211 45 8MB
German Pages 297 [300] Year 1985
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle
Band 85
Hanns Peter Holl
Gotthelf im Zeitgeflecht Bauernleben, industrielle Revolution und Liberalismus in seinen Romanen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. 1983 als Habilitationsschrift angenommen von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Holl, Hanns Peter: Gotthelf im Zeitgeflecht : Bauernleben, industrielle Revolution u. Liberalismus in seinen Romanen / Hanns Peter Holl. - Tübingen : Niemeyer, 1985. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 85) NE: GT ISBN 3-484-18085-4 ISSN 0081-7236 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Switzerland. Satz und Druck: Condrau SA, Disentis/Mustér, Schweiz.
Inhalt
ERSTER TEIL:
Die Harmonie der Welt
I. Versuch, einen Rahmen abzustecken oder Pegasus, Ackergäule und Flügelräder 1. Vertikal 2. Horizontal II. Volk und Volksschriftsteller 1. Gotthelf-Rezeption 2. Goethe und der Dorngriitbauer 3. Vom Nutzen der Bildung 4. Das Selbstverständnis Gotthelfs als Volksschriftsteller a) In den Vorworten der Romane b) In den Briefen 5. Gotthelf und die Leserforschung
3 6
12 16 18 21 26 32
III. Der Bauer - eine weltgeschichtliche Betrachtung
36
IV. Der Bauern-Spiegel (1837) 1. Wie ein Verdingknabe zum Intellektuellen wird 2. Liebe und Vernunft sind Wärme und Licht 3. Leben angesichts des Todes
43 53 64
V. Geld und Geist (1843/44) 1. Das wahre Glück des Menschen 2. Garten des Friedens und Wirbel der Welt 3. .. .des zeitlichen Lebens ewige Bedeutung 4. Vater und Mutter VI. Anne Bäbi Jowäger (1843/44) 1. Zur Entstehung des Anne fià'èi-Romans 2. Anne Bäbi 3. Vikari und Doktoren 4. Zwei Bücher 5. Papali und Marnali oder Vernunft und Liebe
67 70 77 80
92 95 99 104 110
V
VII. Leiden und Freuden eines Schulmeisters (1838) Uli der Knecht (1841), Uli der Pächter (1849) Erlebnisse eines Schuldenbauers (1853) Michels Brautschau (1848) 1. 2. 3. 4. 5.
Gemeinsamkeiten Wehrdi und der Schulmeister Hagelhans und Uli Stierengrind und Hans Joggi Michel
115 117 131 145 151
ZWEITER TEIL: D a s Z e r b r e c h e n der H a r m o n i e
I. Grosse und kleine Politik 1. Geschichte Berns in Gotthelfs Zeit 2. Staatskrise, Religionskrise, Zeitenwende
161 174
II. Der Herr Esaù (1844) 1. Zur Entstehung des Romans 2. Der Zeitgeist ist Schwindel 3. Das Schützenfest in Chur
178 181 184
III. Der Geltstag oder Die Wirtschaft nach der neuen Mode (1845) 1. Alkohol und Politik 2. Das Leben auf der Gnepfi 3. Der fromme Götti
192 195 201
IV. Jakobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz (1846/47) 1. Jakob und seine Grossmutter oder Zeitgeist und Ordnung Gottes 2. Handwerksburschen
203 209
V. Käthi die Grossmutter (1847) 1. Gotthelf und Brecht 2. Käthi als Idylle und Apokalypse
217 224
VI. Die Käserei in der Vehfreude (1850) Zeitgeist und Bernergeist (1852) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Um 1848 Felix und Eglihannes Das Frankfurter Parlament Der Roman als Tragödie Straussenhandel, Zellerhandel Alter und neuer Glaube Gotthelf und Keller
230 232 238 245 250 257 265
VII. Die Armennot (1840)
275
BIBLIOGRAPHIE
283
VI
Erfühlt der Zeiten ungeheuren Bruch Undfest umklammert er sein Bibelbuch. In seiner Seele kämpft, was wird und war, Ein keuchend hart verschlungen Ringerpaar. Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet Mich wundert's nicht, dass er Dämonen sieht! C.F. Meyer: Huttens letzte Tage, XXXV.
ERSTERTEIL
Die Harmonie der Welt
Es ward dem Änneli ganz eigen ums Herz, als sie diese Einigung zwischen Himmel und Erde erkannte, und wie eben deswegen alles so schön und herrlich sei und so wunderbar anzuschauen, weil Friede sei zwischen Himmel und Erde, der Himmel seine Fülle spende, die Erde den Himmel preise. (VII, 89)
I. Versuch, einen Rahmen abzustecken oder Pegasus, Ackergäule und Flügelräder
1. Vertikal Dichtung, Kunst, Kiinstlertum - so nimmt eine verbreitete Vorstellung an und kann sich dabei auf würdige Zeugen berufen - hätten mit dem ungebundenen Walten der Phantasie, mit dem Aufstieg in immer freiere Höhen zu tun; die Erdenschwere, die Pflichten des Alltags, der Broterwerb, die Enge des Berufs, die materielle Seite des Lebens überhaupt seien dagegen dem freien Fluge des Geistes oder der Seele hinderlich. Man könnte an Jean Pauls Albano de Cesara im Titan erinnern, an Wilhelm Büschs Balduin Bählamm oder an Lessings Fabel vom Vogel Strauss, der trotz seiner Flügel nicht vom Boden loskommt und mit jenen Dichtern verglichen wird, die »mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und Sterne zu erheben drohen, und dem Staube doch immer getreu bleiben«1. Die romantische Poesie sei, so Friedrich Schlegel im berühmten Athenäumfragment Nr. 116, »allein unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«. Von Tasso sagt die Prinzessin: »Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum«, und Grillparzers Sappho sagt von sich selbst: »Ich bin den Göttern heilig.« Wie Aladins Wunderlampe kann die Phantasie alles erschaffen, und grosse Gedanken nennt man gerne Höhenflüge, die Seele hat Flügel, aber sie verliert ihre Flugfähigkeit, wenn irdische Verhältnisse sie beschweren oder ihre Flügel stutzen. Das Symboltier der Musen ist Pegasus, auch Hippogryph genannt, ein edles Tier, das für die niedrige Arbeit vor dem Pfluge ungeeignet ist, weil seine Flügel auf dem Acker nutzlos und störend sind. Schiller erzählt in seinem Gedicht Pegasus im Joche, wie ein hungriger Poet dieses Pferd einem plumpen Bauern namens Hans verkauft. Zunächst vor einen Karren gespannt, den er umwirft, wird Pegasus, nach ähnlichem Misserfolg vor einer Kutsche, zur Strafe auf schmale Kost gesetzt und schliesslich zusammen mit einem Ochsen vor den Pflug gespannt: 1
Gotthold Ephraim Lessing: Werke Bd. 1, München 1970 (Göpfert), S. 238 3
Und Phöbus' stolzes Ross muss sich dem Stier bequemen.
In seiner »Flugbegierde« verkannt und durch zu grobe Arbeit überfordert, bricht »das edle Götterpferd« zusammen und muss sich zudem noch laute Schelte und Peitschenhiebe gefallen lassen. Glücklicherweise kommt ein Jüngling des Weges, offenbar ein Musensohn, denn: Die Zither klingt in seiner leichten Hand, Und durch den blonden Schmuck der Haare Schlingt zierlich sich ein goldnes Band.
Der Jüngling erhält das Musenross zu einem Proberitt. Kaum ist er aufgesessen und führt sicher die Zügel, kommt das wahre Wesen des Tieres zum Vorschein: . . . königlich Ein Geist, ein Gott erhebt es sich, Entrollt mit einemmal in Sturmes Wehen Der Schwingen Pracht, schiesst brausend himmelan, Und als der Blick ihm folgen kann, Entschwebt es zu den blauen Höhen.
Der Herzog in Goethes Torquato Tasso behauptet zwar: Und wer derDichtkunst Stimme nicht vernimmt, Ist ein Barbar, er sei auch wer er sei,
aber nicht nur die Dichtkunst, Apollo und die Musen, werden mit dem Geistigen und Hohen, dem Schönen und Erhabenen und Erhebenden gleichgesetzt: überhaupt alle Kultur und Zivilisation, Aufklärung, Wissenschaft, Lesen und Schreiben, Schule, Universität, Bildung und Wissen, jegliche Verfeinerung, die durch den Geist bewirkt wird, unterscheidet offensichtlich den Menschen vom Tier und vom Barbaren. Die zivilisatorische und kulturelle Höhe kann also in vielen Bereichen sichtbar werden, nicht nur in Kunst und Dichtung: vom Häuserbau bis zu den Tischsitten, von der Liebe bis zum Begräbnis, von der Kleidermode bis zur Hygiene, in der Geselligkeit, im Privatleben, in der Wirtschaft, im Staat, in der Religion. Das Gegenteil des Höhenfluges und Hochstrebens ist die Unfähigkeit, sich aus dem Staub zu erheben: das Niedere, Rohe, Gemeine, Schmutzige, Gewalttätige, das Dumme, Dumpfe und Beschränkte, das Primitive und Wilde, die Unwissenheit und Unweisheit, der Aberglaube, das Nichtgekonnte, Unaufgeklärte und Unfeine. Dieses Niedere, so scheint es, ist unpoetisch, da ungeeignet zum Höhenflug. Die Entgegensetzung eines Hohen und eines Niederen, so wie beide bisher skizziert wurden, wird aus dem abstrakten Spiel befreit, sobald man beide auf eine konkrete geschichtliche Zeit anzuwenden versucht. 4
Dabei dürfte sich mit Sicherheit nachweisen lassen, dass in allen Gesellschaften, die Künste und Wissenschaften kannten und pflegten, nur wenige Anteil an diesen nehmen konnten. 2 Auf zehn bis zwanzig »Ackergäule« kam bestenfalls ein »Pegasus«. Jahrhundertelang war das einfach ganz normal, weil die wirtschaftlichen Voraussetzungen nichts anderes gestatteten.3 Justus Moser schrieb im Jahre 1771: »Ich fühle, dass das viele Buchstabiren und Schulgehen unsere Jugend vom Spinnrocken z i e h t . . . In der That aber sehe ich doch eigentlich nicht, was das Schreiben einem Ackermann sonderlich nütze . . . Was die Mädchen betrifft o ich möchte keines heiraten, das lesen und schreiben kann.« 4 Die Frau von Gotthelfs Vorgänger Fasnacht in Lützelflüh, die Bauerntochter Katharina Lüthi, soll des Schreibens unkundig gewesen sein. Und der preussische Politiker und Historiker Chr. Wilh. von Dohm schrieb im Jahre 1796: »Der gemeine Mann wird zu allen Zeiten nur wenig lesen, und ich nehme keinen Anstand zu sagen - er muss nur wenig lesen.«5 Auch Schiller gibt ja seinem Plan einer »ästhetischen Erziehung des Menschen« nur »in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln«6 eine Chance. Moser, von Dohm und Schiller haben noch die vorindustrielle Gesellschaft vor Augen, in der 60-80% der Bevölkerung eines Landes im Agrarsektor arbeiteten. Aber auch in einer modernen Industriegesellschaft wie der BRD hat sich der Anteil der Abiturienten unter den Schulabgängern von 1952 bis 1974 zwar von 2,7% auf 13,3% erhöht;7 aber die Gebildeten sind auch hier in der Minderzahl. Versucht man, diese vertikale Orientierungslinie und ihre Tendenzen für das Gotthelf-Verständnis fruchtbar zu machen, so muss vor allem bedacht werden, dass dieser Autor nicht nur ein bedeutender Dichter, sondern auch Pfarrer war, d.h. dass er die Flugfähigkeit der Seele besass, diese aber mit seinen gesellschaftlichen Aufgaben verband, dass er einerseits Künstler, andererseits für eine Gemeinde verantwortlich war, dass er taufte, predigte, beerdigte. Hölderlin sträubte sich gegen das Pfarramt, Mörike liess sich frühzeitig pensionieren; Gotthelf ist ohne Widerspruch oder Spaltung Dichter und Pfarrer in einem. 2
3
4
5 6
7
vgl. Gerhard Lenski: Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, Frankfurt a.M.1977, S. 280 und S. 514ff vgl. Carlo M. Cipolla: Wirtschaftsgeschichte und Weltbevölkerung, München 1972, S. lOOff zit. nach Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, München 1977, S. 54 ebenda S. 55 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke Bd. 5, München 1962 (Fricke/Göpfert), S. 669 Bernhard Schäfers: Sozialstruktur und Wandel der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1976, S. 276
5
Das zweite Problem der vertikalen Orientierungslinie ist ein soziales Problem. Die zitierten Äusserungen Mosers und von Dohms scheinen, auf den ersten Blick, mit ähnlichen Aussagen Gotthelfs vergleichbar (s.u. S. 18ff.). In Wirklichkeit lag ihm, dem Schüler Pestalozzis, kaum etwas so sehr am Herzen wie die Bildung der unteren Schichten oder, wie er sagte, die Entsumpfung des Volkes (5, 16), die Entsumpfung der Seelen (4, 155). Dabei, so könnte man sagen, war er fähig, sowohl den Pegasus als auch Ackergäule zu lenken. Aber eigentlich ist dieses Bild ein Notbehelf; für Gotthelf müsste ein Symboltier erst noch gefunden werden, denn er stellt einen ungewöhnlichen Dichtertypus vor. Vielleicht eignet sich sein Pseudonym Jeremias Gotthelf am besten als Symbol: Jeremias, der Prophet; Mias, der arme Knecht; Gotthelf als einer, dem Gott geholfen und der in wahren christlichen Treuen auch andern helfen möchte (I, 379). In einem Brief bekennt er einmal: dass ich etwas an mir habe von einem mutwilligen Füllen, welches auf üppiger Weide steht, bald frisst und bald springt, seines Lebens froh ist, nicht daran denkt, dass ihm jemand zusieht, sich seiner freut oder über ihns sich ärgert (6, 48). In einem anderen Brief behauptet er: dass ich es habe wie ein alter Reitergaul, der erst, wenn er warm wird, ordentlich ausgreift (6, 71). Aber in einem Brief an seine Cousine Emilie Graf deutet er beide Aspekte - Ackergaul und Pegasus - an: Sie wissen, ich habe Nerven wie ein Ross undgeniesse von Natur eine formidable Ruhe, und doch muss auch ich mehr und mehr acht auf mich haben und abbrechen ... Es ist ein herrliches Gebiet, das Gebiet der geistigen Produktionen, sei es auf welchem Felde es wolle, aber schwelgen darin darf der Sterbliche nicht, er darf nur nippen, mehr verträgt sein sterblicher Teil nicht. (5, 255)
2. Horizontal Die Welt - vertikal erfahren - kann für den einzelnen, sehr eng bleiben. Im 19. Jahrhundert setzte ein starker Abbau der Vertikalen zugunsten der Horizontalen ein. Naturwissenschaft, Technik, materialistische Philosophie und Sozialismus schienen Religion, idealistische Philosophie und Künste zu verdrängen. Gotthelfs Freund, der Basler Theologe Karl Rudolf Hagenbach, schrieb an den Dichter: »Die alten Klöster stürzen ein und die Schienen zur Eisenbahn werden schon bereitet. Ob es auch da heissen wird: bereitet dem Herrn den Weg?« (5, 358) Der Satz spiegelt einen epochalen Bruch wider, der noch in Robert Musils Essays reflektiert wird. Im Mann ohne Eigenschaften sagt Ulrich zu Agathe: »Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl 6
auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!«8 Die Eisenbahn zuerst und vor allem vergrösserte den Horizont der Europäer in die Weite und Breite. War das Symboltier der Musen das Flügelross, das die H ö h e suchte, so wurden das »Dampfross« oder das »eiserne Haustier« Bezeichnungen für die Eisenbahn, die W e i t e n erschloss. Vom rollenden Flügelrade lautet der Titel einer Sammlung nachgelassener Schriften von Max Maria von Weber, dem Sohn des Komponisten, der Eisenbahnfachmann war und »die Poesie der Schiene« entdeckt haben und der Schöpfer der »technischen Novelle« gewesen sein soll.' »Jedermann kennt das Flügelrad als Symbol auf Fahrplänen, Prospekten und Uniformen von Bahnbeamten.« Die Freiheit des Aufschwungs ist hier verloren, die Flügel am Rad deuten auf die Geschwindigkeit, die in die Weite und Ferne führt. Der Herausgeber von Webers Schriften sagt: »Unvergleichlich mächtiger als Ross und Wagen, als Ruder und Segel ist der neue gewaltige Motor unserer Tage, der Meeresschlösser und rollende Ortschaften adlerschnell dahinführende Dampf.«10 Die erste deutsche Eisenbahn, die am 7. Dezember 1835 auf einer sechs Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth ihren Betrieb aufnahm, wurde von einer Lokomotive namens »Adler« gezogen. Als der dänische Dichter Hans Christian Andersen nach Nürnberg kam, beschrieb er seine Eindrücke und Gefühle bei der Eisenbahnfahrt mit folgenden vielsagenden Worten: »Oh, welche Grosstat ist doch diese Erfindung! Man fühlt sich so mächtig wie ein Zauberer der alten Zeit! Wir spannen unser magisches Pferd vor den Wagen, und der Raum entschwindet; wir fliegen wie die Wolken im Sturm, tun es den Zugvögeln nach! Unser wildes Pferd schnaubt und prustet, aus seinen Nüstern quillt der schwarze Rauch. Schneller konnte Mephistopheles nicht mit Faust auf seinem Mantel fliegen! Durch natürliche Mittel sind wir in unserer Zeit ebenso mächtig, wie man im Mittelalter es nur vom Teufel glaubte, unser Scharfsinn hat ihn eingeholt, und ehe er sich's noch versieht, sind wir an ihm vorbei.«" Heinrich Heine berichtet in Lutetia weniger hochfliegend über die Eröffnung der Eisenbahnlinien von Paris nach Rouen und Orléans im Jahre 1843. Diese Eröffnung habe nämlich eine »Erschütterung« verur8
Robert Musil: Gesammelte Werke Bd. 1, Hamburg 1978 (Frisé), S. 751 Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Schriften Bd. 5, Frankfurt a.M. 1981, S. 28 ff 10 ebenda S. 34 " zit. nach Hermann Glaser: Maschinenwelt und Alltagsleben. Industriekultur in Deutschland vom Biedermeier bis zur Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1981, S. 10 '
7
sacht. »Während aber die grosse Menge verdutzt und betäubt die äussere Erscheinung der grossen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloss, dass unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muss unsern Vätern zumut gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsre Generation darf sich rühmen, dass sie dabei gewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum g e t ö t e t . . .«'2 Das Bewusstsein eines weltgeschichtlichen Abbruchs und Umschwungs durch die Industrialisierung und ihre Haupterscheinung, die Eisenbahn, sowie die Erfahrung, dass sich »die Farbe und Gestalt des Lebens verändert«, hat Gotthelf mit dem gleichaltrigen Heine gemeinsam. Er besuchte Ende September 1841 die Jahresversammlung der Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft in Basel, auf deren Traktandenliste auch folgende Themen standen: »Welche Vorteile kann die Anlegung von Eisenbahnen in der Schweiz für Industrie und allgemeinen Verkehr darbieten? Welchen Einfluss wird sie auf Sitte und Sittlichkeit ausüben? Und wie kann hiebei dem Verdrängen wünschenswerter, bei uns bestehender Sitten und Verhältnisse vorgebeugt werden?« (IX, 614) Am 30. September fuhren die Teilnehmer, unter ihnen Gotthelf, auf der neueröffneten Bahnstrecke von St. Louis nach Mühlhausen und zurück. Obwohl die Bahn noch offene, postkutschenähnliche Wagen hatte und kaum viel über 20 km/h fuhr, muss Gotthelf in ähnlicher Weise wie Heine »ein unheimliches Grauen« erfasst haben. Am Schluss von Jakobs Wanderungen lässt er seinen Helden im Jahre 1845 auf eben dieser Eisenbahn - sie war im Juni 1844 durch die Strecke Basel - St. Louis erweitert worden - seine Heimreise antreten. Schon am Tag vor der Abreise hat Jakob Angst. Er fürchtete sich vor der dämonischen Macht, welche die Menschen dahinführt akkurat wie der Teufel die armen Seelen der Hölle 12
8
Heinrich Heine: Sämtliche Schriften Bd. 5, München 1974 (Briegleb), S. 448f
zu, ohne dass sie was daran mehr machen können, wenn das Ding einmal im Lauf ist. (IX, 489) Am nächsten Morgen setzt sich Jakob - allweg mit Beben - doch auf die Eisenbahn, und - ähnlich wie dem schwärmerischen Andersen - ist es ihm, als müsste der Zug Flügel kriegen und gen Himmel fahren. Als die Städte und Dörfer vorbeisausen, da erschrak er ordentlich, wie es Heine an der »grossen Menge« beobachtet hatte. Und schliesslich macht Jakob - ähnlich wie Heines »Denker« - die Erfahrung, dass die Eisenbahn die Zeit in ein Ehedem und ein Jetzt scheidet. Das Ehedem sind die Zustände und die Reisemöglichkeiten der alten Agrargesellschaft; das Jetzt ist der Beginn der Industrialisierung Europas. Ehedem die in Staub und Schweiss zu Fuss zurückgelegten Wegstunden. Jetzt die Hast und schnelle Erreichung der Ziele, die Sucht, mit einem Wurf fìir das ganze Leben zu sorgen, die Ungeduld, welche am Ziel sein will, ehe man zur Reise ansetzt. Und dem Handwerksburschen Jakob drängt sich der Gedanke auf, ob nicht die Eisenbahnen viel schuld seien an den Schwindeleien der Zeit (IX, 492,493). Zu einem fast apokalyptischen Bild wird die Beschreibung des Eisenbahnunglücks bei Paris am 9. Mai 1842, von dem Gotthelf im Neuen Berner Kalender berichtet. Es ist zwischen Berichte über einen Grossbrand in Hamburg und ein Erdbeben auf Haiti eingefügt. Ein von zwei Lokomotiven gezogener Eisenbahnzug geriet zwischen Paris und Versailles in Brand. Die von aussen verschlossenen Wagen konnten von innen nicht geöffnet werden, so dass eine grosse Zahl Passagiere verbrannte. In zehn Minuten war das Unglück vollendet, aber wer schildert das Entsetzen, welches diese zehn Minuten füllte, wer das Unaussprechliche des Jammers, welcher die Waggons füllte, wer das Grässliche, eingeschlossen zu sein, von todbringenden Flammen umwogt!.. . Oh, es muss entsetzlich sein, wenn eine Mutter ihre Kinder anbrennen sieht, und sie hat keine Rettung für sie . . . eine Lustfahrt hatte sie ihnen bereitet, zum Feuertode sie geführt.. . Das war den Parisern ein feuriger Fingerzeig, wie niemand, der sein Haus verlässt, weiss, ob und in welchem Zustand er zurückkehrt in sein Haus. Es bleibt der grauenvolle Anblick eines Schlachtfeldes menschlicher Unvorsichtigkeit undfranzösischen Leichtsinns (XXIV, 25f) zurück. Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (Walter Benjamin), Lustfahrt, Feuertod, menschliche Unvorsichtigkeit - Gotthelf erfährt das Eisenbahnunglück als epochales Menetekel gegen Fortschritt und Modernität.13 Versucht man, diese horizontale Orientierungslinie für das GotthelfVerständnis fruchtbar zu machen, so erscheint der Dichter auf den ersten 13
vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 117ff 9
Blick als ein Feind des Modernen, ein Verteidiger des guten Alten. Gegen den »neuen Abschnitt der Weltgeschichte«, wie Heine sagt, scheint er sich gesperrt zu haben. Als Beispiele und Beweise dafür liessen sich, neben der Eisenbahn, zahlreiche Äusserungen anführen, wo er gegen neue Moden wettert. Einer seiner modernen Windbeutel ist der Baumwollhändler in den i///-Romanen; die Baumwolle war, neben der Eisenbahn, einer der Treibriemen der Industrialisierung. Auch verspürt Gotthelf offenbar keinen Drang in die Ferne, seine Werke spielen alle in der Schweiz, die meisten im Kanton Bern. In Wirklichkeit ist Gotthelf aber einer der ersten und ganz wenigen Autoren, bei denen die frühen Erscheinungen der Industrialisierung überhaupt registriert und kritisiert werden. Sein Schreiben bewegt sich nie allein im Reiche sogenannt reiner oder ewiger Poesie; es nimmt ständig Weltstoff auf und reagiert empfindlich auf Veränderungen. Deshalb wirken Erwähnungen von Eisenbahnen, Baumwollhändlern, Balzac (V, 298), Justus von Liebig (VI, 136), Sparkassen (IV, 91) oder Brandversicherungen (XI, 307) wie aufgerissene Vorhänge, hinter denen eine neue Zeit sichtbar wird. Es ist zwar ohne Zweifel auch bemerkenswert, dass in Gotthelfs Werken Napoleon I., Louis Philippe, Louis Bonaparte und Königin Viktoria, die Helvetik, die Revolutionen von 1830 und 1848 erwähnt werden. Das wichtigste und allgemeinste Ereignis aber, das globale Bedeutung gewann, weil es das menschliche Leben und das Antlitz der Welt stärker veränderte als alle Ereignisse seit der jüngeren Steinzeit, ist die industrielle Revolution. Einzelne Ereignisse oder Persönlichkeiten werden nur dann bewusst wahrgenommen und erfahren, wenn sie einen irgendwie persönlich betreffen. Die industrielle Revolution betrifft jeden, ob er dies merkt oder nicht und ob er dies will oder nicht. In seiner Sensibilität für globale Veränderungen kann Gotthelf gar nicht überschätzt werden. Ich rede nicht vom grossen Weltkampfe, sondern vom Kampf um mein liebes Vaterland, das ich mir nicht durch landlose Schlingel will verhunzen lassen, schreibt er zwar in einem Brief. Aber dann fährt er fort: Freilich ist dasselbe auch ein Stück Welt, und die Erscheinungen in demselben sind nicht aparte, sondern gehören mit zum Ganzen undfinden sich überall. (18, 67) Er erlebt den Zeitenumbruch wie eine Apokalypse. Geht überhaupt bös in der Welt, wird der jüngste Tag wohl nahe sein. (5, 304) Sonderbar, es wackelt alles, Altes und Neues. (6, 324) Am 28. Dezember des für die Geschichte Europas so bedeutsamen Jahres 1848 schrieb er an seinen Freund Fröhlich: Was sagst Du zum Weltlauf? Am klügsten tut man, wenn man einstweilen gar nichts sagt. Die Sterne stehn gar seltsam, und das Unerwarteteste ist das Ordinäre in dieser merkwürdigen Zeit. Ich habe manchen Sonntag über Stellen aus der Offenbarung gepredigt, es gefiel den Leuten. (7,170) 10
Die skizzierten vier Aspekte des Gotthelfschen Dichtens sollen im folgenden stets im Auge behalten werden. Es soll also gegenwärtig bleiben, dass für diesen Autor der Himmel und die Erde, der Geist und die Welt, das Hohe und das Niedere in einer eigenartigen Beziehung und Verbindung stehen. Und es soll ebenfalls gegenwärtig bleiben, dass seine scheinbar kleine Welt globale Probleme widerspiegelt. Die vertikale Achse entwirft das Problem der geistigen Höhe und Grösse - und das ihrer Verwirklichung in Zeit und Ort. Die horizontale Achse stellt die Frage nach Enge und Weite und inwiefern Gotthelfs Berner Bauern aus dem 19. Jahrhundert auch für uns Heutige noch Bedeutung haben.
11
II. Volk und Volksschriftsteller
1. Gotthelf- Rezeption Das Werk Gotthelfs wurde seit jenen knapp zwei Jahrzehnten, aus denen es stammt (1836-1854), und bis auf den heutigen Tag, auf drei ganz verschiedene Weisen gelesen, erlebt, durchforscht und interpretiert. Die e i n e n sehen in dieser Dichtung eine mehr oder weniger getreue Abschilderung von Zuständen, Sitten, Gebräuchen und Verhaltensweisen, kurz: die Gegenwartswirklichkeit der Berner Landbevölkerung jener - und teilweise sogar auch noch unserer - Zeit. Für eine solche Sichtweise gibt es eine Reihe guter Gründe. Der Pfarrer von Lützelflüh verlegte viele seiner Werke - ganz oder in einzelnen Szenen - an wirklich vorhandene Orte wie Bern, Burgdorf, Solothurn, Sumiswald oder Thun; andere Orte lassen sich erschliessen oder wurden von der lokalen Tradition zu Schauplätzen erklärt. Der des Berndeutschen unkundige Leser - oft sogar der Berner - benötigt ein Wörterbuch oder Glossar zur Lektüre. Das erste Wörterbuch veröffentlichte Gotthelfs Schwiegersohn Albert von Rütte 1858 im letzten Band der Gesammelten Schriften; das zweite und bisher letzte verfasste Bee Juker; es erschien 1972. Volkskundler und Dialektforscher haben Gotthelfs Werk als Quelle benutzt: Emanuel Friedli in seinem Werk Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, vor allem natürlich beim Band Lützelflüh; Gabriel Cunche in La société paysanne bernoise dans la première moitié du 19e siècle d'après les romans de Jeremias Gotthelf, Neuchâtel 1921, oder Eduard Strübin in seinen Grundfragen des Volkslebens bei Jeremias Gotthelf, Basel 1959. Und es ist ja auch wahr, dass der Gotthelf-Leser eine Menge erfahrt über die Schulmisere, über Taufsitten, Aberglauben, Rückständigkeit, Kartoffelkrankheiten, Tagespolitik, Wirtshauspatente, Alkoholismus, Quacksalberei und vieles andere mehr. Dies alles darzustellen, braucht es freilich kein besonderes literarisches Sensorium, und so ist bei den Vertretern der ersten Art das Verständnis für Gotthelfs Einmaligkeit und Grösse meist gering. Sein Werk gerät in Gefahr, zur Folklore degradiert zu werden. Der im Kanton Bern bekannte und hochgeachtete Sprachforscher Hans Sommer reiht in seinem Buch Volk und Dichtung des Emmentals, Bern 1969, Gott12
helf unter rund zwei Dutzend Emmentaler Autoren ein, von denen dem Nichtschweizer bestenfalls Simon Gfeller und Carl Albert Loosli dem Namen nach bekannt sein dürften. Ernst Balzli hat mit seinen GotthelfHörspielen seit den fünfziger Jahren auch deshalb so grossen Erfolg gehabt, weil er ohne Bedenken die hochdeutschen Partien des Dichters noch zusätzlich ins Berndeutsche übertrug. 1 Im Zusammenhang mit Balzlis Hörspielen müssen auch die in der Schweiz sehr populären Gotthelf-Verfilmungen von Franz Schnyder erwähnt werden: Uli der Knecht, Uli der Pächter, Anne Bäbi Jowäger, Geld und Geist, Die Käserei in der Vehfreude. Sie sind - im Gegensatz zu den Vorlagen - durchweg berndeutsch gesprochen und deshalb für den Ausländer meist nicht zugänglich. Mit Gotthelfs Werk verbinden sich für viele Schweizer - und vor allem natürlich für Berner - Vorstellungen von Biederkeit, Bravheit, Bodenständigkeit, Echtheit und Ursprünglichkeit. Die Popularität dieses Werks erstreckt sich sogar bis in kulinarische Bereiche: besonders zünftige oder auch üppige Speisen und Getränke werden bisweilen nach Gotthelfschen Figuren oder Lokalitäten benannt, obwohl sie mit beiden nicht das geringste zu tun haben. So muss der Hagelhans aus Uli der Pächter seinen Namen für ein »Hagu-Hans-Gotlett« hergeben, obwohl Gotthelf nie »Hagu-Hans« sondern immer Hagelhans schrieb.2 Gleichgültig, wie man sich zu dieser Popularität und Wirklichkeitsnähe des Gotthelfschen Werks stellt: sie sichern ihm seine Lebendigkeit in weiten Leserkreisen, und an dieser sollte auch ein ernsthafter Forscher nicht vorbeisehen. Die zweite Art von Lesern und Interpreten lösen Gotthelfs Werk mehr oder weniger stark vom Boden des Kantons Bern ab und geben ihm Allgemeingültigkeit. Schon ein Jahr nach dem Tod des Dichters sprach Wilhelm Heinrich Riehl in seiner Naturgeschichte des Volkes das Wort aus: »Shakespeare als Dorfpfarrer im Kanton Bern.«3 Gotthelf wird als einer der grössten Dichter aller Zeiten erfahren und mit Homer, Dante, Shakespeare und Goethe verglichen. Für diese zweite Art der Rezeption steht das Schöpferische in Gotthelf, die Poiesis, im Vordergrund; seine realistische Seite, die Mimesis oder Abbildung der Berner Verhält1
2
3
vgl. Hermann Wahlen: Ernst Balzli. Leben und Werk, Ostermundigen-Bern 1975 vgl. Walter Muschg: Gotthelf im Radio. Eine-notwendige Kritik, Bern 1954 vgl. Fritz Gfeller: Emmentaler Küche. Ein Rezeptbuch zu Gestalten und Geschichten von Jeremias Gotthelf, Bern 1979 Wilhelm Heinrich Riehl: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 3: Die Familie, Stuttgart/Tübingen 1855, S. 234f vgl. dazu in Otto Ludwigs Epischen Studien das Kapitel »Jeremias Gotthelf und Shakespeare«
13
nisse, tritt in den Hintergrund, wird gar nicht beachtet oder als unerheblich und nebensächlich abgetan. Auch die Popularität Gotthelfs, seine folkloristische Vermarktung, erscheint dann entweder gar nicht als Problem oder wird heftig bekämpft. Das Hauptbeispiel für diese zweite Sichtweise ist das bedeutende Buch von Walter Muschg Jeremias Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers, München 1931. Gotthelf sei, so Muschg, »seit langem dem Eifer der Volkserzieher und Lokalhistoriker ausgeliefert, die aus ihm einen Popanz aus christlicher Moral und Heimatliebe gemacht haben, wie er als Wirkungsform eines Genies wohl einzig dasteht. Man lese daraufhin das Eröffnungsgedicht in Sutermeisters >PrachtausgabeHermann und Dorotheapopulären< Leser des 19. Jahrhunderts primär auf dem Lande oder in der Fabrik zu suchen.«32 Für die potentiellen Leser über sechs Jahren nimmt Schenda in Mitteleuropa - folgende Prozentzahlen an: um 1770: 15%; um 1800: 25%; um 1830: 40%; um 1870: 75%; um 1900: 90% der Bevölkerung. »Das sind nur abgerundete und optimale Zahlen, und sie bedeuten nicht, dass ein solcher Prozentsatz der Bevölkerung auch wirklich las.«33 Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen keine Statistiken über die Benutzung der Volksbibliotheken vor. Schenda sieht aber die Leser der 30 31 32 33
Keller I.e. S. 44 Schenda I.e. S.442f ebenda S. 452,456 ebenda S. 444f 33
populären Lesestoffe im gehobenen und mittleren Bürgertum: »Der >gemeine< Leser ist ein Bürger.«34 Schendas Behauptungen werden durch die Berner Bauemhofchroniken35 bestätigt. Im ersten Band ist, die Bücher in den Höfen betreffend, lediglich von »in Bern herausgegebenen Kirchengesangbüchern, Katechismen und Bibeln«36 die Rede; die im zweiten und dritten Band angeführten Bücherverzeichnisse37 enthalten religiöse und belehrende Literatur, aber keine Belletristik. Sie stammen aus grossen Höfen, deren Besitzer nicht nur reiche Bauern, sondern auch Grossräte waren. Auch Gotthelfs Freund Joseph Burkhalter bildet als »lesender Bauer« eine Ausnahme, denn auch er war Gemeinderat, Schulkommissär, Präsident des Kirchgemeinderats, Amtsrichter und Grossrat (vgl. 5,108). Hat also Gotthelf mit seinen Büchern gar nicht das Publikum erreicht, das er erreichen wollte? Diese verwirrende Frage lässt sich nicht durch ein einfaches Ja oder Nein lösen. Man muss von der im 19. Jahrhundert üblichen Zweiteilung der Literatur in hohe und niedere, in Kunst- und Naturpoesie ausgehen. Auf der einen Seite steht die von Herder und den Brüdern Grimm stammende Gleichung: Naturpoesie = Volkspoesie = Nationalpoesie. Diese Art Dichtung, so kann man sich vorstellen, ist einfach, leicht verständlich, populär, natürlich, ethnisch geprägt (Dialekt, Sitten). Volkslieder, Märchen, die Volksbücher und das Nibelungenlied wurden als Naturpoesie angesehen. Die Kunstpoesie dagegen macht es sich zur Aufgabe, »zu keinem Volk und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Worts der Zeitgenosse aller Zeiten zu sein«.38 Diese Art Dichtung setzt ein hohes Bildungsniveau, Abstraktionsvermögen und geistige Schulung voraus, ist also nur für wenige zugänglich. Der Gegensatz Naturpoesie - Kunstpoesie wurde in den Jahren 1760 bis 1780 konstruiert und war bis in die späte Romantik lebendig.39 Wendet man diese Konstruktion auf Gotthelfs Werk an, so gehört er 54
35
36 37 38 39
34
ebenda S. 456,462 vgl. auch Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973, S. 90ff Berner Bauernhofchroniken Bd. 1 Bern 1948, Bd. 2 Langnau 1974, Bd. 3 Langnau 1979 ebenda Bd. 1,S. 96 ebenda Bd. 2, S. 199f; Bd. 3, S. 217ÍT s. Anm. 14 vgl. Kreutzer ferner: Heinrich Lohre: Von Percy zum Wunderhorn. Beiträge zur Geschichte der Volksliedforschung in Deutschland, Berlin 1902 und: Hermann Bausinger: Formen der > Volkspoesiet, Berlin 1968
zunächst ins Gebiet der Naturpoesie. Er sagt ja selber - allerdings mit Ironie - , seine Werke seien nicht Kunstprodukte, sondern Naturprodukte (5, 310), er preist die Volksbücher, die ihm als Vorbilder vorschweben (5, 332) oder vorgehalten (7, 230) werden. Eine s o z i a l g e s c h i c h t l i c h e Betrachtung zeigt aber, dass eine Trennung der Gesellschaft in »Volk« und »Herren« zu Gotthelfs Zeit schon fast ein Anachronismus war, obwohl Gotthelf diese Trennung noch macht. Durch die Industrialisierung und durch gesellschaftliche Veränderungen im 19. Jahrhundert - Gotthelf erlebte die Revolutionen von 1830 und 1848 - wurde diese Trennung überholt. Bei Gotthelf vollzieht sich eine eigenartige Mischung der entgegengesetzten Prinzipien. Seine Bauern können adelich (VII, 8 u.ä.) sein, und die Herren nennt er Schelme, Spitzbuben, Meineidige und Hosenscheisser (9,86). Für den Republikaner werden aus dem Volk die Mitbürger. Obwohl seine Figuren an Zeit, Ort und Dialekt gebunden sind, scheinen sie oft »zu keinem Volk und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Worts Zeitgenosse aller Zeiten zu sein«. Er will nicht vom grossen Weltenkampfe, sondern vom Kampf um mein liebes Vaterland reden und ist sich doch bewusst, dass die Erscheinungen in seinem Land nicht aparte sind, sie gehören mit zum Ganzen und finden sich überall (18, 67). Er schreibt für die Schweiz, aber er glaubt, dass der Mensch und die wahrhaft menschlichen Verhältnisse nicht fremd sind, sondern anheimelen müssen allenthalben (6, 249). Er ist leicht zu lesen und wurde deshalb mit trivialen und populären Schriftstellern in einen Topf geworfen, für manche gehört er ins Gebiet der Folklore; und doch kann man ihn mit Goethe und Shakespeare vergleichen, und sein Werk spiegelt Probleme eines ganzen Jahrhunderts wider. Seine Ansichten galten auch schon zeitgenössischen Lesern als altväterisch und überholt; und doch hat er Probleme gesehen, die auch heute noch nicht erledigt sind.
35
III. Der Bauer - eine weltgeschichtliche Betrachtung
Da der grösste Teil von Gotthelfs Werk auf dem Land und unter Bauern spielt, zählt ihn die Literaturwissenschaft zu den Bauerndichtern und reiht seine Werke unter die »Bauernromane« und »Dorfgeschichten« ein.1 Die Probleme dieser Gattung - sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann - sind schwieriger als es auf den ersten Blick scheint, denn wie kann man Albrecht von Hallers Alpen, Salomon Gessners Idyllen, Voss' Luise, Pestalozzis Lienhard und Gertrud, Claurens Mimiii, Gotthelfs Werke, Immermanns Oberhof, Heinrich Zschokkes Goldmacherdorf, Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten, die Judenbuche, Romeo und Julia auf dem Dorfe, Fritz Reuters Romane, Anzengruber, Ganghofer, Hermann Löns und Franz Innerhofer in eine Schublade bringen? Hein unterscheidet »Dorfdichtung, Volkserzählung, Idylle, Heimatdichtung, Dialektdichtung«.2 Für den deutschen Sprachraum darf man wohl als sicher annehmen, dass zu Gotthelfs Geburtszeit (1797) die dörperliche Dichtung des Mittelalters nicht mehr bekannt war. Von Neidhart von Reuentals Lyrik und dem Ring des Wittenweiler führt kein Weg zu Gotthelf. Auch mit den Bauerntölpeln in Schwänken und Fasnachtsspielen haben seine Figuren nichts gemein. Die neuere Bauerndichtung beginnt gegen Ende des 18. Jahrhunderts. »Nachdem der Bauer 200 Jahre lang in der deutschsprachigen Literatur noch nicht einmal als Spottfigur besonders beliebt war, erschien er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Gefolge bürgerlich-emanzipatorischer Literaturströmungen in idealischer Gestalt. - Hier liegen die Anfänge der neueren deutschsprachigen Bauernepik. Diese hat sich vor allem über zwei Entwicklungsstränge, die allerdings nicht scharf gegeneinander zu isolieren sind, herausgebildet: über die sozialpädagogische Literatur der bäuerlichen Kalender, Almanache, Erzählungen und Romane und über die der Tradition der Schäferdichtung verpflichtete ländliche Idyllik.«3 1
2
36
vgl. Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus - Konservativismus-Faschismus, Stuttgart 1975 und: Jürgen Hein: Dorfgeschichte, Stuttgart 1976 (Slg. Metzler 145) 3 Hein I.e. S. V Zimmermann I.e. S. 12
Was Gotthelf betrifft, kann man Zimmermann insofern zustimmen, als zwei ursprünglich voneinander unabhängige Traditionen bei ihm verbunden sind: eine mehr praktisch-realistische mit einer mehr idealischpoetischen, Ackergaul und Pegasus. Gotthelf wird, wie wir gesehen haben, auch heute noch auf die eine wie auf die andere Art gelesen. Auch ist es sicher richtig, dass die Bauernepik mit dem »Prozess der bürgerlichen Umgestaltung der Gesellschaft«, mit der »Wandlung Deutschlands vom feudalen Agrarstaat zum kapitalistisch organisierten Industriestaat« 4 zusammenhängt. Für die Schweiz und den Schweizer Gotthelf sollte man sich aber noch einige zusätzliche Tatsachen vergegenwärtigen. Wer dieses Land überhaupt nicht, nur oberflächlich oder nur aus der Literatur kennt, für den besteht es - und das ist ein Irrtum - nur aus hohen Bergen. Gersdorf z.B. schreibt seine Briefe »bis in Ihr unseren Blicken verborgenes Tal« (5, 329) und hofft, dass sie »oben in Ihren Bergen angelangt« (6, 237) seien. Und auch Zimmermann meint noch, Hirzel habe den philosophischen Bauern Jakob Gujer (»Kleinjogg«) »in den schweizerischen Bergen selbst entdeckt.« 5 Gujers Dorf Wermatswil liegt 550 m ü.M., der Hof in Rümlang 442 m ü.M. Und das Emmental ist gewiss ein Tal, aber nur am Quell der Emme gibt es hohe Gebirge (Hohgant, Schrattenfluh, Burst). Bis Burgdorf ist das Tal zwar sehr hügelig, aber gewiss kein Hochgebirge, auch die höchsten Erhebungen wie der Napf (1405 m) und die Lüderenalp (1144 m) liegen noch unter der Baumgrenze - und sind im übrigen als Lokalitäten für Gotthelf ohne Bedeutung. Dazu kommt, dass die Bauernromane Gotthelfs in jenem unteren Teil des Emmentals spielen, der sich zwischen Burgdorf und Solothurn, wo die Emme in die Aare mündet, erstreckt, dem sogenannten Oberaargau, und dieses Gebiet ist eher flach; dort verbrachte Gotthelf seine Jugend. Man bekommt den Eindruck, dass viele ausländische Leser sich das Emmental irrtümlich so vorstellen wie den hinteren Teil des Simmentais oder gleich wie das Berner Oberland oder einfach die Alpen. Das Berner Oberland kommt nur im 22. Kapitel von Jakobs Wanderungen vor. Dass die Schweiz und Gotthelfs Schauplätze mit »oben in Ihren Bergen« assoziiert wurden, hängt wahrscheinlich mit Hallers, Schillers und Claurens Bild der Schweiz oder auch mit Schweizerreisen zusammen. Hallers Alpen und Claurens Mimiii spielen im Lauterbrunnental, am Fusse der Jungfrau. Und Schillers Wilhelm Teil verbindet die Idee politischer Freiheit mit den Bergbewohnern. Den Rütlischwur leitet der Pfarrer Rösselmann mit folgenden Worten ein:
4 5
ebenda S. 17 ebenda S. 13 37
Bei diesem Licht, das uns zuerst begrüsst Von allen Völkern, die tief unter uns Schweratmend wohnen in dem Qualm der Städte, Lasst uns den Eid des neuen Bundes schwören. (II, 2)
Und in der Braut von Messina steht über Leidenschaft, Verbrechen, Ungemach und Pest: Dem Qualm der Städte wälzt es sich nach.
Und demgegenüber: Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte . . . (Vers 2580ff)
»Qualm der Städte« - das könnte eine Erinnerung an Hallers Alpen sein, wo ebenfalls die Reinheit und Gesundheit der Bergbewohner »der Städte Rauch« (Vers 162) und dem »Rauch in grossen Städten« (Vers 451) entgegengehalten werden. Selbstverständlich haben Haller und Schiller die Residenzstädte im Sinn und nicht die Fabrikstädte des 19. Jahrhunderts: die Alpen erschienen 1729 und der Teil 1804. In einem Widmungsgedicht, mit dem Schiller den Teil an Karl Theodor von Dalberg sandte, erscheinen die Schweizer als . . . ein Volk, das fromm die Herden weidet, Sich selbst genug, nicht fremden Guts begehrt.'
Dieses Bild der Schweiz als einer freien Berglerrepublik ist nicht erst im 18. Jahrhundert entstanden. Zu Beginn jenes Krieges, der in der Schweiz der »Schwabenkrieg«, in Deutschland aber der »Schweizerkrieg« heisst, im Jahre 1499, versuchte die Kriegspropaganda des württembergischen Herzogs Ulrich, die Schweizer als dummes (d.h. leicht zu besiegendes) Bauernvolk, als »Kuhschweizer«, hinzustellen, und an die Herberge der eidgenössischen Botschaft in Tübingen wurden als Provokation Kuhschwänze gehängt. Schon damals bedurfte es nur eines Sprunges, um vom Pegasus auf den Ackergaul umzusteigen. Die Deutschen verloren allerdings den Schweizer- bzw. Schwabenkrieg.7 Für Schiller lebten die Eidgenossen im Wilhelm Teil in einer Idylle, aber dieser Begriff hatte nicht den geringsten kitschigen Beigeschmack für ihn, sondern war ein poetisches Ideal wie Arkadien und Elysium.8 Obwohl Gotthelf Schillers Traktat Über naive und sentimentalische Dich6
7
8
38
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke Bd. 1, München 1965 (Fricke/Göpfert), S. 463 Ludwig Friedrich Heyd: Ulrich, Herzog zu Württemberg Bd. 1, Tübingen 1841, S. 57ff Schiller Bd. 5, S. 750
tung, in dem die Idylle definiert wird, schon als Student gelesen haben muss (vgl. 12, 9ff), wäre es nicht ganz richtig, Schillers Überlegungen blindlings auf Gotthelfs Werk anzuwenden. Trotzdem zeigen sich auch bei kühler Betrachtung wieder eigenartige Mischungen. Obschon Schiller die Schweiz nie gesehen hat, wurde sein Teil sogleich akzeptiert und zu einer Art nationalem Festspiel gemacht. Und obwohl Gotthelf, besonders in seinen ersten Werken ( Bauern-Spiegel, Schulmeister, Fünf Mädchen), das idyllische Bild von der Schweiz erschüttert, haben manche Teile etwa von Geld und Geist, Zeitgeist und Bernergeist, Käthi die Grossmutter, Das Erdbeeri Mareili oder Der Sonntag des Grossvaters stark idyllische Züge, scheinen nichts als Frieden und Glück zu enthalten, »die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschen«9 zu sein. Bei der Frage nach der Schweiz als Idylle und den idyllischen Zügen in Gotthelfs Werk kommt es ganz darauf an, ob man sich bei ihrer Beantwortung mehr des Pegasus, des Ackergauls oder des Flügelrads bedient. Idylle hat heute einen schlechten Beigeschmack, weil sie in Nostalgie und Agrarromantik zu geraten droht, d.h. eine hochentwickelte Industriegesellschaft wie die Schweiz zu einem Folkloreparadies macht, wobei ganze Bereiche der Welt einfach ignoriert und verdrängt werden. Wir wollen versuchen, einige für diese Probleme entscheidende Tatsachen ins Auge zu fassen. Der Leitgedanke dabei wird durch drei Grundtypen wirtschaftlicher Organisation gebildet, denen drei weltgeschichtliche Zeitalter entsprechen: 1. Jäger und Sammler 2. Landwirtschaft 3. Industrie. Uns interessieren die zweite und dritte Stufe, wobei wir den Bauern und seine Welt nicht als Gegenstand schöner Empfindungen betrachten, sondern ihn als Ernährer würdigen. Nach dem Ende der letzten Eiszeit, also etwa zwischen 10 000 und 8000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, begann mit den ersten Formen der Sesshaftigkeit, der Domestizierung von Tieren und der Erfindung besserer Werkzeuge die Zeit der Agrargesellschaften. Nach Schätzungen lebten am Vorabend dieser sogenannten landwirtschaftlichen Revolution auf der ganzen Erde nur zwischen zwei bis zwanzig Millionen Menschen.10 In den Agrargesellschaften arbeiteten achtzig oder mehr Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, also als Bauern. Man kann sich das Leben der alten Ägypter, Griechen und Römer oder das der Inder, Thailänder und Chinesen bis ins 19. und 20. Jahrhundert oder das mancher Südeuropäer vor Augen halten oder auch die Zustände in Gotthelfs Bauern-Spiegel und Schulmeister oder in den heutigen Entwicklungslän' 10
ebenda S. 745 Carlo M. Cipolla: Wirtschaftsgeschichte und Weltbevölkerung, München 1972, S. 91
39
dern, um sich ein ungefähres Bild von agrarischen Zuständen zu machen. »Drei Viertel der Menschheit leben noch auf dem Niveau der älteren Agrargesellschaften«, stellt Cipolla 1962 fest." Verglichen mit unseren heutigen Verhältnissen in Europa und Nordamerika, erscheinen diese Gesellschaften rückständig, sie haben wenig Technologie, sind arm, das Schulsystem ist unentwickelt, die Hygiene ist schlecht und die Sterblichkeit hoch. Obwohl im Agrarzeitalter wesentliche Erfindungen gemacht wurden wie Hacke und Pflug, Metallgewinnung, Wagenrad, Dreifelderwirtschaft, Töpferscheibe, Webstuhl, Flaschenzug, Pferdegeschirr, Hufeisen, Wasser- und Windmühle, Papier, Segel, Bergbau, Schiesspulver »blieb das Niveau der landwirtschaftlichen Technik bis zur industriellen Umwälzung niedrig«.'2 Um etwa 1750, als die Industrialisierung langsam einsetzte, lebten auf der Erde etwa 650 bis 850 Millionen Menschen, »das historische Maximum für die landwirtschaftliche Phase der Menschheitsgeschichte«.13 Aber nun begann - und dauert noch an - eine schnellere und radikalere Veränderung unserer Welt in kaum 200 Jahren, als in den vorangegangenen 10 000 bis 12 000 Jahren stattgefunden hatte. Es begann eine ungeheure Motorisierung, Verwissenschaftlichung und Verstädterung. Die Weltbevölkerung nahm sprunghaft zu: waren es 1750 noch 750 (±100) Millionen Menschen, so um 1850 schon 1 200 ( ± 100), um 1950 schon 2475 ( ± 5 % ) Millionen, um 1960 schon 2996 Millionen und heute über 4500 Millionen.14 »Die industrielle Revolution erfasst die ganze Welt und bewirkt Veränderungen, die nicht nur industrieller sondern auch gesellschaftlicher und geistiger Natur sind . . . « , sie geht »mit einschneidenden kulturellen und sozialen Veränderungen einher«.15 Wie Gerhard Lenski nachgewiesen hat, tendieren Agrargesellschaften zur Herrschaftsform der Monarchie.16 Im Laufe und in der Folge der industriellen Revolution verschwanden aber nicht nur die meisten Monarchen mitsamt dem Adel, die Macht der Religionen und Kirchen wurde ebenfalls erschüttert - sie vertrug sich nicht mehr mit Wissenschaft und Technik - , die Familienstruktur wurde stark verändert, die Emanzipation der Frauen begann. »People who depend upon the weather are always apt to be religious«, sagt Russell über die alten Zeiten. Alle Industriegesellschaften haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt und sich zu Demokratien entwickelt. Aber Industriegesellschaften haben auch die Tendenz zur Vermassung, da die Individualität weniger gelten darf, Kunst, Romantik und individuelle Leidenschaften weniger gefragt sind und in die Massenmedien 11 14 16
40
12 ebenda S. 65 ebenda S. 40 " ebenda S. 91 f 15 ebenda S. 91,96 ebenda S. 100 Gerhard Lenski: Macht und Privileg. Eine Theorie ¿1er sozialen Frankfurt a.M. 1977, S. 260ÍT
Schichtung,
flüchten.17 Für unseren Zusammenhang ist noch erwähnenswert, dass es bei der Tendenz der Agrargesellschaften zur Monarchie einige Ausnahmen gibt: »entweder der Staat war klein, oder er existierte zu einer Zeit, da Agrarwirtschaft noch relativ neu in diesem Gebiet war, oder es handelt sich um einen Staat, der in einer gebirgigen Region angesiedelt war«.18 Solche Staaten tendierten zu republikanischen Regierungen; die Schweiz ist ein Beispiel. Gotthelf lebte und schrieb während der ersten Phase der industriellen Revolution. Die Schweiz gehörte, nach England und Belgien, zu den ersten Ländern Europas, in denen sich die Industrialisierung durchsetzte. Folgende aus Bergiers Problèmes de l'histoire économique de la Suisse" ausgewählte Zahlen können den Umwandlungsprozess veranschaulichen: 1798 Gesamtbevölkerung 1 680 000 arbeitende Bevölkerung 760 000 davon (absolut): Landwirtschaft 500 000 Industrie 200 000 Dienstleistungen 60 000 davon (in %): Landwirtschaft 65,8 Industrie 26,3 Dienstleistungen 7,9
1850 2 392 740 1 080 000
1880 2 831 787 1 316 766
1960 5 429 061 2 515 000
620 000 350 000 110 000
557 739 550 824 208 203
292 000 1 275 000 948 000
57.4 32.5 10,1
42,4 41,8 15,8
11,7 50,4 37,9
Heute (1983) hat die Schweiz 6,3 Millionen Einwohner, aber nur noch 6% der Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft; die Zahl der Bauern hat sich seit Gotthelfs Geburt um das Zehnfache verringert. In diesem Zusammenhang sei noch auf die Vorworte Gottfried Kellers zu den beiden Teilen der Leute von Seldwyla hingewiesen. Im ersten Vorwort (1856) erwähnt Keller, »dass die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, dass kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiss, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben«.20 Es sind noch agrargesellschaftliche Verhältnisse. Bis zur Entstehung des zweiten Teils (1873/74), so stellt Keller fest, »hat sich mit dem wirklichen 17
18
" 20
Bertrand Russell/Dora Russell: Prospects of Industrial Civilization, London 1959, S. 42 Lenski I.e. S. 260f Jean François Bergier: Problèmes de l'histoire économique de la Suisse, Bern 1968, S. 58f Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 7, Erlenbach-Zürich und München 1927 (Fränkel), S. 1
41
Seldwyla eine solche Veränderung zugetragen, dass sich sein sonst durch Jahrhunderte gleich gebliebener Charakter in weniger als zehn Jahren geändert hat und sich ganz in sein Gegenteil zu verwandeln droht«.21 Keller erzählt aber in beiden Teilen ausschliesslich von der a l t e n Zeit. Diese kurze weltwirtschaftliche Skizze, so unvollständig sie sein mag - denn wir haben unzählige einzelne Industrien, Erfindungen, Produkte, Wissenszweige und Einrichtungen gar nicht erwähnt - soll genügen. Wir wollen versuchen, Gotthelfs Werk auch in diesem Rahmen zu betrachten. Die entstehenden Probleme gehören nicht ins Gebiet von Pegasus und Ackergaul, sondern zu den Flügelrädern. Der grosse Bauernepiker lebt und dichtet in einer Zeit, in der die Welt industrialisiert wird und die alten Lebensformen verschwinden. Daraus ergeben sich zwei Fragen. 1. Ist Gotthelf ein Yerherrlicher der alten, untergehenden Zeit und damit ein Kämpfer gegen alles Neue? Fasst er, wie etwa Johann Sebastian Bach die Polyphonie, eine jahrhundertealte Tradition des Lebens, Denkens, Fühlens und Glaubens vor ihrem Untergang noch einmal zusammen? Bei diesen Fragen müssten auch die Zweifel bedacht werden, ob er nicht an den wirklichen Leiden der Agrargesellschaften vorbeigesehen hat, denn diese waren keine »gute alte Zeit«, sondern, wenigstens für 80-90% der Menschen von Hunger, Krankheiten, Unmündigkeit und frühem Tod geprägt. 2. Wie wollen wir uns heute, in so vollständig veränderten Verhältnissen, im Atomzeitalter, in der »nachindustriellen Gesellschaft« (D. Bell) zu seinem Werk stellen? Da gibt es zwischen Bewunderung und Ablehnung viele verschiedene Möglichkeiten. Die 130 Jahre seit Gotthelfs Tod haben unsere Welt noch einmal und in noch rasenderem Tempo verändert als es zu seiner Zeit geschah. Er wusste noch nichts von den zwei Weltkriegen, ihren Ursachen und Folgen, noch nichts von den Völkern der Dritten Welt und dem Ende der eurozentrischen Geschichte, noch nichts von der Bedrohung durch die Bombe, der Energiekrise, den Weltraumflügen und dem Club of Rome. Wer, wie Döblin und seine Generation, »das Aufbrechen eines Abgrunds unter dem dünnen Boden des bürgerlichen Menschseins«22 erlebte, der sieht auch die Vergangenheit mit anderen Augen als vorher. »Ich meine damit nicht eine Rührung, eine vorübergehende Stimmung, sondern eine durchaus bleibende Veränderung«, sagt Max Frisch in seiner Rede Kultur als Alibi? Im Lichte und im Dunkel solcher Veränderungen muss auch das Werk des Pfarrers Bitzius gelesen werden. 21 22 23
42
ebenda Bd. 8, S. 2 Alfred Döblin: November 1918, Bd. 1, München 1978, S. 341 Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1976, S. 337
IV. Der Bauern-Spiegel (1837)
1. Wie ein Verdingknabe zum Intellektuellen wird Gotthelfs erster Roman lässt sich in seinem Bau mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Kellers Grünem Heinrich vergleichen. Jeder der drei Romane erzählt das Leben eines Mannes von der Kindheit an bis ins Alter von etwa dreissig oder vierzig Jahren. Wilhelm Meister heiratet am Schluss Natalie, Heinrich Lee besorgt »die Kanzlei eines kleinen Oberamtes«,1 Mias wird freier Lehrer des Volkes in einem Dorfwirtshaus. Der Bauern-Spiegel beginnt mit dem Kapitel Meine Kindheit, am Schluss ist Mias vierzig Jahre alt (1,298). Jeder der drei Romane gliedert die Lebenslinie seiner Hauptfigur in zwei bzw. drei deutlich unterschiedene Phasen. Wilhelm Meister und Heinrich Lee wollen Künstler werden, der eine Schauspieler, der andere Maler, beide geben aber ihre ersten Pläne zugunsten praktischer Tätigkeiten auf. Mias war zuerst Bauernknecht, im zweiten Teil des Buches versucht er dreimal vergeblich, in seinem Heimatdorf durch eine öffentliche Anstellung Fuss zu fassen, bevor er sich zu seiner ungewöhnlichen Lehrtätigkeit entschliesst. In allen drei Romanen geben also die Hauptfiguren die Pläne und Wünsche des ersten Teils im zweiten Teil auf. Zwischen diesen Teilen und Lebensweisen liegen deutliche Barrieren: im Wilhelm Meister die Bekenntnisse einer schönen Seele, im Grünen Heinrich der Aufenthalt in München, im Bauern-Spiegel die Soldatenzeit des Mias in Frankreich und sein Erlebnis der Kämpfe während der Julirevolution 1830 in Paris. Die beiden Schweizer machen die für ihre Zukunft entscheidende Erfahrung im A u s 1 a η d . Von diesen Übereinstimmungen im Bau abgesehen, sind Atmosphäre und Milieu der drei Romane sehr verschieden. Wilhelm Meister stammt von reichen Kaufleuten ab, und der Adel spielt für ihn von Anfang an eine bedeutende Rolle. Heinrich Lees Vater ist Steinmetz, der Adel erscheint im Roman nur als Episode im Grafenschloss. Mias ist der Sohn verarmter Bauern, als Verdingknabe und Knecht gehört er zu den aller1
Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 6, Erlenbach-Zürich und München 1926 (Fränkel), S. 307 43
untersten Schichten der Gesellschaft. Der Bauern-Spiegel lässt sich mit Büchners Woyzeck vergleichen, der zur gleichen Zeit entstanden ist. Zur Atmosphäre des Wilhelm Meister und des Grünen Heinrich gehören Kunst und Liebe als unerlässliche Erfahrungsbereiche. Zwar ist Mias ein Ausgestossener, der überall nach Liebe oder Ersatzliebe sucht, aber seine Beziehungen zur Magd Anneli sind ohne jede Romantik, sie enden bald mit dem Tod des Mädchens, und weder vorher noch nachher gibt es eine einzige Spur von Erotik wie etwa im Umkreis der Mariane, Philine, Mignon, Aurelie, Therese, Natalie, Judith oder Anna. Auch Kunst hat unter den Menschen des Bauern-Spiegels keinerlei Bedeutung, sie wissen nichts davon, sind mit anderen Dingen vollauf beschäftigt. Es ist undenkbar, dass Mias wie Wilhelm seinen Shakespeare oder wie Heinrich seinen Jean Paul liest. Deshalb ist es bedenkenswert, dass Wilhelm die freien Regionen des Geistes aufgibt und sich der Erziehung seines Sohnes Felix widmen will - in den Wanderjahren wird er dann Wundarzt - , dass Heinrich aller Romantik absagt und, wie es vom verwandelten Pankraz heisst, »ein dem Lande nützlicher Mann« wird, während Mias, nachdem er ein kleines Vermögen geerbt hat, sich als eine Art unabhängiger Intellektueller in eigenem Auftrag um die Erziehung fremder Kinder kümmern will. Wundarzt und Schreiber sind nicht an und für sich nützlich, sondern innerhalb einer Gemeinschaft. Mias dagegen wird in einer bäuerlichen Umgebung ein Aussenseiter bleiben, der sich bestenfalls das Zutrauen der Leute erwerben kann. Als theoretischer, durchs Wort wirkender Mensch muss er um sein Publikum werben. Der aus Frankreich heimgekehrte Mias ist gebrechlich, zur Landarbeit unfähig (I, 268). Sein verstorbener Kamerad Bonjour hat ihm ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihn finanziell unabhängig macht: Im Notfalle reichten dessen Zinsen hin, mich zu nähren. Aber ich wollte nicht bloss einen Rücken haben, ich wollte auch etwas sein. (I, 272) Deshalb macht er nach seiner Wiederherstellung drei Versuche, seine Fähigkeiten und Kenntnisse seiner Heimatgemeinde anzubieten: Ich konnte meinem Vaterlande auf diese Weise nützlich sein . . . (I, 276). Dreimal wird er zurückgewiesen, bevor er sich selbst seinen Lehrauftrag erteilt. Zuerst verfallt er auf die Idee, Schulmeister zu werden: ... es dünke mich doch gar zu schön, zu verhüten, dass Kinder nicht mehr so erzogen würden wie ich. Ich glaube, der liebe Gott habe mir in diesem Entschluss einen besondern Fingerzeig gegeben seines Wohlgefallens, dass ich nun, was an mir gesündigt worden, an vielen andern verhüte. (I, 272).Diese pädagogischen Pläne stossen jedoch auf für ihn unüberwindliche Hindernisse. Es stehen sich nämlich zwei didaktische Prinzipien unversöhnlich gegenüber. Er sei auch überzeugt, sagt ihm der Fecker, ich würde die Kinder in der Schule wecken und beleben, aber ihnen vielleicht zu wenig eintrichtern. 44
Denn einmal müsse man den Kindern in der Schule auch etwas beibringen, und dieses müsse in einer bestimmten Ordnung und Form geschehen .. . (I, 275). Mias liegt nur am Wecken und Beleben; das Eintrichtern lehnt er zornig ab, denn dabei müssten die Schulmeister Papageien werden und die Kinder zu solchen erziehen (1,275). Darüber hinaus hat Mias weder die Absicht noch die Fähigkeit, sich einem Lehrplan unterzuordnen: Dazu hatte ich aber durchaus keine Lust. Das, was ich erlernen sollte, kam mir so kraus undfremd vor, dazu so geistlos und überflüssig, dass ich verzweifelte, je mir dasselbe aneignen zu können. Ich gab also den Traum, Schulmeister werden zu wollen, auf, gab den Glauben auf, dass die Vorsehung mich dazu berufen, und wollte mich auf etwas anderes besinnen. (1,275) Der zweite Versuch, dem Vaterlande . .. nützlich zu sein (I, 276), ist die Bewerbung um die Strasseninspektorsstelle. Diese Episode ist nicht nur wichtig im Hinblick auf die späteren Entscheidungen des Mias, sondern auch für das Verständnis von Gotthelfs politischem Standort. Ging es in der vorigen Episode um das Schulsystem und um Lehrmethoden, so geht es in dieser um die Frage, was die neue Verfassung einem Menschen wie Mias für Möglichkeiten zur Entfaltung und Betätigung bietet. Zum besseren Verständnis der Episode muss man sich vergegenwärtigen, dass Mias an einem der folgenreichsten Ereignisse seiner Zeit, der Julirevolution in Paris, selber teilgenommen hat, mit geringem politischen Bewusstsein zwar, aber ein gewisser Instinkt, dass wir nicht für die rechte Sache stritten, sondern um eines Eides willen, lähmte uns mehr und mehr . . . Wir kannten den Volksgeist nicht, der in gewissen Stunden über Millionen kommen kann, darum erkannten wir hier sein Walten nicht. (I, 294f) Mias kehrt aber nicht nur mit dieser neuen Erfahrung eines spontan sich äussernden Volksgeistes in die Schweiz zurück, sondern auch als ausgemusterter Söldner. »Die Schweizer Gardetruppen«, schreibt Dierauer, »waren dem gestürzten König bis zum letzten Momente treu geblieben und hatten in den Strassenkämpfen und im Louvre schwere Einbusse erlitten. Die neue Regierung Louis Philippes Hess aber gegenüber den verhassten fremden Söldnern, den >helvetischen Satelliten des meineidigen KönigsDort darfst du willkommen eintretend (I, 303) Dieser Hof ist also eine Art Heimat für den heimatlosen Mias. Mareilis Welt ist die gefühlsmässige Mutter, der Fecker der geistige Vater. Und wenn Gotthelf diesem wichtigen Kapitel den Titel Der schöne Tag gibt, so ist nicht nur das schöne Wetter gemeint, das Wiedersehen und die Erinnerungen; auch die Trennung und die Zukunftspläne machen diesen Tag schön. .. . das Gleichgewicht war hergestellt in mir, die Besonnenheit, der feste Wille thronten wieder über den verletzten Gefühlen, diese waren geheilt. Als ich heimkam endlich, da dankte ich Gott inbrünstig für das Glück dieses Tages und die erhaltene Kräftigung. Ich gelobte, nie mehr zu verzagen, nie mehr durch irgendeine Torheit der Menschen mich entmutigen oder erbittern zu lassen, sondern in Liebe und Geduld sie zu tragen, aber nie auch lass zu werden in der Sanftmut, die mit leiser Hand die Fehler der Mitmenschen mildern, heilen will. (I, 304)
2. Liebe u n d Vernunft sind W ä r m e u n d Licht Das Kapitel Der schöne Tag ist nicht nur für den Gang der Erzählung und als epochale Erweiterung des ganzen Romans wichtig. Mias ist jetzt zwar krank am Leib - sein Arm wird ihm noch zu schaffen machen - , aber gesund an Geist und Seele: das Gleichgewicht war hergestellt in mir. Für das Verständnis des ganzen Romans ist ausserdem wichtig, dass Mias in diesem Zustand und in d i e s e r Gesinnung sich an die Niederschrift seiner Lebensgeschichte macht, d.h. dass auch der Leser den Bauern-Spiegel sozusagen vom 34. Kapitel her lesen muss. Er ist kein Tagebuch, sondern ein Lebensrückblick, ein Rechenschaftsbericht, ein Erklärungsversuch. Aus dieser Tatsache rechtfertigt sich auch unser Vorgehen, die Hauptprobleme von Mias' vorangegangener Entwicklung nachzutragen. Das Wunderbare an dieser Entwicklung ist der Umstand, dass Mias an Geist und Seele geheilt wird, obwohl von seinem Lebenslauf her dafür praktisch keine Voraussetzungen vorhanden waren. Kindheit und Jugend standen ganz unter dem Satz, mit dem der Bauern-Spiegel beginnt: Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand, in einem Jahre, welches man 53
nicht zählte nach Christus. (I, 7) Dieser Satz verbindet zwei Hauptprobleme des Dichters Gotthelf: den Kampf gegen Vorurteil und Dummheit und den Kampf für die christliche Religion. Zählt man vom Erscheinungsjahr des Bauern-Spiegels die Lebensjahre des Mias zurück, so ist er im Jahre 1797 geboren wie Gotthelf selbst, zu einer Zeit, als der revolutionäre Kalender galt - 1792 war das Jahr 1 der französischen Republik - , bevor Napoleon 1806 den Gregorianischen Kalender wieder einführte. Über diese rein historische Bedeutung hinaus, weist der Satz natürlich auf das Fehlen menschlicher Frömmigkeit überhaupt hin. Während Unverstand die i n t e l l e k t u e l l e Enge der Menschen kritisiert, wird mit dem Jahre, welches man nicht zählte nach Christus ihre e m o t i o n a l e Verkehrtheit, die Niedrigkeit ihrer Leidenschaften angeprangert. Das Gebiet der Religion ist nicht die Intelligenz, sondern das Gemüt, schreibt Gotthelf am 24.12.1846 an Burkhalter (6, 335). In einem früheren Brief an den gleichen Adressaten, vom 27.10.1840, spricht er von Liebe und Vernunft (5, 92). In der Zueignung des Schulmeister schreibt Peter Käser an den Schuldirektor Rickli: Sie sind der Bildner der werdenden Lehrer im Kanton Bern. Sie sind nicht nur eine Quelle ihres Wissens, sondern auch der Lenker ihrer gemütlichen und sittlichen Kräfte. (II, 7) Die Armenschule in Trachselwald wollte Gotthelf nicht auf papierne Ordnungen gründen am Staate wärmt sich niemand -, sondern auf die Tüchtigkeit eines Ehepaares mit warmem Herzen und hellem Kopf, bei dem die Kinder beides finden, Wärme und Licht. (XV, 176) Und im Bauern-Spiegel steht: Es ist merkwürdig, dass die Menschen nie am rechten Ort und in der rechten Zeit entweder vernünftig oder gutmütig sein können. (I, 16f) Ein Wort des Schulmeisters Käser zeigt, wie diese beiden Seiten zusammenhängen: Ich konnte nichts anders denken, als dass das alles von der Liebe komme, welche Mädelis Verstand schärfe . . . (III, 205) Wärme und Licht, Liebe und Vernunft - und ihr Gegenteil: Kälte und Finsternis, Egoismus und Dummheit sind die elementaren Erfahrungen in Gotthelfs Werk. Das Milieu, aus dem Mias stammt, und die Kreise, in denen er verkehrt, sind, mit ganz wenigen Ausnahmen, gekennzeichnet durch Dummheit und Bosheit. Beide bedingen einander gegenseitig und werden von Generation zu Generation weitervererbt. Mein Vater schien von allen das vernachlässigtste Kind zu sein .. . Übrigens war er nicht gewohnt, viel zu denken, auch nicht an die Zukunft; er liess die Dinge gehen, wie sie mochten, und nahm sie, wie sie kamen. So kam er auch zu einer Frau .. . ohne recht zu wissen wie ... aber Wein und Tanz, Nacht und Lust wirken unbegreifliche Dinge. (I, 8f) Meine Mutter war im Grunde nicht böse, und wenn man sie mit Liebe und Nachsicht behandelt hätte, so wäre sie verständig genug gewesen, sich nach und nach in ihre Lage zu schicken, und ganz sicher eine bessere Hausfrau geworden als ihre Schwägerinnen alle; denn 54
sie war gescheiter als diese. Auf diese Weise wurde sie mutlos und bitter, sie bemühte sich nicht mehr, die Sachen besser zu machen, sondern ihre Zunge kam auch in Gang und wurde so scharf und schneidend, dass die übrigen am Ende froh waren, zu schweigen. (1,13) Der Lebenslauf des Mías ist hauptsächlich durch den Mangel an Liebe geprägt, denn Gotthelf gibt der emotionalen Seite seines Helden das Übergewicht, begreift ihn nicht als Vernunftwesen, sondern, wie die Psychoanalyse, als Triebwesen. Rückblickend, wie in einer Anamnese, kann Mias sein Trauma und damit den Anfang seiner Schmerzen, beschreiben: Aus dieser Quelle entstanden meine Leiden. (I, 72) Es ist der dritte Abend nach Mias' Verdingung als Kindermeitschi, d.h. kurz nach der Trennung von seiner Mutter, dem ersten Schritt in die Fremde; er ist etwa acht Jahre alt. Die bedeutende Stelle sei ganz zitiert: Doch am dritten Abend wurde mir eine Wunde ins Herz geschlagen, die, immer wieder aufgerissen, nie vernarbte und mich zu einem ganz eigenen Menschen machte. Schon war ich ganz einheimisch und wohlauf, als ich eben am dritten Abend den Bauern vor dem Stall sitzen sah, gerade wie der Vater es auch zu tun pflegte; ich spielte nicht weit davon, und der nachälteste Knabe stand beim Vater. Der Anblick heimelte mich, ein unwillkürlicher Zug riss mich zum Bauern hin, ich kletterte auf seine Knie undfragte ihn: >Atti hesch mi o lieb?< Ehe dieser noch antworten konnte, riss mich der Knabe herunter, stiess mich weg und sagte: >Das ist nit dy Àtti, du bist nume dr BuebU, und die andern Kinder kamen auch herbei, umringten den Atti, stiessen mich weg, wiederholten: >Du bisch nume dr Bueb, das isch nit dy Àtti, du hesch kei Ätti!< Und der Bauer lachte herzlich über seine Kinder, die ihn so liebhätten, dass er nicht auch mein Àtti sein sollte; er sah nicht, wie mein ganzes Wesen sich erschütterte und grosse Tränen die Backen herabströmten. (1,71) Die Szene zeigt deutlich, wie es allen Beteiligten um » L i e b e « geht, den Kindern, dem Vater und Mias, und wie aus diesem Bedürfnis die Bosheit, die Rohheit und die Wunden entstehen. Alle Beteiligten meinen es weder in Worten noch in Taten bös, die Kinder sagen die reine Wahrheit, aber die Folgen ihres Verhaltens prägen den jungen Mias. Der gereifte Mias versucht, dieses kindliche Erlebnis zu deuten: >Das isch nit dy Àtti, du hesch kei Àtti, du bisch nume dr Bueb.U Diese Worte tönten in meinem Herzen fort undfort, zerrissen es und rissen einen Vorhang von meinen Augen weg; nun kam mir zum Bewusstsein, dass ich hier keinen Àtti habe, kein Kind, sondern nume dr Bueb sei. Ich hatte ein Herz voll Liebe, hätte so gerne alle geliebt, aber meine Liebe wollte man nicht, Liebe gab man mir nicht, glaubte mehr als genug zu tun, wenn man mir zu essen gab. Diese Liebe, die niemand wollte, schloss sich ein in das Herz und verschloss es; ich fühlte mich allein auf der Welt, wurde ernst, bitter, dachte über alles für
55
mich selbst nach, schien unfreundlich, mürrisch, aber niemand sah, wie oft, wenn ich allein war, eine Wehmut über mich kam, die in einen Tränenstrom sich auflöste, der fast nicht versiegen wollte. Oh, die Menschen wissen nicht, wie schön es eigentlich in Kinderherzen aussieht, in denen die Liebe aufblüht; sie wissen aber auch nicht, wie zart diese Pflanze ist in ihrem Frühling, und wie leicht ein Frost sie lähmt oder tötet. Mit eisiger Hand, frostig durch und durch, wühlen die meisten Menschen in den Kinderherzen, und unter ihren Händen erstarrt der schöne Frühling; die Pflänzchen der Liebe sterben, und kühle, kalte, selbstsüchtige Menschheit nistet sich als tausendarmiges Unkraut in der Liebe verödeten Garten, und da, wo man der süssen Liebe süsse Früchte hatte pflücken können, findet man nur die bitteren Galläpfel des Neides, der Engherzigkeit, der Gemeinheit. (1,71f) Der erste Teil dieser deutenden Ausführungen rekapituliert das Ereignis. Der zweite Teil (Ich hatte ein Herz voll Liebe .. .) deutet an, wie unerwiderte Liebe zu Verkehrtheit, Verkennung und Isolation führt. Der dritte Teil (Oh, die Menschen wissen nicht. ..) schlägt das Thema der Unkenntnis des Kinderherzens an und bringt die Metapher der Kälte (Frost, eisig) und die der Natur (Frühling, Pflänzchen, verödeter Garten). Das wahre Glück des Menschen ist eine zarte Blume, beginnt Geld und Geist, und dieses Glück wird durch das Bild des Paradiesgartens veranschaulicht (s.u.S. 70fí). Garten, Frühling, zerstörender Frost - die Naturbilder deuten auf die naturhafte Seite des Mias. Der Schicht der Triebe, Emotionen und Gefühle muss also Sorge getragen werden, es genügt nicht, zu meinen, wenn der Verstand komme, so kommen alle Tugenden von selbst (1,72). Die pervertierte Liebe, die keinen Weg mehr nach aussen findet, bestimmt in zweierlei Hinsicht das Leben des Mias bis zu seiner »Heilung« durch den Fecker und Mareili. Einmal »erkältet« ihn der Liebesmangel, verdreht ihm den Verstand und macht ihn anfallig für Schmeicheleien und Verführungen. Zum andern lässt sie ihn die menschliche Gemeinschaft als einen brutalen Kampf um Vorteile erleben. Für Mias entsteht ein Teufelskreis: er wird für böse und verstockt gehalten, deshalb noch liebloser behandelt, deshalb noch böser und noch verstockter. An Ostern bekommt er keine Ostereier, weil man amene settige, dä dKing geng z'brülle macht, nit lert, nitfolget u in der Schulalli Tag Schläg übercho het (I, 85), eben keine Eier gibt. . . . keine Eier an der Ostern, das war mir fast wie kein Atti mehr, erinnert sich Mias, indem er deutlich Bezug auf den Anfang seines Unglücks nimmt. Ostern und keine Eier, das wollte mir fast das Herz brechen. Als ihm die Mietersfrau von den Eiern ihrer Kinder gibt, ward mir wohl, und ich konnte wieder jemand freundlich ansehen .. . Ich hatte wieder alle lieb, hatte mich doch auch jemand liebgehabt. (I, 85f) Aber diese Mietersfrau ist eine Ausnahme. . . . ich war verschüchtert und 56
hartnäckig geworden, der Brunnen der Liebe war nicht mehr fliessend, er war zurückgetreten, man musste nachgraben, wenn man ihn finden wollte. (I, 9 2 ) . . . zurückgeschiichtert an meinem ersten Verdingort, konnte ich es nicht mehr zeigen, am allerwenigsten sagen, wie lieb mir Menschen waren. (I, 130).. . ich liebte so gerne, und man hasste mich, schreibt er, nachdem ihm die Schuld für eine Tat in die Schuhe geschoben wurde, die ein anderer begangen hatte, über mein Herz ging Frost um Frost; sie töteten die Liebe nicht, aber ihre Blüten, die offene, muntere Freundlichkeit, und Sauersehen ward meine Freundlichkeit, ein grösseres Unglück für die Sauersehenden, als die meisten begreifen. (I, 135) Die Liebe war zurückgetreten, und zurückgetretene Liebe erzeugt einen wüsten Ausschlag, Bitterkeit und Trotz, unwirsches Wesen; aber die Liebe war nicht getötet, empfänglich blieb ich für alles, was wie Liebe aussah, nur vermochte ich einfältiger Bube nicht zu unterscheiden die eigennützige von der reinen und nahm die falsche Münze meiner gegenwärtigen Meisterleute für echt an. (I, 158) Es war, als fürchtete ich ordentlich, aus meinem heillosen Zustande gezogen zu werden, als wären Hass,Bitterkeit, Gram, Rache, Zorn lauter wohltätige Gefühle, ein wahres Seelenglück. Wenn sie auch abnehmen wollten, so steifte ich sie aufs neue wieder. (1,216) Wo die Liebe fehlt, da herrschen Machtlust und Habgier; wo die Offenheit und Kreativität verraten werden, herrschen Neid, Raffgier, Besitzenwollen. Ich erwachte am Ende und lernte das Niedermachen durch das Niedergemachtwerden. (I, 75) Ach ja, das waren gottselige Zeiten, wo die Alten einen mit der Rute zur Schule prügelten, mit der Rute der Schulmeister einen empfing, wo man Hexen hatte statt Engel, in der Nacht vor Gespenstern bebte und vor dem Teufel zehnmal mehr Respekt hatte als vor Gott, wo man entweder selbst zitterte oder andere zittern machte. (I, 82) Der erste Satz des Bauern-Spiegels - von der Gemeinde Unverstand und dem Jahr, das man nicht zählte nach Christus - kann auch hier als Schlüssel zur Jugendgeschichte des Mias dienen: wo das Herz nicht erwärmt wird, geht der Geist in die Irre; wo der Geist zu beschränkt ist, werden die Gefühle niedrig und egozentrisch. Eine Form verdrehter, böser Intelligenz verkörpert das Bauernehepaar, von dem Mias als Vierzehnjähriger angestellt wird. Wie ein pfiffiger Bauer und eine noch pfiffigere Bäuerin aussehen kündigt die Überschrift das 13. Kapitel an. Überhaupt war er ein pfiffiger Kerl, heisst es vom Bauern. Er wusste wie keiner das Wasser auf seine Mühle zu reisen und doch den Schein der Ehrlichkeit zu bewahren; mit keinem Menschen meinte er es gut als mit sich selbst, und doch hielt man ihn für einen aufrichtigen, guten Mann . . . (I, 137) Seine Frau schickte sich ganz besonders gut zu ihm. Sie war geizig und selbstsüchtig wie er und verstand sich auch recht gut auf das Bemänteln ihrer Fehler . . . (I, 138) Unsere Meisterfrau gönnte von Natur 57
niemand was als sich selbst, also auch ihrem Manne nicht, denn zwei selbstsüchtige Leute werden nie eins unter sich, gegen andere wohl... (I, 139) Eine andere Form böser Intelligenz verkörpern die christlichen Zigeuner im 10. Kapitel. Diese beiden alten Leute machten ... sich in weiter Runde umher mit allen Verhältnissen, allen Schwächen, allen Leidenschaften der Menschen bekannt und beuteten diese aus. Sie kannten alle eifersüchtigen Weiber, alle heiratslustigen Mädchen, alle Weiber, die, um irgendein Bedürfnis zu befriedigen, hinter dem Rücken der Männer Geld haben mussten, alle Mädchenliebschaften, alle in fremde Gehege gehenden Männer, alle nach reichen Frauen lüsternen Knaben, alle geistlichen und abergläubischen Leute, alle Freundschaften und Feindschaften, alle Knechte und Mägde, die mit ihren Meisterleuten unzufrieden waren und andere Plätze suchten, auch wusste der Mann Bescheid über alle Kühe und Pferde im Revier; diese Kenntnis war ihnen die unerschöpfliche Fundgrube reichen Erwerbs. (1,100) Böse ist die Intelligenz bei diesen beiden Paaren, weil sie im ersten Fall betrügerisch ist, unter dem Vorwand, am Nächsten Anteil zu nehmen, nur in die eigene Tasche arbeitet, im zweiten Fall, ausser der Selbstsucht, auch einem Status-quo-Denken entspringt, das sich an den miserablen Zuständen gütlich tut und Verbesserungen trotz grösserer Einsicht oder sogar dank grösserer Einsicht blockiert. Der Unverstand und der Mangel an Religion, d.h. die Dummheit und die Kälte der Gemüter, werden im Lebensrückblick des Mias auch noch durch zwei weitere Themen deutlich, die wie Leitmotive den BauernSpiegel durchziehen und sich, wie der erste Satz andeutet, ebenfalls gegenseitig bedingen. Es ist das Hängen am Geld, das die Menschen blind macht oder: es ist ihre Einsichtslosigkeit, die sie allein am Materiellen hängen lässt. So erzählt Mias von seiner Grossmutter: Man vergoss, dass die Grossmutter auf Erden Reichtum am höchsten hielt, dass sie natürlich auch vor reichen Leuten den grössten Respekt hatte. Sie war es gewohnt, alle Leute, die minder reich waren als sie, nach ihrer Weise von oben herab zu behandeln; selbst den Pfarrer, auf dem sie übrigens viel hielt, Hess sie es immer fühlen, dass er keinen Hof habe wie sie; dagegen sah sie jedem Reicheren mit ordentlicher Andacht nach. (I, 28f) Und ganz ähnlich vom Grossvater: Der Grossvater hatte nichts Edleres auf Erden gekannt als >HusenHeder liebe Gott wehrt sich nicht für dich, du musst dich wehren ... es ist mir schon manchmal so gegangen, dass ich habe den lieben Gott hineinstossen wollen, wo doch die Sache an mir lag . . .< (VII, 192) Gegenüber Anne Mareilis mädchenhaften Wünschen, möglichst schnell in der Ehe selige Gelände zu gelangen, wo des Gemütes Wogen friedlich rauschen, die Kunst zu missachten, das Diesseits zu ignorieren sind die Glückserwartungen des todkranken Änneli von Geduld, Verzeihen, Liebe und Sanftmut gekennzeichnet (VII, 391). Auch diese Erwartungen stehen unter dem Prinzip Hoffnung, das Glück soll nicht durch 75
einen Sprung, sondern durch einen Prozess erlangt werden. In der letzten Szene des Romans gestaltet Gotthelf gerade jene Kunst, das Hegen der zarten Blume des Glücks, von der in der Präambel die Rede war. Änneli erteilt ihrem Sohn weder Ermahnungen noch Ratschläge; ihre Worte sind ein sanftes Werben für die Braut Reslis: >.. . denk doch, wenn unser Herrgott auch so sein wollte!. . . Höre, Kind, du bist unbarmherzig .. . Glaub mir, eben die, wo an einer Frau keinen Fehler wollen, die werden am meisten gestraft. .. Glaub mir, eine ohne Fehler erhaltest du nicht, und wohl dir, wenn du die Fehler vorher weisst! Glaub mir, wenn wir jung sind, können wir alle recht böse werden ... Glaub mir, wenn du mich jung gekannt hättest, du hättest mich nicht genommen, ich wäre dir z'wüst und z'wild gsi. Aber für was ist me uf dr Welt, als für si ζ'bessere?... Glaub mir, ih has lang überlegt. .. Wotsch mrs vrspreche, wieder um das Meitschi z'luege?< (VII, 389, 39If) In ihrer Todesstunde verbindet die Mutter das Jenseits mit dem Diesseits, aber nicht in der Form einer abstrakten Weisheit oder Einsicht, sondern weil nur sie es vermag, in einer scheinbar aussichtslosen Lage - selbst Resli kann sich eine Heirat mit Anne Mareili nicht mehr vorstellen - die Hoffnung aufs Glück zu bewahren: >. . . und doch ist der Spiegel eigentlich in meinem Herzen gewesen, und was ich in dem des Meitschis erkannte, las ich eigentlich ab in mir< (VII, 390) In der Schlussszene des Romans lösen sich also die Fragen, die in der Präambel gestellt wurden. Von zwei Bereichen spricht die Präambel: dem Jenseits der Seligkeit, dem Diesseits des Glücks. Der erste Bereich schafft die Bilder vom Paradies, dem schönen Garten, das Bild (VII, 9) des abendlichen Hofes, das Bild der innigen Familie (VII, 126). Diese schönen Bilder entstehen in den Seelen der Menschen, sind also weder theologische Lehren noch literarische Topoi (locus amoenus, eidyllion), so sehr sie mit diesen verwandt sein mögen. Auch die Liebesphantasien von Resli und Anne Mareili nennt Gotthelf ja Bilder: das Mädchen ist Reslis lieb heimlich Bild (VII, 148), und Resli ist ein Bild im Herzen des Mädchens: wie gerne wäre er nicht mit seiner Seele aus seinem Leibe gezogen, er hätte Haus und Hof verlassen und sich im Bilde angesiedelt, welches das Mädchen im Herzen trug . . .0, wer möchte nicht so wohnen als liebes Bild in des lieben Mädchens reinem Herzen, möchte da nicht sein Lebenlang warten, bis der Vater aus diesem Himmel in den seinen uns nimmt. (VII, 343f) Die Seele oder das Gemüt des Menschen, jedenfalls der Ort, an welchem die Bilder entstehen, der Bereich, der die Fähigkeit besitzt, schöne Bilder ständig zu produzieren oder mit schrecklichen Bildern zu reagieren (Bild des Kellerjoggi VII, 147f) - die Seele ist auch der Ort, wo sich Diesseits und Jenseits begegnen. Vor allem die Bilder von Glück und Paradies, die Bilder vom rechten Leben und vom Frieden, Erinnerungen an die himmlische Seligkeit, entstehen immer neu: Aber sei auch das Bild 76
verschwunden, ist nur der Geist geblieben; der lebendige Geist sprüht neue Bilder immer wieder auf, schöne Kinder, Zeugen seines Lebens. (VII, 126) Das ist die eine Seite. Die andere nennt Gotthelf Wirbel der Welt (VII, 126) oder Diesseits. Hier herrscht die Unvollkommenheit und das Versagen, aber auch die Hoffnung, sein Glück zu machen, das Leben zu meistern. Es bedarf in diesem Bereich der Kunst und der Einsicht: Wohl dem, welchem zu rechter Zeit das Auge aufgeht.. .
3.. . . des zeitlichen Lebens ewige Bedeutung Am Anfang von Geld und Geist wird von dem an verschiedenen Orten im Hause verwahrten Geld erzählt, mit dem man jederzeit ein günstiges Stück Land kaufen und bar bezahlen könne oder das an treue Verwandte oder Bekannte für gleiche Zwecke verliehen werde, und zwar ohne Schrift und Zins, auf Treu und Glauben hin und auf die himmlische Rechnung, und war eben deswegen so, weil sie noch an ein Jenseits glaubten, wie recht ist (VII, 8). Im Zusammenhang mit dem Bettag macht sich Gotthelf über den anmassenden Vers eines überheblichen Literaten lustig, der inzwischen gestorben ist, undjetzt wird er es in dem verschmähten Jenseits erfahren haben, was der Hochmut kann, was an der Selbstvergötterung ist und wie tief die Selbsterhöhung stürzt (VII, 351). Vom Wirtshaus in Liebiwyl heisst es, es liege mitten im Dorfe, während die Kirche gerne zur Seite steht, wie billig auch, das erstere als Anker der Welt, die letztere ein Wegweiser aus der Welt. .. (VII, 127f). Und über die Unterhemden der Berner Bauerntöchter: Es ist halt in allen irdischen Dingen gerne Bschiss. (VII, 248) Nähme man derartige Sätze tierisch ernst, d.h. überhörte man Understatement und Spott, so entstünde ein Bild vom eifernden Landpfarrer, das aber das Verständnis von Gotthelfs Werk nur verstellen würde. Für ihn gehören Diesseits und Jenseits zusammen, so wie er es auch im Anne Bäbi-Romm durch die beiden Bücher, Bibel und Leben, ausdrückt: . . . ein Buch wirft Licht auf das andere Buch, beide strömen Leben sich zu, und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch. - Ein Mensch, der nur in einem der Bücher lesen kann, ist gleichsam nur ein halber Mensch, nur halbwitzig .. . die Bibel gibt dem Leben seine Weihe, das Leben macht die Bibel lebendig. (VI, 63 f) Es ist vermutlich falsch, wenn man diese beiden Bücher mit den allgemein bekannten Gegensätzen wie Geist/Materie, Geist/Natur, Geist/ Welt, Erkenntnis/Leben, Ideal/Wirklichkeit, Innenwelt/Aussenwelt, Theorie/Praxis identifiziert. Die zwei Bücher bei Gotthelf sprechen eine ganz andere Erfahrung aus als Byrons Manfred: 77
. . . they who know the most Must mourn the deepest o'er the fatal truth, The tree of Knowledge is not that of Life. (1,1)
Wird der Mensch mit Hilfe eines der genannten Gegensatzpaare gedeutet, so steht er entweder 1. ganz unter der Macht des Geistes oder 2. ganz unter der des Lebens oder 3. man versucht - wenigstens theoretisch - einen goldenen Mittelweg. Gotthelf geht es aber um Heilung, Heil und Heiligung des Menschen, er geht von der Friedlosigkeit des Menschen aus, und darum treten für ihn philosophische Konzepte in den Hintergrund. In einem Brief an seinen Freund Hagenbach, der aus der Entstehungszeit von Geld und Geist und Anne Bäbi Jowäger stammt, schreibt Gotthelf: . . . andere begnügen sich mit dem Leib, andere wollen nur die Seele, aber sehr merkwürdig ist das Streben durch alle Zeiten der Kirche und bei jedem Menschen, der innerlich fortlebt, Leib und Seele anzuerkennen als beide von Gott gegeben, beide innigst zu einander gehörend, den Leib anzuerkennen um der Seele willen und ihm das rechte Verhältnis anzuweisen zu selbiger, und allfällig von ihm nur zu scheiden, was zur Kleidung gehört, die wechselt nach den Jahreszeiten. Je älter man wird, desto mehr sucht man die Einigung. Es ist mit diesem Verhältnis fast wie mit dem Verhältnis Gottes zur Welt. (5,227) Die Möglichkeiten einer solchen Einigung, wie sie in Geld und Geist und Anne Bäbi Jowäger versucht wird, gingen aber im 19. Jahrhundert immer mehr verloren. Wenige Monate vor dem Brief an Hagenbach hatte ein anderer Freund Gotthelfs, der Arzt Eduard Fueter, die ersten brieflichen Ratschläge über Anne Bäbi Jowäger an Gotthelf geschickt. Er spricht von einem »Riss«, nicht von Einigung: »Dieser Riss wird täglich grösser und trennt nicht nur die Naturforscher von den Laien, sondern auch im allgemeinen die sogenannten Aufgeklärten von den Ungebildeten, die Orthodoxen von den Rationalisten, die Männer von den Frauen, die Alten von den Jungen, die Auserwählten von den Weltkindern usf.« (5,212) In Geld und Geist will Gotthelf noch die Einigung darstellen. Sie erscheint z.B. als Betrachtung über die Wirkung der Kinderlehre: . . . schön predigen ist nicht schwer und viel glauben auch nicht, aber den Glauben zum Leben werden zu lassen, und die Predigt zu einer Brücke vom alten Wort ins junge Leben, das ist schwer. (VII, 239) Darauf folgt ein schlechtes Beispiel: Zumeist hat es der Mensch wie ein kluger Kaufmann, alles wohl sortiert, hier eins apart, und dort das andere für sich . . . - dem dann das Ideal entgegengestellt wird: Dieses Einswerden in sich ist auch das Einswerden mit Gott, unser Ziel auf Erden, zu welchem Christi Fussstapfen führen, aber wohlverstanden nicht diesseits, sondern erst jenseits. Und 78
daran schliesst sich jene Verurteilung der Einseitigkeit, die an den Brief an Hagenbach und an die zwei Bücher erinnert: Weit kommoder als dies ists freilich, wenn man annimmt, unser Fleisch sei unser Gott, und was das wolle, sei recht; da ist die Einheit rasch da, aber es ist die Einheit, welche bereits in der Maus und in der Katze, im Hunde und im Hasen ist. Kommod ists wieder, wenn man unser Fleisch fiir einen dürren Ast erklärt, der nichts mehr zu bedeuten hätte, also den Glauben oder den Geist nichts anginge so dass, was allfällig noch mit ihm vorginge, ehe er völlig zu Staube würde, sie nicht im mindesten zu verantworten hätten. (VII, 240) Der Pfarrer in der Pfingstpredigt belegte alles mit dem Leben (VII, 117), seine Predigt war auch aufgegangen in ihrem Geiste, war Leben geworden, das heisst, hatte mit ihrem Leben sich verwöben (VII, 122). Kellerjoggi, dem an Leib und Seele wüsten Mann soll sich Anne Mareili verheiraten, sich verkaufen lassen . .. mit Leib und Seele (VII, 235). Über die Wirkung der Kinderlehre auf Anne Mareili heisst es: Das Leben ist es, welches des Herrn Worte ausbrütet in den Herzen der Menschen . .. Das Leben gab ihm der Worte Verständnis. .. (VII, 238). Und die Konsequenz aus diesem Verständnis der Predigtworte ist alles andere als ein Akt der Frömmigkeit, der Bravheit und des kindlichen Gehorsams: es folgt nämlich ein Akt der Einsicht, der Selbstbefreiung und der Auflehnung. Mehr und mehr festigte sich in ihm der Entschluss, der Heirat mit dem Keller¡oggi, wenn sie wieder auf das Tapet kommen sollte, sich ernstlich zu widersetzen .. . (VII, 242) Auch die Verbindung von Leib und Seele, Diesseits und Jenseits durchzieht, von der Präambel an, das ganze Buch. Gewiss ist diese Verbindung auch ein mit Absicht immer wieder eingesetztes Motiv, gewiss ist sie auch eine Lehre, die Gotthelf immer wieder vermitteln will. Aber das ist nicht alles: das Buch und seine Figuren leben und sprechen aus dem Geiste dieser Vereinigung, auch dort, wo das Thema oder Motiv nicht expressis verbis auftaucht. Christen, der selten in die Kirche geht und sich auf die Religion, wie er sagt, nicht recht versteht, erinnert sich an die Wirkung eines Kirchgangs: Es wohlete mir allemal, es war mir fast der Seele nach, wie es mir ist, wenn ich zur Selteni einmal badete . . . und wie man am Sonntag ein sauberes Hemd anzieht, so sollte man auch die Seele säubern und reinigen . . . (VII, 103) Wie stark im Gemüt Ännelis beide Bereiche miteinander verflochten sind, geht aus einem Wort hervor, das sie auf dem Sterbelager an ihren Sohn richtet und das, bei allem Ernst, nicht der Komik entbehrt: . . . denk doch, wenn unser Herrgott auch so sein wollte! (VII, 389) Was Gotthelf mit dieser Verbindung, mit des zeitlichen Lebens ewiger Bedeutung (VII, 362f) gemeint hat, unterscheidet sich ganz deutlich von der Adieu-Welt-Haltung des Simplicissimus oder von der Hypertrophie des »Geistigen« bei Hermann Hesse; es 79
ist nicht nur völlig verschieden von Piatonismus und deutschem Idealismus, sondern ist auch deren Verneinung. Nach meiner Auffassung käme man diesem Komplex von Jenseits und Diesseits, Welt und Gott, Seele und Leib, Ewigkeit und Zeitlichkeit durch einen Vergleich mit Waithers »ère, varnde guot, gotes hulde« am nächsten, oder mit den Versen am Schluss des Parziväl: swes lebn sich sô verendet, daz got niht wirt gepfendet der sêle durch des libes schulde, und der doch der werlde hulde behalten kan mit werdekeit, daz ist ein nütziu arbeit. (827,19-24)
Sind die Ergebnisse dieser Überlegungen richtig, so zeigt sich damit im Grund auch die zu grosse Enge der Kellerschen Gotthelf-Rezensionen, vor allem soweit sie religiöse Probleme behandeln. Die Behauptung Muschgs jedoch, Gotthelf sei der Dichter eines Jahrtausends, wird bestätigt.
4. Vater u n d M u t t e r Die vorangegangenen Ausführungen sollten gezeigt haben, wie für Gotthelf die beiden entscheidenden Bereiche seines Dichtens und Denkens, die er selber Diesseits und Jenseits, Erde und Himmel oder Leib und Seele nennt, ineinander verflochten sind. Die nun folgenden Überlegungen wollen den Nachweis erbringen, dass diese beiden Bereiche und ihre Verbindung bei Gotthelf nicht einfach theologisches Kultur- und Bildungsgut sind, über das jeder Pfarrer des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger verfügte, sondern dass es sich dabei um einen K o m p l e x von E r f a h r u n g e n handelt, die sich zum einen Teil zwar aus christlichen Vorstellungen nähren und sich auch durch eine christliche Sprache artikulieren, zum andern Teil aber aus gänzlich anderen Quellen stammen. Es ist wiederholt ausgesprochen worden, von Gotthelf selbst und von seinen Interpreten, dass nach seiner Auffassung der Frau eine entscheidendere Rolle und Aufgabe im menschlichen Leben zukomme als dem Mann. Schon in der frühen Erzählung Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen steht: Es mag wüst gehen in einem Lande, die Männer mögen saufen, spielen, prozedieren, es macht noch nicht alles, es ist noch Hoffnung da, dass mit diesen Säufern und Spielern das Laster aussterbe, solange in frommer Zucht und Sitte die Weiber zu Hause walten und den Kindern mit Beispiel und Wort einen frommen Sinn einflössen. Man glaubt nicht, was ein klug und fromm Weib vermag. Salomon sagt 80
nicht umsonst: >Ein wackeres Weib übertrifft an Wert weit den Karfunkelstein.< Ein Mann ist fast nicht imstande, einen Hof zu verprassen, wenn ein anschlägig Weib im Hause waltet. (XVI, 14) Ricarda Huch schrieb: ». . . aber keiner, auch Goethe nicht ausgenommen, hat die Frau so hoch über das Irdische erhoben und zugleich mit so festen Füssen auf die Erde gestellt, und darum so vollendete Frauengestalten geschaffen wie Gotthelf. Er ist der wahre Frauenlob und ihm vor allem haben die Frauen Ursache, ein Denkmal in ihrem Herzen zu setzen.«5 Auch Ernst Bloch nannte Gotthelf einen »Frauenlob durch und durch . . .«.'Und selbst Gottfried Keller gab zu: »Hauptsächlich auch auf die Frauen versteht er sich sehr g u t . . . Die Liebesverhältnisse sind überaus fein und meisterhaft angelegt.«7 Aus dieser Tatsache darf man den Schluss ziehen, dass die oben dargestellten zwei Bereiche oder zwei Bücher, da sie ja zu den Kerngedanken oder Grunderfahrungen des Dichters gehören, mit dem Bild der Frau, so wie er es entwirft, aufs engste verbunden sein müssen, dass also die Frau die Bürgin für die Verbindung von Diesseits und Jenseits ist. Die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung lässt sich im Werk von Gotthelf explicite und implicite nachweisen. Man muss sich bei einem solchen Nachweis allerdings freimachen von dem Vorurteil, der Dichter sei nichts anderes als ein Vertreter der Berner Kirche gewesen und könne deshalb auch nicht mehr gewusst, gedacht oder geschrieben haben als diese Kirche oder was man sich unter ihr vorstellt. Schon beim oberflächlichen Lesen fällt auf, dass im Roman Geld und Geist die Bäuerin Änneli die mächtigste Figur ist, und im Schlusswort steht auch, der Verfasser habe zur Verklärung des Bildes einer guten Mutter nichts beizutragen (VII, 396). Bei genauerer Lektüre wird zudem klar, dass das Buch sogar einen Kampf zwischen dem bösen Vater (Dorngrütbauer) und der guten Mutter (Änneli) vorführt, der mit dem Sieg der guten Mutter endet. Obwohl derart martialische Worte für Änneli wenig passend erscheinen, ist es doch deutlich, wie durch die Entgegensetzung dieser beiden Figuren ein Konflikt zwischen Vaterprinzip und Mutterprinzip gestaltet wird. Dass im Dorngrüt niemand etwas zu sagen hat ausser dem Dorngrütbauern selber, wird noch zu zeigen sein. In Liebiwyl gilt, um ein Wort von Bornemann zu verwenden »matrilineare Deszendenz«: der Hof wird von einer Frau beherrscht und an eine Frau weitervererbt. Die Schlussszene des Buches, Ännelis Tod, zeigt diese Zusammenhänge. Sie sagt zu ihrem Sohn: Aber eben das ist jetzt mein grosser Kummer und das einzige, wo ich auf dem Herzen habe, dass die noch nicht da ist, 5 6
7
Ricarda Huch: Jeremias Gotthelf s Weltanschauung, Bern 1917, S. 12 Ernst Bloch: Gesamtausgabe Bd. 9, Literarische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1977, S. 372 Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 22, Bern 1948 (Helbling), S. 69 81
die nach mir hier sein wird, dass ich mein Tagewerk niemand abgeben, Mann und Kinder niemere anempfehle kann. Das drückt mich. (VII, 388) Änneli sorgt sich also nicht um ihren eigenen Tod noch um den Schmerz ihrer Hinterbliebenen - jedenfalls ist davon nirgends die Rede - , sondern um ihre Nachfolgerin. Als diese in der Gestalt Anne Mareilis wie durch ein Wunder erscheint, empfiehlt sie das Mädchen ihrer Familie mit den Worten: Üses King! Heits lieb! Es ist jetz die neui Mutter. (VII, 394) Das ist aber nicht alles. Im Augenblick kurz vor ihrem Tode erscheint Änneli in einer Vision ihre eigene Mutter, deren Bedeutung für den Haus- und Ehefrieden im ersten Teil geschildert worden ist: O Gott, Gott, witt mih, es düecht mi, ih gsey my Muetter! (VII, 393) Am Schluss des Romans sind also drei Generationen in den Gestalten von drei Müttern gegenwärtig: Grossmutter, Mutter und neui Mutter. Das ist nichts anderes als »matrilineare Deszendenz«, wenn auch verhüllt ins Gewand des 19. Jahrhunderts. Oder anders ausgedrückt: Gotthelf lässt in seinem Roman die offiziellen Rechtsverhältnisse - denn es ist ja Resli, der den Hof erben wird - durch archaische, nämlich matriarchalische, durchbrechen. Diese Zusammenhänge werden noch klarer sichtbar, wenn man die Vorstellung von Himmel und Erde und das Bild der Frau miteinander verbindet. Über die Gründe, warum eine Bauerntochter gerne selber Bäuerin werden will, steht folgendes in Geld und Geist: Es ist nicht nur wegen dem Manne selbst, der doch auch allerdings nicht zu verachten ist, sondern wegen dem unabhängigen Regiment, das eine rechte Bäuerin führt, und der Achtung, in der sie steht; denn eine rechte Bäuerin, deren es im Kanton Bern viele gibt, und welche die Sonnseite des Bauernlebens sind, ist die Mittlerin des Hauses zwischen Gott und Menschen, ist die sichtbare Vorsehung in allen leiblichen Dingen. (VII, 47) Es ist auffallig, dass Gotthelf hier das Wort Mittlerin verwendet. Christus heisst im Hebräerbrief »Mittler« (mediator), und Maria wird in der mittelalterlichen theologischen Literatur oft als »Mittlerin« (mediatrix) bezeichnet. Im Anne Bäbi-Roman sind Arzt und Pfarrer Mittler zwischen Gott und den Menschen (VI,258). Dieses erhabene Bild der Frau und Bäuerin soll also in Beziehung gesetzt werden zu der Vorstellung von dem Zusammenhang von Diesseits und Jenseits, von Himmel und Erde oder den zwei Büchern aus dem Anne ÄäW-Roman. Beides, das Bild der Bäuerin und das Bild von Himmel und Erde, sind in jener Szene Ännelis hinter dem Haus vereinigt, von der Muschg gesagt hat, man könne sie »als das Herz von Gotthelfs ganzer Dichtung bezeichnen«.8 Die Szene lässt sich in drei Teile gliedern: 1. Ännelis Vision von '
Walter Muschg: Jeremias Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, Bern und
München 1954, S. 111
82
der Einigung zwischen Himmel und Erde; 2. die Erkenntnis ihrer Schuld und die Einsicht, dass an ihr nun alles lag, dass sie der Angel war, um den des Hauses Schicksal sich drehte; 3. der Vergleich Ännelis mit Märtyrern und Helden. Das erste wichtige Stück beginnt mit folgenden drei Sätzen: Änneli setzte sich nieder, sah über das reiche Land hinweg, sah, wie alles im reichsten Segen prangte, vom Tale weg bis hinauf zu den Gipfeln der Vorberge, sah, so weit das Auge reichte, den Himmel rundum sich senken den Spitzen der Berge zu, sah ihn umranden den Kreis, welchen ihr Auge ermass, sah, wie da eins ward der Himmel und die Erde, und von dieser Einigung kam der reiche Segen, kam der Sonne Licht, kam der Regen, kam der geheimnisreiche Tau, kam die wunderbare Kraft, welche Leben schafft im Schosse der Erde. Es ward dem Anneli ganz eigen ums Herz, als sie diese Einigung zwischen Himmel und Erde erkannte, und wie eben deswegen alles so schön und herrlich sei und so wunderbar anzuschauen, weil Friede sei zwischen Himmel und Erde, der Himmel seine Fülle spende, die Erde den Himmel preise. Und sie dachte, ob denn eigentlich der Himmel nicht alles umranden sollte, nicht bloss die Erde, sondern auch der Menschen Leben .. . (VII, 89) Vorher war Ännelis Blick auf nahe Dinge gerichtet: Schweine, Obstbäume, Flachs, Hanf. Mit dem Niedersitzen beginnt ihr Blick sich vom Kleinen und Nahen zu lösen, und jenes Sehen, das durch das fünffache sah den ersten Satz bestimmt, ist ein Sehen aus Distanz und in grossen Einheiten. Wenn man »Sehen« als eine Aktivität der Augen, des Gesichtssinnes versteht, »Schauen« dagegen als ein Erfassen dessen, was der Gesichtssinn nicht als optisches Objekt ergreifen kann, so kann man sagen, dass Ännelis Sehen in ein Schauen übergeht: weder wie da eins ward der Himmel und die Erde noch die wunderbare Kraft, welche Leben schafft im Schosse der Erde sind Gegenstände des Gesichtssinnes. Auch an einem solchen Satz zeigt es sich, wie bei Gotthelf das Sichtbare und das Unsichtbare miteinander in Verbindung stehen. Wie aus dem Sehen der Welt ein S c h a u e n ihrer geheimen Triebkräfte sich entwickelte, so entsteht aus dem S c h a u e n nun, im zweiten Satz, ein G e f ü h l in Änneli: Es ward dem Änneli ganz eigen ums Herz . . .; und aus diesem G e f ü h l entspringt ein G e d a n k e : Und sie dachte, ob denn eigentlich der Himmel nicht alles umranden sollte . . . - der sich in immer neue Gedanken und Erinnerungen verzweigt, bis er in den zweiten Teil der Szene hinüberführt: So ging ihr auf ihre Schuld. . . Alle Erfahrungen Ännelis: Sehen, Schauen, Fühlen, Denken richten sich aber auf eine einzige Haupterfahrung, nämlich Himmel und Erde. Die Einigung oder Trennung von Himmel und Erde als Ursachen von Segen oder Unsegen durchziehen den ganzen ersten Teil des Textes. In den ersten 83
drei (oben zitierten) Sätzen werden Himmel und Erde allein sechsmal wörtlich genannt, um Himmel und Erde kreisen - wörtlich oder in parallelen Motiven - Ännelis Gedanken bis zu der Einsicht, genau vor Beginn des zweiten Teils der Szene, hin: Das Licht von oben läuterte ihre Seele nicht mehr, aber die Erde trübte sie jeden Tag mehr. (VII, 90f) - Am Rande sei angemerkt, dass zu Beginn des zweiten Kapitels von Uli der Knecht der Bodenbauer eine ähnliche Erfahrung macht wie Änneli. 9 Dass aus der Einigung zwischen Himmel und Erde Fruchtbarkeit und Segen entstehen, ist eine Vorstellung, die, wie Eliade gezeigt hat, in den Mythologien aller Ackerbau treibenden Völker, der alten Germanen, der Ureinwohner beider Amerika, der Japaner, Chinesen, Indonesier und Afrikaner zu finden ist.10 Die Peleiden in Dodona sollen gesungen haben: »Zeus a été, est et sera, ô grand Zeus; c'est par ton secours que la Terre nous donne des fruits. Nous la disons notre mère à juste titre.«11 Und die Kumana, ein Stamm in Nordostafrika: »La Terre est notre mère, le Ciel est notre père. Le Ciel fertilise la Terre par la pluie; la Terre produit les céréales et l'herbe.« 12 Bei Lukrez steht: Schliesslich sind wir alle aus himmlischem Samen entstanden, allen ist Vater derselbe. Hat aus ihm flüssige Tropfen Mutter Erde der Feuchte in sich empfangen, die holde, fruchtbar gebiert sie schimmernde Frucht und üppige Bäume, und der Menschen Geschlecht, gebiert alle Arten der Tiere, dadurch dass Speise sie reicht, aus der die Körper ernähren alle und fristen das süsse Leben und Nachwuchs verbreiten. Drum hat mit Recht sie erlangt überall den Namen der Mutter."
Die friedlichen Beziehungen zwischen Himmel und Erde entstehen - was für Ackerbauvölker naheliegt - aus dem guten Wetter. In einem Euripides-Fragment steht: »Die Erde liebt den Regen und sehnt sich nach ihm, wenn der ausgetrocknete, durch Dürre unfruchtbare Boden Feuchtigkeit ermangelt; der heilige Himmel, voll Regen, von Aphrodite getrieben, verlangt danach, auf die Erde niederzufallen. Wenn sich beide liebend umarmen und aus zweien eines wird, erzeugen sie alles und lassen wachsen alles, wodurch das Menschengeschlecht lebt und gedeiht.«14 In einem Fragment des Aischylos heisst es ganz ähnlich:
'
vgl. meine Ausgabe von Uli der Knecht, Stuttgart 1982 (RUB), S, 1 If und S. 400 10 Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954, S. 273f 11 A. H. Krappe: La génèse des mythes, Paris 1938, S. 73 12 ebenda S. 78 " Lukrez: De rerum natura II, 991ff, dt. von K. Büchner 14 Nauck 898
84
Sehnt sich der hehre Himmel nach der Erde Schoss, Fasst Sehnsucht auch die Erde, ihm vermählt zu sein. Und Regen, der, umarmt er sie, vom Himmel strömt, Schwängert die Erd, und sie gebiert dem Menschenvolk Der Herden Weide und Demeters Frucht fürs Brot. Der Bäume Blüte wird durch solcher Brautnacht Tau Gedeihnde Frucht. Bei alledem bin ich (Aphrodite) am Werk."
Die Vereinigung dieses kosmischen Paares ist der schöpferische Akt schlechthin, so wie Eichendorff es in seiner Mondnacht ausspricht: Es war, als hätt* der Himmel Die Erde still g e k ü s s t . . . Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus . . .
In diesem Akt wird alles heil. Aber obwohl bei den antiken Dichtern wie bei Gotthelf die liebende Vereinigung von Himmel und Erde den Segen und die Nahrung spendet und obwohl bei beiden die Herden, der Tau und Regen, die Pflanzen erscheinen, besteht doch zwischen beiden ein grundsätzlicher Unterschied. Die Worte des Aischylos, Euripides und Lukrez sprechen einen kosmogonischen Mythos aus, während Gotthelf die konkrete Erfahrung eines einzelnen Menschen gestaltet. Er verbindet also das Grosse und Allgemeingültige mit der Erfahrung der Bäuerin Änneli. Zudem überlagern und durchdringen sich die archaischen Züge des Mythos mit christlichen Erfahrungen. Ännelis Erlebnis wird zu einer Erkenntnis über die Lage der Liebiwylfamilie und die eigene Schuld, es wird also auf eine konkrete seelische und soziale Problematik angewandt und führt zur Einsicht in die eigene moralische Verantwortung: Sie wusste, dass an ihr nun alles lag . . . (VII, 9 If). Sollte Gotthelf die antike Vorstellung von der heiligen Hochzeit zwischen Himmel und Erde bekannt gewesen sein und sollte sie ihm sogar bei der Niederschrift von Geld und Geist vorgeschwebt haben, so hat er seine eigene Gestaltung mit ganz anderen Elementen bereichert; die Parallelen allein erklären noch nicht viel. Es könnte sich ja durchaus um eine originale Erfahrung und Schöpfung von Gotthelf handeln, war er doch den Elementen, Wetter und Unwetter, Vegetation, Fruchtbarkeit und Seuchen, Hunger und Überfluss fast so nahe wie die Bauern selbst. Eliade nennt die Einigung von Himmel und Erde »eine Formel, die . . . einen guten Teil der Ackerreligion deckt«.16 Daraus entsteht aber dann ein schwieriges Problem: inwiefern kann diese agrargesellschaftliche Elementarerfahrung für den 15 16
aus der Danaiderttrilogie, dt. von O. Werner Eliade I.e. S. 274 85
heutigen Städter, ja schon für den Städter zu Gotthelfs Zeit verbindlich sein? In diesen Zusammenhang - das Erlebnis einer Bäuerin - gehört auch, dass Änneli ihre seelischen Erfahrungen durch Vergleiche mit klimatischen Erscheinungen ausdrückt: ... da inwendig ists nicht gut, da hat bös Wetter alles verherget. - Und am Morgen scheint keine helle Sonne einem ins Gemüt hinein . . . unser Auge keinen Himmel mehr sieht; wie in trüben Regen-, in schwarzen Gewittertagen auch nur dunkle Wolken auf den Bergen liegen, und kein Himmel zu sehen ist. (VII, 89,90) Wie Gotthelf seine archaisch-gewaltige Vision der Einigung zwischen Himmel und Erde zur Erfahrung eines einzelnen Menschen werden lässt, das zeigt sich auch im dritten Teil der Szene. Die Bäuerin Änneli wird mit Helden, die Übermenschliches vollbrachten und Märtyrern, welche Übermenschliches ertrugen verglichen. Aber genauso wie im ersten Teil ein kosmogonischer Mythos zu individueller Verantwortung führt, genauso wird nun das Übermenschliche an Helden und Märtyrern auf die Bedürfnisse des einzelnen und des Tages angewandt: Nun aber gibt es Helden und Märtyrer immerfort, und die Gelegenheiten dazu kommen jeden Tag . . . Die ächte Kraft weiss im Kleinen gross zu sein, der öde Hochmut nur harret immer auf die Gelegenheit, gross zu werden . . . Ächte Heldenherrlichkeit, grossen Märtyrersinn findet und sieht man heute wie immer, man muss ihn nur zu erkennen wissen im Leben, und nicht bloss, wenn er geschrieben angepriesen wird; man muss ihn nur zu suchen wissen in jedem Lebensverhältnis und nicht meinen, er blühe nur auf Schlachtfeldern oder Blutgerüsten. (VII, 92f) Was in den antiken Mythen nicht gesagt wird - aber vielleicht wurde es damals doch erlebt - , hat Änneli an sich erfahren: eine Wiedergeburt. Die Szene der mit sich ringenden Bäuerin am Rain hinter dem Hof führt mit folgenden Worten wieder in die Gemeinschaft zurück: Als Änneli so auf dem Berge gerungen und gesieget hatte, und sie die Augen aufhob, da schien ihr alles noch viel schöner als sonst, und der Himmel schien ihr nicht nur die Erde zu umranden, sondern sich auf dieselbe gesenket, mit ihr verwoben zu haben, Himmel und Erde eins zu sein. Änneli wusste es nicht bis jetzt, dass, wenn der Himmel sich hinuntergelassen hat über unser Gemüt, wenn er inwendig in uns ist, unser Fuss jeden Ort, den er betritt, zum Himmel heiliget. - Gekräftigt, wie neu geboren, stieg sie zum Hause hinab. (VII, 93) In jenen Mythologien, die eine Hochzeit zwischen Himmel und Erde kennen, erscheinen beide auch als Elternpaar, der Himmel als Vater, die Erde als Mutter. Ganz deutlich sprechen Aischylos, Euripides und Lukrez in den oben angeführten Stellen von Vater und Mutter. Bei Gotthelf ist in der besprochenen Szene diese Gleichsetzung nicht ausdrücklich ge86
macht, es dürfte aber nicht fehl am Platze sein, auch bei ihm von einem Vater-Himmel oder einem Vater im Himmel und von einer zu ihm gehörenden Mutter zu sprechen. In Geld und Geist spielt sich die Auseinandersetzung zwischen dem Vater und der Mutter, dem väterlichen und dem mütterlichen Geist oder Prinzip, nicht in mythologischen Bildern, sondern in zwei Familien ab. Es geht also nun darum, den Dorngrütbauern und Änneli als Verkörperungen dieser zwei Prinzipien zu beschreiben. Der Dorngrütbauer hat viele ganz verschiedene Züge, der Kern seiner Persönlichkeit dürfte aber in seiner Einbildung liegen, dass seinesgleichen nicht auf Erden sei (VII, 223f). Aus dieser Einbildung leitet er das Recht ab, auf niemanden Rücksicht zu nehmen und seinen Willen um jeden Preis durchzusetzen: . . . wo der Vater durch will, da muss es durch, hosts, was es wolle und gehe es übel oder nicht. - Der Vater wills, und wenn der einmal etwas gewollt, so hat er noch nie abgesetzt. - . . . was der Alte wolle, das zwäng er diire und wärs durch sieben eiserne Türen durch. - . . . aber was der Bauer einmal wollte, daran war wenig mehr zu ändern .. . (VII, 189, 195, 213, 245). Für diesen Rabenvater, der für niemand Nachsicht und Geduld hatte (VII, 252), gelten die Frauen im Hause als Persönlichkeiten rein nichts. Wie seine Söhne zeigt auch er eine souveräne Verachtung gegen das Weibervolk (VII, 231). Er wisse wohl, sagt er, dass man mit den Meitschene nicht viel machen könne und man sie dafür hätte, um sie ζ ' vrmanne (VII, 269). Mit Anne Mareili will er lediglich einen Handel machen, das sei das einzige, für was man die Meitscheni brauchen könne, dass man sie reich heiraten mache (VII, 200,217). Seine eigene Frau hält er durch Demütigungen und seelischen Terror in ständiger Angst und lässt sie spüren, dass ihr Mann sie nicht zum Freund, sondern zum Hund wollte (VII, 231). Betritt der Bauer die Stube, sucht die Frau mit dem Aufschrei Herr Jesis, er chunnt! er chunnt! (VII, 22If) das Weite. Die Persönlichkeit der Bäuerin ist dermassen zerstört, dass sie sich mit allem abfindet. Auf die Frage Reslis:.. . sind dann eigentlich nur die Buben Eure Kinder . . .? antwortet sie: Was weiss ich! es ist der Brauch diese Weg, und wie es der Brauch ist, so macht mans. Ich will nicht sagen, dass das Meitschi mich nicht dauert, aber was will man, es muss es haben wie die andern auch. Dafür ist man auf der Welt... Mi muss si i d'Sach wüsse ζ'schicke ... Es hatts ein jeder auch so gemacht.. . (VII, 217) Sie habe können Hund sein fast vierzig Jahre lang (VII, 218), deshalb ist ihr Eigenwille gebrochen: sie hatte das Couragi längst verloren (VII, 221). Sie kennt es nicht anders, und ihre Tochter soll es auch nicht anders haben: Man gewöhne sich an alles ... so lerne man sich in manches schicken . .. (VII, 220) Im Dorngrüt herrscht also totale Stagnation, man nimmt alles hin. Die Frauen haben nichts zu sagen, die Männer befehlen. Im Jowägerhof herrscht ebenfalls diese Stagnation, aber dort bestimmt Anne Bäbi, wäh87
rend die Männer nichts zu sagen haben. Auf jeden Fall ist in beiden Höfen das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Personen gestört. Die Dorngrütbäuerin duckt sich, schweigt und hält es weiter aus: sie begehrte nicht Schläge, und fortlaufen konnte sie nicht, sie wusste kein Haus, wo sie Gottwilche gewesen wäre (VII, 221). Weil der Dorngrütbauer meint, es sei niemand gescheit als er (VII, 291 ), hält er es auch nicht für nötig, andere um ihre Meinung zu fragen - ganz im Gegensatz zur Liebiwylfamilie, die alles gemeinsam bespricht: In diesem Hause ward nicht Familienrat gehalten .. . hier war unumschränkte Despotie... in sein Regiment sich zu mischen, das wagte niemand. (VII, 230) Vom lieben Gott möge er nicht viel hören, sagt der Bauer, und Gotthelf wirft ihm auch Heidentum und Götzendienst (VII, 269, 203f) vor, weil er seine Tochter seinen materiellen Interessen opfere. Die Persönlichkeit dieses Bauern ist im wörtlichen Sinne patriarchalisch: der V a t e r ist es, der h e r r s c h t . Als Resli an die Rücksicht seiner Mutter gegenüber erinnert: U sött ih angers denke gege dr Mutter, wo geng e Mutter a mr gsi ist... da antwortet der Dorngrütbauer: Was frage ich deiner Mutter nach, die geht mich nichts an, und zu meinen Kindern will ich schon sehen, die werden öppe nicht viel anders machen, als ich will. (VII, 326) Wie Bornemann gezeigt hat, trifft das Wort »Matriarchat« nicht genau den Sachverhalt, den man meint, »weil die griechische Wurzel archos = Herrscher andeutet, dass hier die Mutter h e r r s c h t . Das tut sie aber gemeinhin nicht. Alle jene Kulturen, die Lewis Henry Morgan, der Popularisator dieses Ausdrucks, in seinen Werken beschreibt, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Mütter ihre latente Macht im Gefüge der Sippe oder des Stammes n i c h t zur Beherrschung ihrer Gatten, Väter und Söhne verwenden. Eben darin liegt der charakteristische Unterschied zum Patriarchat, das ein echtes Herrschaftssystem ist.«17 So ist zwar Änneli die mächtigste Figur des ganzen Buches, der Mittelpunkt der Liebiwylfamilie, um den sich alles dreht, aber sie wirkt nicht als Herrin oder Herrscherin, die ihren Willen durchsetzt. Eugen Huber, der Schöpfer des schweizerischen Zivilgesetzbuches, hat in einem Vortrag gezeigt,18 dass der Dorngrütbauer mit seinen drei Forderungen: 1. Bevorteilung Reslis vor seinen Geschwistern; 2. Abtretung des Hofes an Resli zu Lebzeiten der Eltern; 3. Vererbung des Hofes bei kinderlosem Absterben Reslis an Anne Mareili und damit an die Dorngrütfamilie - ganz und gar auf dem Boden des damals geltenden 17
18
88
Ernest Bornemann: Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems, Frankfurt a.M. 1975, S. 13 Eugen Huber: Die Rechtsanschauungen in Jeremias Gotthelfs Erzählung »Geld und Geist«, Bern 1962, S. 2 Iff
Rechts steht. »Daraus ergibt sich dann auch«, so Huber, »dass der Gegensatz zwischen Liebiwyl und dem Dorngrüt ja nicht etwa darin gefunden werden darf, der Dorngrütbauer vertrete >das juristische Denken< und Liebiwyl >die sittliche AuffassungIch begreife my armi nit, wie du ne dä Weg mast; wenn ih Meister wär, wohl, di wett ih ne lehre trinke, wie me ne trinke söll!< So ein Anne Bäbi weiss ume ey Weg, und was nit uf dem Weg ist, ist uf em Holzweg . .. (V, 223 f) Und dieser Eigensinn wirkt sich begreiflicherweise nicht nur auf den Kaffee aus, sondern auch auf die Heiratspläne und das Glück des Jakobli. Gotthelf räumt zwar ein: Wohl mag es zuweilen einem weisen Menschen, der Welt und Herzen kennt und nicht nur den Wandel der Dinge, sondern auch den Wandel der Herzen, erlaubt sein, einen von Gott ihm Anvertrauten abzuhalten oder wenigstens hinzuhalten, sein Leben an Nichtiges zu setzen, sein Glück an eine Torheit; er weiss, dass jeder Rausch verflattert, und im Rausche sieht er den, der den Wurf wagen will. Aber er schränkt dies gleich wieder ein mit Worten, die bereits an die Weisheit des Pfarrers von Gutmütigen erinnern: Aber es ist auch hier die grösste Vorsicht nötig, eine Weisheit, in den Stürmen der Welt erprobt, eine Liebe, die sich nicht verbittern lässt, nicht das Ihre sucht; wer mit Räuschigen zu tun gehabt, weiss, wie schwer sie zu behandeln sind, wie leicht der, den man von leichtem Fall behüten wollte, den ganzen Leib aus dem Fenster oder ins Wasser wirft. (V, 2240 Und dann liefert uns Gotthelf selber den Beweis, dass sein Anne Bäbi eine Mentalität verkörpert, die der des Pfarrers entgegengesetzt und die nicht auf die Landbewohner beschränkt ist. Über die obige Einschränkung - Aber es ist auch hier die grösste Vorsicht nötig . . . - fortfahrend, nimmt Gotthelf das Anne-Bäbi-Thema aus dem ersten Satz wieder auf: Aber von so etwas hat ein Anne Bäbi gar keinen Verstang; auf selligs Gstürm verstehe es sich nichts, sagt es, u was gut syg, syg gut, u wenn es es gut meine, su well es de bim Dolder luegen, ob man ihm nicht folgen sollte. (V, 225) Zur Ichbezogenheit und Unfähigkeit, mehr als einen Gedanken zu denken - wenn es eine Sache recht im Kopfe hatte, so hatte es für keine andere mehr Sinn und bekümmerte sich um keinen Menschen mehr (V, 104) - gesellt sich Anne Bäbis Herrschsucht, der Drang, Meister zu sein (V, 73, 221, 223). Anne Bäbi regierte, duldete keine Widerrede. (VI, 119) Anne Bäbi hatte einen sehr schwachen Kopf und führte doch ein absolutes, despotisches Regiment, was öfter beisammen ist, als man glauben sollte, aber exempla wären odiosa. (VI, 183) Wenn Anne Bäbis Pläne sich nicht durchführen lassen, scheitern, auf Widerstand stossen oder von andern durchkreuzt werden, reagiert sie immer auf dieselbe Art: sie droht mit dem Zusammenbruch und wirft die Flinte ins Korn. Als Hansli wegen Jakobiis Tellerkappe das härteste Wort gesagt (hatte), welches während ihrer Ehe ihm zum Munde herauskam ... : >He nu so de, wenn ds zwänge witt, so zwängs.U, da duechte ihns kein Wein gut und kein Fleisch . . . und es hets duecht, wenn Hansli so werden wolle, so möchte es lieber nicht lange mehr dabeisein. (V, 16f) Es duecht mi, ih möcht nimme drbysy. U wenn ih ume fr gwüss wüsst, wie ers 97
gmeint het, ih lüffuri, oder ih häychti mi.. . (V, 100) Gotthelf fügt zwar bei, diese Worte seien mehr in Anne Bäbis Mund als in ihrem Herzen gewesen, und das »Dabeisein« im Sinne von »miteinander leben« oder »es miteinander gut haben« ist bei Gotthelf häufig. Aber diese Drohungen des Anne Bäbi sind nun einmal der einzige Ausweg, wenn es keinen mehr zu geben scheint: Ich muss sagen, ich weiss manchmal nicht, wo ich sein will, und es ist mir schon manchmal angst geworden, ich mach noch etwas Lätzes (ein Ausdruck, mit welchem der Selbstmord bezeichnet wird). (V, 48) . . . dass ich mir einst vorkommen sollte nicht viel besser als ein Mörder und längs Stück nicht wüsste, was besser, Feierabend mache, eine schöne Glungge oder ein batziger Hälsig (V, 49). Nach dem Tod von Meyelis Kind macht Anne Bäbi wirklich zwei Versuche, sich das Leben zu nehmen (VI, Kap. 11 und 12). Auch des experimentum medietatis macht sich Anne Bäbi schuldig. Nach einem nächtlichen Angsttraum beklagt sie sich, es dueche ihns, wenn man dr Tag öppe seine Sache gemacht hätte, wie me chönne und möge, so könnte der Herr einen zNacht rühyg lassen. Anne Bäbi wusste auch noch nicht, was der Herr macht, und was so ein Anne Bäbi selbst macht. (V, 160) Wenn ein Engel vom Himmel gekommen wäre, so wird schon im ersten Kapitel des Romans erzählt, und gesagt hätte: >Hör, Anne Bäbi, der liebe Gott ¡¿isst dich grüssen und dir sagen, die Nidle für dein Bübli sei zu mastig, das Fleisch für dein Bübli zu scharf, daher kämen seine bösen Ohren und Augen, Milch ist lange gut genuggewohnten Lokal·, der Kneipe, zur Genüge kennen lernen. Der Kern dieser Grundsätze ist in Bezug auf das Uberweltliche der ausgesprochenste Unglaube, eine gänzliche Leugnung und Lästerung des Christentums, die offen dargelegte Absicht, dem Gebet, der Frömmigkeit einen tätlichen Krieg zu machen, die Kirche mit Hohn und Schimpf zu vertilgen, ein Kunstheidentum herzustellen, wie's der >Katechismus der freien Gemeinden lehrte - und in Bezug auf das Weltliche, den Sinnengenuss an die Stelle von Tugend und Recht zu setzen vermittelst des ausgesprochensten Sozialismus und Kommunismus. Wenn man Belege dafür will, so sind wir bereit sie zu geben. Diese Lehre wollte der Meister durchführen mit blutiger Gewalt, mit Hinrichtung aller Widerstrebenden durch Guillotine und Generalgalgen, ein neues von ihm erfundenes Mordinstrument, woran er Tausende von > Volksfeinden, wie er alle, die nicht seine Meinungen teilten, zu nennen pßegte, hoffte >baumeln< zu sehen. Wen kanns danach gelüsten? (14,214) Obwohl alle hier enthaltenen Ausprägungen des von Snell verbreiteten Zeitgeistes auch in Gotthelfs Romanen bekämpft werden, und obwohl Stämpfli Gotthelfs Hand in diesem Artikel zu erkennen glaubte, sind wir uns über die Gefahren eines parteilichen circulus vitiosus im klaren. Bei der Erörterung der Romane Gotthelfs muss uns die Frage leiten, inwiefern diese Parteihetze zu Gotthelf wesentlich gehört oder nicht gehört. Zunächst müssen wir aber unsere historische Skizze zu Ende führen.34 Stämpfli war der Finanzdirektor der 46er Regierung, und als solcher brachte er den Kanton an den Rand des Bankrotts. »Hatte der Kanton Bern nach der Behauptung Stämpflis bei einem >schlechten< Finanzsystem die besten Finanzen Europas besessen, so sollte er jetzt mit einem >guten< System seinen Reichthum binnen Kurzem ruinieren: mehr als je schien der Vorwurf begründet, der schon zehn Jahre früher ausgesprochen war: >Die schweizerischen Radikalen sind gemeine politische Dilettanten^« So Blösch,35 aber das ist die Stimme eines Gegners. Im Herbstgespräch aus Anlass der Nationalratswahlen (15, 274ff) schiebt Gotthelf die Mängel der radikalen Politik hauptsächlich Stämpfli in die Schuhe, den er auf jeder Seite mehrfach angreift. Stämpfli erscheint in Gotthelfs Äusserungen als ein gesteigerter Neuhaus. Der redet ja noch jetzt wie vom Himmel herab, und tut ärger als Nebukadnezar, als ob er es sei, der unsern Herrgott abgesetzt. (15, 290) Gleichzeitig wirft er Stämpfli in einen Topf mit der Bewegung des Jungen Europa: Er hat es gerade wie die fremden Revoluzzer oder Propagandisten, der Mazzini, der Becker und die badischen Helden, die machen sich nicht das geringste Gewissen daraus, » 3i
über Snell vgl. auch Feller I.e. S. 149f und S. 153ÍT Blösch I.e. S. 194
172
das Volk ins grösste Unglück zu stürzen, wenn nur sie wieder obenauf kommen. (15, 286) Die kurioseste Form des Angriffs ist die Erfindung des Verbums stämpfeln. So schreibt Gotthelf im Jakob, dieser habe noch nicht, die Frechheit der jungen Schule, welche alles für erlaubt hält, was ihnen dient, er konnte noch nicht stämpfeln ( Berner Ausdruck für wissend lügen). (IX, 395) In Zeitgeist und Bernergeist heisst es: >Das ist gelogen und zwar gestämpfeltA (So werden im Kanton Bern seit einiger Zeit die Lügen geheissen, wo der Lügner mit Bewusstsein und unnachahmlicher Frechheit der Wahrheit geradezu ins Gesicht schlägt.) (XIII, 380) Oder Gotthelf erfindet den Ortsnamen Stämpflige (X, 402). Neben Gotthelfs Einschätzung muss aber auch erwähnt werden, dass Stämpfli später dreimal Bundespräsident der Schweiz wurde (1856, 1859 und 1862) und - neben dem Zürcher Alfred Escher - der Förderer eines gesamtschweizerischen Eisenbahnnetzes war. Und in diesem grösseren Zusammenhang taucht wieder ein typischer Vorwurf Gotthelfs auf. Er nennt Escher den zürcherischen Diktator und Perikles (XIII, 396), er wirft ihn mit den Führern des badischen Aufstandes in einen Topf: . . . ein neues Europa . . . von wo aus Blenkerischer Mut und Escherische Weisheit die Throne stürzen werden und zwar alle im Himmel und auf Erden (XIII, 405). Und auch hier wieder die Opposition gegen Zentralisierung von Macht: Escher verfüge über Telegrafen, die allen Schweizern mitteilten, was er geräuspert und was er gespuckt (XIII, 391). Gotthelfs Attacken gegen Parteien und Männer wachsen sich auch hier schnell zu Angriffen gegen Tendenzen des Jahrhunderts aus. Die Regierung von 1846-1850 wurde - wohl nicht ohne Hohn - auch als »Freischarenregiment« bezeichnet,36 weil sie vom Geist und den Führern der Freischarenzüge bestimmt wurde. In die Zeit dieser Regierung fallen zwei wichtige Ereignisse: die Zerschlagung des »Sonderbundes« durch eidgenössische Truppen Ende 1847 und die Berufung des liberalen Theologen Eduard Zeller an die Universität Bern, der sogenannte Zellerhandel. Zellers Berufung erzeugte einen ungeheuren Sturm im Kanton Bern und regte Gotthelf zu dem Pamphlet Versöhnung des Ankenbenz und des Hunghans, vermittelt durch Professor Zeller, der Urform von Zeitgeist und Bernergeist, an. Die Erwartungen beider Seiten wurden jedoch enttäuscht, da Zeller eine eher trockene Gelehrtennatur war und sich nicht in Berns öffentliche Angelegenheiten mischte. Bereits 1849 folgte er einem Ruf nach Marburg. »Im Zellerhandel ging es in erster Linie nicht um eine Person, sondern um Grundsätze. Im Mittelpunkt standen die Fragen: Wieweit kann der Staat seine Rechte und seine Autorität 36
ebenda S. 192ff
173
durchsetzen; wieweit kann es die Kirche und die religiöse Gemeinschaft tun? Wieweit kann sich zwischen den beiden Lebensordnungen die freie Forschung behaupten.«37 Für die Eidgenossenschaft brachten diese Jahre die Bundesverfassung von 1848. Bei den Grossratswahlen 1850 im Kanton Bern erhielten die Konservativen eine knappe Mehrheit. Eduard Blösch, der in Gotthelfs Haus in Lützelflüh verkehrte, löste Jakob Stämpfli als Regierungspräsident ab. Der Parteihader ging weiter und drohte jegliche Regierungsarbeit zu lähmen. Bei den Grossratswahlen 1854 errangen wieder die Radikalen eine knappe Mehrheit. Des über zwanzig Jahre währenden Haders müde, beschloss man, fortan gemeinsam zu regieren. Eine Fusion beider Parteien brachte Blösch und Stämpfli gemeinsam in die Regierung. Da wurde eine sehr merkwürdige Fusion gemacht (9, 110), schrieb Gotthelf im Juni 1854 an seinen Verleger Julius Springer. Der Dichter war damals schon schwer krank und starb am 22. Oktober desselben Jahres.
2. Staatskrise, Religionskrise, Zeitenwende Überblickt man die Geschichte Berns von der unblutigen Revolution 1831 durch die Schnell, über die Jahre mit Neuhaus von 1838 bis 1846, das Entstehen der Verfassung von 1846, die radikale Regierung von 1846 bis 1850 unter Stämpfli und Ochsenbein, die konservative Regierung von 1850 bis 1854 unter Blösch bis hin zur Fusion der beiden Richtungen unter Blösch und Stämpfli seit 1854, so entsteht das Bild eines heftigen Kampfes zwischen Alt und Neu. Gotthelf, der auf der Seite der Schnell und Blöschs stand, befand sich schon in den frühen Dreissigerjahren in Opposition zu allen entscheidenden Ereignissen und Entwicklungen der Berner Politik. Bei seiner heftigen Parteinahme pro und contra ging Gotthelf von der Voraussetzung aus, dass seine eigene Position sowie der Menschentypus, den er in seinen Werken als vorbildlich schilderte, auf einer Gesamtschau, auf der Ganzheit aller Kräfte beruhten. Diese Gesamtschau, davon war er überzeugt, verband Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits, Leib und Seele, das Buch des Lebens und das Buch der Bibel (s.o.S. 83). In dem kleinen Aufsatz über Nikiaus von der Flüe schreibt er über den Schweizer Nationalheiligen: Sein Leben war im Himmel, aber klar lagen vor ihm die menschlichen Verhältnisse, Gottes Wort und die Zeitläufe 37
Baumgartner I.e. S. 61
174
kannte er ungetrübt. (10, 234) Der Pfarrer und Dichter Bitzius fühlt sich als Politiker durch und durch, wenn er von sich sagt: Der Verfasser glaubt die wahren Bedürfnisse der Zeit zu kennen . . . (XII, 6) Als er einmal seine Tochter Jetti nach Bern zum Zahnarzt brachte, liess er es sich nicht nehmen, die Sitzung des Verfassungsrates zu besuchen (6,296). Demgegenüber stellen sich ihm der Radikalismus und der von diesem vertretene Zeitgeist als Teilwahrheit und Sektierertum dar. Über die Radikalen schrieb er schon 1831: . . . sie mahnen mich auffallend an religiöse Sektierer; sie allein haben den seligmachenden Glauben, wie sie meinen. Sie hassen, verfolgen alle, die ihn nicht teilen, meiden sorgfältig ihren Umgang, suchen Proselyten zu machen, setzen in einige Worte alles Heil, glauben durch einen unmittelbaren (ich mag nicht sagen heiligen) Geist erleuchtet zu sein und verachten Erfahrung und Wissenschaft usw. (4, 112) Zwanzig Jahre später schreibt er im Vorwort zu Zeitgeist und Bernergeist: Wer mit Liebe am Volke hängt, klar in dessen Leben sieht, der muss überall mit der radikalen Politik feindlich zusammentreffen, denn dieselbe ist eigentlich keine Politik, sondern eine eigene Lebens- und Weltanschauung, die alle Verhältnisse einfasst, der ganzen Menschheit sich bemächtigen will. Durch eine eigentliche Sekte wird sie getragen, von Fanatismus, welcher den Sektierern eigen ist, werden ihre Anhänger getrieben. Ihre Parole ist Vorwärts, Fortschritt, ihr Feldgeschrei Freiheit. Wo war je bei einer Sekte Freiheit? Ist das Leugnen einer höhern Welt, das Wandeln im Fleische, das Beissen und Fressen untereinander Fortschritt, Vorwärts? (XIII, 9) Es ist eine erschütternde Erkenntnis, dass diese Eigenschaften, die Gotthelf den Radikalen als dem Antichristen (7, 237) zuschreibt - auch ihm selbst nicht ganz fremd gewesen sind. Aber diese vom Parteienhader ausgehende Betrachtungsweise bleibt an der Oberfläche. Die Parteibezeichnungen »konservativ« und »radikal« müssten in jedem Fall auf ihren wahren Gehalt, nicht nur auf ihre ideologische Hülsenform hin untersucht werden. Das Ganze ist der Ausdruck einer Krisenzeit. Meine politische Meinung, schreibt der Dichter an den Luzerner Arzt M. A. Feierabend, hat sich in Kriegszeiten bewährt. Sie will jeglichen Fortschritt, aber jeden so, dass er nicht zur Reaktion führt. Ich kenne das Bernervolk, es will vorwärts, aber langsam. Den Reiter, welcher es aus seinem natürlichen Gange bringen will, wird es abwerfen, die diesen Augenblick herrschende Meinung der Partei hat es so weit gebracht, dass sie nichts schützt als die Pomade des Volkes und die Furcht vor dem Patriziat. Ich bin der Meinung, dass wir von uns aus uns entwickeln, nicht irgendeiner fremden Macht Narr sein sollen, weder der jesuitischen noch der jungeuropäischen. Den Radikalismus liebe ich im Gemüte, das für Ideale schwärmt, in Begeisterung erglüht; dem Radikalismus wehre ich, der Spargel pflanzen 175
will in wildem Weidboden, oder Pfersichte zweien auf Bärendalpen, oder andere Doldengewächse, oder Nelken auf alte Buchenstöcke; den Radikalismus hasse ich, der nichts ist als der Schweinetrog, aus welchem man seine Treber frisst, der nichts ist als der Pietismus der Speisprediger, die Musik der Speisgeiger, nur alles um so schlechter, herz- und ohrenzerreissend, je gieriger die Gier der Gierigen ist. Den katholischen Radikalismus aber bedaure ich durchweg, traue ihm aber nie; Sie sehen, ich rede aufrichtig. (6, 690 Ist der Kampf, den Gotthelf so kompromisslos und rücksichtslos führt wie seine Gegner, nur die Oberfläche? Die zitierte Briefstelle deutet klar darauf hin, dass er von Kampfrufen, Schlagworten und Parteigetue absehen konnte. An Fröhlich schreibt er einmal den Satz: Die Despotie fängt an zu wachsen aus der Freiheit heraus auf abscheuliche Weise. (7, 110) Und dass hinter der Freischarenhetze andere Interessen als das Wohl und die Freiheit der Luzerner standen, spricht er 1845 gegenüber Feierabend und Stöber aus. Ich bin überzeugt, dass die ganze Bewegung keine eigentlich schweizerische ist, dass sie von der Propaganda ausgeht, die halb in Paris, halb in London sitzt, dass die Jesuiten nur der Vorwand waren, der Umsturz des Bundes der nächste Zweck, der Hauptzweck aber immer noch die Hoffnung, dass wo mal was gehe, vielleicht doch endlich der seit 14 Jahren sehnlichst gehoffte europäische Krieg sich entzünde. (6, 158f) Man würde sich im Ausland sehr täuschen, wenn man glauben wollte, es handle sich bei uns eigentlich um die Jesuiten, die sind nur das Stichwort, um damit das Volk aufzuhetzen ... Es ist eigentlich ein Krieg der Begehrlichen, Ungläubigen, Ungebildeten gegen Wissenschaft, Religion und Besitzung. (6,191 f) Hier spricht Gotthelf über die Krise des Liberalismus. Überhaupt stösst man in Gotthelfs Briefen immer wieder auf die Erfahrung, in einer Krisen- und Gärungszeit zu leben. Geht überhaupt bös in der Welt, schreibt er 1843 an Fetscherin, wird der jüngste Tag wohl nahe sein. (5, 304) Im Dezember 1845 an den Pfarrerkollegen Tschudi: Unsere politischen Zustände nahen sich einem Abgrund, der uns alle verschlingen kann, wenn nicht Männer der tollen Herde eine andere Richtung zugeben vermögen. (6,144) Er hat das Gefühl, auf einem Vulkan zu leben (7, 32 u. 86). 1846 schreibt er an Burkhalter: Ich sehe unsere Zustände schon lange für äusserst gefährlich an, wie Sie wissen . . . Die Leute taumeln in einem schweren Rausche, und da ist nicht zuzusprechen, nicht abzuwehren, so wenig als besoffenen Nachtbuben . . . (6, 333f) Und den Neujahrsbrief 1849 an Fröhlich schliesst er mit einem Hinweis auf die Apokalypse: Was sagst Du zum Weltlauf? ... Ich habe manchen Sonntag über Stellen aus der Offenbarung gepredigt, es gefiel den Leuten. (7,170) Gotthelf erfahrt seine Zeit als eine Krisenzeit, nicht als eine gute, alte Zeit. Ein altes, umfassendes Weltbild wird von einer mutwilligen und zu176
kunftsfreudigen Generation zerbrochen und zum alten Eisen degradiert. Anders als bei der durch den 1. Weltkrieg an den Tag gekommenen europäischen Kulturkrise - ihr ging ein Zusammenbruch voraus - hatten die Tendenzen der dreissiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts den Erfolg und die Zukunft zunächst auf ihrer Seite. Zwischen Hagenbachs Wort, das er im November 1843 an Gotthelf schrieb: »Die alten Klöster stürzen ein und die Schienen zur Eisenbahn werden schon bereitet. Ob es auch da heissen wird: bereitet dem Herrn den Weg?« (5, 358) und Musils Wort: » . . . ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!« - dazwischen liegt der Zusammenbruch des Liberalismus. Dass nicht alle Gotteshäuser zu Krankenhäusern wurden, hat Schnitzler in seinem Professor Bernhardt dargestellt.
177
II. Der Herr Esau (1844)
1. Z u r Entstehung des R o m a n s Die dreizehn Romane Gotthelfs lassen sich ihrer Popularität nach in drei Gruppen einteilen. Am bekanntesten und populärsten sind ohne Zweifel Uli der Knecht, Uli der Pächter, Anne Bäbi Jowäger, Geld und Geist und Die Käserei in der Vehfreude. Diese fünf wurden auch alle verfilmt. Zur zweiten Gruppe, schon weniger bekannt, gehören der Bauern-Spiegel, die Leiden und Freuden eines Schulmeisters, Käthi die Grossmutter, Der Geltstag und das gewichtige Werk Zeitgeist und Bernergeist. Es bleiben drei so gut wie unbekannte Werke übrig: der umstrittene Jakob, Gotthelfs Handwerksburschenroman, zweitens sein letztes Werk, die Erlebnisse eines Schuldenbauers, und ganz zuletzt, völlig unbekannt und vergessen, nur ein einziges Mal gedruckt, Der Herr Esaù. Im Mai 1844 schrieb Gotthelf an Fetscherin: dato arbeite ich an >Herr EsauAnne Bäbis< Ernsthaftigkeit (6, 55). Drei Monate später schrieb er an Wolfgang Menzel: Gegenwärtig habe ich unsere politische Kopf- und Ratlosigkeil auf dem Korne. (6, 91) Der Herr Esaù sollte also ein politischer Roman werden. Wie bei anderen seiner Werke auch, schickte Gotthelf grössere Teile des Manuskripts seinem Vetter Carl Bitzius zur Begutachtung. Nach dessen Vorstellung von einem dichtenden Pfarrer und christlichen Volksschriftsteller - er mass den Herrn Esau am Uli, an Dursli der Branntweinsäufer und an Geld und Geist - war das neue Werk »bloss eine Spassmacherei ohne höheren erreichbaren Zweck, eine Posse, die Lachen erregen, in der man bei vielen einzelnen Schilderungen dein Talent bewundern wird, die aber zur Hebung des Guten im Volk oder bei einzelnen nichts beitragen kann . . . die Hauptsache (etwa die Förderung einer schönen Gesinnung, die abschreckende Schilderung eines Lasters etc.) finde ich nirgends.« (6, U l f ) Im Februar 1845 rät Carl Bitzius sogar - inzwischen hatte er auch den zweiten Teil des Herrn Esaù gelesen - ,«dass eine Publikation desselben gegenwärtig - und vielleicht noch viele Jahre - nicht ratsam sei. Er ist und bleibt nun einmal fast durchgängig eine beissende Satire auf Regie178
rungspersonal, Regierungsweise und unsre neuen Zustände überhaupt, die dir ganz unzweifelhaft die grössten Verdriesslichkeiten zuziehen würde!« (6,170) Nach dieser ablehnenden Kritik seines Vetters hat Gotthelf sich entschlossen, das umfangreiche Manuskript in die Schublade zu legen, es nicht zu veröffentlichen. Ich habe das ganze letzte Jahr an einer Arbeit geschafft, schreibt er im März 1845, die ich in diesen Zeiten liegen lassen muss. (6,178) Zwar hat er später noch drei Erzählungen und einige Motive aus dem Stoff des unveröffentlichten Herrn Esaù herausgenommen: Der Besuch auf dem Lande (XIX), Wahlängsten und Nöten des Herrn Böhneler (XIX), Der Ball (XXI), Der Notar in der Falle (XIX) und Niggi Ju (XXI); aber das i/err-EyaH-Manuskript blieb in der Schublade, und erst im Jahre 1922 - also 68 Jahre nach Gotthelfs Tod - wurde es im Rahmen der grossen Ausgabe des Rentsch-Verlags von Rudolf Hunziker ediert. (Übrigens nur in dieser Ausgabe.) Diese äusseren Umstände können die Unbekanntheit des Herrn Esaù erklären. Aber darin liegt auch ein grosser Vorteil. »Die Sprachform des >Herrn EsauHerr Esau< nicht nur in bezug auf den Umfang, sondern hinsichtlich der inneren Werte und des seelisch-kulturellen Ausmasses die bedeutendste Erzählung Gotthelfs geworden.« (2, 291) Der Rat von Carl Bitzius mag taktisch klug gewesen sein, aber sein Werturteil war eindeutig falsch! So blieb der Herr Esaù, der in der erregten Zeit der Freischarenzüge entstand, ein Torso. Da der Herr Esaù der unbekannteste Roman Gotthelfs ist, sei der Inhalt kurz skizziert. Gotthelf führt dem Leser breit angelegte Szenen aus dem Leben dreier Familien vor. Am häufigsten erscheint die Familie der Titelfigur: Herr Esaù, ein liberaler Politiker, seine Frau, die Tochter Lisette und der Sohn Jakob. Die Familie Esaù wohnt in der Stadt, das Buch ist also kein reiner Bauernroman. Die zweite Familie ist die des reichen Bauern Sime Sämeli in Züsiwyl: Sime Sämeli, seine Frau Anni, die Töchter Züsi und Bäbeli und der Sohn Sämi, ein Militärdienstkamerad von Jakob Esaù. Nicht ganz so häufig erscheint die dritte Familie, die des Majors: Vater, Mutter, die Töchter Isaline und Seraphine und der Sohn Adolf. Die Majorsfamilie, die auf dem Lande wohnt, verkörpert die alte, im Jahre 1831 entmachtete Aristokratie. Alle drei Familien werden von den bevorstehenden Wahlen bewegt, für welche die drei Väter 1
Karl Fehr: Jeremias Gotthelf, Stuttgart 1967 (Slg. Metzler 60), S. 54 179
kandidieren, und bei denen gegen Schluss des vorliegenden Buches nur Herr Esaù gewählt wird. Der Herr Esaù ist - wie die erste Fassung des Uli und der aus drei Novellen bestehende Geld und Gewi-Roman - nicht in Kapitel eingeteilt. Es lassen sich aber deutlich folgende Blöcke unterscheiden: Band 1 1. Familie Esaù Familie des Majors Sämi und Jakob in der Garnison 2. Sämi und Jakob in Züsiwyl 3. Jakobs Rückfahrt in der Postkutsche Zwei Gespenster in der Postkutsche? Untersuchung wegen der zwei Gespenster 4. Eidgenössisches Schützenfest in Chur Band 2 1. Sime Sämeli und der Major 2. Briefwechsel zwischen Züsiwyl und Bern Vorbereitung eines Festes 3. Fest und Heimkehr 4. Wahlen 5. Jakob geht aufs Land
S. 13- 69 S. 69-153
S.153-203 S.203-325
S.
7 - 44
S. 44-112 S.112-175 S. 176-225 S. 226-258
Was die Torsohaftigkeit des Buches anbelangt, so muss noch auf folgende Widersprüche hingewiesen werden. Gotthelf scheint es darauf angelegt zu haben, die Stadt, in der Familie Esaù wohnt, nicht zu nennen, wohl in der Absicht, nicht lokalbernische, sondern gesamtschweizerische, eidgenössische Probleme zu gestalten. Aber bei der Ausführung muss er das ab und zu vergessen haben, das Buch ist ja auch weder korrigiert noch ausgefeilt. So sagt Jakob Esaù zu Sime Sämelis Tochter Bäbeli: Aber versprechen müsst Ihr mir, nach Bern zukommen . . . (1,149) Oder Herr Esaù senior wirft seinem Sohn Jakob vor - er hat Geld verlangt - : Da muss gsigärrlet sy, in das Café gelaufen alle Tag, alle Sonntag nach Muri, Gümligen, Papiermühle oder sonst an ein Lumpenort, muss zwischendurch gehudelt sein beim >Schlüssel< (Aarbergergasse) oder beim >Storchen< (Spitalgasse) . . . (1, 36) Die Familie Esaù lebt also doch wohl in Bern. Im Roman findet ein Schützenfest in Chur statt, obwohl Gotthelf im Vorwort ankündigt, er wolle von einem Schützenfest in Basel erzählen (1, 12). Zwar schrieb Gotthelf in dem oben zitierten Brief: dato arbeite ich an >Herrn EsauJakob< (1, 12), Jakob, den Sohn, nicht Esau, den Vater. »In der Tat ist nicht Esau die Hauptperson der Erzählung, sondern dessen Sohn Jakob« (2, 286), behauptet der Herausgeber. Das Buch vom Herrn Esau schildert auch die Entwicklung Jakobs von einem willensschwachen, ungeschickten jungen Burschen, der nicht so recht weiss, was er auf der Welt soll, und der ständig von andern ausgenutzt, übertölpelt und hereingelegt wird - hin zu einem selbstbewussten Mann, der seine eigenen Entscheidungen zu treffen weiss. Kurz, er wollte ein ganz neues Leben führen, heisst es gegen Schluss (2, 233). Er verzichtet auf eine von seinem Vater eingefädelte Karriere in der Stadt und übernimmt eine Stelle in einer Bezirksschreiberei (2, 226) auf dem Land. Mit der Ankunft Jakobs im Dorf endet das Buch. Ein Entwicklungsroman ist es deshalb freilich noch nicht, auch nicht in der Art des Uli. Es scheint vielmehr des Dichters Absicht gewesen zu sein, die drei genannten Stände in ihrer Beschränktheit und ihren gestörten Beziehungen auf satirische Art zu schildern und in diese Schilderungen die Geschichte Jakobs einzuflechten. Der vierte Stand wurde nicht berücksichtigt.
2. D e r Zeitgeist ist Schwindel Gotthelf kann also nicht die Absicht gehabt habe, ein Buch zu schreiben, wie es sich sein Vetter Carl Bitzius vorstellte. Der Herr Esau sollte also auch nicht mit der Erwartung auf Seelenmalerei und Erbauung, sondern als Zeitsatire gelesen werden. In diesem Sinne ist die Torsohaftigkeit und die Unbekanntheit des Werks zu bedauern, denn es wirft ein ganz eigenes Licht auf alle anderen Schriften des Dichters. Alle Figuren im Herrn Esau, vor allem die Mitglieder der drei Familien, werden von zwei Hauptmotiven in all ihren Aktivitäten angetrieben: dem Kampf um Geld und dem Kampf um Prestige. Eine statische Ordnung der Gesellschaft, die jeden an seinen Ort stellte, ihm Achtung und Würde verlieh, ist erschüttert, und es hat eine Unruhe und Nervosität des Kampfes aller gegen alle begonnen. Die Emanzipation des Individuums und seiner Subjektivität hat dieses Individuum verunsichert, verblendet und für Ideologien anfällig gemacht. Da sei die rechte Freiheit, behauptet ein Schütze in Chur, wo jeder tun und sagen könne, was er wolle, und der Stärkste Meister sei, und wenn er der Stärkst wär, so wäre ihm da am wöhlsten, sonst aber nicht. (1, 301) Und ein anderer: Die Leut 181
wissen, was sie wollen, haben einen festen Zweck. Der Zweck soll erreicht werden mit allen möglichen Mitteln, guten oder schlechten, Lugi oder Wahrheit, und davon brächte sie selbst der Teufel nicht ab. ( 1, 319) Die drei Familien unterscheiden sich allerdings dadurch, dass die des Majors und die Esaus kein Geld haben, die Sime Sämelis dagegen reich ist und - wenigstens in der eigenen Umgebung - auch Ansehen geniesst. Aber der Drang nach Geld und Prestige ist ihnen doch gemeinsam. Er äussert sich in Spekulationen auf reiche Heiraten und einträgliche Stellungen, also auf Karriere. Ma foi, Geld ist geng Geld (1, 60) sagt Adolf, der Sohn des Majors, nachdem ein gewisser Rudi Hoch nicht seine Schwester Seraphine, sondern ein reicheres Fräulein namens Melanie Dünn heiraten will. Und die Majorin tröstet ihre zweite Tochter Isaline mit der Überlegung: wenn es mit Jules Dick fehle, so könne es mit Robert Mutz geraten, und wenn Seraphine Rudi Hoch entgangen sei, so sei immer noch Fritz Τ ätsch da, welcher noch reicher sei als Rudi Hoch .(1,61) Der Besuch Jakobs auf dem Hof zu Züsiwyl zeigt den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Stadt und Land. Der unerfahrene, ungeschickte, kleinmütige, seinen Liebe-Geld-Karriere-Phantasien hingegebene Städtersohn macht sich in der ungewohnten Bauernwelt lächerlich. Aber wie in diesem Buche an keiner einzigen Stelle irgendein Teil der Menschheit idealisiert, nirgends das Land- gegen das Stadtleben ausgespielt wird, so haben, wie alle anderen auch, die Züsiwyler mehr schlechte als gute Seiten, unterliegen ihrem von keiner Veränderung beeinträchtigten Egoismus. Sime Sämeli war keine Staatsmajestät, aber für eine souveräne Majestät hielt er sich selbst, sein Reich war sein Geldseckel. (1, 85) Geizhals war er keiner, er hasste die Ηoffart, aber auf altertümliche Weise konnte er grosstun. Für eine Schlägerei seines Sohnes, in welcher derselbe einige halbtot geschlagen, konnte er mit grossem Behagen hundert Kronen zahlen ... Er und sein Anni lebten so ziemlich in holder Eintracht miteinander, beide meinten sich miteinander. Wie sein Anni gebe es keine, sagte er; Sime Sämeli sei doch denn zletzt alle Meister, wenn es darauf abkäme, sagte sie; beide teilten den süssen Glauben, ihnen komme niemand im ganzen Kanton gleich, sowie die gründliche Verachtung gegen alle, die nicht wenigstens ebensoviel Rosse und Kühe hatten als sie. Daraus entsprang eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit. (1, 86) .. . dr Reichtum ist dHauptsach, bläut Anni ihren heiratsfähigen Töchtern ein, we me rych ist, su cha alles anger eym graglych sy. Und als Bäbeli von Liebe redet und dass sie keinen Grobian zum Manne wolle, sagt die Mutter: Du musst eben nicht meinen, dass du ihn fressen müssest, das ist eben das Kommode, dass, wenn man reich ist, man anger Sache zfresse het. (1, 88) Sime Sämeli besass ein Selbstbewusstsein, welches ihm kaum ein König erschüttert hätte (2,10), er lebt in dem einfachen Gefühl, dass er Sime Sämeli sei 182
und sagen dürfe, was er wolle, sein sei, was er habe, und niemand zu fürchten brauche, weder Alte noch Neue (2,40). Mit dieser Haltung, und weil sein Reich sein Geldseckel ist, gleicht er eher dem Dorngrütbauern als den frommen und vorbildlichen Bauern Gotthelfs: dem Bodenbauern im Uli oder der Familie von Liebiwyl in Geld und Geist. Auch der Dorngrütbauer betet das Geld an und ist der Meinung, dass seinesgleichen nicht auf Erden sei (VII, 224). Auch wird auf dem Hof des Sime Sämeli nicht für die Notdurft, sondern für den Überfluss undfür den Hochmut, dass man mehr hätte als andere (2, 52), gearbeitet. Und schliesslich fehlt dieser Familie - Bäbeli ist eine Ausnahme Frömmigkeit, das Gefühl und Bewusstsein, von etwas Höherem (XII, 6) abhängig zu sein. Die eine der Töchter des Sime Sämeli, Züsi, wird von Gotthelf klar verurteilt: . . . das Herz regierte ihns nicht. .. Reich bleiben oder noch reicher werden, das war das Ziel, welches es ohne Unterlass im Auge hatte (1, 129). ... es hatte bereits sein höchstes Gut erwählt, und das war das Geld... (1, 136). Bäbeli dagegen hat eine andere Art, es graut ihm vor dem Gedanken, viele, viele Jahre lang als Bäurin den Angstkarren ziehen zu müssen . . . (2, 53). Deshalb fühlt sich die Bauerntochter von Jakob angezogen. Ganz verborgen, ohne dass es jemand wüsste, entstehen in Bäbeli Träume, Illusionen, Liebesgärten (2, 65), Wünsche nach einer glücklichen Ehe. Der Mittelpunkt dieses Lebens ist ein Bezirksschreiber oder gar ein Oberamtmann . . ., welcher natürlich niemand anders als Jakob (2, 57) ist. Die Liebesphantasien, das Ausmalen eines Lebens in Liebe, sind Gotthelf etwas Grosses, Feierliches, fast Heiliges, etwa bei Meyeli in Anne Bäbi, bei Anne Mareili in Geld und Geist, bei Mädeli im Schulmeister, bei Änneli in der Käserei. Hier bei Bäbeli mischen sich aber auch komische und kleinbürgerliche Züge in diese Träume. Wir wissen jedoch, dass Bäbeli sich einen Bezirksschreiber erträumt und Jakob später eine Stelle in einer Bezirksschreiberei (2, 226) übernimmt. Auch hier ist es bedauerlich, dass wir die Fortsetzung nicht kennen und nicht wissen, ob Gotthelf die Liebesträume zur Ehe oder zum Verwelken geführt hätte. Im Herrn Esaù sind beide Möglichkeiten offen. Herr Esaù senior hat weder die aristokratische Arroganz des Majors noch das Geld und die Dickfelligkeit des Sime Sämeli. Er ist, als modernes Individuum und gelöst aus allen Bindungen der Tradition, ein Spielball der Wählergunst und der Ideenmoden . . . wir glauben fast, behaupten zu dürfen, dass nicht viele seiner Zeitgenossen so übel in ihren Hosen lebten als Herr Esaù in den seinigen. Der gute Mann hatte immer Angst ums Vaterland, das liebe, teure, er sagte beständig, wie dringend dasselbe tüchtiger Stütze bedürfe, und als eine solche zu gelten, war seine bestän183
dige Anstrengung; es konnte ihn unendlich plagen, wenn er es jemand anzusehen glaubte, dass derselbe ihn nicht für eine solche ansah . . . (2, 93f) Da in dieser Welt, in der nur Geld und Prestige gelten, Herr Esaù weder über das eine noch über das andere verfügt, lebt er in ständiger Unruhe und Bodenlosigkeit, oder er muss um sich her eine künstliche Bewegung erzeugen. Gotthelf stellt ihn wie eine Hohlform dar, etwas durch und durch Unfestes, ohne festen Kern. Herr Esaù verständigte sich hauptsächlich darüber mit der Zeitung, wer herunterzumachen sei, dass kein guter Fetzen an ihm bleibe, das Volk ihn för einen Schelm, Betrüger, Verräter halte .. . ferner, welche Interessen beim Volk aufzuregen seien, welche Wünsche bis dahin nicht berücksichtigt worden, so gerechte, so billige Wünsche, und welche Hunde, verfluchte, daran schuld seien. Das ist die Aufgabe der Zeitung. (2, 178) Herr Esaù hat also keine jener Qualitäten, die Gotthelf mit dem Wort Ehrenfestigkeit zu benennen pflegt. Die beiden Vertreter der Tradition, der Major und Sime Sämeli, sind von den aufklärerischen und fortschrittlichen Kräften des Zeitgeistes unberührt geblieben, vor allem Sime Sämeli verkörpert in seiner ganzen komischen Bauernsturheit und Bauernherrlichkeit den ewigen menschlichen Egoismus. Bei Herrn Esaù, der sich für einen Mann der Stunde hält, hat der Zeitgeist freilich auch nichts gefruchtet. Konkreter gesprochen: Gotthelf unterwirft die optimistischen Hoffnungen des Liberalismus einem radikalen Zweifel. Der alte Adam kann auf diesem Wege nicht zum Christen werden. Bei aller Komik und allem Spott sind diese Figuren jedoch mitfühlend geschildert, Gotthelf hat Freude an ihnen und macht sie nicht mit giftiger Miene schlecht. Die Darstellung weist auf den Stil der Käserei in der Vehfreude voraus - und müsste vom satirischen Stil Heinrich Manns - im Professor Unrat und im Untertan streng unterschieden werden. Carl Bitzius trifft weder den Sachverhalt noch den tieferen Sinn, wenn er an den Dichter schreibt, er bedaure, »dass du in dem Vater Esaù und seiner Familie die Person und das Haus eines neuen Regenten schilderst und lächerlich machst, ja uns da ein ménage und Gekläff vorführst, wie es in der Wirklichkeit wohl in keinem dieser Regentenhäuser existiert« (6,108).
3. Das Schützenfest in Chur Ein Gipfel von Gotthelfs satirischer Zeitkritik ist die Darstellung des Schützenfestes, das vom Sonntag, dem 10. Juli bis zum Sonntag, dem 17. Juli 1842 in Chur stattfand. Wahrscheinlich hat der Dichter die Absicht gehabt, das Schützenfest in Basel im Sommer 1844 in seinem Herrn Esaù zu schildern (1, 12). Er hat dieses Fest zwar besucht (6, 63), aber sein 184
Manuskript wurde im Frühjahr 1844 schon abgebrochen. Zur Zeit der Niederschrift kannte er das Treiben der Schützen aus eigener Anschauung von einem Besuch des Festes in Solothurn im Jahre 1840 (5,71 f). Über das Churer Schützenfest hat Gotthelf sich ohne Zweifel aus Tageszeitungen informiert. Wahrscheinlich erhielt er daneben die beiden Festzeitungen Festbulletin des Morgensterns (128 Seiten in 14 Nummern) und das Bulletin des eidgenössischen Freischiessens 1842 (120 Seiten in 11 Nummern) (2, 315). Es ist aber auch möglich, dass der Kalendermacher Gotthelf den Schweizerischen Bilderkalender von Martin Disteli gekannt hat. Von welchem Geist die Schützenfeste jener Jahre getragen waren, kann ein Zitat aus dem Disteli-Kalender 1843 erhellen: »Die Bedeutung der Eidgenössischen Freischiessen ist bekannt: sie sind ein Geburts- und Namensfest der Nation. Aus den rauhesten Tälern der Bergkantone, wo jeder einzelne noch seine eigene Republik ist und selbst die Kultur noch keine abgetretenen Rechte kennt, wie aus den reichen Städten und Gauen, wo die Freiheit, mit Bürgersinn gepaart, sich den Weltverkehr geöffnet hat, bringen all die verschiedenen Repräsentanten nur die eine allgemeine, alte Rütli-Instruktion: Wir wollen sein ein einig (!) Volk von Brüdern in keiner Not uns lassen (!) und Gefahr, wir wollen frei sein wie die Väter waren. Das ist der Grundton, in welchem der Demokrat mit dem Repräsentanten, der Katholik mit dem Reformierten, der Gelehrte und Künstler mit dem Fabrikanten und Handwerker, der Handelsmann mit dem Älpler und Landwirt übereinkommen. «2 Im Bulletin des Freischiessens von 1840 in Solothurn stand der Aufruf: »Eidgenossen, es wird eine Zeit kommen, wo nur ein Aufstand des Volkes in Masse das Vaterland retten kann. Dann ist es an Euch, ihr Schützen, zu zeigen, dass diese Feste nicht leeres Spiel waren.«3 Der alte Philipp Emanuel von Fellenberg hatte in Solothurn eine feurige vaterländische Rede gehalten, die mit folgenden hochfliegenden Worten begann: »Wer dürfte in diesem Kreise den Ruf verkennen, der immer stärker von dem Allweisen und Allgütigen an uns ergeht, den tatsächlichen Ruf: im Herzen des europäischen Völkervereins die segensreiche Bestimmung eines von Gott hoch begünstigten Vorsehungsvolkes zu erfüllen und im erfreulichsten Wohlergehen allen zivilisierten Völkern des Erdenrundes zu erkennen zu geben, welch einen Preis ein wahrheitsliebendes, der beseligenden Heilandslehre getreues, durchaus rechtliches, im Fortschritt zu jeder Vervollkommnung und Veredlung begriffenes Volk unfehlbar davonträgt, wenn es stets alle seine Pflichten treu zu erfüllen strebt und bei all seinem Tun und Lassen im Glauben, der Berge versetzt, Gott zu vertrauen weiss.« (XV, 494) 2
3
zit. nach: Lucien Leitess/Irma Noseda/Bernhard Wiebel: Martin Disteli, Ölten 1977, S. 66 ebenda S. 67 185
In den angeführten Texten kommen politische Ideale des 19. Jahrhunderts zur Sprache: »Volk«, »Vaterland«, »Einheit«, »Freiheit«, »Bürgersinn«, »Fortschritt«. Bei Gotthelf regten sich schon 1840 in Solothurn kritische Bedenken: Ich hoffte, am weltberühmten Schiesset Sie zu sehen, schreibt Gotthelf im August 1840 an Reithard, dort gings munter zu, manchmal fast lächerlich. Da erblickte man die Männchen, welche sich eine eidgenössische Celebrität glaubten oder eine werden wollten. Auch der alte Fellenberg donnerte . .. Am dicksten machte sich Breni und wurde eine förmliche Schwatzbase. (5, 71f) Breni tritt auch in Chur auf, und es heisst dort von ihm: Breni hatte in Solothurn dr Narr gemacht... (1, 291). Im übrigen war Gotthelf aber auch beeindruckt: Sonst war es ein sehr ehrenwertes Fest, und eine gewisse Mündigkeit trat nicht so wohl in der Rede als in der ruhigen Haltung, in der Männlichkeit der Masse hervor. (5,72) Für das Fest in Chur 1842 schrieb Gotthelf auf Veranlassung Fellenbergs in nur vierzehn Tagen den Aufsatz Eines Schweizers Wort an den Schweizerischen Schützenverein, der dort am dritten Tag, dem 12. Juli, an den Tischen herumgeboten wurde (XV, 498). Der Aufsatz ist ein idealistischer Höhenflug, der Herr Esaù die dazugehörige Satire, denn im Roman lässt Gotthelf kein gutes Haar an den Schützen, den Rednern, den Ideen und Festbräuchen in Chur. In diesem äusserlichen Widerspruch verbinden sich der Glaube an die neue Zeit und die Kritik dieses Glaubens und dieser Zeit. Es lohnt sich, den Aufsatz über die Schützen neben der Darstellung des Churer Festes zu lesen. Weder ist der Patriot Gotthelf ohne Kritik, noch der Kritiker ohne Ideale. Ein Satz aus Eines Schweizers Wort wird auch heute noch von vielen Schweizern bei Gelegenheit zitiert, obwohl die wenigsten wissen, wo er steht. Wir heben ihn im folgenden Zitat durch Sperrung aus dem Zusammenhang heraus: . . . und wer es mit dem eigenen Hause nicht gut meint, wie sollte der es gut meinen mit dem Vaterlande; und wer Weib und Kindern keine Freude opfern kann, wird der wohl Leib und Leben opfern dem Vaterlande? - Man lasse sich nicht verleiten durch ödes, irres Geschwätz! Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande; aus dem Hause stammt die öffentliche Tugend, und wer kein treuer Hausvater ist, dem fehlet des alten Schweizers Art und Weise, dem fehlet der Heldenmut.. . (XV, 301) Das Vaterland, so will Gotthelf deutlich machen, ist nicht nur Sache trinkender und disputierender Männer, sondern auch der Frauen und Kinder. Politik soll nicht hinter dem Rücken der Frauen und Kinder getrieben werden. Politische Bewegung soll kein Ersatz sein für ein missratenes Familienleben. Er weist auf Stauffachers edles Weib (XV, 300) hin und ruft den Churer Schützen zu: Mann sein heisst aber nicht Tyrann sein, nicht leben von des andern Schweiss . . . (XV, 302) 186
Im Herrn Esau ist die Titelfigur kein treuer Hausvater, sondern ein verängstigter Wahlkämpfer, dem Sohn Jakob fehlt des alten Schweizers Art und Weise, der Heldenmut, und die Reden in Chur sind ödes, irres Geschwätz. Die merkwürdige Mischung aus Liebesphantasien und Geldinteressen, die fast alle Figuren des Romans bewegen, haben wir erwähnt. Die Gruppe von Schützen, mit denen Jakob nach Chur fahrt, spielen sich schon auf der Reise als Weiberverächter auf, in Wahrheit sind sie nur grossmäulige Pantoffelhelden. Die Donnstigs Weiber (1, 227) sind das erste Gesprächsthema der Reisenden, dessen Ergebnis Niggi Ju wie folgt zusammenfasst: We me recht luegt, su ist eys wie ds anger dem Tüfel ab em Karre gheyt, die einte hingerache, die angere vorache, das ist dr ganz Ungerscheid. (1, 229) In den Tischgesprächen in Chur wird dann das Thema der freien Liebe gestreift, weil die Vaterlandshelden unfähig sind, sich mit zwei Bündnerinnen höflich zu unterhalten. . . . wenn die Ehe aufgehoben würde samt dem Erbrecht, da brauchte man artige Manieren nicht mehr, keine artigen Worte mehr, da griffe man sich die Weiber aus dem Haufen heraus wie Zwetschen aus den Körben oder Täfeli aus einem Papiersack . . . (1,268) In Eines Schweizers Wort hält Gotthelf den Churer Schützen ehrenfeste Schweizer aus der Geschichte vor Augen, die das Rechte taten, ohne auf Lohn oder Ruhm zu blicken: Rudolf von Erlach (XV, 277), Adrian von Bubenberg (XV, 305) und immer wieder Wilhelm Teil. An den Schützen im Herrn Esaù dagegen hätte einem Unbeteiligten auffallen müssen, dass die guten Leute gar nichts interessierte. Sie fuhren an geschichtlichen Orten vorbei, sie sahen sich nicht um. Sie haben das Glück von Sekundär-, ja sogar von Stadtschulen genossen . . . ihr Kopf weiss alles, was zu wissen ist, darum interessiert ihn die ganze Welt nicht mehr, was Donners sött er no lehre! (1, 229f) . . . ums Vergangene hätte man sich nicht zu kümmern, bloss um die Gegenwart, d'Politik sei die Hauptsache. (1, 236) Voll republikanischen Stolzes spricht Gotthelf in Eines Schweizers Wort über die Tradition der Freiheit in der Schweiz, wo sich ein freies Volk in Waffen ungehindert versammeln darf. Wer in einer Monarchie geboren wurde, dem lag der Gedanke eines Vereines, welcher das ganze Volk umfasste und bewaffnete, ausserhalb seiner Gedankenreihe, er lag ihm im Gebiete des Wahnsinns. - In keinem Lande hätte man harmlos den Gedanken aufgefasst und Wurzel schlagen lassen, das Volk bewaffnet zu versammeln ohne Führer und nur in der Ordnung, welche es sich selbsten gab. (XV, 289) Solche Hoffnungen hatte Gotthelf also noch vor den Freischarenzügen. Dieses Volk, so fahrt er fort, sei einig in aller Verschiedenheit. Hier sieht man flattern alle Fahnen unter einer Fahne, sieht über allen Schweizern den gleichen Geist, den Geist des Festes, den Geist des Vaterlandes, 187
und dieser bringt über alle eine Einheit, die man so sehnlich wünscht und nirgends sieht, so sehnlich sucht und nirgends findet. - Man sieht keine Klüfte mehr, welche die verschiedenen Meinungen ziehen zwischen den Menschen. Man sieht nicht Schwarze, nicht Weisse, nicht Rote, nicht Städter, nicht Länder, nicht Zürcher, nicht Berner, man sieht Schweizer, von einer Freude erfasst, von einem Gefühle gehoben und getragen, und dieses Gefühl ist das Nationalgefühl... es ist der Brudersinn, der im Volke ruht.. . es ist die Gewissheit, dass das Volk in Liebe und Treue seinem innersten Wesen nach über allen Parteien steht. (XV, 291 f) Gotthelf setzt die Gutartigkeit der menschlichen Natur, die Mündigkeit aller, ein allgemeines Verantwortungsbewusstsein voraus, und so schlägt er auch fast schwärmerische Töne an: Daher die Ehrenfestigkeit eines jeden, der Anstand, mit welchem die Massen durcheinanderströmen, die Mässigkeit mitten im Jubel, die Sicherheit ohne Polizei und Staatsgewalt. Man sieht, was bei uns (allenthalben, zum Beispiel in Amerika, wäre es nicht so) aus dem Menschen wird, wenn man ihn als ehrenwert ehrt; wie der Niedrigste gehoben wird, wenn man in ihm den Menschen achtet, ihm Kreise öffnet, deren Rechte er nicht hatte, deren Pflichten er daher auch nicht kannte. (XV, 292) Die Bemerkungen ohne Polizei und Staatsgewalt und in Amerika wäre es nicht so lassen aufhorchen, denn sie übersteigen weit das Thema und Niveau einer Festgabe für ein Schützenfest. Sie deuten auf ein tieferes und bewussteres politisches Denken Gotthelfs, als man ihm gewöhnlich zutraut. Der Liberalismus trägt den Widerspruch in sich, dass er auf das Individuum setzt und gleichzeitig die Zentralmacht stärken muss. »Der geschichtliche Mythus will, dass der bürgerliche Liberalismus dem Wirken und allmächtigen Umsichgreifen des Staatsapparates Einhalt tat. Das geschichtliche Resultat entsprach jedoch nicht dem, was liberale Ideologen des 19ten Jahrhunderts als Mission der bürgerlichen Welt verkündet hatten.«4 Gotthelf durchschaut diese ideologischen Schwächen und Verblendungen. Sollte er von Alexis de Tocqueville gehört haben, dessen Werk Über die Demokratie in Amerika 1835 und 1840 erschienen war? In Dursli der Branntweinsäufer wehrt sich Gotthelf dagegen, dass die in Frankreich und in England und in Amerika ausgehegten Theorien in die Schweiz verpflanzt würden. In den genannten Theorien und Ländern, so Gotthelf, frägt man dem einzelnen gar nichts nach, sei er, wie er wolle; dass der Staat besteht, ist die Hauptsache, alles giltet der Staat, nichts der einzelne. Aber ist wohl der Staat um des einzelnen willen da oder der einzelne um des Staates willen? Ist die Vervollkommnung der Menschen oder die Ausführung einer Staatsidee Zweck des irdischen Lebens? Wer weiss, ob 4
Henry Jacoby: Die Bürokratisiermg der Welt, Neuwied und Berlin 1969, S. 99
188
nicht in Meere von Blut die Vernachlässigung des einzelnen über die Überhebung des Staates als eine weltgeschichtliche Torheit eingegraben wird und zwar bald? (XVI, 127Í) Das sind prophetische Worte, und prophetisch klingt auch ein Satz aus dem Neuen Berner Kalender: . .. Russlands Despotie und Amerikas Freiheit sind zwei Schwestern, Willkür heisst ihre Mutter. (XXIV, 133) Im Munde eines der Festteilnehmer in Chur taucht Amerika allerdings in anderem Sinne auf: ... es Donners e lustigs Land, dert mach en iedere, was er well. . . U vergesse müsse me nit, dass Amerika on e Vrfassig heyg, das syg d'Hauptsach; wo ke Vrfassig syg, da syg nüt, wo aber a Vrfassig syg, da syg alles gwunne . .. (1,231) Wir wollen noch ein letztes wichtiges Thema im Vergleich des Herrn Esaù mit Eines Schweizers Wort betrachten: die Eidgenossenschaft. In der Festschrift erörtert Gotthelf die Schwierigkeiten, die in der Vielfalt der Schweiz - ihrer Zerklüftung (XV, 315) - begründet liegen: keiner steht zum andern, hilft dem andern, es sei dann im Bunde gegen einen dritten (XV, 317). Und er kommt auf die Bundesverfassung .. ., über die man sich schon so viele Jahre lang umsonst die Köpfe zerbrochen . . . (XV, 319). Der Sonderlingsgeist (Partikularismus), welcher dem Schweizer eigen ist (XV, 322), könne aber nicht durch staatliche Massnahmen überwunden werden. Deshalb ruft Gotthelf auf den letzten Seiten seiner Schrift die Schweizer zu einem alle Selbstsucht überwindenden Brudersinn auf: Eidsgenossen! Wo Friede werden soll zwischen Brüdern, da lässt er sich nie auf dem Gebiete des Rechts vermitteln, Recht und Unrecht wiegt keine menschliche Hand sicher ab, dass der Stachel aus allen Herzen genommen wird; im Brudersinne alleine ist der Friede zu finden .. . Eidsgenossen, lernt aus der Geschichte der Väter, wie es Sünde sei, zum Zorn den Bruder zu reizen . .. (XV, 329) Im Herrn Esaù sind Jakob und sein Freund Michel Affensteg bei einem Churer Handwerker einquartiert, der noch nie einen Eidgenossen gesehen hat. >Kuriosgibt doch immer was Neus, erst Kuhpocken, dann Helvözler, Cholera, Dampfmaschinen, jetzt gar noch Eidgenossen . . .< (1, 247) Als Jakob am nächsten Morgen beim Frühstück erzählt, sein Vater gehöre zu den Vaterlandsfreunden, zu den rechten Eidgenossen, entspinnt sich ein Gespräch über diese neue Menschensorte. >Nai, nai aber au!< sagte der Meister, >so saget Sie mir, was sind denn das auch für Leute, die Eidgenossen, keine Handwerker nit, keine Aristokraten nit, sind etwa son e Art Musikanten, wo im Land herumziehen und aufspielen wie die Böhmen, ja sogar Prager sind schon da gewesene Jakob findet, der Bündner lebe hinter dem Mond, und rühmt sich: Bei ihnen wüsste so was jedes Kind, und in den Zeitungen, wo man in allen Cafés hätte, fände sich ja das alles punktum. Aber da er es nicht wisse, so wolle er 189
es ihm gerne sagen. Eidgenossen nenne man die, wo es treu mit dem Lande meinten und nach dem papierernen Bunde nichts frügen, sondern einen neuen wollten im neuen Geiste, wo jeder wohl sei undjeder frei und alle geschweigget würden, wo eine andere Meinung hätten und anders dächten, einen Bund, in welchem Einigkeit, Friede sei, das Vaterland über alles, und jeder Kanton machen könne, was ihm beliebe, und helfen könne dem, mit welchem er sympathisiere. Gerade wie man auch ehedem die alten Schweizer Eidgenossen genannt hätte, weil sie einen Bund gemacht hätten, einander zur Freiheit zu verhelfen und die Adelichen runterzumachen, so nenne man wieder die aus allen Kantonen, die einen neuen Bund wollten und nichts wüssten und nichts meinten als: >Nieder mit Pfaffen und Aristokraten!< >Dunderhagel!< sagte der Meister, >runter, also runter, aber wer soll dann rauf, von wem soll ds Brot kommen künftig?< > Wer anderswer als die Eidgenossen, die, wo es treu mit dem Lande meinen; wenn wir einmal obenauf sind, dann, Meister, habt nicht Kummer um den Verdienst, dann hat jeder seine Sache; wenns recht ging, so hätte schon jetzt jeder Sachen genug ohne Hundeleben.< (1,257f) Die Eidgenossen sind hier im Herrn Esaù von einem unausgegorenen Freiheitsideal Verblendete, die obendrein noch versuchen, die Leute damit glücklich zu machen (1, 300) auf despotische Weise. Hinter und unter dem Ideal der Eidgenossenschaft regt sich ein Egoismus, der sich als Recht des Stärkeren, Raffinierteren, Unverschämteren entpuppt. Von Brudersinn kann keine Rede sein. So stehen Eines Schweizers Wort an den Schweizerischen Schützenverein und Herr Esaù zueinander wie Erbauung und Satire, wie erhebendes Loben und entlarvendes Spotten. Die gegen Andersdenkende geäusserten Drohungen - Aber Spass verstünden sie nicht; wer ein Verräter sei an der Freiheit, ihnen Widerrede und nicht alles punktum nachsage, wie sie es ihm vorsagten, den schlügen sie tot, physisch oder moralisch . . . (1, 300) haben bei aller Komik eine bleibende Aktualität. Der Schlachtruf der Radikalen: Nieder mit Pfaffen und Aristokraten! (1, 258) hat in der Deutschschweizer Literatur des 19. Jahrhunderts eine interessante Parallele. In Gottfried Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten soll Frymann eine Rede halten, mit deren Niederschrift er sich sehr abmüht. »Die Rede war eine Anhäufung von Donnerworten gegen Jesuiten und Aristokraten«, und Frymanns Tochter findet auch, »die Rede sei sehr kräftig, doch scheine ihr dieselbe etwas verspätet, da die Jesuiten und Aristokraten für einmal besiegt seien, und sie glaube, eine heitere und vergnügte Kundgebung wäre besser angebracht, da man zufrieden und glücklich sei«.5 »Zufrieden und glücklich« - Kellers Schützenfest fin5
Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 10, Bern 1945 (Helbling), S. 63
190
det 1849 in Aarau statt, ein Jahr nach der Gründung des Bundesstaates. Auf dem Fest weigert sich Frymann aber plötzlich, seine Rede zu halten, und Karl Hediger spricht aus dem Stegreif über die Devise auf der Fahne: »Freundschaft in der Freiheit« und dann über die Schweiz als »Mannigfaltigkeit in der Einheit«. »Wie kurzweilig ist es«, so sagt er, »dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zweierlei Basler! Dass es eine Appenzeller Geschichte gibt und eine Genfer Geschichte; diese Mannigfaltigkeit in der Einheit, welche Gott uns erhalten möge, ist die rechte Schule der Freundschaft, und erst da, wo die politische Zusammengehörigkeit zur persönlichen Freundschaft eines ganzen Volkes wird, da ist das Höchste gewonnen; denn was der Bürgersinn nicht ausrichten sollte, das wird die Freundesliebe vermögen, und beide werden zu einer Tugend werden.«6 Anders als Kellers Karl Hediger, der sich als guter Redner, treffsicherer Schütze und kräftiger Fingerhakler erweist und ausserdem noch die hübsche und reiche Hermine Frymann zur Frau bekommt, ist unser Jakob vom Schützenfest in Chur deprimiert und enttäuscht. . . . er konnte nur zwei Sachen noch denken, oh, wär er doch daheim geblieben; oh, wär er doch schon wieder heim! (1,316) Schliesslich fasst er den Entschluss, abzureisen und zwar auf der Stelle . .. Sowie der Entschluss geboren war, ward ihm wohl, er war vollständig heil von allen seinen Schmerzen. (1,321) Beide Söhne dienen dem neuen Staat: Jakob übernimmt eine Stelle in einer Bezirksschreiberei (2, 226), Karl ist »Regierungsschreiber«, »Verwaltungsbeamter«.7 Beide gehören also der von Gotthelf so heftig kritisierten Bürokratie an, ohne die der neue Staat nicht existieren kann. In der Einschätzung der eidgenössischen Freischiessen - 1842 in Chur, 1849 in Aarau - sind sich die beiden Dichter jedoch entgegengesetzt. »Dort, wo Keller entmutigt mit seinem späten Buch Martin Salander anlangt, da steht Gotthelf schon in den dreissiger Jahren.«8
6 7 !
ebenda S. 71 f ebenda S. 178 Carl J. Burckhardt: Der Berner Schultheiss Charles Neuhaus 1796-1849. Ein Beitrag zur Schweizergeschichte der dreissiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, Frauenfeld 1925, S. 178
191
III. Der Geltstag oder Die Wirtschaft nach der neuen Mode (1845)
1. Alkohol u n d Politik In einem an den Studienfreund Johann Heinrich Maurer von Constant gerichteten Brief, der fragmentarisch in Manuels Biographie überliefert ist,1 charakterisiert Gotthelf seinen Geltstag: Dies Buch zeichnet die traurigste Seite unseres Volkslebens, das Wirtshausleben, hauptsächlich der Wirtsleute, teilweise auch das der Gäste. (6,225) Der Roman erzählt von dem Wirteehepaar Steffen und Eisi, die beide aus Bauernfamilien stammen, auf den Wogen der neuen Zeit in den Wirtestand getragen werden und dort zugrunde gehen. Er beginnt mit der Beerdigung Steffens, der eines Morgens tot im Bette aufgefunden wird. Dann erzählt Gotthelf die Versteigerung und Auflösung des Wirtshauses, die Anlass zu zahlreichen Rückblicken bietet. Am Schluss nimmt der fromme alte Götti zwei der Kinder auf. Die anderen Kinder werden zu Verwandten gebracht, und Eisi heiratet einen Schreiber. Der Geltstag will nicht in erster Linie die Verwahrlosung durch Alkohol bekämpfen. Wie schon in der Erzählung Dursli der Branntweinsäufer (1839), hat Gotthelf die Absicht, den gefahrlichen Zusammenhang zwischen Wirtshäusern und Alkoholismus einerseits und neuen, verlokkenden - aber letzten Endes katastrophalen - Ideen andererseits aufzuzeigen. Man kann also Muschg zustimmen, wenn er den Geltstag einen Zeitroman nennt. »Er gibt keine poetische Verklärung der Welt, nicht einmal ein Bild des Bauernlebens. Er geisselt mit unerhörter Schärfe die sozialen und moralischen Auswüchse der vierziger Jahre, die Auswirkungen des modernen Zeitgeistes, und zwar am Beispiel einer der ländlichen Gastwirtschaften, deren absichtliche Vermehrung nach Gotthelfs Überzeugung ein Krebsschaden am Volkskörper und eine unverzeihliche Sünde der freisinnigen Regierung war.«2 Vor 1831 war die Zahl der Wirtshäuser auf 431 festgelegt. Das Gesetz 1 2
Carl Manuel: Albert Bitzius, Berlin 1861, S. 113f Walter Muschg: Jeremias Gotthelf. Eine Einführung in seine Werke, Bern und München 1954, S. 122
192
über das Wirtschaftswesen vom 13. Juli 1833 (VIII, 377) ermöglichte jedem, der dafür bezahlte, ein Wirtshauspatent (s.a. VIII, 386 Anm.). Schon im Jahre 1835 setzte die medizinisch-chirurgische Gesellschaft des Kantons Bern einen Preis für die beste Abhandlung Über die Folgen des Missbrauchs der geistigen Getränke und über die geeigneten Mittel, diesem Übel zu steuern aus. Den Preis gewann der Arzt Samuel Lehmann, die Schrift erschien 1837 in Bern. Schon im Jahr 1833/34 soll die Zahl der Wirtschaften im Kanton von 425 auf 1375 angestiegen sein.3 Lehmann hatte in seiner Preisschrift die Regierung zum Eingreifen aufgefordert: der Schnaps sollte durch höhere Besteuerung verteuert werden. 1839 hatte ein Artikel im Berner Volksfreund das Alkoholproblem als »Brenzlärm« bagatellisiert und den laissez-faire-Liberalismus vertreten: »Dadurch dass man verkehrter Weise das Getränk statt den Trunkenbold mit Gesetzen verfolgt, beschränkt man die Industrie.« (13, 110) Gotthelf hatte eine Woche später auf den Alkoholjammer hingewiesen, den nur der in Abrede stellen kann, der, wir sagen es aufrichtig, entweder dem Volksleben durchaus fremd ist oder das Individuum und den Staat weder von sittlicher noch christlicher Seite ins Auge fasst, sondern sie bloss wertet, je nachdem sie Gegenstände der Spekulation sind. (13,112) Für Gotthelf verbindet sich also, wie gesagt, das Alkoholproblem mit der liberalen Politik. Der Brief an Maurer von Constant fahrt fort, die Gnepfi, das Wirtshaus im Geltstag, beschreibend: In solchen Nestern und von solchen Leuten wird die Aufregung in unserem Vaterlande erzeugt und aufrechterhalten. Hier entstehen die politischen Ansichten und Richtungen, und zwar durch brotlose Agenten, verhudelte Krämer und aller Grundsätze bare Handlungsreisende. (6,225) Reinhild Buhne hat in ihrer Arbeit Jeremias Gotthelf und das Problem der Armut behauptet, Gotthelf verwende »das Alkoholthema vorwiegend als polemisches Mittel, um seine politischen Feinde, die Radikalen, als notorische Alkoholiker zu diskreditieren. Für jeden, der kritisch liest, ist evident, dass nicht alle Alkoholiker Radikale und nicht alle Radikale Alkoholiker sind und dass die Ursachen des Alkoholismus nicht im politischen Liberalismus und Radikalismus liegen, wie Gotthelf glauben machen möchte.«4 Buhne weist auf Engels' Lage der arbeitenden Klasse in England hin, wo erkannt wird, dass dem Proletarier »ausser dem Geschlechtsgenuss und dem Trünke« alle Genüsse entzogen seien. In diesem Zusammenhang müsste aber auch das Vollsein Ulis und dass er sich mit schlechten Mädchen abgebe5 betrachtet werden. Erinnert 3
4 5
vgl. Reinhild Buhne: Jeremias Gotthelf und das Problem der Armut, Bern 1968, S. 59 ebenda S. 63 vgl. meine Ausgabe von Uli der Knecht, Stuttgart 1982 (RUB), S. 404
193
werden müsste auch an Wilhelm Snell, der den Ruf eines Trinkers hatte. Er soll »im >HopfenkranzLesevereinKäsereiKäserei< die Geschichte eines Dorfes, aber sie ist gewiss keine D o r f g e schichte^ und wenn m a n nach zutreffenden Massstäben suchen will, an denen Gotthelfs Erzählkunst gemessen werden kann, so wird man in der deutschen Literatur allein denjenigen Theodor Fontanes anlegen können.« 10 Obwohl Fehr das Buch einen » D o r f r o m a n « nennt, stellt auch er fest: »Die Licht- und Schattenseiten eines demokratisch geordneten Gemeinwesens werden anhand der Entstehung dieser Käsgemeinde besonders scharf hervorgehoben.« 11 Gottfried Keller scheint das Buch als »Dorfgeschichte« gelesen zu haben, wenn er sagt, Gotthelf habe die Einrichtung einer Talkäserei zum Anlass genommen, »alle kleinen Leidenschaften des Dorfes spielen zu lassen«. 12 Aber in Kellers Besprechung steht noch ein anderer bemerkens« ebenda S. 151 9 ebenda S. 154 10 Jeremias Gotthelf: Die Käserei in der Vehfreude. Mit einem Nachwort von Walther Killy, Zürich 1973, S. 658 11 Karl Fehr: Jeremias Gotthelf, Stuttgart 1967 (Slg. Metzler), S. 66 12
Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 22, Bern 1948 (Helbling), S. 80f
238
werter Satz, der die Verbindung des Grossen mit dem Kleinen wider Willen veranschaulicht. »In >Die Käserei in der VehfreudeKampf um das Dasein< ist nichts andres, als dasjenige zum Naturprinzip erweitert, was wir als soziales, industrielles Prinzip schon lange kennen« (138). Russell bemerkt allerdings dazu: «Darwin's theory was essentially an extension to the animal and vegetable world of laisser-faire economics, and was suggested by Malthus's theory of population.«" Für Gotthelf verstösst aber die Mentalität der sogenannten industriellen Zeiten (Vili, 107) gegen die Ordnung Gottes und führt geradewegs zur Anerkennung des Rechts des Stärkeren (IX, 253). 32
"
Bertrand Russell: Religion and Science, Oxford 1975, S. 75 ebenda S. 72f
263
Im v i e r t e n und letzten Teil seines Buches behandelt Strauss die Frage »Wie ordnen wir unser Leben?« Aus seiner Darstellung spricht der Geist der Gründerjahre: »Wir haben während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen und jeder in seiner Art mitgewirkt an dem grossen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staats . ..« (215f) So bekennt sich Strauss zur Monarchie (192), zu Bismarck und Moltke (206) und gibt sich als Gegner der Sozialisten und vor allem »des Elements Bebel-Liebknecht« im Reichstag zu erkennen. Den vierten Stand hält Strauss für »den ungesundesten Fleck der jetzigen Gesellschaft« und erklärt: »An und für sich wäre schon zu helfen, wenn der Patient sich helfen lassen oder auch in der rechten Art sich selbst helfen wollte. Aber ihm haben Quacksalber, und zwar vorzugsweise französische Quacksalber, das tollste Zeug in den Kopf gesetzt.« (200f) Die Abschaffung des Krieges hält Strauss für so wenig möglich wie die der Gewitter. Er plädiert für die Todesstrafe bei Mord - das tat auch Gotthelf - , für die Ziviltrauung und für die Trennung von Kirche und Staat (210ff). Die Bedrohung des erblichen Eigentums bedeutet nach seiner Auffassung - und da ist er wieder Gotthelf nahe - »die Axt an die Wurzel der Familie und damit an die Wurzel des Staats und der Gesellschaft legen« (204). Kein Verständnis hat der Philosoph für »Völkerverbrüderung« und Internationalismus, denn »wo kein Nationalgefühl ist, da ist auch kein Gemüt« (191). Strauss glaubt an die schrittweise Veredelung und Vervollkommnung des Menschen, und dabei sollen die Errungenschaften der modernen Zeit eine entscheidende Rolle spielen: Dampfwagen auf Eisenschienen und Telegraphen - »Teufelswerke nach der ganz folgerichtigen Ansicht unsrer Frommen - sind auf unsrem Standpunkte Mitarbeiter am Reiche Gottes. Die Technik und die Industrie fördern wohl den Luxus, der übrigens ein relativer Begriff ist, aber weiterhin die Humanität« (178). Auf keinen Fall hat diese moderne »Humanität« mit der christlichen Religion zu tun. Es ist für Strauss unmöglich, »die Weltkultur mit der christlichen Frömmigkeit zu versöhnen« (214). Aber er ist durchaus bereit, Worte Jesu, sofern sie »etwas Philosophisches« enthalten, zu übernehmen, wie etwa die Maxime: »Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen . . .«(170). Dieser Gründerjahre-Philosophie stellen wir ein paar Sätze Gotthelfs kommentarlos gegenüber. Er ist überzeugt: es kann keine wahre Bildung und Aufklärung dem Christentum entwachsen; sie ist ja eben eine Blume desselben . .. Das Christentum allein bedingt den wahren Fortschritt, denn es will ja die Vervollkommnung jedes einzelnen Menschen ohne Unterschied und zwar auf einem Wege, der allen offen ist. - Das Christentum allein heiliget die Staatsformen und garantiert die Wahrheit, es fordert 264
Treue, ehrt jede Persönlichkeit, sichert alle Güter, verbindet die Bürger durch Liebe zu Brüdern und hat den obersten Grundsatz: » Was du willst, dass dir die andern tun, das tue du auch ihnen!« (XIII, 141)
7. Gotthelf u n d Keller Gotthelfs Zeitgeist und Bernergeist von 1852 und Kellers Martin Salander von 1886 sind Zeitromane. Die beiden Dichter bilden aber ihre Epoche nicht nur ab, sie wollen auch die eigene Zeit kritisieren, Missstände aufzeigen, den Zeitgenossen die Augen öffnen für die Übel der Zeit und nicht zuletzt die Wurzeln der Gefahren und Fehlentwicklungen blosslegen, um als Ärzte die kranke Zeit zu heilen. Das sind hohe Absichten, die weit über ästhetische Ziele hinausreichen. In einem Aufsatz in den Schweizer Monatsheften stellte Paul Marti diese gemeinsame Thematik der beiden Werke fest: »Beide gehen den tieferen Gründen des Verderbens nach und suchen den Geist zu stärken, von dem eine Gesundung zu erwarten ist.«34 Aber Marti geht bei seinem Vergleich von den gegensätzlichen Positionen der beiden Dichter aus: »Keller schrieb ein freisinniges Gegenstück zu Gotthelfs religiös-kirchlicher Parteischrift«, behauptet er, und: »Das Entscheidende aber, was uns hindert, Keller in gleicher Front zu sehen wie Gotthelf, ist beider Einstellung zur Kirche und zum offiziellen Christentum.«35 Auch von einem »unüberbrückbaren weltanschaulichen Gegensatz«36 der beiden Dichter spricht Marti. Hauptsächlich aus zwei Gründen muss dieser Etikettierung widersprochen werden. E r s t e n s ist der Gegensatz zwischen »freisinnig« einerseits und »religiös-kirchlich« andrerseits eine für das 19. Jahrhundert typische Denkform, die heute, wo wir sogar religiöse Marxisten wie Bloch und Kolakowski oder linke Theologen wie Moltmann und D. Solle kennen, nicht mehr so recht passen will. Auch ist Gotthelf nicht einfach ein Vertreter des »offiziellen Christentums«. An Hagenbach schreibt er einmal, er sehe die Notwendigkeit durchaus ein, dass des Christentums Geist in bestimmte kirchliche Formen zu fassen sei, so gut als unsere Seele einen Leib haben muss, wenn sie auf dieses Leben wirken will. Aber im gleichen Brief steht auch: Es ist wirklich ein fürchterlich Ding, den Quark darf man nicht wegtun, sonst schreien die Alten Zetermordio und, was noch viel ärger ist, die Jungen begrüssen einen als Brüder, die auf die Höhe der Zeit sich 34 35 36
Schweizer Monatshefte 39 (1959-60), S. 1244 ebenda S. 1240f ebenda S. 1246
265
erhoben, und solange man den dogmatischen Mantel dem Christentum nicht abstreifen darf, kommt der Sternenmantel der Herrlichkeit nicht vor des Volkes Angesicht. (5, 361) Dazu kommt z w e i t e n s , dass der nähere Vergleich der beiden Zeitromane eine Fülle von Beziehungen aufdeckt, von der die parteiliche Meinungsmacherei nicht einmal träumen kann. Muschg hat schon im Jahre 1940 in seinem meisterhaften Aufsatz Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf7 die beiden grossen Schweizer Dichter, die sich persönlich nie begegnet sind, in ihren geistigen Beziehungen gewürdigt. Und Kohlschmidt hat in seinem aufschlussreichen Vergleich zwischen Louis Wohlwend und Niggi Jun kurze aber wichtige Hinweise zum »Zeitgeistmotiv« bei beiden Dichtern gegeben. Er stellt, ausgehend von Kellers Rezension von Zeitgeist und Bernergeist, fest: »Keller beginnt jetzt zu sehen und in seiner Dichtung namhaft zu machen, was allzu scharf zu betonen er vor drei Jahrzehnten Gotthelf zum Vorwurf gemacht hatte: die moralische Fragwürdigkeit, die charakterzersetzende Komponente, die der fortschrittliche Zeitgeist mit seinem, Überlieferungen und Bindungen aufhebenden Freiheitsbewusstsein notwendig auch mitgenährt und entbunden hatte.«39 Als Zeitgeist und Bernergeist erschien, arbeitete Keller an der ersten Fassung seines Grünen Heinrich, in dem er den Untergang eines romantischen Künstlers schildert. Das Problem des romantischen Menschen hat Gotthelf vielleicht mit Heiterkeit erfüllt, als Existenzproblem stellt es sich ihm nirgends. In der zweiten Fassung seines Romans lässt Keller seinen Helden nicht mehr zugrunde gehen, sondern macht ihn zuerst zum Schreiber in der Kanzlei eines kleinen Oberamtes und schliesslich zum Vorsteher des Amtskreises - etwa so, wie Gotthelf seinen Jakob Esaù. Als Kellers Martin Salander erschien, war Gotthelf schon über dreissig Jahre begraben, und viele der Streitfragen, über die er sich ereifert hatte, waren vergessen oder konnten wenigstens niemand mehr erregen. Die Eisenbahn, die Gotthelf noch mit heimlichem Schauder erwähnt, wird im Martin Salander mit natürlicher Selbstverständlichkeit benutzt, als ob es sie immer gegeben hätte. Inzwischen hatte die Schweiz fast 2000 Kilometer Eisenbahnlinien gebaut und die Gotthardbahn in Betrieb genommen. Das Privateigentum und die Ehe waren nicht abgeschafft worden, dafür hatte das Absterben alter Religionsformen sich fortgesetzt. Gotthelf wollte mit seinem Zeitgeist und Bernergeist das Steuer der Epoche herumreissen und den eingeschlagenen Kurs der Zeit ändern; 57 38
39
Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1940, S. 159-198 Werner Kohlschmidt: Dichter, Tradition und Zeitgeist, S. 337-348 ebenda S. 340
266
München 1965,
daher auch die aggressive Heftigkeit des Tons. In Kellers Martin Salander ist der nach Gotthelfs Ansicht falsche Kurs schon eine ganze Generation lang beibehalten worden. Es gibt deshalb keine Alternative mehr, auch kein Zurück, sondern bestenfalls sind noch Besinnung und kleine Korrekturen möglich. Aus der grossen Zahl von Parallelen und Unterschieden, die ein detaillierter Vergleich der beiden Romane ergibt, haben wir folgende ausgewählt: 1) Zeitgeist und Bernergeist erzählt von den Familien des Ankenbenz und des Hunghans. Hunghans beginnt zu politisieren, verfällt der Krankheit des Zeitgeistes und vernachlässigt Hof und Familie. Sein Hof verkommt, sein Sohn veruntreut öffentliche Gelder und kommt im Rausch ums Leben, seine Frau Gritli welkt dahin und stirbt: die Unfläte mordeten es an Leib und Seele durch den beständigen Verdruss (XIII, 238). Martin Salander erzählt von den Familien des Kaufmanns Salander und des Bauern Weidelich. Die Weidelich-Söhne heiraten die SalanderTöchter, machen als Aufsteiger Karriere, veruntreuen öffentliche Gelder und kommen ins Zuchthaus. Frau Weidelich bricht nach der Verhaftung ihrer Söhne zusammen und stirbt an den Folgen eines Schlaganfalls. 2) Ankenbenz tröstet den verzweifelten Hunghans und stellt ihm Geld zur Verfügung (XIII, 509). Salander tröstet den verzweifelten Weidelich und erfüllt seine Bürgschaftspflichten (377).40 3) In Zeitgeist und Bernergeist wird der Zeitgeist von schlechten Beamteten, dem Präsidenten und dem Regierer, unter dem Volk verbreitet. Dabei bleibt die Familie des Ankenbenz gegen die Krankheit immun. Im Martin Salander ist, mit Ausnahme von Marie und Arnold Salander, niemand gegen die »Zeitkrankheiten« (378) immun. Beide genannten Familien sind betroffen. Eine besonders üble Ausgeburt des Zeitgeistes ist Louis Wohlwend. 4) Ankenbenz und Hunghans sind in einem Wasser getauft worden (XIII, 15), vom Taufwasser an waren sie so verbrüdert, dass sie sich manches sagten, was man sonst bloss im Halse behält (XIII, 58; vgl. auch 202, 503). Auch nach der Entzweiung der beiden Männer hat Hunghans vor niemandem grösseren Respekt als vor Ankenbenz' Frau Lisi (XIII, 236, 306). Salander und Wohlwend »waren im Lehrerseminar schon gute Freunde« (14), und auch am Schluss des Buches, nachdem Wohlwend ihn zweimal betrogen hat, bleibt er »doch immer Salanders ältester 40
Gottfried Keller: Sämtliche Werke Bd. 12, Bern und Leipzig 1943 (Helbling). Im folgenden werden nur die Seiten angegeben.
267
Jugendgenosse und gewesener guter Freund« (394). Wohlwend getraut sich nicht in Salanders Haus, »denn er fürchtete die dortige Hausfrau wie ein Schwert« (380). Ankenbenz und Hunghans wollen am Schluss wieder Brüder sein wie vorher (XIII, 507; vgl. auch 509, 515). Salanders Bezauberung durch Wohlwend endet erst mit dem Erscheinen des Sohnes Arnold (385,390). 5) Gotthelf macht den aufkommenden Sekundärschulen hauptsächlich drei Vorwürfe: sie überschätzten die intellektuelle Bildung, sie wollten die Religion aus der Erziehung verdrängen und sie vermittelten eine falsche Aufklärung. . . . der Lehrerstand müsse an die Stelle des Priesterstandes geschoben werden (XIII, 330) Die Pfarrer braucht man nicht mehr. . . die Schulmeister sollten es machen . . . Daraufhin würden sie brichtet zBuchsi ussen. (XIII, 415) Die Folgen zeigen sich bei den jüngeren Weibern im Badeort. Man sprach von Kleidern, führte den Pfarrer aus, besonders dessen Frau und allfällige Töchter, rühmte den Sekundarlehrer, schimpfte über die Dorfschule und die gemeinen Kinder, wie sie ungebildet seien . . . (XIII, 247Í) Und die älteren Frauen stellen fest: Da sei keine Arbeit mehr, sondern nichts als Grosstun und Brauchen. (XIII, 256) Salander ist »vom Pfluge weggelaufen« (16) und Sekundarlehrer geworden. Nach dem Tod seiner Eltern war es ihm aber »plötzlich zu eng in der friedlichen Schulstube, in der entlegenen Landschaft« (16). Er zog in die Stadt und betätigte sich in der Textilindustrie (17). Der Pfarrer erwähnt in seinem Lebehoch auf die Brautpaare, dass die Weidelich-Taugenichtse »des Segens der Schulanstalten teilhaftig« gewesen seien. Als Grossrat macht Salander die »Volkserziehung« zu seinem »Lieblingsfeld« (236). Er will die Schulpflicht bis ins zwanzigste Lebensjahr verlängern, und in den letzten beiden Jahren sollen die jungen Männer »staatsbürgerlich eingeschult« werden, aber nebenher auch noch ein Handwerk erlernen (238). Marie Salander hält diese Pläne aufgrund von Überlegungen für unausführbar, die Gotthelf fast vierzig Jahre vorher schon geäussert hatte. »Ich meine den schrecklichen Kriegszug«, hält sie ihrem Mann entgegen, »welchen die Schweizer nach Asien oder Afrika werden unternehmen müssen, um ein Heer von Arbeitssklaven oder besser ein Land zu erobern, das sie liefert. Denn ohne Einführung der Sklaverei, wer soll denn den ärmeren Bauern die Feldarbeit verrichten helfen, wer die Jünglinge ernähren? Oder wollt ihr diese besolden, bis sie zwanzig Jahre alt sind und dann alles verstehen, nur nicht zu arbeiten, den gezimmerten Tisch und die Bank ausgenommen?« (239) Die beiden jungen Lehrer Salander und Wohlwend könnten im Seminar Küsnacht bei Thomas Scherr ausgebildet worden sein, der freilich 1839, im Laufe des »Straussenhandels« zurücktreten musste. Die Berner Lehrer, von denen Gotthelf spricht, wurden z'Buchsi - in Münchenbuch268
see - ausgebildet. Die Leitung dieses Seminars hatte die radikale Regierung 1847 dem Pädagogen Heinrich Grunholzer anvertraut, der sich im »Straussenhandel« engagiert hatte. Er wurde 1852 von der konservativen Regierung wieder abgesetzt. 6) Ein Grundgedanke Gotthelfs besagt, dass ein Mann nur dann sich politisch betätigen solle, wenn sein Haus in Ordnung ist und wenn er Frau und Kinder nicht vernachlässigt. In diesem Sinn ist der berühmte Satz aus Eines Schweizers Wort zu verstehen, den wir bei der Besprechung des Herrn Esaù schon zitiert haben: Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande . . . (XV, 301) Hunghans, nachdem ihn das politische Fieber einmal ergriffen hat, wirtschaftet seinen Hof herunter und wird indirekt schuldig am Tod von Frau und Sohn. Als einmal in einer politischen Versammlung in der Hinterntugend beschlossen wird, die Altliberalen zu stürzen: Erst wenn über ganz Europa die Sonne der Freiheit aufgegangen ist, ist die Freiheit der einzelnen gesichert. Und darum muss unsere Regierung, die dreissiger, abe, abe ... wir stehen am Vorabend grosser Tage ... (XIII, 155) - da erwachen auch in Hunghans Illusionen. Sie konzentrieren sich auf seine trächtige Fuchsstute, die ein Hengstfüllen werfen könnte. Bei der Heimkunft liegt die Stute im Verenden. Da der Meister nicht daheim war, nahm jedes sich das Recht, ebenfalls zu sein, wo es ihm wohlgefiel. (XIII, 160f) Salander wird Grossrat, weil »ein Mitglied des Grossen Rates wegen häuslicher Zerrüttung mitten in der Amtsdauer den Rücktritt« (212) nehmen musste. Dieser ehemalige Grossrat Kleinpeter »war ein geringer Fabrikant von Baumwolltüchern« (222) gewesen. Er hatte »ein eitles, leichtsinniges Weib« (222) geheiratet, das zur Ursache seines finanziellen und familiären Ruins wurde. ». . . niemand würde geglaubt haben, dass ein Mensch, welcher im eigenen Hause so elend dastand, das Wohl des Landes beraten und fremde Leute zu regieren sich unterstehen könnte« (224). Als Salander von der Verhaftung eines Aktuarius Schimmel in der Zeitung liest, macht er die Bemerkung: »Jetzt erinnere ich mich, vernommen zu haben, wie es auffalle, dass er an den öffentlichen Wirtstafeln speise, anstatt mit Weib und Kind zu Hause, wo es ihm zu schlecht sei! Da liegt der Lump!« (310) 7) Bei Gotthelf verfallen zuerst die Männer dem Zeitgeist, die Frauen sind dann die Leidtragenden. Bei Keller sind die Damen Weidelich und Kleinpeter die Ursachen ihrer Familienmisere. Frau Weidelich hält schon bei ihrem ersten Auftreten »einen modischen, mit Blumen und Seide aufgeputzten Strohhut vor sich hin« (5), den sie nach der Verhaftung ihres Sohnes Isidor in den Fluss wirft (328). Sie erinnert an die jüngeren Weiber bei Gotthelf, die 269
modischer angezogen sind, Ringe an den Fingern, Uhren an goldenen Ketten, die Landestracht verunstaltet durch allerlei Firlefanz, grelle Farben tragen (XIII, 247). Gotthelfs resolute Bäuerin Lisi ist mit der unbestechlichen Marie Salander vergleichbar. Lisi kann ihrem Mann die Feigheit der Konservativen vorhalten, es sei hell nichts mit ihnen, die ewigen Höseler möge es bald nicht mehr ansehen (XIII, 439). Marie Salander dagegen kann die Ehe ihrer Töchter mit den Weidelich-Zwillingen, obwohl sie sie nicht billigt, nicht verhindern und ist auch machtlos gegen Wohlwend wie gegen die Illusionen ihres Mannes. Lisi hatte etwas an sich, das, wenn es alle Regenten an sich trügen, manche Revolution unmöglich gemacht hätte. (XIII, 321) Salander »gehörte nicht zu den Befreiern oder Gleichstellern des Frauengeschlechtes hinsichtlich des bürgerlichen Daseins, und seine eigene Frau, so hoch er sie hielt, fragte er nie ausdrücklich um Rat und Meinung in öffentlichen Dingen« (212). Trotzdem hört er ihre »Gefühlsansichten oder Widersprüche« an. »Auf diese Weise beraubte er sich nicht der Hülfsquellen, die aus dem Gemüte einer rechten Hausfrau fliessen, und gab ihr die Ehre, die ihr gebührte« (213). 8) In dem Kapitel Wie die Aufklärung für Volksbelustigungen sorgt weist Gotthelf auf den Zusammenhang zwischen albernen Vergnügungen und Geschäftemacherei hin. In Gäuchliwyl sei heute ein gross Spektakel, beim obern Wirt sei eine Grännete, beim untern ein Sackgumpet. Dies sind zwei der geistreichsten Belustigungen, Kinder der Kultur, der Bildung und Aufklärung . . . Der Erfindungsgeist hat vorher in hundert Jahren nicht halb soviel zutage gefördert als in den letzten zehn Jahren . .. (XIII, 88) Wir sind also - von 1831 an gerechnet - Anfang der vierziger Jahre. Bevor Salander nach siebenjährigem Brasilienaufenthalt in die Schweiz zurückkehrt, teilt er seiner Frau seine grossen Erwartungen in einem Briefe mit: »Die Dinge, welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung, welche unsere Republiken sich gegeben haben, diese unbedingten Rechte, die das Volk ruhig, ohne irgend eine Störung sich genommen h a t . . .« - diese Dinge hätten »eine tiefste Quelle neuen Freiheitsmutes und Lebensernstes geöffnet. . .« (81 f)· Als der Heimgekehrte aber an einem Herbstsonntag »einen tüchtigen Gang in das Volk hinaus« tut, wird er enttäuscht: ». . . den Hauch und Glanz aber der neuen Zeit, das Wehen des Geistes, den etwas feierlichen Ernst, den er suchte, konnte er nicht wahrnehmen« (84). «Kurz, es war alles, wie es vor altem an einem Herbstsonntag gewesen, und zu gewärtigen, dass später am Tage einige der freisten Männer nicht mehr auf ihren Füssen würden stehen können« (85). 270
9) Es sind historische Tatsachen, dass der moderne Staat mehr Beamte nötig hat als der feudale und dass Zentralisierung automatisch Bürokratisierung mit sich bringt. Schon im Bauern-Spiegel ist davon die Rede. Mias wird von der Wirtin darüber aufgeklärt, dass die siebenundzwanzig Männer, die er für eine Vereinsversammlung gehalten hatte, Beamte sind: . . . es isch dr Amtsschriber u dr Grichtsschriber u dr Gmeindschriber u dr Amtsnotari u dr Prokerater u de zwei Agente u de no ihri Knechte u Buebe. (I, 312) In Zeitgeist und Bernergeist findet ein Amtsgericht statt, ein ziemlich starkes, Händel von allen Sorten und Rechtsgelehrte hageldicht (XIII, 104). Pfarrer sollen im neuen Staat daraufhin geprüft werden, ob sie dienliche Werkzeuge seien, die Staatszwecke zu fördern, oder ob sie es nicht seien (XIII, 117). Auch in Münsterburg, der Stadt Salanders, gab es eine neue Verfassung. Sie wurde dazu benutzt, »von Tag zu Tag die ungeheuersten Veränderungen einzuführen... In diesen ersten Jahren summte es denn auch wie ein Bienenkorb von Gesetzesvorschlägen und Abstimmungen . . . Dazu erhielten die massenhaften Wahlen aller kleinen und grossen Beamten in Verwaltung, Gericht, Schule und Gemeinde, sich in kurzen Zwischenräumen drängend, die stimmberechtigte Bevölkerung unaufhörlich auf den Beinen . . . « (99). Ein Angeber im Wirtshaus erklärt einem Deutschen gegenüber: »Heut noch geh' ich in eine Beratung über ein Gerichtsgesetz, das über tausend Baragraphi hat, und morgen mach'ich Blauen . . .« (88). Auch der Betrüger Wohlwend profitiert vom Rechtsstaat: ».. . so stehe ich in der Hut der Gesetze und des Rechtes und ist überall mein Haus meine Burg!« (54) Nach dem Auftreten von Marie Salander fliegt Wohlwend jedoch die Furcht an, »es gäbe noch höhere Mächte als Konkursrichter und Gläubigerversammlungen« (71). Und Lisi hält ihrem Mann Ankenbenz vor, in keinem der Lumpengsatzbücher stehe: in dem und dem Fall musst du das und das tun (XIII, 240). 10) Als Ankenbenz und Lisi das kranke Gritli im Bade besuchen, da macht Lisi grosse Augen über der Veränderlichkeit der Welt, am meisten über die vielen neuen Häuser und die grosse Hoffart. .. das sei ein Bauen, welches keine Art habe. Es müsste Geld geschneit haben . . . (XIII, 253) Diese von Gotthelf angedeutete Entwicklung hat sich im Martin Salander noch verstärkt. Als Salander bei seiner Rückkehr einige schöne Bäume vermisst und fragt, warum der Eigentümer sie habe abschlagen lassen, erfahrt er von Marie: »Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Strasse durchgesetzt haben« (50). Es ist »weiterhin eine Menge von Fruchtbäumen verschwun271
den, die ehemals die Wege beschatteten . . .« (63). Isidor Weidelich ist es gleichgültig, dass seine Buchen »Haus und Garten samt der Wiese vor den Schlamm- und Schuttmassen, die der abgeholzte Berg herunterwälzen wird« (252), schützen, wenn er nur Geld aus ihnen schlagen kann. Bei einem Gang durch die Stadt fallen Salanders Gedanken »auf das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust, welcher er ja selbst Vorschub leistete . . .« (278). Aber er tröstet sich mit Sachzwängen: »Man muss mit der Zeit marschieren, sie gleicht alles wieder aus; was sollten unsere Handwerker anfangen, wenn nicht das bisschen Bauen noch wäre?« (278) Das Thema kehrt wieder in den Gesprächen, die Max Frischs Stiller mit dem Architekten Sturzenegger führt. 11) Ironisch bemerkt Gotthelf: Dass man im Kanton Bern in keinem Fortschritt zurückbleibt, darf als bekannt vorausgesetzt werden (XIII, 219f). Das Kapitel, welches von der neuen Verfassung von 1846 handelt - eines Tages ward alles neu (XIII, 216) - , trägt den Titel: Wie die beiden Hanse im neuen Leben wandeln und im Fortschritt. Den entschiedenen Fortschritt (XIII, 108) hat Gotthelf in allen seinen Werken bekämpft und lächerlich gemacht. Von Ankenbenz heisst es aber: er war ein rechter Bauersmann, der nicht stetig am Alten hängt, aber das Neue erst vorsichtig prüfen will, ehe er deswegen Mühe und Kosten hat, der nicht jeder Narrheit nachläuft, die als das Beste und Notwendigste ausposaunet wird, sondern um so misstrauischer den Kopf schüttelt, je lauter man eben posaunet. Er war der Reform auch ergeben, er wünschte innere Verbesserungen . .. (XIII, 27f) Arnold Salander, der widerborstige und humorvolle, plädiert für »einen bedächtigeren, beharrlicheren Ausbau des Geschaffenen«, der Fortschritt dürfe kein »blindes Hasten nach dem Ende hin« (182) sein, weil »alles Leben, je rastloser es gelebt werde, um so schneller sich auslebe und ein Ende nehme«. Er und seine Freunde wollen sich »im Gegensatze zu den Schulbankagitatoren . . . nicht als neue Generation« (183) deklarieren. Deshalb rät Arnold seinem Vater von einer Ausdehnung seines Geschäfts ab (391 ΟΙ 2) Auf das Zentralisieren verstehe ich mich nicht, erklärt Ankenbenz in einem Streitgespräch mit Hunghans. Aber soviel wissen wir, dass alles, was der Staat macht oder machen lässt, viel teurer kömmt, als was andere ehrliche Leute machen lassen. (XIII, 170) Salander lehnt den »gesellschaftlichen Umsturz« ab, dagegen will er »die Zustände durch das Verstaatlichen aller möglichen Dinge in den bisherigen Formen« (234) erleichtern und verbessern. Dabei ist er sich zwar im klaren: »Durch den gebieterischen Fortschritt der Zeit wachsen die Ausgaben auf allen Punkten so sehr, dass die Einnahmen sie nicht mehr 272
decken« (235). Trotzdem tut er die Bedenken seiner Frau ab: »Ich kann es dir jetzt nicht näher auseinandersetzen, es sind eben nationalökonomische Dinge! Man nennt es Volkswirtschaft!« (236) 13) Zeitgeist und Bernergeist ist aus einer Streitschrift gegen Eduard Zeller entstanden und zu einer Verteidigung der christlichen Religion angewachsen. Gotthelf will sichtbar vor Augen führen, dass ein Leben ohne Religion keinen Sinn mehr habe. Es soll dir, du armes Volk, und deinen Kindern der christliche Glaube geraubt werden, sachte, unvermerkt, wie die Beutelschneider Geld und Uhren aus den Säcken nehmen, dass man nichts weiss davon, bis man es brauchen sollte, und nichts mehr hat als Ungenügen und Krieg, Not und Tod (XIII, 207). Diese schleichende Gefahr will der Dichter ins Bewusstsein rufen. Der Gegner nimmt für Gotthelf die Gestalt des modernen Staates an. Und trotz allem Geplapper von Rechtsstaat sind wir doch eigentlich ein Gottesstaat geblieben . . . Ein Rechtsstaat sei ein Staat voll Rechtsgelehrte und Rechtshändel. Aber es wird nachgedoppelt: Man kann es nicht oft genug wiederholen: wir sind noch immer ein Gottesstaat, jede Bedienstung im Staate ein von Gott anvertraut Amt, jeder Bedienstete Gott verantwortlich für seines Amtes Verwaltung . . . (XIII, 103) Das sechste Kapitel ist ganz diesem Zwiespalt und feindseligen Verhältnis (XIII, 124) von Staat und Kirche gewidmet. Dabei geht es Gotthelf offensichtlich nicht um die Vergrösserung der Macht der Kirche, sondern um die Ohnmacht des Staates, das Heiligtum im Inwendigen des Menschen, in welchem seine höchsten Kräfte liegen, das Gemüt freundlich auszubauen und den Menschen aus dem tierischen Zustande zu einem höheren Wesen zu erwecken .. . (XIII, 130). Deshalb seien die Pfarrer n i c h t dafür da, Staatsmoral zu predigen und der Polizei zu helfen (XIII, 129). Denn, so lässt Gotthelf einen Pfarrer zu einem Amtsrichter sagen: Der Staat stellt die Person gewordene, konzentrierte Selbstsucht dar, in allen seinen Kindern erzeugt er diese Selbstsucht wieder, und diese selbstsüchtigen Kinder werden sich bald genug erheben gegen diesen trostleeren Erzeuger und sich untereinander fressen. (XIII, 130) Am Martin Salander ist ablesbar, wie weit die Säkularisierung, die Gotthelf so heftig bekämpfte und deren Fortgang er aufhalten zu können glaubte, inzwischen um sich gegriffen hatte. Salander selber ist »unkirchlich gesinnt« (216). Der Pfarrer bei der Doppelhochzeit redet in einer Sprache, als habe er Feuerbach und Darwin gelesen. Er verliest »ein eigens verfasstes Gebet, welches den kirchlichen Sinn und die Rechte des freien Denkens gleichmässig vertrat.. .« (193). Frau Weidelich geht zwar noch in die Kirche aber nur ihren Söhnen zuliebe: »Man soll nicht sagen, dass man ihre Mama nicht in einem gebildeten Gottesdienst zu sehen bekomme!« (313f) Der Windbeutel Wohlwend will seine Söhne 273
Theologie studieren lassen (279) und schwärmt davon, »den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten« (293). 14) Welche Zukunftserwartungen stehen am Schluss der beiden grossen Romane? Am Schluss von Zeitgeist und Bernergeist steht die Hoffnung: ändere muss es, sonst geht die ganze Pastete dem Teufel zu (XIII, 444). Dahinter leuchtet eine alte Harmonie hervor: dass sie ihr irdisches Leben an ein ewiges geknüpft, das ewige mit dem zeitlichen in beständiger Verbindung glaubten, dem ewigen mitten in dieser Zeit und in allem Handeln fortwährend Rechnung trugen (XIII, 249). Der Pfarrer hatte Lisi einst gelehrt, das ewige Leben müsse hier schon anfangen, nicht erst jenseits (XIII, 314). Und als die beiden Bauern Ankenbenz und Hunghans am Schluss wieder wie Brüder sind, will der Dichter diese Harmonie sogar verschweigen: Wir können nicht aufschreiben, was die beiden Männer verhandelten, sagt er, . . . wie das Höchste mit dem Alltäglichsten sich mischte . . . (XIII, 510) Am Schluss des Martin Salander steht die Absicht, »in schlicht bürgerlichen Verhältnissen und Gewohnheiten« (393) zu leben. Und es steht dort die »Tugendutopie« des Jünglings Arnold, frei von den fixen Ideen, Nebeldünsten und Liebesphantasien seines Vaters. Seine Mutter behauptet von ihm: »Ja, er ist ein kritischer Gesell!« (400) Gotthelfs Zeitgeist und Bernergeist und Kellers Martin Salander ermöglichen dem Leser tiefe Einblicke in das Leben, die Kämpfe und Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Ideologische Unterschiede sind in Anbetracht dieser Fülle von Zeitstoff nebensächlich. Die parallele Lektüre beider Romane, wie wir sie versucht haben, bringt in jedem Falle eine Bereicherung des einen durch den andern. Auch wird der Martin Salander zu einem unbeabsichtigten Beweis für die Richtigkeit unseres Vorgehens: nämlich die Partei Gotthelfs n i c h t zu ergreifen. Vom Salander aus gesehen, erscheint Zeitgeist und Bernergeist als der Ausdruck einer Epochentragödie. Als Hans Blösch, der Enkel von Eduard Blösch, Gotthelfs Roman 1926 im Rahmen der kritischen Ausgabe edierte, schrieb er im Anhang: »Der Vergleich mit Dantes Göttlicher Komödie drängt sich unwillkürlich auf beim Lesen der grossen endgültigen Abrechnung Gotthelfs mit dem Radikalismus . . .« (XIII, 628) Der Herausgeber der neu bearbeiteten Ausgabe von 1959 hat diesen Satz weggelassen. Wenn wir auch den Ausgang des Kampfes gegen den Radikalismus anders einschätzen als Blösch, zeigt doch der Vergleich mit Dante - über den auch noch diskutiert werden müsste - , wie hoch Gotthelfs Werk gewertet worden ist. Der Roman Zeitgeist und Bernergeist gewinnt seine erschütternde Überzeugungskraft nicht nur aus der Darstellungskunst und Leidenschaftlichkeit des Dichters, sondern auch aus geschichtlicher Authentizität. 274
VII. Die Armennot (1840)
Im Jahre 1840 erschien im Verlag von Christian Beyel in Zürich und Frauenfeld Gotthelfs Schrift Die Armennot. Die Abhandlung liegt zeitlich zwischen den eruptiven Werken des Anfangs und denen der Meisterschaft, die mit Uli der Knecht, der 1841 ebenfalls bei Beyel erschien, einsetzten. Von allen nicht-poetischen Werken des Dichters ist die Armennot das umfangreichste. Sie hängt untrennbar zusammen mit der Armenanstalt Trachselwald, einem von Gotthelf mitbegründeten Heim, in dem arme Knaben untergebracht und erzogen wurden. »Die Anstalt Trachselwald«, so schreibt 1861 Gotthelfs erster Biograph Manuel, »die sich einer steigenden Blüte erfreut und bei vierzig Knaben zählt, ist der lebendige beredte Commentar zur >ArmennothArmennoth< tritt der Schriftsteller gleichsam zurück hinter dem handelnden Mann, der hier seine liebste Idee und freudigste That verteidigt.«2 Die Armennot könnte auf einen heutigen Leser, falls es einen solchen überhaupt gäbe, den Eindruck machen, als ob sich in ihr die zwar durchaus liebenswürdigen, aber doch eher beschränkten und im ganzen wirkungslosen Bemühungen eines philanthropisch gesinnten Dorfpfarrers aus dem 19. Jahrhundert aussprächen. Die soziale Frage ist mit einer ein1 2
Carl Manuel: Albert Bitzius, Berlin 1861, S. 80 ebenda S. 80 275
zigen Anstalt für ein paar Dutzend Knaben nicht lösbar. Im Zeitalter der UNO, der Weltbank, der Nord-Süd-Kommission und des Club of Rome muss ein Wort wie Christus ist und bleibt der einzige Heilandfiir die sieche Welt (XV, 255) lächerlich erscheinen, und das soziale Denken geht heute nicht mehr von dem Wort in 5. Mose 15, 11 aus: Es werden immer Arme im Lande sein, darum gebiete ich dir, deine Hand gegen deinen Bruder und gegen den Armen und Dürftigen in deinem Lande aufzutun. (XV, 88) Solches Denken erscheint dem Menschen der heutigen Industriegesellschaften archaisch. Die feineren Nuancen, die Gotthelf aber auch setzt, fallen dann unter den Tisch. Arme wird es immer geben, schreibt er, so will es Gott, aber diese Natur der Armen, die ist nicht von Gott, die ist vom Menschen. (XV, 249) Die soziale Frage ist im 19. Jahrhundert ein heikles Thema, weil sie fast immer verbunden wird mit Sozialismus, Revolution und Klassenkampf. Strauss wollte dem »Element Bebel-Liebknecht einen Riegel vorschieben«, Treitschke nannte die Sozialdemokratie eine »Schule des Verbrechens«, und Marx sprach selber vom »Gespenst des Kommunismus«, das in Europa umgehe. Deshalb muss einfach schon die Tatsache, dass Gotthelf die Armennot als d a s Problem seiner Zeit betrachtet, vergleichbar der Angst vor den Türken oder vor den grossen Pest- und Choleraepidemien, aufhorchen lassen. Er ist sich nämlich auch klar darüber, dass die Armut eine andere geworden, als sie ehedem war (XV, 90); das Schreckbare an der Armut dieser Zeit liegt nicht nur in ihrem stetigen Anschwellen, sondern auch in der eigenen drohenden Haltung, welche sie gegenüber dem Reichtum eingenommen hat. Das sind im allgemeinen nicht mehr die Armen, die wie Lazarus schweigend an den Türen lagen, und mit dem Lecken der Wunde sich zufrieden gaben, die demütig baten um ein Stücklein Brot. .. es sind nun ganz andere Arme da, in ihrer Gesamtmasse betrachtet. (XV, 91) Die deutsche Literaturgeschichte kennt, Büchners Hessischer Landbote ausgenommen, nichts der Armennot Gotthelfs und seinem Engagement für die Armenanstalt Trachselwald Vergleichbares. »Die Stellung dieses Werks innerhalb der Sozialgeschichte Europas im 19. Jahrhundert ist noch nicht klar herausgearbeitet.« 3 Zugleich enthält die Armennot modellhaft die für Gotthelf typischen Reaktionen und Positionen und kann deshalb als Schlüssel zum Verständnis seiner Dichtungen gelten. Im Vorwort zu Zeitgeist und Bernergeist schreibt er von sich: Er trat in die Schranken für Gott und das Vaterland, für das christliche Haus und die Zukunft der Unmündigen (XIII, 8). Dasselbe unternimmt er auch in der Armennot. 1
Karl Fehr: Jeremias Gotthelf, Stuttgart 1967 (Slg. Metzler 60), S. 47
276
Wir beschränken uns bei der Darstellung der für Gotthelf typischen Positionen auf drei Problemkomplexe: 1) die Würde des einzelnen Menschen, 2) die Abneigung gegen den Staat, 3) die Hoffnung auf die Begeisterungsfahigkeit der Laien. Gotthelf geht davon aus, dass zur Lösung der sozialen Frage - diese Bezeichnung kommt freilich in seiner Schrift nirgends vor - eine geistige Umkehr nötig sei, die im Kleinen beginnen müsse. Seine Zeit, so glaubt er, hänge an falschen Werten: Tief unter sich hefteten die Menschen ihre Augen, an des Geldes trügerischen Schein, an den schmutzigen Schaum der Lust, an papiererne Gestalten, an steinerne Trümmer, an leinwandene Münster und Menschen, an glänzende oder üppige Darstellungen des menschlichen Lebens, des Lasters und der Leidenschaft, ja an leichtfertige Sprünge leichtfertiger Beine. - An diese Dinge hängt man in unserm Jahrhundert sein Leben, setzt man das Leben, achtet sie als des Lebens Höchstes, als des Daseins Zweck. (XV, 157) Daran schliesst sich eine Kritik des Kultes, den die Zeit mit künstlerischen Stars treibe; vor allem die Gebildeten trifft hier Gotthelfs Anklage, denn diese Gebildeten wissen es nicht, dass diese Abgötterei mit den Künsten immer dem Untergang der Reiche vorangegangen ist (XV, 158). Wie wir oben gesehen haben, geht Gotthelf von der Überzeugung aus: Arme wird es immer geben, so will es Gott. Zugleich kann er aber den gegenwärtigen Zustand der Armen nicht akzeptieren, denn der ist vom Menschen (XV, 249). In der Abgötterei mit den Künsten liege nun, so glaubt er, eine der Ursachen dieser gegenwärtigen Natur der Armen. Und dann führt er den Gedanken weiter: Jetzt wie damals ist der Verfasser der Ansicht, dass an dieser Natur die höhern Stände und die Regierungen die grosse Schuld tragen. Und daran anschliessend nennt er den Grund, den er im Auge hat, genau: Es gab eine Zeit, wo die Mehrzahl in den höhern Ständen nicht mehr Christen waren, des Christentums sich recht eigentlich schämten als einer gemeinen Sache für gemeine Leute .. . (XV, 249) Ohne im geringsten den Klassenhass zu schüren - vielmehr soll er gerade verhindert werden - fordert Gotthelf einen Gesinnungswandel von den Gebildeten, den höhern Ständen und Regierungen, d.h. den Herrschenden, den tonangebenden Schichten. Anders als Büchner im Hessischen Landboten setzt er n i c h t auf eine Volkserhebung, anders als Marx später setzt er n i c h t auf eine Diktatur des Proletariats. Gotthelf zählt nicht auf das Massenpotential der unteren Schichten und will sie auch in keiner Richtung beeinflussen. Mit ihnen hat er etwas anderes, etwas Ungewöhnliches im Sinn, auf das wir gleich zurückkommen. Aber nach seiner Meinung müssen sich die oberen Schichten grundsätzlich ändern. Deshalb wendet er sich auch gegen die Arbeit der inneren Mission: Die innere Mission befasst sich mit den untern Ständen, nimmt die untersten 277
Schichten des sogenannten Proletariats in Angriff, als ob nur da Heiden im Lande seien, als ob daher das Übel gekommen, darum auch von daher das Heil kommen müsse. Das ist nun nicht so, sondern umgekehrt: Das Übel, Abfall und Unglauben sind von oben gekommen . . . (XV, 258) Und später schliesst er diesen Gedankengang mit den grossartigen Worten: Hier muss die Bekehrung beginnen, hier ist der Hauptacker der innern Mission und nicht das Proletariat. Das ist nichts, einem armen Mannli die Hölle heizen oder ihn einsalben mit Verheissungen von Gnade und einer wöchentlichen Unterstützung, wenn er sich bekehre. Aber einem Regenten oder Regentlein, es kömmt auf eins heraus, die Wahrheit sagen . . . das ist ganz was anderes. (XV, 261) Wer nur dem armen Mannli gegenüber ein stark Wort habe, der, so argwöhnt der Volksschriftsteller, habe auch einen sehr starken Scharwenzel gegenüber von Regenten . . . Die Abgötterei mit den Künsten ist für Gotthelf gleichbedeutend mit einer falschen und daher schädlichen Einschätzung des Lebens: wo jemand ob der Kunst das Leben vergisst, da ist Abgötterei und Götzendienst (XV, 160). Und stolz fügt er bei: Gottlob in dem Schweizer ländchen, wo das Leben noch höher giltet als die Kunst (XV, 170), da sei die Bereitschaft zur Abhilfe noch nicht erloschen, dort sei auch der Gedanke Pestalozzis geboren, dass in den Kindern das Heil der Welt liege (XV, 163). Das sei nicht ein flüchtiger Einfalt, sondern ein Weltgedanke, der in immer strahlenderer Klarheit aufgeht am Horizonte der Zeit, eine Sonne in unserer Nacht, ein heilend Licht in unserer Krankheit (XV, 168). Gotthelfs Beitrag zur Lösung der sozialen Frage geht also von der schwächsten Stelle der Gesellschaft aus, den armen Kindern. Wie Pestalozzi sieht er in den Kindern das Heil und die Rettung der Welt aus ihren verschrobenen Zuständen (XV, 169). Zugleich setzt er auf die Kreativität der unteren Schichten, indem er die bescheidenste Tätigkeit, sofern ihr Antrieb nur aus dem Innern kommt, höher stellt als die Abgötterei mit den Künsten. In einer Passage, die in der deutschen Literatur wohl ihresgleichen sucht, erklärt er: Alle Menschen sind hochgeboren; denn alle sind Gott verwandt, alle tragen in sich schöpferische Kraft.. . Diese innere Welt, das Allerheiligste im Menschen, ist die unsichtbare Werkstätte, aus welcher das äussere Leben trittet; sie zeuget auch vor Gott über des Menschen Wert und Bedeutung . . . Nun fängt mir die Reihe der Darstellenden schon an bei Hans Uli, der einen Zaun macht... Ja wahrlich, ich habe in manchem Zaun mehr Geist gefunden als in manchem Buche. (XV, 159) Gotthelf ist nicht bloss ein grosser Dichter, der zusätzlich noch christliche Moral predigt. Vielmehr fliessen sein Dichtertum und sein Christentum aus ein und derselben Quelle. Hans Uli, der einen Zaun macht von daher werden auch die Abneigungen des Volksschriftstellers gegen die Unternehmungen des zentralisierten Staats verständlich. In der ArHS
mennot wird besonders deutlich, aus welchen Erfahrungen, nämlich der Schöpferkraft jedes einzelnen an seinem Platze, und aus welchen Befürchtungen, nämlich der Entwürdigung und Vermassung dieses einzelnen, Gotthelfs Kampf gegen seine Zeit entsprang. Das Wort zentralisieren ist heutzutage ein beliebtes Wort, schreibt er, in einer Republik aber sollte man, was nicht zentralisiert ist, nicht zentralisieren wollen. Es tötet alles allgemeine Interesse am allgemeinen Wohl; das sei Regierungssache, heisst es; es hemmt alles Heranbilden der Menschen vom Kleinern, Spezielleren zum Bedeutenderen, Allgemeinen; es rottet am Ende alle tüchtigen Bürger aus und stiftet eine eigene Regierungskaste, deren Mitglieder sich dann vorkommen wie Eichen unter niederem Gesprütz, wie Vokale unter Konsonanten ... Es führt zu dem unchristlichen, unbürgerlichen Grundsatz, dass um das sogenannte allgemeine Beste sich nur bezahlte Beamtete zu kümmern hätten . . . (XV, 128f) Ach, geht mir mit den Gesetzen! ruft der Volksschriftsteller aus. Eben weil man den Gesetzen vertraute und immer und ewig Gesetze machte, sind wir bis dahin gekommen . .. Gesetze an sich sind tot! man muss jemand haben, der sie lebendig ins Leben trägt. (XV, 130) Der Staat töte die Liebe zum Nächsten, am Staate wärmt sich niemand (XV, 176), sogenannte Rechtsstaaten sind die Quintessenz des Unsinns der jungen Schule (XV, 125), wo Staat oder Gemeinden die Hände in etwas haben, erstarret das Leben, und die Liebe flieht (XV, 175), und schliesslich wird der Staat zum recht eigentlichen Antichrist (XV, 129). Den Zeitgenossen Gotthelfs müssen diese Angriffe gegen den entstehenden Nationalstaat mit seiner zentralisierten Organisation als Hinterwäldlertum erschienen sein. Drückte sich hier nicht die rückwärtsgewandte und beschränkte Mentalität eines Dorfpfarrers aus, der sich gegen zeitgemässe Entwicklungen und notwendige Modernisierungen sperrte? Gewiss hat die Verteidigung des kleinen, überschaubaren Kreises etwas Altmodisches. Aber von heute aus gesehen stellt sich die Sache anders dar. Adorno und Horkheimer, Marcuse, Habermas und Illich sprachen von der verwalteten Welt und vom verwalteten Individuum und äusserten die Befürchtung, die Gesellschaft werde zunehmend zum Objekt totaler Verwaltung. Schon Max Weber hat darauf hingewiesen, dass die Durchrationalisierung der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation ihre höchste Stufe in der Bürokratisierung der Gesellschaft erreiche und dass diese ein »Gehäuse für die neue Hörigkeit« darstelle.4 »Nimmt die Aufklärung«, so Horkheimer, »die Reflexion auf die4
vgl. Theodor Leuenberger: Bürokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft, Bern und Stuttgart 1975 (UTB) Ulrich Steinvorth: Stationen der politischen Theorie. Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Max Weber, Stuttgart 1981, (RUB)
279
ses rückläufige Moment nicht auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.«5 Gotthelf hat diese Reflexion am Anfang der Entwicklung noch nicht leisten können; er ist aber einer der ersten Warner gewesen, und heute befände er sich, so darf man vermuten, in einem gesellschaftskritischen Lager, wo ihn niemand erwartet hätte und viele nicht gern sähen. So ist Gotthelfs Beitrag zur sozialen Frage ein Appell an die Kreativität des Menschen. Wie wir nun an Gott glauben, so sollen wir auch an unsere Kräfte glauben .. . (XV, 209) Dem lebendigen Geiste muss ein Denkmal gesetzt werden, dass er lebt. . . (XV, 245) Nachdem er in den ersten drei Kapiteln die gegenwärtige Lage analysiert und ungeeignete Massnahmen gegen die Armut verworfen hat, beginnt er im vierten Kapitel mit der Darstellung seiner eigenen Vorschläge. Überblickt man die in hohem Pathos gehaltenen Passagen, so ergibt sich wiederum mit aller Deutlichkeit, dass für diesen Dichter sein christlicher Glaube, sein soziales Gewissen, seine Menschenliebe wie sein Kämpfer- und Dichtertum untrennbar zusammengehören. Wenn auf eines steilen Hügels Krone, so beginnt er, die Tod speienden Kanonen stehn, ihre blanken Röhren hinunter ins Tal ihren blendenden Schein werfen, ihre schwarzen Mündungen wie Drachenaugen den anrückenden Feind versteinern, dann ruft der Feldherr die Freiwilligen vor. Er weiss, nicht das Kommandowort, nicht der Schritt und der Tritt nach Gesetz und Takt stürmt den Hügel, nimmt die Kanonen, sondern nur entfesselter, kühner Mut, der frei sprudelt aus kühner Brust. (XV, 144) Und jetzt, in der Armennot, appelliert der Dichter an solchen Mut. Hier müssen auch Freiwillige vor in kühnem Mut zu kühnem Tun! (XV, 144) Der Mut des Soldaten ist für ihn durchaus mit der Liebe vergleichbar. Und was kein Königswort erzwingt, fahrt er fort, vermag die Liebe. Die Liebe treibt um ihr Kind die Mutter in den wütenden Strom, in die prasselnde Flamme; die Liebe stürzte Winkelried in die Lanzen und brach der Freiheit eine Gasse; die Liebe führte den zum Tode, dessen Name ich in dieser Zusammenstellung nicht zu nennen wage, der mit seinem dahingegebenen Leben den armen Sterblichen den Schoss des Vaters öffnete. (XV, 144) Aber nicht gegen Kanonen und äussere Feinde müsse jetzt dieser kühne Mut entfesselt werden, sondern für die Rettung der armen Kinder. Das sei die wahre und einzige Zentralisation .. . die Vereinigung aller freien Kräfte freier Bürger zu des Vaterlandes Heil (XV, 145). Zu einer solchen Zentralisation der Kräfte gegen ein gewaltiges Übel rufe ich daher jetzt im Frieden auf. ..(XV, 146) Dieser kühne Mut soll nun also um nichts Geringeres kämpfen als um 5
Max Horkheimer/Theodor W.Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 3
280
die Seelen der armen Kinder. Denn wir Menschen alle seien zu der Aufgabe berufen, unseres Gottes Ebenbild aus uns treten zu lassen ins Leben hinein (XV, 160). Aber die meisten Menschen vergessen fort undfort die innere, unsichtbare Welt, die der Mensch in sich trägt, an der er mit schöpferischer Kraft arbeitet ununterbrochen; sie sehen nur auf das sichtbare Tun und Lassen und versuchen, dieses mit Worten und Schlägen bei ihren Kindern zu bestimmen. (XV, 204) Es sei das Schwerste, aber auch das Höchste in der Erziehung: Meister zu werden dieses innern Lebens, die Gedanken der Kinder zu erzeugen und zu richten, Herr zu werden des Höchsten in ihnen, ihrer schöpferischen Kraft (XV, 205). Es ist auffallig, dass Gotthelf, wenn er dieses innere Leben, das für ihn ein Mysterium (XV, 206) ist, in Worte zu fassen versucht, immer wieder zu Feuer- und Wassermetaphern greift. Wir stehen hier ohne Zweifel vor seinen elementarsten Erfahrungen. Das innere Leben, das so unmittelbar mit der schöpferischen Kraft und der Liebe verbunden ist, stellt sich ihm dar in sinnlichen Bildern von Wärme und Licht einerseits und von quellender, sprudelnder Bewegung andrerseits. Die schlummernde Gotteskraft muss aufbrechen im Menschen wie die Sonne über der Erde, welche strahlen und glühen soll im Herzen, durch des Herzens Spiegel, des Menschen Auge in alle Verhältnisse hinein . .. (XV, 206). Deshalb werden für die armen Kinder Eltern gesucht, in deren Herzen der pestalozzische Funke glimmt und glüht. .. welche warme Herzen haben für fremde Kinder, aber auch Licht, sie zu erleuchten! Gerade der Mangel an Wärme und Licht habe die arme Menschheit verkrüppeln lassen (XV, 166). Die niedergedrückten Bursche müssen an der Brust der Liebe erwarmen zu Mut und Freude (XV, 208). Es muss die Liebe angezündet werden in ihnen, es muss die Begeisterung ihre Bilder türmen in der durch die Liebe entflammten Seele . . . (XV, 212), denn nur die angefachte Begeisterung führt einem hohen Ziele zu (XV, 206). Wie nur entfesselter, kühner Mut helfen kann, der frei sprudelt aus kühner Brust, so quillt neues Leben . .. allein aus des Menschen Seele (XV, 162). Äussere Zucht und Ordnung dürfen daher nie die Hauptsache sein in der Erziehung . .. Wer aber traf und zündete das Göttliche, dem sprudelt nun aus reiner Quelle das innere Leben zu schönen Gestaltungen, der hat im Herzen selbst entbunden den Quell zu allem Schönen und Guten, dem verderbt die Welt seine Kinder nimmer. (XV, 206f) In einem berühmten Satz seiner Pensées hat Pascal einmal gesagt: »L'homme n'est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l'ange fait la bête.« Gotthelf geht davon aus, dass der natürliche Mensch dem Tier näher steht als dem Engel und dass sich ohne Liebe und schöpferische Kraft nur das Tier mit seinem gierigen Sinn entfalte: Wenn in der Mutterbrust die Liebe versiegt, dann ist dem Kinde für sein Leben lang der 281
Quell der Liebe vertrocknet, sprudelt ihm nimmer wieder aus freundlichen Augen entgegen, aus warmem Herzen empor, und nur in der Liebe zärtlichem Hauche bildet im Menschen der Engel sich aus. (XV, 151) Denn es ist der Mensch eine Puppe nur, aus der ein Engel schlüpfen soll, und dieser Engel muss hier geboren werden, hier in der körperlichen Hülle müssen ihm die Flügel wachsen ... (XV, 111) Gotthelf hat zur Feder gegriffen aus der Erfahrung heraus, dass die Armut gefährlich geworden sei, dass die Verhältnisse der sogenannten Proletarier zu den Besitzenden oder Nichthabenden zu den Habenden so gespannt seien, dass sie einen Bruch drohen, der ganz Europa mit Blut und Brand bedecken würde . . . (XV, 87). Er reagierte auf diese Bedrohung mit einem Appell an die schöpferische Kraft. Auch das Christentum sei zuerst als ein klein Kindlein in der Welt erschienen, aber im Kindlein lebte der Geist in Fülle, und dieser überwältigte Macht und Priesterschaften. Freilich nicht nach der Mode unserer Zeit rollte dieser Sieg wie ein Dampfschiff, ein Dampfwagen durch die Welt. (XV, 169)
282
Bibliographie
Werke Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius). Sämtliche Werke in 24 Bänden und 18 Ergänzungsbänden. In Verbindung mit der Familie Bitzius und mit Unterstützung des Kantons Bern herausgegeben von R. Hunziker, H. Bioesch, K. Guggisberg und W. Juker. Erlenbach-Zürich 1911-1977. Die Bände 1-24 werden mit römischen, die Ergänzungsbände 1-18 mit arabischen Zahlen zitiert. Literaturhinweise (Titel, denen die vorliegende Arbeit direkte Anregungen verdankt, sind mit einem * gekennzeichnet.) I Zu Gotthelf Eine knappe, aber gründliche Einführung in die biographische und interpretatorische Gotthelf-Foschung bietet Karl Fehr, Jeremias Gotthelf, Stuttgart 1967 (Sammlung Metzler, 60), bes. S. 84ff.: »Die Gotthelf-Forschung und ihre Probleme», wo einzelne wichtige Schriften über Gotthelf referiert werden. Vgl. ferner: Friedrich Sengle, »Zum Wandel des Gotthelfbildes«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 7 (1957) H. 3, S. 244-253; auch in: F.S., Arbeiten zur deutschen Literatur 1750-1850, Stuttgart 1965, S. 197-211; Roger Paulin, »Jeremias Gotthelf. Forschungsreferat«, in: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815-1848. Festschrift Friedrich Sengle, hrsg. von Jost Hermand und Manfred Windfuhr, Stuttgart 1970. - Bee Juker und Gisela Martorelli, Jeremias Gotthelf 1797-1854, Bibliographie 1830-1975, Bern 1983. Gesamtdarstellungen Bartels, Α.: Jeremias Gotthelfs Leben und Schaffen. Leipzig 1904. Fehr, K.: Jeremias Gotthelf. Zürich 1954. (Büchergilde Gutenberg.) Führer zu Gotthelf und Gotthelfstätten. Hrsg. von Walter Laederach. Bern 1954. Günther, W.: Der ewige Gotthelf. Erlenbach bei Zürich 1934. (2. Aufl. u.d.T.: Jeremias Gotthelf Wesen und Werk. Berlin 1954.) *Manuel, C.: Jeremias Gotthelf. Berlin 1857. * Muret, G.: Jérémie Gotthelf. Sa vie et ses œuvres. Paris 1913. *Muschg, W.: Jeremias Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers. München 1967. Seebass, F.: Jeremias Gotthelf. Pfarrer, Volkserzieher und Dichter. Glessen 1954. Waidson, H.M.: Jeremias Gotthelf. An Introduction to the Swiss Novelist. Oxford 1953. 283
Abhandlungen über einzelne Themen Bänziger, H.: Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf. Ihr wesentliches Verhältnis als Grundlageßir das Verständnis von Kellers Aufsätzen. Bern 1943. Barthel, H.: Der Emmentaler Bauer bei Jeremias Gotthelf. Münster 1931. Baumann, M.: Der Traum im Werk von Jeremias Gotthelf. Bern 1945. Bockleth, I.: Volksmoral und Volkserziehung in den Werken des Jeremias Gotthelf. Tübingen 1951. Boller, H.: Das Erlösungsproblem bei Jeremias Gotthelf. Zürich 1932. Brüsch weiler, Α.: Jeremias Gotthelf s Darstellung des Berner Taufwesens volkskundlich und historisch untersucht und ergänzt. Bern 1925. Buess, E.: Jeremias Gotthelf, sein Gottes- und Menschenverständnis. Zürich 1948. *Buhne, R.: Jeremias Gotthelf und das Problem der Armut. Bern 1968. Cunche, G.: La société paysanne bernoise dans la première moitié du 19e siècle d'après les romans de Jeremias Gotthelf. Neuchâtel 1921. Dahnke, H.D.: Probleme der Gesellschaftsauffassung und -darstellung bei Jeremias Gotthelf. Diss. Berlin (F.U.) 1956. (Masch.) *Demagny, J.D.: Les idées politiques de Jeremias Gotthelf et de Gottfried Keller et leur évolution. Paris 1954. *Dürrenmatt, H.U.: Die Kritik Jeremias Gotthelfs am zeitgenössischen bernischen Recht. Bern 1947. Fehr, K.: Das Bild des Menschen bei Jeremias Gotthelf. Frauenfeld 1953. Flury, Th.: Pestalozzi und Gotthelf. Die Persönlichkeit und ihre geistige Welt. Trimbach bei Ölten 1937. •Gallati, E.: Jeremias Gotthelfs Gesellschaftskritik. Bern 1970. Goldschmidt, H.L.: Der Geist der Erziehung bei Jeremias Gotthelf. Bern 1939. Günther, W.: Neue Gotthelfstudien. Bern 1958. Guggisberg, K..: Jeremias Gotthelf. Christentum und Leben. Zürich 1939. Hagnauer, E.: Gotthelf und seine Zeit, dargestellt an Idee und Gestaltung der Ehe. Bern 1931. Haller, L.: Jeremias Gotthelf Studien zur Erzählungstechnik. Bern 1906. Hedinger-Henrici, P.: Jeremias Gotthelf als Volkserzieher. Bern 1928. Hopf, W.: Jeremias Gotthelf im Kreise seiner Amtsbrüder und als Pfarrer. Bern 1927. Hutzli, W.: Jeremias Gotthelf. Das kirchliche Leben im Spiegel seiner Werke. Bern 1953. Ineichen, Α.: Die Weltanschauung Jeremias Gotthelfs. Zürich 1920. Küffer, U.: Jeremias Gotthelf. Grundzüge seiner Pädagogik. Untersuchung über Fehlformen der Erziehung. Bern und Stuttgart 1982. Lötscher, U.: Jeremias Gotthelf als Politiker. Bern 1905. Mäder, P.: Gotthelfs historische Novellistik und ihre Quellen. Bern 1932. Maybaum, J.: Gottesordnung und Zeitgeist. Eine Darstellung der Gedanken Jeremias Gotthelfs über Recht und Staat. Bonn 1960. Mieder, W.: Das Sprichwort im Werke Jeremias Gotthelfs. Bern 1972. *Müller, C.: Jeremias Gotthelf und die Ärzte. Bern 1963. Müller-Jost, C. u. K.: Jeremias Gotthelfs Konstitution und Krankheit. Bern 1979. Müller, O.: Das Problem der Sentimentalität in Gotthelfs historischen Novellen. Bern 1969. *Muret, G.: Gotthelf in seinen Beziehungen zu Deutschland. München 1912. *Muschg, W.: Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Bd. 41. Halle 1940.
284
* - (Hrsg.): Jeremias Gotthelfs Persönlichkeit. Erinnerungen von Zeitgenossen. Basel 1944. Neuenschwander, M.: Jeremias Gotthelf als Dichter der Ordnung. Zürich 1966. Oberle, W.: Der adelige Mensch in der Dichtung. Eichendorff, Gotthelf, Stifter, Fontane. Basel 1950. Reber, Α.: Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs. Berlin 1967. Rodner, F.A.: Women in Gotthelfs Short Stories. Cambridge (Mass.) 1976. Salfinger, Th.: Gotthelf und die Romantik. Basel 1945. Schmidt, D.: Der natürliche Mensch. Ein Versuch über Jeremias Gotthelf. Glessen 1940. Schwyn, R.: Dienen. Ein Ausschnitt aus dem Problem der Verantwortung gegenüber dem Nächsten, dargestellt am Werke von Jeremias Gotthelf Frauenfeld 1946. Spengeler, Α.: Jeremias Gotthelf. Von der politischen und religiösen Metamorphose zum dichterischen Refugium. Luzern 1975. Steiner, E.: Individuum und Gemeinschaft bei Jeremias Gotthelf. Eine Untersuchung über ihre Bedeutung und Wechselwirkung. (Diss. Bern.) Grosshöchstetten 1945. Strasser, W.H.: Jeremias Gotthelf als Satiriker. Diss. Basel 1960. *Strübin, E.: Grundfragendes Volkslebens bei Jeremias Gotthelf. Basel 1959. Tanner, R.: Familienerziehung im Werke Jeremias Gotthelfs. Zürich 1942. Neuere Ansätze Bauer, W.: Jeremias Gotthelf. Ein Vertreter der geistlichen Restauration der Biedermeierzeit. Stuttgart 1975. Bayer, H.: Biblisches Ethos und bäuerliche Lebensform. Die sprachlichen, sozialen und religiösen Grundlagen von Gotthelfs Epik. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1980, S. 3 4 7 ^ 0 2 . - : Theologische Quellen und epische Gestaltung. Gotthelfs >idealer Pietismus