmer mit Aussicht? Thomas Bernhard im Gasthof Italien“, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9 (1999), Nr. 7, zit. n. Nienhaus 2006, 135. Nienhaus skizziert das Rom-Bild Bernhards als „Umkehrung des von Goethe geprägten Mythos der ‚Wiedergeburt’ in Rom“. Diese Auffassung kollidiert jedoch mit Muraus emphatischen Idealisierungen des Renaissance-Palastes. Eine Anti-Haltung zu Goethe ließe sich aber aus dem Textmotto der Auslöschung ableiten, das als buchstäbliche Umschreibung des Leitgedankens „et in arcadia ego“ zur Italienische[n] Reise rezipiert werden kann, den Goethe „aus der Ausgabe letzter Hand strich“, da er sich offensichtlich „der Deutungswidersprüche dieser ikonographischen Tradition des ‚Todes in Arkadien’ bewusst war.“ Siehe Malkmus 2009, 284. Völlig anders als Goethe ist Murau zudem nicht von Rom begeistert, weil Vergangenheit und Gegenwart in einem harmonischen Nebeneinander ausbalanciert sind, sondern weil er im Gegenteil die Beharrungskräfte des Alten und die Fliehkräfte des Neuen bis zum Zerbersten in einem Spannungsverhältnis sieht. Vor diesem Hintergrund bringt er Gambetti gegenüber seine Faszination von Rom zum Ausdruck: „Es ist explosiv hier, das paßt mir […], das liebe ich.“ (Aus 208) Sie-
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aus es u n m ö g l i c h ist, sich ‚die’ Realität anzueignen und gleichsam ‚die’ Auslöschung zu schreiben, weil die Singularität ‚Wolfsegg‘ (oder ‚Auschwitz‘ oder ‚Muraus Leben‘ etc.) u n b e r e c h e n b a r , unbilanzierbar ist16 und dementsprechend nicht (angemessen) ausgesprochen oder beschrieben werden kann. Alexander Garcia Düttmann erläutert Funktion und Beschaffenheit dieses ‚Zwischen’, das zwischen ‚Eigenheit’ und ‚Fremdheit’ nur als unverortbare Differenz aufzufassen wäre, als „Un-eins-Sein“, als „Offenheit“17. Somit wäre die Auslöschung (aus dem „Zentrum des Chaos“) als ein Ent-wurf zu sehen, als work in progress, als ‚Übergangstext’.18 Diese – räumlichen und zeitlichen – Übergänge verbürgen die jeweiligen Über-schriften der beiden Texthälften: „Telegramm“ und „Testament“. Sie weisen sich als (spatial und temporal) distanzierte Schriftbewegungen aus, die sich nicht im Hier und Da ereignen, insofern sie eo ipso die (Selbst-)Präsenz ihrer Schrift leugnen. Die (angeblich) zitierten UrTexte befinden sich (stets) an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. In „Telegramm“ vernimmt Murau den Einbruch der Katastrophe und setzt sich (scheinbar)19 aus der Distanz mit Wolfsegg, seinem „Herkunftskomplex“, auseinander (von wo aus das Telegramm von Caecilia und Amalia geschrieben und abgeschickt worden sein soll). In „Testament“ begibt er sich (vermeintlich) an diesen „Ursprungsort“ (Aus 16), der sich jedoch gerade nicht als Ursprungsszene präsentiert: Die Festdekoration ist längst gegen die Begräbnisdekoration ausgetauscht worden („Mit welcher Schnelligkeit sie die Szene verwandelt haben, dachte ich“, Aus 363), das beendete Fest (die Hochzeit Caecilias) war ab
he auch Uwe Betz, Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe. Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme, Würzburg 1997, 69, der Rom ebenfalls als Ort der Verbundenheit der Gegensätze missversteht. 16 Vgl. die unauffindbare, von Murau verschwendete „Unsumme“ (Aus 603) in den Bilanzbüchern Wolfseggs. 17 Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1997, 78. 18 Hier lassen sich unschwer Verbindungen zur ‚Junggesellenmaschine’ und „Eisenbergrichtung“ dienstbar machen. 19 Wie im Kapitel 2.5.3. Heterochronie/Heterotopie noch auszuführen sein wird, bleibt diese Distanz eine unwägbare, denn Rom lässt sich nicht einfach als Antipode von Wolfsegg denken, zumal beide womöglich wölfisch-mythischen Ursprungs sind und einem archaischen Bruderkampf entstammen. Vgl. Peter Fuß, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien 2001, 433.
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origine mit Insignien des Todes versehen20 sowie als Theater ausstaffiert, was jede Vorstellung eines genuin ursprünglichen Ortes als Illusion denunziert. Das heißt, in der Auslöschung gibt sich bereits die mutmaßliche Ursprungsszene als künstliche, kostümierte und dekorierte, die zudem mit der Totenjacke des Großvaters, den „mindestens hundert Jahre alten Kostüme[n]“ (Aus 343) der Hochzeitsgesellschaft und der Namensgebung durch den Vater bei der Vermählung in ihre diversen kulturellen und historischen Traditionen eingeschrieben ist und somit ihre Bedingtheit offenlegt. Der behauptete Ursprungsort präsentiert sich seit ehedem als dislozierter. Gleiches gilt für die diffusen, asynchronen Zeitebenen des Textes. Die oben genannten inkommensurablen Tempus- und Moduswechsel widerstreben einer linearen Zeitstruktur, wie sie etwa konventioneller Autobiografik eignen würde, die mit dem Wissen vom faktischen Ende der Erzählung in einer zirkulären Bewegung den Prozess nachzeichnet, der zu den bereits vorausgesetzten Ergebnissen führt und dabei ein Kontinuum der Realität zur Schreibgegenwart fingiert. Diese Sukzession wird als authentische Ordnung des Lebens begriffen. Tatsächlich aber wird die Ordnung des Erzählens durch ein außerästhetisches Moment, die chronologische Gliederung, vorgegeben.21 Diese Ordnung ist jedoch ein Simulakrum der Regression-Progression der Schriftbewegung, die ihre immanenten Brüche und Umschläge in der Sukzession des Schreibprozesses überschreibt: „Eine Rückkehr zum Erzählstandpunkt findet […] nur im Medium der Schrift selbst, nicht aber als kontinuierlicher Bewußtseinsprozess statt. Wo dieser reflektiert wird, rückt vielmehr die Unaufhebbarkeit der Distanz zum Vergangenen in den Vordergrund. Die [vorgebliche] Zirkelhaftigkeit ist ausdrückliches Zeichen der Autoreferentialität des Textes und nicht der tatsächlichen Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart.“22
20 Der Schwager trägt als Bräutigam eine „Totenjacke“, die Jacke, in der Muraus Großvater ums Leben kam (Aus 342) und der konstitutive Höhepunkt, der Akt der Vermählung, ist von Vergessen und Namensgebung gekennzeichnet, da der betrunkene Pfarrer die Namen des Brautpaars vergisst, die ihm vom Vater souffliert werden müssen. (Aus 346f.) – Mit van Gennep handelt es sich bei der Jacke um ein Element eines Angliederungsritus. Van Gennep 1986, 37. 21 Vgl. Michaela Holdenried, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg 1991, 143. 22 Ebd., 149.
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Insofern folgt auch die Zeitstruktur der Auslöschung einem antiautobiografischen Gestus. Was die absolute ‚Auslöschung‘ ins Werk zwingen will, liegt un(be)greifbar anderswo, in einer ‚anderen‘ Zeit. Der Text gleicht einem kafkaesken Telegramm ohne Sender und Empfänger, das nie ankommt, und einem Testament, das nie geöffnet und nie vollstreckt wird. Was sich vermeintlich vollzieht, sind nichts als synthetisierende, auf Vergessen(em) fußende Effekte des Gedächtnisses, das über den Zerfall der Auslöschung hinweg dem Text eine lineare Ordnung oktroyiert und ihn als ‚Geschichte‘ liest, über deren Vorhandensein und Unschlüssigkeit man sich nur wundern kann. 2.1.2. Das Gedächtnis der Namen und Texte Bemerkenswerterweise herrscht – anders als in Bezug auf den ‚Zitatcharakter’ der Auslöschung – in der Bernhard-Forschung Uneinigkeit hinsichtlich der intertextuellen Funktion des Kanons (Siebenkäs von Jean Paul, Der Prozeß von Franz Kafka, Amras von Thomas Bernhard, Die Portugiesin von Robert Musil und Esch oder Die Anarchie von Hermann Broch, Aus 7f.), den Murau zum Kernprogramm des Literaturunterrichts für seinen Schüler Gambetti erhoben hat. Die umgreifende Ablehnung, dieser Lektüreliste eine Funktion zuzusprechen, dürfte vor allem darin begründet liegen, dass sich keine Konzepte oder Formeln finden, die auf alle Texte anwendbar wären. Wofern sich solche formulieren lassen, wird sich immerzu mindestens einer der fünf Texte nicht widerstandslos einsortieren lassen. Eben dies stimmt jedoch in typischer Weise mit der Poetik der Auslöschung überein. Christine Lubkoll will in diesem Kanon schlicht eine Nennung von Autorennamen und Werktiteln sehen, während „[m]otivische Parallelen, Affinitäten der Figuren oder gar Systemreferenzen an keiner Stelle des Romans offengelegt [werden].“23 Dies ist allein schon insofern höchst problematisch, weil ‚Namen’ im er-
23 Zit. n. Christoph Kappes, Schreibgebärden. Zur Poetik und Sprache bei Thomas Bernhard, Peter Handke und Botho Strauß (Epistemata, Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft Band 559), Würzburg 2006, 196, Anm. 1. Die kanonischen Texte sind sehr wohl an die Auslöschung anschließbar (und wären es auch, wenn sich ihre strukturellen und inhaltlichen Merkmale weitaus heterogener präsentieren würden, als es der Fall ist), wenn man sie sich nicht in einer genealogischen, sondern rhizomatischen Beziehung vorstellt, die nicht im Herkunftskomplex gründet, sondern dem Zukunftskomplex zustrebt. Freud unterstellt dem Traumtext (Kapitel 4.2.3.) eine Pilz-Struktur und spricht von einer rhizomatischen Verflechtung.
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schöpfenden, intertextuellen, (Namens-)Gedächtnis der Auslöschung in mannigfaltiger Weise überdeterminiert24 sind, so dass prinzipiell von (der Möglichkeit) einer bloßen Nennung keine Rede sein kann, obwohl eine Dissemination der Namen unbestritten zum Kern des Auslöschungsprogramms gehört. In diese Überlegung wäre einzubringen, dass Murau, der sich seines exzellenten Namensgedächtnisses rühmt (Aus 453), anonym in Rom wohnt (Aus 275), dass er, wie schon angesprochen, den Namen der Philosophen plötzlich keinerlei Bedeutung mehr beimessen kann (Aus 158) sowie seinen stets nur als „Weinflaschenstöpselfabrikant“ verspotteten Schwager namentlich nie erwähnt, dass er überdies eine Schrift mit dem Titel „ALEXANDER, MEIN PHANTAST“ erwägt (Aus 521), bei der er den Namen zu tilgen gedenkt, da er ihn für „[g]rundlos“ (!) hält.25 Gänzlich explosiv und erschöpfend wird die Betrachtung, wenn man zudem die exzessiven Namensspiele in Rechnung stellt, die die Intertexte selbst durchziehen, was hier nur kursorisch ohne Anspruch auf Vollständigkeit möglich ist: die Similarität der Namen zweier zentraler Frauenfiguren der Wilhelm-MeisterRomane mit Maria (Mariane und Makarie); der Name K. des Protagonisten in Amras, der sich als eine Referenz zu Kafka anbietet; die inzestuöse Signatur der ersten beiden Briefe der Brüder – „K. M. W. M.“ (Am 10) –, die sowohl den Zusammenbruch ihrer Individualitäten als auch ihre Unzertrennlichkeit sugge-
Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, „Traum-Text-Kultur. Zur literarischen Anthropologie des Traumes“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1997, 132. 24 Dies gilt umso mehr unter der Bestimmung der Auslöschung als Traumtext, der per se überdeterminiert ist. Vgl. ebd., 133. Zur Illustrierung bietet sich die Szene aus Kafkas Proceß an, in der K. sich mit der Frage nach dem beliebig gewählten „Tischler Lanz“ Zugang zum Gericht verschafft (Pro 55f.). Zu den „Namen und Stimmen der Literaten und Philosophen“ bei Bernhard siehe auch Betz 1997, 62ff. 25 Man kann die Namen zeitweilig von ihrer Referenz kappen (der Mutter im Traum den Kopf abschlagen) – und Murau tut dies mit den Namen der Philosophen –, aber wie gefeit sein vor der Wucht der Rückkehr des gesamten Verweisungssystems? Mit einem einzigen Wort, ja sogar einem einzigen Buchstaben oder Zeichen kehren alle (möglichen) Bedeutungen potentiell zurück. Eben dies markiert die Grenze der möglichen ‚Auslöschung‘: Alles bis auf ein Wort auslöschen (Aus 209) – und an diesem bleibt die Totalität der Morphizität und Metaphorizität unüberschreitbar und unauslöschlich erhalten. Dieser letzte Name, der zweifellos ‚Gott‘ oder ‚dem Anderen‘ vorbehalten wäre, ist unüberwindbar.
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riert26; überdies teilt Walter die Initialen seines Namens auffällig mit Wilhelm Meister; der Namenstausch zwischen dem „Falschnamenmünzer“ (!) (Sk 391) Siebenkäs und Leibgeber und dem damit einhergehenden Verlust des mütterlichen Erbes (!), die Doppelung und Überdeterminierung der Namen, die Jean Paul im Siebenkäs vornimmt27 (Siebenkäs als „Firmian“, Lenette als „Wendeline“), das Versteck- und Variationsspiel, das er mit seinem eigenen Namen bei der Unterzeichnung diverser Vorreden betreibt28 (Sk 12, 28, 151), die Geburtsund Namensgebungsszene Leibgebers29 (Sk 376f.), der Amtsantritt von Siebenkäs in Vaduz an seinem Namenstag (Sk 387); Eduard in den Wahlverwandtschaften, der eigentlich Otto heißt und die Initialen E und O des nicht zerbrochenen Glases als Zeichen seiner schicksalhaften Zusammengehörigkeit mit Ottilie missversteht (Wv 334, 484); August Esch, dessen Name selbst den Anfang des Endes, der Eschatologie, markiert und der, statt die neue Welt Amerika zu erreichen, (wie Siebenkäs als Beamter auf seinen Namen zurückgeworfen30) an seinem Ursprungsort in Luxemburg endet, ohne zu wissen, ob Ernas Kind, „das […] Lohbergs Namen tragen würde“ (Esch 214), nicht vielleicht seines war; Kafkas Namensspiele sind allgemein bekannt31, so dass sie hier nicht in extenso aufgeführt werden müssen; nachdem K. Fräulein Bürstner auf den Hals (!) geküsst hat, will er sie beim „Taufnamen“ nennen, weiß ihn aber nicht (Pro 48); Autor- und Protagonistenname des Proceß fallen im Vornamen der Hauptfigur der Auslöschung, Franz-Josef Murau, zusammen, der Familienname Murau folgt einem kafkaschen Prinzip der Namensgebung (und dem Namen des Protagonisten von Verstörung: Saurau), nach dem die Vokallaute in den Namen seiner Helden seinen eigenen nachahmen (z.B. ‚Samsa’ oder ‚Bendemann’)32; in Kafkas
26 Vgl. Jung 2009, 94f. 27 Vgl. Neumann 1996, 486. 28 Vgl. Michel 2006, 157ff. 29 Ebd., 150f. Vgl. Margret Walter-Schneider, „Der zerbrochene Umriss. Über den Romancier Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 37 (2002), 211. 30 Vgl. Sayed Ahmad Fathalla Abouzid, Hermann Brochs Romane als Epochenanalyse und Zeitkritik, Frankfurt am Main 2001, 118. 31 Jansen 2005, 193, Anm. 372. 32 Im Proceß z.B. erfolgt mit der Figur ‚Fräulein Bürstner‘ ein typischer Verweis auf seine Verlobte Felice Bauer. Jansen argumentiert darüber hinaus, dass auch zwei weitere zentrale Figuren in Auslöschung, Georg (Das Urteil) und Amalia (Das Schloss), Träger von bedeutsamen Namen aus Kafka-Texten sind. Ebd., 193. Helms-Derfert 1997, 167, Anm. 367, hingegen will die Namen der Schwestern biografisch fundiert wissen.
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Proceß versucht K., eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten, der eine kurze „Lebensbeschreibung“ beigefügt werden soll (Pro 149); auch Murau meint, seine Existenz rechtfertigen zu müssen (Aus 201). Der Begriff der „Antiautobiografie“ deutet aber im Spiegel des Prozeß auf die ‚Gegenrichtung’ hin: dem Zwang zur Festlegung, zum Geständnis, ja dem Todesurteil zu entkommen – was K. versäumt, indem er „aus Neugierde“ auf die Ausrufung seines Namens durch den Gefängniskaplan im Dom reagiert (Pro 286f.). Das Projekt einer Antiautobiografie ließe sich allgemein als Maxime der Literatur Kafkas formulieren, sich der genealogischen Prägung durch den väterlichen Namen zu entziehen.33 Eben diese Problematik schlägt sich (analog zur Nord-Süd-Problematik) in Musils Erzählung Die Portugiesin im Doppelnamen der Hauptfigur „von Ketten“/„delle Catene“ nieder, während seine Frau, die Fremde, fortwährend nur „die Portugiesin“ genannt wird. Systematisierbar sind alle diese Namensspiele und -bezüge kaum, sie befinden sich jedoch im Sog des genealogischen Machtspiels, von dem die Simonides-Legende Zeugnis ablegt, gravitieren um das dunkle Zentrum der Identität und der Wahrheit und lassen sich über all die (scheiternden) Heiraten (oder Nicht-Heiraten der Junggesellen: Josef K. in Proceß, K. in Amras) sowie all die Kinder (von Kettens Kinder, Ernas Kind, das möglicherweise von Esch stammt, Felix von Wilhelm Meister), einschließlich der toten (in Siebenkäs das Kind von Lenette und Stiefel sowie jenes uneheliche, das Everard Rosa von Meyern offensichtlich töten ließ, Sk 86, außerdem K.s Bruder Walter in Amras oder Mignon aus Wilhelms Meisters Lehrjahre[n] und Otto aus den Wahlverwandtschaften) sowie der ungeborenen (wie jenes, das sich Esch vergeblich von Mutter Hentjen wünscht, E 215) der Junggesellenmaschine zurechnen, die eine Textbewegung vom Herkunftskomplex zum Zukunftskomplex implementiert, indem sie die Flucht aus der genealogischen (Sprach-)Ordnung betreibt, um die Vererbung des väterlichen Namens über die Junggesellenfiguren ausklingen zu lassen. Gegen eine Resemantisierung der Namen und eine Rematerialisation der (literarischen) Gespenster, die den Text unausgesetzt heimsuchen, kann man sich indessen nicht immunisieren. Allein mit der Rückkehr eines einzigen Namens droht die Entfaltung eines unendlichen, nicht zu bändigenden Verweisspiels. Paradigmatisch dafür steht das Vergessen der Namen des Brautpaares bei Caecilias Hochzeit, die dem Pfarrer jedoch vom Vater wieder eingeflüstert werden, worauf nochmals zurückzukommen sein wird.
33 Vgl. Neumann 1990, 12ff.
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Georg Jansen bestimmt Auslöschung zwar als „ein Panorama der literarischen Formen und Schriftlichkeitserzeugnisse“, lässt aber hinsichtlich des Kanons ausschließlich intertextuelle Bezüge zu Kafka gelten, während er „inhaltlichsubstantiellen bzw. hermeneutischen Relationen“ 34 zu den im Text genannten Autoren eine Absage erteilt. Seine vergleichende Analyse von Auslöschung und Proceß ist zweifellos erhellend, entledigt sich jedoch leichtfertig der anderen Referenztexte, indem er den nach seiner Auffassung exponierten Status des Proceß letztlich auch dadurch rechtfertigt, dass er die übrigen Texte der von Murau verabscheuten „Beamten- und Angestelltenliteratur“ (Aus 608) zuordnet, wogegen „[a]usgerechnet der Angestellte unter den großen deutschen Schriftstellern keine ‚Büroliteratur’, keine ‚Angestelltenliteratur’ [schreibt], sondern ‚große’ Literatur […].“35 (Aus 608) Indessen entgeht ihm, dass sich die Texte des Kanons, wie noch zu explizieren sein wird, in unterschiedlicher Weise auf den Begriff der „Beamtenliteratur“ beziehen und darüber hinaus an den Auslöschungsbegriff, die Auslöschungspoetik, den Muttermord sowie die „ungeheure Schrift“ des Bernhard-Textes anschließen lassen. Jansen macht für sie stattdessen die intertextuelle Funktion der Syllepse geltend, wodurch er den Textsinn der Referenztexte verdrängt sieht.36 Dabei scheint er jedoch zu verkennen, dass der Oberflächentext die Bedeutung des verdrängten Textsinns latent präsent hält, wie Renate Lachmann, auf die Jansen hier rekurriert, in ihren Untersuchungen zur Intertextualität deutlich macht.37 Folglich bietet das Argument der ‚Syllepse’ keinerlei
34 Jansen 2005, 11. 35 Zit. n. ebd., 128f. 36 „[…] der gegebene Oberflächentext [verdrängt] anderen möglichen Textsinn“; „indem die Eliminierung selbst einen Text hervorbringt“, erweist gerade die Verdrängung des ursprünglichen Sinns einen „textgenerative[n] Aspekt“: „[D]er verdrängte Sinn erscheint als verbale Sequenz“; Lachmann 1990, 59; zit. n. Jansen 2005, 75f. 37 Jansen missversteht hier „Syllepse“ als schlichte ‚Verdrängung’, wenn nicht gar als „Destruktion“. Vgl. ebd., 205. Dies ist jedoch, wofern die Syllepse überhaupt geltend zu machen wäre, unzutreffend. Lachmann, die ihre Ausführungen zur Syllepse auf Michael Rifaterre stützt, der darin die Begriffe der Überdeterminierung mit dem des Anagramms verbindet, führt dazu aus: „Die Syllepse […] fängt das Aufeinandertreffen des manifesten Textes mit jenem Bezug zum fremden Text auf, den er [Rifaterre, T.M.] ‚Intertext’ nennt. Die Konsequenz, die er in einer Vielzahl minutiöser Analysen vorführen kann, in denen die Stilspuren anderer Texte als sinnbildend (den Doppelsinn bildend) aufgedeckt werden, ist die Notwendigkeit der zweiten Lektüre, die der ersten, welche den Text noch eindeutig, univok, vorfindet, folgt und ihn zweideutig, äquivok, macht. Aus beiden Lektüren resultiert eine Unentscheidbarkeit, Garantie für
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Basis für eine von Jansen intendierte und der Auslöschung unterstellte Eskamotierung des Textsinns der Referenztexte.38 Das Bestreben, die übrigen kanonischen Texte für irrelevant zu erklären bei gleichzeitiger Geltendmachung von Bezügen zu Kafkas Proceß, ist umso erstaunlicher, als er seiner intertextuellen Lektüre der Auslöschung einen sehr offenen Intertextualitätsbegriff supponiert und dessen Effekte – weitestgehend – zutreffend beschreibt: „Das in Auslöschung zum Tragen kommende intertextuelle Verfahren geht über die literarische Intertextualität hinaus und reflektiert die Tatsache, dass das literarische Werk einerseits die Konstellation der schriftlich verfassten Werke nach einer Leerstelle abliest und sich in diese Konstellation, in diesen Kanon selbst einschreiben will, selbst mit, indem es den Kanon als Tradition wahrnimmt und reflektiert, aber auch über ihn hinausgeht und, indem er etwas in seiner Weise bisher nicht Gesagtes sagt, selbst einen Platz in dieser Konstellation einnimmt und sie verändert. Auslöschung erachtet jedoch den Teil der sprachlichen Überlieferungen, der sich nicht in als literarischen [sic] akkreditierten Werken manifestiert, sondern bloß mündlich weitergegeben wird oder in nichtliterarischen Zeugnissen steht, als gleichrangig in seiner Bedeutung als Materialgrundlage für den entstehenden Text. Der als Protokoll seiner eigenen Entstehung gelesene Text kommt zustande, indem er sich vorbehaltlos und mit gleicher Aufmerksamkeit den unterschiedlichen Quellen öffnet, aus denen ihm Sprachliches zuströmt. So kann, wie in Auslöschung der Fall, ‚der Prozeß der Textkonstitution selbst als ein Prozeß der produktiven Intertextualität aufgefasst werden, insofern der Text aus einer Folge von Verbesserungen, Erweiterungen, Umstellungen etc., d.h. aus einer Varietät von ‚Fassungen’ hervorgeht.‘ Diese produktive Intertextualität ist nicht nur als am Entstehungsprozess beteiligte anzunehmen, darüber hinaus führt der Text seine Entstehung aus verschiedenen Fassungen selber beschreibend vor. Insofern ist der Text das Protokoll eines intertextuellen Austauschprozesses, der in gleicher Weise fremde und eigene, fragmentarische und vollendete, reale und fiktive Texte an ein Unternehmen vermittelt, das zum Ziel hat, aus und mit den vermittelten Texten selbst einen originellen Text zu schreiben.“39
das semantische Fortleben des Textes, die immer neue Sinndifferenzen abrufen läßt. Die Analyse des doppelt kodierten Textes muß, so scheint es, berücksichtigen, daß die intertextuelle Doppel- und Mehrfachkodierung keine fixe Größe ist. Der Zeichenkomplex der latenten Kodierung kann aus dem kulturellen Gedächtnis (zumindest vorübergehend) verschwinden.“ Lachmann 1990, 59. 38 Die Abwendung von Textsinn, die Jansen hier anvisiert, würde eher nach jenem Intertextualitätsmodell funktionieren, das Lachmann ‚Tropik’ nennt. Ebd., 39. 39 Jansen 2005, 73f.
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Diesem Befund ist in den meisten Punkten zuzustimmen, wenn auch nicht in allen. Völlig zu Recht macht Jansen zwei Ebenen von Intertextualität in der Auslöschung aus: zum einen den Bezug des Textes zu einer Multiplizität von verschiedenen Fassungen seiner selbst, die in ihm angelegt sind und ausgelotet werden, zum anderen die Rekurrenz auf alle anderen Texte. Nach seinem Dafürhalten ist die Auslöschung indes eine vollendete ‚andere’ Auslöschung, die in der Reflexion über die unmöglich zu realisierende im Verlauf des Schreibprozesses entsteht und sich anstelle der eigentlich geplanten, aber nicht zu verwirklichenden Schrift präsentiert. 40 Dass diese Protokollierung ihrer eigenen Entstehung aber nicht möglich ist, weil der Mensch keine „Denkmaschine“ ist (Aus 157), wurde zuvor im Kontext der Junggesellenmaschine erörtert. Doch selbst aus Jansens Perspektive wären in Anbetracht des Totalitätsstrebens der Auslöschung die Differenzen und Defizite im Vergleich zur ursprünglich intendierten ‚Auslöschung‘ allemal in Rechnung zu stellen, um wenigstens annäherungsweise eine Vorstellung vom Begriff der ‚Auslöschung‘ zu bekommen. Meine Kritik an Jansens Position richtet sich indes vor allem gegen die Behauptung, „[d]er als Protokoll seiner eigenen Entstehung gelesene Text [käme] zustande, indem er sich v o r b e h a l t l o s [meine Hervorhebung, T.M.] und mit gleicher Aufmerksamkeit den unterschiedlichen Quellen öffne[]“. Ein solcher Vorbehalt lässt sich meines Erachtens – unter anderem – nachgerade im Kanon erkennen und gerät zum zentralen Aspekt einer allgemeinen Reflexion über deutsche Literatur, deren Innovationsbedarf der Protagonist der Auslöschung für akut hält. Dazu gleich mehr. Zweifellos gibt es ein osmotisches Moment im Text-Kultur-Kontakt, bei dem sich ein Text in die Gesamtmenge der Kulturzeichen wie in einen Außenraum einschreibt und diese gleichsam wiederholt, „indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt. […] Der Gedächtnisraum ist auf dieselbe Weise in den Text eingeschrieben, wie sich dieser in den Gedächtnisraum einschreibt.“41 Dies besagt, dass jeder Text intertextuell sein muss, da er nur zeichenhaft sein kann, wenn er auf andere Zeichen und Texte verweist, wobei er unweigerlich seine „punktuelle Identität“ aufgibt.42 Dass Literatur als Gedächtniskunst an dem von der Mnemotechnik geprägten Zeichenrepertoire partizipiert, stellt sich dem
40 Ebd., 11. Jansen appliziert hier Klaus Jeziorkowskys Interpretation, nach der der Proceß-Text zunehmend die kontinuierlich aufgeschobene Eingabe überschreibt, auf die Auslöschung. Siehe Jeziorkowsky 1994, 213. 41 Lachmann 1990, 35. 42 Weinberg 2006, 572f.
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Protagonisten der Auslöschung mit seinen auf Totalität ausgerichteten Auslöschungsbemühungen als eine Art ‚Gedächtnisfalle‘ dar, weswegen seine Gedanken umso intensiver um eine mögliche Umsetzung seiner Schreibpläne kreisen. Es bleibt indes die Möglichkeit der Überbietung dieses Repertoires, „indem das Innen des Gedächtnisses veräußerlicht, die Beziehung des Innen-Außen selbst thematisiert wird.“ 43 Das bedeutet, dass die Texte als ausgelagerte, manifeste Zeichen zur Repräsentanz der allgemeinen Memoria werden – was für mündlich artikulierte Zeichen gleichermaßen gelten würde: „Jeder konkrete Text als entworfener Gedächtnisraum konnotiert den Makro-Gedächtnisraum, der die Kultur repräsentiert oder als der die Kultur in Erscheinung tritt.“44 Damit illustriert Intertextualität „das Immer-Wieder-Sich-Neu-und Umschreiben einer Kultur“45, die sich ihrer Zeichen einerseits versichert, andererseits ihren Zeichenfundus immer wieder neu definiert. Schreiben wird somit simultan zur Gedächtnishandlung und Neuinterpretation, womit sich mit Blick auf die zu verfassende ‚Auslöschung‘ in einem in Aussicht gestellten Schreibakt die dilemmatische Struktur des Erbproblems wiederholt. So wie Muraus Traum, sich von den genealogischen Wurzeln seines Elternhauses und Ursprungsortes Wolfsegg losreißen zu können, zugleich eine wenigstens partielle Reaffirmation und gleichzeitige Dezision bezüglich des Erbes bedingt, so bleibt er in der Hoffnung, mit seinem Auslöschungsprojekt eine neue Epoche der Literatur einzuläuten, auf ein Textfundament angewiesen, dessen Tradierung und Transformierung der Etablierung einer ‚neuen‘ Literatur dienen soll, wobei es um eine generelle historische Verortung, eine notwendige Standortbestimmung geht, um die Sicherstellung von (noch) unbekanntem Terrain, von wo aus das Neue erst anvisiert und die Aneignung des Erbes möglich wird, um sich von der „von den Leitzordnern unterdrückte[n] […] Büroliteratur“ absetzen zu können: „Jedes deutsche Buch, das wir aufmachen, und das in diesem Jahrhundert entstanden ist, habe ich zu Gambetti gesagt, ist ein solches von den Leitzordnern unterdrücktes. Eine von Leitzordnern unterdrückte und schon beinahe zur Gänze vernichtete Literatur schreiben die Deutschen, habe ich zu Gambetti gesagt. […] Und diese heutige, von den Leitzordnern unterdrückte Literatur, ist naturgemäß dadurch die erbärmlichste, eine solche hilflose erbärmliche Literatur hat es niemals vorher gegeben, habe ich zu Gambetti gesagt. Es ist eine lächerliche Büroliteratur, die von Leitzordnern diktiert ist, so jedenfalls kommt es mir
43 Lachmann 1990, 36. 44 Ebd., 36. 45 Ebd.
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jedes Mal vor, wenn ich ein heute geschriebenes Buch lese. Alle diese Bücher seien von einer grenzenlosen Erbärmlichkeit, […], weil sie aus dem Kopf von Leuten kommen, die sich vollkommen von den Leitzordnern beherrschen lassen, lebenslänglich, Gambetti, habe ich gesagt. Eine kleinbürgerliche Beamtenliteratur haben wir vor uns, wenn wir die deutsche Literatur vor uns haben, auch die großen Beispiele dieser deutschen Literatur sind nichts anderes, Gambetti, Thomas Mann, ja selbst Musil, sagte ich, den ich von all diesen Beamtenliteraturerzeugern noch an die erste Stelle setze. Aber auch Musil hat nichts anderes geschrieben, als eine erbärmliche Beamtenliteratur. Diese Literatur ist durch und durch bürgerlich, zum Großteil kleinbürgerlich, sagte ich zu Gambetti auf dem Pincio, auch die Thomas Manns, auch die Musils, die sich ja vollkommen von den Leitzordnern in jeder von ihnen geschriebenen Zeile haben beherrschen lassen. Wenn wir diese Literatur lesen, sehen wir, wie sie ein Beamter schreibt, ein einmal mehr, einmal weniger kleinbürgerlicher Beamter, dem im Grunde und letzten Endes doch nur die Leitzordner die Feder geführt haben. […] Seit mindestens hundert Jahren gibt es nurmehr noch eine von mir sogenannte Büroliteratur, eine kleinbürgerliche Beamtendichtung, […]. Und ihre Meister sind Musil und Thomas Mann gewesen, von den anderen ganz zu schweigen.“ (Aus 607f.)
Diese Feststellung trifft Murau im Büro des Vaters, wo sich bekanntlich der Schreibtisch mit der Carraramarmorplatte befindet, womit die Verbindung zu Muraus (eventuellem) eigenem Schreiben (der „Antiautobiografie“ und der ‚Auslöschung‘) hergestellt wäre, das sich folglich jenseits der Leitzordner, jenseits der „Büroliteratur“ vollziehen müsste. 2.1.3. Beamtenliteratur Schriften sind die Gedanken des Staats, die Archive sein Gedächtniß. (NOVALIS, 72. BLÜTHENSTAUBFRAGMENT.)
Die grundsätzliche Opposition der Auslöschung(-spoetik) zum ‚Staat’ ist unverkennbar. Damit einher geht die Desavouierung von ‚staatstragenden’ Berufen wie die der Architekten („Mordbuben“, Aus 115), der „ekelhaften Ärzte“ (Aus 51), „[…] die uninteressantesten Menschen auf dem Erdball […]“ (Aus 204), die außerdem „geldgierig[]“ sind (Aus 205), Lehrer und Richter („[…] die gemeinsten Knechte des Staates, […] sie vernichten bedenken- und hemmungslos […]“, Aus 91) sowie Pfarrer („[…] haben mich belogen […]“, Aus 305). Als Staatsangestellter ist ein Beamter zuständig für die Verwaltung des Staates, d.h. er exe-
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kutiert seine Gesetze und Verordnungen und achtet auf deren Einhaltung, um eine möglichst reibungslose Abwicklung der Staatsgeschäfte zu garantieren und somit den Staat zu stabilisieren, so dass ein kontinuierliches und effizientes Funktionieren der Staatsmaschinerie gewährleistet ist. Schrift fungiert dabei als Instrument obersten Ranges. Die Leitzordner als Datenspeicher sind Sinnbild eines buchhalterischen Gedächtnisses, das, ökonomischen Prinzipien folgend, die (erinnerte) Wirklichkeit in ein binäres System von Gewinnen und Verlusten überträgt. Staat, Familie, Ökonomie und Wissen basieren auf und funktionieren nach den gleichen Prinzipien der Akkumulation bei gleichzeitiger Verdrängung ihres rückseitig Anderen.46 Insofern setzt sich im Begriff der „Büro- und Beamtenliteratur“ Muraus intransigente Haltung gegenüber den Entitäten ‚Staat’ und ‚Familie’ auf dem Gebiet der Literatur fort. Indem für ihn ‚die’ (deutsche) Literatur auf den gleichen Prinzipien wie ‚Staat’ und ‚Familie’ beruht und sich aus dem immer gleichen Denken nicht mehr weiterentwickelt, sieht Murau sie künstlerisch und ästhetisch am Ende und integriert sie seinen allumfassenden Auslöschungsabsichten, was bedeutet, dass er sich von der von ihm diagnostizierten Tradition der „Beamtenliteratur“ loszusagen/-schreiben gedenkt. Unter diesem Aspekt könnte der Kanon gewissermaßen als Keimzelle einer solchen neuen Literatur dienen, indem er ein essentielles Wissen für das Verständnis von „Beamtenliteratur“ und ihre Überbietung bereithält.47 Im erwünschten (und unrealisierbaren) literarischen Neubeginn qua ‚Auslöschung‘ scheint das Erbdilemma auf, da jede Thematisierung beim Schreiben eines Textes die unendliche Gesamtheit der zirkulierenden Kulturzeichen aktiviert. Der zu verfassende Text muss sich zwingend auf die Gesamtheit aller Texte hin
46 Vogl 2002, 158f. 47 In letzter Konsequenz liegt Jansen richtig mit seiner Feststellung, dass die Einmaligkeit und Subjektivität der Auslöschung vor dem Makroraum der kulturellen Memoria kapitulieren muss. Dabei ignoriert er jedoch sämtliche Ambitionen des Textes, sich in einer puren Immanenz einzurichten, und negiert in diesem Zusammenhang jegliche Funktion des Kanons, die ich hier, zumindest als einen zeitweiligen Vorbehalt, als angenäherte Obliteration verstanden wissen möchte. – Auch in Alte Meister werden einige Künstler und Kunstwerke bewusst von einer allgemeinen und umfassenden Destruktion ausgenommen. Vgl. Silvio Vietta, Die literarische Moderne: eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992, 218.
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entwerfen, wodurch das Schreiben zur Wiederholung und Fortsetzung sowie zum Wider- und Umschreiben wird. Lachmann veranschlagt für diesen Prozess drei Modelle von Intertextualität, die diese Interrelationen zu erfassen versuchen: das Modell der Partizipation, der Tropik und der Transformation. 48 Übersetzt und vereinfacht könnte man sie auf die Momente des Wiederholens und Erinnerns, des Vergessens sowie des Umformens und Überbietens reduzieren. Gleichwohl weist sie darauf hin, dass diese Modelle nicht strikt voneinander abzugrenzen sind: „Alle Texte wiederholen, sind Gedächtnisakte, alle sind Produkte der Abweisung und der Überbietung des Vorläufertextes, alle haben neben manifesten Spuren fremder Texte und evidenter Transformationsformen kryptische Elemente, alle Texte sind von der Doppelung manifest/latent geprägt (bewußt oder unbewußt). Alle Texte wenden mnemotechnische Verfahren an: im Entwurf von Räumen, imagines, imagines agentes; als Versammlung von Intertexten ist der Text selbst Gedächtnisort, als Textur ist er Gedächtnisarchitektur etc. Alle Texte verdanken sich auch transformatorischen Verfahren, die verdeckt oder ludistisch-demonstrativ eingesetzt werden.“49
Wie Traditionen die Übernahme des Erbes erleichtern oder erschweren, so bieten auch auf dem Gebiet der Literatur kanonisierte Texte Orientierung oder leisten Widerstand bei der Fortführung und Weiterentwicklung der Literatur. In der Frage, wie sich ein Text ins kulturelle Gedächtnis aller Texte mit Blick auf die perhorreszierte „Beamtenliteratur“ einzutragen hätte, ist die Selektion der kanonischen Texte als programmatische Geste zu verstehen, indem sie aus dem unumgrenzbaren Textmassiv eine überschaubare Anzahl von Texten umfasst, die neben dem ungeheuren Auslöschungsprozess, der für einen radikalen Neubeginn notwendig wäre, ein irreduzibles Reservoir an Zeichen, Bildern und Ideen böte, das als zu erinnerndes und zu transformierendes Erbe ein neues literarisches Zeitalter nach dem der „Beamtenliteratur“50 fundieren könnte. Dieser Kanon besteht aus Werken, die in traditionellen Kanonisierungen eher ein Randdasein fristen, d.h. normalerweise vergessen oder übergangen werden,
48 Lachmann 1990, 38. 49 Ebd., 39. 50 Die Nennung von Musils Portugiesin, dem Murau selbst bescheinigt, nichts als Beamtenliteratur zu produzieren, ist nur vordergründig widersprüchlich, denn es geht gerade um die Bejahung der unhintergehbar aporetischen Position, die das Projekt der ‚Auslöschung‘ zwangsläufig (mnemonisch) vor dem literarischen Horizont einnehmen muss.
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womit ihm selbst schon eine dezentralisierende und refokussierende Erinnerungsfunktion zugesprochen werden kann. In Anschluss an die „Antiautobiografie“ des familiären Außenseiters Onkel Georg knüpft Murau an Marginalien der Tradition an, die an der Grenze zum Vergessen flottieren. Der Kanon ist jedoch keineswegs hermetisch geschlossen, sondern partizipiert weiter an der zirkulierenden Memoria und erhebt somit keinerlei Absolutheitsanspruch, da auch Werke, die außerhalb seiner Eingrenzung liegen, in den Unterricht einbezogen werden, wie Muraus Überlegung, Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung durch Goethes Wahlverwandtschaften im Unterrichtsplan zu ersetzen (Aus 8), vor Augen führt.51 Ebenso erwägt er eine Hinzufügung von Theodor Fontanes Effi Briest (Aus 399) zum Kanon. In der Supplementierbarkeit tritt die Gedächtnisfunktion der Kanonisierung selbst hervor, indem die selektierten Werke in den Fokus gerückt und somit erinnert, die substituierten hingegen vergessen werden, die nicht-ausgewählten vergessen bleiben sollen. Später jedoch widerruft Murau in typischer Auslöschungsmanier zum Teil seine Auswahl: Die Anweisung an Gambetti, Jean Pauls Siebenkäs zu lesen, hält er für falsch, und anstelle von Hermann Brochs Esch oder die Anarchie hätte er ihm den zuvor ersetzten „Schopenhauer noch einmal geben sollen“ (Aus 543). Auch diese Korrektur stellt sicher keine endgültige dar, sondern nur den Zwischenstand einer unendlichen Supplementierungskette von immer neuen kanonischen Textkonstellationen, wie sie die jeweilige Denkphase gerade präferiert. Schlussendlich bleibt der Kanon auch deshalb unabdingbar, weil er einer totalen Befreiung von präskriptiven Ästhetiken vorbeugt: kein Propagieren eines ‚anything goes’, wie es der Dekonstruktion zu Unrecht immer wieder vorgehalten wird, sondern inmitten des Unentscheidbaren Auswahl und Entscheidung – wie provisorisch und fehlerhaft auch immer. 2.1.4. Der implizite Text Der andere Aspekt der Intertextualität der Auslöschung, der sich der Zukunft und damit einer Multiplizität von möglichen Manifestierungen öffnet, verhandelt alle möglichen ‚Auslöschungen‘, nicht nur „diese“ (Aus 651) vorliegende, sondern andere mögliche Texte (Die Antiautobiografie, Erinnerung an Schermaier; Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern, Aus 245; Die Mütter, Aus 299;
51 Mithin könnte der Verweis auf die Wahlverwandtschaften, der ja in augenscheinlichem Gegensatz zu Muraus berüchtigter Goetheschelte (Aus 575ff.) steht, eine historische Sollbruchstelle indizieren, die mit Muraus Wunschdenken von einer erneuerten, neuen Literatur konform ginge, wovon gleich noch zu reden sein wird.
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„ALEXANDER, MEIN PHANTAST“, Aus 521), die aus ihr hervorgehen könnten. Dies stellt sich als Text im Text über den Text/die Texte dar. In dieser Selbstreferenz konstituiert der Text seinen eigenen Metatext. Lachmann designiert diesen Ort der Interferenz von Texten als ‚impliziten Text’, wobei sie anmerkt, dass der Text auch selbst wieder Prätext und/oder Subtext eines folgenden wird. Die Auslöschung führt dies in der kontinuierlichen Fort-, Um- und Überschreibung ihrer selbst als permanent im Werden befindlich vor. Lachmann bezeichnet diese Form der Selbstüberbietung des Textes als „Transtextualität“52. Zur Analyse dieser intertextuellen Organisation schlägt sie folgendes Schema vor: „1. Die Abbildung der Interferenz der Texte, d.h. die signalisierte, markierte Intertextualität, 2. die textuelle Selbstreflexion, d.h. die Metatextualität, 3. die Implikativität, das Mitverstandene, d.h. der Subtext, 4. die Vorläufigkeit, Implizierbarkeit, d.h. Prätextualität (eigentlich Subtextualität in spe), 5. die Selbstüberschreitbarkeit, d.h. die Transtextuali-tät.“53
Lachmann betont, dass nur die beiden ersten Aspekte Anspruch auf Analysierbarkeit stellen können: „Der implizite Text kann immer nur annähernd, d.h. horizontbedingt, bestimmt werden als Ort der dynamischen pluralen Sinnkonstitution, der die ästhetische Kommunikation als Erschließung/Erweiterung des signalisierten Sinnpotentials – letztlich – durch den Rezipienten programmiert (Rezipient als Interpret, ‚Intertexter’, Autor) […].“54
Der Hinweis im letzten Satz, dass „diese“ Auslöschung in Rom geschrieben wurde, könnte eine solche Markierung der Textinterferenz darstellen, indem der manifeste Text sich nur als eine Version einer Vielzahl von anderen in ihm angelegten ‚Auslöschungen‘ zu erkennen gibt. Der präsentierte Text konstituiert damit gleichzeitig eine Vielheit, die als ein rhizomatisches System gemäß der Formel n-1 von Deleuze und Guattari55 beschreibbar wäre. Dass die Auslöschung in ihrem selbstreflexiven Zug zu ihrem eigenen Metatext wird, dürfte unumstritten sein. Kontroversen und Spannungen werden sich folglich mit den Punkten 3-5 von Renate Lachmanns Analyseschema ergeben, weil hier der Rezipient zum „Intertexter“ und gewissermaßen „Autor“ wird, da
52 Lachmann 1990, 64. 53 Ebd., 63f. 54 Ebd. 55 Gilles Deleuze/Felix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, 11.
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die „Erschließung“ und „Erweiterung des Sinnpotentials“ wesentlich auf den Aneignungs-, Vergleichs-, Synthetisierungs- und Erinnerungsprozessen seines Gedächtnisses beruht – und, nicht zu unterschlagen: auf seinem Vergessen! Die Hypothese von der Auslöschung als Transtext ist längst wesentlicher Bestandteil meiner Lektüre und soll im folgenden Kapitel noch weiter konturiert werden. Hier deutet sich zudem schon die Möglichkeit an, die Selbstüberschreitung an den Akt der Verschenkung zu knüpfen. Zunächst gilt es jedoch, den Subtext im Sinne der Abwehr und intendierten Überbietung der „Beamtenliteratur“ herauszuarbeiten, deren ‚Staats’-, ‚Familien’-, ‚Wissens’- und ‚Wirtschaftsstrukturen’ sich in einem mechanisch-logozentrischen Memoria-Konzept zusammenschließen. Eben darin könnte ein gemeinsamer Zug unter den Texten des Kanons auszumachen sein, der sich (partiell) gegen die Literatur von Goethe profilieren ließe, woran sich die Postulierung eines (Anti-)Goethe-Subtextes anschließt, der an einigen Stellen der Auslöschung unvermittelt und scheinbar grundlos aus seiner Latenz hervorbricht wie die illustre Goetheschelte, zu der Murau plötzlich inmitten der Erinnerung an Spadolinis Trauer- und Gedenkrede über seine Mutter (!) anhebt (Aus 575), die jener nach seiner Ankunft in Wolfsegg beim Abendessen hält. Als weiterer Beleg für diesen (Anti-)Goethe-Subtext wäre die verblüffende Aufforderung Muraus anzuführen, Caecilia solle die Eingangstür zum ersten Stock absperren, „damit die Lemuren nicht hereinkönnen“56 (Aus 525). Offenbar sind damit die Trauergäste in Gestalt jener „[g]eflickte[n] Halbnaturen“ (FI 11514/444) der Szene „Großer Vorhof des Palasts“ in Faust II gemeint, die das Grab des Protagonisten ausheben. Es ist kaum vorstellbar, dass Muraus unbelesene Schwester einer solch surrealistisch anmutenden Anweisung – unter dem Vorbehalt ihrer tatsächlichen Äußerung – Folge leisten würde, wie der Text behauptet. Zwar wird Goethe nicht direkt unterstellt, „Beamtenliteraturerzeuger[]“ zu sein, doch Murau betont mehrfach seine Bürgerlichkeit 57 (Goethe, der „Groß-
56 Der Kursivdruck dieser Stelle deutet offenkundig an, dass es sich nicht um ein Zitat, sondern um eine andere Text- bzw. Denkebene handelt. 57 Ein Konfligieren des der ‚Bürgerlichkeit‘ eignenden Konzeptes des Maßhaltens mit der (Poetologie der) Maßlosigkeit des Auslöschungsprojektes ist unausbleiblich. Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1991, 119, Anm. 268. Zudem geht ‚Bürgerlichkeit‘ mit Vorstellungen von ‚Öffentlichkeit‘ einher und erinnert im literarischen Kontext daran, wie Goethe sich als Autor sein eigenes (bürgerliches) Publikum erschaffen hat. Vgl. Kamper 1995, 77. Demgegenüber ist Kafka zweifellos als Antipode zu Goethe aufzufas-
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bürger, den sich die Deutschen zum Dichterfürsten zugeschnitten und zugeschneidert haben“, […] „den philosophischen Kleinbürger“, Aus 575; „der größenwahnsinnige Großbürger auf dem Frauenplan“, Aus 577), die er zu den Hauptmerkmalen der „Beamtenliteratur“ zählt: „Diese Literatur ist durch und durch bürgerlich, zum Großteil kleinbürgerlich.“58 (Aus 607) Der „Frauenplan“ könnte mit Blick auf die Schlusspointe von Faust II sowie die vielen ‚Pläne‘ der Mutter (Aus 323) weitaus mehr sein als nur der Platz in Weimar, auf dem Goethes Haus steht. Diese These lässt sich unter anderem durch die kafkaesk anwesende Abwesenheit der „Frauen“ in Bernhards Erzählung Goethe schtirbt erhärten, die, in der unteren Halle stehend, gewissermaßen aus dem Off, Goethes (antiautobiografischen) letzten Wunsch vor seinem Tod, Eckermann zu verjagen und sich mit Wittgenstein zu treffen, zu vereiteln trachten (Gs 401).59 Auch in dieser Erzählung findet der „Frauenplan“ (vgl. Gs 399, 407 u. 409) mehrfach Erwähnung. Unter der Prämisse einer ‚Konspiration der Frauen’ wäre nun zu skizzieren, wie die Texte des Kanons mit dem Begriff der „Beamtenliteratur“ und dem Matrizid korrelieren und sich gleichsam – zumindest teilweise, denn die Wahlverwandtschaften scheinen davon ausgenommen oder wenigstens grenzwertig zu sein60 – gegen Goethes Literatur wenden, explizit gegen Faust 61 („Faust, hatte ich zu
sen: Seine Texte wurden nur für einen erlesenen Freundeskreis geschrieben, seine Schriften sollten nach seinem Tod verbrannt werden. Dies steht im Hintergrund all der Verbergungs- und Entzugsstrategien der Auslöschung, die vor allem in Kapitel 2.4.4. zur Diskussion stehen werden. 58 Vgl. dahingegen die Charakterisierung der Mutter und des Schwagers (Aus 434) als Kleinbürger sowie Onkel Georgs Geringschätzung der „Kleinbürgerköpfe“ (Aus 51). 59 Vgl. dazu die Oben-Unten-Dichotomie in Verstörung. Hier werden obere (männliche) und untere (weibliche) Sphäre noch näher spezifiziert: „In den unteren Zimmern ist das Philosophische so wenig möglich wie in den oberen das Mystische.“ (Ver 202) 60 Ebenso einige Gedichte von Goethe, deren Wert Murau mit Marias Gedichten gleichsetzt (Aus 512). Vgl. dazu die Gleichstellung von Maria, der „große[n] Künstlerin“, und Spadolini, dem „große[n] Eiferer“ (Aus 230): „Wenn mir Spadolini von Peru erzählt, ist es genauso, wie wenn mir Maria ihre Gedichte vorliest, es hat denselben Stellenwert.“ (Aus 231) 61 Faust wird auch in der Erzählung Goethe schtirbt als einziger Goethe-Text namentlich angeführt: „Meinem Faust sind sie alle auf den Leim gegangen.“ (Gs 406)
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Gambetti gesagt, was für ein Größenwahnsinn!“ Aus 577), implizit gegen Wilhelm Meisters Lehrjahre. In dieser Relation ist abermals auf die Carraramarmorplatte zurückzublicken, die sich im Arbeitszimmer des Vaters im Gebäude des Jägerhauses befindet und zur Grundlage einer neuen, die goethesche Tradition überwindenden Literatur62 werden könnte: „Über einer kalten, möglichst eiskalten Steinplatte denken wir am allerbesten, hatte ich zu Gambetti gesagt, auf einer solchen schreiben wir am besten. Ein Unikum, hatte ich zu Gambetti gesagt, absolut eine Einmaligkeit, diese Carraramarmorplatte.“ (Aus 191)
Muraus Bericht zufolge hat er selbst dort in bewusster Wiederaufnahme bzw. Fortsetzung von Onkel Georgs „Antiautobiografie“-Projekt (vgl. Aus 188) schon mehrere Schreibversuche unternommen, sämtliche Erzeugnisse jedoch wieder verworfen (Aus 190). Die Marmorplatte des väterlichen Schreibtisches könnte als Gegenstück zur offenen Gruft und als Verschluss derselben fungieren.63 Interessanterweise wechselt die Deskription der Marmorplatte in der obigen Textpassage von „Unikat“ (Aus 188) zu „Unikum“64, was auch die Konnotation von ‚Sonderling’ trägt. An diesem sonderbaren, einzigartigen Ort könnte die „Antiautobiografie“ bzw. die ‚Auslöschung‘ – vielleicht – gelingen. Diese eiskalte, weiße65 und glatte – und damit unversehrte bzw. unbeschriebene – Marmorplatte, diese tabula rasa, könnte zum Nullpunkt und Ursprungsort einer neuen Literatur werden, denn sie ist das geschleifte Goethe-Denkmal, das eigentlich in Rom auf dem Pincio steht, ohne jemals in den zahlreichen Erinnerungen an Gespräche mit Gambetti auf diesem Platz Erwähnung zu finden.66 Auf ihre reine
62 In Goethe schtirbt ist die Notwendigkeit der Überwindung der goetheschen Tradition mit dem goetheschen Eingeständnis, dass sein Werk „die deutsche Literatur für ein paar Jahrhunderte gelähmt habe“ (Gs 406), bereits vorgebildet. 63 Zur Affinität von ‚Tisch‘ zu ‚Grabmal‘, mnēma und mnēmē, siehe Lachmann 1990, 22. 64 Dies wiederum ließe sich als Rekurs auf die bernhardsche Wortschöpfung „unikumal“ (Ung 12 u. 31) lesen, mit der der Notar Moro in Ungenach die „ungeheure Abschenkung“ (Ung 11, vgl. Ung 19) des Erbes charakterisiert, die er im Auftrag des Protagonisten Robert Zoiss durchzuführen hat. 65 Weiße und Kälte sind exakt die Eigenschaften, die auch in den Wahlverwandtschaften am ‚Marmor’ (Wv 495) hervorgehoben werden. 66 Vgl. Nienhaus 2006, 123f. Über den Pincio betrat Goethe laut seinen Aufzeichnungen Rom zum ersten Mal. Auf dem Platz befindet sich seit dem 5. August 1904 Gustav
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Materialität zurückgeführt wird die Carraramarmorplatte zum (Ab-)Zeichen einer Dekonstruktion des Goethe-Denkmals, in dem der Wunsch, sich vom autoritären Druck und historischen Gewicht der goetheschen Tradition und überdies vom Signifikanten selbst zu befreien, sich Bahn bricht. Dass diese Erneuerung der Literatur im Zusammenhang mit dem ‚Mord’ an der Mutter, mit (Teilen oder Aspekten von) Goethes Literatur bzw. dem eine Verschwörung der Frauen 67 suggerierenden „Frauenplan“ steht, erschließt sich über die Analogie des Materials: Eine der Zeitungen in der Wolfsegger Küche zeigt ein Bild, auf dem „der Kopf der Mutter um mindestens dreißig Zentimeter von ihrem Rumpf getrennt zu sehen ist auf einem Prosekturtisch aus weißem Marmor“ (Aus 478).68 In der Überblendung dieser Szenen – wie in Muraus indirekter Lektüreanweisung beim Übereinanderlegen der Fotografien (Aus 296) – stellt sich die Enthauptung der Mutter69 als tödlicher Schreibakt auf der Carraramarmorplatte dar, der für eine Überwindung des Erbes unerlässlich wäre. In der Engführung von Schreibplatte und Prosekturtisch konvergieren Schreib- und Todesszene. Die signifikante Vertikalität des Denkmals wird in eine materiale Horizontalität der Carraramarmorplatte überführt, eine Matrix, die den Blick freigibt, Raum für das Neue eröffnet und als Auflage einer zu verfassenden
Eberleins Goethe-Denkmal, das der Stadt von Kaiser Wilhelm II. anlässlich seines Geburtstages übergeben wurde. Das neun Meter hohe Monument aus weißem Carraramarmor dominiert den Raum des Pincio. 67 Eine solche „Verschwörung“ unterstellt Murau auch seinen Schwestern (Aus 413), wenngleich an dieser Stelle nicht g e g e n sondern f ü r ihn, wie er betont, was ihn jedoch ebenso abstößt, da sie unter den gegebenen Umständen von ihm fordern, das Erbe zu übernehmen, womit das Für aus Muraus Sicht letztlich in ein Wider umschlagen würde. 68 Es gibt eine dritte Szene der Auslöschung, in der das Material ‚Marmor’ in Bezug auf ein mögliches Schreiben von Murau steht, nämlich die Außenmauer seiner Wohnung gegenüber der Piazza Minerva (Aus 274). Wagt man die Rede von einer schriftlichen Vollendung der Auslöschungsidee durch Murau in seiner Wohnung in Rom, so deutet diese nach außen gewendete ‚Schreibfläche’ auf ein ‚innerliches Schreiben’ hin, auf die „Auslöschung im Kopf“ (Aus 543), was in Kapitel 2.4.1. wieder aufzugreifen sein wird. Vgl. Lachmann 1990, 22. Siehe auch Laqué 2005, 187, der ein ‚innerliches Schreiben‘ ebenso für Hamlet in Anschlag bringt. 69 Alle Riten, bei denen etwas abgeschnitten wird, sind in der Regel Trennungsriten. Van Gennep 1986, 60.
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Schrift taugen könnte – wenn sie nicht im intolerablen Kontext des Nationalsozialismus und verführerischen Erotismus (des Jägerhauses)70 stünde. 2.1.5. Der (Anti-)Kanon Um die Dichte dieses Konnex etwas aufzufächern, ist eine kursorische Synopse der kanonischen Texte und ihrer Affinitäten zur Auslöschung(-spoetik) unerlässlich, die hier nur in groben Zügen zu leisten ist, wenn sie nicht – einmal mehr – Gefahr laufen möchte, jeden Darstellungsrahmen zu sprengen, zumal auch Texte mit einzubeziehen sind, die außerhalb des Kanons stehen (Wahlverwandtschaften, Heinrich von Ofterdingen) oder gar nicht genannt werden (Wilhelm Meisters Lehrjahre/Wanderjahre). Im Fokus steht dabei ihr Verhältnis zu Goethes Literatur, namentlich in ihrer klassischen Konzeption, wie sie sich im Faust oder in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] präsentiert, sowie die Funktion der Frauenfiguren und ihre eventuell konspirative Allianz mit dem „Frauenplan“, was wiederum an der Sprach- und Handlungs- bzw. Schreibmächtigkeit der Protagonisten abzulesen sein wird. In allen Texten des Kanons der Auslöschung geht es um Figuren, die aus der Gesellschaft (zu) fallen (drohen) bzw. an deren Rand existieren. Dieser Außenseiterstellung der Protagonisten korrespondieren marginalisierte (Handlungs-)Orte, von denen die meisten gleichsam eine gewisse Überblicks- und/oder Fallhöhe vorgeben: von Kettens Burg auf einem hohen, steilen Felsen, den der Protagonist in Musils Portugiesin71 erklimmt; das Internistenhaus sowie der Turm in Amras, aus dem Walter stürzt; Muraus (zumeist völlig abgedunkelte) Palastwohnung in Rom gegenüber der Piazza Minerva und dem Pantheon; Kuhschnappel sowie Fantaisie und Eremitage in Siebenkäs; das Gerichtsgebäude72 bzw. die Wohnung Titorellis sowie der Dom und der Steinbruch im Proceß. Katastrophen (Autoun-
70 Vgl. Isolde Tröndle, Differenz des Begehrens. Franz Kafka – Marguerite Duras, Würzburg 1989, 30 u. 41: „Nullpunkt des Begehrens“, was dem „asketischen Ideal“ in Nietzsches Genealogie der Moral gleichen dürfte. Vgl. außerdem, wie der Gefängniskaplan K. in Kafkas Proceß anmerkt, dass das Gericht fast nur aus „Frauenjägern“ (Pro 290) besteht. 71 Die topographischen Ähnlichkeiten mit Wolfsegg sind augenfällig: der tosende Fluss am Fuße des Felsens (Por 26) bzw. der Bach hinter der Kindervilla (Aus 594) sowie die steil abfallende Felswand (Aus 166). 72 Auch K. überblickt von seinem Arbeitszimmer aus den belebten Stadtplatz, ganz im Gegensatz zum Richter, der mit dem Dachboden Vorlieb nehmen muss (Pro 88).
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fall, [missglückter] Selbstmord, [inszenierter] Tod) und kontingente Ereignisse (Verhaftung, Kündigung, Insektenstich, Geistererscheinung) führen zu einem Riss im Zeitkontinuum („the time is out of joint“, Ham I, V, 196), der die Protagonisten, Simonides in der Ursprungslegende der Mnemotechnik vergleichbar, von einer Ordnung abtrennt. Diese Trennung geht mit Verlusten einher, die ihre soziale Desintegration vorantreiben: Verlust der Eltern (Amras, Auslöschung), des Vaters (Hamlet, Wilhelm Meisters Lehrjahre) und der Geliebten (Wilhelm Meisters Lehrjahre), der Arbeit (Esch oder die Anarchie), der Lebensaufgabe (Portugiesin), der Identität (Portugiesin, Siebenkäs), des Erbes (Wilhelm Meisters Lehrjahre, Amras, Siebenkäs), der Werte (Esch), der Freiheit (Esch, Proceß) oder der Ordnung selbst (Hamlet, Esch, Proceß). Diesen Defiziten stehen einerseits Doppelungen, Doppelgänger, Hochzeiten, Geschwisterpaare, Raumkontiguitäten und Heterotopien gegenüber, andererseits implementieren sie Reflexions- und Handlungsprozesse, die – anders als Wilhelm Meisters Aufnahme in die Turmgesellschaft in den Lehrjahre[n] – nicht zu einer Reintegration der Protagonisten führen. Selbst vordergründige Konflikt- und Problemlösungen (Siebenkäs’ und Eschs Anstellung als Beamte sowie die Heirat des letzteren, von Kettens erfolgreiches Überwinden der Felswand) können nicht mit Fausts Freispruch vor dem himmlischen Gericht oder Wilhelm Meisters Familiengründung und Kontinuitätssicherung konkurrieren, sondern entpuppen sich bestenfalls als ‚Schein’Lösungen, die vielmehr Josef K.s Option der Prozessverschleppung ähneln, zumal sie den Frauen- resp. Mutterfiguren dabei nicht entkommen. Vor allem aber finden die Helden den Tod (Walter in Amras, Murau in Auslöschung [?], Josef K. in Proceß, Hamlet) oder verfallen dem Wahnsinn (K. in Amras). Alle leiden unter ihren Verlusten und Defiziten (mit Ausnahme von Josef K., der eher staunt als leidet), ihre Wege sind Passionswege73, die sie aus dem Paradies vertreiben. Anders formuliert: Allen Texten des Kanons liegt, mehr oder weniger stark ausgeprägt, ein Initiationsschema zugrunde, das sich infolge der scheiternden Initiationen gegen jenes von Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] profilieren ließe, was die vermeintlich glückende Wiedereingliederung und Rückanbindung als idealisierendes Phantasma entschleiert, das seinen dysfunktionalen und defizitären (Ab-)Grund überspielt. Die Verzweiflung der Protagonisten und ihr Leiden am Dasein befördern Bestrebungen, Auswege zu finden und neue Daseinsformen zu entwickeln. 74 Ihr Ziel ist die Flucht aus den Fesseln der (von der Vergangenheit verursachten und
73 Vgl. Siebenkäs’ Ehestreitigkeiten sowie sein „Auszug aus Ägypten“; von Kettens Fieber und die Schrumpfung seines Schädels; Walters Epilepsie; Eschs vergebliches Bemühen um ‚Gerechtigkeit’ und um die ‚Erlösung’ Ilonas. 74 Vgl. Leiden als principium individuationis, Hörisch 1983, 77, Anm. 205.
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weiter mit ihr versponnenen) Wirklichkeit zu Traumorten, zur Freiheit und zur Erlösung, die jedoch misslingt – was unter anderem in den toten oder ungeborenen Kindern zum Ausdruck kommt. Wilhelm Meister hingegen scheitert in letzter Konsequenz nicht. Zwar geht sein Jugendtraum vom Theater nicht in Erfüllung, doch seine ‚neue’ Daseinsform als Wundarzt präsentiert sich aus der Perspektive von Wilhelm Meisters Wanderjahre[n] gleichermaßen als Effekt der Entelechie75, zumal er in dieser Rolle in der letzten Szene seinem Sohn Felix am Lethe-Fluss (!) das Leben rettet, was ihn in Opposition zur zölibatären Maschine der anderen Intertexte stellt.76 Damit erhebt sich die Frage nach einem wirksamen Heilmittel gegen die Verzweiflung 77 : Medizin oder Kunst? 78 Goethe – von Murau als „Geisteshomöopath“ ridikülisiert („[…] sie, die Deutschen, nehmen Goethe ein wie eine Medizin und glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft. […] Das ganze deutsche Volk nimmt Goethe ein und fühlt sich gesund“, Aus 576) – setzt in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n], ungeachtet aller Verlustrechnungen, die auch er andeutet und später in den Wanderjahre[n] umso stärker akzentuiert, mit der Verabschiedung der (kranken) ‚Kunst‘-Figuren (Mignon, Harfner) und Wilhelms Überwindung des Theaters und der Tragik79 augenscheinlich auf das Prinzip ‚Heilung’. Bernhard seinerseits widersetzt sich in Amras und Auslöschung diesem Ansatz,
75 Nachdem Jarno die Instrumente entdeckt, die ihm der Nachfolger des Arztes überlassen hat, der einst den verwundeten Wilhelm versorgt hatte (WML 589), und ihn zur Benutzung derselben anhält, erwidert er: „‚Laß mich bekennen […], daß mir dies hundertmal eingefallen ist; es regte sich in mir eine innere Stimme, die mich meinen eigentlichen Beruf hieran erkennen ließ.’ Ich erzählte ihm hierauf die Geschichte der ertrunkenen Knaben, und wie ich damals gehört, ihnen wäre zu helfen gewesen, wenn man ihnen zur Ader gelassen hätte; ‚ich nahm mir vor es zu lernen, doch jede Stunde löschte den Vorsatz aus.’“ (WMW 554) 76 Vgl. Martin Beckmann, „Franz Kafkas Romanfragment Der Prozeß. Verzweiflung als ‚Selbst‘-Gericht“, in: Colloquia Germanica 23/24 (1990/91), 215. 77 Vgl. ebd., 230. 78 Das Ideal eines Widerstandskämpfers unter postmodernen Bedingungen wäre der Künstler. Gehring 1994, 270f. 79 Die Tragik stellt sich nicht nur mit der Aufführung des Hamlet ein, sondern verbindet sich auch mit dem Tod von Mignon und dem Harfner, deren Existenz sich auf eine tragisch-inzestuöse Verstrickung gründet. Zugleich präsentiert sich damit ein Gegenentwurf zu den Leiden des jungen Werthers, dessen literarische Tragik bekanntlich tragische Handlungen in der Realität nach sich zog.
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erklärt Ärzte zu Scharlatanen oder Okkultisten (Am 48)80 und präferiert zweifellos das Konzept der Kunst, das jedoch nur ein zwiespältiges pharmakon ist, wie der ständige Aufschub der ‚Auslöschung‘ bzw. die Simultaneität von Muraus Tod mit der Fertigstellung der Schrift suggerieren.81 Auch die kanonischen Texte thematisieren oder inszenieren Prokrastinationen und Dezisionsverweigerungen: Hamlets Zögern ist nicht nur berüchtigt, sondern für Muraus ‚Handeln’ gegen die Mutter geradezu konstitutiv; mit immer weiteren Fristgesuchen erwirkt der Heimlicher von Blaise ständig neue Fristverlängerungen, die den Prozess um Siebenkäs’ Erbe hinauszögern (Sk 216f.); Siebenkäs selbst „prozessiert[]“ (Sk 259) und will die Pfänder nicht zurücktauschen; Esch träumt so lange von einer Auswanderung nach Amerika, bis er seine Hoffnungen auf die ‚Neue Welt’ (vgl. E 122) durch den finanziellen Zusammenbruch seines zunächst florierenden Geschäfts mit den Damenringkämpfen begraben muss; Josef K. schiebt das Schreiben der „Eingabe“ ständig auf (Pro 170f., 288), ohnehin bieten sich die „Verschleppung“ des Prozesses bzw. ein nur scheinbarer Freispruch als die einzigen reellen Ziele (Pro 211ff.) dar; von Ketten scheut wie der Bischof eine Entscheidung (Por 31) des seit Generationen andauernden Konflikts. Die (Er[b]-)Lösung will sich (ein-fach) nicht einstellen, sie verlangt nicht weniger als das Unmögliche, wie es von Ketten mit dem Erklimmen der steilen Felswand, die nur der Teufel überwinden kann (Por 41), vorführt – um dennoch im Schweigen, oder genauer: im Unerhörtsein (der Blasphemie), zu enden.
80 Auch von Ketten kann nicht mit medizinischen Mitteln geheilt werden; Leibgeber widersetzt sich der Geldgier des Arztes und etikettiert ihn als „Schuster des Todes“ (Sk 527); Bertrand, den Esch gleichermaßen begehrt wie töten möchte, tritt ihm in einer Traumsequenz als Arzt entgegen (E 173). Vgl. Abouzid 2001, 111 und 137. Überdies ist nicht zu vergessen, dass auch Faust Mediziner ist, der seinen Berufstand gleichwohl äußerst kritisch beurteilt (FI 1024f./55f.). 81 Helms-Derfert 1997, 204, sieht sowohl in Korrektur als auch in Auslöschung die Kunst zur modernen „säkularisierten Ersatzreligion“ hypostasiert, wobei er zu Recht betont, dass „diese romantische Überhöhung formal wie inhaltlich sogleich wieder demontier[t] [wird].“ Murau selbst greift in seiner Verehrung von Maria auf Vokabular aus dem Bildbereich ‚Medizin‘ zurück, wenn er von ihr als seiner „römische[n] Doktorin“ und „große[n] Ärztin“ (Aus 623) schwärmt.
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2.2. W IDER
DEN
F RAUENPLAN Chorus Mysticus: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche Hier wird’s Ereignis; Das Unbeschreibliche Hier ist es getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. (J.W. V. GOETHE, FII 12104FF./464.)
2.2.1. Muttersprache Dass Murau das Erbe seinem „Geistesbruder“ Eisenberg auf der antigenealogischen, erratischen Linie der Junggesellenmaschine übergibt, stand in Kapitel 1.5. des zweiten Teils zur Debatte. Der Junggeselle ist in Bezug auf das Erbe GegenFigur zur Mutter, die, dem „Frauenplan“ folgend, mit welchem Goethe eine Komplizenschaft unterstellt wird, das Familiensystem fundiert und die Übergangsphasen beherrscht82, während die Vererbung von Junggesellen zu Junggesellen eher einer geheimnisvollen, geburtenlosen ‚Geistesschwangerschaft’ ähnelt. Dies lenkt in den folgenden Schritten meiner Untersuchung die Aufmerksamkeit auf die Mutter- und Frauenfiguren, die als Neben-, Gegen- bzw. heimliche Hauptfiguren Lösungen verhindern, Fluchtwege versperren sowie auf Abwege verführen.83 Murau lässt keinen Zweifel daran, dass es seine Mutter ist, die ihn von der Erfüllung durch die Literatur trennt, dem „Paradies ohne Ende“ (Aus 34), wie die Siebenkäs-Szene in Rom auf humoristische Weise vorführt: „Wir waren aus dem Hassler herausgegangen, eine dieser herrlichen Nächte Gambetti, in welcher man t a t s ä c h l i c h a n d a s P a r a d i e s g l a u b t [meine Hervorhebung, T.M.] und sie [die Mutter, T.M.] hatte nach ein paar Schritten gefragt: was ist eigentlich
82 Vgl. Paul Virilio, Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986, 86. 83 Vgl. die Frau des Gerichtsdieners, die, wie K. erkennt, imstande ist, ihn für das Gericht einzufangen (Pro 83).
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Siebenkäs, kannst Du mir das sagen? Und ich hatte ihr gesagt, daß Siebenkäs eine Erfindung von Jean Paul sei. Da sie aber auch nicht wußte, was Jean Paul ist, hatte ich ihr auch gleich zu sagen gehabt, daß Jean Paul ein Dichter war, jener Dichter, der den Siebenkäs geschrieben habe. Ach, hatte sie darauf gesagt, wenn ich das gewußt hätte! Ich hatte geglaubt, Siebenkäs sei eine Erfindung von Dir gegen mich, eine gemeine Finte. Während ich über diese ganze Enthüllung aber auf dem Weg vom Hassler zur österreichischen Botschaft laut aufgelacht hatte, wozu aller Grund gewesen war, hatte meine Mutter nur noch geschwiegen. Ob es auch wirklich stimme, daß Jean Paul ein Dichter und der Siebenkäs eine Dichtung dieses Dichters sei, wollte sie dann noch wissen, weil sie zuerst nicht daran glauben wollte, weil sie mir nie glauben wollte, Gambetti. Also Siebenkäs ist eine Dichtung und Jean Paul ist ein Dichter, hatte meine Mutter noch mehrere Male auf dem Weg zur österreichischen Botschaft gesagt. […] Als wir schon gegen die Hälfte des Weges gegangen waren, beinahe wortlos, hatte sie auf einmal gesagt: und Kafka ist auch ein Dichter? Ja, Kafka ist auch ein Dichter. Schade, hatte sie darauf gesagt, ich glaubte, es sind alles Erfindungen von dir. Schade. Sie hatte sich darüber nicht beruhigen können, daß Jean Paul und Kafka Dichter sind, die den Siebenkäs und den Proceß geschrieben haben und keine Erfindungen von mir gegen sie, meine Mutter, natürlich.“ (Aus 271f.)
Diese Szene korrespondiert mit einer Kindheitserinnerung Muraus, in der er, nachdem er über der Lektüre des Siebenkäs das Briefesortieren und das Abendessen versäumt hatte, von der Mutter zur Rede gestellt, auf ihre Frage, was er denn gemacht habe, erwidert, er habe den Siebenkäs gelesen. Daraufhin wurde er von ihr geohrfeigt, ins Bett geschickt und drei Tage, ohne Essen zu bekommen, eingesperrt (Aus 266ff.). Vor diesem Hintergrund wird Muraus Klage über die Schwere der Muttersprache, die den Geist „auf eine diesem Geist schädliche Ebene“ (Aus 8) drückt, nachvollziehbar. Selbst als Erwachsener hat er sich ein kindliches Gespür für die spielerische Leichtigkeit der Wörter einerseits, für ihre Intensität und musikalische Dimension jenseits ihrer De- und Konnotationen andererseits bewahrt, was sich in seinen zahlreichen Reflexionen über einzelne Wörter 84 , seinem lauten Deklamieren sowie seinen (kindlichen) Wortspielen oder Neologismen niederschlägt. Seine Mutter hingegen fühlt sich von semantisch nicht beherrsch- und identifizierbaren Wörtern bedroht, sperrt sie aus, wofür die verschlossenen Bib-
84 Beispielsweise führt Murau seine Lieblingswörter in Kontrast zu denen seines Bruders Johannes an (Aus 83), das „Lieblingswort aller Lieblingswörter“: Orangerie (Aus 166), oder das Wort „Selche“, welches er durch mehrmalige Wiederholung Gambetti beizubringen versucht (Aus 183); außerdem die „Phantasienamen“, die er und sein Bruder den verletzten Rehen geben: „Sarabande oder Locarnell“ (Aus 136).
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liotheken bzw. die auf den Dachböden aufbewahrten Schriften symptomatisch sind (Aus 56f.), oder quittiert sie mit Gewalt. Der Abgrund der Sprache, auf den die Mutter hier zornig und angsterfüllt reagiert, ist umso schwindelerregender und witziger – Muraus Lachen (Aus 271) mag darauf hindeuten –, wenn man bedenkt, dass der „Falschnamenmünzer“ Siebenkäs eigentlich gar nicht Siebenkäs heißt und dieser Name nichts weiter als ‚über-flüssiger’ oder ‚unfassbarer Unsinn’ bedeutet: Da Bonnet „wirklich“ behauptete, „daß sie [die Seele, T.M.] nicht mehr als sechs Ideen auf einmal haben könne“, wie Jean Paul in einer Fußnote versichert und als Beleg „S. Hallers große Physiologie“ anführt, wird die ‚Sieben’ als „böse“ und als „Getöse[]“ abqualifiziert, das eine der sechs Ideen vertreibt (Sk 183). Zudem bedeutet im Schwäbischen – wo der Phantasieort Kuhschnappel, analog zur Redundanz der „böse[n] Sieben“ (ebd.) „auf der Städtebank […] von 31 Städten als die 32ste angesessen“ (Sk 70), angeblich liegt – laut Grimms Wörterbuch zum einen ‚käs besehen’ ein Pfand- und Kinderspiel, bei dem man „einem steif und ernsthaft ins Gesicht“ sehen und „einen Spruch dazu“ sagen muss, ohne dabei lachen zu dürfen, zum anderen heißt es von leerem Geschwätz in der Gesellschaft: ‚von alten kesen’.85 Da die Mutter für solche Sprachspiele offensichtlich nicht empfänglich ist, sondern im Gegenteil Sprache stets zu Kontroll- und Machtzwecken instrumentalisiert, ist es nicht verwunderlich, dass ihr Sohn als Bilder- und Wörterverschleuderer die Muttersprache ablehnt und sich bevorzugt in Fremdsprachen flüchtet: „Schon die deutsche Sprache ist genau genommen eine häßliche, eine, wie gesagt wird, nicht nur alles Gedachte zu Boden drückende, sondern durch ihre Schwerfälligkeit auch alles tatsächlich gemein verfälschende, sie ist gar nicht imstande, einen Wahrheitsgehalt tatsächlich als solchen tatsächlichen Wahrheitsgehalt wiederzugeben, sie verfälscht alles v o n N a t u r a u s [meine Hervorhebung, T.M.], sie ist eine rohe Sprache, ohne jede Musikalität, und wäre sie nicht meine Muttersprache, ich würde sie nicht sprechen, habe ich zu Gambetti gesagt, wie genau trifft das Französische alles, selbst das Russische, ja selbst das Englische, sagte ich, von dem Italienischen und Spanischen ganz zu schweigen, das wir so gern im Ohr haben, während uns das Deutsche, obwohl es unsere Muttersprache ist, immer fremd und verheerend in den Ohren klingt. Für einen musikalischen und mathematischen Menschen wie ich und Sie, Gambetti, ist die deutsche Sprache etwas Peinigendes. Sie ist, wenn wir sie hören, niemals schön, unbeholfen, klobrig [sic] selbst da, wo wir glauben, sie als hohe Kunst in uns aufgenommen zu haben. Die deutsche Sprache ist vollkommen antimusikalisch, habe ich zu Gambetti gesagt, durch und durch gemein
85 Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig 1873, 249.
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und gewöhnlich und aus diesem Grund empfinden wir unsere Dichtungen ebenso.“ (Aus 239)
Nachdrücklich hebt Murau die mangelnde Musikalität der deutschen Sprache hervor.86 Der ästhetischen Dimension der Sprache wird hier Vorrang gegeben, wogegen die Muttersprache vor allem mit Bedeutung(en) überfrachtet ist, was die Mutter ihrerseits dazu veranlasst, Schrift(en) zu fürchten bzw. der Sprache grundsätzlich zu misstrauen, wie das rituelle Einüben und Durchspielen des Begräbnisplanes zur Sicherstellung der Erbvermittlung unterstreicht. Vermittels des mütterlichen Dressurakts soll eine tief greifende Einprägung und Verinnerlichung zu einer Automatisierung und unbewussten Nachahmung führen, die diesen Krisenmoment des Übergangs von einer Generation zur nächsten so absichert, dass die Mutter selbst über ihren Tod hinaus heimlich die Fäden ziehen und ihre Kinder wie Marionetten durch den Begräbnisakt des Wolfsegger Theaters lenken kann. Diese Dressur entspricht dem Auswendiglernen von Gesetzen und soll die Reduplikation eines unumstößlichen Wortlauts garantieren. Die wöchentliche Briefeordnerin (Aus 264) klammert sich an ein logozentrisches Sprachmodell – selbst dort, wo es offensichtlich an seine Grenzen stößt: „[…] sie hatte eine ganze lange Liste mit den Namen dieser berühmten Geschäfte und nur nach dieser Liste war sie auf ihrem Weg vorgegangen, sie hatte die berühmten Geschäfte in alphabetischer Reihenfolge untereinandergeschrieben, was ein Fehler gewesen war, wie sie selbst bald hatte einsehen müssen, denn die Geschäfte lagen natürlich nicht wie auf ihrer Liste alphabetisch neben-, sondern oft sehr weit auseinander.“ (Aus 268f.)
Während der Vater eher als „schwacher Charakter“ (Aus 48) gilt, der nicht viele Worte verliert (Aus 503) und selbst über das Verhältnis seiner Gattin zu Spadolini schweigend hinwegsieht (Aus 504), dominiert die Mutter, „die Gesprächigste“ (Aus 503), ihre Familie über die Sprache, die sie als Herrschaftsinstrument vornehmlich zur Kontrolle und Erziehung ihrer Kinder einsetzt. Dass Murau die Muttersprache als eine generelle Enteignung des SubjektKörpers durch die symbolische Ordnung der Repräsentation in Bildern erfährt, verdichtet sich in der defizitären und dysfunktionalen Selbsterkenntnis, mit der er sich im zweiten Teil der Auslöschung auf der Wolfsegger Bühne in Szene setzt: „Ich bin ein verstümmelter Mensch“ (Aus 339). Sprache spaltet das Subjekt von sich und seinen Wünschen, indem sie Sprachzeichen dazwischen setzt,
86 Vgl. auch die „kreischenden Stimmen“ (Aus 73) der Schwestern, die als „Sprachrohre [der] Mutter“ (Aus 103) beschrieben werden.
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was dazu führt, dass „[f]ortan die lustbringende lautliche und rhythmische Dimension der Stimme von ihrer gesellschaftlich relevanten Kommunikationsfunktion überlagert [wird].“87 Über diesen Enteignungsprozess verläuft die Einbindung des ‚Ich’ in eine soziale (Familien-)Struktur. Insofern sich Murau dieser aber gerade entwinden will, entpuppt sich die Dekapitation der Mutter durch die Eisenstange während des Autounfalls als eine im Schreibakt inszenierte Verbergung der Durchtrennung des Halses88, als Kampf um eine ‚andere’ Sprache.89 Dies vorausgeschickt kann die Einreihung des Siebenkäs in den murauschen Kanon keineswegs als willkürlicher Akt abgetan werden. Die Gesprächigkeit der Mutter weist in ihrer Bedrohlichkeit unübersehbar Parallelen zu Siebenkäs’ Ehe-
87 Siegmund 1996, 100. 88 Kristeva bestimmt den Hals und die Stimme als Symbole des mütterlichen Körpers, dessen Wiederfindung qua „Oralisierung“ sie als eine Form des Verwerfens angibt. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main 1978, 157. Vgl. auch K.s seltsamen Kuss auf den Hals und auf die Hand von Fräulein Bürstner (Pro 48) als Allegorie der Erotik ihrer Sprach- und Handlungsmächtigkeit. 89 Vgl. die Rede vom „Hals zuschnürenden Wolfsegg“ inmitten einer Tirade über die universale Verantwortlichkeit der Mütter (Aus 299), ebenso die Darstellung der Mutter als „Gesprächszusammenschlagerin“: „[…] die Mutter hat nie zuhören können, hatte immer in alles hineingeredet, hat niemals jemanden etwas aussprechen lassen, hat jedes Gespräch immer schon gleich am Anfang zerstört. Sie ertrug Gespräche nicht. Sie ließ kein Gespräch entstehen, dachte ich. Sie riß mit der größten Skrupellosigkeit die Szene an sich, machte jedes Gespräch kaputt. So dumm waren ihre Bemerkungen, mit welchen sie jedes Gespräch vernichtete. Es war eine ihrer unerträglichen Eigenschaften, daß sie jedes Gespräch haßte, noch dazu, wenn es sich um ein sogenanntes geistiges handelte, sozusagen um ein höher angelegtes, das ertrug sie nicht und schlug es mehr oder weniger mit ihrer Dummheit zusammen. Sie war unsere Gesprächszusammenschlagerin, dachte ich.“ (Aus 572f.) Im Gegensatz dazu ist die Mutter in der obigen Siebenkäs-Szene ausnahmsweise zum Schweigen verdammt, während das Lachen des Sohnes seine Dominanz auf dem Feld der Literatur anzeigt. Die Interpretation der Auslöschung als mündliche Inszenierung, wie sie unter anderen Vogt vorschlägt, ist unter diesen Vorzeichen als höchst problematisch, wenn nicht gar unwahrscheinlich einzuschätzen. Siehe Vogt 2002, 318 u. 324, der diese postulierte Mündlichkeit zudem noch platonisch überformt. Auch Christoph Bartmann insistiert, „dass nicht Schrift, sondern das mündliche Wort […] das Maß von Bernhards Sprache darstell[t].“ Christoph Bartmann, „Vom Scheitern der Studien. Das Schreibmotiv in Bernhards Romanen“, in: Text und Kritik 43 (1991), 23.
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frau Lenette auf.90 Zudem demonstrieren die Grabszene, in der Lenette Siebenkäs’ Versöhnungsgeste als beleidigende Anspielung auf ihre Kinderlosigkeit auffasst (Sk 267), das Gespräch zwischen Siebenkäs und Leibgeber über die Kraft der Phantasie, von Lenette als Reminiszenz an Siebenkäs’ Begegnung mit Natalie in der „Baireuther Fantaisie“ missverstanden und mit rasender Eifersucht vergolten (Sk 495), und die Siebenkäs-Szene (Aus 271f.), wie sowohl Siebenkäs als auch Murau an den hermeneutischen Unzulänglichkeiten und Fehlinterpretationen ihrer weiblichen Gegenüber scheitern und eine Durchführung ihrer Schreibprojekte („Teufelspapiere“ bzw. ‚Auslöschung’) nur über eine Befreiung von den Frauen realisierbar wird. Siebenkäs stellt jedoch, nach seinem Scheintod wieder an seine ‚wahre’ Identität gebunden, seine satirisch-künstlerische Schreibtätigkeit als Beamter in Vaduz ein und beschränkt sich auf ein „Postskript-Leben“ (Sk 523). Für die Auslöschung hingegen verdichten sich die Anzeichen, dass der Muttermord sich zur conditio sine qua non für eine Realisierung der Schrift erhebt. Dementsprechend hängt die These von ihrer Vollendung unmittelbar vom Realitätsgrad des Autounfalls bzw. der Enthauptung der Mutter91 ab, die für Murau selbst nicht verifizierbar ist, da der Sarg nicht mehr geöffnet werden kann und auch Muraus sonst alles durchdringendem Blick (Aus 152)92 standhält. Während Lenette unverbesserlich breiten Augsburger Dialekt spricht und Muraus Mutter Bücher und Schriften wegsperrt, geraten beide als bibelfeste Christinnen zu buchstabentreuen und buchstabengläubigen Sprachreinigerinnen und -hüterinnen. Wie Lenettes Geschwätzigkeit (vgl. Sk 339) und Putzfimmel (vgl. Sk 156ff. u. 166) die Fertigstellung der „Teufelspapiere“ sabotieren, so verhindert die Sprachmacht der Mutter, dass Murau sein „geheimes Denken“ veröffentlichen kann. Folglich ist anzunehmen, dass Murau, Siebenkäs in bester Junggesellenschaft verbunden, hinsichtlich seiner (schriftstellerischen) Zeugungskraft ebenso impotent ist wie Jean Pauls Held.
90 Vgl. Lenettes tautologische Sprechweise (Sk 187) sowie das „Extrablättchen über das Recht der Weiber“ (Sk 187f.). 91 Wie die Abbildung in der Zeitung zeigt, ist die Durchtrennung nicht vollständig: „Auf einem der Bilder war der Kopf meiner Mutter abgebildet, der noch mit einem dünnen Fleischfetzen mit ihrem im Wagen sitzenden Rumpf verbunden ist und darunter hat die Zeitung geschrieben: Der vom Rumpf getrennte Kopf.“ (Aus 406) 92 Vgl. das Durchdringen der „Gesichtsvorhänge“ (Aus 564).
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2.2.2. Das Aufschreibesystem um 1800 Die erste Herausgabe des Siebenkäs 1796 fällt historisch just in die von Friedrich Kittler beschriebene Umstrukturierung des Aufschreibesystems um 1800 und zeugt von Jean Pauls profundem Wissen um die Problematik desselben. Die nun zu nationaler Bedeutung erhobene Muttersprache wird mit bissiger Satire und witzigen Parodien kommentiert, was den Erzähler unter anderem Kritik antizipieren lässt, die er wegen seines Fremdwörtergebrauchs zu erwarten hat: „[…] der sprachreinigende Kolbe schnauzet hier nach seiner Gewohnheit mich Unschuldigen über fremde Wörter in einem ja römisch-juristischen Aktus an […].“93 (Sk 92) Das neue gesellschaftliche Idealbild der Kleinfamilie um 1800, in dem die Mütter mit der Übernahme der zentralen Aufgabe der Erziehung und Alphabetisierung ins staatliche Herrschaftszentrum rücken, bildet eine Parallele zu Muraus Klage über das zum Mutterhaus degenerierte Vaterhaus, was dazu führt, dass „[a]lles […] sozusagen die Handschrift [s]einer Mutter [trägt]“ (Aus 102). Eine Aussage Mittlers in Goethes Wahlverwandtschaften fasst „das ganze Erziehungsgeschäft mit wenigen Worten“ zusammen: „Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es überall wohl stehn“ (Wv 446). Mit „Dienern“ sind zuvorderst Staatsdiener gemeint, Beamte, die im Verbund mit den Müttern zu den wichtigsten Instrumenten des sich entfaltenden Rechtsstaates am Beginn des 19. Jahrhunderts aufsteigen. „Staatsrecht und Verwaltungswissenschaft stellen […] den Nexus zwischen Staat und Beamtentum her, Pädagogiken […] den zwischen Mutter und Kind“ und führen zu einer „Einheit der Staats- und Bildungsidee.“94 Während Beamte die Geschäfts- und Kommunikationsströme qua Schriftlichkeit organisieren, regulieren die Mütter die Sprechströme ihrer Kinder qua Mündlichkeit.95 Die ausdrücklich für sie abge-
93 Später bereut Siebenkäs den Fremdwortgebrauch, denn hätte er das deutsche Wort „Einbildungskraft“ anstelle von „Phantasie“ benutzt, hätte Lenette es nicht mit „Fantaisie“ verwechseln können und wäre nicht eifersüchtig geworden. (Sk 495) Vgl. auch Siebenkäs’ ironische Rezension von Steffens lateinischer Emilia-Galotti-Übersetzung. (Sk 181 u. 185f.) 94 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003, 75. 95 Ebd., 79. Ein weiterer Aspekt davon ist die Emergenz des Konzepts ‚Hochsprache’, einer Normierung der Schreib- und Ausspracheregeln, was zu einem Feldzug gegen Dialekte führt. Ebd., 47. Vgl. dazu die Bemühungen des Schulrats Stiefel, Lenettes Augsburger Dialekt zu korrigieren (Sk 119). Jean Paul verleiht dieser Bildungs- und
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fassten Erziehungsschriften und Fibeln werden von ihnen in Sprache umgesetzt, wodurch die Schriftlichkeit von ihren Mündern konsumiert und ausgelöscht wird. „Bücher verschwinden im Muttermund“, schreibt Kittler96 – was als Erklärung dafür dienen könnte, warum Murau diesen Mund so sehr fürchtet, wie die – unauslöschliche (!) – Szene des allabendlichen Gutenachtkusses97 der Mutter belegt: „[…] sie erschien jeden Abend, […] um uns den Gutenachtkuß zu geben. Johannes hatte immer nach ihrem Gutenachtkuß verlangt, ich hatte den Gutenachtkuß innerlich abgelehnt, ich haßte ihn, wenngleich ich ihm auch niemals entkommen bin. Noch heute verfolgt mich meine Mutter im Traum mit dem Gutenachtkuß, hatte ich zu Gambetti gesagt, sie beugt sich auf mich und drückt ihre Lippen auf meine Wange, fest, wie wenn sie mich bestrafen wollte.“ (Aus 178)
Aufgrund dieses Traumas antwortet er, der die „Auslöschung im Kopf“ (Aus 543) hat, auf die Frage seiner Mutter, was in ihm vorginge: „Nichts“ (Aus 278). Die Geheimhaltung der Gedanken ist indes (über-)lebensnotwendig (Aus 161), denn ihnen droht neben der sprachlichen Fixierung und Verdinglichung als einer Verfehlung und Mortifizierung des (lebendigen) Eigentlichen letztlich die Konsumtion durch den Muttermund. Muraus Manuskripten ergeht es nicht besser. Nachdem seine Schrift noch von ihr den Namen bzw. den Titel „Auslöschung“ erhalten hatte, steht ihr die Vernichtung durch die Mutter aller Mütter – die Idealmutter Maria – bevor:
Erziehungsmaßnahme eine ironische Pointe, indem er ausgerechnet Lenette mit der Übernahme von Stiefels Denken bezüglich phonetischer Genauigkeit den Vesperprediger Schalaster wegen seiner undeutlichen, dialektalen Aussprache für einen Irrlehrer halten lässt, „weil er an Mascheh, an Jäsos Christos, Petros, Paulos glaube und alle Apostel bei ihm sich ‚ossen’ […]“ (Sk 334). – In der Auslöschung führt Bernhard anhand von Spadolinis italienischem Akzent vor, wie gerade die phonetisch korrekte Wiedergabe die Semantik eines Wortes destabilisieren kann (Vgl. Kapitel 2.1. des ersten Teils). Ferner signalisiert die mutwillig fehlerhafte Orthographie im Titel der Erzählung Goethe schtirbt, dass ihm der Zusammenhang von Goethezeit, Aufschreibesystem und Hochsprache resp. Rechtschreibregeln offensichtlich bewusst war. 96 Ebd., 67. 97 Auch im Siebenkäs wird die Gefahr des Frauenmundes thematisiert. Schlägt Siebenkäs‘ Versuch zu Beginn, seine Braut Lenette zu küssen, noch fehl (Sk 47), so empfängt er später in der Fantaisie von Natalie den „Todes-Kuß“: „Nun ists vorbei! – nimm dir noch den Todes-Kuß und sage nichts mehr zu mir.“ (Sk 423).
190 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES „Meine Manuskripte sind nichts wert, sagte ich mir, aber ich habe es nicht aufgegeben, mich immer wieder an Niederschriften zu versuchen, mich sozusagen am Geist zu vergreifen, dachte ich. Maria ist die Unbestechliche, die mit meinen Manuskripten so verfährt, wie sie es verdienen, dachte ich. Habe ich das von ihr geprüfte Manuskript98 weggeworfen, bin ich erleichtert, dachte ich. Dann umarme ich sie und wir sehen beide zu, wie das Manuskript in ihrem Ofen verbrennt. Das ist mit Maria zusammen immer ein Höhepunkt, ein Glückszustand, dachte ich. Kein Mensch außer Maria, [sic] ist imstande, mir klarzumachen, daß meine Manuskripte nichts wert sind, daß sie ins Feuer geworfen gehören.“ (Aus 541f.)
Es kann demnach nicht überraschen, dass die Schrift Die Mütter (Aus 299) ebenso wenig zu verwirklichen ist99 wie die ‚Auslöschung‘ selbst. Wollte Murau sein Auslöschungsvorhaben tatsächlich in die Tat umsetzen, so gälte es zuvorderst ein neues Aufschreibesystem zu etablieren, in/mit dem die Durchführung der Schrift erst möglich würde. Muraus erwünschte Transzendierung der verhassten „Beamtenliteratur“ sowie die spezifische Auslöschungspoetik machen die Überwindung der von Goethe initiierten literarischen Tradition und die Tötung der Mutter – genauer: der Ausschaltung der sich einmischenden Stimme der Muttersprache, der mütterlichen und muttersprachlichen Bestimmung – zur Prämisse. Wie sich dies zur klassischen Literaturkonzeption Goethes und seiner Verstrickung in den „Frauenplan“ verhält, veranschaulicht eine Gegenüberstellung von Muraus Eschatologie und Fausts Ermächtigungsakt, mit dem er gleichsam ein neues Aufschreibesystem zu errichten trachtet, das ein freies, von überliefertem Wissen entbundenes Schreiben ermöglichen soll.100 Im Mittelpunkt steht dabei jeweils ‚das’ Wort. Kittler legt dar, wie die faustische Tat den Anfang des Johannesevangeliums („Am Anfang war das Wort“) entgegen jeglicher Diskurspraxis zu einer freien Übersetzung des griechischen Wortes λόγος macht, die gänzlich auf der Immanenz der eigenen Seele und des redlichen Gefühls (FI 1221/61) beruht und somit eine Signifikatenlogik inauguriert, die zur Grundlage von Goethes klassischer Literaturkonzeption wird:
98
Maria ist also offensichtlich in der Lage, das Manuskript, das „wie alle […] schlampig geschrieben ist“ (Aus 541), zu lesen und zu entziffern!
99
Vgl. Kittler 2003, 68. – In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen lässt der Schreiber in Klingsohrs Märchen die Mutter verbrennen, wird jedoch am Ende beseitigt, während die Mutter zurückkehrt. Vgl. Kittler 1991, 168.
100 Kittler 2003, 19.
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„Zeichen stehen formal in drei Bezügen. Werden die zwei äußeren Bezüge des Zeichens – auf seine aktuellen Nachbarn im Vorher und Nachher der Rede und auf seine virtuellen Substitute im Schatz der Sprache – beide ausgeblendet, dann bleiben nur noch der innere imaginäre Bezug zwischen Signifikant und Signifikat. Er ist es, den man ‚gewöhnlich‘ vorab seit Goethes Kunsttheorie ‚ein Symbol nennt’. Für die Dauer eines Jahrhunderts suspendiert der faustische Handstreich die Zurechnung des Zeichens zu den Mengen, deren Element es ist. Dieser Ausfall hat sehr pragmatische Gründe. Denn der Bezug aufs Signifikat ist der einzige, der nicht dem Diskurs des Anderen gehorcht.“101
Wo Faust „keine Skrupel noch Zweifel [plagen]“ (FI 368/33), gibt sich Muraus Streben nach einem zukünftigen Ursprung, dem ein ‚neues Schreiben‘, eine ‚neue Literatur‘ abzuringen wäre, zwar nicht weniger kühn, doch weitaus weniger eindeutig: „Gambettis Aufmerksamkeit, ja Faszination ist die größere, wenn ich ihm sage, wie die Welt in meinem Sinne zu verändern wäre, indem wir sie ganz und gar radikal zuerst zerstören, beinahe bis auf nichts vernichten, um sie dann auf die mir erträglich erscheinende Weise wieder herzustellen m i t e i n e m W o r t [meine Hervorhebung, T.M.], als eine vollkommen neue, wenngleich ich nicht sagen kann, wie das vor sich zu gehen hat, ich weiß nur, sie muß zuerst völlig vernichtet werden, um wieder hergestellt zu werden, denn ohne ihre totale Vernichtung kann sie nicht erneuert sein, als wenn ich Gambetti den Siebenkäs in die Hand drücke und ihn bitte, mir dann, am Ende der Lektüre, den Siebenkäs betreffende Fragen zu stellen.“ (Aus 209)
Die Stelle führt erneut das Doublebind des Erbes vor. Nach einer Totalvernichtung käme eine Neuerschaffung einer creatio ex nihilo gleich, weshalb die Welt nur „beinahe bis auf nichts“ vernichtet werden kann.102 Zum wiederholten Male stellt sich die Frage einer korrekten oder inkorrekten Interpunktion, nach der die entscheidende Stelle „mit einem Wort“ sich entweder auf den Johannesprolog103
101 Ebd., 20. 102 Vgl. Aus 480: „[…] die Wolfsegger Luft ist nicht die römische, die Wolfsegger Atmosphäre absolut keine römische, Wolfsegg, mit einem Wort, ist nicht Rom.“ Dies unterstreicht noch einmal die Signifikanz dieser vermeintlichen Floskel, denn ein Verschmelzen beider Sphären (in einem Wort) hätte ihre Eliminierung zur Folge. Tatsächlich bleibt die Grenze zwischen den Räumen bedrohlich diffus, wie ich in Kapitel 2.4.2. und 2.5.3. noch ausführen werde. 103 Die Relevanz des Johannesprologs liegt nicht nur im Postulat einer Verschränkung von σώµα und σήµα. Das Johannesevangelium könnte auch für die jüdische Dimensi-
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(aus Goethes Faust) applizieren oder sich als Zitat von einem der Lieblingsausdrücke Jean Pauls identifizieren ließe, den er im anschließend erwähnten Siebenkäs so häufig und gezielt in der Bedeutung ‚anders gesagt’ einsetzt, um ihn letztlich ironisch-spielerisch am Ende des vorletzten Kapitels gegen sich selbst zu wenden.104 Jean Paul liebt diese Wörter und Phrasen, die ihren eigenen Abgrund offen legen und sich selbst auslöschen, weil sie stets Anlass zu ironischen Sprachbetrachtungen und weiteren Abschweifungen geben – und einen nicht zuletzt zum Lachen bringen. Während Goethe seinen Helden mit einer Wendung vom Wort zur Tat das Diskursnetz zerreißen lässt, bleibt die Bedeutung von „mit einem Wort“ in der Auslöschung in der Schwebe z w i s c h e n der (un-)möglichen Artikulation eines magischen Wortes, das aus dem Nichts eine neue Welt erschaffen könnte, und dem Eingeständnis, dass eine umfassende Vernichtung notgedrungen auf Materialreste – und gleichsam auf ein Gedächtnis (!) – angewiesen bliebe, um damit den Neuaufbau der Welt zu gestalten, der zwangsläufig auch ein Wiederaufbau wäre. Was die neu zu begründende Literatur betrifft, so ließe sich postulieren, könnte sich dieses unabdingbare Zeichenreservoir aus den Texten des Kanons speisen.105 Als Lektüreanweisung für den Anarchisten Gambetti übernimmt der Kanon somit eine erzieherische Funktion, die sich nicht nur gegen die „Beamtenliteratur“ richtet, sondern ein ganzes Staats- und Kultursystem herausfordert, das um 1800 seinen Ausgangspunkt hat und deren offizielles Aushängeschild – über die Literatur hinaus im Universalbegriff „Bildung“ – Goethe106 ist, wie fragwürdig, ideologisch sich über Opfer und Verluste blindlings hinwegsetzend oder falsch auch immer sich die Auslegungen seiner Texte gestaltet haben mögen.107
on der Eisenbergrichtung von Bedeutung sein, da der Griechenchrist Johannes wesentlich für antijüdische Tendenzen im Christentum verantwortlich zeichnet. Vgl. Hörisch 1992b, 57f. Zur Bedeutung des Johanneismus für die Frühromantik und den Idealismus siehe Hartwich 2005, 84ff. 104 „Mit drei Worten – denn weshalb viele Gründe, da man nur einmal wollen darf, so kanns nachher an Gründen dazu nicht fehlen – er reiste ab.“ (Sk 575) 105 In diesem würde dann freilich die gesamte Beamtenliteratur schon wieder mitschwimmen, wie auch Jean Paul bereits vor über 200 Jahren wusste. Siehe Sk 237. 106 Vgl. Kittler 2003, 158: „Der Name Goethe (wie in anderen Kulturen der Name des Vaters) bündelt alle Diskurskontrollen, die das Aufschreibesystem von 1800 braucht.“ 107 Offenkundig fühlte sich Goethe bemüßigt, eine Fortsetzung zu Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] zu verfassen. Der Untertitel „Die Entsagenden“ der darauf folgenden
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2.2.3. Mutter(-)Natur In der Verbindung zwischen Beamtenschaft und Mutterschaft im Aufschreibesystem um 1800 ist einem weiteren Gesichtspunkt nachzugehen, der die Gegenposition der Auslöschung zur klassischen Konzeption von Goethes Faust indiziert – welche freilich vom historischen und poetologischen Horizont des Bernhard-Textes her zu perspektivieren wäre – und den verborgenen Muttermord offenlegt: der Gleichsetzung von ‚Mutter’ und ‚Natur’, von der sich Muraus Widerstand gegen die Muttersprache, die „alles von Natur aus“ verfälscht, herleitet. Mit einer natürlichen Erziehungsbegabung versehen bekleiden Mütter ihre Rolle im Aufschreibesystem um 1800 als reiner Geist und reine Stimme, wodurch sie als „Quelle von Diskursen“ und zugleich als „Abgrund, wo Geschriebenes untergeht […]“ gelten. Faust, der nicht mehr bloß Schauspiele erfahren will, sondern sich nach den „Quellen allen Lebens“ (FI 456/36) sehnt, strebt eine
Wanderjahre, der sich inhaltlich in Wilhelms von der Turmgesellschaft auferlegtem Reisezwang sowie seinem permanenten Getrenntsein von Natalie widerspiegelt, könnte dabei als Korrektiv zu solchen Interpretationen fungieren, die das Ende der Lehrjahre allzu euphorisch als Happy End zelebrierten und in dem „Glück“, von dem der Protagonist im Schluss-Satz redet, allzu voreilig die Erfüllung bürgerlicher Träume sahen. Die Wanderjahre weisen sich dagegen dezidiert als unabgeschlossen aus. In jüngerer Zeit hat Joachim Pfeiffer dem Gattungskonzept des Bildungsromans für die Lehrjahre nur noch einen „heuristischen Wert“ zugebilligt und darauf insistiert, dass von einem gelungenen Abschluss des Romans nicht die Rede sein kann. Seine Lektüre fördert in Anlehnung an zeitgenössische Interpretationen wie jene von Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel gerade eine Subversion des Bildungsschemas zutage, indem er eine „grundlegende Relativierung und Schwächung der Hauptfigur“ bei gleichzeitiger Aufwertung der Frauenfiguren feststellt. Über die positive Gestaltung der Frauenfiguren hinaus, aus deren Beziehungsgeflecht zum goetheschen Helden Pfeiffer ein „formales Organisationsprinzip“ des Textes herausliest, ist für die vorliegende Arbeit vor allem „[d]as antiödipale Modell, das im Bild vom kranken Königssohn leitmotivisch wiederkehrt“, relevant, denn hier zeichnen sich in einer Revolte der Söhne gegen die bürgerliche Kultur und das Gesetz des Vaters ähnliche Problemstellungen zwischen Goethe und Bernhard ab, die letzterer auf das Desorganisationsprinzip der Junggesellenmaschine ausrichtet. Siehe Joachim Pfeiffer, „Das Subjekt des Romans. Zur Subversion des Bildungsromans in Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“, in: Achim Geisenhanslüke (Hrsg.), Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal, Heidelberg 2008, 137ff.
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„Wendung vom Bücherkram zu Lebensquellen“ 108 an und lässt darin den Wunsch und die Vorstellung einer unmittelbaren Konsumtion erkennen, die bar aller Zeichenhaftigkeit und Medialität ist. Das Bild der Mutter als einer unvermittelt aus sich selbst schöpfenden Quelle taucht auch an prominenter Stelle in Musils Portugiesin auf: „Seltsam war die Erinnerung an den Abend, dem der zweite [Sohn, T.M.] sein Leben dankte. Da war, als er [von Ketten, T.M.] kam, ein weiches hellgraues Kleid mit dunkelgrauen Blumen, der schwarze Zopf war zur Nacht geflochten, und die schöne Nase sprang scharf in das glatte Gelb eines beleuchteten Buchs mit geheimnisvollen Zeichnungen. Es war wie Zauberei. Ruhig saß, in ihrem reichen Gewand, mit dem Rock, der in unzähligen Faltenbächen herabfloß, die Gestalt [der Mutter, der Portugiesin, T.M.], nur aus sich heraussteigend und in sich fallend; wie ein Brunnenstrahl; und kann ein Brunnenstrahl erlöst werden, außer durch Zauberei oder ein Wunder, und aus seinem sich selbst tragenden, schwankenden Dasein ganz heraustreten? Man mochte das Weib umarmen und plötzlich gegen den Schlag eines magischen Widerstands stoßen; es geschah nicht so; aber ist Zärtlichkeit nicht noch unheimlicher?“ (Por 32f.)
Die Frau, die Lebensquelle ist und Leben spendet, ist erhabene Trägerin einer geheimnisvollen Weisheit, die dem Mann ebenso verschlossen bleibt wie die unergründlichen Zeichen, die allein sie zu lesen vermag. Die Portugiesin präsentiert sich von Ketten in einem arabesken Bild von befremdlicher Distanz („Das andre aber ist fremd wie der Mond“, Por 33), das er nicht um-/erfassen kann. Dieses andere liebt von Ketten „heimlich“ (ebd.). Die Distanz, die sich hier zwischen den Geschlechtern aufspannt, ist aus Fausts Sicht eine zu tilgende. Er spricht – angeblich – das Zeichen des geheimnisvollen Buches von Nostradamus aus109: Phantasma einer „elementare[n] und frühkindliche[n] Konsumtion“, mittels derer man „nicht mehr bloß Schauspiele […] erf[ährt], sondern [sich] lesend an ‚Brüsten’ oder ‚Quellen allen Lebens’“110 labt. Mit Amras wird im intertextuellen Spiel einmal mehr die Gegenrichtung akzentuiert. Hier wachsen die Kinder inmitten der „Pornographie der Natur“ (Am 93) auf. Die Mutter als Lebensquelle wird zur Krankheits- und Todesquelle perver-
108 Kittler 2003, 68. 109 Ebd., 13. 110 Ebd., 14.
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tiert, der „Herkunftskomplex“ als Erbkrankheit denunziert. Die Epilepsie der Mutter gerinnt zum Schicksal der ganzen Familie, die sich in kollektivem Selbstmord auszulöschen beabsichtigt – während die Menschen draußen auf der Straße ins Theater (!) gehen (Am 19) und die Kirchenglocken läuten (ebd.), die sie, im Gegensatz zu den Osterglocken in Faust, nicht vom Suizid abhalten.111 Spiegelbild der vernichtenden mütterlichen Krankheit ist eine „entartete Landschaft“, „die auf Natur als den Keim des Übels [verweist].“ Für die den Selbstmordversuch überlebenden Brüder ist die Erbkrankheit „der Beweis, daß der Mensch der Gewalt einer deformierten Natur unhintergehbar unterworfen ist.“112 Unmittelbar nach dem Tod ihrer Eltern werden sie von ihrem Onkel in den Turm von Amras gebracht, „Zuflucht suchend und Zuflucht findend vor der mit [ihnen] Unzucht treibenden erbosten Natur“ (Am 35f.). Das Ausgeliefertsein an Mutter(-krankheit) und Natur verdichtet sich zum Inzest („Wir hatten, von unseren ersten Gedanken an, immer in einer von unseren Eltern in uns eingeführten geistigen Hochgebirgsinzucht gelebt […]“, Am 94), der sich mit tödlicher Wirkung in Walters Sturz aus dem Turm in den ihn umgebenden Apfelgarten als Rückkehr zur Mutter Erde manifestiert. 113 Sich von Wilhelm Meisters (Aus-) Bildung und dem Heilmittel der Medizin absetzend, gibt es für die Protagonisten in Amras weder Aussicht auf Heilung noch Entwicklung, wenngleich ihnen gerade die Krankheit „neue Erlebniswege“114 ermöglicht. In Brochs Esch oder die Anarchie spielt Krankheit zwar keine exponierte Rolle, umso mehr aber die von Faust propagierte Rückkehr zur Mutter, die Broch zu einer Scheinlösung ausgestaltet. Zunächst für Esch noch unerreichbar wird „Mutter Hentjen“ trotz ihrer Frigidität und Spröde schließlich seine Frau. Paradoxerweise wird die verwitwete und kinderlose „Mutter Hentjen“ just in dem Moment ein einziges Mal – lautlos im Geiste (!) – bei ihrem Vornamen115 genannt, als Esch sich vorstellt, mit ihr ein Kind zu haben (E 219f.), was sich indes nie realisieren wird, denn „Mutter Hentjen“ ist dem Waisen Esch, „der seine Mutter kaum gekannt hatte“ (E 127), sowohl Mutterersatz als auch metaphori-
111 Vgl. Martin Huber, Thomas Bernhards philosophisches Lachprogramm. Zur Schopenhauer-Aufnahme im Werk Thomas Bernhards, Wien 1992, 70. Auch am Ende von Jean Pauls „Rede des toten Christus” (Sk 280) ertönen „ferne Abendglocken“ zum Zeichen der restituierten Ordnung. 112 Scheffler 2008, 263. 113 Jung 2009, 96. 114 Kay Link, Die Welt als Theater. Künstlichkeit und Künstlertum bei Thomas Bernhard, Stuttgart 2000, 104. 115 Vgl. Pro 31.
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sche Mutter, die für ihn den ersehnten Fluchtraum bereitstellt: den Mutterleib.116 Die endgültige Entscheidung für eine Beziehung mit „Mutter Hentjen“ (E 194) beschert ihm das befriedigende Gefühl, ein Opfer zu bringen, wodurch er einerseits seine heimlichen homoerotischen und polygamen Sehnsüchte auslöscht und somit inmitten eines allgemeinen Wertezerfalls ein Stück Ordnung zurückgewinnt, andererseits seinen Wunsch nach Anerkennung und gesellschaftlicher Integration erfüllt 117 – wobei die Ambivalenz einer Überschreitung der InzestGrenze bestehen bleibt.118 Anstatt der erträumten Flucht ins „Land der Gerechtigkeit“ (E 199), nach Amerika, um das Neue zu finden und der „Ordnung der Maschine“ (E 176) zu entkommen, kehrt der Buchhalter Esch, durch Ehe und finanzielle Verluste gebunden, qua ‚Mutter’ und ‚Beamtentum’ in seine Heimat Luxemburg zurück. Wie der Safeschlüssel-Affäre zu entnehmen ist, sind in der Auslöschung die Lebensquellen längst versiegt. Auf dem Grund des unter dem Zimmer der Mutter liegenden Brunnens, wo diese den verschwundenen Safeschlüssel vermutet, findet der Gärtner nur noch einen „alten Schuh, der schon halb verfault“ (Aus 276f.) ist. Murau selbst bezieht sein Wissen – über das heimliche Treffen seiner Mutter mit Spadolini bei einer Hundevernichtungsanstalt in Trastevere – aus einer geheimen „Quelle“, die er nicht einmal Gambetti gegenüber preisgibt (Aus 282). Weder diese „Quelle“ noch Muraus Naturbegriff sind in ein positives Verhältnis zu seiner Mutter zu bringen, die ja für die Degenerierung des „Vaterhaus[es]“ und der „weitläufigen und großzügigen Natur“ Wolfseggs verantwortlich zeichnet. Allein Spadolini will in seiner Geliebten „das Naturkind“ (Aus 497) sehen, die ihm mit „mütterlichen Heilkräutern aus Oberösterreich“ das Leben gerettet hat (Aus 557). Abgestoßen von den idealisierenden Verzerrungen der Mutter in Spadolinis Erinnerungs- und Trauerrede beim Abendessen, schließt Murau den Erzbischof und mutmaßlichen Vater in seinen grotesken Gedanken, den Sarg der Mutter zu öffnen, mit ein („Plötzlich habe ich gedacht, was wäre, wenn doch der Deckel des Sarges der Mutter geöffnet würde und Spadolini wäre von mir gezwungen, den Inhalt des Sarges anzuschauen, […]“, Aus 592). Dementgegen dekretiert der Auslöscher, dass „[d]er Tote […] ein wahrhaftiges Leben geführt
116 Bei der erträumten Flucht nach Amerika symbolisiert der „Bauch[] des Schiffes“ (E 83) den Mutterleib. 117 Vgl. Anjeana K. Hans, “Broch’s 1903: Esch oder die Anarchie: Desiring the Abject Outside”, in: The German Quarterly 81 (2008), H. 1, 98f. 118 Ebd., 101.
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[hat], […], gleich wer es war, niemand hat ein Recht, es zu verfälschen, die Natur, die er war, auf einmal zur Unnatur zu machen, weil es ihm nützlich ist, weil er sich dadurch angenehm in Szene setzen will.“ (Aus 580) Spadolini steht für einen goetheschen Naturbegriff119, dem Murau ganz im Sinne seiner Novalisschen Kritik begegnet. Wenn Novalis verkündet, dass Natur und Natureinsicht zugleich entstehen120 , so geschieht dies in der Prozesshaftigkeit des romantischen Reflexionsmediums, das seinen Widerhall in Onkel Georgs Kunst- und Naturbegriff findet: „Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, sagte er [Onkel Georg, T.M.]. Erst wenn wir den Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die Natur richtig anwenden und genießen. Die meisten Menschen kommen niemals zu einem Kunstbegriff, nicht einmal zu dem einfachsten und begreifen dadurch auch niemals die Natur. Die ideale Anschauung der Natur setzt einen idealen Kunstbegriff voraus, sagte er. Die Menschen, die vorgeben, die Natur zu sehen, aber keinen Kunstbegriff haben, sehen die Natur nur oberflächlich und niemals ideal und das heißt, in ihrer ganzen unendlichen Großartigkeit.“ (Aus 34)
Sowohl Mutter- als auch Naturbegriff und deren Kurzschließung werden von Murau scharf attackiert, indem er der Vorstellung von einer ‚natürlichen Mutter’ jegliche Berechtigung abspricht und ein Umdenken der modernen Welt fordert, die noch immer in den Konfigurationen des Aufschreibesystems von 1800 verharrt: „Die Deutschen haben einen Mutterkomplex, sagte ich, wie die Österreicher, an den Müttern darf nicht gerüttelt werden, sagte ich zu Gambetti, die Mütter sind in diesen Ländern heilig, aber in Wahrheit sind die meisten von ihnen perverse Puppenmütter, die an ihren Kindern und an ihrer Familie ziehen wie an Puppen, so lange daran ziehen, bis sie diese Kinder zutode gezogen haben, genauso zutode wie ihre Männer.“ (Aus 124) „In Mitteleuropa gibt es keine natürliche Mutter mehr, nur noch die Kunstmütter, sozusagen künstliche Mütter, sagte ich, Puppenmütter, die von vornherein Kunstkinder, das heißt, mehr oder weniger künstliche Kinder, Kunstkinder auf die Welt bringen. Auch in den entlegensten Gebirgstälern finden Sie keine natürliche Mutter mehr, nur noch die Kunstmutter. Und diese Kunstmutter bringt selbstverständlich nur immer ein Kunstkind
119 Benjamin 1990, 112f. 120 Ebd., 116.
198 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES auf die Welt und dieses Kunstkind schließlich auch wieder nur ein Kunstkind, auf diese Weise gibt es ja heute schon nurmehr noch Kunstmenschen, künstliche Menschen, keine natürlichen, es ist ein Irrtum, wenn wir den Menschen als natürlichen bezeichnen, den gibt es ja gar nicht mehr, es ist der künstliche, der Kunstmensch, der uns heute begegnet und mit dem wir es zu tun haben, deshalb erschrecken wir ja schon, wenn wir noch einmal einem natürlichen Menschen begegnen, weil wir das ja schon gar nicht mehr erwartet haben, weil wir ja schon so lange Zeit nur noch mit dem Kunstmenschen, mit dem künstlichen Menschen konfrontiert sind, der schon so lange Zeit die Welt beherrscht, die ja auch längst keine natürliche, sondern durch und durch nurmehr noch eine künstliche ist, Gambetti, eine Kunstwelt. Die Kunstwelt hat den Kunstmenschen hervorgebracht, umgekehrt der Kunstmensch die Kunstwelt, der künstliche Mensch die künstliche Welt und umgekehrt. Es ist gar nichts mehr natürlich, […], nichts, überhaupt nichts mehr. Wir gehen aber immer noch davon aus, […], daß alles natürlich ist, das ist ein Irrtum. Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr. Wir gehen immer noch von der Naturbetrachtung aus, wo wir schon lange nurmehr noch von der Kunstbetrachtung ausgehen sollten. Dadurch, […], ist alles so chaotisch. So falsch. So unglücklich. So tödlich konfus. Wo keine Natur mehr ist, kann auch keine Naturbetrachtung mehr stattfinden, Gambetti, das ist doch logisch, hatte ich zu Gambetti gesagt.“ (Aus 125f.)
Gebührlich werden diese Überlegungen den Reflexionen zu den Fotografien integriert, die er ja als Inbegriff der Naturverfälschung spezifiziert hat. Unabhängig von der mütterlichen Machtübernahme gibt es in Muraus Idealvorstellung von Wolfsegg ‚Natur’ durchaus auch als „männliche[s] […] Element“ (Aus 171), nämlich in Form der Orangerie (im Gegensatz zum „fraulichen Element“, das für ihn die Küche darstellt), die somit für das maskuline Gegenstück zu Charlottes Mooshütte in Goethes Wahlverwandtschaften gehalten werden kann. In der Auslöschung fungiert sie zudem als Pendant der Bibliotheken. Kittler weist im Kontext des Aufschreibesystems von 1800 auf die „alte Rhetorenmetonymie Blatt/Blatt“ hin, die den Übergang von der Natur zum Buch anzeigt. Dadurch nimmt „die Urschrift im Schreibfeld exakt denselben Platz wie die Mutterstimme als Naturanfang im Feld von Lesen und Sprechen“ 121 ein. Steht die Orangerie als Element des Südens für üppige Vegetation und damit für Natur, versinnbildlicht sich in den Bibliotheken die unermessliche Bücherwelt des Nordens als Sphäre des Geistes. In Muraus Denken sind jedoch beide Sphären maskulin besetzt, während die Mutter dem erotisch-nationalsozialistischen Bereich des Jägerhauses zugerechnet wird. „Orangerie“ ist sein absolutes Lieblingswort (Aus 166): Hier hat er nicht nur die ersten lateinischen Wörter gelernt,
121 Kittler 2003, 105.
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sondern auch zum ersten Mal „Kontakt mit den sogenannten anderen Menschen“ (Aus 165) gehabt. Gemeint sind damit in erster Linie die Gärtner, die er wie die Bergleute und die Forstarbeiter122 zu den „ganz natürlichen“ zählt und denen er nach seiner Ankunft in Wolfsegg nicht mehr so spontan wie früher in seiner Kindheit begegnen kann, um ihnen die Hände zu schütteln, weil er denkt, dass es „zur Katastrophe [kommt], wenn der Natürliche auf den Künstlichen trifft“ (Aus 338). Schon bei der Analyse dieser Textstelle im ersten Teil dieser Arbeit wurde hervorgehoben, dass Muraus anschließender Auftritt sich erst nach einer ausgedehnten Reflexionsphase ereignet. Für die Frage nach dem phänomenalen Status des Textes und den nächsten Schritt meiner Interpretation ist es von großer Signifikanz, was Murau nur wenige Seiten zuvor über die Möglichkeit dieser Begegnung des Künstlichen mit dem Natürlichen sagt, wenngleich hier die Dichotomie über die Begriffe „die Oberen“ (die in Wolfsegg Lebenden) und „die Unteren“ (die im Ort unterhalb von Wolfsegg Lebenden) verläuft: „Lebenslänglich habe ich mich bei den Einfachen, die ja nur sogenannte Einfache sind, einschleichen wollen, dachte ich, an der Tormauer stehend, ich habe viele Tricks angewendet, um sie zu übertölpeln, aber sie haben mich durchschaut und mir den Weg versperrt, wie die Meinigen den Weg der sogenannten Unteren versperrt haben, weil sie sie durchschaut und dadurch den Weg versperrt haben. I n m e i n e r r ö m i s c h e n W o h n u n g p h a n t a s i e r e i c h m i c h s o z u s a g e n o f t z u i h n e n [meine Hervorhebung, T.M.], dachte ich, an der Tormauer stehend, mische mich unter sie, fange an, ihre Sprache zu sprechen, ihre Gedanken zu denken, ihre Gewohnheiten anzunehmen, a b e r es gelingt mir das naturgemäß nur im Traum, nicht in der W i r k l i c h k e i t [meine Hervorhebung, T.M.], es ist ein total Irrtümliches, mit welchem ich die größte Lust habe, umzugehen.“ (Aus 335f.)
Diese Passage werte ich als entscheidenden Beleg für meine These, dass die Reise von Rom nach Wolfsegg („[…] ich ziehe meinen tatsächlichen Auftritt in Wolfsegg a u f d i e u n g e h e u e r l i c h e W e i s e [meine Hervorherbung, T.M.] hinaus“, Aus 329), die den Bruch zwischen den Textteilen überwinden sollte, ebenso surreal ist wie das mutmaßliche Geheimtreffen von Muraus Mutter und Spadolini bei einer Hundevernichtungsanstalt in Trastevere, wobei weniger die Zusammenkunft der Liebenden der Irrtümlichkeit verdächtig ist als der äußerst merkwürdige Ort, über den noch zu sprechen sein wird. Die geheime Quel-
122 Vgl. die ungekünstelte Sprache der geschätzten Forstarbeiter (Aus 137) im Gegensatz zur anerzogenen Künstlichkeit der Stimmen der Hausmädchen (Aus 357).
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le, die Murau diesbezüglich gegenüber Gambetti erwähnt, dürfte sich schlicht aus seiner Phantasie speisen. Desgleichen stellt seine Begegnung mit den Gärtnern in Wolfsegg nichts anderes als ein phantastisches Traumgeschehen dar, das tatsächlich nicht möglich wäre. Buchstäblich a l l e s in der Auslöschung ereignet sich nur im Traum, der Unfall, die Rückkehr nach Wolfsegg und das Verschenken des Erbes.123 Die „ungeheure Schrift“ referiert (auf) die Ungeheuerlichkeit von Muraus Verbrechen: Mutter-, Vater- und Brudermord ineins. Der inszenierte Unfall beseitigt (beinahe)124 alle Probleme auf einmal, um sich als Erben installieren zu können. Doch selbst bei diesem radikalen Ansatz gerät er in ein unüberschaubares Geflecht aus unvermeidlichen Konsequenzen, aus dem er sich nur vermittels einer ebenso radikalen und plötzlichen Wendung, der Abschenkung, zu befreien vermag. Zum anderen bleibt die Materialität der vorliegenden Auslöschung eine schiere Ungeheuerlichkeit, denn der Modus, der die (Un-)Möglichkeitsbedingungen einer Schriftrealisierung erfüllen würde, ist nach wie vor erst zu finden und zu be-schreiben.125 Unter diesen Voraussetzungen entpuppen sich die „Morde“, auf die Murau so geheimnisvoll gegenüber Gambetti anspielt und „die mit dem Jägerhaus in Zusammenhang stehen und mit dem Nationalsozialismus“ (Aus 196), als seine bisherigen auf der Carraramarmorplatte unternommenen (und gescheiterten bzw.
123 Auch die (im Namen des Vaters vollzogene) Hochzeit zwischen Caecilia und dem „Weinflaschenstöpselfabrikanten“, die noch als auslösendes Moment für die plötzliche Dringlichkeit ‚dieser‘ Auslöschung unterstellt werden könnte, um dem geheimen Wunsch von der Erb- und Machtübernahme endlich Raum zu geben, löst sich im „schallende[n] Gelächter des Hochzeitsauditoriums“ (Aus 363) auf und wird von der falschen Positionierung von Braut und Bräutigam (Aus 348) konterkariert. – Dennoch: intakte Fiktionsebenen und stabile Subjekt-Objekt-Relationen müssen immer wieder zu heuristischen Zwecken supponiert werden, um überhaupt über den Text sprechen und die Möglichkeiten, die im Text angelegt sind, ausloten zu können. 124 Das mehrmalige Rekurrieren auf die „spöttischen Gesichter“ (Aus 31, 131f. etc.) der Schwestern, die als „Zwillinge“ (Aus 61) gerade für die unhintergehbare Erinnerungsfigur der Verdoppelung stehen, markiert die Unüberwindbarkeit eines Restes, der der Totalauslöschung (hier: der Familie) widersteht, weshalb er sich durch eine Vernichtung der Fotografie der Schwestern auch nicht von ihren spöttischen Gesichtern befreien könnte (Aus 246). 125 Vgl. Kamper 1995, 74, Schrift als Substituierung des (weiblichen) Idols und der Bilder.
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aufgeschobenen) Auslöschungsversuche 126 , zumal das murausche Projekt in – mindestens – zwei Motiven bedrohlich zum Nationalsozialismus tendiert, was gleichsam die stets im Hintergrund aufkeimende Frage nach einer ethischen Dimension der ‚Auslöschung‘ auf die Spitze treibt: Erstens ist der überlange Mutterhals als Ort der Zäsur (der Schriftbewegung) zum einen phallisches Symbol der mütterlichen Machtusurpation, zum anderen ist der ‚Wendehals’ („Kaum waren die Nazis weg, […], hatten sich die Meinigen den Amerikanern an den Hals geworfen und wiederum nur Vorteile aus dieser widerlichen Beziehung gehabt“, Aus 195) groteskes (Krankheits-)Symptom einer Verrenkung durch die allzu hastige und verlogene Beseitigung der nationalsozialistischen Symbole nach dem Ende des Krieges, dem Bernhard das luzide Wortspiel des „Hakenkreuzeinziehen[s]“ (Aus 194) aufprägt, und zweitens deutet sich über das verdächtige Wort „dezimiert“ (Aus 402) eine (mögliche) Konvergenz von ‚Auslöschung’ und ‚Holocaust’ an, zumal der Taubenschlag als veritable Gedächtnismetapher anzusehen ist127, was die geforderte Dezimierung der Tauben128 jenseits der erwünschten Beseitigung des „Taubendreck[s]“129 als Gedächtnisauslöschung zu lesen gibt:
126 Nach einer anderen Lesart, der ich hier nicht folge, könnten sie auch auf verborgene nationalsozialistische Verbrechen anspielen, wie sie in Der Italiener vorgebildet sind. Vgl. Clemens Ruthner, Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österreichischen) Phantastik im 20. Jahrhundert, Tübingen/Basel 2004, 292. 127 Vgl. Weinberg 2006, 16. 128 Zugleich gilt der Angriff gegen die Tauben auch all denjenigen, die als typische Vertreter des Fotografiezeitalters über kein sensibles Gehör verfügen (vgl. Aus 237), dessen es dringend bedarf, um das halblaute Geflüster und die Polyphonie der Stimmen sowie die Klangfarben und die generell zweifelhafte Artikulation des Textes differenziert wahrnehmen zu können. 129 Siehe auch die wiederholte Hervorhebung des Schmutzes in Esch oder die Anarchie (z.B. E 125) in Kontrast zur ständigen Betonung der Reinlichkeit in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] und Lenettes häusliche Reinungungsexzesse im Siebenkäs (Sk 156ff.); im Proceß fordert K. seine Vermieterin auf, ihm zuerst zu kündigen, wenn sie ihre Pension rein halten wolle (Pro 37). Vgl. außerdem die Staubigkeit und Schmuddeligkeit der Gerichtsräume (Pro 76 u. 188) im Gegensatz zur Sauberkeit der Henker, vor der sich K. ekelt (Pro 307). Vgl. Herbert Kraft, Someone like K. Kafka’s novels, Würzburg 1991, 51. Nach Bohrer ist der Schmutz „seit Anfang der Zeiten buchstäblich die Inkarnation des Bösen.“ Bohrer 1981, 27.
202 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES „Die Tauben waren ein großes Problem in Wolfsegg, sie saßen jahraus, jahrein zu Hunderten auf den Gebäuden und verdreckten sie und ruinierten sie. Ich habe Tauben immer gehaßt. Zu den Tauben auf den Fenstersimsen hinaufschauend, sagte ich zu Caecilia, daß ich gute Lust hätte, alle Tauben zu vergiften, sie ruinierten die Gebäude und hätten einen üblen Geruch […]. Das Taubenproblem war tatsächlich ein Jahrhunderte altes, das niemals gelöst worden ist, immer ist nur darüber geredet und geflucht, aber niemals ist es einer Lösung zugeführt worden.“ (Aus 398)
Dieses Jahrhunderte alte Problem betrifft Rom gleichermaßen. Es einer endgültigen Lösung zuführen zu wollen, evoziert eine diffuse Vorstellung von ‚Endlösung’, zumal das Wort „dezimiert“ Murau vor allem deshalb so peinlich sein dürfte, weil darin das Wort „ausgerottet“ (Aus 226) nachhallt (wie auch „abschaffen“ bezüglich seiner Familie), das es zu verdecken trachtet: „Rom ist voller Tauben, sie vernichten in Rom alles, was schön ist, die ganze Architektur. Die Tauben gehören dezimiert, sagte ich, während es mir augenblicklich peinlich gewesen war, das Wort dezimiert ausgesprochen zu haben.“ (Aus 402)
Die faschistoide Vorstellung eines reinen, ausgelöschten Gedächtnisses verdichtet sich im Konterfei einer anderen, mit der Marmorplatte des väterlichen Arbeitszimmers korrelierenden tabula rasa, die im (Alp-)Traum ihre Bedrohlichkeit entfaltet und die ethische Gedächtnisverpflichtung des Auslöschungsunternehmens gefährlich in die Nähe eines nihilistischen Abgrundes rückt. „[D]iese Auslöschung“ (Aus 651) wird sich insgesamt als Traumtext erweisen, der den vermeintlichen Binnentext des Traumes (Aus 212ff.) überbordet und sich an vielen Stellen, seine Realisierung und mögliche Abgrenzung vom Nationalsozialismus erträumend, entblößt, was anhand einer Analyse des Traumes von Muraus Treffen mit Zacchi, Maria und Eisenberg im Hochgebirge im nächsten Kapitel zu demonstrieren sein wird.
2.3. T RAUMTEXT 2.3.1. Das „geheimgehaltene Denken“ Mit der inhaltlichen These des ‚Muttermordes‘ und der strukturellen These der Auslöschung als Traumtext verlagert sich die Lektüre unweigerlich auf das Feld der Psy-
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choanalyse, die sich dem dieser Arbeit zugrunde liegenden und ohnehin „schier unerschöpfliche[n] Horizont“130 des Gedächtnisses nahtlos einfügt.
Dass Freud in der Tradition der Mnemotechnik steht, wird daran ersichtlich, dass der von ihm in der Traumdeutung vorgestellte psychische Apparat im Wesentlichen auf den Gedächtnismetaphern der Wachstafel und des Magazins basiert. Die von Freud in der so genannten ‚Sekundärbearbeitung‘ beschriebenen Bildfindungsverfahren der Verdichtung und Verschiebung bilden das moderne psychoanalytische Korrelat zur Produktion der imagines agentes. „Die ars memoriae lebt […] in Freuds Techniken des menschlichen Seelenlebens, wie etwa in Ersatzbildungen, im Witz und in den Träumen weiter.“131 Im 18. Jahrhundert als bloße Auswendigkeit desavouiert gerät das rhetorische Gedächtnis allerdings in Vergessenheit, während die von der Ästhetik verdrängte Rhetorik durch die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert erneut Eingang ins Wahrnehmungsparadigma findet.132 Doch selbst wenn meine Interpretation dem psychoanalytischen Diskurs einige Begriffe entlehnt – wie im Intertextualitätsdiskurs geschehen –, bleibt die Lektüre (des Traums) (in) der Auslöschung der Dekonstruktion bzw. postmodernen Gedächtniskonzeptionen verpflichtet und damit einer Kritik an der Psychoanalyse, wie Derrida sie mit der Forderung einer Bejahung des Spiels ohne Zentrum in seiner Auffassung von ‚Schrift’ als einer Allegorie der Differenz formulierte, als deren Spur er die mit dem „metaphysischen Namen des Unbewußten“ belegte Triebkraft des Traumes las.133 Daran schließt sich die Kritik von Deleuze und Guattari in Anti-Ödipus an, die das narzisstische Machtspiel der Psychoanalyse verwerfen, da sie allen Äußerungen und Symptomen eine Ödipalisierung oktroyiert. 134 In der Annahme,
130 Anselm Haverkamp/Renate Lachmann, „Vorwort 1992: Übersicht und Rückblick“, in: dies. (Hrsg.), Memoria. Erinnern und Vergessen (Poetik und Hermeneutik XV), München 1993, Einleitung, XXIX, zit. n. Weinberg 2006, 9. 131 Siegmund 1996, 65f. Vgl. Jean-Philipp Antoine, „Ars memoriae – Rhetorik der Figuren, Rücksicht auf Darstellbarkeit und die Grenzen des Textes“, in: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.), Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt am Main 1991, 58ff. u. Hubert Thüring, Geschichte des Gedächtnisses. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert, München 2001, 177f. 132 Ebd., 66. 133 Wagner-Egelhaaf 1997, 131. 134 Silke Schlichtmanns Interpretation könnte als Paradigma eines solchen psychoanalytischen Denkmodells herhalten, da sie das murausche Schreibprojekt für realisiert hält, das unter Verrichtung von Trauerarbeit Kindheitstraumata durcharbeitet, um am
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dass alles mit allem zusammenhängt, wird die Struktur des Unbewussten genealogisch determiniert, wogegen Deleuze und Guattari das Unbewusste als Wunsch- und Junggesellenmaschine profilieren, der sie die Kraft zuschreiben, Fluchtwege aus dem ödipalen Zwang der symbolischen Ordnung zu bahnen. Während Freud im Dichter den spiritus rector der Textorganisation sieht und sehen muss, ohne der Literatur ästhetische Autonomie und Souveränität zugestehen zu können, lassen sich die zerfallenden Textpassagen der Auslöschung keinem fungiblen Subjekt zuordnen. Wie sollte dies bei der programmatischen Vorgabe einer Auflösung des Herkunftskomplexes auch möglich sein? 135 Mit der Dekonstruktion der Autorposition qua antiautobiografischer Geste („Das Werk ja […], aber seinen Erzeuger, nein“; Aus 616) durchkreuzt Bernhards Text explizit rezeptionspsychologische Zugriffe.136 Im Traumtext offenbart sich allein die Einbildungskraft des Unbewussten, „die psychisches Material umformt, Energien überträgt, Umwege bahnt, Kräfte verschiebt und Spannungen abbaut“, das heißt, der Traumtext über-schreibt, entstellt und verschiebt sich unentwegt und „entbehrt [dabei] […] eines Autors oder Urhebers.“137 Im Zusammenhang mit der Figur des Junggesellen wurde anhand des Begriffs der „Denkmaschine“ das „geheimgehaltene Denken“ (Aus 161) als das Unbewusste identifiziert, das dem Subjekt die Illusion der Ich- und Wahrnehmungsbeherrschung vermittelt, ohne vom Bewusstsein als steuernde Macht erfassbar zu sein. Kristeva spezifiziert diesen Trieb sowohl als aneignend als auch als destruktiv138, was der Heterogenität von Muraus Wunsch korrespondiert, sich einerseits als Erben zu installieren, um ein ideales Wolfsegg zu errichten, andererseits alles, was mit Wolfsegg zusammenhängt, auszulöschen. Der Traum offeriert die Möglichkeit, diese Heterogenität und Simultaneität unvereinbarer Elemente darzustellen, ohne Entscheidungen fällen zu müssen, die für die Sprache unverhandelbar sind, sofern sie im Dienst intelligibler Kommunikation steht.
Ende das Destillat eines „‚wahre[n]’ Bildes der Geschichte“ zu präsentieren, in der das Verdrängte erinnert wird. Silke Schlichtmann, Das Erzählprinzip ‚Auslöschung‘. Zum Umgang mit Geschichte in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Ein Zerfall (Trierer Studien zur Literatur 27), Frankfurt am Main 1996, 128. 135 Vgl. Foucault 1991, 21. Nichtsdestotrotz postuliert Vogt, dass Murau „mit der Einlagerung biografischer Details in seinem Bericht als Subjekt sichtbar“ wird. Vogt 2002, 325. 136 Vgl. Haselstein 1991, 208. 137 Tholen 1986, 54. 138 Kristeva 1978, 38.
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Folglich unterstützt die Identifizierung der Auslöschung als Traumtext meine These von der Nicht-Artikuliertheit des Textes: Im Traum findet „das geheimgehaltene Denken“ (Aus 161), das Unsagbare, Ausdruck, ereignet sich ein Einbruch des Semiotischen ins Symbolische, wenn auch unter Einwirkung der Zensur. Der auslöschende und ausgelöschte Traumtext durchläuft das mittlerweile aus unterschiedlichen Perspektiven erörterte Zwischenstadium, in dem sich die Triebenergien in Metaphern und Metonymien entstellen und entladen, bevor das Bewusstsein ihnen im Erwachen einen wie auch immer gearteten Realitätsstatus zuweisen kann.139 Der Traum wäre somit zwischen den geheimen und (bewusst) artikulierten ‚Wünschen’ zu situieren. Würde der Wunsch sprachlich oder schriftlich realisiert, so fände er Eingang in die Ökonomie des Mangels der symbolischen Ordnung, womit die Wunschproduktion wie bei einer tatsächlichen Wunscherfüllung vernichtet wäre.140 Auf diesem Nexus basiert die Notwendigkeit des „geheimgehaltene[n] Denken[s]“ (Aus 161), vermittels dessen es den Wunsch vor Vernichtung zu bewahren und die ‚Auslöschung‘ stets im Aufschub zu halten gilt. 2.3.2. Zwischen Traum und Realität Ein beträchtlicher Teil der Interpretationen unterstellt der Auslöschung eine Schlüsseltextästhetik und setzt sich konsequent über sämtliche Markierungen traumhafter und phantastischer Textelemente hinweg. So kommen Pfabigan und Haas z.B. nur en passant auf den Traum zu sprechen. Dem stehen ausgiebige Recherchen zu Wirklichkeitspartikeln wie Orts- (Rom, Wolfsegg) oder Personennamen (Zacchi, Eisenberg) entgegen, die auf ihren Realitätsgehalt fixiert werden, was weder der poetologischen noch der inhaltlichen Programmatik der Auslöschung Rechnung trägt, der es gerade um das Zerspielen von Wirklichkeit zu tun ist, wo immer sich vermeintlich ‚Reales‘ in den Text einzuschleichen
139 Vgl. Freud 1991, 564. 140 Vgl. Deleuze/Guattari 1974, 143: „Die drei Irrtümer [der Psychoanalyse, T.M.] über den Wunsch heißen der Mangel, das Gesetz, der Signifikant. Ein und derselbe Irrtum, der eine fromme Konzeption vom Unbewußten bildende Idealismus. Vergeblich auch wird man diese Begriffe in Kategorien einer Kombinatorik interpretieren können, die aus dem Mangel einen leeren Ort und keine Entbehrung mehr macht, aus dem Gesetz eine Spielregel und keine Beherrschung, aus dem Signifikanten einen Verteiler und keinen Sinn, es wird nicht zu verhindern sein, daß sie ihr theologisches Gefolge hinter sich her ziehen: Ungenügen zu sein, Schuld, Bedeutung.“
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droht, da es zum Hindernis und zur Blockade gerät. Die Orte und Personen betreffend macht Clemens Ruthner auf den „ontologische[n] Doppelstatus des literarischen Gegenstands zwischen Realität und Fiktion“ aufmerksam, wobei „eine Ambiguität [entsteht], die jener der Phantastik ähnelt, wo Dinge nicht sind, was sie in der ‚Wirklichkeit‘ des Alltags scheinen.“141 Gründe, den Wirklichkeitsmodus der Fiktionsebene(n) von Anfang an zu bezweifeln, gibt es ohnehin zur Genüge. An oberster Stelle wäre hier der tragische Unfall der Eltern und des Bruders Johannes zu nennen, der zum Auslöser der gesamten Auslöschungsreflexion wird. Zweifel an der mutmaßlichen Ursache (des Textes) keimen weit eher auf, als Murau eingesteht, dass das „Wort Schicksalsschlag“ ihm „in seiner ganzen Ekelhaftigkeit und Verlogenheit […] den Rest“ (Aus 523) gibt – ein Rest übrigens, der auch in Freuds Traumtheorie stets unauflösbar bleibt.142 Wie kann Murau wissen, dass die Eltern und sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind (Aus 14)? Ohne nähere Kenntnis über die Todesumstände zu haben, will er Gambetti informieren, „daß sie [die Eltern, T.M.] bei einem Autounfall umgekommen sind mit [s]einem Bruder“ (Aus 17). Im Telegramm heißt es jedoch nur, sie seien „tödlich verunglückt“ (Aus 7). Noch bevor Murau in Wolfsegg der Zeitung Details zum Hergang des Unglücks entnimmt (Aus 403), wiederholt er seine Vorahnung, dass „der Unfall […] nur ein Autounfall gewesen sein“ (Aus 392) kann. Gleich zu Beginn des Textes gibt es Anzeichen, die den Wirklichkeitscharakter der Todesnachricht in Frage stellen. Muraus Abschweifung hin zu den fünf für Gambettis Unterricht vorgesehenen Büchern, die in eine Reflexion über die deutsche Sprache übergeht, ehe er sich Gedanken über die Konsequenzen des Unglücks macht, muss Verdacht erregen: „Aber ich war mir naturgemäß doch der Tatsache bewußt, was der Tod dieser drei mir wenigstens auf dem Papier am nächsten stehenden Menschen jetzt von mir forderte: meine ganze Kraft, meine ganze Willensstärke. Die Ruhe, mit welcher ich nach und nach die Tasche mit meinen Reisenotwendigkeiten vollgestopft, g l e i c h z e i t i g m e i n e d u r c h dieses zweifellos fürchterliche Unglück erschütterte Zukunft s c h o n i n R e c h n u n g g e s t e l l t h a t t e , war mir erst lange, nachdem ich die Tasche wieder zugemacht hatte, u n h e i m l i c h [meine Hervorhebungen, T.M.] gewesen.“ (Aus 11f.)
Murau, der in der Ätna-Szene seiner Mutter und Spadolini vorwirft, sie hätten „die Berechnung immer zu ihrem Prinzip gemacht“ (Aus 568), hat offenbar
141 Ruthner 2004, 282. 142 Haselstein 1991, 105.
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selbst schon etliche Berechnungen angestellt, „ohne zu einem Ergebnis zu kommen“ (Aus 11), aber immerhin so weit, dass er – vorerst – die Contenance zu bewahren vermag. Diese Ruhe ist ihm jedoch „unheimlich“. Der Denkprozess, der die ‚Auslöschung‘ durchspielt bzw. wohl schon mehrmals durchdacht hat, antizipiert das mögliche Nichtaufgehen der Endabrechnung. Womit Murau rechnet und was er in die Rechnung mit einbezieht, ist die Chance, die er in dem „Wort Zweiterbe“ wittert (Aus 507). Die Vorahnung des Autounfalls und Vorausberechnung der Zukunft lassen darauf schließen, dass Murau die ‚Auslöschung‘, die Macht- und Erbübernahme zumindest in Gedanken, wenn nicht gar, mit den Morden im Jägerhaus in Verbindung stehend, literarisch auf der Carraramarmorplatte erprobt hat. Zu klären wäre, ob „diese Auslöschung“ nur eine neue Variante des Wunschdenkens ist, oder ob sich der lange verdrängte Wunsch mit dem – geplanten – Autounfall nun erfüllt. Anders gefragt: Löscht die Wirklichkeit den Wunsch oder der Wunsch die Wirklichkeit aus? Der Text versagt einmal mehr eine klare Antwort und lässt beide Möglichkeiten im Spiel. Am Rande des Möglichen tauchen dabei das Unmögliche, wonach sich sein Traum wirklich erfüllt hätte, und das Unwirkliche auf, was bedeuten würde, dass er die Erfüllung seines Wunsches imaginiert.143 Dieses Ins-SpielSetzen ist die Folge der Inklusion der ‚Chance’, das Einbringen von „Unberechenbarkeiten“ und „Unmöglichkeiten“ (Aus 393), die jegliche Berechnung auf eine Unsumme hinauslaufen lassen, was anstelle einer hoffnungsvollen Prognose und absichernden Providenz in ein radikales Aufs-Spiel-Setzen umschlägt. 144 Schon kurz nach der oben zitierten Passage schwindet nämlich die ostentative Ruhe des Protagonisten. Der eben noch beherrscht agierende Schauspieler droht aus seiner Rolle zu fallen, wie anhand des Satzes „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen“ im ersten Teil dieser Arbeit schon einmal erläutert wurde. Dieser Gambetti gegenüber geäußerte Satz unterstreicht meine These, dass die ‚Auslöschung‘ von Murau zuvor zumindest angedacht wurde145, denn zu Ende denken lässt sich der Wunsch selbstverständlich nicht. Eingedenk der enthusiastischen Stimmung, mit der Murau nach dem Treffen mit seinem Schüler durch Rom flaniert, bevor er zu Hause angeblich das Telegramm erhält, legt der Satz die Vermutung nahe, dass Murau von Gambetti, der ja „nicht nur der geborene Phantasierer“, sondern „auch der geborene Ausführer seiner
143 Vgl. Kamper 1995, 144. 144 Vgl. Georges Bataille, Die Freundschaft und das Hallelulja (Atheologische Summe II), München 2002, 100. 145 Vgl. seine Bekundung, dass er den Eltern nie den Tod gewünscht habe (Aus 451).
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Phantasien“ (Aus 544) ist, geradezu aufgefordert und ermutigt wurde, seinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Der Inhalt des Satzes kann nur dann eine bedrohliche Dimension annehmen, wenn sich der Unfall wirklich ereignet und somit Muraus Wunsch erfüllt hätte. Nur der „tatsächliche[] Tod“ (Aus 18) der Eltern und des Bruders würde dem Satz eine monströse Bedeutung verleihen, die von Murau nicht mehr zu beherrschen wäre und ihm eine Schuld von mythischer Dimension aufbürden würde. Interessanterweise versucht er den Satz gerade durch wiederholte Artikulation zu entschärfen, ja regelrecht im Aussprechen auszulöschen, und verwendet dafür den Ausdruck „abwürgen“, der wieder auf die Bilddimension des Halses rekurriert – als gelte es, all die Gespenster zu bannen, die durch diesen Satz spuken. In/Mit der Wiederholung soll der Satz „lächerlich“ werden, sich als reine Rhetorik erweisen, als ludistische Supplementkette eines substanzlosen Phantasmas. Doch Murau muss sich eingestehen, dass der Satz tatsächlich „Gewicht“ hat. Insoweit folge ich mit meiner Analyse weitgehend den Einschätzungen anderer Exegeten. Was jedoch in dieser häufig zitierten Passage seltsamerweise kaum Beachtung gefunden hat146, ist die plötzliche Entspannung, in die der eben noch ausufernde Kontrollverlust unvermittelt zurückkippt: „Mit diesem Satz kannst du es nicht aufnehmen, sagte ich mir, mit diesem Satz wirst du leben müssen. Diese Feststellung führte urplötzlich zu einer Beruhigung meiner Situation. Ich sprach den Satz Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, jetzt noch einmal so aus, wie ich ihn Gambetti gegenüber ausgesprochen hatte. Jetzt hatte er dieselbe Bedeutung wie damals Gambetti gegenüber.“ (Aus 18f.)
Dieser ominöse Satz bringt die Wunschmaschine zum Stocken. „Ursache“ ist laut Georg Christoph Tholen „da, wo es hapert.“147 Abermals ist es eine negative Identifizierung, die Feststellung, es mit diesem Satz n i c h t aufnehmen zu können, die zu einer Beruhigung führt – „urplötzlich“. Der Satz könnte jedoch nur dann „dieselbe Bedeutung wie damals Gambetti gegenüber“ annehmen, wenn die Eltern und der Bruder wie zur Zeit der einstigen Äußerung beim hypothetischen Durchspielen des Mordes noch lebten! Was sich in der obigen Textpassage ereignet, wäre mit Kittler eine „Aphasiesimulation“ zu nennen, bei der Wörter bis zur völligen Sinnleere wiederholt werden.148 In Bezug auf eine Unterscheidung zwischen Traum und Realität lässt
146 Vgl. Scheu 2005, 68f. 147 Tholen 1986, 221. 148 Kittler 2003, 262 u. 275. Vgl. Deleuze/Guattari 1976, 30f.
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dies auf (mindestens) zwei Möglichkeiten rückschließen: Entweder führt die Passage vor, wie die Imagination die Realität überspielt und sich über die vermeintliche Wirklichkeit des Unfalls – ohne Trauerarbeit! – hinwegsetzt oder sie lässt sich eher als drohender Einbruch des Symbolischen ins Imaginäre beschreiben, wobei die Realität das Imaginäre auszulöschen droht. Andererseits beruht die Setzung des Symbolischen gerade auf der Abwesenheit seiner Referenzobjekte und weist ihm damit einen fiktionalen Charakter zu, während in einem Lacanschen Sinne die Virtualität des Imaginären real ist.149 Lacan zufolge sind die bewussten Wirkungen nur in Abwesenheit ihrer unbewussten Ursachen akzeptabel: „Mit diesem Paradox läßt er [Lacan, T.M.] den Abschluß traditioneller Logik fallen, um das tertium datur des überdeterminierten Zufalls als ein Gesetz der Kausalität zu bestimmen, mit welchem gegen seine mechanistische Überlieferung unvorhersehbare und virtuelle Ereignisse als überraschende Wendungen dargestellt werden können. Die causa ist selbst das unbestimmte Ereignis: ‚Wenn wir […] von Ursache sprechen, ist immer Antibegriffliches, Unbestimmtes im Spiel.’“150
Die Auslöschung als Übergangstext erinnert (sich) daran und pendelt analog zum Reflexionsgang des Protagonisten immer wieder unentschieden hin und her zwischen Präteritum und Präsens, windet sich aus kausalen Sackgassen und semantischen Engpässen heraus: List und (Ent-)Zug des Textes, die allen Anforderungen eines geordneten Zugriffs auf Inhalte und Bedeutungen spotten und von der Gewalt einer wissenschaftlichen Darstellung nur zugedeckt werden können.151 Der Text müsste dementsprechend vorwärts und rückwärts gelesen werden – wie auch diese Arbeit immer wieder rückwärts (korrigierend) und vorwärts, noch nicht erbrachten Belegen vorgreifend, sprunghaft zu rezipieren wäre. Die (Traum-)Deutung bleibt somit bruchstückhaft, nicht vollends synthetisierbar und kann nicht umhin, dem (Traum-)Text in seinen kapriziösen Wendungen zu folgen.
149 Siehe Slavoj Žižek, Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt am Main 2005, 13. Vgl. Deleuzes Begriff der „empirischen Transzendentalität, ebd., 15. In dieser Relation ist auch die plötzliche Verwendung des Präsens zu vermerken: „Deutlich h ö r e ich mich diesen Satz sprechen“ [meine Hervorhebung, T.M.]. Das Präsens ist das Tempus des Traums, mit dem der Wunsch in der Gegenwart als erfüllt dargestellt wird. Freud 1991, 526. 150 Tholen 1986, 220. 151 Betz ist einer der wenigen, die diese Problematik der wissenschaftlichen Bearbeitung und Präsentation mit der gebotenen Deutlichkeit artikulieren. Betz 1997, 13.
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2.3.3. Der Traum (in) der Auslöschung Auslöser für den Traum, den Murau noch einmal Revue passieren lässt, um sich vom Telegramm abzulenken152 (Aus 212), ist eine „sogenannte nebensächliche Bemerkung“ Gambettis, „in welcher das Wort Hochgebirge vorgekommen ist“ (Aus 213). Die Attribuierung der nebensächlichen Bemerkung als „sogenannte“ ist allem Anschein nach eine Anspielung darauf, dass der Traum gemäß der Freudschen Traumtheorie anders zentriert ist und gerade die mutmaßlich marginalen Elemente wesentlich sind. Erneut tritt hier die Nähe von Traum- und Intertextualitätstheorie zutage, da „Hochgebirge“ als intertextuelles Signal Wilhelm Meisters Wanderjahre (1. Kapitel), Faust II (4. Akt) und Amras („Wir hatten, von unseren ersten Gedanken an, immer in einer von unseren Eltern in uns eingeführten Hochgebirgsinzucht gelebt […]“, Am 94) sowie ein Spezialgebiet des Gedächtnis-Diskurses mitaufruft, das im Folgenden noch eingehender zu analysieren sein wird: das der Erhabenheit. Zunächst jedoch ist die Traumerzählung (in) der Auslöschung näher zu besehen, um ihre inhaltlichen und strukturellen Funktionen zu ermitteln. Im Traum überlappen sich mehrere (Erinnerungs-)Orte und unterschiedliche Zeitstufen in inkonsistenter Weise. Die Ablenkung vom Inhalt des Telegramms, während Murau auf die Piazza Minerva blickt, generiert einen imaginativen Sog, der den gesamten Text deterritorialisiert. Vordergründig läuft diese buchstäbliche ‚Zerstreuung’ über die übliche Erinnerung an ein Gespräch mit Gambetti auf dem Pincio. Darin erzählt er ihm von einer fiebrigen Erkrankung, die ihn bei Verwandten (mütterlicherseits!) in Neumarkt in der Steiermark für zwei Tage bettlägerig macht (Aus 214). 153 In diesem verwandtschaftlich-mütterlichen (Krankheits-) Kontext träumt Murau von einer Zusammenkunft mit Zacchi, Eisenberg und Maria in einem Seitental des Grödnertals, was der Vermutung Vorschub leistet, dass die Ambivalenz des Traums selbst Ausdruck der murauschen Krankheit ist. Dies
152 ‚Ablenkung‘ ist ein ebenfalls häufig gebrauchter, ‚verdächtiger’ Begriff. Vgl. die schlaflose Nacht vor dem Begräbnis, als ihn ein Descartes-Satz ablenkt und rettet (Aus 623). 153 Diese Szene bietet sich als Gegenentwurf zum Motiv des kranken Königssohns in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] an. Wilhelm wird zum einen durch das Durchspielen von Shakespeares Hamlet geheilt, zum anderen durch die Erscheinung der schönen Amazone. Eisenbergs Einladung ins Theater nach Venedig sowie Marias Epiphanie in androgyner Verkleidung in Muraus Traum wären hierzu Kontrastelemente.
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korrespondiert mit einer Einladung Gambettis154 in das norditalienische Hochgebirge zu „Hochgebirgsstudientage[n]“ (Aus 213). ‚Schopenhauer’ fungiert als Bindeglied zwischen diesen beiden Ebenen: Zum einen hatte Murau sich mit Gambetti über den „Hund des Philosophen“ (Aus 213) unterhalten, zum anderen ist der Zweck des Treffens im Traum, „über Schopenhauer und Marias Gedichte zu sprechen“ (Aus 216), was wiederum eine Idee von Eisenberg aufgreift (Aus 217), woraus sich eine Synthese von Poesie und Philosophie als romantischer Zug der „Eisenbergrichtung“ deduzieren ließe. Der Traum in der Auslöschung ist nicht einfach eine Digression unter anderen: Als Traum ‚der’ Auslöschung de- und recodiert sie den gesamte Text, um ihn zu einer Deterritorialisierung umzufunktionieren. Der Traum (in) der Auslöschung hat keinen Anfang und kein Ende. Er ereignet sich inmitten des Textes, überbordet seine vorgeblichen Ränder und sprengt die Textordnung sowie sämtliche Vorstellungen eines geordneten Raum-Zeit-Kontinuums. In ihm befindet sich tatsächlich eine Art „Zentrum des Chaos“: kein logozentrischer Mittelpunkt, wohl aber ein Scheitelpunkt, in dem Höhe- und Kipp-Punkt zusammenfallen, ein Schwarzes Loch, das den Text in einen Taumel stürzt und hinfort reißt. Murau wünscht sich, die Welt „beinahe bis auf nichts [zu] vernichten“, doch er zweifelt an der Durchführbarkeit seines Vorhabens. Wohl aber scheint er die
154 „Die Einladungen der verschiedenen römischen Kulturinstitute und auch alle anderen privaten Einladungen“ hatte Murau „sofort in den Papierkorb geworfen […]“ (Aus 19). Hier erhält Murau die dritte Einladung neben Marias und Eisenbergs! Gambetti setzt in dieser Passage Murau an die Stelle seiner Eltern: „[…] ganz nebensächlich hatte Gambetti gesagt, er werde zwar mit den Eltern in das norditalienische Hochgebirge reisen, aber doch im Grunde mit mir […]“ (Aus 213). „[…] aber ich höre Gambetti noch deutlich sagen mit den Eltern ins Hochgebirge, was soviel heißt wie mit Ihnen, so Gambetti auf dem Pincio […]“ (Aus 214). Gambetti scheint hier also nicht an seine leiblichen, sondern an seine wahlverwandtschaftlichen Eltern zu denken, wobei die Mutter im Gespräch mit Murau ungenannt bleibt. Diese Rolle fällt zweifellos Maria zu, deren Erscheinung das zentrale Element des Traumes darstellt und die den „Jüngling“ Gambetti „mehr liebt als [Murau].“ (Aus 513) Die Einladungen Gambettis und Marias sind demnach ödipal strukturiert. Dies gilt es im Gedächtnis zu behalten, denn Murau wird keiner der drei Einladungen Folge leisten, das Erbe aber unter Vermittlung Eisenbergs abschenken. In Gambettis Einladung indes spiegelt sich Muraus heimlicher Inzest-Traum wider, der in der Ätna-Episode eine ödipalisierende, alptraumhafte Wendung erfährt.
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Hoffnung zu hegen, dass spätere Generationen, für die Gambetti stellvertretend steht, es in Zukunft ins Werk setzen: „Und wie er doch nichts anderes im Kopf hat, als die Welt zu zersägen und in die Luft zu sprengen. Vielleicht höre ich einmal einen fürchterlichen Knall, dachte ich, und Gambetti hat tatsächlich die Welt in die Luft gesprengt, daß er also Ernst gemacht hat mit seinen Gedanken. Er selbst träumt bis jetzt nur davon, daß er die Welt in die Luft sprengt. Aber diese Leute wie Gambetti, sagte ich mir, ich verbesserte mich gleich und sagte, diese Menschen, machen eines Tages wahr, was sie Jahrzehnte nur phantasiert haben, wenn ihnen die Möglichkeit dazu gegeben ist. Gambetti ist nicht nur der geborene Phantasierer, er ist auch der geborene Ausführer seiner Phantasien. Immer warte ich auf den großen Knall, dachte ich, […].“ (Aus 543f.)
Murau erwartet mit dem „großen Knall“ nicht nur den destruktiven Effekt einer Explosion, sondern erhofft sich davon ein schockartiges Erwachen, das die Welt aus ihrer lethargischen Erstarrung und ihn aus diesem Alptraum herausreißt. Das Erwachen gilt Benjamin als exemplarischer Fall des Erinnerns: ein Moment, „in welchem es uns glückt, des Nächsten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern.“155 Er definiert das Erwachen in seiner gegenwärtigen, vergegenwärtigenden Erinnerung als Vollzug: „Vollzogen wird eine Synthese aus gegenwärtigen Traumbildern, d.h. dem Erwachen vorausliegenden (utopischen, regressiven etc.) Bildern des Gewesenen. So wird das Vergangene zum Faktum, das einem beim Erwachen zustößt.“156 Ein solches Faktum wäre im Sinne der ‚Auslöschung‘ ein zu schaffendes Ereignis, dessen Sprengkraft gerade in einer (unmöglichen) Simultaneität von regredientem (kapitalisierendem) und progredientem (phantastisch ausuferndem) Gedächtnis läge.157 Der zu erzeugende „große Knall“ wäre das Echo des „Donnerknall[s]“ (Aus 221) in Muraus Traum, der ebendiesen Effekt durch das Zusammenführen der Figuren Maria und Eisenberg zeitigt – also der Figuren, die Murau jeweils zu Beginn der Auslöschung eingeladen haben158:
155 Zit. n. Horst Folkerts, „Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung“, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, 367. 156 Ebd., 369. 157 Vgl. Manfred Weinberg, „Das Gedächtnis der Dekonstruktion“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1997, 33. 158 Vgl. im Gegenteil dazu das Aufeinandertreffen von Maria und Spadolini (Aus 227), ebenso das gescheiterte Experiment Muraus, den mutmaßlichen Vater Spadolini mit
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„Maria war stehengeblieben und Eisenberg trat zu ihr, sagte ich zu Gambetti, dachte ich jetzt, am Fenster meines Arbeitszimmers stehend, auf die Piazza Minerva hinunterschauend, da hörte ich, s a g t e i c h z u G a m b e t t i i n m e i n e r T r a u m e r z ä h l u n g [meine Hervorhebung, T.M.], einen fürchterlichen Knall, wie ein Donner, und die ganze Erde bebte im Augenblick. Das Merkwürdige war, daß diesen Knall außer mir niemand gehört hatte und kein Mensch wahrgenommen hatte, daß die Erde bebte, wie ich festgestellt habe. Maria und Eisenberg hatten diesen Donnerknall und dieses Beben auch nicht wahrgenommen.“ (Aus 221)
Intensives Moment der äußersten Peripetie: Eine Leerstelle, das fehlende (?) Komma hinter „Gambetti“ lässt den Text aushaken, ver-setzt ihn in eine lawinenartige Bewegung, in der Rahmenhandlung (Erinnerung an das Gespräch mit Gambetti), Binnentext (Traumerzählung) und Jetzt-Zeit (Blick aus dem Fenster) sich überstürzen, Zeitebenen und Raumgrenzen kollabieren. Der angebliche Binnentext wird von innen nach außen gestülpt, was jegliche Differenzierung von Traumerzählung und Reflexionsprozess des Auslöschungstextes ebenso wie reklamierte Fiktionsebenen, die eine vermeintliche Realität repräsentieren sollen, destabilisiert.159 Ferner provoziert der Donnerknall einen Augenblick des Erwachens, in dem der Traum eine starke Form der Präsenz annimmt und sich (erinnernd) vergegenwärtigt: „[…] ich erinnere mich genau, Gambetti, sagte ich zu
dem romantischen „Phantast[en]“ Alexander zusammenzubringen: „Ich hatte sozusagen m i t m i r s e l b s t g e w e t t e t [meine Hervorhebung, T.M.] und die Wette verloren“ (Aus 546), was belegt, dass sich auch dieses Treffen nur in Muraus Kopf ereignet hatte. – Von Spadolini liegt ebenfalls ein Brief auf Muraus Schreibtisch (Aus 19), den Murau weder öffnet noch über dessen Inhalt spekuliert. Fasst man ihn als intertextuelle Rekurrenz auf Verstörung auf, so ließe sich daraus folgern, dass hier eine Reziprozität der Kommunikationsstruktur vorliegt, bei der der Vater dem Sohn – anders als in Verstörung – Rede und Antwort steht. Zum Brief des Sohnes in Verstörung siehe Pfabigan 2009, 95f. Zunächst will Murau Spadolini bezüglich des Erbdilemmas um Rat fragen: „Das ist er mir schuldig, daß er mir jetzt den Ausweg zeigt, den ich selbst nicht sehe.“ (Aus 507) Diese Aussage ist ein Symptom des zeitweiligen Kontrollverlustes über sein Auslöschungsunternehmen. Doch schon kurz darauf besinnt er sich: „Aber brauche ich denn Spadolini? dachte ich plötzlich, habe ich nicht meinen eigenen Kopf? Ich brauche Spadolini nicht im geringsten, sagte ich mir j e t z t [meine Hervorhebung, T.M.].“ (Aus 508) Demnach ist anzunehmen, dass Murau den Brief bewusst nicht öffnen wird, weil er keine väterliche Intervention – wie in der Heiratsszene – wünscht! 159 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 130.
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diesem, als träumte ich diesen Traum jetzt und hätte ihn nicht schon vor vier oder fünf Jahren geträumt.“ (Aus 222) Das Jetzt ist ein Schwarzes Loch, das nicht nur den Taumel der Zeit- und Erzählebenen verursacht, sondern sie zusätzlich mit der Zeit des Lektürevollzugs verschmelzen lässt mit dem Effekt, dass der Leser Verschmelzung und Taumel simultan e r l e b t . Das Jetzt durchbricht die Textoberfläche und s t ö ß t dem Leser z u : Er wird erschüttert und nimmt somit das Echo des Erdbebens wahr, das Murau im Traum widerfährt. Wenn der Traum j e t z t stattfindet, dann mischen sich Traum, Tagtraum und Halluzination160, dann wird der Leser zum Beobachter und Teilnehmer der ‚Auslöschung‘, womit sie sich wirklich ereignen würde: sich in jedem Jetzt (schon immer) ereignet (haben wird). Damit ließe sich das Jetzt als das magische Wort designieren, mit dem Murau die Welt nach ihrer Zerstörung wiederaufzubauen gedenkt.161 In diesem Wort wäre bereits die Renaissance des gesamten Sprachsystems mit angelegt, denn ohne die Möglichkeit der Teilung, Kombination und Differenz wäre es gar nicht artikulierbar. Im Nu könnten Wunsch, Wort und Bedeutung zusammentreffen und die aus den Fugen geratene Welt zumindest für den entschwindenden Augenblick verfugen und verfügbar machen. Insofern wäre der Traum als Erfüllung lesbar: die (Neu-)Geburt des Geistes inmitten der Intensität eines Jetzt-Moments. Allein die Erfüllung schlägt im selben Moment in eine Nicht-Erfüllung (und später gar in eine Bedrohung) um, denn ein Dritter – Eisenberg – trennt Murau von der erträumten Mutter-Kind-Dyade, wie Muraus anschließende Eifersucht162 illustriert, weshalb Maria und Eisenberg ihr Lachen unterbrechen, als Murau auftritt (Aus 222). 2.3.4. Zwischenspiel: Schwager-Figur und Widerstand der Realität Wie in Kapitel 2.4. zur ‚Immanenz‘ noch ausführlich darzutun sein wird, ist der gesamte Auslöschungstext als Traumtext, die ‚Auslöschung‘ als Wunsch zu rezipieren. Nach Freud ist der Schlafzustand der Seele für die wunschgemäße Gene-
160 Vgl. Iser 1991, 314. 161 Vgl. Aus 619: „[…] was mache ich aus Wolfsegg, das mir durch den Tod der Eltern tatsächlich und im allerwahrsten Sinn des Wortes jetzt auf den Kopf gefallen ist, das mich jetzt zu erdrücken drohte […].” 162 Sowohl im Proceß (Pro 90 u. 229ff.) als auch in Esch oder die Anarchie, Die Portugiesin oder in Faust II wird die Eifersucht der Männer im Streit um Frauen thematisiert. Faust wird im Schlusskapitel noch Gegenstand umfassenderer Überlegungen.
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rierung der Traumbilder obligat, um über die Minderung der endopsychischen Zensur die Traumbildung zu ermöglichen.163 Was bisher als ‚Zwischen‘ geortet wurde, ließe sich in der Theorie Freuds mit dem Vorbewussten vergleichen, das zwar zum Unbewussten zählt, dessen Erregungen jedoch nach der Intervention der Zensur ohne Rücksicht auf das System des Unbewussten zum Bewusstsein gelangen können.164 Die Einwirkungen der Zensur hinterlassen dabei im Text deutliche Spuren, denen nun nachzugehen ist. Es gibt noch ein weiteres Indiz, mit dem die Signifikanz des Jetzt und die These von Murau als (Traum-)‚Täter’ zu unterfüttern ist. Wenn der komplette Text einen Wunschtraum Muraus vorstellt, dann sind auch die in ihm enthaltenen Texte wie das Telegramm und die Zeitung165 Teile der Wunsch-Textur. Es gibt keine Textpassage, die sich der Drift des Traumes entziehen könnte und zweifelsfrei als ein Jenseitiges zu statuieren wäre. Die murausche Selbstbeschreibung als „literarische[r] Realitätenvermittler“ (Aus 615) erhält somit über die intertextuelle Dimension hinaus eine psychologische und poetologische, wonach Murau zum Medium einer heterogenen Wirklichkeitspluralität wird, in der plausible Differenzierungen von Traum, Realität und Fiktion nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten sind. Als Statthalter einer fiktionalen Realitätsebene, die zu heuristischen Zwecken immer wieder erforderlich ist, rückt eine vermeintliche Randfigur in den Fokus, der ähnlich wie der des Rabbiners Eisenberg von Seiten der BernhardForschung kaum Beachtung gezollt wird, zumal Murau selbst sie in eine Nebenrolle (ver-)drängt (Aus 321) und dieser Akt der Verdrängung als solcher verkannt wird: der nie beim Namen genannte und stets lächerlich gemachte Ehemann Caecilias. Murau versichert zwar, dass er den „Weinflaschenstöpselfabrikanten“ nicht fürchtet und dieser „eine völlig einflußlose Randfigur bleiben“ (Aus 389f.) wird, was sich jedoch näher besehen als Selbstberuhigung und Verschleierungstaktik herausstellt. Tatsächlich bleibt der Schwager für Murau
163 Freud 1991, 518. 164 Ebd., 601. 165 Vgl. Aus 478: „[…] es war mir dem Weinflaschenstöpselfabrikanten gegenüber peinlich, diesen Satz so gesagt zu haben, als hätte ich ihn für eine dieser auf dem Tisch liegenden Zeitungen geschrieben, diesen typischen Zeitungssatz.“ Desgleichen übernimmt er selbst den Zeitungsstil bei seiner Erklärung des Unglücks gegenüber Spadolini (Aus 566). Vgl. Ver 170: „‚[…] wochenlang führe ich mein Leben nur in den Zeitungen. Ich gehe in die Zeitung hinein, ich gehe in die Welt hinein. Wenn man mir von einem Tag auf den andern meine Zeitungen entziehen würde, hörte ich auf‘, sagte er [Fürst Saurau, T.M].“
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nicht beherrsch- und kontrollierbar. Während die imaginäre Annäherung an die Gärtner in Wolfsegg mittels einer auslöschenden Identifikation gelingt, scheitert Muraus „Annäherungskunst“ in Bezug auf den Schwager (Aus 376) bei der Hochzeit.166 Die von Murau scheinheilig erhobene Frage, „aus was für Gründen […] sich [ihm] der Schwager [entzieht]“ (Aus 376), ist poetologisch wie psychologisch dahingehend zu beantworten, dass die Figur des Schwagers als Vertreter des Realitätsprinzips sein imaginäres Erbübernahme- und Auslöschungsprojekt blockiert bzw., freudianisch gewendet, als Agent des Über-Ich („[…], der Schwager spielte den Moralisten […]“, Aus 469) und der symbolischen Ordnung („[…], der Schwager sagt immer nur ja oder nein […]“, Aus 384) dem destruktiven Impetus seiner Imagination widersteht. Aufgrund dessen bleibt Murau Caecilias Mann gegenüber auf der Hut und seiner Maxime des „geheimgehaltenen Denken[s]“ treu: „[N]atürlich habe ich das Wort Kleinbürger, das auf meinen Schwager gemünzt war absichtlich, nicht ausgesprochen, ich habe es mir nur gedacht. Der Kleinbürger, habe ich mir gedacht, wird von einem solchen Unglück zerschmettert und l ä ß t s i c h i n d e r S e n tamentalität
darüber
auch
noch
zur
Gänze
publizieren,
wir
n i c h t [meine Hervorhebung, T.M.]. Der Kleinbürger, auch der Proletarier verunglückt sozusagen selbst in einem solchen Unglück, wir nicht.“ (Aus 421)
Dass Murau, was die Hochzeit Caecilias betrifft, völlig mit der Meinung seiner sonst so verhassten Mutter übereinstimmt und den Schwager als „Eindringling“ und „angeheirateten Fremdkörper“ (Aus 419) erachtet, wurde schon erwähnt. Bei der (imaginären) Annäherung an seine Schwestern vor der ersten Begegnung auf Wolfsegg wird die ‚reale’ Schwager-Figur zum Hindernis für Muraus „Annäherungskunst“: „Wenn die Schwestern allein wären, dachte ich, hätte ich nicht die geringste Schwierigkeit, dann wäre ich ja schon lange Zeit mit ihnen zusammen dabei, d i e n ä c h s t e Z u k u n f t zu besprechen, aber der Weinflaschenstöpselfabrikant verhinderte diese selbstverständliche Spontaneität meines Auftretens. Schon ist er mir im Weg, habe ich gedacht, schon b l o c k i e r t e r m e i n N a t u r g e m ä ß e s , dachte ich. J e t z t [meine Hervorhe-
166 Vgl. wie Murau sich als stolzer Mnemotechniker damit brüstet, alle Gärtner mit Namen zu kennen (Aus 330), während er den Namen des Schwagers ausnahmslos durch die groteske Phantasiebezeichnung „Weinflaschenstöpselfabrikant“ substituiert. Die Ver-sagung der Namensnennung betreibt die wunschgemäße Irrealisierung der Schwager-Figur.
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bungen, T.M.], eine Woche nachdem sie stattgefunden hat, stellt sich diese Hochzeit schon als ein großer und grober Fehler heraus, dachte ich, […].“ (Aus 382)
Muraus Wunsch, mit den Schwestern „die nächste Zukunft“ zu besprechen, macht eine Lesart plausibel, nach der schon andere Modellierungen der Zukunft bei früheren Auslöschungsversuchen vorgenommen wurden. Da Onkel Georgs Auffassung nach ‚Natur‘ nur über einen Kunstbegriff zu erschließen ist, erzeigt sich auch Muraus „Naturgemäßes“ als nichts anderes als eine künstliche/künstlerische Näherungsweise („Das Zögern ist meine Art […]. […] das Indirekte ist mir angemessen“, Aus 333), die ein der Natur Gemäßes ist, d.h. nicht Natur selbst, sondern ein s i c h n a t ü r l i c h g e b e n d e s Simulakrum. Die sich dabei spontan entfaltende Imagination wird vom Realitätscharakter der Schwager-Figur behindert und begrenzt. Das Jetzt (im Traum) akzentuiert die Dringlichkeit, die ‚Auslöschung’ unverzüglich, eine Woche nach der Hochzeit, mit der Wolfsegg ein anderer Erbe und eine Fortsetzung des traditionellen Machtspiels droht, ‚endlich’ ins Werk zu setzen.167 Durch Caecilias Hochzeit hat „Wolfsegg […] [mit dem Schwager, T.M.] ganz einfach eine neue komische Figur“ (Aus 485), doch Murau selbst konzediert, dass „das Lustspiel […] dadurch keineswegs erträglicher und interessanter geworden [ist]. Diese komische Figur ist leider keine lustige, nur eine lästige […]“ (Aus 485). Vermittels der List des Wortspiels verkehrt sich die Last gleich wieder in eine Lust und entlädt sich in der Freisetzung eines humoristischen Effekts. Gleichsam kommt hier eine freudianische Lesung der Kategorien ‚Lust’ und ‚Unlust’ zum Tragen, wonach die imaginäre Wunschfortsetzung Lust erzeugt, deren Unterbrechung bzw. Vernichtung (durch die Realität/durch die Zensur – oder in der Diktion von Deleuze und Guattari: durch Ödipalisierung) Unlust generiert. Die das Realitätsprinzip verkörpernde Schwager-Figur 168 lässt sich nicht nach Belieben von Murau steuern und beherrschen, sondern leistet im entscheidenden Moment Widerstand, indem sie Muraus erträumter Magie einer Jetzt-
167 Vgl. Aus 133: „Der Triumph meiner Schwester, ihre Finte, hatte ich zu Gambetti gesagt, endet eines Tages in einer Katastrophe.“ 168 Dies attestiert auch der Siegelring des Schwagers, dessen Bedrohlichkeit Murau registriert (Aus 468). Vgl. Weinberg 1997, 31, wonach der Siegelring als Statthalter einer unmittelbaren Erfahrung gelten kann. Das gemeinsame Mahl steht für einen Angliederungs- bzw. Binderitus. Van Gennep 1986, 37. Murau isst jedoch nicht, sondern ekelt sich vor den feisten Fingern des Schwagers und seiner Essweise.
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Ekstase beim Versuch, ihn zur Lektüre der Zeitungen zu bewegen, die gerade den Realitätscharakter des Unfalls belegen und damit der imaginären Auslöschung stattgeben sollen, ein „jetzt nicht“ entgegenhält: „Das jetzt nicht des Schwagers war ein so abstoßend geheucheltes, a l s h ä t t e i c h selbst es gesagt, denn ich selbst hätte es genauso gut in diesem A u g e n b l i c k s a g e n k ö n n e n [meine Hervorhebung, T.M.], ich hatte meinen Triumph, weil er es gesagt hat, nicht ich, ich stand da als der Anständige, der Beherrschte, er mußte sich erst als ein solcher Anständiger und Beherrschter in Szene setzen mit diesem abgrundtief geheuchelten jetzt nicht, das ihm, kaum war es ausgesprochen gewesen von ihm, auch gleich selbst als abgrundtief geheuchelt erschienen sein mußte, denn so dumm ist der Mann ja nicht, dachte ich, daß er nicht sofort weiß, was sein jetzt nicht in Wirklichkeit war und letzten Endes auch, wie es auf mich wirkte, daß ich sein jetzt nicht durchschaute, war ihm sicher auch gleich klar gewesen, es war ihm auch in ziemlich verrutschtem Zustand über die Lippen gekommen, es hatte alle Überzeugungskraft schon verloren gehabt auf dem Weg vom Kopf ins Freie.“ (Aus 471)
Was hier ins Freie gelangt, sind nichts weiter als Gedanken aus Muraus Kopf. Geheuchelt ist allein seine Selbstinszenierung als „Anständige[r] und Beherrschte[r]“, wie direkt im Anschluss die Reminiszenz an Zacchis Bemerkung, „daß [Murau] ein raffinierter Vertuscher [s]einer Abscheulichkeiten sei, abgrundtief“ (Aus 471) expliziert, da die Charakterisierung „abgrundtief“ wieder auf ihn zurückfällt. Die Abspaltung, die ironische Modellierung und nicht gänzlich gelingende Verdrängung des ‚Schwager-Objekts’ dient dieser Vertuschung, die sich hier als eine Als-ob-Struktur enthüllt, da Murau einräumt, dass e r s e l b s t „es genauso gut in diesem Augenblick“ hätte sagen können. Andernorts erfolgt das Geständnis, dass seine Schilderungen des Schwagers gegenüber Zacchi, Gambetti und Maria, so lustig sie auch sein mögen, sich letztlich „im Grunde nur gegen [ihn selbst] richten, da er „[s]ich dabei selbst denunziert“: „Ich habe nicht im Ernst über den Schwager sprechen können, immer nur auf die ironisch-bittere Art, die mir dann zur Verfügung steht, wenn ich den Ernst nicht ertrage.“ (Aus 379) Später verspricht und verrät er sich nochmals: „Diese Charakterlosigkeit des Weinflaschenstöpselfabrikanten habe ich immer in Zweifel gezogen.“ (Aus 432) Dies dokumentiert, dass das von ihm entworfene Bild des Schwagers sich in keiner Weise an ‚der Realität’ orientiert, sondern im Gegenteil einer notwendigen Realitätsverdrängung, weil das Reale das Phantasma der ‚Auslöschung‘ zu obstruieren droht. Obwohl er den Schwager als „Weinflaschenstöpselfabrikan-
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ten“ oder als „angeheirateten Fremdkörper“ ständig der Lächerlichkeit preiszugeben sucht, muss er schließlich eingestehen, dass ihn „der Gedanke […] nicht so [belustigte], wie er es verdient hätte, er war peinlich.“ (Aus 419) Bis zum Schluss gelingt es Murau nicht, über die Bedrohlichkeit der Schwager-Figur hinwegzutäuschen: „[…] und ich sah den Weinflaschenstöpselfabrikanten von der Seite an, das Gesicht eines Unterdurchschnittlichen, habe ich mir dabei gedacht, dem es gelungen ist, sich in Wolfsegg einzuschleichen. Ich hatte diesen Gedanken nicht unterdrücken können.“ (Aus 640)
Der sich einschleichende Gedanke hätte unterdrückt bleiben müssen, um die Rivalität mit dem Weinflaschenstöpselfabrikanten nicht an die Oberfläche treten zu lassen, die den Kampf um das Erbe als Konflikt zwischen Wunsch und Gesellschaft, zwischen freier Imagination und metaphysischer Ordnung, zwischen Unbewusstem und Über-Ich 169 reflektiert, der mit der Heirat Caecilias eine neue Qualität annimmt und Murau zum Handeln zwingt. Um seinen Traum von der ‚Auslöschung‘ ungehindert in Szene setzen zu können, hätte er den Gedanken an den Schwager als Hersteller von Verschlüssen grundsätzlich ausblenden müssen, da er die ideale Gestaltung seines Phantasmas auf der Suche nach immer neuen Ausgängen obstruiert. Die (traum-)handlungshemmende Funktion des Schwagers, den Murau auch als „personifizierte Untätigkeit“ (Aus 466) etikettiert, wird noch anschaulicher, wenn man sie mit der des Gemeindesekretärs Moser in Verstörung vergleicht170, der in gleicher Weise den Traum von Sauraus Sohn, das Erbe seines Vaters zu liquidieren, durchkreuzt: „‚Moser fragt oft und immer in dem für ihn günstigsten Augenblick, schreibt mein Sohn’, sagte der Fürst, ‚w a s o d e r w a s i c h n i c h t s e i [meine Hervorhebung, T.M.], aber immer sagt er, daß ich verrückt bin, ich höre, auch wenn ich es nicht höre, ihn ununterbrochen sagen, ich sei verrückt. Weder zu oft, noch zu selten kommt, wenn er wo immer von mir spricht, das Wort ‚schädlich’ vor, wenn es auch, wenn er mißratener Sohn sagt, kläglich sein muß, weil alles an Moser kläglich ist. Aber davor, als kläglich zu erscheinen, hü-
169 Vgl. Aus 476: „Ich bin der gefürchtete Schwager, habe ich mir gesagt, w i e i c h i h n m i r e i n b i l d e t e [meine Hervorhebung, T.M.], der nichts weniger als die Zukunft entscheidet, das zukünftige Wolfsegg.“ 170 Plötzlich klopft es laut an die zuvor zur Abwehr der Lemuren zugesperrte Tür und Caecilia öffnet ihrem Mann. (Aus 535f.)
220 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES tet sich Moser. Ich denke: tatsächlich ist Moser in meinen Augen merkwürdigerweise, o b w o h l i c h d a s w i l l [meine Hervorhebung, T.M.], schreibt mein Sohn’, sagte der Fürst, ‚niemals lächerlich, obwohl kläglich, weil seine Niedertracht ohne Schärfe, ohne jegliches komisches oder tragikomisches Element ist. Er verärgert mich und ist von den wenig in Menschenkenntnis Geschulten gehaßt, aber selbst mir wird, schreibt mein Sohn, wenn ich an Moser denke, die Verärgerung zum Haß. Mich verärgert dieser M a n g e l [meine Hervorhebung, T.M.], Moser hasse ich. Wenn ein solcher Mensch wie Moser mitten in einer Arbeit, die die gänzliche Anstrengung eines Gehirns erfordert, die Fähigkeit, durch immer noch schmerzhaftere Disziplin möglichst alles an einem einzigen Gedanken von weit unter dem Horizont aus dem Nichts heraufzuziehen, auf einmal auftaucht, so zerstört er mit seinem Näherkommen mehr und mehr das mühsam Geortete, zu Gebrauchende und Verbrauchende. In dem Maße, in dem sich Moser nähert, zerstört er, was ich mir einen ganzen Vormittag und einen halben Nachmittag lang lesend ermittelt habe, und es ist endgültig nichts, wenn Moser da ist, schreibt mein Sohn. Moser, schreibt mein Sohn, bewies durch sein Herankommen diese Behauptung, ich fühlte auf einmal eine deprimierende Gehirnanspannung, zunehmendes Gefühl, schreibt mein Sohn, daß ich verloren bin, offensichtlich, die Intensität verlagert sich durch Moser in das mir Nebensächliche. Vereinfacht könnte ich sagen, schreibt mein Sohn’, sagte der Fürst, ‚Moser kommt und mein Verstand geht.’“ (Ver 133f.)
Was die Auslöschung in Bezug auf den Schwager nur andeutet, macht die Verstörung anhand von Moser explizit: Die Figur des Gemeindesekretärs verkörpert ‚das‘ Gesetz. Aus ihm wie aus Muraus Schwager spricht das Über-Ich. Den Äußerungen von Sauraus Sohn ist zu entnehmen, dass Moser eine Allegorie des Unlust-Prinzips ist, welches das imaginäre Spiel „alle[r] [denkbaren] Möglichkeiten“ beschneidet. Parallelen zu Kafkas Proceß sind dabei sprichwörtlich nicht von der Hand171 zu weisen: „Da ist es wieder, das mit Moser unweigerlich auf mich zukommende Unheimliche! Ich hätte das Eintreten Mosers auch nur in das Vorhaus schon als Beschmutzung auf Lebensdauer empfunden, die List, mit welcher die Moser irgendeinem armen Teufel auflauern und ihn anzeigen, das gemeine Indizienverhältnis der Moser zu a l l e n M ö g l i c h k e i t e n [meine Hervorhebung, T.M.], denke ich, die Moser bringen alles vor Gericht, wenigstens in Verruf. Moser ist, weil ich ihm d i e H a n d n i c h t g e g e b e n h a b e [mei-
171 Handberührungen sind Elemente von Angliederungsriten und symbolisieren die Aufnahme eines Fremden. Van Gennep 1996, 105. In diesem Punkt sei noch einmal auf die ‚falsche’ Handberührung Caecilias bei der Hochzeit (Aus 348) und Muraus verweigerten Handschlag beim Begräbnis aufmerksam gemacht.
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ne Hervorhebung, T.M.], schreibt mein Sohn, und er schreibt, ich habe ihn überhaupt nicht gegrüßt, einen Schritt zurückgetreten. Immer sind die Moser auf der Suche nach etwas ins Kriminelle zu Ziehendem anderer.“ (Ver 135)
Trotz Muraus Versuch bei der Hochzeit, als dem Pfarrer die Namen des Brautpaars entfallen, mit dem imaginierten Zwischenruf „Weinflaschenstöpselfabrikant“ (Aus 347) den konstitutiven Höhepunkt der Zeremonie zu sabotieren, werden auf der fiktionalen Handlungsebene die tatsächlichen Namen vom Vater souffliert und der Vermählungsakt exekutiert. Der Zwischenruf kennzeichnet seine „Junggesellen“-Poetik als Bestreben, Sprachspiele platzen zu lassen, im Lachen das ihnen zugrunde liegende Nichts zu entblößen und vermittels ungeheurer (und unerhörter) Neologismen die sinnlose Leere konventioneller Wortschöpfungen zu demaskieren. Murau fügt hinzu, dass er „große L u s t [meine Hervorhebung, T.M.] gehabt“ hatte, „in dem Augenblick [der Vermählung, T.M.] heftig zu applaudieren“, quittiert diesen Gedanken jedoch mit der Äußerung „Ich beherrschte mich aber auch j e t z t [meine Hervorhebung, T.M.]“ (Aus 347). Analog zu dieser Szene ist der Traumtext der ‚Auslöschung‘ auf der immer gleichen Struktur anzusiedeln: das – letztlich vergebliche – Unterfangen, sich der Realität kontinuierlich imaginativ zu widersetzen und das Sprachspiel humoristisch im Zwischen (offen) zu halten, vor der Artikulation des nom/non du père. Auslöschung ist die Phantasmagorie einer Zwischen-Rede172, die sich zwischen dem Vergessen der Namen und ihrer Nennung (durch den Vater) einnistet173, die in den Vermählungsakt hineinflüstert, was aufs Neue ihre Funktion als Inter- und Transtext betont und auf ein Mehr jenseits des Textes/des Gesagten hindeutet, das unartikuliert bzw. vergessen bleibt. Mnemonisch reformuliert: Die ‚Auslöschung‘ ist das Experiment einer poetischen und phantastischen Entgrenzung des Gedächtnisses, was unweigerlich in neue Begrenzungen umschlagen muss. 174
172 Immer wieder erwähnt Murau, dass er etwas „halblaut“ vor sich hin spreche. Vgl. Fürst Saurau: „Von mir, lieber Doktor, spreche ich aber, wie Sie wissen, nur in Anführungszeichen, alles, was ich sage, ist nur in Anführungszeichen gesagt. Halblaut!“ (Ver 158) 173 Vgl. Kittler 2003, 85. 174 Auch Jean Paul will diesen Zwischenraum besetzen, indem er den Siebenkäs in geradezu inzestuöser Weise seinem weiblichen alter ego Johanne Pauline einflüstert, nachdem er ihren Vater in den Schlaf geredet hat (Sk 17 u. 23). Dessen Schlaf stellt sich jedoch nur als Finte heraus (Sk 136), was Jean Paul zu dem Ausruf bewegt,
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Oberhalb dieses witzigen Sprachspiels aber entkommt der ‚reale’ Schwager Muraus Annäherungskunst, während die Hochzeit seiner Schwester aller imaginären Sabotageakte zum Trotz – im Namen des Vaters und des Gesetzes – statthat resp. von den Lesern in der Regel in keiner Weise angezweifelt wird. 2.3.5. Erhabenheit Zurück zum Auslöser und damit zur Szenerie des Traums: dem Hochgebirge, was unter anderem auf das erste Kapitel von Wilhelm Meisters Wanderjahre[n] wie auch auf die Burg von Kettens in Musils Portugiesin anspielt, die über einem Abgrund auf einem hohen Felsen liegt, der genau die Grenze zwischen Nord und Süd markiert. Berge und Gebirge stehen wie Wüsten oder Meere exemplarisch für Naturphänomene, die in ihrer unfassbaren Größe das Gedächtnis überwältigen, was eine erhabene Erschütterung nach sich zieht. Das Bewusstsein wird dabei mit einem Unendlichen konfrontiert, welches sein Fassungsvermögen übersteigt. Dass es ihm aber trotz Scheitern der Einbildungskraft gelingt, dem Unfassbaren immerhin eine ‚Idee’ vom Unendlichen zu substituieren, wertete Kant in seiner Kritik der Urteilskraft als Triumph der Vernunft.175 Die Paradoxalität, die den Abgrund dieser Gedächtnis-Operation offen legt, ist in der Auslöschung in die Traumszenerie selbst eingetragen, denn der Traum spielt in einem „Hochgebirgstal“, „in welches nur ein Fußpfad hineinführt, keine Straße, das also nur zu Fuß zu erreichen ist“ (Aus 217).176 Ziel ist demnach nicht das Erklimmen des Höchsten, sondern (s)eine Trassierung. Ein erhabener Moment177 steht auch im Traum (in) der Auslöschung im Zentrum (des Chaos). Die Traumerzählung könnte man in zwei Teile ([1] ‚Zusammentreffen von Maria und Eisenberg’ und [2] ‚tabula rasa’) unterteilen, wobei sich der erste Teil selbst noch einmal in zwei Teile gliedern lässt ([1a] ‚Erdbeben’ und [1b] ‚Schuhwechsel im Vorhaus’). In Teil [1] gelangt das unfassbare und unnennbare Absolute, das die ‚Auslöschung‘ anstrebt und an dem sie scheitert, – indirekt – zu einer notwendig unan-
„[…] glücklich preise sich jede Tochter […], die meine Werke lesen darf, während der Vater wacht.“ (Sk 138) 175 Weinberg 2006, 478. 176 Vgl. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, Köln 1986, 88: „der enge[] Weg[] des Paradoxes“. 177 Für eine kritische Abhandlung diverser Erhabenheitskonzepte siehe Weinberg 2006, 478ff.
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gemessenen, negativen ‚Darstellung’. Das Zusammentreffen von Maria und Eisenberg, das den ersten Teil des Traumes ausmacht, löst ein Erdbeben aus, das nur Murau wahrnimmt. Die Ankunft Marias im „Gasthaus Zur Klause“, wo Murau, Eisenberg und Zacchi auf sie warten, gerät zur Epiphanie: Allmählich löst sie sich aus der Schwärze der Dunkelheit heraus und nimmt Kontur an (Aus 219). Ihr Erscheinen ist das unmögliche Ereignis selbst: Zu Fuß kommt sie direkt aus der Pariser Oper während heftigen Schneetreibens ins Hochgebirgstal – nicht als Opernzuschauerin, sondern als leibhaftige Opernfigur und lebendige Kunst.178 Als androgyner „Mensch[], in welchem immer Alles gegenwärtig ist und [der durch] d[ie] Kraft seines Geistes, dieses Alles auszuhalten“ vermag (Aus 227), verkörpert sie das Absolute und Unendliche der Poesie. Eisenberg, der „die Welt […] studier[t] und sie in diesem Studium nach und nach auf[]schlüssel[t] und auf[]löst“ (Aus 231), steht dagegen für ein (postmodernes) Vernunftprinzip und eine Philosophie, die dem Unendlichen und Poetischen mit Leichtigkeit und Humor begegnen. Eben diese Verbindung von (unendlicher) Poesie und (das Unendliche umfassender) Philosophie, die Gegenüberstellung von Marias Gedichten und der Philosophie Schopenhauers, die in Teil [1] des Traumes symbolisch gelingt, stellte den Anlass des Zusammentreffens dar. Dementsprechend fügt diese Szene dem Begriff der „Eisenbergrichtung“ einen weiteren Aspekt hinzu: Die Richtung, die Eisenberg im Traum einschlägt, bewegt sich auf das Poetische, Absolute, Unendliche, auf die Grenze des Gedächtnisses zu und führt die Intentionalität des imaginativen Aktes vor.179
178 Vgl. Bohrer 1994, 131. – Schnee (Weiße) und Kälte der Szenerie rufen gleichzeitig die elementaren Eigenschaften der Carraramarmorplatte mit auf. 179 Vgl. dazu auch die Figur ‚Eisen’ in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, die das Schwert gegen den Horizont schleudert: „Der alte Held hatte bisher auch sein unsichtbares Geschäft ämsig betrieben, als auf einmal der König voll Freuden ausrief: Es wird alles gut. Eisen, wirf du dein Schwerdt in die Welt, daß sie erfahren, wo der Friede ruht. Der Held riß das Schwerdt von der Hüfte, stellte es mit der Spitze gen Himmel, dann ergriff er es und warf es aus dem geöffneten Fenster über die Stadt und das Eismeer. Wie ein Komet flog es durch die Luft, und schien am [ferne(n), hohe(n), HvO 291] Berggürtel [der sich rund um das Meer herzog, ebd.] mit hellem Klange zu zersplittern, denn es fiel in lauter Funken herunter.“ (HvO 293). – Man kann nicht umhin, diese Szene mit einem zentralen Begriff Derridas in Verbindung zu bringen: der dissémination. Vgl. Gehring 1994, 149. Offensichtlich spielen hier Sinnverlust und Sinndispersion, ‚dissémination‘ und ‚insémination‘ ineinander; in diesem Bild verdichtet sich der prekäre Status des Textes, der Eisen(berg)richtung,
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Bei dieser ‚Darstellung’ handelt es sich indessen eher um eine Überwältigung der Wahrnehmung, denn entscheidend ist, dass Murau die Erschütterungen des Erdbebens verspürt. Was sich im Zusammentreffen von Maria und Eisenberg sowie im Jetzt des Traums blitzartig einstellt, ist die erträumte Explosion, die sich an der Grenze des Gedächtnisses ereignet, an jenem äußersten ‚Punkt’ des Umschlags von Ent- und Begrenzung. Jean-François Lyotard bestimmt dieses Jetzt anhand eines Essays des Malers Barnett Baruch Newman mit dem Titel The Sublime is Now als „eine der ‚Ekstasen’ der Zeitlichkeit, die seit Augustinus und Husserl von einem Denken analysiert wurden, das versucht hat, die Zeit vom Bewußtsein aus zu konstituieren.“180 Das Ereignis bzw. die Ereignishaftigkeit des Jetzt entrinnt jedoch dem Fassungsvermögen des Bewusstseins. „Es ist eher das, was das Bewußtsein außer Fassung bringt, es destituiert, was ihm nicht zu denken gelingt und was es vergißt, um sich selbst zu konstituieren.“ Die Frage nach dem Ereignis ist vielmehr eine Frage des quod, (dass es geschieht), nicht des quid (was geschieht). „Denn daß es geschieht: das ist die Frage als Ereignis; ‚danach’ erst bezieht sie sich auf das Ereignis, das soeben geschehen ist. Das Ereignis vollzieht sich als Fragezeichen, noch bevor es als Frage erscheint.“181 Eben dieses Ereignis wird in Teil [2] des Traumes angefochten. Doch zunächst findet Eisenberg in Teil [1b] („Das Bild ist abgerissen […]“, Aus 222) im Vorhaus des Zur Klause einen geradezu spielerischen Umgang mit (den Eigenschaften, die) Maria (verkörpert), was beide in Gelächter ausbrechen lässt. Die Szene gerät zu einer Art Märchen-Lösung: Maria und Eisenberg tauschen ihre Schuhe (Aus 222), wobei die Attribuierung „grotesk“ von Maria, die Murau noch als „groteske Gestalt“ (Aus 219) in einem „grotesken Anzug“ (Aus 220) auf das Gasthaus zukommen sah, auf Eisenberg überspringt, der nun Marias Ballettschuhe trägt („Das sah grotesk aus, Gambetti, Eisenberg, in seinem schwarzen Mantel bis fast zu den Knöcheln und Marias Ballettschuhe an den Füßen“, Aus 223) und damit das bernhardsche Wortballett ausagiert, (nach) dessen Sprachakrobatik tanzt (Vgl. Sk 114). Schließlich werden die Schuhe zurückge-
indem Bedeutungen, ausgerichtet auf das alles umfassende erschöpfende Gedächtnis, zerspielt werden, um ‚neue‘ zu generieren; das Feste (Eisen) zersplittert, löst sich auf in einen Funkenflug, der Auslöschung (Verglühen, aber auch Feuer, Flächenbrand) und Neuanfang (Aussaat, Zeugung) zugleich bedeuten kann. 180 Jean-François Lyotard, „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: Merkur 2 (1984), 151. 181 Ebd., 152.
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tauscht („Es sind deine [Marias, T.M.] Schuhe, ich habe sie für dich ausgezogen“, Aus 223), woraufhin Maria „ins Freie“ läuft. Die Übertragung von Schwere (auf die Poesie) und Leichtigkeit (auf das Denken) bewirkt, dass die Kunst (in den schweren Stiefeln Eisenbergs) für einen Moment geerdet und gezügelt wird, während sie ihrerseits die Vernunft tanzen lässt, sie der Schwerkraft enthebt und (in Ballettspitzenschuhen) auf ihren höchsten Punkt stellt, der den bestmöglichen Überblick gewährt.182 Mit der ‚Aneignung’ der Poesie durch die Vernunft gerät diese in einen Zustand der Verzückung, der einem Wahn gleicht, was sich Murau im Traum als groteskes Bild darbietet. Die Spitze des Ballettschuhes versinnbildlicht, dass es sich dabei um eine höchst instabile Position handelt, die nur für einen Augenblick, für einen kurzen Moment des Übergangs einzunehmen ist und darüber hinaus die Poesie selbst gefährdet, wie Eisenbergs besorgter Ausruf („Hoffentlich kommt unser Kind nicht um“, Aus 223) und Marias darauffolgendes Verschwinden nahelegen. Dieser Moment des Übersprungs ist geprägt von einer Lust-Unlust-Dialektik, einer „Lust, die aus einer Unlust hervorgeht“183, weil die Aneignung eines Absoluten fehlschlagen muss und „nur als eine Vernunftidee gedacht werden kann.“184 Aus dieser vom Scheitern verursachten Unlust geht jedoch wiederum eine Lust hervor, „eine doppelte Lust sogar“, wie Lyotard ausführt: „[D]ie Ohnmacht der Einbildungskraft bezeugt e contrario, daß sie selbst noch das sichtbar zu machen sucht, was nicht sichtbar gemacht werden kann; daß sie in dieser Weise strebt, ihren Gegenstand mit dem der Vernunft in Einklang zu bringen; und daß andererseits das Ungenügen der Bilder zugleich ein negatives Zeichen ist für die Unermeßlichkeit der Macht der Ideen.“185
Dass auch auf der Seite des Betrachters die Lust in Unlust umschlägt, konnte anhand der Eifersucht Muraus demonstriert werden, weil die erträumte Erfüllung der Mutter-Kind-Dyade von der (vorübergehend grotesken) Junggesellen-Figur Eisenberg unterbrochen wird.186 Der Protagonist der Auslöschung reagiert eifer-
182 Weinberg 2006, 523. 183 Lyotard 1984, 157. 184 Ebd., 158. Die Aneignung des Absoluten assimiliert sich (s)einer Auslöschung. Vgl. Lévinas 1997, 12. 185 Ebd. 186 Vgl. die Ätnaszene als Gegenentwurf zum Traum, in der der (mutmaßliche) Vater als Störer der symbiotischen Einheit von Mutter und Kind auftritt (Aus 559f.). Vgl. Haselstein 1991, 203. Daraus resultiert Muraus ambivalentes Verhältnis zu Spadolini,
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süchtig auf die Dazwischenkunft des Dritten/des Anderen. Es ist jedoch am Ende gerade dessen vermittelnde Kraft, mit deren Hilfe er schlussendlich das Erbe als bedingungsloses Geschenk veräußern kann. Diese Wendung lässt sich wiederum als Absage an eine romantische Hypostasierung der Phantasie auffassen, denn Murau konzediert gegen Ende des Textes, dass er an (verführerischen) Charakteren wie Maria (die „phantasievolle[]“, Aus 302) und Gambetti („der geborene Ausführer seiner Phantasien“, Aus 544), die ihn aus seinem Denkkerker herauslocken wollen, doch verloren sei (Aus 645), während er Eisenbergs Einladung ja von Anfang an Folge leisten wollte (Aus 20). Der Eisenbergrichtung, die das Erbe übernimmt und weiterreicht, eignet zwar ein romantischer Zug, der jedoch, was die Vermittlung des Erbes als „Lösung“ des „Herkunftskomplex[es]“ anbelangt, hinter den jüdischen Aspekt zurückzutreten scheint. Mehr dazu im Schlusskapitel. 2.3.6. tabula rasa Der Wunsch der ‚Auslöschung’, die Welt „bis auf beinahe nichts zu vernichten“ und die literarische (Goethe-)Tradition (inklusive der ‚Frauenpläne’) hinter sich zu lassen, konvergiert graduell mit der Vorstellung einer tabula rasa, eines utopisch-emanzipatorischen Nullpunkts und Ursprungs, von dem aus eine den Bedingungen der Vergangenheit enthobene freie Entwicklung und Gestaltung möglich wäre. Teil [2] des Traums präsentiert eine solche tabula rasa als Korrelat der Carraramarmorplatte187 im Jägerhaus in einem gleichfalls ‚nationalsozialistischen’ Kontext. Während der Wirt des Gasthauses das Frühstück servieren will, nimmt er Anstoß an den Büchern und Papieren (Gedichte Marias und Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung sowie Notizbücher), die Murau, Zacchi und Eisenberg auf dem Tisch ausgebreitet haben (Maria, die zuvor ins Freie gelaufen ist, ist in diesem Moment abwesend!). Infolge seiner Absicht, den Tisch abzuräumen, kommt es zum Streit, bei dem Eisenberg dem Wirt „mehrere Male
weshalb er sich vor dessen Ankunft auf Wolfsegg fragt, „was für ein Spadolini […] ankommt, kommt der, welcher mir nützlich ist […], oder der mir schädliche […].“ (Aus 507) Nützlich ist Spadolini als mutmaßlicher Vater bezüglich (einer möglichen Entscheidung) des Erbdilemmas (da seine Herkunft nicht eindeutig geklärt ist), schädlich hingegen als Liebhaber der Mutter. 187 Weiße und Kälte scheinen Eigenschaften des asketischen Ideals zu sein, das Nietzsche in der Genealogie der Moral analysiert, wobei er nachweisen kann, dass diese asketische Verneinung sich wieder in eine Bejahung verkehrt. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Frankfurt am Main 1991, 112.
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Unterstehen Sie sich! ins Gesicht“ (Aus 224) schreit. Der Konflikt eskaliert, da der Wirt die Bücher vom Tisch werfen will, „aber Eisenberg ist schneller. [Er] reißt das Schopenhauerbuch an sich und hält es fest an seine Brust. [Murau] hatte Marias Gedichte an [s]ich gerissen, Zacchi [ihre] Notizbücher […]“ (Aus 224). Der Wirt droht ihnen „mit dem Umbringen“. Das Gasthaus Zur Klause, das analog zur Carraramarmorplatte zuvor als idealer Ort für ihr Vorhaben ausgegeben wurde, verkehrt sich schlagartig in einen Schreckensort. Erst jetzt taucht Maria wieder auf! Unter der Androhung des Umbringens deckt der Wirt den Tisch, „weil es seine Gewohnheit war, den Tisch zu decken, gleich unter was für Umständen“ (Aus 225), woran sich seine Forderung nach Bezahlung anschließt. Das Projekt eines ‚Austausches’ von Poesie und Philosophie, wie er sich im Traumbild des Schuhtausches zwischen Maria und Eisenberg märchenhaft verdichtet, droht durch das Insistieren des Wirtes auf einem ökonomischen Tausch vom Tisch gefegt zu werden. Der ökonomische Tausch ‚Konsumtion (Frühstück) gegen Bezahlung’ beseitigt den ‚Austausch’ von Poesie und Philosophie, der wie vorgeführt nur von instantaner Fragilität sein kann (Maria erhält ihre Ballettschuhe zurück, verschwindet und taucht erst in einem existenzbedrohenden Augenblick erneut auf), weil er die Philosophie, das Gedächtnis, das Bewusstsein an seine Grenze treibt, bevor er in einen erhabenen Moment umschlägt. Markant bleibt indes, dass, nachdem Eisenberg dem Wirt mehrere Male „Unterstehen Sie sich!“ entgegengeschleudert hat, Murau, Maria, Eisenberg und Zacchi kein „einziges Wort sprechen […] können“ (Aus 225). Die eigentliche Bedrohung verbirgt sich nämlich hinter dem Wirt: Er m u s s den Tisch decken, „weil es ihm von seiner Frau befohlen war“ (Aus 225). Diese Frau des Wirtes, die die Traumszene nicht betritt und nur aus dem Hintergrund agiert, ist unschwer als Muraus Mutter zu identifizieren: „Wir waren nicht fähig gewesen, auch nur ein Wort zu sagen, aber wir wußten, daß hinter der Küchentür des Zur Klause die Frau des Wirts lauerte. Jedenfalls ich wußte es, ich glaubte, die Wirtsfrau hinter der Küchentür atmen zu hören.“ (Aus 226)
Die Frau hinter der Tür ruft die oben zitierte Gutenachtkuss-Szene188 zurück:
188 Vgl. dazu den Kuss Marias im Traum, den Murau ebenfalls nicht lange auszuhalten scheint: „[…] Maria fällt mir um den Hals (!) und zieht mich zu sich auf die Vorhausbank und küßt mich […].“ (Aus 222f.) Auch Eisenberg empfängt diesen Kuss (Aus 223).
228 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES „Hatte sie uns beide [sic] [Murau und seinem Bruder Johannes, T.M.] den Gutenachtkuß gegeben, löschte sie das Licht, ohne gleich aus unserem Zimmer hinauszugehen, sie blieb eine Weile an der Tür stehen und wartete, bis wir eingeschlafen waren. Da ich schon als Kind ein außerordentlich geschärftes Gehör gehabt habe, wußte ich, daß sie horchend hinter der verschlossenen Tür stand […].“ (Aus 178)
Somit erschließt sich der Zusammenhang von Muttermund, Beamtenliteratur, tabula rasa und Sprachohnmacht, wie sie in den Kapiteln 2.1.3. und 2.1.4. mit Hilfe von Kittlers Analyse des Aufschreibesystems um 1800 erörtert und beleuchtet wurden. In den unwirtlichen Wirtsleuten sind Muraus Eltern nachgebildet, deren geistesfeindliche, gewinnorientierte und nationalsozialistische Gesinnung das Geistesprojekt sabotieren. Die Auseinandersetzung spitzt sich zu. Der Wirt greift Murau und seine Freunde vor allem wegen der Bücher, Maria (androgyner Aufzug) und Eisenberg (langer schwarzer Mantel) wegen ihrer Kleidung an („Solche Leute gehörten eingesperrt“, Aus 226). Die antisemitische Diffamierung von Eisenberg („[…] diese Bärte [werden] von Leuten getragen […], die aufgehängt gehörten“, Aus 226) schlägt letztlich wieder auf alle zurück: „[…] so ein Gesindel […] gehöre ausgerottet. Mehrere Male schrie er uns das Wort ausgerottet ins Gesicht.“ (Aus 226) Die Szene endet mit einem Schwächeanfall des Wirtes, den die Beschimpften zur Flucht aus dem Tal nutzen. Im zweiten Teil des Traums stellt sich über das Wort „ausgerottet“ der Zusammenhang von tabula rasa, Antisemitismus und Holocaust her. Dass sich Muraus Auslöschungsschrift – bei tatsächlicher Durchführung – der (nationalsozialistischen) Idee einer tabula rasa, einer Auslöschung der Traditionen und der Geschichte(n) annähern würde, wurde bereits als Crux der Erbproblematik und somit als Grund der ständigen Retardation der ‚Auslöschung’ herauspräpariert. Die von Murau intendierte (positive, erneuernde) Vernichtung, die seine ‚Auslöschung’ als erhabenes Projekt profiliert, findet ihren negativen Pol in der tabularasa-Szene, deren alptraumhaftes Drohpotential sich aus einem realhistorischen Ereignis speist, das wie kein anderes Erinnerung an einen ethischen Imperativ bindet. Während Teil [1] des Traums das quod bekundet, wird das Geistesprojekt in Teil [2] durch das aggressive, antisemitische, ökonomische Kalkül des von seiner Frau aus dem Hintergrund angeleiteten Wirts verhindert. Im Motiv der tabula rasa kommt die Gefahr einer Annihilation des quod bzw. einer Substituierung durch ein ökonomisches quid pro quo zum Ausdruck.
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Im daraus resultierenden Gefühl der Angst sieht Lyotard eine Affinität zu den modernen Philosophien der Existenz und des Unbewussten.189 Das Warten darauf, dass es geschieht, könnte mit einer Lust, mit einem gespannten Warten einhergehen, „das Unbekannte zu empfangen, […] [w]ahrscheinlicher aber ist es, dass es ein widersprüchliches Gefühl ist. Es ist zumindest ein Zeichen, das Fragezeichen selbst, die Weise, in der das Es geschieht sich zurückhält und ankündigt: Geschieht es?“190 Innerhalb dieser Konstellation kommt die vielseitige Funktion der EisenbergFigur sowie der „Eisenbergrichtung“ zum Tragen, was sich zudem auf die Frage nach der Materialität der Auslöschung als „ungeheure Schrift“, Muraus utopische Vernichtungsphantasie sowie den Traum zurückwenden lässt. Die Dialektik des Scheiterns im Erhabenen führt zu einer „Art Spaltung im Subjekt zwischen dem, was es begreifen und dem, was es in Bildern vorstellen kann.“191 Wo sich die Einbildungskraft über eine negative Ersatzvorstellung vom Unendlichen und Absoluten emanzipiert, gibt sich an der Grenze dieses Bruchs das Unendliche oder Absolute als Idee zu erkennen. Paradigmatisch für eine solche negative Darstellung ist für Kant das jüdische Gesetz des Bilderverbots: „[I]n ihm gibt die auf fast nichts reduzierte Lust der Augen unendlich das Unendliche zu denken.“192 Wie Murau die Lust seiner Augen auf fast nichts herabsetzt, werde ich im Folgenden darlegen. Seine Bestrebungen, mit seiner ‚Auslöschung‘ etwas Absolutes ins Werk zu zwingen, an dem er nach eigenem Bekunden immer wieder scheitert, dürften nunmehr hinreichend belegt sein. Als (sich) erschöpfendes Gedächtnis spielt der Text an jener erhabenen Bruchstelle mit der Möglichkeit des Unendlichen und oszilliert zwischen (simuliertem) Unendlichem, Unsagbarem und damit Bedingungslosem einerseits und Endlichem, Artikuliertem und Manifestem andererseits. Sein Tod sowie das „bedingungslose Geschenk“, das Murau über Eisenberg vererbt, deuten darauf hin, dass Murau (als Subjekt) dieses Spiel nicht zu Ende spielen kann, weil seine Kräfte dem, was auf dem Spiel steht, der Gewalt der Differenz, nicht gewachsen sind – wohl aber jene seines Geistesbruders Eisenberg.
189 Lyotard 1984, 153. 190 Ebd. 191 Ebd., 158. 192 Ebd.
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2.4. I MMANENZ
ODER DAS
S UBJEKT
ALS
B ÜHNE
Wie du weißt, sage ich immer zu mir, ist immer alles und alles immer in deinem Kopf. Alles ist immer in allen Köpfen. Nur in allen Köpfen. Außerhalb der Köpfe ist nichts. (THOMAS BERNHARD, VERSTÖRUNG, 148F.)
2.4.1. Denkkerker: die Auslöschung im Kopf Die Erfassung der Auslöschung als Traumtext, der jedes vermeintliche Außen, jeglichen Ent-wurf einer fiktionalen Realität, seinem Innenraum einverleibt – was im Rahmen der Metaphysik, aber auch der oben verhandelten Gedächtnisund Intertextualitätstheorie prinzipiell unmöglich ist –, und die Rede des Protagonisten vom notgedrungen „geheimgehaltene[n] Denken“ repetieren die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein des Textes. Die ‚Auslöschung‘ ist ein Geheimprojekt, wie Murau unmissverständlich anmerkt: „Ich werde die Auslöschung schreiben und immer wieder mit Gambetti die Auslöschung Betreffendes besprechen, und mit Spadolini und Zacchi und natürlich mit Maria, dachte ich, o h n e d a ß d i e w i s s e n , d a ß i c h d i e A u s l ö s c h u n g i m K o p f h a b e [meine Hervorhebung, T.M.], alles die Auslöschung Betreffende mit ihnen diskutieren.“ (Aus 543)
Nicht einmal die engsten Freunde werden in das Projekt eingeweiht. Der Kopf des Helden wird zum Schauplatz, zur Bühne eines geheimen Gedächtnistheaters193, das sich bei seinem Tod in/mit ihm auflösen würde. Die ‚Auslöschung im Kopf’ rekurriert auf die unhintergehbare Tilgung, die Gedächtnis- bzw. Erinnerungsprozessen inhärent ist: Rhetorik und Metaphorik der Sprache überschreiben undefinierbare Denkimpulse, indem sie amorphe Fragmente des Gedankenflusses in eine (mnemonische) symbolische Ordnung transferieren. Die als Wunschmaschine operierende „offene Gruft“ hingegen sorgt vermöge einer (Re-)Dynamisierung der Spielmarken für eine Perpetuierung der Zirkulation. Im Gedächtnistheater der ‚Auslöschung‘ gleicht Murau dem jungen Wilhelm Meister, der als Puppenspieler in narzisstischer Erfüllung alle Figuren in sich
193 Vgl. Hörisch 1983, 32.
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vereint und verkörpert, die Schauspieler- und Zuschauerrolle differenzlos usurpiert, um sich somit innerhalb wie auch außerhalb der Illusion zu situieren194: „In dieser Simultaneität von Rezeption und Konstruktion des ästhetischen Gegenstandes […] erscheint das Theater als gegenwärtiger Vollzug, der als solcher nicht überlieferbar ist, paradigmatischer für die Gedächtniskunst zu sein als die Literatur.“195 Der bernhardsche Text träumt von einer Souveränität des künstlerischen Subjekts, das in teuflischer Askese196 die reale Welt negiert, dem schlegelschen Diktum folgend, dass „die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“197 Blanchot nennt dies die Souveränität der Verweigerung: „Bald verschließt sie [die künstlerische Tätigkeit, T.M.] sich in der Äußerung einer inneren Souveränität: derjenigen, die kein Gesetz akzeptiert und jeglicher Macht abschwört. Die Stationen dieses herrlichen Anspruchs sind wohl bekannt. Das künstlerische ICH versichert, einziger Maßstab seiner selbst zu sein, einzige Rechtfertigung dessen, was es tut, und dessen, was es sucht. Die romantische Genialität bringt dieses majestätische Subjekt zur Blüte, das sich nicht nur jenseits der allgemeinen Regeln befindet, sondern das auch dem Gesetz der Vollendung und des Gelingens, sogar in seinem eigenen Bereich fremd ist. Die für die Welt, in der nur das zählt, was effizient ist, nutzlos gewordene Kunst, ist auch für sich selbst nutzlos. Wenn sie sich erfüllt, dann außerhalb der maßvollen Werke und der begrenzten Aufgaben, in der maßlosen Bewegung des Lebens, oder aber sie zieht sich ins Unsichtbarste und Innerste zurück, an den leeren Punkt des Daseins, wo sie ihre Souveränität in der Verweigerung und im Übermaß der Verweigerung bewahrt.“198
Dieser asketische Rückzug erklärt Sinn und Zweck des „Denkkerker[s]“ (Aus 310), in dem Schutz- und Gefängnisfunktion verschmelzen.199 Das Bild des Kerkers bringt seine ungeheure Wirkungsmacht besonders in Analogie zur phantastischen Gedankenwelt des italienischen Archäologen und Architekten Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) zur Geltung.200 Seine Radierungen – vor allem der
194 Ebd., 38. Vgl. Roberts 1980, 216. 195 Siegmund 1996, 90. 196 Vgl. Aus 480 und Murau als „Satanskind“ (Aus 276). 197 Friedrich Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, in: „Athenäums“-Fragmente, Stuttgart 2005, 91. 198 Blanchot 1991, 36f. 199 Nicht nur Wolfsegg ist ein „Topos des hermetischen Ortes“, wie Vogt 2002, 195, meint, sondern auch Muraus Wohnung in Rom. 200 Auch Ruthner sieht Bezüge zu Piranesi in Bernhards Werk. Ruthner 2004, 277 u. 290f.
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Zyklus der Carceri (1745-1750) – vermitteln einen plastischen Eindruck von der existenziellen Dimension des „Denkkerkers“. Obendrein fügen sie sich nahtlos in den römischen Kontext der Auslöschung und geben eine Vorstellung von der Funktion des „Renaissancepalast[es]“ (Aus 308).201 Piranesis Kerkerbilder nahmen bedeutend Einfluss auf die (Raum-)Imagination der Romantik und Moderne.202 Die labyrinthartigen Kerkergewölbe zeigen die schreckliche Eingeschlossenheit eines schier unendlichen Innenraums, der in der endlosen Flucht seiner Gänge und Treppen die eigenen Alpträume widerspiegelt, „das eigene Entsetzen vor und die geheime Lust an einer verstörten Realität, in der die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt gefallen waren, das Spiel mit der mächtigen Sphäre des Unterbewußten, die sich im […]-Rausch aus den Einfriedungen der Vernunft befreit.“203 Damit kehrt gleichsam die „Ästhetik des Sublimen und Schönen“204, die die Romantiker in eins setzten, zurück als Furcht vor einer leeren Unendlichkeit, der gegenüber sich die Verwirklichung des Unmöglichen zum Programm erhebt.205 Angst und Schrecken werden zu integralen Bestandteilen der Ästhetik und zur „Vorbedingung für die Wirkung des Erhabenen“206. Die Außenwelt wird in der Stimmung des wahrnehmenden Subjekts aufgehoben, das sich, vor die leere Unendlichkeit gestellt, in der eigenen Ich-Welt verfangen sieht. In dieser „ungreifbaren Unermeßlichkeit [der] Kerkerwelt“ steht das Subjekt zugleich innerhalb und außerhalb der „Undurchdringlichkeit des Raumes“207. Bei seiner Analyse von Piranesis Werk betont Norbert Miller mehrfach die Nähe zu Jean Pauls Ästhetik. Desgleichen sind Referenzen zu Kafka evident wie beispielsweise in der Zusammenfassung von Bau- und Folterwerkzeugen, die über ihren „Charakter des subjektiven Angsttraums“ hinaus eine „reale[] Begegnung mit dem Rätselhaften“ 208 suggerieren und eine Faszination für das Hässliche,
201 Zur Funktion von antiker Architektur und ihrem „unklassischen“ Einsatz in der Gedächtniskunst siehe Yates 1994, 23. Im Übrigen wird sich der Renaissancepalast noch als Gegenentwurf zu Fausts Palast im zweiten Teil der Tragödie herausstellen. Vgl. Kapitel 3.2. Anti-Faust. 202 Ruthner 2004, 277. 203 Norbert Miller, Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1994, 12. 204 Ebd., 11. 205 Ebd., 8. 206 Ebd., 15. 207 Ebd., 99. 208 Ebd., 197.
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Abstoßende und Missgeschaffene ausstrahlen, die im 19. Jahrhundert ihre Ausprägung in der so genannten „Schwarzen Romantik“209 findet. Für ein profundes Verständnis von Muraus „Denkkerker“ ist vor allem die Kombination von Kerker und Palast aufschlussreich, die sich für Piranesi „durch Verbindungstrakte, durch Treppenhäuser ergibt.“ 210 Seine Kerkerdarstellungen machen die Fluchten der Zwischenräume begreifbar. In eben diesen spukt es: Sie eröffnen das Spielfeld der Phantasie. Piranesis Carceri dienen der Veranschaulichung des unendlichen und zugleich fürchterlichen mnemonischen Raumes der Auslöschung. 211 Die KerkerTreppen in seinen Bildern führen nicht in die Freiheit, sondern verlieren sich in einem Labyrinth: „[W]o in der Abschattierung und Brechung des Lichts für den Ratsuchenden keine Orientierung mehr möglich ist, wo kein Strahl einen klaren Fingerzeig auf Rettung und Ausweg mehr gibt, werden die Wanderungen in der Irrsal der Treppen und Korridore zu einem Wagnis der Hoffnung, da jede Treppe nach beiden Richtungen in die Irre führt.“212 Grundsätzlich verbinden sich für Piranesi die Trümmer der Kaiserforen, des Pantheon und „der massigen Palastanlagen aus Renaissance und Barock […] mit jener Architektur der Erhabenheit, in der am frühesten die Idee antiker Größe und Macht ohne Rücksicht auf die Verwirklichungsmöglichkeiten zum Ausdruck gekommen war: mit der barocken Theaterarchitektur.“213 Als Gedächtnisraum wird der „Renaissancepalast“ zur verborgenen Bühne, auf der sich das imaginäre Theater der ‚Auslöschung‘ abspielt, welches sich den Ordnungsregeln der Mnemotechnik auf phantastische Weise widersetzt und anstelle einer zielgerichteten ökonomischen Reproduktion im ewigen Hin und Her durch das Labyrinth unausgesetzt auf ergebnislose Produktion setzt: ein ikonoklastisches Wüten und eine Verausgabung von Merkzeichen, die dabei „eine Rhetorik der Wiederholung als mentales wie verbales Im-Kreis-Laufen“ hervortreiben, „eine repetitive Sprache, die gleichzeitig jenen Raum in der Schrift erst erzeugt […].214 Was Clemens Ruthner hier Das Kalkwerk von Bernhard betreffend formuliert, lässt sich allemal auch für die Auslöschung in Anschlag bringen,
209 Vgl. Ruthner 2004, 283f. 210 Miller 1994, 81. 211 Vgl. das (Pascal-)Motto von Verstörung: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“ Hier ist die Verbindung von Phantastik und der Ästhetik des Erhabenen präfiguriert. 212 Miller 1994, 92. 213 Ebd., 31. 214 Ruthner 2004, 277f.
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wonach sich die mutmaßlichen Außenräume (Wolfsegg, Rom) als Innenräume herausstellen: „Gedankenarchitektur“ (Kw 113) in Muraus Kopf. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, Muraus Wohnung in Rom an der Piazza Minerva als Ort einer phantastischen Immanenz zu bestimmen, die sich an das Motiv der ‚tabula rasa‘ anlehnt und ein zusätzliches Indiz für die fragwürdige Phänomenalität der „ungeheure[n] Schrift“ liefert. Das Material ‚Marmor’ evoziert eine Kongruenz von Carraramarmorplatte und Prosekturtisch. In diese Reihe fügt sich auch die Außenmauer von Muraus Renaissancepalast ein, die von gleicher Beschaffenheit ist (Aus 274). Damit präsentiert sich die ‚tabula rasa‘, jene für die ‚Auslöschung‘ ideale Carraramarmorplatte, in vertikaler Position als unbeschriebenes Grabmal, gleichsam als Schutz eines Innenraums, was die Vorstellung von einer Innerlichkeit des Schreibens erweckt. Nach außen bleibt die Schreibfläche weiß und folglich unbeschrieben. Infolgedessen kann sich die „ungeheure Schrift“ nur innen ereignen und muss von außen unsichtbar und unidentifizierbar bleiben, zumal der vermeintliche Autor anonym (Aus 275) am Ort der Schreibszene lebt, die im römischen „Zentrum des Chaos“ ohnehin unadressierbar ist. Die Marmormauer von Muraus Haus in Rom stellt sich als Metapher einer Interiorität des Schreibens dar, das in der Immanenz einer opaken Undifferenzierbarkeit und Undurchdringlichkeit versinkt, wogegen die Außenseite als vertikale ‚tabula rasa’ nach außen zum (Über-)Schreiben auffordert. 2.4.2. Schwarzmalerei La couleur noire renferme l’impossible vivant. Son champ mental est le siège de tous les inattendus, de tous les paroxysmes. Son prestige escorte les poètes et prépare les hommes d’action. (RENÉ CHAR, POÉSIES, 198.) In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total finster. (THOMAS BERNHARD, DREI TAGE, ZIT. N. RUTHNER, 270.)
Der Weg nach Wolfsegg führt über einen Abgrund (vgl. Aus 164). Er spiegelt sich poetologisch als/im Übergang zwischen den Textteilen ‚Telegramm’ und
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‚Testament’ wider bzw. fiktional als Reise von Rom nach Wolfsegg. Wie Maria im Traum zur Gaststätte Zur Klause kommt Murau zu Fuß nach Wolfsegg, nachdem er just an der „Mariensäule“ (Aus 311) aus dem angeblichen Taxi gestiegen ist. Die Unzugänglichkeit des Terrains reflektiert Utopie und Widerstand der Schreibbewegung. Aus der Analogie von Gedankengang und Schreibvorgang wäre zu deduzieren, dass d i e s e Transgression, wenn überhaupt, nur per pedes zu bewältigen ist, denn sie führt im Kontext der Erhabenheit gewissermaßen durch einen paradoxalen Engpass, der zwar bei extrem verlangsamter Annäherung physisch zu erspüren, jedoch nicht zu beschreiten/beschreiben ist, auch nicht mit einer technologischen Apparatur und schon gar nicht mit einer für die Gerade angelegten Geschwindigkeitsmaschine wie dem Auto215, sondern allein mit Hilfe einer phantastischen Philosophie, wie sie der Flaneur Murau, von Gambettis insistierenden Fragen begeistert, von Beginn an beim (Hin- und Her-)
215 Die Reise nach Rom per Flugzeug oder Bahn wird nicht zuletzt dadurch unwahrscheinlich, dass prinzipiell a l l e n technischen Transport- und Überbrückungsmitteln eine Absage erteilt wird wie auch die Fotografie-Kritik exemplifiziert. Es ist zumindest bedenkenswert, dass Eltern und Bruder auf den Fotos jeweils mit einem Zug bzw. einem Segelboot abgebildet sind. In Muraus Wohnung hingegen gibt es nicht einmal einen Lift, wie er betont (Aus 274). Ein traumatisches Gegenbild bietet die Ätnaszene auf, in der Murau durch die Seilbahn von seiner Mutter und Spadolini getrennt, ja geradezu abgenabelt wird (Aus 559), während diese zu Fuß den Berg hinabsteigen. Das Zu-Fuß-Gehen, das in scharfem Kontrast zum Autounfall und zur Geschwindigkeitssucht von Johannes steht, ist eine Bewegung von äußerster Intensität, die dem „Beweggrund“ (Aus 156) des Philosophischen nachspürt. Diese signifikante Emphase weist es als intensives, physisch erfahrbares (Übergangs-)Moment aus. Für Paul Virilio ist der Fußgänger selbst ein Fahrzeug, „ein METABOLISCHES FAHRZEUG mit eigenem Tempo“, wobei es „eine Identität und Identifikation des Körpers mit seiner Geschwindigkeit [gibt]; leben, LEBENDIG sein heißt Geschwindigkeit sein.“ Dies wird zur entscheidenden Differenz, da der Fußgänger ‚seine‘ Geschwindigkeit kennt so wie den Körper, der sie produziert. Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren…, Berlin 1978, 20. Vgl. Aus 430: „[…] meiner Haut ist eine solche Elektrorasur aber auch nicht zuzutrauen […].“ Vgl. Lévinas 1997, 112: „Die Maschine macht Tempo, sie ist die Antwort auf die Ungeduld unseres Begehrens.“ Sie unterdrückt die Zeit, die Zwischen-Zeiten, die das Hin- und Hergehen überhaupt erst hervorbringt und gleichsam den Auslöschungsprozess in Gang hält, wogegen die Mutter und die Geschwister auf einen „kurzen Prozeß“ (Aus 69 u. 189) drängen.
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Gehen entwickelt. 216 Muraus zögerliches imaginäres Eindringen in die Wolfsegger Festung hebt sich ab vom Tempo der Unfallszene, in der der Jaguar seines Bruders auf dem Weg in die ehemalige Hitler-Stadt Linz an einer Kreuzung von der Eisenstange (einer Traverse!) abgebremst wird, die sich als Allegorie eines den Unfall herbeiführenden, die Enthauptung der Mutter verursachenden sowie sich der Geschwindigkeitsmaschine entgegenstemmenden Schreib- und Mordinstruments zu erkennen gibt. Murau ist sich der Problematik des Transits vollauf bewusst und gesteht dessen Scheitern immer wieder ein, womit sich all seine Wahrheitsbeteuerungen, (Selbst-)Wahrnehmungen und Realitätsbeschreibungen von Beginn an in einem imaginären Zwischenstadium ereignen. Er wandelt gewissermaßen in der Gegenrichtung auf den Spuren von Simonides und Ödipus bzw. Hamlet: Wo Simonides ins Außen tritt und den Einsturz des Gebäudes mit verursacht, um ‚Erinnerung’ als kompensatorischen Akt der Trauerarbeit zu etablieren, richtet sich Murau mit seinem geheim gehaltenen Denken in einer Innerlichkeit ein, die „die Auslöschung […] im Kopf“ (Aus 543) bewahrt, um sie nicht der Defizienz der symbolischen Ordnung preiszugeben; wo Ödipus bestrebt ist, die Mörder seines Vaters zu finden, bemüht sich Murau, den Mord(-versuch) an seiner Mutter durch einen Unfalltod zu über-schreiben; wo Hamlet dem Nein des Vaters (dem non/nom du père) folgend vor direkter Gewalt gegen seine Mutter zurückschreckt, legt Murau – im Traum – Hand an sie an. Als Aufklärer getarnt, der nun mit schonungsloser Offenheit die Verbrechen seiner Familie ans Licht zu bringen vorgibt, befleißigt er sich, bei seinen Ermittlungen und Beobachtungen der vorgeblichen Täter nicht selbst als Täter überführt zu werden. Das Hinauszögern und Verleugnen dieser (Selbst-)Erkenntnis wäre gleichsam als antiautobiografisches Prozedere beschreibbar. Es geht nicht um Aufklärung (vgl. Aus 19), Bekenntnis und Erkenntnis, sondern um Verdunkelung und Vertuschung, um sprichwörtliche Schwarzmalerei: „Gambetti hatte laut aufgelacht und mich einen maßlosen Übertreiber genannt, mich als typisch österreichischen Schwarzmaler bezeichnet.“ (Aus 123) Murau behält seinen Anti-Goethe-Kurs bei: nicht „mehr Licht“ heißt die Devise, sondern Spiel mit der Differenz, vermöge dessen die Differenzierbarkeit selbst an ihre äußerste Grenze getrieben und zur Disposition gestellt wird.217 Das
216 Später gibt Murau jedoch zu, dass er sich an seiner e i g e n e n Rede berauscht und begeistert (Aus 162), womit sein Schüler als Phantasma enttarnt und der imaginierte Dialog mit Gambetti de facto monologisch ist. 217 Die Pointe von Bernhards Erzählung Goethe schtirbt, wonach Goethes letzte Worte tatsächlich „mehr nicht“ gewesen sein sollen (Gs 413), schärft noch einmal den Blick
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ästhetische Verfahren der Auslöschung gleicht dem des rosaroten Panthers, wie es Deleuze und Guattari in Rhizom propagieren: „Der rosarote Panther ahmt nichts nach, er reproduziert nichts, er malt die Welt in seiner Farbe, rosa auf rosa, das ist sein Welt-Werden: er wird selbst unsichtbar und asignifikant, macht seinen Bruch, treibt seine Fluchtlinie und seine ‚aparallele Evolution‘ auf die Spitze.“218
für die Funktion des Schwagers, wenn dieser von Caecilia auf den Dachboden der Meierei geschickt wird, um zwei Leichentücher zu besorgen, die in einer Schachtel mit der Aufschrift „Sunlicht“ aufbewahrt sein sollen, was Murau für einen Vorwand hält, um ihn loszuwerden (Aus 419). Dabei droht er sich selbst zu verraten, denn das Lachen, mit dem ihn sonst Gambetti entlarvt, rutscht ihm hier beinahe selbst heraus: „[…] ich hätte auflachen können über dieses von ihr völlig ungezwungen in dem ihr eigenen dümmlichen Ton ausgesprochene Wort Sunlicht, ich beherrschte mich aber.“ (ebd.) Murau ist sich vollkommen sicher, dass die Sunlicht-Schachtel eine Erfindung seiner Schwester ist (vgl. Aus 426). Umso überraschter beobachtet er später am Fenster seines Zimmers, wie sein Schwager mit einer großen Schachtel von der Meierei zur Orangerie geht: „Tatsächlich hat der Schwager die Schachtel mit der Aufschrift Sunlicht und den Leichentüchern gefunden, dachte ich. Und ich hatte geglaubt, diese Schachtel existiere nicht.“ (Aus 433) Die Stelle ist umso markanter, als es das Waschmittel ‚Sunlicht’ realiter gibt, das selbstverständlich der Beseitigung von Schmutz dient, was über die Leichentücher, die sich hier in der Schachtel befinden, dem Zudecken der Leichen analogisiert wird. Zur Verdunkelung und Anti-Haltung zu Goethe siehe auch Der Fürst in Der Stimmenimitator von Bernhard (St 133f.). Vgl. Siebenkäs’ Auseinandersetzung mit Lenette um die Lichtschneuze (Sk 174). 218 Deleuze/Guattari 1977, 19. Vgl. Kw 187f.: „[…] ein Traum Konrads: in einem Anfall von plötzlicher, nicht näher klassifizierbarer Verrücktheit (Katatonie?) hat er, Konrad, angefangen, das Kalkwerksinnere, und zwar von ganz oben unter dem Dach, nach und nach bis ganz hinunter, mit schwarzem Mattlack auszumalen […]. Nicht früher, als bis er nicht das ganze Kalkwerksinnere mit schwarzem Mattlack ausgemalt habe, verlasse er das Kalkwerk, habe er gesagt und den größten Wert darauf gelegt, tatsächlich alles im Kalkwerk schwarz und das heißt, mit dem von ihm auf dem Dachboden vorgefundenen schwarzen Mattlack, auszumalen. Decken, Wände, noch vorhandene Einrichtungsgegenstände, wie gesagt, einfach alles malte er schwarz an und aus, und er malte sogar das Zimmer seiner Frau, schließlich alles im Zimmer seiner Frau und schließlich seine Frau selbst schwarz an und aus, […] wie gesagt alles und schließlich auch alles in seinem Zimmer und er brauchte genau sieben Tage dazu, so Fro, um das ganze Kalkwerk und das ganze Kalkwerksinnere und schließlich auch das Innere des Kalkwerksinneren schwarz an- und auszumalen. Kaum war er
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Die „ungeheure Schrift“ emergiert nicht etwa vor dem idealen Weiß der Carraramarmorplatte, wo sie über ausdifferenzierte Kontraste exakt zu dechiffrieren und problemlos zu lesen wäre, die „ungeheure Schrift“ über-schreibt sich, löscht sich aus. Muraus unleserliche Handschrift, das Gekleckse seiner (avantgardistischen) „Schwarzmalerei“ lässt Konturen verschwinden, verklärt die Dinge und bringt sie letztlich (wie ihn selbst) zum Verschwinden. Allein die Phantastik durchdringt diese Schwärze und lässt hier und da – blitzartig – ‚etwas’ aufleuchten, wie auch die Brüder in Amras erkennen: „Das Phantastische enthüllte uns alles sekundenlang, um es wieder für sich zu verfinstern.“ (Am 30) Vor diesem Hintergrund wird Muraus Vorliebe für die ‚Farbe’ „grünschwarz“ (Aus 624) als ästhetisches Programm lesbar, in dem sich der ästhetische Gegenstand gerade noch als farblicher Schimmer von der „fast völlig[en]“ Dunkelheit, wie sie in Muraus Wohnung herrscht (Aus 301), vom Nichts abhebt, so dass Sein und Nicht-Sein „fast völlig“ zur auslöschenden Deckung kommen. Die Liminalität und Fragilität dieser Ästhetik wird nicht zuletzt durch ihre gefährliche Nähe zur abjizierten Mutter evident, denn sie ist es, die im Verbund mit Muraus Schwestern „Wolfsegg verfinstert“ (Aus 103). Die (erträumte) Verwandlung der Hochzeitsszene in eine Trauerszene entspricht einem Abschatten und Schwarzmalen, das mit den dunklen Räumen, den dunklen Ecken und Winkeln, aus denen heraus der Protagonist (be-)lauscht, (be-)staunt und (be-)schreibt (z.B. Aus 628), korrespondiert und die Ästhetik seiner Auslöschungsschrift als eine des Verschwindens bzw. Eskamotierens bestimmt: „In Gruppen standen sie [die Trauergäste, T.M.] da unten und plauderten, als handelte es sich um ein Sommernachtsfest, dachte ich einen Augenblick. Das Schwarz ihrer Kleider verdeckte die sonst unerträglichen Geschmacklosigkeiten an ihnen. Schade, dachte ich, daß der Anblick für ein solches schönes elegantes Bild der traurige ist, eine solche Gesellschaft im Park unten, wie sie sich mir jetzt zeigt, wäre wegen des schönen eleganten Bildes, wie ich mir halblaut wiederholte, ab und zu zu veranstalten, das durchaus Ästhetische ist das Anziehende daran, dachte ich.“ (Aus 493)
Das ästhetisch Anziehende ist in doppelter Hinsicht die schwarze Trauerkleidung, mit der Murau die Figuren in seinem Begräbnistheater-Traum versieht. E r s e l b s t „veranstalte[t]“ diese Gesellschaft (vgl. Aus 321 u. 339f.), indem er das
damit fertig gewesen, so Fro, habe er das Kalkwerk von außen abgesperrt und sei am Zuhaus vorbei zum Felsvorsprung gelaufen und habe sich vom Felsvorsprung in die Tiefe gestürzt.“
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Erinnerungsbild, das mutmaßlich der Hochzeit entstammt, seinen Wünschen gemäß verunstaltet und die Hochzeitsgäste entsprechend schwarz ‚einkleidet’.219 Der Übergang von Rom nach Wolfsegg liegt sprichwörtlich im Dunkeln. Es ist jedoch von der Annahme auszugehen, dass die Reise nicht stattfindet und Murau sich von Rom aus in die Wolfsegger Szene mit den Gärtnern hineinphantasiert: „Ich stand am offenen Fenster und sagte mir, hier bin ich, hier bleibe ich, von hier bringt mich nichts mehr weg. Und meine Rechnung ist aufgegangen. Ich bin in Rom geblieben und nicht mehr weggegangen.“ (Aus 206)220
Weitere Belege dafür, dass er sich während des gesamten Reflexionsprozesses in Rom (oder besser: anderswo, in einer – vorübergehenden – Zentrumsbestim-
219 Vgl. Aus 397: „[…] daß ich meiner Schwester Caecilia gesagt habe, wie gut ihr das schwarze Kleid stünde, das sie gerade anhabe, Schwarz steht dir am besten, habe ich zu ihr gesagt, es war nicht bösartig gemeint, aber sie hatte es natürlich gleich so aufgefaßt, sie hatte mir keine hintergrundlose anständige Bemerkung zugetraut, sie glaubte sofort an das Infame, gab also keine Antwort auf mein Kompliment. Nein, habe ich gesagt, ehrlich, dieses schwarze Kleid steht dir ausgezeichnet. Sie ging darauf nicht ein.“ Eine „hintergrundlose anständige Bemerkung“ ist Bernhards Protagonisten keinen Augenblick zuzutrauen. Siehe dazu auch „die ererbten SchwarzWalkjanker und die ebenso ererbten Schwarz-Kropfbänder“ (Aus 341f.), wobei letztere von besonderer Signifikanz sind, da sie die entscheidende ‚Schnittstelle’ zwischen Körper und Kopf markieren – den Hals als Ort der sprachlichen Artikulation. Murau selbst trägt beim Begräbnis nur schwarze Schuhe, jedoch einen grauen statt eines schwarzen Anzugs, „weil ich tatsächlich niemals einen schwarzen Anzug besessen habe und auch niemals auf die Idee gekommen bin, mir einen schwarzen Anzug anzuschaffen […]“ (Aus 626). Vgl. dazu Spadolinis grüngrauer „Übergangsmantel“ (!) (Aus 491). Allerdings fordert Caecilia ihren Bruder auf, sich wenigstens eine schwarze Krawatte umzubinden, wobei er betont, dass sie „keinen böswilligen Eindruck“ auf ihn macht (Aus 627). Ob er im Anschluss daran aber tatsächlich eine Krawatte anlegt, bleibt unerwähnt. Kurz nach seiner Ankunft in Wolfsegg hatte er derselben Aufforderung seiner Schwester noch Folge geleistet. (Aus 432) Muraus Hals wird hier demnach gegengezeichnet. Vgl. K.s schwarzen Anzug in Kafkas Proceß (Pro 19 und 305) als Innuendo der Vollstreckung eines Todesurteils. Kraft 1991, 49. 220 Vgl. nochmals den Wortlaut des letzten Satzes: “Von Rom aus, wo ich jetzt wieder bin und wo ich diese Auslöschung geschrieben habe, und w o i c h b l e i b e n w e r d e [meine Hervorhebung, T.M.], schreibt Murau (geboren 1934 in Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom), dankte ich ihm für die Annahme.”
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mung des Chaos) aufhält (genauer: bewegt), sollen noch folgen. Immerhin entscheidet er schon kurz nach Eintreffen des Telegramms, auf seine Reisetasche zu verzichten: „Ich hob die Tasche auf, sie war, wie immer, zu schwer, ich dachte, daß sie im Grunde völlig überflüssig ist, denn ich habe in Wolfsegg alles. Wozu schleppe ich die Tasche mit mir? Ich beschloß, ohne Tasche nach Wolfsegg zu reisen, und packte das Eingepackte wieder aus und verstaute es nacheinander im Kasten.“ (Aus 12f.)
Die anschließenden Überlegungen, wie die Reise nach Wolfsegg zu organisieren sei, werden eingebettet in eine Beschreibung der Wohnung, deren mnemonische Funktionen schon im ersten Teil dieser Arbeit verhandelt wurden, desgleichen die der Piazza Minerva. Der Blick durch das offene Fenster ist jedoch keineswegs so klar, wie es zunächst den Anschein erweckt: „Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Piazza Minerva war so ruhig wie nie zuvor, zwei, drei Menschen, sonst nichts, das war um diese Zeit, fünf Uhr nachmittag, ungewöhnlich. Ich hatte die Jalousien zugemacht, m e i n e W o h n u n g d a d u r c h f a s t v ö l l i g a b g e d u n k e l t, so, in dieser b e i n a h e v ö l l i g a b g e d u n k e l t e n W o h n u n g [meine Hervorhebungen, T.M.] halte ich mich am liebsten in ihr auf, habe ich die besten Gedanken. Einmal dachte ich, ich reise noch am Abend nach Wolfsegg ab, mit dem Nachtzug, dann wieder, ich reise erst in der Frühe, ich reise gleich ab mit dem Zug, das eine Mal, ich reise erst morgen früh mit der ersten Maschine, das andere Mal, aber immer noch ruhig auf- und abgehend überlegte ich immer nur hin und her, wie nach Wolfsegg zurück.“ (Aus 300f.)
Die Frage ist, inwieweit sich hier ‚offenes Fenster’ und ‚zugezogene Jalousien’ widersprechen bzw. inwieweit der Blick die zugezogene Jalousie zu durchdringen vermag, wenn dadurch gleichzeitig die Wohnung „fast völlig abgedunkelt“ ist. Die „fast völlig[e]“ Leere eines zentralen Platzes in Rom wie der Piazza Minerva gegenüber dem Pantheon scheint um die Nachmittagszeit gewiss ungewöhnlich, wenn nicht gar unmöglich.221 Dass Murau in seiner betont großen, abgedunkelten Wohnung auf- und abgeht, mag vielleicht noch denkbar sein, aber wie kann er auf die Fotografien schauen, die „noch immer auf [s]einem Schreibtisch liegen“ (Aus 301)?222 Richtet sich Muraus Blick in dieser Szene tatsächlich
221 Vgl. Yates 1994, 16. 222 Vgl. dazu die Erzählung Montaigne, in der die Bibliotheken aus der Auslöschung und der Turm aus Amras vorgebildet sind und der Erzähler explizit erklärt, dass er trotz
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nach außen oder ist ohnehin alles Introspektion? Hat man es überhaupt mit ‚Äußerungen‘ des Protagonisten zu tun oder vielmehr mit ‚Er-innerungen‘? Der Übergang von Rom nach Wolfsegg klappt nur „gegen jede Regel“ (Aus 322) und bleibt so obskur wie die (schlaflose) Nacht vor dem Begräbnis. Hinsichtlich der Reise sagt Murau zunächst, dass er „nicht die Möglichkeit [hat], [s]ich zu entscheiden […] [und] zu keinem endgültigen Entschluß“ kommt (Aus 303), gedenkt aber schließlich doch „mit der Frühmaschine von Rom abzufliegen“ (Aus 310). Über die Nacht vor dem Flug sowie den Flug selbst erfährt der Leser jedoch nichts. Dies ist umso merkwürdiger, als Murau mehrere Male auf seine Schlaflosigkeit (Aus 86, 198, 499, 508) zu sprechen kommt, wonach nicht davon auszugehen ist, dass der Reflexionsprozess mit dem Entschluss, die Frühmaschine zu nehmen, abbricht, schon gar nicht in Anbetracht des Erbdilemmas, das Murau mehr und mehr zu Bewusstsein kommt. „Gute Nacht, sagte ich mir jetzt“ (Aus 306), heißt es noch vor der angeblichen Entscheidung, früh am Morgen das Flugzeug zu nehmen, doch es bleibt unklar, ob dies nur Teil einer Reflexion über die Missverständnisse mit seiner Familie ist, sich auf die Dunkelheit des Raumes infolge der zugezogenen Jalousien oder die mittlerweile fortgeschrittene Zeit bezieht. Wenige Seiten zuvor gibt Murau die Zeit noch mit „fünf Uhr nachmittag“ an – aber was besagt das schon in der Auslöschung? Der Übergang zum Traum(-text) ereignet sich keineswegs in dieser Passage, sondern hat längst statt und ist fortwährend vom Einbruch des ‚Realen’ bedroht. Der Text pendelt zwischen offenem Fenster und „beinahe völlig abgedunkelten“ Räumen, zwischen innen und außen, zwischen „Vaterhaus“ und „Mutterhaus“, zwischen einem grünlichen Schimmern und einer undurchdringlichen Schwärze223. Im Verlauf des Hin- und Hergehens wird das Hin- und Herüberlegen, „wie nach Wolfsegg und zurück“ (Aus 301), gemäß eines ‚als ob’ realisiert, dessen
der „absoluten Finsternis der Bibliothek“ ein Buch von Montaigne findet (Mon 412), um es im „hintersten Winkel des Turms“ zu lesen, was „ohne künstliches Licht so mühevoll war.“ (Mon 423) Vgl. Aus 505: „Meine Vorliebe für beinahe völlig abgefinsterte Räume habe ich mir bis heute erhalten […]. Ich sehe fast nichts, sagte ich mir, das habe ich am liebsten.“ Wie kann er dann „mit einem einzigen Blick“ (Aus 502) ohne Licht die Anzüge im Schrank oder die Fotografien auf dem Schreibtisch des Vaters (ebd.) sehen? 223 Vgl. Wolfgang N. Krewani, Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, München 1992, 100.
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tatsächlicher Ort nicht lokalisierbar ist. Mit/In diesem ‚Zwischen’ („[…] Wolfsegg, mit einem Wort, ist nicht Rom“, Aus 486) spielt die Auslöschung. Die schwarze Fahne224, die Murau kurz nach seiner Ankunft in Wolfsegg so penibel exakt in der Mitte des Balkons anbringen lässt (Aus 397), ist weder Ausdruck von Trauer, wie Gößling225 glaubt, noch Anzeichen eines spießbürgerlichen Charakterzugs, sondern die Markierung eines undurchschaubaren Übergangs, der Verdunkelung des Zwischenraums. Die Fahne wird zum Herrschaftszeichen einer transitorischen Opazität, Undurchdringlichkeit und Undifferenzierbarkeit. Sie hängt direkt über dem Eingang, dem „weit offenen Portal“, das Murau erst nach einer 16 Seiten langen Reflexion (Aus 339ff.) durchschreitet, die den Leser immer wieder vergessen lässt, dass Murau „auf das Portal zugehend“ (Aus 340) denkt. Das Portal („das hochgestellte schwarze Rechteck“, Aus 339), das „so dunkel grün gestrichen [ist], daß es immer als schwarzgestrichen [sic!] erscheint“ und sich mit Muraus Lieblingsfarbe „grünschwarz“ (Aus 624) deckt, ist zudem mit dem Material ‚Eisen’ romantisch markiert, denn an diesem Eingangsportal hängt ein eiserner Glockenzug (Aus 168), wodurch sich das Durchschreiten des Portals als eine Bewegung in/der „Eisenbergrichtung“ zu lesen anbietet.226 Der schier endlos lange Übergang deutet auf einen Widerstand hin, den es vorderhand zu überwinden gilt.227 In der Annäherung an die Schwelle wird letztlich Muraus Bruder Johannes zum wesentlichen Reflexionsgegenstand dieses wortwörtlichen Gedanken(über)gangs. Dessen Vorliebe für schnelle Autos und Geschwindigkeit setzt ihn der Langsamkeit der Annäherungskunst des Flaneurs diametral entgegen und gibt ihn in seinem „Jaguar“ (Aus 352f.) als Epigonen der Wolfsegger Jagd- und Beutekultur zu erkennen. Nur im Auto kann er „aufatmen und seinen Gedanken nachgehen“ (Aus 353), ist er „entfesselt“ und mutiert zum „absoluten Machtmenschen“ (Aus 352). Während die Mutter stets die Richtung vorgibt, vermag er „im Jaguar“ (ebd.) zumindest die Geschwindigkeit
224 Vgl. die schwarze Fahne auf Bertrands Schloss in Eschs Traum (E 155). 225 Gößling 1988, 61. 226 Das Tor symbolisiert die Grenze zwischen zwei Lebensphasen. Beim Ritus der Torpassage verlässt das Kind die Welt der Kindheit und betritt die Adoleszenz. Van Gennep 1986, 64f. Im vorliegenden Fall scheint es sich jedoch eher um eine Regression zu handeln. Die Länge der Passage deutet darauf hin, dass das Tor das Verbot des Eintritts symbolisiert. Ebd., 28. Vgl. die „Pforte der versperrten Träume“ (Sk 326). 227 Siehe Iser 1991, 294: die Phantasie durchbricht Verweigerungen.
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zu diktieren. Dies stellt ihn in die Nachfolge seines Vaters, der gleichsam „nurmehr noch auf dem Traktor allein und glücklich sein kann“ (Aus 353). Der Geschwindigkeitstheoretiker und Architekt Paul Virilio sieht im Gefährt das Substitut der Gefährtin 228 und interpretiert den „Geschwindigkeitsträger“ Auto als Ersatz für die Geliebte. 229 Die Fixierung auf technische Fortbewegungsmittel steigt somit zum Zeichen der sexuellen Abstinenz von Vater und Sohn auf, die sich bei Johannes zur pathologischen Geschwindigkeitssucht hypostasiert, Muraus Präferenz des Zu-Fuß-Gehens hingegen als zölibatäre Bewegung der Junggesellenmaschine profiliert. Aber nicht nur aus diesem Blickwinkel präsentiert sich Johannes als designierter Nachfolger des Vaters, auch beim Gehen wird er diesem immer ähnlicher, wie Murau feststellt: „Mein Bruder wird immer mehr zu meinem Vater, habe ich oft gedacht. Er hat sich ihm in letzter Zeit schon ganz angenähert, es dauert nicht mehr lange, habe ich bei der Hochzeit gedacht, und er ist unser Vater. Sein Gang, seine ganze Körperhaltung, seine Stimme, sie werden meinem Vater immer ähnlicher, sie decken sich bald mit der Körperhaltung des Vaters, mit dessen Gang, mit dessen Stimme und in der Folge naturgemäß mit dessen Geisteshaltung. Der erstgeborene Sohn ist sozusagen von Anfang an bestimmt gewesen, der Vater zu sein und e r w i r d e s b a l d s e i n , habe ich gedacht. E s i s t n u r n o c h e i n e F r a g e d e r k ü r z e s t e n Z e i t [meine Hervorhebungen, T.M.].“ (Aus 353)
Somit wird die Legitimität des „erstgeborene[n] Sohn[es]“ und der damit evozierte Erbkonflikt zum alles beherrschenden Gedanken, der sich fortsetzt und bis zum Durchgang durch das Portal gezügelt und gebannt werden muss. Murau sinniert darüber, wie der „Wunschsohn“ (Aus 353) Johannes von den Eltern zu ihrem „Idealbild“ (Aus 353) geformt wurde. Frappierend ist jedoch, dass der Bruder in Muraus Gedanken(-gang) durchaus noch zu leben scheint, wie meine Hervorhebungen in der obigen Passage suggerieren. Damit aber steht die Dialektik von Traum und Wirklichkeit, von imaginiertem Unfall und bevorstehender ‚realer’ Inauguration des älteren Bruders im Zentrum von Muraus Annäherungskunst, die sich über die Widerstände der ‚Realität’ hinwegzusetzen sucht, um ihren Primat zu reklamieren und Murau als Erbe von Wolfsegg auszugeben. Das Durchdringen des Portals, das Eindringen in die Festung Wolfsegg, das Über-
228 Vgl. Leibgeber, der „Weiber“ als „die schlimmsten Fahrzeuge, in die ein Mann sich auf offener See wagen könnte“, bezeichnet – „und zwar Sklavenschiffe“ (Sk 403). 229 Virilio 1986, 89.
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winden der Schwelle gerät somit zu einer Form des Romantisierens, zu einem romantisch-transitorischen Akt, bei dem – übergangsweise – die Phantasie obsiegt: „Ich bin mir sicher, wenn er [Johannes, T.M.] fünfzig ist, wird es hier, wie gesagt wird, eine Hochzeit geben, die sich gewaschen hat, dachte ich. Aber ein Toter kann nicht mehr heiraten. Mit diesem Gedanken bin ich durch das Portal gegangen.“ (Aus 355)
Wie in den darauf folgenden Begegnungen mit den Gärtnern bzw. den Schwestern und seinem Schwager setzt sich Murau vermittels einer Negativierung in Szene, bahnt sich seine Phantasie ihren Weg durch die symbolische Ordnung. Die plötzliche ‚Erinnerung’, die den Bruder und legitimen Erbe für tot erklärt, stellt eine Realisierung der Chance, die Murau in dem Wort „Zweiterbe“ wittert (Aus 507), unvermittelt in Aussicht. Dass Muraus Lieblingsgebäude, die Orangerie, in der die Leichen aufgebahrt sind und deren Eingang von (nationalsozialistischen) Jägern bewacht wird (Aus 590), an einen Abgrund grenzt, versinnbildlicht die bis ans Äußerste vorangetriebene Imagination vom Tod der Eltern und des Bruders. Die „von innen beleuchtete Orangerie“ (Aus 513) wird – einstweilen – zum erhabenen Gedächtnisraum schlechthin, in dem blitzhaft eine Wahrheit aufleuchtet, wenngleich schon kurz darauf die Lichter wieder „ausgelöscht“ (Aus 625) sind. Die (in Goethes letzten Worten angeblich geforderte) Aufklärung wird auf ihre äußerste Schwundstufe reduziert.230 Das ‚Wahre‘/‚Lebendige‘ ist nicht von Dauer, sondern lediglich von einem Erscheinungs- und Ereignischarakter geprägt. Dementsprechend weicht der Genuss, den der Übergang nach Wolfsegg und die damit verbundene Machtübernahme zunächst versprach, allmählich einem Ekel, der andeutet, dass Murau sich in seine Imaginationen verstrickt hat und die Agenten der metaphysischen Ordnung des Erbe(n)s als imaginierte Leichen (Aus 396) dem Gedächtnis nicht (dauerhaft) integrierbar sind.
230 Vgl. FII 11500/443: „Allein im Innern leuchtet ein helles Licht.” Vgl. Keller 1991, 331. Auch in den Wahlverwandtschaften ist die Rede vom „inneren Licht“ (Wv 410). Peter Michelsen, „Fausts Erblindung“, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Faust II, Darmstadt 1991, 347.
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2.4.3. Wachtraum: Theater der Grausamkeit Mit dem Überwinden des Portals und Überschreiten der Schwelle gelangt Murau imaginär in den Innenbezirk von Wolfsegg. Dass sich auch am Eingang zu seinem Renaissancepalast in Rom ein „ungeheures Portal“ (Aus 274) befindet, wie seine Mutter bei ihrem Besuch feststellt231, untermauert meine These, dass der gesamte Imaginationsprozess sich in Muraus römischem „Denkkerker“ abspielt. Zwischen geöffnetem Fenster und „fast völlig abgedunkelt[en]“ Räumen, zwischen Innen- und Außenbeobachtung oszillierend, umspielt die ‚grün-schwarze’ Ästhetik232 seiner ungeheuren Schrift die Ereignisschwelle, an der sie von zu viel aufklärendem Licht wie von total auslöschender Finsternis gleichermaßen bedroht ist. In diesem prekären Zwischenstatus ist die imaginäre Immanenz bestrebt sich zu installieren. So muss sich Murau bei seiner ersten Begegnung mit den Schwestern und dem Schwager nicht nur erneut vermittels negativer Identifizierung in Szene setzen (Aus 385), die Schwestern verlangen gar von ihm, dass er sich wieder v o r das Portal begibt, um die Trauergäste zu empfangen, da er „sie ihnen a u f g e h a l s t “ [meine Hervorhebung, T.M.] (Aus 530) habe. Die Parallelität zum Schwellenübertritt in der Simonides-Legende ist eklatant: Muraus „Begräbnistheater“ soll keine (äußere) Trauer-, sondern eine (innere) Festszene sein, deren Genuss die Schwestern und der Schwager zu verhindern trachten. Murau hält dagegen, dass er sich „schon in Rom […] entschieden [habe], [s]ich nicht vor das Portal zu stellen“ (Aus 531) – und das bedeutet, in der Wohnung, im Denkkerker, zu bleiben, um keinem Anlass zur Trauer(-arbeit) stattzugeben233:
231 Die Mutter ist übrigens die einzige Figur, die Zutritt zu seiner Wohnung erhält! Damit gibt sich der Schreibakt auf dem Opfertisch der tabula rasa (die Eisenstange, die die Mutter köpft) als imaginärer Trennungsakt zu erkennen. 232 Vgl. Ver 99: „Es ist eine Landschaft, die nur ein E x i s t e n z m i n i m u m [meine Hervorhebung, T.M.] duldet. Es ist ein Schwarzgrün, das dort herrscht, ein Grünschwarz, eine Finsternis, die so groß ist, daß sie Selbstmorde schon wieder ausschließt.“ 233 Wohingegen Murau den Aspekt der ‚Gastfreundlichkeit’, der sich im Empfang am Portal ebenso widerspiegelt, ausdrücklich anmahnt: „[…] die ersten logierenden Trauergäste waren bis ans Ende des Vorhauses hereingegangen, ohne empfangen worden zu sein und hatten an die Tür geklopft. Das war mir sofort peinlich gewesen und ich hatte später auch meine Schwestern zur Rede gestellt, wie es möglich ist, die ersten Gäste nicht schon draußen vor dem Portal zu empfangen, habe ich zu ihnen gesagt, sie bis ans Ende des Vorhauses hereingehen zu lassen ohne Begrüßung […].“
246 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES „Schon in Rom habe ich gesehen, wie sich dieses Begräbnis entwickeln wird, entsetzlich, sagte ich, mit allen nur möglichen Scheußlichkeiten. Aber es wird vorübergehen, sagte ich, es sind noch alle Scheußlichkeiten vorübergegangen. Die Heuchelei sei j e t z t u n d h i e r [meine Hervorhebung, T.M.] nicht am Platz. Das ganze habe mit der Trauer nichts zu tun, nur mit Theater, sagte ich.“ (Aus 531)
Daraufhin erfolgt die Anmerkung, dass während dieser Unterhaltung „naturgemäß leise gesprochen worden“ sei, damit sie niemand hätte verstehen können, da es ja möglich sei, dass sie „behorcht“ würden. Hin und wieder sei auch „an die abgesperrte Tür geklopft worden“ (Aus 531). Dies korreliert mit der merkwürdigen Szene wenige Seiten zuvor, in der Murau von Caecilia verlangt, die Eingangstür zum ersten Stock abzusperren, „damit die Lemuren nicht hereinkönnen“ (Aus 525), die bereits im Kontext der Anti-Goethe-Linie der Auslöschung zitiert wurde. Der von Murau reklamierte Innenraum muss offensichtlich geschützt werden vor einer Gefahr, die mit der mythologischen Bedeutung der Lemuren heraufzieht, derzufolge Lemuren Totengeister und Wiedergänger sind, die Tote wie Lebende quälen, indem sie Wahnvorstellungen bei ihnen hervorrufen.234 Demnach wünscht Murau, die Gespenster aus der Szene zu bannen, um einer Deprivation des ‚Lebens’ und der ‚Realität’ vorzubeugen. Im Bild der Simonides-Legende gesprochen gilt es, die Festszene ‚real’ zu halten und vor dem Zusammenbruch zu bewahren, der sich mit einer jenseitigen transzendentalen Idealität abzeichnen würde.235 Die Analysen zum Gedächtnis wie auch zur Erhabenheit vereinen in sich die Erkenntnis, dass es keine sichere Grenze zwischen Innen und Außen geben kann, Innen- und Außenraum sich vielmehr wechselseitig durchdringen und immer schon vom jeweiligen Pendant affiziert sind.236 In dem Bestreben, sich dennoch
(Aus 487) Hier gibt sich eine „Verpflichtung“ dem Anderen/den Anderen gegenüber zu erkennen, womit sich das letzte Kapitel ausführlich befassen wird. 234 Hannelore Gärtner, Kleines Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1991, 223. 235 In Faust II treten die Lemuren als Diener der Hölle in der Szene „Großer Vorhof des Palasts“ auf und heben in der darauf folgenden („Grablegung“) das Grab des Protagonisten aus. Mephistopheles: „Aus dem Palast ins enge Haus / So dumm läuft es am Ende doch hinaus.“ (FII 11529f./444) 236 Vgl. Weinberg 2006, 335.
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in der absoluten Immanenz237 seines Denkkerkers einzurichten („Entziehen, sich allem entziehen, dachte ich, ich hatte keinen anderen Gedanken mehr“, Aus 644), Trauer(-arbeit) aufzuschieben und Theater(-fest) vor-/fortzuschreiben, konvergiert die bernhardsche Versuchsanordnung des Kopftheaters mit Antonin Artauds ‚Theater der Grausamkeit’238. Kay Link war diesem – unwissentlich – bei der Interpretation einer Passage aus Die Theatermacher auf der Spur, die abermals die Problematik der „fast völlig[en]“ Finsternis verhandelt: „Man müßte aus der einen Finsternis, die zu beherrschen einem zeitlebens unmöglich ist, schließlich total unmöglich geworden ist, hineingehen in die andere, in die zweite, die endgültige Finsternis vor einem und sie möglichst rasch und ohne Umschweife, ohne philosophische Spitzfindigkeiten erreichen können, einfach hineingehen... und möglicherweise die Finsternis durch das Schließen der Augen verfrühen und erst dann die Augen wieder aufmachen, wenn man die Gewißheit hat, absolut in der endgültigen zu sein.“ (Tm 161)
Link verstand die Idee, die endgültige Finsternis zu „verfrühen“, als eine Annäherung an das berüchtigte Bernhard-Thema ‚Selbstmord’, fasste jedoch die Ergänzung „durch das Schließen der Augen“ als eine weniger radikale Möglichkeit auf: „die des Überlebens bei geschlossenen Augen.“239 Doch Link irrt hier, denn aus der Warte von Artauds ‚Theater des Grausamkeit’ besehen, ist dieses ÜberLeben die radikalere Alternative zum ‚Selbstmord‘.240 Es gleicht einem Zelebrieren der Festszene241 bei vollem „Bewußtsein des Mordes“242, was Artaud unerbittliche „Bejahung“ nennt. Während bei ihm der Mord jedoch am Vater als „widerrechtliche[m] Besitzer des Logos“ begangen wird, der die Szene der Macht der Rede und des Textes unterstellt243, richtet sich in der ‚Szene der Aus-
237 Auch Ruthner spricht in diesem Zusammenhang von „purer Immanenz“ bzw. von einer „Ästhetik des immanent Monströsen“, Ruthner 2004, 291. Vgl. Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt am Main 2002, 292: „Hesychasmus“, sowie Nietzsche 1991, 127. 238 In einem Gespräch mit Peter Hamm bestätigte Bernhard Artauds Einfluss auf sein Schaffen. Peter Hamm, „Sind Sie gern böse?“ Ein Nachtgespräch zwischen Thomas Bernhard und Peter Hamm im Hause Bernhard in Ohlsdorf 1977, Berlin 2011, 33f. 239 Link 2000, 112. 240 Siehe oben, 245, Anm. 232 zu Ver 99: „Schwarzgrün“/„Grünschwarz“. 241 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, 370. 242 Ebd., 367. 243 Ebd., 361.
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löschung’ die Gewalt gegen die Mutter und spiegelt sich die unerbittliche Bejahung244 in Muraus mehrfachen Versuchen, den verschlossenen Sarg der Mutter zu öffnen, wider. Im antiödipalen Verschließen der Augen, in der „fast völlig[en]“ Abdunkelung der Räume, in der Abwehr der Lemuren, im Kampf gegen die Duplizität verkörpernden Schwestern, im Ekel vor dem Siegelring tragenden Schwager sowie in der Absicht, den Muttersarg zu öffnen, bietet sich Muraus Gedächtnistheater als Wunschmaschine dar, die den Traum von der Geschlossenheit der Repräsentation träumt. Mit Artaud wäre meine bisherige Bestimmung des Traumtextes dahingehend zu präzisieren, dass der (alle Textgrenzen überfließende) Traum „Hochgebirge“ wie der gesamte Traum der ‚Auslöschung‘ ein Wachtraum ist, ein(e) Traum (-erzählung), in dem Bewusstes und Unbewusstes im Vorbewussten überblendet werden, womit er in seiner anti-goetheschen Diktion wieder hinter die in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] propagierte ‚Heilung’ des „kranken Königssohn[s]“ zurückfällt, bei der Wilhelm Meister durch die Durchbrechung der narzisstischen Illusion vermittels der Auslassung der Vaterrolle in seiner HamletInszenierung die symbolische Ordnung anerkennt und sich in derselben etabliert.245 Murau hingegen verweigert sich angesichts dessen, was mit dem Erbe auf dem Spiel steht, einer derartigen Erbfolge und Lösung des Ödipuskomplexes. Er besetzt mit der ‚grausamen Bejahung’ „Ich bin ein verstümmelter Mensch“ (Aus 339) das, was gewöhnlich aus der Szene ausgeschlossen ist: das Obszöne. Ohnehin eher auf die Mutter(-leiche) fixiert, geraten in der Auslöschung der Muttermord und die intendierte Bejahung durch die Sargöffnung zu einer bedrohlichen inzestuösen Approximation, die in gewalttätiger Abwehr der Repräsentation nicht weniger als die ‚Realität der Illusion’ erzwingen möchte, um das Leben selbst246 (zurück-)zu[-]gewinnen. „Notwendigkeit“ und „Unerbittlichkeit“247 des artaudschen Traumtheaters koinzidieren in der ‚Über-Wachheit’, die jegliche Differenzierung von Schlaf und (Wach-)Traum, Tag und Nacht, Vergangenheit und Jetzt nivelliert, um sich unter Ausschluss jeglicher Wiederholung bei unausgesetzter Konsumtion von singulären, d.h. akausalen JetztMomenten in der Intensität einer endlosen Sensationskette einzurichten.248 All
244 Vgl. Aus 198f.: „Und mein Kopf ist ein unerbittlicher Kopf geworden vor allem gegen mich selbst. Der unerbittlichste, hatte ich zu Gambetti gesagt.“ 245 Vgl. Roberts 1980, 57 u. Hörisch 1983, 48. 246 Vgl. Derrida 1972, 353. 247 Ebd., 360. 248 Vgl. „das Sensationelle“ (Aus 25) sowie „Das Fürchterliche unseres Unglücks ist ja längst von seinem Sensationellen abgelöst worden […].“ (Aus 484)
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dies ist in der Kontrastierung der notorischen Schlaflosigkeit 249 des bernhardschen Helden (vgl. Aus 198) mit dem beträchtlichen Schlaftablettenkonsum seines mutmaßlichen Vaters (Aus 582) in Rechnung zu stellen.250 Wie das artaudsche ‚Theater der Grausamkeit’ Repetition zu tilgen sucht, so strebt der „Vormittagsphantast[]“ (Aus 128) der Auslöschung, bis zur allergrößten, „furchtbarsten Aufhellung“ 251 träumend, in seiner unnachgiebigen ÜberWachheit danach, die metaphysische Ohn-macht252 („For in that sleep of death what dreams may come“) endlich zu bezwingen, da sich „die Welt in einem komaähnlichen Zustand“ befindet und „nicht imstande ist, aufzuwachen und sich in [!] diesem komaähnlichen Zustand bewußt zu werden […]“ (Aus 369). Doch dieser Gedanke ist absurd, wie Murau anschließend selbst bemerkt (Aus 370). Immerhin vermag die Schaffung intensiver Singularitäten das Neue253 und Sensationelle für einen Augenblick dem Unmöglichen abzutrotzen, wie am deutlichsten das Bild der von innen erleuchteten Orangerie direkt am Abgrund des Felseinschnitts (!) (Aus 166) vor Augen führt: „Ich schaute auf die von innen beleuchtete Orangerie, also auf ein Bild, das ich vorher noch nie gesehen hatte.“254 (Aus 513)
249 Vgl. Lévinas 1997, 80ff. u. Krewani 1992, 62f. 250 Auch Kafkas Proceß kann als Wachtraum gelesen werden, denn nach dem Erwachen zu Beginn ist von keinem Schlaf mehr die Rede, gibt es keinen Rückzug des Bewusstseins in die (relative) ‚Freiheit’ der Traumwelt mehr. Die Verhaftung wird im Traum zwar nicht völlig aufgehoben, wohl aber wird die Zensur herabgesetzt. Desgleichen handeln Brochs Schlafwandler von dieser Tendenz zur Entwirklichung des Wirklichen. Vgl. Kamper 1995, 144. 251 Norbert Bolz, „Das Böse jenseits von Gut und Böse“, in: Carsten Colpe, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.), Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, Frankfurt am Main 1993, 265. 252 Ein Ziel, das der Protagonist der Auslöschung mit der Hauptfigur Esch als ‚Schlafwandler’ aus dem mittleren Band Esch oder die Anarchie von Brochs gleichnamiger Trilogie teilt, der leidvoll gegen diese Ohnmacht ankämpft. 253 Vgl. Bachmanns Essay über Bernhard. Ruthner 2004, 294. 254 Vgl. Aus 128: „[…] worauf Gambetti gelacht und mich einen Vormittagsphantasten genannt hat, einen Ausdruck also verwendet hatte, den ich noch niemals gehört hatte […].“ Ebenso das „Gambettilachen“ (Aus 611): „[…] so lachten wir beide auf dem Pincio an diesem Nachmittag, wie wir noch niemals vorher gelacht hatten. Aber auch dieser Satz ist natürlich wieder eine Übertreibung, denke ich jetzt, während ich ihn aufschreibe, und Zeichen meiner Übertreibungskunst.“
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In der Orangerie sind die Leichen seiner Eltern und seines Bruders aufgebahrt, was Murau als „Schauspiel“ und „Kunstwerk“ (Aus 324) ansieht. Die von innen beleuchtete Orangerie wie der Ausdruck „Vormittagsphantast“ gehören zu jenen intensiven Bildern bzw. Wörtern, die Artaud in ihrer Einmaligkeit in Szene setzen will, um ihnen ihre vergessene magische Dimension zurückzuerstatten.255 Doch der Übergang, der Eintritt in die Orangerie, führt zwangsläufig an den (nationalsozialistischen) Jägern vorbei, die die Totenwache halten (Aus 590). Außerdem ist diese nur von „schwache[m] Kerzenlicht“ (Aus 514) erhellt, das bald darauf wieder „ausgelöscht“ (Aus 625) ist.256 In seiner Radikalität übertrifft das artaudsche ‚Theater der Grausamkeit’ die romantische Negativität.257 Wie Derrida bei seinen Ausführungen zur ‚Geschlossenheit der Repräsentation’ einräumt, ist eine strikte Befolgung von Artauds Vorstellungen unmöglich, was eine Doppelung und (negative) Darstellung letztlich unumgänglich macht, wodurch die Repräsentation jenes ‚eigentliche Leben’ zwangsläufig enteignet und „verstümmelt“, wie Murau sagen würde. Was die „ungeheure Schrift“ als Gegenentwurf zur verabscheuten Beamtenliteratur ver-sucht, ist die Inszenierung einer „fast völlig“ opaken Körperschrift258, die ständig versucht (ist), etwas zu bedeuten und diese Bedeutung sofort wieder zu suspendieren. Sie ist „theatralisch“, insofern sie „als geschriebene Poesie […] nur einmal [taugt], und dann verdient sie zerstört zu werden“ 259 , weshalb Murau das Verbrennen seiner Manuskripte durch Maria (Aus 541f.) als Geste der Ent-mater-ialisierung, bei der das Papier die Flamme nährt, um sich als ‚reiner Geist‘ zu verzehren260, explizit begrüßt. Demgemäß verschlingt sich
255 Vgl. Derrida 1972, 362f. 256 Das ist auch notwendig, weil Murau sonst von seinen imaginierten Bildern abhängig zu werden droht, da sie ihn selbst faszinieren. Vgl. Iser 1991, 341. 257 Derrida 1972, 352. 258 Die Körperschrift erinnert gegen die vermeintliche Transzendenz seiner sinngebenden Inhalte an die Widerständigkeit des Mediums. Vgl. Aus 541: „Meine Manuskripte sind nichts wert, sagte ich mir, aber ich habe es nicht aufgegeben, mich immer wieder an Niederschriften zu versuchen, mich sozusagen a m G e i s t z u v e r g r e i f e n [meine Hervorhebung, T.M.], dachte ich.“ Vgl. ebd., 364. Jeziorkowsky spürt ebenfalls eine Art „Körperschrift“ in Kafkas Proceß auf. Jeziorkowsky 1994, 200. 259 Derrida 1972, 375. 260 Gaston Bachelard, Psychoanalyse des Feuers, Frankfurt am Main 1990, 137 u. 145. Die ‚Schändung’ des Geistes ließe sich in zwei Richtungen auslegen: einerseits ist die Sphäre des Geistes unmöglich rein zu halten, da sie zwangsläufig mit Physischem
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die ‚Auslöschung‘ in ihrer eigenen Performanz, stürzt der Raum, den sie eröffnet, (unerinnerbar) im Jetzt des Lektürevollzugs gleich wieder zusammen, so dass sie in ihrem kompromisslosesten Sinne buchstäblich ‚nichts’ ist und nichts bedeutet.261 All die Ausdrucks-, Grammatik- und Zeichenfehler zeugen von der Erstmaligkeit und Einmaligkeit dieser Aufführung. Gleichwohl liegt das Ziel der „Eisenbergrichtung“ in der Geborgenheit einer Immanenz bei gleichzeitiger Ausschaltung der Transzendenz der allgemeinen Memoria: der Wunsch „reines Zeichen“ zu sein, dem kein repräsentativer Charakter eignet. Am Ziel würde jede Infragestellung aufhören.262 Die Ohnmacht wäre einem Machtgefühl gewichen, einem reinen Genuss.263 Die Schnittstelle, an der das Urteil über das geglückte oder gescheiterte Experiment zu fällen wäre, liegt im Verborgenen: Der fest verschlossene Sarg gibt das Geheimnis nicht preis. Die be-hauptete Ent-hauptung der Mutter, die gelingende Dissoziierung von Körper und Geist264, ist eine Obskurität. Das ‚reale’ Obszöne (der verstümmelten Mutterleiche) bleibt zwar potentiell im Spiel, vermag jedoch nicht in Szene gesetzt zu werden. Es wird nur „fast völlig“, keinesfalls aber restlos bejaht. Der Sarg ist eine unüberwindbare Grenze, eine Blackbox, wie auch die kurzzeitig von innen erleuchtete Orangerie am Morgen vor dem Begräbnis schnell wieder in Dunkelheit versinkt. Im Gegensatz zu dem Brand, der angeblich die sechste Bibliothek vernichtet hat (Aus 187), zu jenem, den die Landstreicher gelegt haben (Aus 398f.), bzw. zu den sonstigen Bränden, von denen die Rede ist (Aus 170), stehen die Kerzen in der Orangerie für ein schwaches, kontrolliertes und gebändigtes Feuer. Das Kerzenlicht als Äquivalent zum Grünstich, das die schwarze Szene durchzieht, ist Signum einer Minimalexistenz, die
kombiniert und kontaminiert wird, anderseits misslingt die Inszenierung einer reinen opaken Körperschrift, weil sie immer einen Zugriff auf die ideale Sphäre des Geistes mit einschließt. 261 Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), Berlin 2005, 248f. 262 Bataille 2002, 139. Vgl. Gambettis allmähliches Verblassen und Verstummen im zweiten Teil des Textes. 263 Vgl. ebd., 140. 264 Die intensiven Bemühungen, die phantastische ‚Ermordung’ der Mutter durch Öffnen des Sarges bei Tageslicht zu bestätigen, die Obszönität in Szene zu setzen und auszuleuchten, sind Merkmal der intendierten Durchbrechung der Grenze zwischen dem Psychischen und dem Physischen. Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, 133.
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sich kaum zu erkennen gibt.265 Die Kerzenflamme modelliert dabei einen (sich auflösenden) phantastischen Raum, der allein vom Geschehen der sich verzehrenden Flamme definiert wird, indem sie ihn zugleich verkleinert und unendlich erweitert, „da sie die begrenzenden Wände des Zimmers ins Dunkel hüllt und unsichtbar werden lässt.“ Eingedenk der Kerkerbilder Piranesis präsentiert sich die vom Kerzenlicht erleuchtete Orangerie als Miniatur des Denkkerkers, dem das Denken zu entfliehen trachtet und, den in undurchdringlicher Dunkelheit liegenden Rändern zustrebend, sich erschreckt „wieder aufs Licht zurückzieht.“266 2.4.4. Schweigen Die Lautlosigkeit des Gehirns… (THOMAS BERNHARD, AMRAS, 64.) [W]ir sagen das gedankenlos. (THOMAS BERNHARD, AUSLÖSCHUNG, 541.)
Das ‚Theater der Grausamkeit’ ist nicht nur ein Schauspiel ohne Zuschauer, es ist auch eine Rede ohne Zuhörer, wie mit der These, die ‚Auslöschung‘ als stummen, nicht-artikulierten Text aufzufassen, schon mehrmals zur Diskussion gestellt wurde. Die Lemuren-Szene liefert den Beleg dafür, dass Murau ständig darauf bedacht ist, nicht gehört zu werden. Seine ‚Äußerungen’ („sagte ich“) sind eigentlich ‚Er-innerungen‘ („dachte ich“ bzw. „sagte ich mir“), die keine erlebte Vergangenheit reduplizieren, sondern unablässig produziert und „verschleudert“ bzw. substituiert werden: in ihrem Artikulationsgrad nicht zu taxierende progrediente Erinnerungen, die selbst bei einem gelegentlichen Vor-sichhin-Sprechen schlussendlich in der Einsamkeit des Denkkerkers verhallen, obszöne Phantasmen, die un-erhört sind – und bleiben müss(t)en. Das grausame und bejahende Bewusstsein davon kann nur ein geheimes Denken unter dem Gebot der Geschlossenheit der Repräsentation sein. Das von/in der Auslöschung betriebene exzessive Alternieren zwischen Sagen und Denken jedenfalls („[…] sagte ich, dachte ich […]“), macht eine Distinktion von geäußerten bzw. verschwiegenen Textelementen unmöglich:
265 Vgl. Bachelard 1990, 22. Vgl. in Kontrast dazu die mythische Dimension der Brände in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n]. 266 Reinhard Knodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum, Stuttgart 1994, 53.
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„Sie [die Schwestern, T.M.] haben von mir hören wollen, was ich gerade über die Wolfsegger Zukunft denke, aber ich habe es ihnen nicht gesagt, ich habe sie völlig im unklaren gelassen, die Entscheidung liegt bei mir, nicht bei ihnen, habe ich gedacht und daß ich mich im Grunde schon im Augenblick der Todesnachricht, m u ß i c h m i r s a g e n , für die Auszahlung entschieden habe, nicht für die Teilung. Ich habe noch das Telegramm in den Händen gehabt und mich für die Auszahlung entschieden, dachte ich, ich habe das Telegramm kaum durchgelesen gehabt, i c h s e h e m i c h a m F e n s t e r m e i n e r r ö mischen Wohnung stehen und auf die Piazza Minerva hinunterschauen, zu den Fenstern von Zacchi hinüber, auf die Pantheo n k u p p e l u n d m i r s a g e n , ich bin selbstverständlich für die Auszahlung, nicht für die Teilung. Dieser Gedanke an die Auszahlung meiner Schwestern war übrigens der allererste Gedanke gewesen, den ich nach Erhalt des Telegramms gedacht habe. Die Schwestern fragten mich ununterbrochen, was jetzt zu tun sei, was mit ihnen geschehen wird und i c h s a g t e d a z u n i c h t s , sie fragten mich nicht mit Wörtern, nur mit ihrem ganzen Gehabe bei Tisch, denn i n W i r k l i c h k e i t s a g t e n s i e d i e g a n z e Z e i t kein Wort, ließen mich, wie ich schon geschrieben habe, reden [ meine Hervorhebungen, T.M.].“ (Aus 527f.)
Kurz darauf liest man: „Sind es die Mauern oder die Menschen [die Murau in Wolfsegg aus dem Gleichgewicht bringen, T.M.]? fragte ich, ich weiß es nicht. Wolfsegg insgesamt ist es, sagte ich. Aber das alles nicht nur zu denken, sondern sogar auszusprechen, ihnen zu sagen, s e i [meine Hervorhebung, T.M.] doch unmöglich in Anbetracht der Tatsache, daß ich jetzt der Erbe von Wolfsegg s e i [meine Hervorhebung, T.M. ] über Nacht und Wolfsegg übernommen habe, wie sie denken mußten, nicht übernehmen werde, sondern schon übernommen habe, wie ich dachte. Sie mußten die Erbfolge ernst nehmen, stellten sich auch in Wahrheit nichts anderes vor, als daß sie von mir befolgt wird. Und zwar in allen Einzelheiten und mit allen Konsequenzen. Ohne Rücksicht darauf, daß sie ja das meiste, das ich gedacht habe, nicht gehört haben und also gar nicht d e m g a n z e n v o n m i r G e d a c h t e n [meine Hervorhebung, T.M.] hatten folgen können […].“ (Aus 535)
Welchen Umfang „die ganze Zeit“ oder „das meiste“ hat, bleibt unbestimmbar. Die Konjunktive, die eine Distanz zur Realität indizieren, kassieren die Angabe, nicht zu sprechen, gleich wieder, weil sie die grammatische Funktion einer indirekten Rede erfüllen. Außerdem ist anzumerken, dass man die Aussage, er „sei über Nacht“ der Erbe von Wolfsegg als nur vorübergehende Erbübernahme, während alle schlafen und nur der schlaflose Murau wacht und wachend träumt, auslegen kann. Auch der Leser vermag „dem ganzen von [Murau] Gedachten“
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nicht zu folgen, weil eine Unterscheidung von Äußerung und Er-innerung unmöglich zu leisten ist („Es ist ja von außen, sagte ich mir, nicht erkennbar, was ich denke […].“ Aus 538), da die „ungeheure Schrift“ permanent zwischen „fast völlig“ geheimem Denken und dem gelegentlich doch Veröffentlichten intrigiert, während sie gleichzeitig auf ihrem unerschließbar subjektiven (Un-)Sinn insistiert. Mit der existentiellen Differenz zwischen Erinnern und Äußern steht nicht zum ersten Mal alles auf dem Spiel, denn die völlige Identität von ‚Denken’ und ‚Sagen’ (vgl. Aus 157), die Selbst-Präsenz der Stimme, wie Husserls Phänomenologie sie reklamierte, würde zum Zusammenbruch des Spiel-Raums und damit zum Ende der Metaphysik führen, wie Murau weiß (Aus 161). Wie Bernhards Protagonist bezüglich seiner Schriften bedauert, dass „doch da und dort [etwas] veröffentlicht worden ist“ (Aus 617), so gelingt es ihm auch nicht, alle seine Gedanken (im Wachtraum) geheim zu halten: hin und wieder wird etwas laut oder wenigstens halblaut geäußert, wodurch das ‚Gesagte’ in einer unwägbaren Undifferenzierbarkeit zu verschwimmen droht („Andauernd schweigst du, warfen sie [die Familienmitglieder, T.M.] mir vor oder, andauernd redest du“, Aus 70) wie das Geschriebene in Muraus unleserlicher Handschrift, wie das Grüne im Schwarzen seiner Lieblingsfarbe. Auch Artaud schließt in seinem ‚Theater der Grausamkeit’ gesprochene Sprache keineswegs aus, wie er in seinem Ersten Manifest 1932 darlegt: „Es geht nicht um die Unterdrückung des artikulierten Wortes, sondern darum, den Wörtern etwa die Bedeutung zu geben, die sie im Traum haben. Im übrigen gilt es, neue Mittel zur Notation dieser Sprache zu finden, sei es, daß diese Mittel sich denen der musikalischen Transkription annähern, sei es, daß man eine Art von Chiffresprache verwendet.“267
Diese Form der Sprachauffassung und –inszenierung, die Betonung ihrer musikalischen Dimension, die Opazität von Wörtern, ihre intensive, magische Verwendung, der Einsatz von esoterischen Begriffen und Neologismen, all dies war vor allem im Zusammenhang mit ‚Muttersprache’ und ‚Beamtenliteratur’ bereits Gegenstand der Untersuchung. Entscheidend ist aber, dass der Traumtext 268 vollkommen monologisch angelegt ist, ja angelegt sein muss, um die Kontinuität der Wunschmaschine zu gewährleisten. Gleiches gilt für Gambetti, für den in der Forschungsliteratur zur Auslöschung immer wieder dialogische Momente in Bezug auf Murau reklamiert wur-
267 Zit. n. Derrida 1972, 365. 268 Vgl. das „Gemurmel“ des Traums. Wagner-Egelhaaf 1997, 131. Vgl. Freud 1991, 159.
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den.269 Der römische Schüler ist nur eine Traumfigur des Imaginationstheaters, ein romantisches Medium, das den gesamten Reflexionsprozess implementiert, im zweiten Textteil ‚Testament’ jedoch allmählich verschwindet, da seine Kräfte in der nördlichen Sphäre Wolfseggs versiegen.270 Behauptet Murau noch ganz zu Beginn, dass sein Enthusiasmus von dem Gespräch mit Gambetti herrühre (Aus 7), so kristallisiert sich dieses wenig später als imaginiertes heraus, das nur im Wachtraum statthat und sich eigentlich monologisch vollzieht: „Anstatt Gambetti Wolfsegg zu beschreiben wie angekündigt, hatte ich ihn auf dem ganzen Weg über die Flaminia und wieder ein Stück die Flaminia zurück und dann wieder in ungekehrter Richtung und wieder umgekehrt, bis auf die Piazza del Popolo mit diesen fortwährend auch noch in einem viel lauteren als zuträglichen Ton vorgetragenen Sätzen enerviert und n i c h t e i n e i n z i g e s M a l z u W o r t k o m m e n l a s s e n , während ich die ganze Zeit genau gewußt habe, er hätte das eine oder andere Mal etwas zu meinen A u s l a s s u n g e n , die er nur zwischendurch plötzlich als eine für mich charakteristische philosophierende Rede bezeichnet hatte, zu sagen, daß es besser gewesen wäre, mich von ihm einmal unterbrechen zu lassen und ihn einen Kommentar sagen zu lassen, a l s fortwährend meiner Rede zügellos selbst zuzuhören und mich
269 So z.B. Pfabigan 2009, 181. 270 Ich folge hier Gößling, der Gambetti als Wiedergänger des rhabdomantischen Mediums Francesco Campetti auffasst. Johann Wilhelm Ritter reiste im Jahre 1806 nach Italien, um sich von den spektakulären Kräften Campettis zu überzeugen. Die ersten Versuche ließ Ritter in der Orangerie (!) eines Grafen Bettini durchführen. Nach anfänglichen Misserfolgen soll Campetti tatsächlich in der Lage gewesen sein, ganz ohne Wünschelrute verborgenes Metall aufzuspüren. Gößling erklärt, wie in der romantischen Vorstellungswelt die rhabdomantische Fähigkeit des ‚Metallfühlens’ mit dem Bildbereich des Berges und Bergwerks bzw. des Bergmannes als kundigem Führer in verborgener Tiefe korrespondiert, die unermessliche Schätze, verbildlicht als Metalle, Erze und Edelstein, birgt. Siehe Gößling 1988, 42f. Zweifellos befindet man sich damit auf der Spur der „Eisenbergrichtung“ sowie des Goethe-Subtextes (vgl. die Figur Montan in Wilhelm Meisters Wanderjahre[n]). Die Ritterschen Experimente waren Goethe und seinen Zeitgenossen wohlbekannt und bildeten die Folie zu den Pendelexperimenten, die mit Ottilie im 11. Kapitel des Zweiten Teils der Wahlverwandschaften durchgeführt werden. Siehe Vogl 2002, 305, Anm. 36. Vgl. HansJürgen Schings, „Willkür und Notwendigkeit – Goethes ‚Wahlverwandtschaften’ als Kritik an der Romantik“, in: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1989, 179. Vgl. den Italiener im Proceß, den K. trotz seiner Italienischkenntnisse kaum verstehen kann (Pro 274).
256 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES d a r a n w e n i g s t e n s i m A u g e n b l i c k z u b e g e i s t e r n [ meine Hervorhebungen, T.M.], während mir gleichzeitig doch bewußt war, daß mir diese meine Auslassung in wenigen Minuten schon selbst fürchterlich auf die Nerven gehen und mich an den Kopf greifen läßt, daß ich ihr hemmungslos mehr oder weniger freien Lauf gelassen habe, noch dazu in Gegenwart Gambettis, der von seinem Lehrer doch etwas mehr Disziplin zu erwarten hat mit Recht, als mir gerade möglich.“ (Aus 162)
Gambettis Funktion reduziert sich im Wesentlichen auf das typische „Gambettilachen“ (Aus 610), das lediglich die Leere markiert, aus der Muraus Übertreibungen hervorgehen, um diese sprachlichen Abgründe zu überbrücken. Auf eben diese zielen auch seine vorgeblichen Rückfragen bei Wörtern, die schlichtweg unübersetzbar sind – z.B. „unglückselig“ (Aus 120), „Selche“ (Aus 183) oder „Vogerlsalat“ (Aus 575) –, was den „Übertreibungskünstler“ (Aus 612) Murau dennoch nicht von der Prätention abhält, solche Erklärungen und Übersetzungen umgehend leisten zu können. Die Handhabung der Fotografien und des Bildes von Urururgroßonkel Ferdinand veranschaulichten bereits seine phantastische Lektüretechnik, bei der das Gesehene und Gelesene seiner Phantasie unterworfen bzw. das Nicht-zu-Sehende phantastisch erzeugt-bezeugt wurde. Während dieses imaginäre Verfahren in Bezug auf das Testament an seine Grenze stößt, präsentieren sich die phantastischen Übersetzungen ins Italienische als Strategie der Fluchtbewegung aus der verhassten Muttersprache 271 , die die mögliche Übersetzung des Unsagbaren und des Unsäglichen272 für sich beansprucht. Im Wachtraum hat die Wunschmaschine für unausgesetzte Produktion zu sorgen, muss jede Unterbrechung vermieden, jedes drohende Vakuum abgewendet bzw. ausgefüllt werden. Interessanterweise aber bezeichnet Murau seine „philosophierende Rede“ als „Auslassung“, was einerseits auf eine dem geheimen Denken und dem Denkkerker entwichene ‚Äußerung’ schließen lässt, andererseits jegliche Äußerung gleich wieder dementiert: Das, was zu sagen gewesen wäre, wird ausgelassen, bleibt eine unartikulierte Leerstelle. Umgekehrt ist Muraus Phantasie mit dem Vermögen ausgerüstet, eben solche Auslassungen und Leerstellen zu besetzen und hörbar zu machen: „Wenn dem Vater Unannehmlichkeiten gemacht wurden, sagte sie [die Mutter, T.M.] immer, laßt ihn in Ruhe, er ist ja krank und wird ja bald sterben. Sie hatte sich diese Bemerkung so angewöhnt, daß sie sie auch in seiner Gegenwart nicht mehr zurückhielt, auch in Gegenwart von uns sagte sie immer wieder, laßt den Vater in Ruhe, er ist ja krank, das
271 Kittler 2003, 121. 272 Ebd., 95.
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und wird ja bald sterben hat sie allerdings unterdrückt, n i c h t a u s g e s p r o c h e n , n u r g e d a c h t [meine Hervorhebung, T.M.], alle Augenblicke war es im Haus zu hören, wenn er a b w e s e n d [meine Hervorhebung, T.M.] und überfordert war, laßt den Vater in Ruhe, er ist krank und wird ja bald sterben, war er anwesend, laßt den Vater in Ruhe, er ist krank.“ (Aus 503)
Wie zuvor in der Hochzeitsszene kommt die Phantasie-Rede nur im Moment der Abwesenheit des Vaters bzw. der väterlichen Stimme zur Entfaltung, die im Falle Spadolinis die „Rede- und Schweigekunst“ (Aus 282) gleichermaßen umfasst und berechnend beherrscht. Murau seinerseits äußert ohne Skrupel Unerhörtes/Ungehörtes und Obszönes, indem er die Pausen und Leerstellen spekulativ besetzt und phantastisch ausgestaltet.273 Die hypothetische Schließung diskursiver Lücken zählt zu den wesentlichen Funktionen der Phantastik. Die prinzipielle Bedeutungsoffenheit des Schweigens situiert es an der Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wie Jacques Lacan in Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse ausführt: Es öffnet „unser Ohr dem Nicht-Gesagten […], das in den Löchern des Diskurses ruht […]“274, wobei es einen Bedeutungszuwachs generiert, indem es all das (Noch-)
273 Vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 133: „phantasmatische Erfüllung“. Vgl. Muraus zunächst vergebliche Belauschung der Küchen- und Hausmädchen an der Küchentür (Aus 371), deren Gespräche er kurz darauf aber „vom Vorhaus aus“ (Aus 372) aus viel größerer Distanz angeblich bestens vernehmen kann. 274 Zit. n. Verena Ronge, Ist es ein Mann? Ist es eine Frau? Die (De)Konstruktion von Geschlechterbildern im Werk Thomas Bernhards, Köln/Weimar/Wien 2009, 191. Eben jene „Löcher[]“ – „…“ – sind das wesentliche Textmerkmal in Amras als Zeichen der von der (mütterlichen) Epilepsie verursachten Absencen. Dem epileptischen Anfall geht (wie in der Auslöschung dem Unfall) ein „unerklärlicher Enthusiasmus“ voraus, „dem Zusammenbruch des Körpers einer der Sinne“. Virilio spricht hier von „Anästhesie“, Virilio 1986, 37. Überschneidungen von ‚Wachtraum’, ‚Absence’ und ‚Anästhesie’ sind offenkundig. Gerade in Hinsicht auf Muraus Präferenz von „fast völlig“ abgedunkelten Räumen ergeben sich mit Virilios Hinweis auf fotosensible Formen der Epilepsie, die von bestimmten Lichteinwirkungen ausgelöst werden, die Möglichkeit, den vielleicht verblüffendsten Satz der Auslöschung – „Da waren sie [die Schwestern, T.M.] plötzlich aufgewacht und hatten mich nicht verstanden“ (Aus 533) – zu entschlüsseln. Nicht die Schwestern wachen hier inmitten des Geschehens „plötzlich“ auf, sondern der Traumtheater-Regisseur selbst scheint hier aus seiner Trance hochzuschrecken, just bei einem Satz, dessen Intensität sich nur unter den
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Nicht-Gesagte mit zu denken gibt. Somit eröffnet es einen unbegrenzten semantischen Horizont, da es grundsätzlich alles oder nichts bedeuten kann.275 Völliges Schweigen bzw. die Absenz jeglicher Infragestellung, was sich wieder dem Bild der (nationalsozialistischen) ‚tabula rasa’ und einer Rede von der ‚Stunde Null‘, die sich aller historischer Lasten entledigt sieht, annähern würde, ist hingegen ebenso unstatthaft wie unmöglich.276 Das Schweigen der Eltern zu den Naziverbrechern und zum Verstecken der Gauleiter in der Kindervilla zu brechen, ist maßgebendes Programm des murauschen Schreibprojekts, denn das Schweigen „ist von allen diesen Verbrechen das größte“ (Aus 459). Demzufolge m u s s gesprochen und erinnert werden. Murau lässt keinen Zweifel daran, dass dies auch und gerade für seine ‚Auslöschung‘ ein ethischer Imperativ ist. In ebendieser äußersten Spannung zwischen Geheimhaltung und Veröffentlichung, zwischen Schweigen und Sprechen, zwischen Vergessen und Erinnern liegt die Crux der ‚Auslöschung‘, die im Kern des Erbdilemmas kondensiert: eine Dialektik, die in nuce in Muraus Hochgebirgstraum zur Darstellung gelangt. Die Freunde Muraus reagieren indessen alle mit Schweigen auf seinen Traumbericht (Aus 227), weil das, was auf dem Spiel steht, das schlichtweg Unaussprechliche selbst ist.
2.5. (M NEMO -)P HANTASTIK :
DIE ANDERE
M EMORIA
2.5.1. Übertreibungskunst Die Untersuchungen zum Thema ‚Holocaust’ haben erbracht, dass das Scheitern der Imaginationsleistung, welches durch eine Selbstinaugurierung und Selbstoben erarbeiteten Bedingungen des „Denkkerkers“ zu lesen gibt: „[…] ich sagte zu den Schwestern, daß mir Rom ein und alles sei, daß ich nurmehr noch in Rom existieren könne.“ (ebd.) Das Erwachen der Schwestern und ihre Verständnisverweigerung führen vor, wie die Wunschmaschine in eine Sackgasse gerät, weil Murau wohl zu Bewusstsein kommt, dass eine ausschließlich ‚römische Existenz’ und zisalpine Perspektive nicht tragfähig ist. Vgl. Aus 402, wie die Schwester ähnlich dem Schwager in der Küchen-Szene in Muraus Phantasma ein Eigenleben gewinnt, das sich nicht gänzlich imaginär steuern lässt. 275 Ronge 2009, 191. 276 Vgl. Ver 156: „Die Wörter, mit welchen wir sprechen, existieren eigentlich gar nicht mehr“, sagte der Saurau. „Das ganze Wortinstrumentarium, das wir gebrauchen, existiert gar nicht mehr. Aber es ist auch nicht möglich, vollständig zu verstummen.“
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autorisierung der Vernunft abgewendet wird, für das Gedächtnis kein Problem sui generis darstellt, das sich allein aufgrund von Erhabenem und Unendlichem ergibt. Wie Simonides die zerstreuten Gliedmaßen der entstellten Leichen wieder zusammenfügt, sieht sich die Erinnerung stets mit der Aufgabe konfrontiert, das zerstreute Aus-den-Fugen-Geratene wieder zu verfugen, nicht mehr Verfügbares (wieder) verfügbar zu machen. Die Mnemotechnik entwickelte aus diesem antiken Mythos das Verfahren der recollectio, durch die sich die systematisch angebrachten und verteilten imagines in einem intentionalen Akt wieder zu einem Abbild der ‚ursprünglichen Ordnung’ synthetisieren ließen. Es zeigt sich aber in/an der Auslöschung, die in/mit ihrem Titel tendenziell eher auf Vergessen als auf Erinnern – und das würde bedeuten: eher auf Dispersion als auf Akkumulation – ausgerichtet zu sein vorgibt, dass der begabte Mnemotechniker Murau auch mnemonisch den „Gegenweg“ einschlägt: Den Toten soll nicht etwa wie in der Simonides-Legende qua Erinnerung und Namensgebung ein fester Platz im sozialen Gedächtnis gewährt werden. Murau lässt im Gegenteil die Familiengruft (antiautobiografisch) öffnen/geöffnet (vgl. Aus 132). Die Kontinuität verbürgende genealogische Grundstruktur des Gedächtnisses wird von einer zölibatären Maschine unterbrochen und deterritorialisiert. Im ersten Teil dieser Arbeit erwies sich das Phantasma vom Urururgroßonkel Ferdinand als Philosophen und Geistesmenschen als nicht (durch-)haltbar, womit sich Murau kein historisch unbelasteter und damit legitimer Anknüpfungspunkt darbot, mit dem die Übernahme des Erbes zur verheißungsvollen Öffnung des Zukunftskomplexes avanciert wäre. Dennoch entwickelt sich bei den Überlegungen zum Bild des Urururgroßonkels und dessen anberaumter Überprüfung durch einen Restaurator aus Wien ein „phantastische[r] Gedanke[]“ (Aus 363): „Und ich dachte an einen bestimmten Mann, der mir bekannt ist und der sogenannter Hauptrestaurator an unseren größten Museen ist und der beispielsweise in letzter Zeit den kostbarsten Velázquez restauriert hat, den diese Museen besitzen und sie besitzen, wie ich weiß, die allerkostbarsten Velázquez, noch kostbarere als der Prado in Madrid sie besitzt. Bei dem Wort Velázquez und bei dem Wort Prado hatte ich auf einmal den Gedanken, ob sich nicht vielleicht ein solcher Velázquez in Wolfsegg befinde, ohne daß es uns bekannt ist, denn wir haben nicht wenige spanische Verwandte seit Jahrhunderten gehabt […].“ (Aus 362)
Die Deterritorialisierung vollführt einen vektoriellen Wechsel von ‚Genealogie‘ (Urururgroßonkel Ferdinand) zu ‚Kunst’ (Velázquez-Bild), die nur noch vage genealogisch fundiert ist und sich im Dunkel der vergangenen „Jahrhunderte[]“ verliert. Die Passage führt vor, wie Murau sich qua Phantasie in Besitz eines
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(noch) unverfügbaren Bildes zu bringen sucht, denn nicht zufällig handelt es sich bei dem „phantastischen Gedanken“ um ein inexistentes, absentes Bild, dessen phantasmagorische Aneignung erprobt wird, wodurch es zumindest in Form einer möglichen (Wieder-)Findung eine gewisse Präsenz erlangt.277 Es wird dem Vergessen bzw. der Absenz entwunden und nimmt einen aporetischen Zwischenstatus ein, in dem eine tatsächliche Existenz für einen Augenblick wahrscheinlich wird. Der phantastische Gedanke zeichnet sich durch seine Virulenz aus. Er gleicht einem Gespenst, dessen Wiederkehr und (Re-)Materialisierung, der Murau hier die Möglichkeit einräumt, nicht vorzubeugen ist. Dieses Phantasma verdankt seine Emergenz der unerklärlichen, magischen Wirkung der Wörter „Velázquez“ und „Prado“. Der präzise Vorgang ihres Wirkens entzieht sich der Beobachtung, es scheinen aber metaphorische, metonymische und assoziative Kräfte am Werk zu sein, die das vorhandene Bildarsenal des Gedächtnisses „fast völlig“ neu kombinieren und den phantastischen Gedanken wie eine Deckerinnerung Freudscher Provenienz hervorbringen. Der phantastische Gedanke unterscheidet sich von anderen Gedanken(-bildern) in seiner Dichte, in der Virulenz des Materials, der Promiskuität und dem Spieltrieb der Bilder, die ihm zugrunde liegen und damit traumhafte Bilder produzieren, die das Nebeneinander von scheinbar Unvereinbarem gestatten, was ihnen den Schein des Neuen und Einzigartigen verleiht (die von innen erleuchtete Orangerie, „Vormittagsphantast“). Dieser Produktionsprozess beruht auf dem Versuch/der Versuchung einer Entgrenzung des Gedächtnisses, die in letzter Konsequenz misslingen und in die Wiedereinsetzung seiner Gesetze münden muss. Eine rückgriffslose Setzung, eine Erfindung, die nicht auch eine (Wieder-)Findung wäre, bleibt jenseits des klassischen Phantasmas utopisch. Indessen führen phantastische Bilder allemal zur Erweiterung und Erschöpfung der Möglichkeiten des Gedächtnisses: Sie durchkreuzen seine lineare Organisation sowie seine zweckgerichtete Ökonomie und zielen in letzter Konsequenz auf seine Sprengung ab („Immer warte ich auf den großen Knall“, Aus 554). Die Phantastik subvertiert gewöhnliche, automatisierte Gedächtnisprozesse und träumt von einer ‚anderen’ Memoria, von einer nicht zweckorientierten Dynamik der irreduziblen Korrelation von Erinnern und Vergessen. Diese imaginäre Revolution arbeitet im Sinne einer Gerechtigkeitsvorstellung, die bislang noch keinen Eingang in die Diskussionen um einen ethischen Horizont der Auslöschung gefunden hat. Eine Vorstellung von der Funktion dieser ‚Gerechtigkeit’ erhält der Leser mit Muraus Übertreibungskunst, in der sich Phantasma, Sensation, Erhabenheit,
277 Vgl. Kristeva 2002, 170, die sich hier auf den Phantasiebegriff bei Sartre bezieht.
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Enthusiasmus und Genuss zu einer explosiven Mixtur komprimieren, die einerseits von existenziellem Rang ist – später spricht er von der Übertreibungskunst als einem Mittel zur Existenzüberbrückung, um „die Existenz auszuhalten“ (Aus 612) –, sich andererseits im Gelächter entlädt und auflöst, wie folgender Textausschnitt demonstriert: „So kann folgerichtig gesagt werden, daß die Menschheit an nichts mehr hängt, sich an nichts mehr anklammert und schließlich auch von nichts mehr abhängt, als von der Fotografie. Die Fotografie ist ihre Rettung, Gambetti, hatte ich gesagt, worauf Gambetti gelacht und mich einen Vormittagsphantasten genannt hat, einen Ausdruck also verwendet hatte, den ich noch niemals gehört hatte, was meinerseits ein Gelächter zur Folge hatte, in welches Gambetti selbstverständlich einstimmen mußte und das von uns e i n e g a n z e Z e i t l a n g m i t d e m g r ö ß t e n V e r g n ü g e n a u s g e k o s t e t w u r d e . Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. Und ich habe meine Übertreibungskunst i n e i n e u n g l a u b l i c h e H ö h e e n t w i c k e l t , […]. Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, n u r d i e Ü b e r t r e i b u n g m a c h t a n s c h a u l i c h , auch die Gefahr, daß wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr. Es gibt nichts Besseres, als in höherem Alter zum Narren ernannt zu sein. Das höchste Glück, das ich kenne, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist das des Altersnarren, der g ä n z l i c h u n a b h ä n g i g [ meine Hervorhebungen, T.M.] seinem Narrentum nachgehen kann. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens ab vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht […].“ (Aus 128f.)
Es ist kein Zufall, dass Murau hier mit Nachdruck seine phantastische Übertreibungskunst und sein Recht auf Narrenfreiheit gegen die Fotografie in Stellung bringt, die sich anmaßt, perfektes Abbild der Realität zu sein, und mit zunehmend technischer Perfektionierung unter Verleugnung ihrer synthetisierenden Prozesse und ihrer Medialität nicht nur die Realität zu überholen und zu ersetzen droht, sondern auch gemäß der kulturkritischen Positionen und existenziellen Ängste Muraus (vgl. Aus 645f.) darauf abhebt, die vitalen Spielräume der imaginären Möglichkeiten zu verengen sowie den psychischen Raum selbst technischen Manipulationen und Kontrollen preiszugeben, die ihn letztendlich zerstören könnten.278 Gegenüber einer solchen befürchteten Automatisierung des Be-
278 Sartre rief zur Bewahrung des Imaginären als Angelpunkt zwischen Welt und Bewusstsein auf, weil es dem Abschluss rein solipsistischen Denkens und der Verding-
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wusstseins als einer kybernetischen Denkmaschine bleibt die Phantastik und Übertreibungskunst ‚wahr’ und ‚gerecht’, weil sie das Unsag- und Unbegreifbare eher parodiert als imitiert und in der Parodie die (verzerrte/verzerrende) Maske des Abbildes verrät, das qua Distorsion vermittels einer ironischen Wendung die ‚Wahrheit’ ver-spricht: dass es nichts als Simulakrum ist, dem kein Reales zugrunde liegt. Mit der intendierten Provokation von Gelächter wird sogleich das Vergessen ins Spiel zurückgerufen und das Nichts demaskiert, aus dem das Simulakrum hervorging. Lachen produziert eine Auslöschung, die simultan erinnert und vergisst: sie erinnert an die absurde Bodenlosigkeit, die zur konstitutiven Auflage der Hervorbringung (des Gedankens, des Bildes, des Wortes) gerät, das Hervorgebrachte aber gleich wieder dem Vergessen preisgibt, um neuen Raum für ein witzigeres, präziseres und wahrhaftigeres Bild zu schaffen. Lachen ist der läuternde Effekt einer semantischen Explosion, die ihre nihilistische Matrix denunziert und die Einbildungskraft als Sisyphos-Spiel dekuvriert, dessen Erzeugnisse einem ironischen Moment aufruhen, in dem Höhepunkt und Fall in eins gesetzt sind, wodurch sie nolens volens – und in Muraus übersteigerter Übertreibungskunst unprätentiös – ‚wahr’ sind. Damit ist jeglichem Bemühen um ‚die’ Wahrheit „fast völlig“ Rechnung getragen. Die Narrenfreiheit der Übertreibungskunst installiert sich zudem als phantastische Strategie in einer kontroversen Position zur Bürgerlichkeit (des GoetheSubtextes): „Sie versucht, die trügerische epistemologische Sicherheit einer bürgerlichen Kultur, die die Ubiquität der empirisch wissenschaftlich beschreibbaren Weltoberfläche behauptet, herauszufordern und irrationalistisch ihre Begrenzungen aufzuzeigen.“279 Der „Vormittagsphantast“ treibt/träumt seine Übertreibungen über die Schwelle des Erwachens hinaus bis in das Tageslicht hinein, ja beinahe bis zur größtmöglichen Tageserhellung und fordert somit das bisher Ungesehene ein sowie das vermeintlich (Auf-)Geklärte heraus. 2.5.2. Gegen-Gedächtnis Mit der aus dem oben angestellten Piranesi-Vergleich deduzierten Assoziation von „Denkkerker“ und ‚Erhabenheit’ ergibt sich eine Affinität von Bernhards Auslöschung zur phantastischen Literatur. Obwohl viele seiner Texte mit Begriffen wie ‚phantastisch’, ‚das Phantastische’ oder ‚Phantasie’ gespickt sind, wer-
lichung einer opaken Welt, der keine Möglichkeit ihrer Auslöschung mehr offen stünde, widerstrebt. Kristeva 2002, 178. 279 Ruthner 2004, 272.
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den sie von den mit Bernhard befassten Germanisten nur selten in den Kontext der Phantastik gestellt. Die zahlreichen autobiografischen Ansätze280, die seine Texte als Schlüsselromane lesen, mögen ein Grund dafür sein, die offenkundige Verkennung bzw. Unterschätzung des bernhardschen Humors281 ein weiterer. Renate Lachmann zufolge orientiert sich die poetische Arbeit an der Memoria an der Rivalität von Mnemosyne und imaginatio, von Museninspiration und Phantasie. Damit wird die Poesie im konkurrierenden Zusammenspiel von Erinnern und Bildfindung zur mnemonischen Kunst par excellence, in der sich Gedächtnis, imaginatio und poetische Einbildungskraft treffen. Das Bildwissen der Memoria und das der Poesie spiegeln sich und kommentieren dabei einander.282 Muraus Gedächtnis- und Begräbnistheater zielt darauf ab, die Transzendenz der Memoria auszublenden, um den imaginären Raum des Denkkerkers gänzlich seinen Wünschen zu unterwerfen und nach eigenen mnemonischen Gesetzen durch (Er-)Findung bislang unbekannter, neuer Bilder kunstreich auszugestalten. Mit dem Übergang vom „Übertreibungsfanatismus“ zur „Übertreibungskunst“ (Aus 611) schreibt er eine Ästhetik in seine ‚andere’ Art von Gedächtnis ein, die an Foucaults Gegen-Gedächtnis erinnert, das dieser in Anschluss an Nietzsche als Gegenprogramm zur linearen Geschichtsschreibung entwickelte. Das ästhetische Gedächtnis widerstrebt als Gegen-Gedächtnis dem Gedächtnis gesellschaftlicher Kontinuität: „Der historische Sinn umfaßt drei Arten der Historie, die sich jeweils den platonischen Spielarten entgegensetzen: die wirklichkeitszersetzende Parodie widerstreitet der Historie als Erinnerung und Wiedererkennung; die identitätszersetzende Auflösung stellt sich gegen die Historie als Kontinuität oder Tradition; das wahrheitszersetzende Opfer stellt sich
280 Mit der von ihm als „autobiografische Schriften“ bezeichneten Pentalogie (Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte, Ein Kind), seinen provokativen Äußerungen in Interviews sowie nicht zuletzt mit der rücksichtslosen literarischen Verwertung von realen Personen (etwa den durch Holzfällen ausgelösten Skandal) hat Bernhard diesen freilich selbst Vorschub geleistet. 281 Siehe Helmuth Raths Etikettierung von Bernhard als einem „melancholische[n] Schriftsteller”, die paradigmatisch ist für eine weit verbreitete Zuordnung des Österreichers zu einer Reihe als besonders ‚düster’ geltender Schriftsteller wie auch Kafka oder Kleist. Rath 1991, 37. 282 Weinberg 2006, 197. Vgl. Gerhart von Graevenitz, Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes „West-östlichen Divan“, Stuttgart 1994, 231.
264 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES gegen die Historie als Erkenntnis. In jedem Fall geht es darum, die Historie für immer vom – zugleich metaphysischen und anthropologischen – Modell des Gedächtnisses zu befreien. Es geht darum, aus der Historie ein Gegen-Gedächtnis zu machen und in ihr eine ganz andere Form der Zeit zu entfalten.“283
Die „wirklichkeitszersetzende Parodie“ habe ich eben anhand von Muraus Übertreibungskunst nachgezeichnet; die identitätszersetzende Auflösung begegnet einem im antiautobiografischen Zug der ‚Auslöschung‘ bzw. in Muraus „Selbstzersetzung und Selbstauslöschung“ (Aus 296) wieder; das „wahrheitszersetzende Opfer“ lässt sich für zwei Momente der Auslöschung in Anschlag bringen: zum einen die (implizit) auf der Carraramarmorplatte geopferte Mutter, zum anderen Muraus (explizite) Selbstopferung, sofern sein Tod sich tatsächlich ereignete bzw. kausale Folge der Fertigstellung seiner Schrift wäre. Bevor sich die Untersuchung der Forderung nach einer „ganz andere[n] Form der Zeit“ zuwendet, bildet zunächst der Konnex von (Gegen-)Gedächtnis, Phantastik und Ästhetik ihren Brennpunkt. Freud beschrieb das Unbewusste als „Hort der Erinnerung“, da im Moment der Wahrnehmung unweigerlich ausgegrenzte und verdrängte Gehalte in das Bewusstsein des Rezipienten einsickern. Sie stellen keine „Tatsache[n] oder Erinnerung[en] an einen realen Sachverhalt [vor]“, sondern werden zum Bestandteil der Phantasieproduktion. Die Phantasie gerät folglich zur „Erinnerung an das, was der Repräsentation an Heterogenem zugrunde liegt“284, wenngleich das Unbewusste nur im „rhetorischen Modus“ und damit immer uneigentlich verfügbar ist. Demnach ließe sich mit Freuds Psychoanalyse und seiner Auffassung vom Unbewussten „Gedächtnis und Rhetorik als Subversion der Wahrnehmung“285 verstehen und die Gedächtnisrhetorik mit dem Verfahren der Dekonstruktion analogisieren: „Die Rhetorik unterläuft oder verändert die Semantik. Sie hebt sie im Moment ihrer Setzung wieder auf und eröffnet dem Text qua rhetorischer Materialität, also qua Schriftlich-
283 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Von der Subversion des Wissens, München 1974, 104. 284 Siegmund 1996, 104. 285 Ebd., 95. Die Phantastik richtet sich auch gegen den Monotheismus, der sich im alleinigen Besitz der Wahrheit wähnt. Vgl. Emile M. Cioran, Die verfehlte Schöpfung, Frankfurt am Main 1979, 27. Folgerichtig etabliert sich Muraus phantastischer Blick vis-à-vis des Pantheon. (Aus 274)
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keit, einen Gedächtnisraum als Erinnerung an seine zukünftige Unverrechenbarkeit unter erklärende und setzende Diskurse.“286
Unter dekonstruktivistischen Vorzeichen wird aus intern gültigen Diskursen eine Vielzahl entstehender und vergehender Texte. Im Gegensatz zum ökonomischen Tausch der zirkulierenden Memoria entstehen in der/durch die Auslöschung decodierte Ströme, die irgendwohin fließen287, Produktionen der Junggesellenmaschine, die den Text zur literarischen Maschine machen: ‚andere’ Texte spuken durch den Textraum, neue/projektierte Texte gehen aus ihr hervor, „von welchen wir nicht sagen können, woher sie gekommen sind und wozu sie gedacht werden und in welchem Zusammenhang sie stehen [].“ (Aus 157f.) Kristeva bestimmt Literatur bzw. den ‚Text’ als eine „Praxis“, die „nicht bloß Niederschlag, sprachlicher Film oder Archiv für Strukturen ist [...]“, sondern „die Gesamtheit der unbewußten, subjektiven, gesellschaftlichen Beziehungen […] in der Form von Angriff, Aneignung, Zerstörung und Aufbau, in der Eigenschaft positiver Gewalt also [enthält].“288 In dieser „Praxis“ der modernen Literatur stößt der „destrukturierende[] und asignifikante[] Strom der Schizophrenie“ auf die Sprache, „um sich dort erst als Strom zu verwirklichen, wo er das Signifikante von der Seite her angreift, um sodann in ihm die heterogene Erzeugung der ‚begehrenden Maschine’ zu betreiben.“289 Der Auslöschungswunsch Muraus ist daraufhin angelegt, das ganz Andere sichtbar zu machen und damit ein Gegen-Gedächtnis zu realisieren, das nicht zu einem verortbaren Bild oder verstehbaren Wort gerinnt, sondern in ein Ereignis umschlägt. Das besondere Verdienst der Auslöschung ist es, diese „Textpraxis“ aufzuführen, dieses Andere, Heterogene, Unbewusste, Abgründige simulierend und gerechter Weise immer wieder ins Spiel zurückzurufen, um sich an ihm abzuarbeiten. Bei Lachmann firmiert die Phantastik als die kulturelle Institution, in der die Begegnung mit dem vergessenen Anderen erzählt wird: „Aber das Vergessene, das die Phantastik der Kultur vorhält, indem sie das Entschwundene und Verschobene in ihren neu ge- und erfundenen Bildern wiederauferstehen läßt – Phantastik als mnemotechnische Institution der Kultur –, ist andererseits jener Motor der
286 Ebd. 287 Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt am Main 1991, 213. 288 Kristeva 1978, 30. 289 Ebd., 31.
266 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES Willkürschöpfungen, der das geltende, der Erinnerung erlaubte Imaginarium durch Gegenbilder zu überdecken oder zu löschen erlaubt – Phantastik als ars oblivionalis. Denn es bedarf eines durch das Gegengedächtnis ermöglichten Raums, indem die imagines des Ungesehenen, Unvorgedachten niedergelegt werden.“290
In der ‚Fassung’ der ‚Auslöschung‘ als phantastisches Projekt werden die Aporien der Erinnerungspostulate (Opfer des Nationalsozialismus) unter einem Vergessen suggerierenden Titel in einem hegelschen Sinne aufgehoben. Im/Als Gegen-Gedächtnis vermag die ‚Auslöschung’ einen positiven Begriff des Vergessens vorzustellen – Kristeva nennt dies „positive[] Gewalt“ –, dessen ethische Konturen sich mittlerweile deutlicher abzeichnen mögen. In einem gänzlich anti-hegelschen Sinne betreibt die Phantastik „Aufklärungsinversion“291, indem sie eine Kultur konfrontativ an ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes, Obszönes gemahnt. Phantastische Literatur „[holt] etwas in die Kultur zurück[] und [macht] etwas manifest […], was den Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Sie nimmt sich dessen an, was eine gegebene Kultur von dem abgrenzt, was sie als Gegenkultur oder Unkultur betrachtet.“292 Vor dieser Folie wäre die Funktion des murauschen Kanons noch einmal zu präzisieren, denn mit ihren phantastischen Zügen und Elementen zeugen die kanonischen Texte der Auslöschung von jener Gegen- bzw. Unkultur, derentwegen literarische Werke des Phantastischen in der Regel bei Kanonbildungen ausgeschlossen werden293, da sie sich per se als nicht klassikfähig erweisen, sondern im Gegenteil aus Sicht von Staats-, Kultur- oder Erziehungsfunktionären als bedrohlich eingestuft werden müssen. Insofern sind sie als antiklassische und antibürgerliche Texte dem Anti-Goethe-Subtext der Auslöschung zuzuschlagen.294
290 Lachmann 2002, 11. 291 Ebd., 8. Vgl. Betz 1997, 62. 292 Ebd., 9. 293 Ebd., 42. 294 Zur Kanonbildung im Aufschreibesystem um 1800 siehe Kittler 2003, 181f. Vgl. Goethe zur Einbildungskraft [in: ‚Tag- und Jahreshefte (1805)‘, Autobiographische Schriften II, (Hamburger Ausgabe 10)], zit. n. Iser 1991, 295, Anm. 6: „Da fiel es denn recht auf, wie nötig es sei, in der Erziehung die Einbildungskraft nicht zu beseitigen, sondern zu regeln, ihr durch zeitig vorgeführte edle Bilder Lust am Schönen, Bedürfnis des Vortrefflichen zu geben. Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern: die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur aus einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst im gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Kul-
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Ein weiterer Aspekt davon ist die Verschleierung von Autorschaft und Quasi-Suspendierung von auktorialer Verantwortung, zumal es in der Phantastik nicht nur um „die Entblößung der Kehrseite aufklärerischer Standpunkte“ 295 geht, sondern „auch um das schiere Faszinosum. […] Es ist, als seien die Erfinder ‚perverser’ Wirklichkeiten deren Botschafter und Verwalter oder die Aufzeichner und Berichterstatter des Unerklärlichen (Wunderbaren, Monströsen), das gewaltsam in das Gewohnte hereinbricht.“296 Murau gesteht mehrfach freimütig seine eigene ‚Perversität’ sowie seine Neugier297 und Begeisterung für „das Sensationelle“ (Aus 25) ein, weshalb er, der „schon als Kind“ ein „[…] gieriger Zeitungsleser, das primitive Sensationelle betreffend, gewesen“ ist (Aus 403), die Gelegenheit nutzt, ungestört in der Küche die Bildberichte der „Provinzdreckblätter“ (Aus 404) über den Unfall zu lesen – ständig „in der Angst, in [s]einem zweifellos abstoßenden Verbrechen ertappt zu werden“ (Aus 405). Während dieser schamlosen Lektüre, die eine mise en abyme vorstellt, kreisen Muraus Gedanken unaufhörlich um die Frage der Authentizität der Zeitungsberichte: „[…], die Zeitungen schreiben zwar mit der allergrößten Verlogenheit, gleichzeitig aber auch die Wahrheit, sie schreiben mit der größtmöglichen Gemeinheit, gleichzeitig aber auch nichts als die Tatsachen, daß sie zwar alles in diesen Berichten bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, wie sie es selbst über die Leiche meiner Mutter schreiben, daß sie aber gleichzeitig nichts als authentisch sind. So verlogen alles ist, das in den Zeitungen steht, sagte ich mir auch bei dieser Lektüre, so wahr ist es in Wirklichkeit, die Zeitungen schreiben, wenn sie verlogen schreiben, ja doch nichts als die Wahrheit und je verlogener sie schreiben, desto wahrer ist es.“ (Aus 405)
Die „Phantastik als Positivierung der Inauthentizität jeglicher Fiktion“298 konvergiert mit der Bejahung der Immanenz in Artauds ‚Theater der Grausamkeit’.
tur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt.“ 295 Lachmann 2002, 40. 296 Ebd., 41. 297 „Curiositas gilt in der älteren Tradition als ein Laster, das auf der Suche nach den Geheimnissen der Schöpfung von Gott ablenkt. […] Im phantastischen Text zielt die curiositas aufs Perverse und Monströse, richtet sich auf Extremzustände, sucht Anblicke des Scheußlichen.“ Ebd., 156; vgl. Aus 88: „Mich hatte immer das Andere interessiert […].“ 298 Ebd., 332.
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Die Lektüre der Zeitungsberichte sowie diese selbst enthüllen ihre Zugehörigkeit zum Traumtext und ziehen die Ereignishaftigkeit des beschriebenen Unfalls in Zweifel: „Die absolute Niedrigkeit und ebenso niedrige Hemmungslosigkeit dieser Provinzdreckblätter habe ich jetzt zu spüren bekommen sozusagen nicht nur am eigenen Leib, sondern i m e i g e n e n K o p f [meine Hervorhebung, T.M.] […].“ (Aus 404) Die Frage von Sein oder Nicht-Sein, die Frage des Realitätsgehalts der ungeheuren Schrift und die Frage der Phantastik (in) der Auslöschung stehen und (zer-) fallen mit der (nicht zu[-]treffenden) Entscheidung, ob der Zufall/Unfall – auf der Ebene fiktionaler Wirklichkeit, denn die ‚Auslöschung’ soll ja nicht nur Antiautobiografie sein, sondern auch ein „Bericht“ (!) (Aus 198) – tatsächlich stattgefunden hat, ob er nicht selbst einer Phantasmagorie des Protagonisten entsprungen ist und somit (sich) eine imaginierte Wunscherfüllung vorstellt oder ob diese von der Wirklichkeit gar eingeholt wurde. „Das Unglück hat sich am Mittwoch abend ereignet, wie gesagt wird“, heißt es in der Auslöschung. Doch nicht nur der Zusatz „wie gesagt wird“ untergräbt die Glaubwürdigkeit der Aussage umgehend, sie wird selbst zum völlig unverfugten ‚Ereignis’ im Text, das aus dem textuellen Rahmen fällt: „Einer der Gärtner kam zu uns herüber und fragte mich, ob der geschlossene Sarg tatsächlich weiter aufgebockt werden solle. Ja, sagte meine Schwester, obwohl der Gärtner ausdrücklich mich gefragt hatte. Er ging, um den Sarg mit der Mutter mit einem Kollegen aufzubocken. Das Beste an Wolfsegg sind die Gärtner, sagte ich zu Caecilia. Sie tat so, als hätte sie nicht gehört. Das Unglück hat sich am Mittwoch abend ereignet, wie gesagt wird. In der Küche lag ein Stoß Zeitungen offen da, die sich die Küchenmädchen besorgt hatten, ich war in die Küche eingetreten, um da wenigstens einen sogenannten Wirtschaftskaffee für mich zu ergattern und mein Blick war sofort auf den Zeitungsstoß gefallen auf dem kleinen Küchentisch am Fenster.“ (Aus 402)
Doch auch damit noch nicht genug des Unfugs. Denn selbst die Wolfsegger Küche als Raum, der dieser Szene einen realitätssichernden Rahmen bieten soll (zumal es Schloss Wolfsegg ja wirklich gibt), in dem Murau die (Realität vermittelnden) Berichte über den Unfall seiner Eltern und seines Bruders in den Zeitungen liest und über ‚Authentizität’ nachsinnt, droht sich schon kurz darauf aufzulösen.
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2.5.3. Heterochronie/Heterotopie „Räume erzwingen Identität.“299 Die Funktion der Räume für die Mnemotechnik wird in der Mnemophantastik von einer „Ästhetik der unheimlichen Verräumlichung“300 abgelöst. Die Analyse des Traums ermittelte die fundamentale Signifikanz des „jetzt“, dem sich das „nicht jetzt“ des Schwagers zu widersetzen sucht. Der Raum jedoch – die Wolfsegger Küche während der Zeitungslektüre –, in dem sich eine Entscheidung zwischen Jetzt oder Nicht-Jetzt, Sein oder NichtSein, Traum oder Nicht-Traum, Gedächtnis oder Gegen-Gedächtnis abzeichnen könnte, ist selbst einer Desintegration anheim gegeben, die jeder möglichen Entscheidung den sicher(nd)en Grund abspricht. Denn während Murau sich anschickt, sein Gedächtnis- und Begräbnistheater bis zur völligen Macht- und Erbübernahme zu Ende zu spielen – und das heißt endlos zu perpetuieren, weil mit dem Ende der Einsturz des Theaters drohen würde –, fällt Licht auf die „fast völlig“ abgedunkelte Bühne, wird der Theater(t)raum selbst transparent und erinnert somit an den imaginären Status der Szene: „Ich beobachtete den Schwager und sah gleichzeitig fortwährend römische Bilder und schließlich glaubte ich tatsächlich, in meinem römischen Arbeitszimmer zu sein, während ich doch in der Wolfsegger Küche dem Schwager gegenübersaß.“ (Aus 481)
Dieser luzide Moment des Bewusstseins und Augenblick der Selbstreflexivität verursacht einen erneuten Aussetzer der Wunschmaschine, was Murau sofort mit einer weiteren Selbstermächtigung und -bestätigung überspielt: „Jetzt liefern sie die Dreschmaschine, sagte ich, und wer weiß, ob wir eine neue Dreschmaschine überhaupt brauchen. Diesen Satz habe ich ganz im Ton des Besitzers von Wolfsegg gesagt, sozusagen als Landwirt, i c h h ö r t e m i r i m G e d ä c h t n i s d i e sen von mir gesprochenen Satz noch mehrere Male hintereinand e r a n , mich verblüffte daran der offensichtlich landwirtschaftliche Unterton. Als ob diesen Satz mein Bruder ausgesprochen hätte, dachte ich. M i t d i e s e m h a t t e i c h m i c h a u g e n b l i c k l i c h z u m L a n d w i r t g e m a c h t [ meine Hervorhebungen, T.M.] […].“ ( Aus 481)
Diese offenkundige Usurpation der Rolle des Erben droht indes gleich wieder in die Gegenrichtung zu kippen und ihr bedrohliches Potential zu entfalten, denn
299 Kamper 1995, 162. 300 Ruthner 2004, 274.
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sie impliziert, dass Murau Rom aufgeben und nach Österreich zurückkehren müsste, „um [für die Schwestern] der Wolfsegger Landwirt zu sein, der natürliche, selbstverständliche Erbe also.“ (Aus 482) In Antizipation der „Schadenfreude“ seiner Schwestern bezeichnet er den Gedanken seiner Rückkehr als „das Allerabsurdeste“: „[…] ich, Landwirt in Wolfsegg und also das ganze Wolfsegg auf dem Kopf und a m H a l s [meine Hervorhebung, T.M.] […].“ (Aus 482) Hingegen beharrt er darauf, dass er „diese Atmosphäre“ nicht „für einen ererbten Alptraum“ (Aus 482) aufgebe.301 Dass der „ererbte[] Alptraum“ als Chiffre für all die unhintergehbaren Verflechtungen der Wolfsegger Traditionen und ihre historischen Hypotheken fungiert bzw. für das metaphysische Erbdilemma schlechthin, dürfte unstrittig sein. Inwiefern aber vermag sich „diese Atmosphäre“ auf deren Rückseite einzurichten?302 Darin scheint sich eher die Bezugnahme auf etwas vorbegrifflich Diffuses, aber dennoch intensiv Wahrnehmbares auszudrücken, eine Art ästhetische Stimmung ähnlich dem ‚Schweben’ des romantischen Reflexionsmediums.303 Hier wird nicht einfach auf Rom als Antipode von Wolfsegg verwiesen, sondern auf das Oszillieren zwischen den Polen, jenes ‚Zwischen’, das sich immer wieder gegen den Entscheidungsdruck der binären Logik sperrt. Rom und Wolfsegg firmieren nicht als oppositionelle Elemente einer Dichotomie, sie formieren vielmehr eine Raumpluralität: eine Heterotopie. Schon die Analysen zum Portal erbrachten, dass es sich um ein und dasselbe „ungeheure Portal“ in Rom/Wolfsegg handelt. Auch die leere Piazza Minerva (Aus 19) in Rom findet im leeren Dorfplatz (Aus 313) ihre Wolfsegger Entsprechung. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Auffälligkeiten, die diese Heterotopie kennzeichnen und jede angenommene Raumordnung bzw. -trennung unterlaufen. Zuvorderst wären die Risse im Plafond des römischen Arbeitszimmers (Aus 308) sowie in den Stuckaturen der Wolfsegger Kindervilla (Aus 462f.) zu nennen, die vom Durchbruch anderer Kräfte, vom Durchbruch des/zum Außen so-
301 Meines Erachtens handelt es sich i m m e r n o c h um die „römische Atmosphäre“ (Aus 201), von der im „Telegramm“-Kapitel schon die Rede war. Vgl. Aus 206. 302 Zum Begriff der ‚Atmosphäre’ siehe Knodt 1994. In seinen Erläuterungen zum ‘Atmosphären’-Begriff tauchen zahlreiche Themen meiner Untersuchung wieder auf: Theatralik, Fest, Zerfall von Raum und Zeit, Flanieren, Innen-Außen-Problematik, Medien(-kritik), Erhabenheit – um nur einige anzuführen. Sowohl die mütterlichkleinbürgerliche Umgestaltung der Wolfsegger Naturlandschaft als auch die Kritik an der modernen Stadtarchitektur (Aus 114f.) wären in Relation zum ‚Atmosphären’Begriff zu stellen. 303 Vgl. ebd., 49.
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wie vom drohenden Einsturz des (Denk-)Gebäudes und seiner grundlegenden Fragilität zeugen. Für das perzeptive Subjekt kündigen sich hier potentiell der Wahnsinn sowie der Verlust der Subjektivität an. Im römischen Arbeitszimmer werden das Telegramm gelesen, die Fotografien betrachtet, die Briefe und Einladungen auf dem Schreibtisch überdacht, die Reise nach Wolfsegg geplant sowie letztlich – angeblich – „diese Auslöschung“ (Aus 651) geschrieben. Dieser merk-würdige (Über-)Gang nach Wolfsegg gerät zu einer magischen Passage, die die ungeheure Schrift telegrammatisch und testamentarisch inszeniert. In diesem ‚Zwischen’-Stadium überlagern sich Räume, Realitäten, Denk- und Schreibsituationen. Murau imaginiert sich ebenso als Schreibenden (in Rom) wie als Handelnden (in Wolfsegg), wobei Wachen und Träumen, Schreiben und Handeln sich weder hierarchisieren noch separieren lassen.304 Im Taumel des Hin und Her führt dies zu einer graduellen Nivellierung und Assimilierung von Differenzen, bis sie im erhabensten Schwindel zur Deckung kommen und in der Intensität des Jetzt explosionsartig Ereignis werden – und sich auslöschen. Als weiteres Indiz der Rom-Wolfsegg-Heterotopie könnte das Problem der Gebäudehöhe angeführt werden, das dem wiederholten Scheitern des Protagonisten K. in Amras beim Zählen der Stockwerke im phantastischen Treppenhaus des okkultistischen Nervenarztes (Am 47f.) ähnelt.305 In der Auslöschung gibt Murau bei seiner Beschreibung von Wolfsegg gegenüber seinem Schüler Gambetti an, das Hauptgebäude habe „zwei Stockwerke“ und sei „genau vierunddreißig Meter hoch“ (Aus 168). Kurz darauf jedoch spricht er von „allen drei Stockwerken“ (Aus 183), was Gambetti mit seinem notorischen Lachen über Muraus Übertreibungskunst quittiert, denn „drei Stockwerke“ hat der römische Renaissancepalast, in dem sich Muraus Denkkerker befindet (Aus 274). Demnach ist das Hin- und Hergehen (Aus 301, 307) darin ebenso wie in Wolfsegg (Aus 587) auf ein und dieselbe Bewegung zurückzuführen. Mit dem „Denkkerker“ als Gefängnis und dem (Begräbnis-)Theater sind zwei wesentliche Arten von Heterotopien aufgerufen, deren Platzierungen „sich auf alle anderen Plazierungen […] beziehen, aber so, daß sie die von diesen be-
304 Vgl. dazu den Traum des Fürsten Saurau in Verstörung, in dem er seinen Sohn in London einen Text schreiben sieht. Dabei bewegt sich das Blatt Papier „langsam von tief unten nach hoch oben“, so dass er den Text lesen kann, in dem sein Sohn vom Selbstmord seines Vaters und seiner Absicht, dessen Erbe zu liquidieren, berichtet (Ver 126f.). 305 Vgl. Nietzsche 1991, 9.
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zeichneten oder reflektierten Verhältnisse suspendieren, neutralisieren oder umkehren“306: Kopräsenz statt Dichotomie. Desgleichen wären die abgeschlossenen Wolfsegger Bibliotheken, deren Bücher Murau ebenfalls in Kerkerhaft sieht (Aus 150), und Muraus „Bibliothek […] des bösen Geistes“ (Aus 149) als Heterotopien aufzufassen. Foucault zufolge sind Heterotopien „[…] sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“307
Die Korrelation von Gegen-Gedächtnis und Heterotopie ist evident. Wie das Gegen-Gedächtnis sich den aus einer Kultur verbannten Bildern öffnet, um eine Totalität der imagines zu realisieren, so reintegriert und akkumuliert die Heterotopie entweder Orte wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Altenheime als moderne „Abweichungsheterotopien“ oder sie platziert mehrere Orte nebeneinander wie „im Theater oder im Kino in Form zeitlicher Serialität“308, um eine Totalität der loci anzustreben. In Frage steht jeweils die Funktion (des) ‚Gedächtnis‘(ses) selbst. In seiner extremsten Ausdehnung und potentiellen Unendlichkeit setzt (sich) ein solch erschöpfendes Gedächtnis (der Gefahr einer Entgrenzung) aus – was sich allenfalls im Horizont jeweils neuer Setzungen und Begrenzungen anzudeuten vermag. Foucaults Forderung, qua Gegen-Gedächtnis eine „ganz andere Form der Zeit“ zu entfalten, gewinnt mit dem Begriff der Heterotopie an Kontur, da sich mit ihm „scharfe Diskontinuitätserfahrungen“ und „Brüche mit traditionellen Zeitverständnissen“309 assoziieren lassen, die er „Heterochronie“310 nennt. Rainer Warning differenziert hierzu „Zeitheterotopien“ als „Orte potentiell unendlicher Zeitakkumulation“ (z.B. Museen und Bibliotheken) und „chronische Heteroto-
306 Michel Foucault, „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hrsg.), Aisthesis, Leipzig 1990, 37. 307 Ebd., 39. 308 Ebd. 309 Ebd. 310 Ebd., 43.
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pien“311, deren Flüchtigkeit „in der Weise des Festes […] an das Prekärste der Zeit gebunden sind.“312 Als Beispiel aus der Auslöschung bietet sich jene phantastische sechste Bibliothek an, die sich in einem früheren abgebrannten, und das heißt ehemals nicht mütterlich-nationalsozialistisch konnotierten Jägerhaus befunden haben soll: „Das Jägerhaus ist erst Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut worden anstelle eines auf demselben Platz abgebrannten. In ihm hatte einmal einer meiner Urgroßväter eine eigene Bibliothek eingerichtet [sic] denken Sie, hatte ich zu Gambetti gesagt, das wäre sozusagen die sechste von Wolfsegg gewesen, die zuerst nur als Jagdbibliothek gedacht gewesen war, später aber zu einer allgemeinen erweitert worden ist. In ihr fand ich früher die unglaublichsten Schätze, hatte ich zu Gambetti gesagt, sie war für denjenigen, der sich tatsächlich ungestört den Büchern widmen, sich ihnen auf die ideale Weise ausliefern wollte.“ (Aus 187f.)
Dass Murau in dieser ganz anderen Bibliothek eines ganz anderen Jägerhauses „die unglaublichsten Schätze“ gefunden haben will, ist selbstredend unglaublich und stellt sich mit Foucaults Definition einer Heterotopologie in Bezug zum Imaginären, wonach eine Deskription dieser anderen Orte „gewissermaßen eine zugleich mythische und reale Bestreitung des Raumes“313 darstellt. Eben dieser phantastischen Bibliothek wäre die „ungeheure Schrift“ wohl hinzuzufügen bzw. zu entnehmen.314 Zeitbrüche wie die geborgenen Schätze der sechsten Bibliothek sind keine Seltenheit in der Auslöschung.315 Die Zeitlichkeit als Ordnung stiftendes und Authentizität verbriefendes Moment im identitätslogischen Gedächtnis wird explizit aus den Angeln gehoben, wie zuvor schon an den Überlegungen zur Heimreise und schließlich nicht stattfindenen Ortswechsel von Rom nach Wolfsegg expli-
311 Rainer Warning, Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009, 13. 312 Foucault 1990, 44. 313 Ebd., 40. 314 Die verbrannten Bücher sind jene Texte, die nie geschrieben werden konnten, weil sie sich der Logik, dem Gedächtnis, der Kultur, aber auch der Materialität und Medialität der Schrift zu verweigern suchten und sich vor jeglichem Realisierungsversuch in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit aufgezehrt haben. 315 Vgl. Helms-Derfert 1997, 148f. Seine Ansicht, wonach sich „der Roman durch eine konsistente Handlung und eine überraschend widerspruchsfreie Chronologie des biographischen Ereignisablaufs aus[zeichnet]“, ist mit meiner Analyse unvereinbar.
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ziert wurde. Des Weiteren ist zum Beispiel auch undenkbar, dass der Urururgroßonkel Ferdinand „zur gleichen Zeit wie der Philosoph“ Descartes gelebt haben soll (Aus 360); ebenso erhält der Leser zu einem Zeitpunkt Hinweise auf Spadolinis Kleidung („Ausgerechnet Spadolini war n i c h t i n S c h w a r z erschienen, er trug einen g r ü n g r a u e n sogenannten Ü b e r g a n g s m a n t e l “ [meine Hervorhebungen, T.M.], Aus 491), als dieser noch gar nicht in Wolfsegg angekommen ist (Aus 508); ähnlich verhält es sich mit der Titiseetante, die nach Auskunft der Schwestern schon zu Bett gegangen (Aus 530) ist, dann aber später noch in der Kapelle „beinahe völlig schwarz vermummt“ (Aus 537) angetroffen wird. In der Nacht vor dem Begräbnis, in der Murau unter seiner notorischen Schlaflosigkeit leidet, nennt er in diesem Zusammenhang einige Uhrzeiten, die sich gegenseitig ausschließen: „Im Zimmer sei es ‚schon eins oder halb zwei Uhr früh’ (Aus 587) gewesen, als er von dort in die Küche geht, ist es ‚möglicherweise schon gegen zwölf’ (Aus 589). Zurück im Zimmer, ist er sich anscheinend völlig sicher: ‚Es war halb zwei’ (Aus 619). Just zwischen diesen Zeitangaben behauptet der Protagonist, über ein absolutes Gedächtnis zu verfügen, vermöge dessen er sich selbst so flüchtig-amorphe Gebilde wie frühere Wolkenformationen, die er vor Jahrzehnten gesehen habe, in Erinnerung rufen könne (Aus 618).“316 Der gesamte Text inszeniert sich als ein phantastisches ästhetisches GegenGedächtnis, das als (sich) erschöpfende Prozessualisierung die Akkumulation der Orte und die Totalität der Zeitekstasen anstrebt bzw. eine Eliminierung der linearen Zeit zugunsten eines absoluten Präsens. Da aus dem Nichts kein Neues zu erschaffen ist, kann das Innovative nur aus dem Nebeneinander oder gar Zugleich von Heterogenem hervorgehen. Dafür steht nicht nur der Taumel des „jetzt“ im Traum, sondern die allgemein inkongruenten Zeitformen der Verben. Diese Tempusproblematik wird jeweils akut und rekapituliert, wenn Murau seine im Präsens getätigten Äußerungen ins Präteritum wendet, um ihnen Vergangenheitscharakter zuzuweisen und sie somit gleichsam unter Kontrolle zu bringen: „Hier [auf dem Foto, T.M.] habe ich keine idealisierten Eltern, sagte ich mir, hier habe ich meine Eltern, wie sie sind, wie sie waren, verbesserte ich mich.“ (Aus 27) Derartige Präsens-Korrekturen 317 sind zahlreich in der Auslöschung (z.B. Aus 64, 82, 119, 502 etc.) und auch der Gedanke von der Hochzeit des Bruders bzw.
316 Eva Marquard, Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards, Tübingen 1990, 64. 317 Ein Wechsel von Präsens- und Präteritumssätzen kennzeichnet übrigens auch das Kapitel in den Wahlverwandtschaften, in dem das Kind Otto ertrinkt: „Eigentümlich-
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dessen Tod beim Durchschreiten des Portals ist dieser Reihe hinzuzurechnen. Man hat diese mutmaßlichen Richtigstellungen in der Regel so interpretiert, dass die „Tatsache“ 318 des Ablebens seiner Eltern und seines Bruders noch nicht gänzlich in Muraus Bewusstsein eingedrungen sei. Adäquater wäre indes zu formulieren, dass er ihren Tod wortwörtlich noch nicht gänzlich realisiert hat, denn gemäß meiner konträren Lesart dokumentieren diese Verbesserungen, dass Eltern und Bruder – sofern der fiktionalen Textebene überhaupt irgendein fungibler Realitätsstatus supponiert werden kann – noch leben und deshalb wiederholt in der Korrektur der Zeitangabe ausgelöscht werden (müssen). Wie mit dem Satz „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen“ demonstriert werden konnte, lässt sich der Text analog zu Muraus Geh- und Denkbewegung hin und her lesen, so dass sich die Performanz des Wunschtraums bisweilen als möglich, bisweilen als unmöglich präsentiert. Es ist allerdings eine Dominanz des Präsens319 oder genauer der Plötzlichkeit – vor allem auch mit Blick auf die Schlussgeste der Abschenkung – zu verbuchen, die sich unablässig und explosionsartig Bahn bricht, wo immer sich handlungs- oder zeitlogische Zwänge abzuzeichnen drohen, und in der undifferenzierbaren Trias von Realem, Fiktivem und Imaginärem letzteres zu privilegieren sucht. Insofern wäre das „jetzt“ im Traum als die höchste Form des zeitlichen Exzesses und zugleich der räumlichen Entgrenzung zu bestimmen, weil es mit der Jetzt-Zeit des Lektürevollzugs koinzidiert und dem Leser entgegenschlägt – wodurch es für einen Augenblick (des Erwachens, des Bewusstwerdens) Realitätsnähe annimmt. Damit sollte das murausche Auslöschungsgedächtnis als ästhetisches präzisiert sein, das (sich) gegen sämtliche Regeln der Mnemotechnik (aus-)agiert, indem es diese verspielt zerspielt. Das ästhetische Gedächtnis entfaltet auf den Spuren von Foucaults Gegen-Gedächtnis andere Raum- und Zeitstrukturen und verrückt die Gedächtnisorte in unbegreifliche Heterotopien, die distinkte Abgrenzungen
erweise wird der Tod des Kindes präsentisch, die verbale Reaktion der Beteiligten aber im Präteritum geschildert. Eine seltsame grammatische Pointe: präsent(isch) ist das Absente, Tote.” Hörisch 1992, 133, Anm. 58. 318 Vgl. Aus 54: „Die Eltern tot, endgültig tot, mein Bruder Johannes tot. Zur Auseinandersetzung mit dieser Tatsache und deren Auswirkungen war ich noch nicht imstande. Ich schob sie hinaus.“ – Wird die Tatsache selbst und deren Auswirkungen oder ‚nur‘ die Auseinandersetzung aufgeschoben? 319 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1991, 526: „Der Traum gebraucht also das Präsens […] mit dem selben Rechte wie der Tagtraum. Das Präsens ist die Zeitform, in welcher der Wunsch als erfüllt dargestellt wird.“
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sabotieren. Als Schock und Traum(a) fällt der plötzliche (Auto-)Unfall in das Ordnungsgefüge der metaphysischen Memoria ein und versucht, sich in den Zwischenräumen einzunisten und fortzusetzen. Infolge der Erschütterungen und Störungen des mnemonischen Systems erweist sich eine vollständige und korrekte Rekonstruktion der histoire als nicht durchführbar, womit die Richtigkeit von Bernhards Selbsternennung zum „Geschichtenzerstörer“320 – zumindest für die Auslöschung – belegt sein sollte.
320 Damit wäre Huntemann zu widersprechen, der in der Auslöschung den „Glaube[n] an die Repräsentationskraft der Fabel (wenn auch nichtlinear erzählt) […] erhalten“ sieht. Huntemann 1991, 61. Zum Begriff des „Geschichtenzerstörers“ vgl. Philipp Schönthaler, Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Seebald und Imre Kertész, Bielefeld 2011, 86f.
3. Die Gabe des Gegen-Gedächtnisses […] jeder, der irgendwann einmal einen „neuen Himmel“ gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der eigenen Hölle. (FRIEDRICH NIETZSCHE, GENEALOGIE DER MORAL, 109.)
3.1. O PFER Im Streben nach einer Fassung der ‚Auslöschung’ versucht das „geheim gehaltene Denken“, sowohl das Ganze zu denken, um es auszulöschen, als auch das (dann) Ausgelöschte, das Nichts zu erfassen, um daraus eine ‚neue‘/‚andere‘ Sprache zu generieren – um die („fast völlig“) zerstörte Welt „wieder herzustellen mit einem Wort, als eine vollkommen neue“ (Aus 209). Diese Aporie findet ihre ästhetische Ausprägung in den Verbergungs- und Entziehungsstrategien des Textes, im Textzerfall sowie im unterstellten Schweigen des okkulten Denkens. Angesichts der Legitimationsprogrammatik der Antiautobiografie, sich vom „Herkunftskomplex“ loszuschreiben, sowie der Selbstverpflichtung, anhand von Schermaiers Schicksal über die verschwiegenen Opfer des Nationalsozialismus Zeugnis abzulegen, um ihnen eine Stimme zu verleihen und damit endlich die gebührende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen, ist gerade die Destruktion der Geschichte(n) sowie die vorgebliche Aphasie als skandalöse Pflichtverletzung einzustufen. Die Frage nach seiner Phänomenalität bzw. nach der Vollendung des Auslöschungsprojektes bildet den Kern dieser Problematik. Wie anhand der Textanalysen wiederholt zu beobachten war, ist es unmöglich, sämtliche Inkommensurabilitäten anamnetisch in ein Ganzes zu zwingen, alle Widersprüche aufzulösen und damit „diese Auslöschung“ einfach als Durchführung des Auslöschungsunternehmens, als Einlösung des Versprechens oder gar als Er(b)lösung zu lesen. Als Fragment simuliert der Text eine sich selbst überschreitende Bewegung, was unnachgiebig neue und andere Lektüren erfordert.
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Alles, was an Les- und Verstehbarkeit (telegrammatisch und testamentarisch) übermittelt wird – und „alles Dazugehörende“ (Aus 650) –, überdauert im ästhetischen Vollzug jede Hermeneutik und verweigert einen identifizierenden Textabschluss, d.h. der Prozess der Ausführung überlagert das Resultat und ist „seinem Sinn nach ein Werden“.1 Auf diese ästhetische Negativität der Auslöschung weist die Gambetti-Figur explizit hin, wenn sie Murau als „grotesken Negativisten“ (Aus 126f.) bezeichnet.2 In Innen des Außen – Außen des Innen, einer vergleichenden Analyse des Denkens von Foucault, Lyotard und Derrida, zeigt Petra Gehring, dass das Schweigen ein ‚Außen‘ aller möglichen Sätze ist, dem kein phänomenaler Status zugewiesen werden kann. Hierbei taucht die Zielformel der ‚Auslöschung‘, „alles [M]ögliche“3, wieder auf. Gehring skizziert, wie der lyotardsche Zentralbegriff ‚Widerstand‘ auch im ‚Schweigen‘ angelegt ist, denn „[…] widerstreitend ‚verlangt’ etwas nach ‚Setzung‘ und leidet unter dem Unrecht, nicht sofort ‚gesetzt‘ werden zu können… Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise ‚Gefühl‘. Latent bedeutet demnach bereits (jedes) Schweigen den Widerstand gegenüber (je)dem Satz, der sich qua Existenz gegenüber dem Schweigen ungerecht verhält, und das Gefühl zeigt genau dieses ‚Unrecht‘ an, der Widerstreit ist so gesehen der ‚instabile Zustand in der Sprache, in dem etwas, das in Sprache gebracht werden können muß, noch darauf wartet‘. Wenn dies Wartende auch per se nicht so ‚gesetzt‘ werden kann, daß der Widerstreit verschwindet, dann folgert Lyotard dennoch: Es gilt doch (je)den Widerstand zu ‚bezeugen‘.“4
Mit ‚Schweigen‘ reagierten ja Muraus Freunde auf seine Traumerzählung, den sonst alles hinterfragenden Gambetti mit eingeschlossen. Die Er- und Bezeugung des ‚Widerstands‘ gelingt der Auslöschung aber gerade vermöge ihrer (erträumten) Setzung. Verfasst als Traumtext präsentiert sich ihre Vollendung als äußerster Rand der Traumtextur, der die Schwelle des Erwachens überlappt. Bernhard entspricht damit der derridaschen Forderung nach einer Sprache jenseits meta-
1
Menke 1991, 50.
2
Vgl. ebd., 128.
3
Dies umfasst auch das Inkompossible, wodurch der Unfall, der Mord oder die Abschenkung, mithin der gesamte Text sowohl möglich als auch unmöglich wären. Vgl. Kw 63 u. 116, ebenso 190: „dieses einmal alles“. Vgl. Menke 1991, 213.
4
Gehring 1994, 228f.
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physischer Dichotomien bis an ihre äußerste Grenze, wie sie in Die Schrift und die Differenz ausbuchstabiert wurde: „Nicht aber versuchen, sich ihrer [der Sprache des Systems metaphysischer Oppositionen, T.M.] zu entledigen, weil das unmöglich ohne das Vergessen unserer Geschichte geht, sondern man muß davon träumen. Nicht versuchen, sich ihrer zu entledigen, was sinnlos wäre und uns um das Licht des Sinns bringen würde, sondern ihr soweit wie möglich widerstehen.“5
Vor diesem Hintergrund war (und bleibt) es notwendig, die Möglichkeit der Existenz der Auslöschung zu bezweifeln, so absurd dies angesichts eines manifesten Textes auch anmuten mag. Denn nur im Horizont dieser Infragestellung wird man der (potentiell unendlichen) Aufschubstruktur des Textes sowie all seiner Widerstands-, Entzugs- und Kaschierungsmanöver gewahr und gerecht, die seiner Publikation einen explosionsartigen Ereignischarakter verleihen und seinen phantastischen Status dekuvrieren. So erklärt sich der Mangel an Verwunderung all derjenigen Interpreten, die unter Verkennung der Ungeheuerlichkeit und Fragilität seines Objektstatus das vorliegende Buch als die von Murau (resp. Bernhard) geschriebene ‚Auslöschung‘ proklamieren. Symptomatisch für diese Lesart ist die geringe Beachtung der mit dem Tod des Protagonisten einhergehenden lakonischen Schlussgeste der Abschenkung, die man offensichtlich für wenig spektakulär bzw. hinreichend transparent und intelligibel hält, zumal Abschenkung und Vernichtung des Erbes wohlerprobte Verfahren anderer Bernhard-Texte (z.B. Verstörung, Watten, Ungenach, Korrektur) darstellen. Während jedoch die meisten Interpreten das Gelingen der Auslöschung teils unkritisch behaupten, teils als bemerkenswerte Leistung gegenüber anderen scheiternden Bernhard-Protagonisten hervorheben, erregt besonders das Urteil Irene Heidelberger-Leonhards Aufsehen, die die Schlusspointe als „mechanistische[s] Happy End“ liest, das sie dem Autor als moralische Verfehlung zur Last legt, da die geglückte Selbstauslöschung, bei der „sich das Projekt der Antiautobiografie eben doch ‚nur‘ in Muraus Biographie [verkehre], […] nichts als ein selbstherrliches Scheitern dokumentier[e].“6 Sie will in der Auslöschung ein „Denkmal“ sehen, das Bernhard (!) Schermaier stellvertretend für die Opfer der Naziverbrechen gesetzt habe.7 Grundlage dafür ist ihre These, der Text diene der „Trauerarbeit“,
5
Derrida 1972, 49.
6
Heidelberger-Leonhard 1995, 191.
7
Ebd., 181.
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wobei sich die Abschenkung als ein „Konstrukt der Wiedergutmachung“ geriere, das „alle Merkmale von Sühne [trage].“8 Dieser Wertung der Selbstopferung und Erbabschenkung als eines „sich versöhnlich wollende[n] Schluss[ses]“9 ist noch einmal Foucaults Rede vom Fortdauern des Opfers bei seinen Explikationen zum Gegen-Gedächtnis entgegenzuhalten, um den anökonomischen Zusammenhang von ‚Opfer‘ und ‚Gabe‘ im Kontext einer Ethik der Ästhetik zu beleuchten, welcher sich gerade als Kehrseite eines von Heidelberger-Leonhard postulierten „Geschäftsakt[es]“, der „sich auf materiellem Weg ein gutes Gewissen zu ‚erkaufen‘“10 trachtet, herausstellen wird. Dabei ist unter erneutem Rückgriff auf Lyotards Erhabenheit zu demonstrieren, wie in/mit der Auslöschung die Schrift quasi aus den dunklen Kulissen heraus auf die erleuchtete Bühne springt und den Text zum phantastischen Ereignis, zur unmöglichen Möglichkeit macht – das pharmakon der Schrift, welches das Verdikt Heidelberger-Leonhards, ein „vergiftetes Geschenk“11 zu sein, in einer ironischen Wendung geradewegs bekräftigen wird. Der Protagonist der Auslöschung hingegen insistiert darauf, k e i n ‚schlechtes Gewissen‘ zu haben, wie Heidelberger-Leonhard es ihm als Beweggrund für die Abschenkung des Erbes supponieren möchte. Ein in diesem Zusammenhang wenig beachteter, in dieser Arbeit bereits zitierter Kommentar Muraus während des Begräbnisses antizipiert derartige moralische Anfechtungen – und entkommt ihnen, indem er sie einfach bestätigt. Dieser Kommentar bezieht sich auf den Umstand, dass im Trauerzug des Begräbnisses ausgerechnet sein „Geistesbruder“, der Rabbiner Eisenberg, hinter den ehemaligen Gauleitern und den „Kameradschaftsbundleute[n]“ geht, was Murau selbst als „grotesk“ und als „Infamie“ charakterisiert: „So ein i n d i e L ä n g e g e z o g e n e r T r a u e r z u g [meine Hervorhebung, T.M.] ist nicht nur eine Zumutung, sondern eine ungeheuerliche Geschmacklosigkeit, dachte ich, genau wissend, daß niemand so wie ich dachte, sich zu denken getraute, niemand auf die
8
Ebd., 185. Vgl. Sorg 1991, 81. Auch Weinrich bemängelt, dass „das Papier, das für den Aufschreiber vielleicht Instrument der Auslöschung sein mag, zu leichtgewichtig [bleibt], wenn es überdies, aber ohne Siegel, einen Akt der Wiedergutmachung ausdrücken soll.“ Weinrich 1997, 256.
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Heidelberger-Leonhard 1995, 191.
10 Ebd., 192. 11 Ebd., 186.
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Idee kommen würde, so zu denken, im Gegenteil, wenn sie mich sozusagen denken gesehen und gehört hätten, hätten alle gedacht, ich sei der Geschmackloseste von allen. Vielleicht bin ich dieser Geschmackloseste, dachte ich. Aber ich empfand keinerlei Scham, bis vor die offene Gruft nicht.“ (Aus 641)
Der „in die Länge gezogene[] Trauerzug“ ist nichts anderes als der retardierte und retardierende Gedankengang der Auslöschung selbst, der vor der offenen Gruft zu keiner Konklusion kommt und dessen Vulgarität in Muraus imaginärer Einbeziehung von Eisenberg in den Trauerzug kulminiert. ‚Tatsächlich’ – auf welcher Fiktionsebene auch immer – scheint er abwesend zu sein, weshalb das Gespräch mit ihm auch nicht unmittelbar nach dem Begräbnis, sondern erst „zwei Tage“ (Aus 650) später stattfindet. Ferner wird auch dieser Gedanke nur im Verborgenen geäußert, da Murau die Positionierung Eisenbergs im Trauerzug von Caecilia zugeflüstert wurde – „wie [er] dachte“ (Aus 640). Obwohl dem Protagonisten „[d]ie Perversität der Zeremonie“ (Aus 641) vollkommen bewusst ist, beharrt er darauf, „keinerlei Scham“ zu empfinden.12 Die Überwindung des ‚Komplexes’ ist ohnehin Programm und der gezielte Ausschluss des Wortes „Pietät“ (Aus 430) längst erfolgt. Schon zuvor hatte sich Murau ja über den kleinbürgerlichen Schwager, der „den Moralisten“ (Aus 469) spielt, lustig gemacht und, während dieser mit einem „jetzt nicht“ die Zeitungslektüre zum Hergang des Unfalls ablehnt, auf das Jetzt der Inszenierung und Realisierung des Begräbnisdramas gepocht – „mit al-
12 Zur Bedeutung der ‚Scham‘ siehe Krewani 1992, 110f: „Die Scham (honte) ist eine Existenz, die sich zu entschuldigen sucht. ‚Die Scham‘, so heißt es schon vorher [bei Lévinas, T.M.], ‚hängt zusammen mit dem Sein unseres Seins, mit der Unfähigkeit unseres Seins, mit sich selbst zu brechen... Die Scham gründet in der Solidarität unseres Seins, die uns nötigt, die Verantwortung für uns zu übernehmen.‘ Folglich ist auch die Befreiung nicht materieller, sondern ethischer Natur. Als Verzeihung, als Vergebung, als Loskauf entläßt sie das Subjekt aus der Schuld.“ – Zweifellos stellt sich darüber ein Bezug zum Schluss-Satz des Proceß her: „[…] es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ (Pro 312) Da K. am Ende stirbt „[w]ie ein Hund!“ (ebd.), bietet sich das Auslöschungsprojekt nicht zuletzt in Anbetracht der konspirativen Treffen seines mutmaßlichen Vaters Spadolini mit seiner Mutter bei einer „Hundevernichtungsanstalt“ in Trastevere (Aus 282) mit dem Insistieren auf Schamlosigkeit als ein Überbietungsversuch des Proceß zu lesen an. Murau strebt nach der Realisierung der Machtübernahme resp. der Fluchtbewegung, an der sein Vorgänger Josef K. noch gescheitert war. Dies entspräche der Etablierung eines neuen zölibatären Aufschreibesystems, in dem das Begehren sowie jegliche ödipale Struktur außer Kraft gesetzt wären. Vgl. Tröndle 1989, 20f.
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len nur möglichen Scheußlichkeiten. Aber es sind noch alle Scheußlichkeiten vorübergegangen.“ (Aus 531) Diese Hinweise hätten den Agenten der Bewusstseinsindustrie zur Warnung gereichen sollen, nicht in die offensichtlich markierte Empörungsfalle zu tappen.13 Wer zudem die ständigen Verbergungen der Äußerungen und das halblaute Geflüster der „Auslassungen“ sowie das Überspielen des monologischen „geheimgehaltene[n] Denken[s]“ überliest, verkennt zum einen den konstruierten Vorbehalt angesichts der vorsätzlichen Übertretung moralischer Grenzen und zum anderen die Radikalität des Gesprächsmoments zwischen Murau und Eisenberg, das „diese Auslöschung“ trotzdem und „gegen jede Regel“ (Aus 322) hervorbringt. Zur Erinnerung: Murau liegen verschiedene Einladungen vor, die ihn aus seinem „Denkkerker“ herauszulocken suchen – und Eisenberg lädt ihn ins Theater (Aus 20) ein!14 Der Ausbruch aus dem Denkgebäude und die sich daran anschließende Abschenkung sind auf die „Eisenbergrichtung“ zu beziehen. Die Antwort auf Eisenbergs Einladung erfährt somit eine Elevation zur Verantwortung, die außerdem der Heterochronie einer Plötzlichkeitsstruktur folgt: „Eisenbergs Einladung nehme ich selbstverständlich an, ich werde ihm sofort antworten, sofort bedeutet, nach meiner Rückkehr aus Wolfsegg.“ (Aus 20) Eisenbergs Annahme des Geschenks und Muraus Dank (Aus 651) konstituieren den einzigen dialogischen Moment (in) der Auslöschung, dessen explosive Wucht nicht nur durch die (von einer gespenstischen Stimme15 behaupteten) Re-
13 Aus Heidelberger-Leonhards moralischer Perspektivierung wäre auch die „Lange Nase“, die Maria im Traum Eisenberg zeigt (Aus 223), als antisemitische Geste zu deuten gewesen. Dass Maria als Erscheinung der lebendig gewordenen Poesie diese mit kindlicher Häme gegenüber einem Rabbiner, einem Schriftgelehrten, ausführt, legt den Schluss nahe, dass Bernhard hier die Freiheit des ästhetischen Spiels einfordert, das sich ungestraft über ethische Codes hinwegsetzen darf, da es auch von sachkundigen Urteilen nicht definitiv einzuholen ist. 14 Ein Ausweg, der den Brüdern in Amras noch verschlossen blieb. 15 Eine gelungene Auslöschung würde die Vorstellung einer Apokalypse evozieren, die wie in ihrem klassischen johanneischen Vorbild die Absenz der Wahrheit enthüllen würde: „Man weiß dort gar nicht, wer spricht. Wenn aber der Sender unbekannt ist, dann auch die Botschaft. Die Apokalypse ist eine leere Sendung, eine Sendung ohne Botschaft.“ Welsch 1987, 123. Diese subjektlose, telegrammatische und testamentarische Stimme des finalen Satzes wird zum Signum der Unauslöschbarkeit. In ihr wiederholt sich die Anredeszene selbst, eröffnet sich (nach/mit der Auslöschung) der Artikulationsraum (er-)neu(t): Dies ist der Widerhall des ‚ursprünglichen Textes’, das
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alisierung der ‚Auslöschung‘ intensiviert wird, die Muraus Tod zugleich zeitigt und verkündigt, sondern auch durch die Absagen an Gambetti16 und Maria („Wir klammern uns an einen Menschen wie Gambetti, den ich möglicherweise schon zerstört habe, oder an einen Menschen wie Maria und sind auch an solchen Charakteren verloren, dachte ich an der offenen Gruft“, Aus 645), von denen die anderen Einladungen stammen. Mit der Aufgabe des ‚Anklammerns‘ als Chiffre einer intendierten Inbesitznahme zerfällt auch das angedeutete Modell einer neuen (heiligen) Familie, wird einer drohenden ödipalen Struktur entsagt.17 Konsequent stellt sich diesbezüglich auch Muraus Schweigen gegenüber seinen Schwestern dar, die ihn mit Fragen über die Zukunft Wolfseggs bedrängen (Aus 650), und seine Beteuerung, er „wisse nicht, was mit Wolfsegg geschehen wird [und] habe nicht die geringste Vorstellung in dieser Frage“ (ebd.), was ironischer Weise der Wahrheit entsprechen dürfte, da alles aufs Spiel gesetzt bzw. geopfert wird. „Das Opfer unterstellt die Tötung des Einzigen in seiner Einzigartigkeit, seiner Unvertretbarkeit und seiner höchsten Kostbarkeit“, schreibt Derrida bei seiner Lektüre der Ketzerischen Essais zur Philosophie der Geschichte des tschechischen Geschichtsphilosophen Jan Patočka.18 Genau so ist Muraus Hassliebe bezüglich seines Ursprungsortes zu bewerten, die die ‚Auslöschung‘ und Antiautobiografie zu einer Herzensaufgabe19 macht, deren Spannungen unvermeidlich zu
Echo seiner Explosion. Die Unwiederbringlichkeit des ‚Originaltextes’ geht einher mit der Offenheit der Wiederholung, Fort- und Überschreibung. 16 Auch K. lässt im Proceß den Italiener schließlich außer Acht, nachdem er im Domkapitel vom Gefängniskaplan als „das Nebensächliche“ (Pro 288) tituliert wurde. 17 Der zweite Name des Protagonisten Franz-Josef Murau ist ein weiteres Indiz dieses ödipalen Vater-Mutter-Kind-Dreiecks, das sich in Gambettis Einladung zu Hochgebirgsstudientagen „mit den Eltern“ (Aus 213) wiederspiegelt. Zu Kafkas Reflex im Proceß auf die Homologie von ödipalem Dreieck und christlicher Trinitätspsychologie sowie ihren antijüdischen Implikationen, die eine „latente Selbstauflösung der abendländischen Sittlichkeit“ bewirken, siehe Rudolf Kreis, „Die christliche Bildwelt und der Antisemitismus aus der Gegensicht Kafkas“, in: Gerhart von Graevenitz, Stefan Rieger, Felix Thürlemann (Hrsg.), Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, 104f. u. 110f. 18 Jacques Derrida, „Den Tod geben“, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt am Main 1994, 385. 19 Vgl. Blanchot 1991, 38: „Die Kunst hat kein Recht, auf das sie sich berufen kann. Sie spricht vom Herzen, von der irreduziblen Existenz, sie bezeichnet die Souveränität des Subjekts.“
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Herzproblemen und zur Zerreißprobe führen müssen. Das Schweigen Muraus ist durchaus mit dem Schweigen Abrahams in der biblischen Folie der Opferszene vergleichbar, die Derrida im Rekurs auf Kierkegaard einer dekonstruktiven Lektüre unterzieht.20 Die Verweigerung der Antwort ist gewiss zunächst als Verrat des Ethischen21 anzusehen. Doch ohne diese Suspension gäbe es keine Überschreitung, die schließlich die Dimension des Ethischen eröffnet.22 Paradoxerweise ist das Schweigen gleichzeitig Merkmal der Verantwortung, da es das notwendige Geheimnis schützt, um die Vorladung vor das Gesetz der Menschen zu verweigern und sich gegen die „Egodizee der Autobiographie“ zu verwahren.23 Derrida merkt an: „Die absolute Pflicht fordert also, dass man sich auf unverantwortliche Weise (perfide oder eidbrüchig) verhält, dabei doch genau das anerkennt, bekräftigt und wiederbehauptet, was man opfert, nämlich die Ordnung der menschlichen Ethik und Verantwortung.“24 Trotz der Unmöglichkeit, die zerfallenden Textfragmente einem intakten Subjekt zuzuschreiben, ist die Namensnennung Muraus am Ende der Auslöschung Signum seiner Verantwortlichkeit, die sich Eisenbergs Erwiderung verdankt und seine anonyme römische Existenz beendet.25 Die Erfahrung der Verantwortung, die auf seiner Entscheidung basiert, das Erbe – bedingungslos – abzuschenken, schlägt dabei unweigerlich in ein Schuldigsein um.26 Die absolute Pflicht, die sich Murau in der Deskription seines Herkunftskomplexes, der Antiautobiografie und der Erinnerung an die schweigenden Opfer des Nationalsozialismus als fatale Interdependenz darbietet, impliziert laut Derrida „eine Art Gabe oder ein Opfer, die jenseits von Schuldigkeit und Pflicht, der Pflicht als Schuldigkeit auf den Glauben gerichtet ist.“27 In dieses Opfer und diese Gabe ist eine Liebe-Hass-Dialektik, ein Verrat bzw. Eidbruch irreduzibel ein-
20 Hier ließe sich mit Kierkegaard noch einmal eine Verknüpfung des Paradoxons zum ‚Wort‘ herstellen, denn Abraham kann das alles erklärende ‚Wort‘ nicht artikulieren; er kann nicht sagen, dass er sich in einer Prüfungssituation befindet, in der das Ethische selbst das Versuchende ist. Vgl. Kierkegaard 1986, 131. 21 Derrida 1994, 386. 22 Vgl. Haselstein 1991, 143: „Es gibt das Gesetz nur als gebrochenes, übertretenes.“ 23 Derrida 1994, 388f. Die Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Existenz ist in Kafkas Proceß vorgebildet. 24 Ebd., 393. 25 Vgl. ebd., 385. 26 Ebd., 379. 27 Ebd., 390.
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geschrieben, denn ich muss das opfern, was ich liebe.28 Um es aber opfern zu können, muss man es hassen. Dies ist das Paradoxon, das Søren Kierkegaard bei seiner Exegese von Isaaks Opferung herausdestilliert und auf dessen Spuren Derrida seine Patočka-Lektüre betreibt. In der Formulierung „jenseits von Schuldigkeit und Pflicht“ klingt an, dass diese Opfergabe jegliche Ökonomie unterläuft. Der Moment der Opferung ereignet sich abermals inmitten einer Augenblicksstruktur, in der die Gesetze des Kalküls, des Tausches wie auch der Zeit selbst außer Kraft gesetzt sind: „Das Paradoxon ist unfaßbar in der Zeit und gemäß der Vermittlung, das heißt in der Sprache und gemäß der Vernunft. Wie die Gabe und wie das ‚den Tod geben‘, die, ohne je eine Gegenwart/ein Geschenk (un présent) zu ergeben, nicht auf die Gegenwärtigkeit und die Vergegenwärtigung/Darstellung (présentation) reduziert werden können, erfordert es eine Zeitlichkeit des Augenblicks. Es gehört, wenn man das so sagen kann, einer unzeitlichen Zeitlichkeit, einer unfaßbaren Dauer an: was sich nicht stabilisieren, etablieren, aufnehmen, greifen, aber auch nicht begreifen läßt, was der Verstand, der allgemeine Menschenverstand und die Vernunft nicht begreifen, fassen, verstehen, vermitteln, folglich genausowenig verneinen und verleugnen, in die Arbeit des Negativen hineinziehen lassen kann: im Akt des Den Tod geben suspendiert das Opfer hier sowohl die Arbeit des Negativen als auch die Arbeit schlechthin, vielleicht sogar die Trauerarbeit.“29
Die Gabe, so Ulla Haselstein, ist ein Eröffnungsakt, der jederzeit ins Falsche abgleiten kann und seine Bedeutung erst von der Erwiderung erhält.30 Tatsächlich könnte sich das Geschenk als vergiftetes erweisen. Doch diese Gefahr ist für die Gabe konstitutiv. Wie Derrida in Falschgeld nachgewiesen hat, wäre eine Gabe ohne dieses selbst durch vertragliche Vereinbarungen nicht einzudämmende Risiko unvorstellbar. Nichtsdestotrotz nimmt Eisenberg ihre ungeheuerliche Asymmetrie auf sich, die keine Rückgabe und keine Replik ermöglicht, zumal Murau tot und damit absolut entzogen ist.31 Wohlgemerkt nimmt er sie nicht in
28 Ebd., 391. Diese Liebe-Hass-Dialektik ist aber nichts anderes als der Lust-UnlustUmschlag, wie er in Kapitel 2.3.5. verhandelt wurde. Vgl. auch die Affektverkehrung durch die Traumzensur, Freud 1991, 465f. 29 Derrida 1994, 392. 30 Ulla Haselstein, „Poetik der Gabe: Mauss, Bordieu, Derrida und der New Historicism“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1997, 284. 31 Eduard in den Wahlverwandtschaften verkennt und ökonomisiert den Charakter des Opfers, da er glaubt, aus seinem zum Opfer erhobenen Rückzug aus Charlottes Haus
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Besitz, sondern wird seinerseits zum Erbvermittler! Es ist nachdrücklich zu betonen, dass die Präsenz des Phänomens nicht mit der Gabe zusammenfallen kann. 32 Die ‚reine Gabe‘ der ‚Auslöschung‘ gerinnt demnach nicht zum Geschenk/zur Gegenwart: Sie ist nichts als eine (gestellte) (Auf-)Gabe, eine (Er-) Öffnung.33 Gänzlich anökonomisch lässt sie sich weder aneignen noch rückerstatten. Analog zum Traumgeschehen erfüllt sich Muraus Traum allein durch Eisenbergs Entgegenkommen und seine spontane „bedingungslose“ Entgegennahme dieser grotesken Über-Gabe, dieses dubiosen Geschenks. Was hier jede Reziprozität, jeden Tauschakt, jede Ökonomie subvertiert, ist Effekt des GegenGedächtnisses, setzt die ‚Auslöschung‘ ins Werk, ermöglicht die Performanz des Textes und bejaht die Junggesellenmaschine der Geistesbruderschaft. Damit scheint das Erbdilemma schlagartig überwunden, denn alles, was bislang lediglich approximativ („fast völlig“) erfüllbar war, weil es an aporetische Konditionen geknüpft blieb, wird in der totalen Gabe/Verausgabung als „völlig bedingungslos[]“ (Aus 650) ausgegeben, was wiederum nur denkbar ist, wenn Murau (re-)signiert, sich und sein Projekt hingibt/aufgibt. Unwillkürlich impliziert dies die Gefahr des absoluten Opfers, des Totalverlustes, da es für die göttliche Rückerstattung, durch die Abraham seinen Sohn Isaak zurückerhält, indem Gott auf den Vollzug des Opfers verzichtet, keinerlei Anspruch oder Garantie gibt. Überdies stellt sich das Opfer (in) der Auslöschung im Unterschied zum biblischen Vorbild bei Bernhard so dar, dass es gerade nicht um den Sohn und um genealogische Kontinuität, sondern um eine Selbstopferung bzw. um ein ästhetisches Opfer geht: Hier handelt es sich um das andere, antiautobiografische Subjekt, das zu erschaffen (gewesen) wäre, den (Gegen-)Text/die (Gegen-)Texte, die zu schreiben (gewesen) wären. Die „Auslöschung im Kopf“ ist eine Selbst-Behauptung, die im Exzess des Denkens, des Herausschleuderns von Gedanken in Selbst-Verschwendung umschlägt – eine Selbsterhaltung und -verausgabung, die allein im Akt des Ausagierens zu persistieren vermag und zu ihrer Errettung, ihrer möglichen Wiederaneignung
Forderungen ableiten zu können: „Indem ich mich aufopfere, kann ich fordern.“ (Wv 377) 32 Haselstein 1997, 286. 33 Im Sinne von Adornos Theorie ästhetischer Negativität wäre die Gabe als ästhetisches Objekt zu bestimmen, das als solches nichts als seinen unumgrenzbaren und damit undeutbaren ästhetischen prozessualen Verfall darbietet, d.h. die Überschüssigkeit des ästhetischen Textes: „alles [M]ögliche“.
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und Erinnerung der Dimension des Anderen bedarf, weil die Grenze zur Freiheit erst in dem Moment überschritten ist, da jegliche Spekulation auf Errettung suspendiert wird. In seinem Buch Unmögliche Gegenwart schildert Dietmar Kamper, wie auf paradoxale Weise nur die Selbstverschwendung das Selbst rettet.34 Wie Derrida die Möglichkeit einer Dezision an der Figur des Anderen festmacht, wodurch man, so untragbar das für die klassische Logik auch sein mag, in der Entscheidung gewissermaßen passiv ist35, so sieht auch Kamper einzig von der Seite des Anderen die „unwahrscheinliche Hoffnung“ heraufziehen, „daß in der Verkettung der Dinge, die opponieren gegen den Zwang der Selbstbehauptung, geradezu eine Umkehrung vorgeht, derzufolge die Selbstverschwendung das Selbst rettet und das angenommene Unmögliche erneut das Wirkliche aus sich gebiert.“36 Der Beziehung zum Anderen eignet ein antiautobiografisches Moment, insofern man im Angesicht des Anderen die einem stets vorausliegende Bedingung seiner selbst erblickt. Dieser strukturell irreduziblen Verschuldung folgend, muss man sich dem Anderen bedingungslos, das heißt um den Preis des Selbstverlustes, unterstellen, um sich selbst gewinnen zu können. In der Möglichkeit dieser Unmöglichkeit liegt die Idee einer Ethik beschlossen.37 Die plötzliche, (un-)mögliche Vollendung der Antiautobiografie erfolgt durch den Tod des Protagonisten, durch seinen Selbst-Mord, der, dies sei nochmals betont, sich nicht aus einer Scham begründet. Vielmehr ist der überwache und schlaflose Murau bestrebt, dem Schicksal des anderen Geistesbruders und Junggesellen Josef K., der Hinrichtung in einer ödipalen „Hundevernichtungsanstalt“38, d.h. der Einschläferung, zu entgehen. „Sich töten, das heißt faktisch mit dem Tod rivalisieren“ 39 , was sich nochmals auf das (gefälschte/verfälschte) Textmotto Montaignes applizieren ließe. „Den Tod abwarten, heißt ihn erleiden, ihn zu einem Prozeß erniedrigen […].“40 Dass Bernhard diese Zusammenhänge
34 Kamper 1995, 146f. 35 Derrida 2003, 44. 36 Kamper 1995, 148. 37 Heinz Bude, „Erbschaft des schuldigen Denkens. Jürgen Habermas und Jacques Derrida als Denker der Nachkriegszeit“, in: Merkur 59 (2005), 201. 38 Vgl. Pro 150 u. 166 (K.s letzte Worte: „Wie ein Hund!“). Deleuze und Guattari definieren den Hund als das „Ödipus-Tier par excellence“, Deleuze/Guattari 1976, 23. Eine Präfiguration der Wolf-Hund-Opposition findet sich in Musils Portugiesin. 39 Cioran 1979, 54. 40 Ebd., 55.
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überblickt, wird auch aus der Schlusspointe von Korrektur ersichtlich, dem (vermeintlich) letzten Satz des Protagonisten Roithamer, der sich in der exakt zwischen Altensam und Stocket (was der Oben-Unten-Polarität von Wolfsegg und dem darunter liegenden Ort korrespondiert) befindlichen Waldlichtung erhängt (Ko 83): „Das Ende ist kein Vorgang. Lichtung.“ (Ko 363) ‚Den Tod abwarten’ würde bezüglich der Antiautobiografie – und aus der Warte von Bernhards Korrektur – nur zu einer permanenten Korrektur der Korrektur der Korrektur führen. Wenn die ‚Auslöschung‘/Antiautobiografie indes ins Werk gesetzt werden soll, dann müsste dies augenblicklich geschehen, jetzt, explosionsartig, mit derselben Plötzlichkeit, mit der sich Murau immer wieder der drohenden ‚Verhaftung‘ vermöge seines Hin- und Hergehens und der abrupten Bekräftigung der Gegenrichtung entwunden hat. 41 Eine prozesshafte Verschriftung und Umsetzung der Auslöschungsidee, ein schrittweises Zusammensetzen, Ordnen, Lesen und Herausgeben der unzähligen Fragmente kann unmöglich zu einem Abschluss des Auslöschungsvorhabens führen. Vielmehr müsste es sich blitzartig einstellen, schlagartig über alles Gedachte und Mögliche erhaben ins Seiende springen. Die Auslöschung ist – möglicherweise – eine (Re-) Volte, die zugleich den Selbstmord und das Selbstopfer zeitigt. Der ‚Fall‘ des Autors fällt mit der Annäherung an die offene Gruft und dem Textende zusammen, so dass das Begräbnis sich im Plan des ‚Sich-allem-Entziehens‘ auflöst. Einer plötzlichen Entscheidung entspringend und den Sturz des Empedokles in den Ätna nachahmend42, verschwindet der Protagonist der Auslöschung in dem dunklen Schacht, in der Lücke, die der letzte, gebrochene Schluss-Satz offenhält: alles aufgeben, auf alles, selbst auf das Heil43, verzichten, um mit einem Schlag alles zu gewinnen, weil „[i]m Augenblick selbst, in dem alles verloren ist, alles möglich [ist].“44
41 Vgl. Jeziorkowsky 1994, 211. Foucault weist darauf hin, dass die Plötzlichkeit eine Gefahr im Diskurs ist, die es zu bannen gilt. Foucault 1991, 33. 42 Mit Hölderlin bietet Bernhard einen weiteren Junggesellen und Geistesbruder als Gewährsmann gegen die Macht der goetheschen Literatur auf (vgl. Aus 577), dessen Protagonist sich am Ende mit den mythischen Kräften der Natur wiedervereint – eine Lösung, die gemäß der Teleologie der Auslöschung zu ver- und überbieten wäre. 43 Vgl. Cioran 1979, 115. 44 Lévinas 1997, 114. Bewusstsein heißt Rückkehr zu sich selbst, „Koinzidenz mit sich“, „Selbstbesitz“, Krewani 1992, 226. Um nicht bloß Identität und Bedeutung des Textes festzustellen, wodurch er seiner Zukunftsdimension verlustig ginge, muss der Abschluss der ‚Auslöschung’ mit dem Selbstopfer zusammenfallen und die Frage nach der Stimme des letzten Satzes aufwerfen.
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Die (antiautobiografische) Aufgabe jeglicher Selbstverteidigung und -rechtfertigung45, der Selbstmord als Selbstopfer wie auch der Muttermord durch ‚Kreuzigung’ (sie wird an der Kreuzung nach Linz im Auto von der Eisenstange quasi ‚festgenagelt’ 46) resp. die Annahme eines (sich als abgeschlossen und absolut gebenden) gerechten Textes bergen die Gefahr einer Mystifikation, was einer Politik das Wort reden würde, die dem Geist der ‚Auslöschung’ gewiss zuwiderliefe. Mystifikation ist auch Gegenstand von Adornos Kritik an Kierkegaards Opferbegriff, weil er das mythische Wesen von Kierkegaards Paradoxie am Begriff der ‚Nachfolge‘ dadurch evident werden sieht, dass das Opfer für die nachfolgenden Personen zum Kriterium der Wahrheit wird. 47 Die ‚Auslöschung’ kann jedoch auf keinen erlösenden Wahrheitsbegriff gebracht werden. Schriftsteller der Postmoderne stiften keinen Einheitsmythos, keine Metaerzählung mehr. Auflösung und Zerfallsprozess werden als Chance begriffen. In der Simulierung gerechter Totalität bewirkt die ‚Auslöschung’ eine Assimilation des ‚ersten Opfers’, die Opferung des erfüllten Augenblicks, des Jetzt, an eine niemals vollendete Zukunft. Dieser Opferung verdankt sich das ästhetische Erlebnis.48 Der jüdische Historiker Yosef Hayim Yerushalmi beschreibt in seinem Buch Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis im jüdischen Denken eine paradoxale Koexistenz vom Glauben an eine ewige Gegenwart und einem Verlangen, die Vergangenheit auszulöschen, um die moderne Existenz als etwas völlig Neues zu erleben.49 In Bezug auf den Holocaust sieht er die Juden auf einen „neuen, metahistorischen Mythos“ warten, dessen Stiftung er eher dem Roman als modernem Surrogat als der Geschichtswissenschaft zutraut. Für Yerushalmi bleibt somit zumindest die potentielle „Verführung durch den Mythos“ bestehen. 50
45 Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main 2007, 230. 46 Wenigstens der Version Caecilias zufolge, wonach der Kopf der Mutter von einem „Traversenstück […] durchstoßen“ wurde. (Aus 415) 47 Theodor W. Adorno, Schriften 2. Kierkegaard, Frankfurt am Main 1979, 168. 48 Vgl. Johannes Windrich, „Dialektik des Opfers. Das ‚Kulturindustrie’-Kapitel aus der ‚Dialektik der Aufklärung’ als Replik auf Walter Benjamins Essay ‚Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit’“, in: Gerhart von Graevenitz, David Wellbery (Hrsg.), Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert, DVjs 73 (1999), 98f. 49 Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988, 103. 50 Ebd., 104.
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Lyotard hingegen ermittelt in Heidegger und „die Juden“51 das Substrat einer säkularen Haltung im jüdischen Denken, an der sich die Funktion der Eisenberg-Figur gerade im Hinblick auf Opferung und Übernahme des Erbes ausrichten ließe. Seiner Auffassung nach kann man dem jüdischen Gott nichts rückerstatten 52, gibt es kein Ausgleichsopfer, keine Versöhnung, nicht einmal Hoffnung, womit er eine Position von Lévinas adaptiert, der in der Beziehung zum Anderen eine Eschatologie ohne Hoffnung erkennt, die keiner Mystik Raum bietet.53 Allein die Differenz und das Unsagbare werden beeidet, das vergessene Vergessen(e) beglaubigt. Damit geht indes wiederum eine Verpflichtung zu sprechen einher, denn das Schweigen selbst droht mystisch zu werden, weshalb entschieden (und) gesprochen werden m u s s . Dies ist ein ethischer Imperativ, der höchste Anforderungen an die Rhetorik und Ästhetik hinsichtlich ihres rückseitig Anderen richtet. Das Schweigen aber muss gebrochen und der Widerstand bezeugt werden, d.h. auch die Schrift muss sich (in ihrer Widerständigkeit) offenbaren – wie ethisch verletzend und ästhetisch verfehlend auch immer. Mit dem Abbruch des Auslöschungsprozesses, seiner Ver- und Überantwortung an Eisenberg werden Vergessen und Erinnern wieder in eins gebunden und an ein (demystifiziertes jüdisches) Denken delegiert, in dessen Zentrum die aporetische Verschränkung von Kontinuität und Novität steht, woraus kein definitives Bild (von der Auslöschung) zu gewinnen ist. Es gilt, immer wieder neu und anders zu lesen! Nicht zufällig sieht Kant im jüdischen Bilderverbot einen höchsten Ausdruck der Ethik54, nicht zufällig ergeht sich Murau unmittelbar vor der Abschenkung abermals in einer Tirade gegen das Fotografiezeitalter. Seine Schuld ist indessen unbestreitbar. 55 Auch herrscht bei ihm Klarheit über die Funktion des Sündenbocks bzw. des Opfers, wie die Bemerkung, dass „[d]ie Gesellschaft alt geworden [ist], […] sich nicht erneuert [hat]“ (Aus 351), nahelegt. Sein Verschwinden ist das (Ein-)Geständnis, dass sein Denken an der Aufgabe des Erbdilemmas scheitert, weil es weiterhin für/an alte(n) familiäre(n)
51 Lyotard 1988. 52 Ebd., 34. 53 Krewani 1992, 181f. 54 Weinberg 2006, 542. Zum Bilderverbot allgemein siehe Jan Assmann, „Bildverstrickung. Vom Sinn des Bilderverbots im biblischen Monotheismus“, in: Gerhart von Graevenitz, Stefan Rieger, Felix Thürlemann (Hrsg.), Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, 59ff. 55 Pointiert formuliert Lyotard dies als „Zahlungsunfähigkeit der verschuldeten Seele“. Lyotard 1988, 96.
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Traditionen haftet („[…] wir […] sind in Wahrheit nichts anderes als Teil dieses Wolfsegger Gesindels“, Aus 295), die den Nationalsozialismus, den Holocaust und die Endlösung mit befördert haben. Dies belegen die ‚Tauben’-Szene (Aus 398) oder seine Forderung nach der Todesstrafe (Aus 459). Das untilgbare Schuldgefühl, das laut Nietzsche ebenso wie das Empfinden von ‚gut’ und ‚böse’56 Teil des genealogischen Erbes ist, erschöpft sich in (re-)voltierenden Gesten und mündet schließlich in die Selbstvernichtung, da das Ich die Übermacht des Erbes nicht zu brechen vermag. Das Übertreten der Schwelle ins Draußen, das Verlassen des Denkkerkers, beschwört nicht nur den Einsturz des Denkgebäudes herauf, womit sich der Antiautobiograf den Tod gibt bzw. das Leben nimmt57, es setzt überdies die Projekte seines geheim gehaltenen Denkens, den Text im Kopf, dem Tod aus. Eisenbergs Annahme des Geschenks beendet das Theater der Grausamkeit, vermittelt dem Text einen Kontext und mithin eine unendliche Vielzahl von kompossiblen Kontexten, die ihm „alle[] mögliche[n]“ Konnotationen zuschreiben können und somit gleichsam seinen Zerfall implementieren. Im selben Zug wird eben dieses Dem-Tod-Aussetzen paradoxal zur einzigen (unmöglichen) Möglichkeit des InsWerk-Setzens. Die Opferung der (Idee der) ‚Auslöschung‘ ist unumgänglich. Der Prozess der ‚Auslöschung‘ bedarf, um realisierbar zu werden, an irgendeiner Stelle einer Unterbrechung, womit er seinem Absolutheitsanspruch nicht (völlig) gerecht werden kann, ja nicht gerecht werden darf, weil sich in der absoluten Gerechtigkeit der Gerechtigkeitsbegriff selbst auflösen, mithin die Auslöschung des angestrebten Anderen drohen würde, das die Loslösung vom Herkunftskomplex verspricht.58 Jenseits davon, das Projekt zum Abschluss zu bringen, gilt es jedwedes Projektieren und Planen zu verwerfen, planlos offen zu sein gegenüber der Zukunft.59 Tot sein zu wollen bzw. sich für tot zu erklären, verheißt einen Ausweg aus dem Erbdilemma. Auf eben diese Art und Weise beenden Kinder zumeist abrupt ihre imaginären Spiele. Um aber das Spiel (und die vermeintliche Realität) nicht dem sofortigen Vergessen anheim fallen zu lassen, bedarf es eines Zeugen, der außerhalb (des Traumes) steht.
56 Nietzsche 1991, 83. 57 Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, 76. 58 Vgl. Kamper 1995, 167. Das immer wieder auftretende Gefühl des Ekels ist Anzeichen dieses ‚Zuviels’. 59 Vgl. Cioran 1979, 76.
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Die einzig plausible und (poeto-)logische Fundierung der Textmanifestation liegt in der Zeugenschaft60 Eisenbergs, in der Eisenbergrichtung, die die ‚Auslöschung‘ (an-)zu(-)nehmen hat. Eisenberg, der (im Traum) die Texte rettet, sich der tabula rasa widersetzt sowie mit seinem Widerstand dafür Sorge trägt, dass das ‚es gibt‘ nicht aussetzt, sondern statthat und weiterhin eine (plötzliche) Synthese von Poesie und Philosophie in Aussicht stellt. Der jüdische Schriftgelehrte erhält ‚den’ Text. Das Spiel mit der Figur ‚Eisenberg‘ zeigt sich hierbei in zweifacher Hinsicht doppelbödig, denn es gibt tatsächlich einen Paul Chaim Eisenberg, der Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien ist. Mit dem Übertritt in die Realität der „Eisenbergrichtung“ schlägt sozusagen das Phantastische ins Reale sowie das Reale ins Phantastische um: Die Fiktion erscheint als Realität – und diese wiederum als etwas anderes. Das Phantastische wird zu einer Grenzerfahrung, verstört die Perzeption und gewinnt – a u g e n b l i c k l i c h – eine derart intensive ästhetische Präsenz, dass man sich der Irrealität des Phantastischen nicht mehr sicher sein kann und es tatsächlich für real hält.61 Hier ließe sich die „Unschlüssigkeit“ als Kernbegriff der Definition des Phantastischen von Tzvetan Todorov für die Auslöschung in Anspruch nehmen, wonach das Charakteristische des Phantastischen in einer so tief greifenden Erschütterung der Episteme besteht, dass ihm eine gewisse Plausibilität und damit transempirische Qualität nicht abzusprechen ist.62
3.2. ANTI -F AUST Vor dem Hintergrund der Simonides-Legende lässt sich der Akt der Opferung und des Verschenkens für die Funktion des Anti-Goethe-Subtextes zurüsten und eine Perspektive auf die ästhetischen und ethischen Implikationen der Auslöschung gewinnen. Trotz des einsetzenden Säkularisierungsprozesses behält Simonides den Blick für die Sphäre des/der Anderen: Der erste für seine Kunst bezahlte Dichter betrachtet sich nicht als künstlerisch-schöpferisches Subjekt, sondern als Empfänger göttlicher Gaben, als Medium, weshalb er von der Katastrophe, ausgelöst durch die egoistischen Anmaßungen des Faustkämpfers Skopas, verschont bleibt. Murau hingegen bringt sein (imaginäres) Fest(ungs-)gebäude,
60 Vgl. Krewani 1992, 114f. 61 Vgl. von Graevenitz 1994, 28. 62 Todorov 1972, 140.
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den Renaissancepalast und Denkkerker, durch einen Potlatsch63 zum Einsturz, durch einen Denkexzess, der sein Gedankengebäude sprengt, zur Explosion, durch Muraus (Selbst-/Auf-)Gabe, durch die Vorstellung, wonach (der Kopf) Eisenberg(s) in der Lage ist, das bedingungslose Geschenk zu erhalten. Der Sprung, mit dem die Auslöschungsschrift plötzlich die Ereignisschwelle überwindet, muss zwangsläufig die Vernichtung ihrer Eigentlichkeit/ihres Urhebers herbeiführen, da Selbstopfer und Textopfer ineinandergespiegelt sind. Dass es den Text gibt, wo es doch eigentlich keinen geben dürfte, dass das ‚es gibt‘ statthat und nicht ausfällt, das ist das phantastische Ereignis selbst, das Sensationelle (vgl. Aus 25), das man der ‚Auslöschung‘ schuldet, wofern man das Geschenk – und Derrida würde diesen Akt zu Recht strengstens hinterfragen – annehmen und ihm Kredit einräumen kann. Manifest und damit les- und interpretierbar ist die Auslöschung nur kraft des Absurden. Die Figurenführung Goethes, der seinen Protagonisten nach eigenen Worten in den ersten Akten des Faust II wie auf einem steigenden Terrain zum Sinnbild der verführerischen Schönheit, zu Helena hinauftreibt, um darin den Gang des Dichters zu den ‚Müttern’ als Inspirationsmoment zu illustrieren64, kontert Bernhard, indem er Murau in seinem imaginären (Satyr-)Spiel (vgl. Aus 432) in dandyhafter, antibürgerlicher Haltung mit den Händen in den Hosentaschen (Aus 324)65 in Gegenrichtung zur goetheschen Absolution des anthropologischen Er-
63 Vgl. Derrida 1993, 55. 64 Andreas Anglet, Der „ewige“ Augenblick. Studien zur Struktur und Funktion eines Denkbildes bei Goethe (Kölner Germanistische Studien 33), Köln/Weimar/Wien 1991, 195. 65 Dabei hat er „das Wort Emsigkeit […] im Augenblick im Kopf“ (Aus 323). Womit ließe sich das Denken des Flaneurs hier besser kurzschließen als mit der Sittenlehre, der sich der Weltbund der Auswanderer in Wilhelm Meisters Wanderjahre[n] verschreibt, die sich im übrigen explizit vom Judentum ab- und dieses ausgrenzt: „In diesem Sinne, den man vielleicht pedantisch nennen mag, aber doch als folgerecht anerkennen muß, dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet? Hiervon ist unsere Sittenlehre ganz abgesondert, sie ist rein tätig und wird in wenigen Geboten begriffen: Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen.“ (WMW 687). Hans-Jürgen Schings sieht darin allerdings nur ein „lakonisches Echo“ auf die Rigidität der klassischen Maximen, mit denen der Unbekannte, ein Emissär der Turmgesellschaft, die naive Schicksalsgläubigkeit des jungen Helden in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] kontert (WML 423f.). Schings 1989, 168f.
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bes und zur Hyperbolisierung des Muttermythos die im klassischen Ideal zur Säule erstarrte Über-Mutter nonchalant passieren lässt, um sich imaginativ in die Festung, in der das Begräbnistheater stattfindet, einzuschleichen und schließlich seine gesamte Existenz einer Junggesellenmaschine zu über-schreiben, die die Sterilität66 seiner Auslöschungsidee wahrt. Mit Eisenberg wird just der Figur gegeben, die im Traum noch die ersehnte Symbiose mit der lebendigen Poesie/(der Mutter) Maria vereitelt hat und Auslöser für Muraus Eifersucht war. Im Akt der Gabe wird diese gleichsam überwunden und bildet abermals eine Kontrastfolie zu Goethes Faust resp. dem zweiten Teil der Tragödie. Dem in den Himmel auffahrenden Faust steht Muraus Blick/Sturz in den Abgrund der offenen Gruft gegenüber. Im Unterschied zur offenen Wunde des fraktalen Textabschlusses67 der Auslöschung präsentiert sich der Freispruch Fausts vor dem himmlischen Gericht als Versöhnung und Synthese, ja als Rückkehr zur ‚Mutter‘. Die anökonomische Struktur der Gabe profiliert sich gegen das Ende von Faust II, namentlich gegen die Habgier68 und ‚Tat‘69 (!) des Protagonisten,
66 Vgl. Cioran 1979, 109. 67 In Klingsohrs Märchen wird der Held ‚Eisen’ von Fabel gebeten, dem Eros die Flügel zu stutzen. Fasst man Eisenberg als intertextuellen Reflex auf Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen auf, so ließe sich die bernhardsche Figur ebenfalls als ‚Beschneider’ interpretieren, der zur symbolischen Kastration der beflügelten Phantasie ansetzt. Vgl. Kittler 1991, 162. 68 Wolfgang Binder, „Goethes klassische ‚Faust‘-Konzeption“, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Faust I, Darmstadt 1984, 134. Vgl. die Schluss-Szene des Proceß, in der die letzte Geste des Bankangestellten K., die gespreizten Finger (Pro 312), andeuten, dass der „nicht zu billgende[] Zweck“ (Pro 308), zu dem er „immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren [wollte]“ (ebd.), in der Besitzgier liegt, die noch dazu vornehmlich auf Frauen gerichtet ist. Dies zeichnet sich bereits in der Szene ab, in der K. seine Hände geistesabwesend in den Strümpfen von Frau Grubach vergräbt (Pro 32), und erklärt seine Begeisterung für Lenis „Kralle“ (Pro 145). 69 Die Antagonismen, die Bernhard vermittels Verbergungs- und Entziehungsstrategien subtil in die Spannung zwischen ‚Wort‘ und ‚Tat‘ vor dem Hintergrund des Erbes legt und gegen Goethes Faust in Stellung bringt, finden trefflich Widerhall in einem poetischen Ausspruch René Chars: „Erwacht noch vor seinem Sinn erweckt uns ein Wort und spendet die Helle des Tages; ein Wort, das nicht geträumt hat.“ Zit. n. Marc Le Bot, „Künstlerisches Denken und Erfahrung der Andersheit“, in: Christoph Wulf, Dietmar Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, 210.
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der, trotz aller Reichtümer und Erfolge von Unzufriedenheit gepeinigt und getrieben von dem erhabenen Wunsch, „mit einem Blick des Menschen Meisterstück“ (FII 11247f./434) zu überschauen, von Mephistopheles die Enteignung von Philemon und Baucis bzw. ihre Vertreibung von ihrem Wohnsitz verlangt. Diese beiden Figuren stehen mit der Gastfreundschaft, die sie dem Wanderer zuteil werden lassen, als Gegenentwürfe für einen alten klassischen Menschentypus, demgegenüber der moderne Mensch Faust dem Schein der Bilder und des Geldes verfallen ist. Sie beten in der Kapelle noch den „alten Gott“ (FII 11142/430) an und opfern sich in den Flammen ihrer Hütte, während der Wanderer im Kampf getötet wird (FII 11364f./438). Faust missbilligt zwar „die ungeduld’ge Tat“ (FII 11341/437) – „Tausch wollt ich, wollte keinen Raub“ (FII 11371/438) –, verweigert jedoch den sich aus den Rauchschwaden der niedergebrannten Hütte bildenden vier grauen Weibern, ‚Mangel‘, ‚Schuld‘, ‚Sorge‘ und ‚Not‘, Einlass in seinen Palast (!) (5. Akt, Mitternacht). Das Eindringen der ‚Sorge‘, die Faust schließlich mit Blindheit (!) schlägt, ist nicht zu verhindern, die Schuld bleibt jedoch ausgeschlossen.70 Daraufhin verlässt er den Palast, dem Höhepunkt seines Begehrens entgegenstrebend, um endlich von dem in Auftrag gegebenen Aussichtsturm aus, der auf dem Gut von Philemon und Baucis zu errichten war, einen Blick „ins Unendliche“ (FII 11345/ebd.) zu werfen71, nicht ahnend, dass die Lemuren, die sein Zivilisationswerk fortsetzen sollen, sein Grab ausheben. Faust aber glaubt, sie würden dem Meer neues Land abtrotzen, was auf die Szene rekurriert, in der er vom Kaiser den Strand als Lehen erhalten hat. Dieser Belohnung ist indessen längst die Rechtsgültigkeit entzogen, da Faust ob seiner Verbindung zu Mephisto vom Erzbischof mit dem Kirchenbann belegt wurde (FII 11035f./425). Die Parallelen zwischen dem Faustischen Projekt in seiner Absolutheits- und Unendlichkeitsprogrammatik und Muraus Auslöschungsunternehmen liegen auf der Hand, so dass die von Bernhard angebotene (Ab-)Lösung als Kontrafaktur des goetheschen Freispruchs und der transzendentalen Erlösung seines Helden verstanden werden kann. Beide Protagonisten betreiben eine Deterritorialisierungsbewegung, die sich allem Wissen zu entfliehen anschickt. Wie Arthur Hen-
70 Goethe schrieb an den Philologen Schubarth in einem Brief am 3. November 1820: „Mephistopheles darf seine Wette nur halb gewinnen, und wenn die halbe Schuld auf Faust ruhen bleibt, so tritt das Begnadigungs-Recht des alten Herrn sogleich herein, zum heitersten Schluß des Ganzen.“ Zit. n. Arthur Henkel, „Das Ärgernis Faust“, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Faust II, Darmstadt 1991, 297. 71 Anglet 1991, 187.
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kel herausgearbeitet hat, ist der Schlussakt des Faust II nicht nur von Goethes „Glauben an die unbedingte Gnadenübung der ewigen, die Welt regierenden Liebe“72 , sondern auch von einem Theologomenon Origines’, der άποκατάστασις παντων, der Wiederbringung aller Dinge 73 , getragen, die Fausts Weltkonsum aufhebt und den Verschuldungszirkel durchbricht, indem er in eine mystische Vereinigung mit dem Absoluten mündet, die in einer versöhnlichen Rückkehr in den Mutterschoß, einer transzendentalen Eros-Theologie74 gipfelt. Während der moderne und rastlose Mensch Faust keinerlei Konsequenzen für seinen Seelenhandel mit Mephisto und die Verführung durch die „Mütter“ tragen muss (vgl. FII 6216f./255)75, setzt Murau sein Projekt Zerfall und Vergessen aus und zahlt den Preis der Opferung und Selbstauslöschung. 76 Nicht zuletzt der Titel der nach der Auslöschung geplanten, aber nicht mehr fertig gestellten Prosaschrift „Neufundland“, von der nur der erste und letzte Satz vorliegen77, und die Referenz zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ (vgl. Aus 511) geben Anlass zu der Hypothese, dass Bernhard diese (an-)ökonomischen Zusammenhänge in Bezug auf Faust bereits in der Auslöschung im Visier hatte.
72 Henkel 1991, 291. 73 Ebd., 299. 74 Ebd., 313. 75 Faust nimmt Mephistos Zauberschlüssel, der das Reich der Mütter zugänglich macht, an (FII 6259f./256), wogegen Murau den Safeschlüssel seiner Mutter verschwinden lässt. Vgl. Rüdiger Görner, „Vom Wort zur Tat in Goethes ‚Faust‘ – Paradigmenwechsel oder Metamorphose?“, in: Goethe Jahrbuch 106 (1989), 124. 76 Dieser Befund ließe sich abermals von Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] absetzen, wo „diejenigen Figuren geopfert [werden], die [sich] der Symbolordnung, der Suprematie des Signifikanten über das Subjekt und der notwendigen Öffnung dyadischer Beziehungen zu ‚Triangeln‘[…] nicht unterwerfen.“ Hörisch 1983, 77. 77 Jansen 2005, 177. Dies bestätigt, dass Bernhard die für Kafkas Arbeit am Proceß belegte Vorgehensweise, zuerst das erste und letzte Kapitel zu schreiben, übernahm und sich auf den Schreib-Prozess zwischen erstem und letztem Satz konzentrierte.
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3.3. G ABE
DES
G ROTESKEN : E THIK
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ÄSTHETIK
An Goethe Das Unvergängliche Ist nur ein Gleichnis! Gott, der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis… Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Not – nennts der Grollende, Der Narr nennts – Spiel… Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: – Das Ewig-Närrische Mischt uns – hinein!... (FRIEDRICH NIETZSCHE, WERKE 5/2, 323.)
Der Zusammenhang von Opfer, Ethik und Gedächtnis ist leicht über Nietzsches Genealogie der Moral zu erschließen. Nietzsche sieht im Schmerz das mächtigste Mittel der Mnemonik und leitet das Gedächtnis von grausamen Ritualen, Martern, Verstümmelungen und Opfern her, die den Menschen Erinnerungen unauslöschlich einbrennen sollten.78 Diese verinnerlichten Er-innerungen sind Produkte eines Sublimierungsprozesses, Kompensationen für unterlassene Handlungen, die sich auf ein ‚Außerhalb’, ein ‚Anders’, ein ‚Nicht-Selbst’ hätten richten können, und konstituieren mithin das, was man allgemein die „Seele“ nennt.79 Hier verkehrt sich der gewaltsam in die Latenz gedrängte „Instinkt der Freiheit“ in ein „schlechtes Gewissen“. 80 Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, die Nietzsche als Lust bestimmt, sich selbst ein Nein einzubrennen, ist auf eine Affekthemmung zurückzuführen, die „zuletzt […] als der eigentliche Mutterschoß (!) idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremd-
78 Nietzsche 1991, 52. 79 Ebd., 76. 80 Ebd., 79.
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licher Schönheit und Bejahung ans Licht gebracht [hat] und vielleicht überhaupt erst die Schönheit.“81 Opferrituale stiften nicht nur ‚Gedächtnis‘ und ‚schlechtes Gewissen’, sondern auch Gemeinschaft und moralische Codes, die überhaupt erst Kriterien zur Unterscheidbarkeit von ‚gut’ und ‚böse’ dekretieren. In Bezug auf ethische Normen bleibt das Schuldempfinden dabei in eine Erbstruktur eingebunden, da jede Generation ihr Dasein den Leistungen und Opfern der Vorfahren und Ahnherren verdankt, womit es auf einer Verschuldung beruht, die niemals vollauf beglichen werden kann, zumal die in ferne Vergangenheiten entrückten Ahnherren obendrein allmählich zu Göttern transfiguriert werden.82 Mit der Inszenierung von Sozietät, Identität und Kontinuität begründenden Ritualen gehen ästhetische Normen einher, die in Prozessen sozialer Mimesis zutage treten und selbst wiederum mnemonische Funktionen übernehmen. Somit lässt sich für das Gedächtnis eine auf Opferung und Verschuldungszyklus basierende Einheit von Ethik und Ästhetik postulieren. Der Fortbestand einer Gesellschaft hängt von der unausgesetzten Wiederholung des Opfers ab.83 Drohen Rituale durch allmähliche Abschwächung ihrer Kraft und Wirkung sinnentleert zu erstarren, so entstehen Krisensituationen, in denen Sündenböcke gefunden werden müssen, deren Opferung eine Wiederbelebung der Gemeinschaft bewirkt, indem diese sich erneut ihrer Identitätszeichen und Werte versichern kann. Nicht zuletzt aufgrund dieser Zusammenhänge ist der Opferbegriff für Foucaults „Gegen-Gedächtnis“ von zentraler Bedeutung. Unter diesen Prämissen lässt sich Muraus Selbstopferung sowie die Opferung seiner projektierten Schrift und Antiautobiografie im Horizont der ethischen (In-)Fragestellung der Auslöschung besser verorten, was einmal mehr unterstreicht, welche Dynamik seine ‚Öffnung der Familiengruft’ entfaltet, welches Sakrilegs er sich mit seinem (illusionären) Matrizid und der Erbabschen-kung schuldig macht. Dass Murau über ein ausgeprägtes Bewusstsein für soziale Prozesse verfügt und sich selbst die Rolle des Sündenbocks als von Onkel Georg er-
81 Ebd., 80. Kurz zuvor verweist Nietzsche in einer Nebenbemerkung auf Goethe. – Für eine Kritik an Nietzsches Subjektformierung durch ein ‚Gedächtnis des Schmerzes’ unter Bezugnahme auf Foucault siehe Butler 2007, 24ff. 82 Nietzsche 1991, 81f. Auch Murau glaubt, dass er Onkel Georg die Abfassung der Auslöschung schuldig ist. (Aus 201) 83 Anhand des verkrüppelten Geografielehrers Pittioni und eines Mitschülers des Protagonisten, des Sohnes des Architekten, hat Bernhard die Funktion des Opfers umfänglich in Die Ursache ausgearbeitet. Siehe Ur 101f.
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erbt zuspricht, wurde bereits im vorhergehenden sowie in Kapitel 1.2. des ersten Teils angesprochen. Julia Kristeva vergleicht in Die Revolution der poetischen Sprache allgemein den Künstler mit der Sündenbock-Gestalt und weist ihm einen direkten Ausgang aus dem „Erbe symbolischer Beherrschung“ an: „das mütterliche Gebot zu übertreten und in den Grüften der Ahnen zu spielen.“84 In diesem Spiel präsentiert sich die Phantastik als Gegenmodell zur Memoria85 und hält als Residuum des die Gesellschaft stets in ihrem Funktionieren bedrohenden Anderen perverse Erinnerungsbilder als Material zum Angriff auf das Ordnungssystem parat, weshalb sie fortwährend geopfert, verdrängt und verschwiegen werden müssen. Die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, zu ‚sagen’, dass es etwas unsagbares Anderes gibt, das kontinuierlich vergessen (gemacht) wird, ohne es durch Namensnennung zu verraten und dem Gesetz preiszugeben, das ist die „Ethik der Erkenntnis“86, der das Gegen-Gedächtnis Rechnung trägt; das ist das Geheimnis, für das die Chiffre ‚Auslöschung’ (ein-)steht und das im verborgenen Denken zu protegieren ist. Die ästhetisch-ethischen Meriten des Bernhard-Textes liegen darin, die Rätselhaftigkeit des Anderen gegenüber den Macht- und Durchsetzungsansprüchen des Allgemeinsinns87 zu behaupten und erfahrbar zu machen, um eine Offenheit für das Fremde zu bewahren. Folglich gründet die Ethik der Ästhetik „in der Möglichkeit des Ästhetischen, für die Rätselhaftigkeit der Welt und des anderen zu sensibilisieren.“88 Durch Erschütterungen des Wahrnehmungssystems und der damit korrelierenden Sinnkonstitution vermag die Phantastik „im spielerischästhetischen Umgang mit der Welt […] neue Möglichkeiten und Grenzen ethischen Handelns“89 auszuloten. Eine besondere Funktion der Entautomatisierung und Revitalisierung kommt in der die Auslöschung dominierenden Übertreibungspoetik dabei der Groteske zu. Dominique Jehl spricht bezüglich dieser Abwehr einer „mögliche[n] Erlahmung der Ästhetik“ von einer ethischen Dimension der Groteske.90
84 Kristeva 1978, 80 u. 223. 85 Lachmann 2002, 432. 86 Foucault 1974a, 30. 87 Trefflich lässt Bernhard den Protagonisten in Watten Allgemeinsinn als „Gemeinheit“ (Wa 68) titulieren. 88 Christoph Wulf, Dietmar Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Ethik der Ästhetik, Vorwort, Berlin 1994, 9f. 89 Ebd. 90 Dominique Jehl, „Ethik und Ästhetik des Grotesken“, in: Christoph Wulf, Dietmar Kamper, Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, 102.
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Schon im Kapitel 2.3.5. wurde mit der explosiven Begegnung zwischen Maria und Eisenberg und ihrem Schuhtausch in Muraus Traum der Übersprung der Merkmale des Grotesken von Maria auf Eisenberg verhandelt. Das prominenteste groteske Merkbild aber ist das Bild der Muttergottes an der Außenwand der Meierei: „Das Wort Schicksalsschlag hat mir, in seiner ganzen Ekelhaftigkeit und Verlogenheit, den Rest gegeben, wie gesagt wird und ich bin aufgestanden und ans Fenster getreten. Von hier aus sieht der durch das Fenster Schauende genau auf ein an der gegenüberliegenden Meiereimauer angebrachtes Ölbild aus Zinkblech, auf welchem die Muttergottes mit ihrem Kind abgebildet ist. Der Hals der Muttergottes auf diesem Bild ist so lang, wie ich noch niemals einen gemalten Hals gesehen habe, allen Erfahrungen der Anatomie vollkommen widersprechend. Das Jesuskind hat einen Wasserkopf. Der Anblick des Bildes hat mich schon immer belustigt und er belustigte mich auch jetzt. Ich mußte laut aus mir herauslachen, mir war es gleichgültig, ob man mich gehört hat oder nicht.“ (Aus 523)
Erneut kennt Murau vor dem Hintergrund der verunglückten Familienmitglieder inmitten der Trauersituation keinerlei Scham, wenn er sich angesichts der grotesken Verzerrung des Marienbildes, die qua Anamorphisierung und Überdimensionierung des Halses auf die Tötung seiner Mutter durch die Eisenstange anspielt, von der Darstellung belustigen lässt und sich dem Lachen hingibt. Die maßlose Übertreibung des Grotesken überspringt die Trauerarbeit, sprengt das Gedächtnis und bringt ein „noch niemals“ gesehenes Bild zum Vorschein. Der groteske Hals resp. der groteske Körper im Allgemeinen entsteht durch eine Auflösung der Konturen, Symmetrien und Proportionen, ohne jedoch das lesbare (Vor-)Bild gänzlich zu suspendieren. Das Groteske enthält somit eine parodistische, unbändige „spielerische Potenz“, die Jehl als „aktives Prinzip der Unbestimmtheit“ begreift.91 Dazu Michail Bachtin in Literatur und Karneval: „Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen. Er ist immer im Aufbau begriffen, im Erschaffenwerden. Und er baut und erschafft selbst den anderen Leib. Außerdem schlingt dieser Leib die Welt in sich hinein und wird selbst von der Welt verschlungen.“92
91 Ebd., 102. 92 Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main 1990, 16.
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Bachtin deutet das Groteske nicht als „tragische Verzerrung“, sondern vielmehr als „Einheit des Lebendigen“, in der bei „üppiger Entfaltung“ 93 Realismus und Phantasie verschmelzen. In seiner Darstellung der Groteske bzw. des grotesken Leibes spiegelt sich die Übertreibungs- und Auslöschungspoetik des bernhardschen Textes wider. Dieser rühmt sich nicht nur seiner eigenen Maßlosigkeit, sondern gibt in seinen Fehlschlägen gleichzeitig noch die Kehrseite der Erhabenheitseffekte94 zu erkennen: das Lachen, das in einem Moment höchster Intensität plötzlich und einmalig seinen eigenen Ursprung konsumiert, um instantan die abgründige Fundierung der Wahrheit aufscheinen zu lassen. „Wir steigern uns oft in eine Übertreibung derartig hinein, habe ich zu Gambetti gesagt, daß wir diese Übertreibung für die einzige folgerichtige Tatsache halten und die eigentliche Tatsache gar nicht mehr wahrnehmen, nur die maßlos in die Höhe getriebene Übertreibung. Mit diesem Übertreibungsfanatismus habe ich mich schon immer befriedigt, […]. Er ist manchmal die einzige Möglichkeit, wenn ich diesen Übertreibungsfanatismus nämlich zur Übertreibungskunst gemacht habe, mich aus der Armseligkeit meiner Verfassung zu retten, aus meinem Geistesüberdruß, […]. Meine Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, daß ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nennen kann. Ich kenne keinen andern. Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrieben, habe ich zu Gambetti gesagt und darauf, daß ich, wenn man mich kurzerhand einmal fragen wollte, was ich denn eigentlich und insgeheim sei, doch darauf nur antworten könne, der größte Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist. Darauf ist Gambetti wieder in sein Gambettilachen ausgebrochen und hat mich mit seinem Gambettilachen angesteckt, so lachten wir beide auf dem Pincio an diesem Nachmittag, wie wir noch niemals zuvor gelacht hatten. Aber auch dieser Satz ist natürlich wieder eine Übertreibung, denke ich j e t z t [meine Hervorhebung, T.M.], während ich ihn aufschreibe, und Kennzeichen meiner Übertreibungskunst. Damals habe ich zu Gambetti gesagt, daß die Kunst der Übertreibung eine Kunst der Überbrückung sei, der Existenzüberbrückung in meinem Sinn, […]. Durch Übertreibung, schließlich durch Übertreibungskunst, die Existenz auszuhalten, […], sie zu ermöglichen. Je älter ich werde, desto mehr flüchte ich in meine Übertreibungskunst, […]. Die großen Existenzüberbrücker sind immer große Übertreibungskünstler gewesen, ganz gleich, was sie gewesen sind, geschaffen haben, Gambetti, sie waren es schließlich doch nur durch ihre Übertreibungskunst. […], wobei es ja auch vorkommen kann, daß die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertreiben, dann müssen wir sagen, er übertreibt die Untertreibung und
93 Jehl 1994, 96. 94 Murau weiß, dass das Moralische ein Vexierbild des Lächerlichen ist: „Das Moralische wird lächerlich.“ (Aus 104)
302 | DIE PHANTASTISCHE G ABE DES G EGEN-GEDÄCHTNISSES macht die übertriebene Untertreibung so zu seiner Übertreibungskunst, Gambetti. Das Geheimnis des großen Kunstwerks ist die Übertreibung, […], diesen zweifellos absurden Gedanken, der sich bei näherer Betrachtung zweifellos als der einzig richtige herausstellen hatte müssen, gab ich dann auf […].“ (Aus 610ff.)
Muraus Übertreibungspoetik skizziert die auf einer unberechenbaren Ökonomie basierende Defizienz der supplementären Zeichenpraxis. Da jedes Zeichen einen uneinholbaren Mangel repräsentiert, bedarf es eines Über-Flusses, der immer das Zuviel eines Zuwenigs ist, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Das Gambettilachen auf dem Pincio dürfte indessen auf Goethe gemünzt sein, der – in Muraus (übertriebener) Literaturkritik – eben nicht der große Lyriker, Dramatiker und Prosaschreiber ist, geschweige denn der große Übertreibungskünstler. Was der Auslöschungsprotagonist hier vor dem stets unerwähnten Goethe-Denkmal auf dem Pincio formuliert (wodurch er es ebenso übergeht, wie er die Mariensäule passiert), ist nichts Anderes als eine Anti-GoetheÄsthetik, denn Goethe – wie auch Hegel – war ein dezidierter Gegner des Grotesken, „da es die Trennung zwischen Natur und Vernunft vollzieht, die in der nachplatonischen Ästhetik innig verbunden blieben.“95 Der Übergang zu einer Ästhetik der Groteske stellt innerhalb des Gedächtnisdiskurses nichts Anderes als einen Rekurs auf eine ältere, vor-klassische Gedächtnisfassung dar, denn die in der Rhetorica ad Herennium erläuterten Gedächtnisbilder waren zum Zwecke ihrer Einprägsamkeit durch ausgesprochen groteske Eigenschaften gekennzeichnet. Damit wäre ein archaischer Zug in Bernhards
95 Jehl 1994, 99. – Zur Veranschaulichung bietet sich das intertextuelle Signal an, das Faust II und die Auslöschung verkoppelt: die Lemuren. Friedmar Apel weist nach, dass das Motiv der Lemuren einem griechischen Grabmal entstammt, das Friedrich Sickler 1809 bei Cumae entdeckte. Die tanzenden Lemuren widersprachen „Goethes klassizistischer Schönheitskonzeption ebenso wie seiner Vorstellung vom Gesunden und Lebenskräftigen.“ In seinen Ausführungen zum Grabrelief, die einem Sendschreiben an Sickler vom 28. April 1812 beigefügt sind, reagiert Goethe mit einer doppelten Strategie auf die ästhetische Herausforderung, indem er einerseits die Datierung und Zuordnung des Grabmals zur griechischen Antike anzweifelt, andererseits aber die Widerständigkeit des hässlichen Gegenstands kurzerhand seinem Schönheitsbegriff integriert, da die „göttliche Kunst“ sich über ihn zu erheben vermag, indem sie ihn zur Lächerlichkeit herabwürdigt. Siehe Friedmar Apel (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Band 21, Ästhetische Schriften (1806-1815), Frankfurt am Main 1998, 744f.
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Gedächtnispoetik aufgespürt, in dem man jedoch das vernunftkritische Potential der grotesken Ästhetik zu gewärtigen hat, das von der Klassik verdrängt worden war. Hinsichtlich des Grotesken ist es fürwahr nicht als willkürlich zu erachten, dass Murau in einem Renaissance-Palast in Rom residiert, firmiert die Renaissance doch als Matrix, aus der Groteske und Moderne gleichermaßen hervorgehen. Welche Formen der Ironie und Kritik man den Erlösungs- und Synthetisierungsstrategien im zweiten Teil der Tragödie auch immer zubilligen mag, mit denen Goethe den sich mit der Renaissance entwickelnden Typus der Moderne und seine Omnipotenzphantasien überzieht 96 , was Faust II anbelangt, bleibt er mit der Figur der Helena, die als Inbegriff des Ewig-Weiblichen und Schönen das Begehren des Protagonisten weckt und (ver-)leitet, eher an einem zum Urereignis der europäischen Kultur hyperbolisierten Begriff der Schönheit orientiert97, der auf einem ästhetisch-klassischen Ordnungsmodell basiert. In der Szene „Rittersaal“ vollzieht Faust mithilfe von Mephistos Zauberschlüssel einen phantastischen Zeugungsakt98, der zum Erscheinen von Helena und Paris führt, die den Raub der Helena in einer Theaterszene nachstellen. Nachdem Fausts gewaltsamer Versuch, Helena Paris zu entreißen, in eine Explosion mündet, träumt er dem Bericht Homunkulus’ zufolge in der Anfangsszene des zweiten Aktes (FII 6903ff./281f.) in seinem ehemaligen Studierzimmer von ihrer abermaligen Prokreation. Später in der Klassischen Walpurgisnacht möchte Faust sie den eigenen Worten nach unbedingt „ins Leben ziehn“ (FII 7439/300). All dies sind Wegmarken des Mutter-Pfades („Ihr Mütter! Mütter müsst’s gewähren!“, FII 6558/268), auf dem er sich kraft seines magischen Schlüssels mit „Wirklichkeiten“ (FII 6553/ebd.) konfrontiert wähnt.
96 Keller 1991, 334. 97 Bezüglich der Lehrjahre ist neben der Ordnungsfunktion der ‚Schönheit’ auch das genealogische Erbmodell anzuführen: In der Turmgesellschaft sind alle irgendwie miteinander verwandt, wobei das Inzest-Tabu streng geachtet wird, wie die zunächst aufgeschobene Hochzeit zwischen Lothario und Therese verdeutlicht. Es behauptet auch in den Wahlverwandtschaften seinen Primat, indem der aus einem „doppelten Ehebruch“ (Wv 492) erzeugte Erbe im See ertrinkt und Charlotte nur durch den Tod Ottilies zur Erbin wird, nachdem Eduard dieser hatte alles vermachen wollen. (Wv 392; vgl. 449 u. 455) 98 Zweifelsohne sind der Schlüssel und die Schale Instrumente eines symbolischen Geschlechtsakts. Vgl. Rüdiger Scholz, „Der Müttermythos“, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Faust II, Darmstadt 1991, 88f. Vgl. auch den Hausschlüssel, den K. im Proceß von Leni erhält (Pro 146), bzw. den Safeschlüssel, den Murau offensichtlich hat verschwinden lassen.
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Die Faust-Figur Goethes hebt sich hier deutlich vom „literarische[n] Realitätenvermittler“ (Aus 615) ab, dem „Satanskind“ (Aus 276), in dem „das Teuflische“ (Aus 289) selbst mit angelegt ist99, wie der Entwurf des Gegenbildes der abjekten Mutter(-leiche) vor Augen führt. Die Auslöschung invertiert die sich an Hegels ‚List der Vernunft’ anlehnende allzu aufgeklärte Erkenntnis des Teufels 100 , stets das Böse zu wollen, aber dennoch das Gute zu schaffen (FI 1336/64): Murau will das Gute, schafft dies aber nur über das Böse, denn erst durch die Verletzung und Übertretung der konventionalisierten Grenzen werden diese überhaupt erfahr- und neu bestimmbar. Seine Bösartigkeit offenbart sich gerade an seiner „Lust am Schnitt ins Lebendige“101, die sich mit dem verlängerten Hals und der Enthauptung der Mutter Bahn bricht. Auf den verschlungenen Wegen seines Junggesellen-Pfades erteilt er als „Auslöscher“ (Aus 542) Schöpfungs- oder gar Vollendungsphantasien eine Absage, indem er Konstruktion und Defizienz seiner „Auslassungen“ dekuvriert, um sie dem Gelächter und Zerfall preiszugeben. Faust hingegen steuert auf eine Machtübernahme zu, deren Höhepunkt in der Vermählung mit Helena als Inkraftsetzung einer zeitlosen Idee der Schönheit läge. Glück ist den beiden jedoch nur in der Gegenwart unter Abweisung jeglicher Vergangenheit beschieden (FII 9381f./365). Die Szene, in der ihre Zweisamkeit durch den Auftritt Mephistos in der Gestalt Phorkyas als Verkörperung der Hässlichkeit zerstört wird, löst sich in einer weiteren Explosion auf. Mitregent von Helenas „grenzunbewußten Reiches“ (FII 9363/364) ist Faust nur im eingegrenzten Bezirk der Szene „Innerer Burghof“102, einem phantastischen Arkadien, das sich in Spartas Nachbarschaft befindet (FII 9569/371), weil der Besitz der Schönheit immer umkämpft ist. Dies erhellt wiederum den Konnex von ‚Schönheit’ und ‚Opfer’: König Menelas bestraft Paris Bruder Daiphobus mit Verstümmelungen für Helenas Entführung und bestimmt diese selbst nach ihrer Be-
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Vgl. Aus 422: „Keine acht Tage [seit der Hochzeit von Caecilia, T.M.], dachte ich, und die Szene ist eine total umgekehrte, sie könnte gar nicht teuflischer sein.“ Vgl. Siebenkäs als Verfasser der satirischen „Teufelspapiere“, Leibgebers Hinken (Sk 555) oder das als Teufelsakt beschriebene Erklimmen der steilen Felswand durch von Ketten in Musils Portugiesin (Por 44).
100 Aus der Perspektive von Muraus Auslöschungsprojekt wäre Kierkegaard zuzustimmen, der Faust als „zu ideale Figur“ kritisiert, da sie zu wenig Einblick in die geheimen Zwiegespräche des Zweifels bietet. Vgl. Kierkegaard 1986, 124f. 101 Bolz 1993, 264. 102 „Umgeben von reichen phantastischen Gebäuden des Mittelalters“ lautet die Regieanweisung dazu.
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freiung zum Opfer (FII 8920ff./349) – durch Enthauptung (!) –, da er sie mit niemandem teilen möchte (FII 9061ff./354). „Damit das Opfer niederkniee königlich, Und eingewickelt, zwar getrennten Haupts, sogleich Anständig würdig, aber doch bestattet sei.“ (FII 8944f./350)
Somit aber wäre wieder nur vermittels einer Verbergung und Eskamotierung der abjekten Leiche die idealisierende Erinnerung an die (einstige) Schönheit in Aussicht gestellt. Die Schöpfung des Lebendigen („Künftigen Meister alles Schönen“, FII 9626/374) dagegen misslingt, denn das unablässige Emporsteigen des von Faust und Helena gezeugten Knaben Euphorion als „poetischer Geist der neuen Zeit“103 und seine Flugversuche enden mit seinem Absturz, was allgemein als kritischer Kommentar Goethes auf den Subjektivismus der romantischen Kunst gewertet wurde. Während Murau sich der Hässlichkeit und des Grotesken nicht schämt, sondern sie vielmehr als adäquat, belustigend und erleichternd empfindet, wird in Faust II – noch bevor sie in der höchsten Transzendenzerfahrung gipfelt – die ‚Schönheit’ in Bezug zum Opfer gestellt und mit der ‚Scham’ für unvereinbar ausgegeben („Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn / Dass Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand / Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad“; FII 8754f./343). Dies erinnert an Wilhelm Meisters Lehrjahre, für die bezüglich dieser Relation die Ich-Konstitution der „schönen Seele“ in der Spiegel-Szene anzuführen wäre, wo sie das Bewusstsein ihrer Nacktheit und Schönheit erlangt (WML 739), welche in der Auslöschung ihre groteske Replik in jener Szene findet, in der sich der antiautobiografische Anti-Narziss Murau nackt vor dem Badezimmerspiegel seines Vaters selbst mehrmals die Zunge herausstreckt, nachdem er zuvor schon völlig entblößt zufällig seiner Schwester Amalia im Gang begegnet ist und ihr ebenfalls die Zunge herausgestreckt hat (Aus 431).104 Wie auch bei Murau geht die ästhetisch-künstlerische (Aus-)Bildung der schönen Seele mithilfe des Onkels vonstatten, der als Kunstsammler (!) seine ästhetischen u n d moralischen Maximen an seine Nichte weitergibt:
103 Anglet 1991, 203. 104 Stephan Atzerts Deutung dieser Szene als eine Metapher dafür, dass „Selbstfindung und -definition letztlich möglich“ seien, weil er sein Aussehen vor seiner Schwester provokativ als „nicht einmal schlecht“ (Aus 431) bezeichnet, erschließt sich mir nicht. Stephan Atzert, Schopenhauer und Thomas Bernhard. Zur literarischen Verwendung von Philosophie, Freiburg im Breisgau 1999, 74.
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Indem er das „aus einem doppelten Ehebruch“ (Wv 492) erzeugte Kind in den Wahlverwandtschaften ertrinken lässt, unterzieht Goethe die phantastischen Schöpfungs- und Entgrenzungsbestrebungen der Romantiker abermals einer ironischen Kritik und räumt den Protagonisten Eduard als einem „Exponent[en] romantischer Velleität“ und Ottilie als rhabdomantischem „Wunderkind“105 innerhalb des Wahlverwandtschaftsexperiments nur im mythologischen Jenseits eine Chance des Zusammenseins ein. Murau dagegen rettet sich am Eisenring des Teiches und lässt sich weder durch das Wunderkind Gambetti noch durch die Übermutter Maria von seinem Junggesellenparcours abbringen. Einerseits entzieht er die abjekte Mutterleiche unter wiederholter Infragestellung dieser Grenze im fest verschlossenen Sarg jeder möglichen Repräsentation 106 (sowie einer ordnungsgemäßen Bestattung), andererseits stellt er – im Gegensatz zur Konservierung und Präsentation der schönen Leichen bei Goethe (Mignon und Ottilie)107 – die „stinkenden Leichname[]“ (Aus 396) seines Vaters und Bruders schamlos aus („zur Verwesung freigegebene Körper“, Aus 531), sie in ihrer Ekelhaftigkeit gleichzeitig für nicht integrier- und erinnerbar erklärend. Anders gesagt: Er erinnert – in auslöschungstypischer programmatischer Gegenrichtung – an den unaufhaltsamen Zerfall (der Opfer), den Verwesungsgeruch, der sich zwar aus einem mnemonischen Surrogat bannen lässt, für die Magenhaut aber
105 Schings 1989, 180. 106 Vgl. Aus 449: „Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich den Deckel des Sarges aufgemacht, in welchem meine Mutter lag, aber es war mir natürlich nicht möglich gewesen, doch ich hatte diesen Gedanken, immer wieder tauchte der Gedanke in meinem Kopf auf, daß ich in den Sarg hineinschauen will, in welchem meine Mutter liegt, das Wort liegt war mir dabei ein g r o t e s k e s [meine Hervorhebung, T.M.].“ 107 Vgl. auch Ham V, II, 398ff.: „Let four captains / Bear Hamlet like a soldier to the stage / For he was likely / had he been put on / To have prov’d most royal / and for his passage / The soldier’s music and the rite of war / Speak loudly for him. / Take up the bodies. Such a sight as this / Becomes the field, but here shows much amiss.”
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eine unleugbare (Über-)Reizung darstellt, insofern eine reale Konfrontation erzeugt-bezeugt wird. Während in Wilhelm Meisters Lehrjahre[n] die Figuren, die sich der symbolischen Ordnung widersetzen (Mignon, Harfner), geopfert bzw. als schöne Leiche (Mignon) konserviert und präsentiert werden, verschiebt sich mit den Wahlverwandtschaften das ästhetische Gedächtniskonzept hin zu einer Ethik des Vergessens, wie Bernhard Malkmus nachgewiesen hat. Dies stellt eine Zäsur in Goethes Werk dar, weshalb der Text auch von vielen Zeitgenossen als enttäuschend aufgenommen wurde – von Murau hingegen trotz seiner Anti-GoetheHaltung neben seinen ohnehin nicht hermetischen Kanon gestellt wird. Die Wahlverwandtschaften stehen im Einklang mit dem apokryphen MontaigneMotto der Auslöschung, liegt doch über allen Motiven ein „Schatten der Nekromanie, der allen Versuchen der ästhetischen Verdrängung beigesellt ist“108, wie mit der bereits in Kapitel 3.1.3. besprochenen „Aufhebung der Eindeutigkeit zwischen Bedeutungsursache und Bedeutungsspender“ durch Charlottes Umgestaltung des Friedhofs belegt werden konnte. Ausgerechnet Charlotte als personifizierte Rationalität eröffnet somit den ästhetischen Spielraum, in(-)dem sie Verlust und Unverfügbarkeit in der Zelebrierung eines „Vergessensethos […] als Erinnerungskult“109 erfahrbar macht. Malkmus sieht den ganzen Roman durchwirkt von einer „Desorganisation des Symbolischen“110, was gerade die Dysfunktion der in den Wahlverwandtschaften (zuvorderst bei Eduard) ständig Fehllektüren und Missdeutungen produzierenden menschlichen Sehnsucht als Regulativ imaginativer Selbst- und Weltschöpfung aufdeckt: „Das menschliche Begehren richtet sich auf einen unerreichbaren Gegenstand, der nicht mehr durch die Ordnung des Symbolischen fassbar ist, sondern wesenhaft an die Existenz von Bildern geknüpft ist. Diese Hintergehung des Bewusstseins symbolischer Formen durch den Parameter Leidenschaft als Kategorie absoluter Unmittelbarkeit ist die Grundsignatur des Romans. In der Vertauschbarkeit von Bild und Wirklichkeit wird die Polarität zwischen Satisfaktion und Begehren in eine Bilderflucht emphatischer Gesten in einer Erinnerungslandschaft aufgelöst und als Vergessensethos zelebriert. Das Bild verspricht das völlige Aufgehen im Anderen, löst dies aber erst im metaphorischen Tod ein.“111
108 Malkmus 2009, 285. Siehe auch Hörisch 1992, 134. 109 Ebd. 110 Ebd., 295. 111 Ebd.
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Ottilie, deren perfekte Darstellung der Muttergottes unter den Anweisungen des Architekten in der Weihnachtsszene im tableau vivant (Wv 439) in Kontrast zu ihrer Schuld am späteren Tod Ottos steht, da sie sich durch ihren Lesetrieb (!) von der vollen Konzentration auf die ‚Mutterrolle’ ablenken lässt, wird erst mit ihrem Ableben zur idealen Mutter. Als Nanny bei ihrer Beerdigung, vom Anblick der vollkommenen Schönheit ihrer Herrin bezaubert, aus dem Dachgeschoss auf den Leichenzug hinabstürzt und wie durch ein Wunder unverletzt bleibt (Wv 524), wird dieses Ereignis zum Anlass von Legendenbildungen, in deren Folge sich ihre Ruhestätte in der Kapelle zu einem Wallfahrtsort für Mütter wandelt, die sich davon eine heilende Wirkung für ihre kranken Kinder versprechen (Wv 527). Diese Schluss-Szene der Wahlverwandtschaften illustriert aufs Neue die Kongruenz von Idolatrie und Mutterverehrung und erhellt somit den Konnex von Fotografie-Kritik und Muttermord in der Auslöschung. Murau, der die Denkmäler über-denkt und in grotesker Weise über-geht, unterwandert die Idealität der marmornen klassizistischen Oberflächentextur und unterhöhlt sie auf seinem phantastischen Junggesellenparcours mit einem rhizomatischen Labyrinth, so dass die immanenten Brüche sichtbar werden. Wie bei der in den Wahlverwandtschaften ironisch entworfenen Gedächtnisästhetik der Wallfahrtskapelle wühlt dies den mythischen Untergrund auf. Die für die Romantik typische transzendentale und mythologische Einheitsvorstellung, die Goethe bezüglich des Faust II-Schlussaktes ambivalent mit dem Kommentar „ernsthafte Scherze“112 versah, gestaltet sich zu einer Rückkehr zur Mutter. Fausts Gang zu den Müttern ist bis in seinen Tod hinein eine Inzestphantasie.113 Noch als die ‚Sorge’ ihm das Augenlicht nimmt, glaubt er, dem „Licht im Inneren“ (FII 11500/443) folgen zu können und zu müssen. Wo Faust das Unbeschreibliche dennoch für durchführbar hält, da „das Ewig-Weibliche“ (der Schönheit) uns „hinanzieht“, schlägt die Auslöschung die Gegenrichtung mit einer (bis ans Äußerste gehenden) grotesken Dekapitation des Weiblichen ein, um die Kontrolle der Übergänge und des ewigen Kreislaufs von Tod und Neugeburt von den erotischen Lebensquellen der Weiblichkeit auf das sterile, asymmetrische und unüberschaubare Terrain der Junggesellenmaschine zu leiten, um das
112 Henkel 1991, 290. Goethe selbst wendet sich in seinen späteren ästhetischen Schriften gegen mythisierende Tendenzen. Siehe Stefan Greif, Andrea Ruhlig (Hrsg.), Johann W. v. Goethe, Sämtliche Werke Bd. 21, Ästhetische Schriften (1821-24), Frankfurt am Main 1998, 737. Vgl. ebd., 750. 113 Scholz 1991, 86.
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‚Endspiel’114 zu gewinnen. Diese Allmachtphantasie stößt jedoch an eine ultimative (Inzest-)Grenze. Es bleibt ein dünner Faden, der, wenn schon keinen Ausweg gewährend, so doch wenigstens einen Durchgang durch das Labyrinth markiert: der „dünne[] Fleischfetzen“ (Aus 406), der die Mutter in der äußersten (sprachlichen) Distorsion, sozusagen mit dem längstmöglichen Hals, eben nur als „fast völlig“ acephal erscheinen lässt. Dieser dünne Fleischfetzen, über den der (nicht wirklich) abgeschlagene Kopf noch mit dem Körper verbunden ist, darf nicht überlesen werden, denn er ist die Bedingung der grotesken und absurden Lesbarkeit des Textes. Gleiches wäre über den fest verschlossenen Sarg anzumerken, der die verstümmelte Mutterleiche (vermeintlich) birgt und von Murau trotz skrupelloser Anstrengungen nicht geöffnet werrden kann.
3.4. T RANSVERSALE V ERNUNFT
UND
H ÖREN
Die Gefahr der Regression, die drohende Mystifizierung, war Bernhard offenbar bewusst, was auch die lautliche Similarität von „Traverse“ und „Trastevere“ belegt, denn die Eisenstange, die der Mutter den Kopf abschlägt, wird von Caecilia auch als „Traversenstück“ typisiert. In Trastevere finden die heimlichen erotischen Treffen zwischen der Mutter und Spadolini in der Nähe jener Hundevernichtungsanstalt statt, die Murau Gambetti gegenüber erwähnt (Aus 282). Prägnant führt Haas dazu aus: „Die Traverse durchstößt Trastevere, durchstößt also einmal mehr Katholizismus und Abjektion. Mit Trastevere hat es aber noch eine andere Bewandtnis. Trastevere ist nicht nur ein Ort katholisch-abjekter Ausschweifung, es ist auch ein Ort poetologischer Selbstreflexion.“115
Hellsichtig macht Haas auf die Küchen-Szene aufmerksam, in der der Schwager die aufgetischten Zeitungsartikel zum Hergang des Unfalls ablehnt und Murau sich selbst als „raffinierte[n] Vertuscher [s]einer Abscheulichkeiten“ (Aus 471) entlarvt. Dabei spielt er auf eine Bemerkung Zacchis an, die jener im Ancora verde in Trastevere gemacht hat, womit sich Murau tatsächlich als „(mehr oder weniger) ‚raffinierter Vertuscher’ erweist“116, der seine geschmacklosen Ideen und Sätze im Stil der „Provinzdreckblätter“ (Aus 404) verbreitet, so dass sich
114 Vgl. Jansen 2005, 10. 115 Haas 2007, 150. 116 Ebd.
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brave Kleinbürger und „Moralisten“ (Aus 469) wie der Schwager „jetzt nicht“ spontan und vorbehaltlos darauf einlassen können. Haas verschenkt allerdings eine weitere Pointe der Assoziation von ‚Traverse’ und ‚Trastevere’, denn Zacchis Enttarnung des Vertuschers und „Vordenkopf-stoßer[s]“ (Aus 539) liefert mit der Bezeichnung „Ancora verde in Trastevere“ zusätzlich einen Hinweis auf die ephemere Ästhetik des Textes, die jene äußerste Grenze seines die Mutter enthauptenden Schreibaktes vor dem Versinken in einer mystischen Schwärze wahrt: ein eben noch vernehmbarer Grünschimmer in Muraus Lieblingsfarbe Grünschwarz, eine unscheinbare Restästhetik und Minimalfarbenlehre, eine Anästhetik, die den Obszönitäten der Auslöschung auf einer fast völlig abgedunkelten Bühne – gerade noch – stattgibt. Das Motiv der „Traverse“ bietet Anlass für weitere Spekulationen, die gegen einen gänzlich zufälligen Unfall sprechen, bei dem die Mutter so grausam und tragisch ausgerechnet an einer Kreuzung auf dem Weg in die Hitlerstadt Linz ihren Kopf verliert, und die Dekapitation durch die Eisenstange eher eine dezidierte Schreiboperation suggeriert, bei der das gesamte Begräbnistheater als Transtext zu einem „Traversenstück“ wird. Wenn Virilio die Funktion seines Hauptforschungsgegenstands, der Geschwindigkeit, darin sieht, „den Sinn und die Bedeutung der Geraden [frz. „la droite“ = die Rechte, die Gerade] und – was weniger deutlich ist – des RECHTS und der Gerechtigkeit festzulegen“117, dann wird man die Symbolik der Kreuzung als Infragestellung der Geraden deuten müssen, als Indiz eines vektoriellen Übergangs und Richtungswechsels. Ferner stellt die Kollision der Geschwindigkeits- und Jagdmaschine ‚Jaguar’ (des legitimen Erben) mit der (romantisch markierten) Eisenstange eine Entschleunigung dar, die mit der Reduktion des Mutterhalses auf einen „dünnen Fleischfetzen“ den Triumph des Schreibwerkzeuges über das mütterliche Artikulationsorgan der „Gesprächszusammenschlagerin“ (Aus 573) reklamiert. Obwohl die Zielvorgabe alles andere als beliebig ist, lässt sich die Eisenbergrichtung nicht festlegen. Der verschlungene Junggesellenpfad, den Murau zu Fuß einschlägt, führt nicht in erhabene Höhen, von denen aus das Terrain zu überblicken wäre118, sondern eher in Sackgassen, aus denen heraus wieder andere (Irr-)Wege in Angriff zu nehmen sind, die mutmaßlich in einen Teufelskreis münden, gleichwohl in der Be-wegung vermittels diverser Erfahrungen einer
117 Virilio 1978, 22. 118 Schon in Kapitel 1.1. des ersten Teils wurde demonstriert, dass Wolfsegg auch aus der Vogelperspektive nicht zu erfassen ist.
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Ironie der endlosen Anläufe neues Wissen im Umgang mit dem Unumgänglichen generieren und Anlass für Gelächter bieten – selbst wenn einem das Lachen dabei gelegentlich im Halse stecken bleibt. Die Eisenbergrichtung der Auslöschung schreibt diese Anstrengung unausweichlich vor, die auf Geschwindigkeit und Beschleunigung angelegte Gerade zu verlassen und auf verwegenen Routen unerschlossene Gebiete zu durchqueren, selbst auf die Gefahr hin, sich in der Dunkelheit des Labyrinths zu verlieren. Diese abwegigen Gedankengänge (vgl. Aus 259f.) sind nicht auf die Erklimmung bislang unerreichter Gipfel aus, nicht auf die Eroberung der göttlichen Sphäre der Gebirgswelt, sondern auf eine Trassierung des Unbekannten. Das andere Denken, das damit vorgezeichnet wird, rekurriert auf den RhizomBegriff von Deleuze und Guattari und deren Forderung nach „transversale[n] Verbindungen zwischen differenzierten Linien, die die Stammbäume durcheinander bringen“119 , was dieses Denken als antigenealogisch klassifiziert. Seine Quertreiberei erprobt die Durchsetzung eines anderen Vernunftbegriffs, der hinreichend resistent ist, um dem Wahnsinn, der im Labyrinth droht, Einhalt zu gebieten und gleichzeitig die Übergänge „zwischen differenzierten Linien“ zu bestreiten, womit lediglich diskontinuierliche, temporäre Zentren im Chaos zu bestimmen wären, die in der Dunkelheit und Einsamkeit des Labyrinths zu versinken drohen, sollte der ‚grüne Faden‘ reißen. Der Paradigmenwechsel, der sich damit abzeichnet, lässt den Anspruch der Vernunft fallen, auf unangreifbaren Prämissen zu basieren sowie Letztinstanz zu sein, und strebt danach, als Binnenrationalität gerechter Weise Verbindendes wie Unterscheidendes zwischen Heterogenitäten mitzudenken. Diese Denkart wurde in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von Wolfgang Welsch unter dem Begriff der ‚transversalen Vernunft’ in die Diskussion eingebracht, um nicht zuletzt selbst eine Brücke zwischen den antagonistischen Moderne- bzw. Postmoderne-Konzepten von Habermas und Lyotard zu schlagen: „Das Prozedieren dieser Vernunft führt freilich nicht zu restlosen Überblicken und letzten Synthesen, sondern bleibt unabgeschlossen sowie den materialen Rationalitätskonfigurationen verbunden und auf sie angewiesen. Die Leistungen dieser Vernunft liegen in den Übergängen, Absetzungen, Gegenzeichnungen, Zusammenhängen, Übertragungen.“120
119 Deleuze/Guattari 1977, 18. – Dies hatte sich schon mit dem Tod des Großvaters angekündigt, als er im Wald über eine Wurzel stolperte und darüber verstarb. (Aus 342) Das Stolpern über einen „Wurzelsstock“ (Aus 85) ist scheinbar auch ein typisches Missgeschick des legitimen Erben Johannes. 120 Welsch 1987, 140.
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Transversale Vernunft hält zur Devianz von linearer Logik an (ohne diese restlos zu dispensieren), zu einer gedanklichen Dispersion, die sich keinem genealogischen Tableau mehr fügt, sondern eine kapriziöse recollectio erforderlich macht, bei der aus der Anbindung von Heterogenem etwas (fast völlig) Neues aufscheinen kann, ohne dass die Divergenzen auf eine frühere – wie auch immer vergessene oder verschüttete – gemeinsame Hauptlinie zurückzuführen sind, womit die Frage nach der Herkunft obsolet wird. Heterogenitäten werden nicht angeeignet und integriert, vielmehr wird ihnen ihre Fremdartigkeit und Eigenheit belassen. Die antigenealogische Erbabschenkung, die den Herkunftskomplex auflösen will, bevorzugt freilich einen bestimmten Erbtransfer, doch dieser ist nicht wunschgemäß gestalt- und kontrollierbar. So gelingt es beispielsweise nicht, den sympathisch-naiven Romantiker und Utopisten Alexander im Haus unterzubringen (Aus 526). Andererseits kann der Schwager nicht (völlig) ausgeschlossen werden. Muraus Traum von der Realisierung der ‚Auslöschung‘ erfüllt sich nicht (vollends) nach Wunsch, was die „Eisenbergrichtung“ zur Chiffre einer unhintergehbaren Verschiebung (des Begehrens) zu lesen gibt: von Marias Einladung zum Abendessen und der Aussicht auf ein dionysisches Zusammensein („Ihr den Wein einschenken“, Aus 543) zu Eisenberg, von der ‚Auslöschung‘ zum Unzerstörbaren, vom idealisierenden Gedächtnis zur Anästhetik des Undarstellbaren, von der christlich-transzendentalen Erlösung zu einer jüdisch-demystifizierten Eschatologie, vom (Gambettischen) Enthusiasmus121 zur Eisenbergschen Gelassenheit, vom Begräbnistheater zum Traversenstück, vom Mythos der Identität zum Ethos des Anderen, vom Vergessen der Erinnerung (Loslösung vom Herkunftskomplex) zur Erinnerung des Vergessens (Zukunftskomplex). Aus dieser Warte wäre auch der literarische Komplex zu perspektivieren: Der Kanon, den die Forschung zur Auslöschung in der Regel als beliebig abgetan hat, weil er sich keinem (genea-)logischen Konzept fügte, ist als rhizomatisches Geflecht zu betrachten, das über weit verzweigte subkutane Gänge an neuralgischen Punkten den Auslöschungstext kreuzt. Es handelt sich auch hier um heterogene Linien, deren Affinitäten erst dadurch zu konturieren sind, dass sich die Auslöschung – zwangsläufig – (transversal) in diese Textur einträgt, um selbst zum Bindeglied zwischen heterogenen Texten zu werden und die künftige Anbindung von ganz anderen Texten zu ermöglichen.
121 Vgl. Derrida 1994, 350.
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Die Überwindung des Fotografiezeitalters, die den Zukunftskomplex eröffnen und den Übergang zu einer ‚anderen‘ Literatur und zu einem ‚anderen‘ Denken bewerkstelligen soll, zielt ferner auf eine Rejustierung der Realitätswahrnehmung, namentlich auf die Verlagerung von einer visuellen zu einer auditiven Kultur. Wie an dem Schlüsselsatz „Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen“ mehrfach durchexerziert wurde, mahnt der Protagonist der Auslöschung wiederholt das Beachten der Klangfarbe an. Er wird dabei zum Leser/Zuhörer, ja zum Konsumenten122 seines eigenen Textes (im Kopf). Es geht jeweils um Nuancen, die den (ohnehin nur halblauten, soufflierten) Wörtern und Sätzen abzuringen sind, ohne das Nicht- oder unfreiwillig Mit-Artikulierte zu übergehen, weshalb die Mitverschwörer Muraus (Maria, Eisenberg) auch der Sphäre des Hörens zugerechnet und mit dem Augenmenschen Spadolini kontrastiert werden. 123 Zudem sollte nicht übersehen/überhört werden, dass die Figur Schermaier, an der sich der ganze ethische Diskurs der Auslöschung bzw. die Kritik an seinen ethischen Verfehlungen entzündet, just aufgrund eines Hörvergehens ins Gefängnis und schließlich in ein Konzentrationslager kommt: Er hatte während der Naziherrschaft den verbotenen „Schweizer Sender“ gehört! (Aus 446) In seinem Buch Grenzgänge der Ästhetik unternimmt Welsch den Versuch, Möglichkeiten und Grenzen einer kulturellen Neuausrichtung zu eruieren, bei der der Kultur des Hörens ein größeres Gewicht zufallen soll. Diese ästhetische Rekonfigurierung strebt keineswegs die Etablierung eines neuen Leitsinns an, der die vielfach kritisierte „Okulartyrannis“124 beenden und den Sehprimat durch einen Hörprimat ablösen soll125, wohl aber eine neue ästhetische Gerechtigkeit, deren Kritik an der Tradition des von Platon zementierten sowie am Licht als Ursprung und Inbegriff des Guten ausgerichteten Visualprimats ansetzt und jenseits des „neuzeitliche[n] und moderne[n] Lichtpathos der Aufklärung“126 eine Stärkung des Hörsinns sowie eine Rehabilitierung der vernachlässigten anderen Sinne bewirken soll. Diese Kritik folgt abermals der Spur einer romantischen Ästhetik127 und führt entgegen der Be-stimmung durch die Muttersprache über
122 Vgl. Muraus „Gefräßigkeit“ bei der Zeitungslektüre. (Aus 409) 123 „Von Spadolini habe ich sehen und beobachten erst richtig gelernt, […] von Maria hören.“ (Aus 237) 124 Kamper1995, 54. 125 Gefahr und Wahnsinn der Hörigkeit wurden von Bernhard im Kalkwerk anhand der „Urbantschitschen Methode“ durchkomponiert. Vgl. Kw 194. 126 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, 237. 127 Ebd., 241, Anm. 18.
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Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein „zu einer neuen Betonung des Hörens“128. Die Vorzüge des Hörens und ihre Affinitäten zur Auslöschungspoetik liegen auf der Hand: „Der Akt des Hörens richtet sich auf Flüchtiges, Vergängliches, Ereignishaftes und entzieht sich anders als das Sehen der Möglichkeit des Nachprüfens, Kontrollierens und Vergewisserns.“ Damit ist das Hören dem JetztMoment verpflichtet und erfordert „das Gewahren des Einmaligen, die Offenheit für das Ereignis“.129 Während das Hören also (sich auf) die Lebendigkeit der herandrängenden Welt einlässt und sich als Sinn der Verbundenheit mit ihr präsentiert, hält das Sehen die Dinge auf Distanz und mortifiziert seine Objekte, wobei sich diese Objektivierung und die daraus resultierende vermeintliche Objektivität zugleich zur Herrschaftsgeste überhöht.130 Was die ästhetischen und ethischen Implikationen der Erbabschenkung anbelangt, ist die Präferierung des Hörens offenkundig über den Rabbiner Eisenberg mit dem den Text beschließenden singulären dialogischen Gesprächsmoment der Auslöschung verquickt, womit sich das Hören als Muraus Solipsismus begrenzender Sinn der Sozietät ausweist, das Zuhören als ethischer Akt der Hinwendung zum Anderen. Eisenberg bewahrt davor, dass „sich auf einmal alles [von selbst] auf[]hört“ (Aus 161). Einsicht in die Komplexität der Eisenberg-Figur gewährt vor allem der Hinweis, dass „das Abendland eine Hochrangigkeit des Hörens nicht nur aus einer überlagerten Frühzeit, sondern auch aufgrund seiner Begegnung mit der jüdischen Kultur“131 kennt. Lyotard referiert in Heidegger und „die Juden“ auf das „Gesetz des Hörens […], das dem Hörenden die Verzweiflung nicht erspart, niemals zu verstehen, was es sagt.“132 Dieses Gesetz des Hörens steht wiederum in Verbindung zum Opfer, denn der jüdische Gott ist „der Gott des unlesbaren Buches, der einzig Rücksicht gebietet und der untersagt, daß man sich durch die Aufhebung des Opfers, den Nervenpunkt der Dialektik, der Achtung und Achtungslosigkeit (des Guten und Bösen) entschlage. Diesem Gott kann nichts zum Tau-
128 Ebd., 243. 129 Ebd., 247f. 130 Ebd., 249. 131 Ebd., 245. 132 Lyotard 1988, 33.
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sche zurückerstattet werden, ja, er begehrt nicht einmal, als Zeichen der Wiedergutmachung, den Schmerz.“133
In Kontrast zu Heidegger, der „das als Seinsdenken eingeführte Denken des Anderen [als] eine Wiederherstellung des guten Hörens, eine gute Revolution des Seinsbezug“ vorsah, fasst Lyotard das jüdische Denken als eine hoffnungslose Geiselhaft auf, in der es „keine gute Weise gibt, Geisel zu sein“, da diesem „Elend“ nicht zu entkommen ist: „Man kann nur warten und sich (im Hinblick worauf?) in der Tugend des Hörens üben, die der Geduld bedarf und kein Ende hat.“134 Während K. im Prozeß niemanden hat, dem er ein Geständnis ablegen könnte (vgl. Pro 94), wandelt sich die Unterredung mit dem Rabbiner aus Wien in der verzweifelten Situation, in der sich Murau befindet, letztlich zu einer Art Beichte. 135 Nur Eisenberg darf die unerhörten Ungeheuerlichkeiten des geheimen Denkens ungefiltert und unzensiert vernehmen. Anders als die Mutter ist Eisenberg kein Gesprächszerstörer, sondern ein Zuhörer, der einem unverständlichen, fragmentarischen und dissoziierten Text mit einer zutiefst brüchigen und widersprüchlichen Geschichte trotz aller Fragwürdigkeit die Anerkennung nicht verweigert. Der genaue Inhalt des Gesprächs entzieht sich aber der Kenntnis der Leser.136 Dennoch dürften die beiden Junggesellen und Geistesbrüder ihnen nicht viel voraushaben, denn nach wie vor bleiben der Herkunftskomplex und das Erbe, „Wolfsegg, wie es liegt und steht, und alles Dazugehörende“ (Aus 650), ja die Existenz selbst unergründlich und unerklärlich. Murau und Eisenberg können demnach nicht wissen, was das Erbe resp. die ‚Auslöschung‘ bedeuten. Sie teilen ein Geheimnis, ohne es zu kennen.137 Just in diesem Zusammenhang wäre Hei-
133 Ebd., 34. 134 Ebd., 35. 135 Vgl. Butler 2007, 150f. 136 Auch hier wäre zu hinterfragen, ob überhaupt gesprochen wird bzw. was vernommen werden kann: vermutlich nichts als eine gequälte Stimme, ein Schrei. Vgl. Krewani 1992, 234. 137 Derrida 1994, 406. Insofern ist das Schweigen, von Adorno ebenfalls als mythologisches Charakteristikum ausgemacht, absolut steril. Es birgt keine geheimnisvolle Wahrheit, die irgendwann ans Licht zu bringen wäre. Vgl. Adorno 1979, 173. Der Abgrenzung des ihm gleichermaßen angelasteten Schweigens von jeglicher Mystik oder negativer Theologie hat sich Derrida ausführlich in Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989 angenommen.
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delberger-Leonhards Position bezüglich der nationalsozialistischen Verstrickungen des Erbes in der Diktion Kierkegaards als diejenige eines ‚Ritters des guten Gewissens’, Eisenbergs Annahme des bedingungslosen Geschenks hingegen als die eines „Ritters des Glaubens“138 zu bestimmen, was sich mit der Abschenkung/Abdankung/Danksagung und Annahme im letzten Satz in einem antidiskursiven Jetzt-Moment amalgamiert. Trotz nächster Nachbarschaft von gerechter Entscheidung und dem Schlimmsten139 vermag Eisenberg als „härterer Mensch mit [dem] […] klareren Kopf“ (Aus 234) die inhärenten Aporien und Differenzen zu denken und auszuhalten. Als Jude140 affiziert er das Nichts der Bestimmung und bürgt für ein unausgesetztes ethisches (Ge-)Denken (des Anderen), das das Auslöschungsprojekt vom nationalsozialistischen Projekt der Endlösung abgrenzt und diese Grenze weiterhin zu denken gibt.
3.5. (U N -) MÖGLICHE Ü BER -G ABE Ein letztes Mal sei die Szene in der Wolfsegger Küche aufgegriffen, in der die rationalistische Figur des Schwagers die Lektüre der Zeitungsartikel über den Unfall, d.h. die Vermittlung seiner (literarischen) Realität(en), mit einem „jetzt nicht“ zurückweist. Eisenberg hingegen nimmt Murau seine antiautobiografische Familien- und Lebensgeschichte sprichwörtlich und augenblicklich ab! Die geheime Wahrheit des Glaubens erscheint hier als absolute Verantwortung und als absolute Leidenschaft (des Denkens): „Eine Leidenschaft, die, dem Geheimnis überantwortet, sich nicht von Generation zu Generation vererbt.“141 Eisenberg fungiert als antithetische Figur zur Mutter, die Muraus Reden niemals Glauben schenkt und, wie mit der Siebenkäs-Szene in Kapitel 2.2.1. vorgeführt, ihn aufgrund von Fehldeutungen mit Gewalt, Liebes- und Nahrungsentzug sanktioniert. Wo die Mutter als Hüterin der Identitätslogik die Bibliotheken aus Furcht vor unvorhersehbaren und unbeherrschbaren Bedeutungen unter Verschluss hält, nimmt der Schriftgelehrte Eisenberg die ungeheure Gabe der
138 Kierkegaard 1986, 47ff. Bezogen auf das Initiationsschema bedeutet die Annahme des Geschenks, sich an jemanden zu binden. Van Gennep 1986, 37. 139 Die notwendige Perpetuierung der Auslöschungsgeste entspricht der Ethik, auf der Derrida in Gesetzeskraft insistiert, um die Differenz denken zu können. Vgl. Derrida 1991, 56ff. 140 Für Butler ist der Name ‚Jude’ gleichzusetzen mit dem Zugang zum Unendlichen. Butler 2007, 127. 141 Derrida 1994, 406f.
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‚Auslöschung‘ mit all ihren Unwägbarkeiten und Risiken entgegen und beweist somit seine hermeneutische Kompetenz angesichts eines jede Hermeneutik überwuchernden, fragwürdigen und zerfallenden ästhetischen Phänomens namens Auslöschung. Die Abdankung zugunsten Eisenbergs unterstreicht Muraus Unvermögen, die ‚Auslöschung‘ selbst zu (Ende zu) denken bzw. aus- und durchzuhalten. Die in Josef K. im Verlauf seines Prozesses reifende Erkenntnis, dass von den Frauen keine Hilfe zu erwarten ist, da sie alle für das Gericht arbeiten, ist für den Anti-Faust Murau längst Gewissheit, weswegen er die bis zur Verrenkung nach immer Höherem strebende Macht der Mutter brechen will. Als „letzter Erfüllungshorizont“ 142 weckt und lenkt das „Ewig-Weibliche“ (FII 12110/464) das (männliche) Begehren, verführt zur Inbesitznahme und Prokreation und bereitet somit das Terrain für Kontinuität, Tradition, Ökonomie und Gesellschaft. Es umschreibt die im Bezirk der Bürgerlichkeit subsumierten Begriffe von ‚Ordnung‘, ‚Normalität‘ und ‚Bildung‘, die auf eine Vorstellung von bürgerlicher Öffentlichkeit ausgerichtet sind. Dem widersetzt sich das klandestine Denken als sich stetig dekonstruierende diskontinuierliche Basis eines zölibatären Aufschreibesystems, indem es bar jeglicher Begierde ohne festgelegte Zielvorstellungen und demzufolge ohne steuernde und manipulierende Eingriffe zweckfrei mäandert, ohne das moralische Urteil der Leser zu fürchten oder sich aus ökonomischen Erwägungen den gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen anzupassen und zu unterwerfen. Diese erratische Strategie verhindert das Degenerieren des Kunstwerks zur Ware, da es Poesie als eine bedingungslose Verschwendungspraxis betreibt, die sich der utilitaristischen bürgerlichen Gesellschaft als Fremdkörper darbietet.143
142 Jochen Schmidt, „Die ‚katholische Mythologie‘ und ihre mystische Entmythologisierung in der Schluss-Szene des ‚Faust II‘“, in: Werner Keller (Hrsg.), Aufsätze zu Faust II, Darmstadt 1991, 387. 143 Vgl. Kamper 1995, 138, sowie Georges Bataille, „Der Begriff der Verausgabung“, in: ders., Das theoretische Werk Bd. 1, Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, 15 u. 23. Die Behauptung der Vollendetheit der Auslöschung reduziert ihre ästhetische Dynamik und degradiert den Text zum Kulturprodukt, seine Lektüre zu schnödem Kulturkonsum. Die Verfechter dieser Lesart müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, als Kulturkonsumenten die immanente Kultur- und Medienkritik des Bernhardtextes zu ignorieren, die sich jener Adornos und Horkheimers in der Dialektik der Aufklärung als vollauf anschlussfähig erweist, denn wie bereits mit Lyotards Begriff des ‚Widerstands’ klar geworden sein sollte, muss das ‚wahre’ aufklärerische
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Im Zuge der in Kapitel 2.2.3. erörterten Tauben-Szene zeichnete sich ab, dass die Ästhetik grotesker Übertreibung riskiert, mit dem Schlimmsten zu konvergieren, was für die gewünschte Etablierung einer neuen Hör-Kultur und der angedrohten „Ausrottung der Tauben“ heißt, dass es kein taxierbares Maß gibt, da sich der scheinbar untadelige ethische Imperativ der Erinnerung an Schermaier ungeachtet all der mnemonischen Aporien vor dem Hintergrund der TaubenSzene Vorstellungen der Endlösung annähert. Die Auslöschung illustriert diese Gefahr schonungslos und deutet in Anbetracht der irreduziblen Interdependenzen von Ökonomie, Ethik und Ästhetik im (nicht minder fragwürdigen) ästhetischen Selbstmord einen Ausgang aus dem Dilemma nur an. Als solch ästhetischer Suizid ist Muraus Ethos der Selbst-Verschwendung anzusehen: völlige Verausgabung bis an den äußersten Punkt, der die eigene Existenzgrundlage aufhebt 144 , alles (auf-)geben, Über-Gabe ohne Maßgabe. Das bedingungslose Geschenk der ‚Auslöschung’ ergießt sich in eine maßlos übertriebene, groteske Gabe, in einen Potlatsch. Eben diese Überschüssigkeit des ästhetischen Objekts145, die Exzessivität der Gabe146, wird von Derrida in Falschgeld nicht nur als wesentliche Differenz zum Gabentausch bestimmt, der in HeidelbergerLeonhards Interpretation dem Wiedergutmachungscharakter der Gabe entspräche, sondern gar als conditio sine qua non definiert: „Eine Gabenerfahrung, die sich nicht a priori irgendeinem Unmaß überließe, eine gemäßigte oder maßvolle Gabe wäre keine Gabe. Um zu geben und etwas anderes zu tun, als auf ihre Rückkehr im Tausch zu rechnen, muß die bescheidenste Gabe das Maß überschreiten.“147
Zum einen überbietet der Potlatsch der Erbabschenkung Eisenbergs Einladung ins Theater nach Venedig (Aus 20) kolossal, zum anderen widerspricht das bedingungslose Geschenk der für Wolfsegg üblichen Profitmaximierung. Muraus
Kunstwerk über eine unintegrierbare Struktur verfügen, damit es den Rahmen der unmittelbaren Rationalität verlassen und dem Betrachter eine Alternative zur zweckgerichteten Wahrnehmung bieten kann. Insofern präsentiert sich das Kunstwerk als Erbe des ersten Opfers, der nie wieder gutzumachenden Verfehlung und des ewig stellvertretenden Opfertods. Siehe Windrich 1999, 95 u. 107f. Vgl. Alexander García Düttmann, Kunstende. Drei ästhetische Studien, Frankfurt am Main 2000, 158f. 144 Vgl. Welsch 1996, 255. 145 Menke 1991, 138. 146 Vgl. Siebenkäs, der sein letztes Geld als Almosen verschenkt (Sk 324). 147 Derrida 1993, 55.
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asymmetrische Dankesgeste durchbricht die Ökonomie der Gabe und unterstellt das Geschenk der Ökonomie des Opfers. Wenn die bedingungslose Gabe überhaupt – bei allem, was über die jüdische Dimension der Eisenbergfigur und ihre Implikationen bezüglich Opfer und Schuld festgehalten wurde – auf das Feld der Wiedergutmachung ragen würde, so gälte es die Ökonomie der Gewalt und die Zirkulation des Hasses außer Kraft zu setzen.148 Heidelberger-Leonhard sowie mit Abstrichen Gößling erheben die Entgegennahme des Erbes/des Geschenks durch Eisenberg zum Skandal, weil damit den Juden ihre „Zwangsteilhabe am ‚ererbten Alptraum’“149 attestiert bzw. die Annahmegeste zur „Versöhnung der ‚Menschheitsgeschichte’“150 hyperbolisiert würde. Wie Derrida in Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen darlegt, ist der Vergebung indessen die gleiche Aporie inhärent wie der Gabe. Um den Akt einer Vergebung zu konstituieren, müsste sie als Verzeihung des Unverzeihlichen unmöglich bleiben. Noch in der Verzeihung dürfte das Unverzeihliche den Status der Unverzeihlichkeit nicht verlieren: „[D]ie Unmöglichkeit der Vergebung darf nicht aufhören, die Vergebung heimzusuchen.“151 Vielmehr müsste die Annahme der grotesken Gabe als zölibatärer Akt der Argumentation Düttmans zum Begriff der ‚Anerkennung’ folgen, dem dieselbe maßlose Bewegung zugrunde liegt. Demnach ist die Annahme des Geschenks bzw. das Anerkennen „ein Sein-lassen des anderen, Abbruch eines Kampfes, vorläufiges Resultat eines Prozesses, das den anderen sein läßt, was er als anderer ist und was das Anerkennen ihn erst sein läßt.“152 Dies wäre als Eisenbergs ‚Gelassenheit‘ angesichts der rationalen Ausdifferenzierung der Eigengesetzlichkeit der ‚Auslöschung‘ zu verbuchen. Die Akzeptierung des grotesken Geschenks ist im Sinne der jüdischen Dimension der Eisenberg-Figur so auszulegen, dass sie keine integrative Wirkung erzielt, also keine Versöhnung stiftet. Gleichwohl erkennt sie die Freundschaft der Junggesellen an und implementiert eine antigenealogische Erbvermittlung im Zeichen der Diskontinuität: Der Wolfsegger Besitzklumpen wird einer Kultur übereignet, die der Aneignung der Dinge gerade entsagt, das heißt ihnen jene Eigenheit belässt, die sie überhaupt erst zu (ethisch) befragbaren Gegenständen macht, wodurch sich die ethische Frage stets aufs Neue stellt.
148 Vgl. Derrida 1994, 428. 149 Gößling 1988, 60. 150 Heidelberger-Leonhard 1995, 190. 151 Derrida 2003, 38. 152 Düttmann 1997, 100.
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Um keine Missverständnisse (auch angesichts meiner Themenordnung) aufkommen zu lassen: Im (dislozierten) ‚Zentrum‘ des Textes steht nicht der ethische Akt der Erinnerung an das Vergessen(e), sondern der Traum von einem ästhetischen Ereignis, das die metaphysischen Fesseln in einem explosiven Augenblick höchster Intensität zerreißt, die erschütternde Sensation einer plötzlichen Verschmelzung von Kunst und Wissen, die die im Aufschreibesystem von 1800 vollführte systematische Trennung zwischen Philosophie und Literatur153 aufhebt und im Schwindel eines Jetzt-Moments, in dem das Gedächtnissystem ausgehebelt wird, „alles [M]ögliche“ erfahrbar macht. Die Gabe zeitigt dieses phantastische Ereignis, von dem am Ende des Textes nicht mit Gewissheit zu sagen ist, ob es tatsächlich statthat oder nicht, das es jedoch „als Appell zur Erzählung und Ereignis der Erzählung“ geben m u s s : „Sie [die Gabe, T.M.] muß sich durch den Zufall [aléa] strukturieren lassen; sie muß zufallsbedingt erscheinen, auf jeden Fall als solche erlebt werden, als das intentionale Korrelat einer Wahrnehmung aufgefaßt werden, die absolut von der Begegnung mit dem überrascht wird, was sie jenseits des Horizontes ihrer Antizipation wahrnimmt: was schon phänomenologisch unmöglich scheint. Wie auch immer es mit dieser phänomenologischen Unmöglichkeit steht, eine Gabe und ein Ereignis, die vorhersehbar, notwendig, bedingt, vorprogrammiert, erwartet, berechnet sind, würden weder als Gabe noch als Ereignis erlebt werden – was ebenfalls von einer zugleich semantischen und phänomenologischen Notwendigkeit gefordert wird. Aus diesem Grund ist die gemeinsame Bedingung der Gabe und des Ereignisses eine gewisse Unbedingtheit […]. Das Ereignis und die Gabe, das Ereignis als Gabe, die Gabe als Ereignis müssen einfallartig, unmotiviert – zum Beispiel interesselos – sein. Entscheidend wie sie sind, müssen sie das Raster [trame] zerreißen und das Kontinuum einer Erzählung unterbrechen, zu der sie gleichwohl auffordern; sie müssen die Ordnung der Kausalitäten stören: augenblicklich.“154
Die Entziehungs- und Auslöschungsstrategien der Junggesellenmaschine, der Schweige-, Ankündigungs- und Aufschubgestus des Textes halten die ‚Auslöschung’ in einem sterilen und irrealen Übergangsstatus, dessen Realisierungspotentiale unausgesetzt von Aporien und Absurditäten durchkreuzt werden. Damit aber folgt der Text, der nichts Anderes als eine Gabe darstellt, exakt den Unmöglichkeitsbedingungen, die Derrida für die Gabe als konstitutiv beschreibt:
153 Kittler 2003, 209. 154 Derrida 1993, 160.
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„Es ist die Unmöglichkeit des Ereignisses, die das Maß für seine Möglichkeit gibt. Die Gabe ist unmöglich, und nur als unmögliche kann sie möglich werden. Es gibt kein ereignishafteres Ereignis als eine Gabe, die den Tausch, den Gang der Geschichte, den Kreislauf der Ökonomie unterbricht. Es gibt keine Möglichkeit der Gabe, die sich nicht als etwas präsentiert, das sich nicht präsentiert; sie ist das Unmögliche selbst.“155
Auslöschung ist ein Text, der den Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen vorführt, bis zum Äußersten (seinen) Eigensinn reklamiert und sich metaphysischen Ordnungs- und Zentrierungsbemühungen widersetzt. Dieser Überschuss jenseits der Logik ist die Bedingungslosigkeit der ästhetischen Autonomie, die sich dem Leser als Gabe des literarischen Textes darbietet. Diesen unkalkulierbaren Überfluss mitzudenken, ist die Herausforderung der Leser, wofern sie gewillt sind, sich dieser ungeheuren Auf-Gabe wieder und wieder zu stellen. Vermittelt wird „die Bedingung für alles Gegebene überhaupt“156, das ‚es gibt’ als unendliche Leerstelle, der ästhetische Raum als Ereignispotential, der das Gedächtnis in seiner phantastischen Präsenz in Spannung ver-setzt, weil er – „entsetzlich“157 (Aus 531) – die Unendlichkeit und „alles [M]ögliche“158 sowie ein jenseits aller Darstellbarkeit Undarstellbares erahnen lässt. Die Phantasie des Lesers über-schreibt diese unendliche(n) Lücke(n), die der Text hinterlassen hat. Die Auslöschung als phantastisches Ereignis hat nur im Kopf des Lesers statt. Der Text ist die materiale Formation, die das geheime Denken für seine Überund Fortgänge durchlaufen musste. Buchstaben und Fehler sind Widerstandsreste, in die das okkulte Denken seine Spuren eingetragen hat. Der manifeste Text ist Ab-fall vom geheimen Denken, Ver-rat, Un-rat, Asche (der verbrannten Schrift). Die Annahme des Unannehmbaren, die unaufhaltsame Flüchtigkeit des Seins (der Zeit), der sich beängstigend und ständig (wieder) öffnende (und Erinnerung fordernde) Zukunftskomplex, unaufhörliche Verwundung und Chance – dieses bedingungslose Geschenk, das (zur) Annahme (auf-)fordert und (Ver-)Antwort(ung) (er-)fordert –, diese Gabe anzunehmen ist die schwindelerregende Aufgabe des Lesers. Jetzt. Hier. Immerfort…
155 Derrida 2003, 29. 156 Derrida 1993, 76. 157 Vgl. Lévinas 1997, 74. 158 Vgl. Ge 16: „Nur dadurch, daß wir Handlungen und Dinge als Handlungen und Dinge bezeichnen, die diese Handlungen und Dinge überhaupt nicht sind, weil sie diese Handlungen und Dinge überhaupt nicht sein können, kommen wir weiter, nur dadurch, sagte Oehler, ist etwas möglich, ist also alles möglich.“
Siglen
Thomas Bernhard
Aus Am Ge Gs Ko Kw Mon St Tm Ung Ur Ver Wa
Auslöschung Amras Gehen Goethe schtirbt Korrektur Das Kalkwerk Montaigne Der Stimmenimitator Der Theatermacher Ungenach Die Ursache Verstörung Watten
Hermann Broch
E
Esch oder die Anarchie
Franz Kafka
Pro
Der Proceß
Johann W. v. Goethe
WML WMW Wv FI / FII
Wilhelm Meisters Lehrjahre Wilhelm Meisters Wanderjahre Die Wahlverwandtschaften Faust I / Faust II
Robert Musil
Por
Die Portugiesin
Novalis
HvO
Heinrich von Ofterdingen
Jean Paul
Sk
Siebenkäs
William Shakespeare
Ham
Hamlet
Literatur
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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2014-07-29 13-55-48 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051180686|(S.
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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
2014-07-29 13-55-48 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051180686|(S.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2
Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.
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