Industrielle Revolution 4.0: Eine historische Navigationshilfe 3534275608, 9783534275601

Was braucht es, um die Zukunft zu gestalten? Einen Blick zurück! Wir stehen am Beginn einer gewaltigen, technologiegetr

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German Pages 208 [209] Year 2022

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Geleitwort von Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie a. D..
Die größte Revolution aller Zeiten
Teil I: Der Kompass der Geschichte
1. Perspektiven
2. Instrumente
Erster Orientierungspunkt: Wie über industriellen Wandel nachdenken?
Teil II: Die Räder der Revolution
3. Die langen Wellen der Innovation
4. Die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus
Zweiter Orientierungspunkt: Was treibt industriellen Wandel an?
Teil III: Der Rahmen der Realität
5. Das Zeitalter des Anthropozäns
6. Das Zusammenschrumpfen von Zeit und Raum
Dritter Orientierungspunkt: Wie verhält sich industrieller Wandel zur Wirklichkeit?
Der Strom der Zeit
Literaturhinweise
Bildnachweis
Rückcover
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Industrielle Revolution 4.0: Eine historische Navigationshilfe
 3534275608, 9783534275601

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Als wbg Paperback auch erhältlich: Karin Bojs, Meine europäische Familie Klaus-Jürgen Bremm, 1866 Klaus-Jürgen Bremm, Preußen bewegt die Welt Angelos Chaniotis, Die Öffnung der Welt Eric H. Cline, 1177 v. Chr. Oliver F. R. Haardt, Industrielle Revolution 4.0 Peter Heather, Die letzte Blüte Roms Leoni Hellmayr, Der Mann, der Troja erfand Gunther Hirschfelder, Manuel Trummer, Bier Douglas A. Howard, Das Osmanische Reich Arne Karsten, Volker Reinhardt Kardinäle, Künstler, Kurtisanen Irmgard Knechtges-Obrecht, Clara Schumann Harald Lesch, U. Forstner, Wie Bildung gelingt Philip Matyszak, Legionär in der römischen Armee Peter Meier-Hüsing, Nazis in Tibet Günter Müchler, Napoleon Magali Nieradka-Steiner, Exil unter Palmen Sam Pivnik, Der letzte Überlebende Gunda Trepp, Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus Abigail Tucker, Katzen

»Das richtige Buch zur rechten Zeit« Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister a. D.

Wir befinden uns am Beginn einer gewaltigen Revolution: Die Künstliche Intelligenz wird die Welt stärker verändern als die Erfindung der Dampfmaschine oder des Computers. Die vierte industrielle Revolution schafft ungeahnte Möglichkeiten, aber auch ganz neue Risiken. Angetrieben von einer Welle technologischer Innovationen und der Dynamik des Kapitalismus öffnet sie vor unseren Augen eine noch nie dagewesene, cyber-physische Realität. Gleichzeitig zieht mit dem Anthropozän ein neues Erdzeitalter herauf. Dieses Buch richtet sich an alle, die diesen Weltenwandel verstehen wollen. Denn indem wir einen aufmerksamen Blick in die Geschichte werfen, können wir die Revolution besser gestalten.

ISBN 978-3-534-27560-1

€ 20,00 [D] € 20,60 [A]

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Foto: Jehangir Cama

wbg Paperback. Für Leserinnen und Leser, die mehr Wissen wollen.

Oliver F. R. Haardt Industrielle Revolution 4.0

Mit einem Geleitwort von Peter Altmaier

Oliver F. R. Haardt

Industrielle Revolution 4.0 Eine historische Navigationshilfe

Oliver F. R. Haardt studierte am Trinity College der Universität Cambridge Geschichte und promovierte 2017 bei Christopher Clark. Danach lehrte er am Magdalene College der Universität Cambridge. Heute wirkt er als freier Autor und Historiker. Seine Arbeit konzentriert sich auf den großen Kulturwandel, der die Welt im 19. und 20. Jahrhundert in die Moderne führte, und hat mehrere bedeutende Preise in Deutschland und Großbritannien gewonnen. Zuletzt erschien von ihm die hochgelobte neue Geschichte des deutschen Kaiserreichs »Bismarcks ewiger Bund«.

Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Umschlagabbildungen von oben nach unten: fahrbare Dampfmaschine zum landwirtschaftlichen Gebrauch / akg-images; elektrische Glühbirne von Edison, wie er sie am 15.12.1879 zum Patent anmeldete / akg-images; Standbild aus dem Film »Metropolis«, 1927 / akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek; Internationale Funkausstellung, West-Berlin 1985 / akg images / Peter Hebler; Ausschnitt aus »Salat« von Johannes Geeslors auf der Cyber Arts 08 / akg-images / ANA

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Oliver F. R. Haardt Industrielle Revolution 4.0

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Oliver F. R. Haardt

Industrielle Revolution 4.0

Eine historische Navigations­hilfe

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Für Jutta und die kleinen Haardts

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Paperback ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Ute Maack, Hamburg Satz: Arnold & Domnick, Leipzig Umschlagabbildungen von oben nach unten: fahrbare Dampfmaschine zum landwirtschaftlichen Gebrauch / akg-images; elektrische Glühbirne von Edison, wie er sie am 15.12.1879 zum Patent anmeldete / akg-images; Standbild aus dem Film „Metropolis“, 1927 / akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek; Internationale Funkausstellung, West-Berlin 1985 / akg images / Peter Hebler; Ausschnitt aus „Salat“ von Johannes Geeslors auf der Cyber Arts 08 / akg-images / ANA Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27560-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4538-7 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4539-4

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Geleitwort von Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie a. D.. . . 10 Die größte Revolution aller Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Teil I: Der Kompass der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Erster Orientierungspunkt: Wie über industriellen Wandel nachdenken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Teil II: Die Räder der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Die langen Wellen der Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4. Die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Zweiter Orientierungspunkt: Was treibt industriellen Wandel an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Teil III: Der Rahmen der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5. Das Zeitalter des Anthropozäns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 6. Das Zusammenschrumpfen von Zeit und Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Dritter Orientierungspunkt: Wie verhält sich industrieller Wandel zur Wirklichkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Der Strom der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Literaturhinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Vorwort Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft. Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt (2005)

Dieses Buch hat eine ganz besondere Entstehungsgeschichte. Alles begann auf einer jener Online-Plattformen, dank derer sich heute, zu Beginn der vierten industriellen Revolution, mehr Menschen miteinander vernetzen können als jemals zuvor. Anfang 2020 kommentierte ich auf Twitter einen Beitrag des damaligen Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier. Es ging um einen Vergleich zwischen den föderalen Strukturen des Kaiserreiches und den Konferenzen, in denen die Ministerpräsidenten der deutschen Länder und die Bundesregierung regelmäßig ihr Vorgehen zur Bekämpfung der Coronapandemie koordinierten. „Interessant, aber außerhalb der Historikerbubble nicht weiter von Belang“, dachte ich, als ich die 280 Zeichen postete. Am folgenden Tag machte jedoch die ehrwürdige Frankfurter Allgemeine Zeitung aus meinem Tweet einen kurzen Artikel: „Historiker belehrt den Wirtschaftsminister“. Dieser kleine Wirbel machte den ausgewiesenen Bismarck-Kenner, der gerade das Haus Ludwig Erhards durch die rauen Wogen der Coronapandemie lenkte, auf meine frisch erschienene Geschichte des Deutschen Kaiserreiches (Bismarcks ewiger Bund, Darmstadt 2020) aufmerksam. Es folgte ein längerer Briefwechsel, in dem wir uns intensiv darüber austauschten, wie der technologiegetriebene Weltenwandel, den wir gerade erleben, wohl historisch einzuordnen sei. Schließlich bat mich der Minister, den kulturhistorischen Ansatz, mit dem ich in meiner Arbeit auf die Geburt der Moderne blicke, in die Dienste seines Hauses zu stellen. Vollauf unvorhergesehen gelangte ich so im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen in das damalige Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

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Vorwort

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Vom Ohrensessel eines abgeschiedenen Studierkämmerleins direkt ins Zentrum des Berliner Ministerialbetriebes  – möglich gemacht hatten diesen erstaunlichen Szenenwechsel: die egalitäre Kommunikationsstruktur auf der Online-Plattform Twitter, die es ungeachtet von Herkunft, Prägung, Geisteshaltung, Profession und aller sonstigen Faktoren, die in der analogen Welt schnell unüberbrückbare Hierarchien erzeugen, jedem Nutzer, jeder Nutzerin erlaubt, mit allen anderen in Kontakt zu treten; die Breitenwirkung, die dort aufgrund der öffentlichen Verfügbarkeit von allen noch so kleinen Beiträgen ausgehen kann; die Wechselwirkung zwischen klassischen und sozialen Medien; und das Bewusstsein eines Ministers dafür, wie hilfreich ein Blick in die Geschichte dabei sein kann, um den historischen Transformationsprozess besser zu verstehen, der dieser Tage eben jene neue, digitale und analoge Elemente miteinander verknüpfende, sprich: cyber-physische Realität hervorbringt, in deren Cyberspace wir uns auf Twitter kennenlernten. Zwischen März und Dezember 2021 erstellte ich somit im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie eine Studie über industriellen Wandel. Aus dieser ist nun knapp ein Jahr später das vorliegende Buch hervorgegangen. Ziel der hausinternen Handreichung war es, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums, die sich täglich mit den unterschiedlichsten ­Manifestationen der vierten industriellen Revolution auseinanderzusetzen haben, mehr Orientierung zu geben in Zeiten, in denen sich ob der rasanten Geschwindigkeit des Weltenwandels mitunter große Verunsicherung breitmacht. Als Historiker bedeutete diese Zielsetzung für mich, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wo wir uns gerade im Strom der Zeit befinden. Anders gesagt: Mein Fokus lag darauf, den größeren historischen Kontext klarzumachen, innerhalb dessen sich die vierte industrielle Revolution dieser Tage entfaltet. Was sind ihre historischen Wurzeln? Wie passt sie in die längeren Entwicklungslinien indus­ triellen Wandels? Und wo weisen diese für die absehbare Zukunft hin? Die folgenden Ausführungen, die aus meinen Überlegungen zu diesen Fragen erwachsen sind, erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit. Das wäre vermessen. Mir geht es nicht darum, einzelne Bereiche exakt durchzuanalysieren. Das kann ich auch gar nicht, denn ich bin kein Experte, der Grundlagenforschung zu Künstlicher Intelligenz, zum Kapitalismus, zur Wirtschaft- und Technikgeschichte, zu sozialen Medien, zu Temporalitätsregimen, zum menschlichen Gehirn, zur DNA oder einem der vielen anderen Fachgebiete betreibt, die für das Thema der vierten industriellen Revolution ­relevant sind. Als Historiker, der in seiner Arbeit mithilfe eines breiten Blick-

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Vorwort

winkels den verschlungenen Pfad der Welt in die Moderne nachzuzeichnen versucht, geht es mir genau um das Gegenteil, nämlich darum, den Wald zu zeigen, den wir vor lauter Bäumen oft nicht sehen. Das vorliegende Buch ist daher eine historische Navigationshilfe, nicht mehr und nicht weniger. Als solche nimmt es keine exakte Vermessung der Welt vor, sondern lädt dazu ein, über den Wandel der Wirklichkeit und seine historische Dimension nachzudenken und dann darüber zu diskutieren, wie wir selbigen gestalten wollen. Man muss mir dabei nicht recht geben. Es kommt mir vielmehr darauf an, dass man dieses Buch zum Anlass nimmt, um einmal innezuhalten und jene grundlegenden Fragen zu durchdenken, die ob der allgemeinen Hektik unserer Zeit nicht nur im Ministerialbetrieb der Hauptstadt, sondern auch im Alltag eines jeden Einzelnen oft zu kurz kommen: Wo kommen wir her? Wo stehen wir? Und wo wollen wir mit unserer Welt hin? Dafür, dass ich Gelegenheit hatte, meine Gedanken zu diesen Fragen systematisch zu Papier zu bringen, schulde ich mehreren Institutionen und Personen großen Dank: zuallererst Bundesminister a. D. Peter Altmaier, der mit seinem wachen Geist nicht nur gleich das große Potenzial einer Zusammenarbeit erkannt hat, sondern mit seinem schier unerschöpflichen Kompendium an Wissen und Erfahrung auch der spannendste Gesprächspartner ist, den man sich nur wünschen kann, um über den Strom der Zeit zu diskutieren; sodann dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (heute: Wirtschaft und Klimaschutz), das mich trotz der schwierigen Coronazeiten sehr zuvorkommend aufgenommen und mir darüber hinaus freundlicherweise die Genehmigung erteilt hat, die für das Haus angefertigte Studie in überarbeiteter Form als Buch zu veröffentlichen; Ministerialdirigent Dr. Oliver Lamprecht, Ministerialdirektor Andreas Hermes und Regierungsdirektor Magnus Vennewald für ihre organisatorische Unterstützung, große Freundlichkeit, spannende Einblicke in den Ministerialbetrieb und viele anregende Gespräche; Andreas Kilb (F.A.Z.) für das charmante Weiterverarbeiten meiner Umtriebe auf Twitter; Prof. Dr. Andreas Fahrmeir, dem leider im März 2021 viel zu früh verstorbenen Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis (beide Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Prof. Dr. Sir Christopher Clark (St Catharine’s College Cambridge) für ihre stets offenen Ohren, scharfen Augen und weitsichtigen Ratschläge; Prof. Dr. Hedwig Richter (Universität der Bundeswehr München) und Prof. Dr. Detlef Pollack (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) für ihre Ermutigung und Unterstützung; Prof. Dr. Werner Plumpe (Goethe-Universität Frankfurt am Main) für seine praktische Hilfe bei der Literaturbeschaffung und für die

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große Freundlichkeit und Geduld, mit der er immer wieder meine Fragen zum technologischen Wandel und zur Geschichte des Kapitalismus beantwortet hat; Dr. Thomas Clausen und Justus Bieber für alte Freundschaften in einer neuen Stadt; Ian und Lynsey Downie für spannende Gespräche über die schöne neue Welt von Metaverse und Co.; meinen Eltern und Geschwistern für bedingungslose Familienbande; und last but not least meiner lieben Frau Rowena, die das unvorhergesehene Abenteuer Berlin in Zeiten von Corona mit unerschütterlichem Frohsinn mitgemacht hat. Für ein Buch, das sich mit historischen Entwicklungslinien beschäftigt, um so mehr Orientierung für unseren weiteren Weg durch die vierte industrielle Revolution zu gewinnen, ist es nur angemessen, sowohl Repräsentanten der Vergangenheit als auch der Zukunft im Blick zu haben. So ist dieses Buch einerseits meiner leider während der Fertigstellung des Manuskripts verstorbenen Tante Jutta gewidmet, die mich durch ihre Faszination für Science-Fiction schon früh für das Veränderungspotenzial innovativer Technologien begeistert hat. Andererseits ist dieses Buch aber auch all jenen gewidmet, die in der cyberphysischen Realität, die sich gerade öffnet, einmal leben werden, allen voran Benno, Mila, Anni und allen kleinen Haardts, die noch kommen werden. Möge uns dieses Buch eine nützliche Navigationshilfe sein, um so durch den Strom der Zeit zu manövrieren, dass wir den Kleinen dereinst eine lebenswerte Welt überantworten werden! Oliver F. R. Haardt Münstermaifeld und Hampshire, Frühjahr 2022 www.oliverhaardt.de [email protected] Twitter: @OHaardt

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Geleitwort von Peter Altmaier So viel Wandel und Umbruch wie heute waren scheinbar noch nie: Vermeint­liche Gewissheiten zerbröseln über Nacht, unerhört Neues beherrscht die Schlagzeilen der Medien – um doch schon kurze Zeit später der nächsten Sensation Platz zu machen. Weltraumteleskope blicken zurück bis in die Kinderstube des Universums vor 10 Milliarden Lichtjahren, aber was der nächste Tag an Herausforderungen, Änderungen und Katastrophen bringt, wissen wir weniger denn je. Mit dem Smartphone haben wir das Wissen der Welt in der Westentasche, und dennoch nehmen Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit allerorten zu. Bahnbrechende Veränderungen, wohin man schaut: Die fortschreitende Erderwärmung mit ihren katastrophalen Folgen für Klima, Pflanzen, Tier und Mensch. Und damit verbunden die Notwendigkeit zu radikalen Transformationen innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte. Die Digitale Revolution mit ihren revolutionären Auswirkungen auf alle Lebensbereiche – nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft: Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie, Datenökonomie, Blockchaine, Quanten-Computing und Social Media sind Stichwörter dafür. Dahinter lauert schon die nächste technologische Revolution durch den indus­triellen Einsatz von Biotechnologie, wie er in den USA bereits zu beobachten ist. Dort werden entschlossen Milliarden mobilisiert, während wir uns in ­Europa mit ethischen Fragen plagen. Der Aufstieg Chinas und der asiatischen Volkswirtschaften zum demnächst größten und stärksten Wirtschaftsraum der Welt. Dazu die Bevölkerungsexplosionen in ganzen Erdteilen wie Afrika oder Südamerika. Unbekannte Pandemien wie Corona gehen innerhalb von Wochen um die halbe Welt und versetzen Länder und Kontinente in Schockstarre. Und natürlich die bekannten, immer noch nicht gelösten Probleme bei Bildung, Rente und Gesundheit. Oder die Vereinzelung des Menschen durch die Auflösung familiärer und sozialer Strukturen. Und jetzt: Die Rückkehr des Krieges nach Europa, wie der brutale Überfall Russlands auf die ­Ukraine zeigt, und damit einhergehend die allgemeine Forderung nach einer Zeitenwende der Politik. Plötzlich sprechen junge Menschen von „Kämpfen und Siegen“, die vor wenigen Jahren noch für „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ demonstrierten. Was geschieht als nächstes, was wird sich ereig-

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nen, bis dieses Buch in den Handel und in die Hände der geneigten Leserinnen und Leser gelangt? Nur wenige Menschen fühlen sich in Deutschland und Europa durch die Rasanz und Gleichzeitigkeit der so unterschiedlichen Vorgänge und Entwicklungen positiv herausgefordert, inspiriert und motiviert. Das ist in Asien, wo man gerade erst den Zauber des wirtschaftlichen Aufstiegs durch Technologie entdeckt hat, aber auch in den USA, wo der Entdecker- und Fortschrittsglaube bis heute ungebrochen ist, ganz anders. Überall dort wird nicht nur geforscht und gedacht, sondern auch investiert und gemacht: in ganz großem und vor allen Dingen im globalen Maßstab. Bei uns in der „Alten Welt“ mit ihren seit Jahrhunderten und Jahrtausenden erfolgreichen und teilweise auch saturierten Gesellschaften überwiegen stattdessen diffuse Gefühle der Mutlosigkeit, der Überforderung und der Bedrohung. Und zunehmend auch Verlustängste und Zukunftspessimismus. Auch Politik und Wirtschaft werden scheinbar immer mehr davon erfasst: Viele glauben, sie könnten der Zukunft entkommen, wenn sie nur fest genug die Augen davor verschließen. Das ist ein riesiger Irrtum und ein beträchtliches Problem. Denn unsere Zukunft und die unserer Kinder und Enkelkinder wird davon abhängen, ob es uns ein weiteres Mal gelingt, die Entschlossenheit, die Initiative und die Stärke zu gewinnen, die es braucht, um das Erreichte beherzt weiterzuentwickeln und dadurch zu bewahren. Stillstand bedeutet meistens Abstieg, wenn um einen herum alles in Bewegung und mit dem Aufstieg beschäftigt ist. Deshalb kommt dieses Buch zur rechten Zeit. Es soll und es kann dabei helfen, wichtige, ja entscheidende Aspekte der bahnbrechenden Veränderungen, mit denen wir es zu tun haben, zu erkennen und zu verstehen. Wenn wir etwas begreifen und verstehen können, verliert es seinen Schrecken, wird es erlernbar und beherrschbar. Das war zu allen Zeiten so und ist eine Binsenweisheit, die jedoch immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Deshalb gilt mein ­aufrichtiger Dank für dieses Buchprojekt der wbg und Dr. Oliver Haardt. Die wbg hat sich seit ihrer Gründung dem Gedanken der Wissenschaftlichkeit und damit der Aufklärung verschrieben – als bewusstem Gegenentwurf zu Ideologie und Schwärmerei. Oliver Haardt, der zu einer neuen Generation junger und vielversprechender Historiker gehört, hat mit diesem Buch den Nachweis geführt, dass technologischer Fortschritt und historisches Bewusstsein sich nicht widersprechen, sondern gegenseitig ergänzen und bedingen. Fortschritt ist nur in der Zeit möglich – das gilt für Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen.

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Geleitwort

Es gehört zu den bedauerlichen und hoch problematischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, dass das Bewusstsein für die historische Dimension von Politik und Fortschritt fast vollständig aus dem öffentlichen Diskurs gewichen ist. Kaum jemand, der noch den Mut hat, historische Entwicklungslinien zu skizzieren, historische Beispiele für die Beurteilung von Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen. Historische Orientierungspunkte, die Politikern wie Otto von Bismarck, Winston Churchill, Charles de Gaulle oder Konrad Adenauer, aber auch Publizisten wie Rudolf Augstein noch selbstverständlich waren und beim Gestalten der Zukunft wichtige Leitplanken, sind heute vom Treibsand der Zeit bedeckt und vergessen. Vermutlich gab es noch nie so viele hervorragend qualifizierte Historikerinnen und Historiker wie heute, aber gleichzeitig haben wir sie immer mehr in den Elfenbeinturm ihrer Zunft zurückgedrängt, was mehr der Politik als ihnen selbst geschadet hat. Das Ende des Kalten Krieges, Francis Fukuyama und seine Rede vom „Ende der Geschichte“ mögen dazu ebenso beigetragen haben, wie der unerhörte Fortschritt, wie er in der Mondlandung 1969 oder in der Schaffung des Internets in den 90er-­Jahren sichtbar wurde. Das alles schien ohne Präzedenz, die Ungeheuerlichkeit der neuen Dinge und Versprechungen ließ alles Vergangene im wahrsten Sinne des Wortes „altmodisch“ und obsolet erscheinen. Dabei haben wir uns allerdings weitgehend selbst der Möglichkeit beraubt, das, was sein wird, auch aufgrund dessen, was war, zu verstehen und zu meistern. Die Mondlandung wurde von Jules Verne übrigens schon im 19. Jahrhundert vorhergesagt, ein Buch aus dem Jahr 1906 enthält einen Artikel mit der Überschrift „Das Telephon in der Westentasche“, in dem nicht nur das Mobiltelefon, sondern auch das weltweite Streamen von Ereignissen oder die Durchführung von Videokonferenzen über weite Entfernungen treffend vorhergesagt wurden. Hexerei oder Zukunftsfantasie war das alles nicht: Die Autoren schrieben auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Schwerkraft und ihrer Überwindung oder zur damals gerade „erfundenen“ sogenannten Funktelegrafie. Sie ­haben die Möglichkeiten dieser neuen Erkenntnisse und Technologien sozu­ sagen „extrapoliert“. Die Methode funktioniert auch heute noch, ist aber ebenfalls aus der Mode geraten. Staunen statt Wissen, Angst statt Kon­trolle. Vor allem kann uns die historische Betrachtung der verschiedenen und sukzessiven industriellen Revolutionen, die mit der Erfindung der Dampfmaschine und der „unbegrenzten“ Verfügbarkeit von Energie in Form von Steinkohle vor 250 Jahren begannen, dabei helfen, mit den Herausforderungen der Zukunft besser fertig zu werden.

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Panta rhei (πάντα ῥεῖ), diese Zustandsbescheibung von Heraklit und Platon ruft uns in Erinnerung, dass Veränderung an sich nichts Außergewöhnliches, sondern der Normalzustand der Natur, aber auch jeder Gesellschaft ist. Otto von Bismarck hat bei jeder Gelegenheit, bis es kaum noch jemand von den Zeitgenossen hören wollte, darauf hingewiesen, dass sich niemand erfolgreich gegen die großen Strömungen der Zeit stemmen kann. Man könne auf dem Strom der Zeit höchstens navigieren, ihn aber nicht in seinem Lauf dauerhaft verändern. Deshalb hat er auch gar nicht erst versucht, die politische Umsetzung von Aufklärung und Französischer Revolution zu verhindern, sondern war der erste Politiker von Rang, der sich die deutsche Einheit, das allgemeine und freie Wahlrecht sowie die soziale Sicherheit auf die Fahnen geschrieben hat. Zu einer Zeit, als seine adeligen Standesgenossen in Preußen noch lange von Restauration und Reaktion träumten. Oliver Haardts großes Verdienst besteht auch darin, dass er sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stufen der technologischen und industriellen Entwicklung herausarbeitet. Und dass die Entwicklung immer schneller geworden ist. Tatsächlich fanden Innovationen wie die Erfindung des Faustkeils in der Steinzeit noch innerhalb von Jahrtausenden statt, zum Beginn des 19. Jahrhunderts dauerte es immerhin noch Jahrzehnte, bis sich Flugzeuge, Autos, Kühlschränke und Elektroherde allgemein durchgesetzt hatten. Heute bemisst sich technologische Innovation in Jahren, aber das haben längst nicht alle verstanden. Das vorliegende Buch beschreibt kenntnisreich und klug, aber immer verständlich und oft auch amüsant Zusammenhänge, die uns bei der Bewältigung der heutigen Herausforderungen enorm helfen können. Und Hilfe tut Not, wenn wir am Ende erfolgreich sein wollen. Deshalb hatte ich Herrn Dr. Haardt vor mehr als einem Jahr eingeladen, eine Handreichung zum Thema industrielle Evolution und Disruption für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines damaligen Ministeriums zu erstellen. Die Resonanz hat alle meine Erwartungen übertroffen, und deshalb freue ich mich, dass dieses Projekt nunmehr im vorliegenden Buch seine eindrucksvolle Weiterentwicklung und Vollendung gefunden hat. Um noch einmal Otto von Bismarck zu zitieren: „Germany is not doomed even if monarchy might be so“, schrieb er 1893 in einem Brief an einen seiner Söhne, aus der Erkenntnis, dass die parlamentarische Regierungsform in der Konsequenz von Gleichheit und Freiheit zwingend angelegt war, nicht jedoch das „persönliche Regiment“ Wilhelms II. und das von ihm beanspruchte

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Geleitwort

­ ottesgnadentum. Er sollte mit dieser Prophezeiung recht behalten, nicht nur G mit Bezug auf Deutschland. Auch die technologische und industrielle Entwicklung wird ihren Fortgang nehmen: nach den Gesetzen der Wissenschaft, der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs, ob wir es wollen oder nicht. Ich bin aber überzeugt, heute mehr denn je, dass Deutschland und Europa diese Entwicklung nicht zu fürchten brauchen. Wenn wir die Weichen richtig stellen, durch eine kluge Industriepolitik gemeinsam mit der Wirtschaft, für die ich bereits vor Jahren vehement plädiert habe und wie sie inzwischen in Deutschland und in der EU weitgehend akzeptiert ist. Wenn wir ausreichend in Bildung, Forschung und Umsetzung investieren, wenn wir uns der Welt weiter öffnen anstatt uns abzuschotten in vermeintlichem Protektionismus und Autarkie. Ein wirtschaftlich starkes Europa kann und wird weltweit eine ungeheure Anziehungskraft entfalten: Das europäische Menschenbild, unsere Werte, unser Demokratie-, Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialmodell können zum Vorbild werden für viele aufstrebende Länder und Gesellschaften weltweit werden.

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Die größte Revolution aller Zeiten In dieser Einleitung erfahren Sie, − was die vierte industrielle Revolution ist, − warum uns ein Blick auf deren Vorgängerinnen dabei hilft, sie besser zu verstehen, − weshalb die Zukunft schneller ist, als wir denken, − wie überall rosarote Paradiese und düstere Apokalypsen prophezeit werden − und woran wir uns orientieren können, um unsere Verunsicherung über den Weltenwandel zu überwinden.

Die Enterprise ist längst in unserer Gegenwart gelandet. Das legendäre Raumschiff, das laut dem Vorspann der Kultserie eigentlich erst im Jahr 2200 beziehungsweise – im Fall der Nachfolgermodelle – sogar erst „in einer fernen Zukunft […] viele Lichtjahre von der Erde entfernt“ unterwegs sein sollte, „um fremde Welten zu entdecken, unbekannte Lebensformen und neue Zivilisationen“, hat das Fantasieuniversum des amerikanischen Drehbuchautors Gene Roddenberry in allerlei Hinsicht vorzeitig verlassen. Vieles von dem, was Ende der 1960er-Jahre, als die Abenteuer um Captain James T. Kirk und seine Crew erstmals über die Bildschirme flimmerten, noch wie fantastische Science-Fiction anmutete, ist mittlerweile fester Bestandteil unserer Realität – oder schickt sich an, es schon bald zu werden. Die Kommunikatoren und Scanner, mit denen die Offiziere der Sternenflotte Kontakt hielten, ihre Position bestimmten und alle möglichen Daten sammelten und auswerteten, tragen wir mittlerweile wie selbstverständlich in unseren Hosentaschen. Smartphones machen uns über das Internet jederzeit und von überall aus das gesamte Wissen der Menschheit zugänglich, zeigen uns via GPS den kürzesten Weg an unser Ziel, speichern unsere Texte, Bilder und sonstigen Dateien in riesigen „Clouds“ und erkennen sogar unsere Gesichter und Fingerabdrücke. Der Replikator, bei dem Kirks Nachfolger Jean-Luc Picard gerne einen heißen Earl Grey bestellte, steht heute als 3D-Drucker in ­vielen

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Die größte Revolution aller Zeiten

1  Roboter-Priester Mindar segnet Gläubige im Kodaiji Tempel von Kyoto, Japan.

I­ ­ndustriehallen. Dort stellt er nicht mehr nur Maschinenteile und Nutzgegenstände her, sondern zunehmend auch Nahrungsmittel. Die Sonden, die das Raumschiff zur Erforschung fremder Planeten abschickte, ähneln den Drohnen, die wir heute teilweise selbststeuernd für einen Schnappschuss über die Landschaft oder für Einsatzzwecke in den Krieg fliegen lassen. Das Holodeck, auf dem sich die Besatzung in künstlich erzeugten Fantasiewelten amüsierte, können wir uns heute auf die Nase setzen. Virtual-RealityBrillen lassen uns in immer ausgefeiltere, computergenerierte Wirklichkeiten eintauchen. Spätestens seit dem Einsetzen der Coronapandemie 2020 baut die Kultur- und Unterhaltungsindustrie das Angebot an virtuellen Museen, Galerien, Konzertsälen, Escape Rooms und sonstigen Online-Bildungs- und Vergnügungsstätten stark aus. Digitale Bibliotheken sind nicht nur an Universitäten immer öfter Standard. Digitale Kunst, ganz besonders NFTs („Non Fungible Tokens“) oder Crypto Art, bei der virtuelle Kunstgüter als einmalige Objekte gesammelt und gehandelt werden, erzielt bei Auktionen regelmäßig neue Rekordwerte. Die computergesteuerten Kabinen, in denen die Crew der Enterprise relativ spartanisch wohnte, verblassen gegen die Smart Homes, in denen uns heute Staubsauger- und Rasenmäherroboter, vorprogrammierte Licht-, Sound- und Heizungsanlagen, mit Dienstleistungsanbietern vernetzte Küchengeräte und andere vollautomatische Alltagshilfen das Leben erleichtern. Autopiloten, die

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unsere Flugzeuge und Schiffe so steuern wie der Bordcomputer die Enterprise, gibt es schon seit Jahrzehnten. Die ersten selbstfahrenden Autos kommen gerade auf die Straßen. Auch der Weltraum wird erobert. Riesige Tech-Unternehmen legen ein Raketenprogramm nach dem anderen auf, um spätestens in den 2030er-Jahren, so das Ziel von SpaceX, astronautische Missionen auf den Mars zu bringen. Erste, freilich noch sehr visionäre Pläne zur Besiedlung des roten Planeten sind bereits entworfen. Im April 2022 brach die erste private Weltraummission, bestehend aus einem Astronauten und vier Unternehmern, mithilfe einer Falcon-9-Rakete zur Internationalen Raumstation ISS auf. Die großangelegten Eingriffe in atmosphärische und geologische Prozesse, mit denen die Wissenschaftler der Sternenflotte verhinderten, dass sich fremde Planeten durch einen Umweltkollaps in lebensfeindliche Feuer- und Eiswelten verwandelten, erinnern an einige der Maßnahmen, die heute unter dem Begriff „Erdmanagement“ diskutiert werden und die Erde vor einer Klimakatastrophe bewahren sollen. Einige Forscher schlagen zum Beispiel vor, die Zusammensetzung der Erdatmosphäre durch die Injektion bestimmter Chemikalien derart zu verändern, dass weniger Sonneneinstrahlung auf die Erdoberfläche gelangt und dadurch ein Abkühlungseffekt einsetzt. Andere sprechen sich für die Installa­tion von Milliarden von Spiegeln im Weltall aus, um die Sonnenenergie bereits vor Eintritt in die Atmosphäre zurückzustrahlen. Auch riesige Schirme, die der Erde Schatten spenden sollen, sind im Gespräch. Besonders kühn ist die Idee, die Erde auf eine neue, der Sonnenstrahlung weniger stark ausgesetzte Umlaufbahnbahn zu zwingen. Viele der Diagnose- und Behandlungsmethoden, die den Bordarzt „Pille“ einst als futuristischen Halbgott erscheinen ließen, sind heute entweder schon in ähnlicher Form verfügbar oder befinden sich in der Entwicklung. Kostengünstige DNA-Sequenzierung und Gentherapie machen es möglich, das Genom eines Menschen zu verändern und so genetisch bedingte Krankheiten zu behandeln. Die synthetische Biologie macht enorme Fortschritte beim Design maßgeschneiderter Moleküle, Zellen und Organismen. Das Ziel sind komplette, synthetisch hergestellte biologische Systeme, sprich: künstliches Leben. Von Robotern assistierte Apparaturen wie die nach dem italienischen Universalgenie der Renaissance benannten Da-Vinci-Operationssysteme erlauben es ­Chirurgen, minimalinvasive Eingriffe mit höchster Präzision durchzuführen. Xenotransplantationen, bei denen tierische Organe in Menschen verpflanzt werden, sind mittlerweile so gut erforscht, dass im Januar 2022 erstmals einem herzkranken Patienten ein Schweineherz eingesetzt wurde.

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Einen vollauf selbstständigen, universell einsatzfähigen Androiden wie den Treckie-Liebling Lieutenant Commander Data, der auf dem Nachfolgeschiff der ersten Enterprise sowohl die mentalen als auch die physischen Kräfte seiner menschlichen Kollegen bei Weitem in den Schatten stellte, kennt die Welt zwar noch nicht. Die verschiedensten Anwendungen der Künstlichen Intelligenz werden jedoch immer ausgefeilter und vielseitiger und durchdringen unseren Alltag immer tiefer. Erste humanoide Roboter, die eine menschliche Gestalt haben und menschliches Verhalten imitieren, sind bereits im Einsatz. In Fernost pflegen hochentwickelte Maschinenwesen schon seit einigen Jahren in Heimen und Spitälern Alte und Kranke. Auch in japanischen Tempeln findet man sie. Dort unterstützen Roboter-Priester ihre menschlichen Kollegen bei der Durchführung religiöser Zeremonien und erteilen Gläubigen den Segen. Für 2022 hat der amerikanische Tech-Unternehmer Elon Musk angekündigt, mit dem Tesla-Bot „Optimus“ einen Prototypen für einen humanoiden Allzweckroboter vorzustellen. Doch all das ist erst der Anfang. Der Weltenwandel, durch den unsere Zeit das Star-Trek-Universum immer stärker einholt, hat gerade erst begonnen. Wir erleben dieser Tage nicht weniger als den Beginn einer vierten industriellen Revolution – einer Revolution, die noch größer, noch tiefgreifender und noch wirkmächtiger zu werden verspricht als alle ihre Vorgängerinnen. Gut 250 Jahre, nachdem in den Textilfabriken Nordenglands die ersten Dampfmaschinen die industrielle Transformation der Welt ankurbelten, läuft der zweitaktige Motor aus technologischen Innovationen und kapitalistischer Marktwirtschaft, der in der Vergangenheit immer wieder industrielle Revolutionen angetrieben hat, einmal mehr auf Hochtouren. Tatsächlich ist er gerade dabei, eine ganz neue Wirklichkeit zu schaffen, in der die analoge mit der digitalen Welt verschmilzt. Allen voran die rasante Ausbreitung der Künstlichen Intelligenz und die wegen der menschengemachten Schäden an unserem Planeten dringend notwendige Umstellung von fossil-analogen auf klimaneutral-digitale Formen des Wirtschaftens schicken sich an, die Art, wie wir uns fortbewegen, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir wohnen, wie wir arbeiten, wie wir unsere Freizeit verbringen, kurzum: unsere ganze Lebensweise jenseits unserer Vorstellungskraft zu verändern.

Stimmen der Revolution Um die Bevölkerung auf diesen Weltenwandel einzustellen, sprechen die politischen Spitzen der großen Industriemächte mittlerweile fast routinemäßig von einer neuen industriellen Revolution. Während des Bundestagswahlkampfes,

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der ihn im Herbst 2021 überraschend ins Kanzleramt beförderte, erklärte Olaf Scholz immer wieder, dass mit dem „klimagerechten Umbau der Wirtschaft“ und der Ausformung der „Gigabit-Gesellschaft“ eine neue „industrielle Revolution“ bevorstehe. Der britische Premierminister Boris Johnson stellte im gleichen Jahr einen viel beachteten Zehn-Punkte-Plan für eine „grüne industrielle Revolution“ vor, die im Vereinigten Königreich 250 000 neue Jobs schaffen soll. Hochrangige Vertreter der Europäischen Union bewerben den ehrgeizigen „European Green Deal“, der den Kontinent bis 2050 klimaneutral machen soll, beharrlich als Teil einer „neuen industriellen Revolution“. Jenseits des Atlantiks lud US-Präsident Joe Biden 2021 alle Staats- und Regierungschefs der Welt dazu ein, sich den Vereinigten Staaten bei der Entfesselung der „vierten industriellen Revolution“ anzuschließen, um so den Energiesektor zu modernisieren, neue Arbeitsplätze zu schaffen und den drohenden Klimakollaps abzuwenden. Der chinesische Präsident Xi Jinping bezeichnete Künstliche Intelligenz bereits 2018 als die „entscheidende Triebkraft einer neuen technologischen Revolution und industriellen Transformation“. Weitsichtige Unternehmer haben die Zeichen der Zeit ebenfalls längst erkannt, geht es für sie doch darum, aus dem Weltenwandel Kapital zu schlagen und sich nicht etwa davon in die Insolvenz treiben zu lassen. In einer Brandrede auf dem Global Board Meeting der Volkswagen-Gruppe wies Vorstandschef Herbert Diess im Januar 2020 nachdrücklich darauf hin, dass durch die Einführung neuer Technologien und nachhaltiger Produktionsweisen eine „Zeitenwende […] von der Dimension der industriellen Revolution“ anstehe, auf die sich der Automobilkonzern dringend einstellen müsse. Als die Coronapandemie 2021 weltweit Millionen von Arbeitnehmern dazu zwang, von zu Hause aus zu arbeiten, erklärte das Führungsteam der Internetplattform Twitter das Homeoffice kurzerhand zum „Türöffner der vierten industriellen Revolution“. Es habe sich gezeigt, dass die eigenen vier Wände den idealen kreativen Raum böten, um digitale Lösungen für gesellschaftliche Extremsituationen zu entwickeln. Weltweit agierende Vermögensverwalter verkaufen Fonds, die sich auf Investments in Nanotechnologien, Robotik, Virtual Reality und andere Zukunftstechnologien spezialisieren, dieser Tage gerne mit dem Verweis darauf, dass wir „an der Schwelle zur vierten industriellen Revolution“ stünden, wie ein Stuttgarter Portfoliomanager 2021 formulierte. Bereits 2016 sprach der Gründer und Vorstandschef des US-Chipherstellers Nvidia, Jen-Hsun Huang, vom „Beginn einer neuen industriellen Revolution“. Angesichts spektakulärer Fortschritte bei der Entwicklung intelligenter Software und autonomer Maschinen prophezeite er: „Künstliche Intelligenz wird

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einen größeren Einfluss auf unser Leben haben als die Erfindung des Computers, des Internets oder des Mobiltelefons zusammen. […] Es wird wahrscheinlich die größte Revolution aller Zeiten.“ Das Weltwirtschaftsforum betreibt seit 2017 das sogenannte Centre for the Fourth Industrial Revolution. Dabei handelt es sich um ein in vierzehn Staaten aktives Kooperationsnetzwerk, das sicherstellen soll, dass „die Vorteile moderner Technologien maximiert und verantwortlich mit deren Risiken umgegangen wird“. Klaus Schwab, der Gründer und langjährige Präsident des Weltwirtschaftsforums, veröffentlichte schon 2016 das vielbeachtete Buch Die Vierte Industrielle Revolution. Darin betont er, dass „die größte und wichtigste der vielen verschiedenen, faszinierenden Herausforderungen“, denen wir gegenwärtig gegenüberstünden, „das Verständnis und die Gestaltung der neuen technologischen Revolution [sei], die mit nichts Geringerem als einem tiefgreifenden Wandel der menschlichen Zivilisation“ einhergehe. Diese „Vierte Industrielle Revolution“ sei „aufgrund ihrer enormen Tiefen- und Breitenwirkung sowie ihrer Komplexität […] ein in der Geschichte der Menschheit beispielloser Vorgang“. Dieser könne Fluch oder Segen für die Welt bringen, je nachdem, wie wir mit den physischen (selbstfahrende Kraftfahrzeuge, 3D-Druck, fortgeschrittene Robotik, intelligente Materialien), digitalen (Internet der Dinge, Blockchain, technologiegestützte Plattformen) und biologischen (DNA-Sequenzierung, Geneditierung und -therapie, synthetische Biologie) Megatrends unserer Zeit von nun an umgingen.

Die Brille der Geschichte All diese Einschätzungen zu dem sich gerade immer kraftvoller vor unseren Augen entfaltenden Weltenwandel lassen jeden, der geschichtlich einigermaßen bewandert ist, aufhorchen. Es kommt nicht häufig vor, dass eine historische Epochenbezeichnung auf die Gegenwart übertragen wird. Für die „industrielle Revolution“ ist das aber inzwischen – freilich mit neuer Nummerierung – gang und gäbe. Warum, ist offensichtlich. Es lässt sich so auf einen Schlag deutlich machen, wie sehr die technologischen und ökologischen Transformationsprozesse unserer Tage die Welt wahrscheinlich schon bald verändern werden. Konkretisiert wird diese begriffliche Anknüpfung an die Geschichte jedoch so gut wie nie. Die Heranziehung der bisher größten wirtschaftlich-sozialen Umwälzung der Neuzeit historisch einzuordnen und dadurch näher zu begründen, damit halten sich die meisten, die diesen Vergleich anstellen, gar nicht erst auf. Unter den genannten Beispielen macht das am ehesten noch der Wirtschaftswissenschaftler Schwab. Er beginnt sein Buch mit einem kurzen Abriss über die

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wichtigsten Zivilisationssprünge der Menschheit. Am Schluss dieses Schnelldurchlaufs durch 12 000 Jahre Menschheitsgeschichte steht seine Überzeugung, „dass die Vierte Industrielle Revolution genauso wirkmächtig, folgenreich und historisch bedeutsam sein wird wie die vorhergehenden Revolutionen“. Danach schenkt seine Analyse der Geschichte keine Beachtung mehr. Dem Diskurs über die vierte industrielle Revolution fehlt es somit ganz augenscheinlich an Historisierung. Diesen Mangel möchte das vorliegende Buch beheben. Es betrachtet die industrielle Revolution unserer Tage nicht isoliert, sondern ordnet sie in ihren größeren historischen Kontext ein. Es leitet keine künftigen Trends aus der jetzigen Dynamik ab, sondern untersucht letztere als Fortsetzung eines jahrhundertealten Wandels. Es erzählt keine chronologische Geschichte, sondern verortet das Jetzt im Strom der Zeit. Es breitet keine Details einzelner Epochen der Industrialisierung aus, sondern zeigt die langen Linien der historischen Entwicklung auf. Es stellt dabei keine steilen Thesen auf, die die ganze Welt zu erklären versuchen, sondern legt einzelne Punkte frei, an denen sich alle, die von dem gerade immer mehr Fahrt aufnehmenden Weltenwandel verunsichert sind, orientieren können. Dieses Buch setzt seinen Leserinnen und Lesern also die Brille der Geschichte auf, damit sie die historische Dimension des allenthalben in einer Reihe mit der ersten industriellen Revolution gestellten Weltenwandels unserer Tage klarer erkennen können. Sollte die begriffliche Anknüpfung an die Geschichte auch nur annähernd zutreffen, ist eine solche Schärfung unseres Bewusstseins unabdingbar, um sich auf das vorzubereiten, was uns bevorsteht. Schließlich handelte es sich bei der ersten industriellen Revolution, wie der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm betont hat, um „die gründlichste Umwälzung menschlicher Existenz, die jemals in schriftlichen Quellen festgehalten worden ist“. Die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Umwälzung kann laut dem italienischen Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla gar nur mit der neolithischen Revolution verglichen werden, also mit jenem jungsteinzeitlichen Zivilisationssprung, der vor etwa zehn- bis zwölftausend Jahren dazu führte, dass unsere Vorfahren ihr Leben als Jäger und Sammler aufgaben und stattdessen sesshaft wurden, um in bäuerlichen Gemeinschaften erste Formen des Ackerbaus und der Viehzucht zu betreiben.

Eine Welt ohne Industrialisierung Tatsächlich ist es nicht leicht, sich die Ausmaße des Weltenwandels bewusst zu machen, den die industrielle Revolution Ende des 18. Jahrhunderts auslöste und den deren diverse Nachfolgerinnen in den folgenden zweieinhalb J­ ahrhunderten

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bis heute weiter vorangetrieben haben. Am besten geht das vielleicht mithilfe eines kleinen Gedankenexperimentes: Wie sähe die Welt von heute wohl aus, wenn es nie zu einer Industrialisierung gekommen wäre? Natürlich lässt sich diese kontrafaktische Frage nicht abschließend beantworten. Die Wege der Geschichte sind unergründlich. Setzt sich eine Entwicklung nicht durch, kommt es zu einer anderen, die ganz unterschiedliche, mitunter aber auch ähnliche Auswirkungen haben kann. Wir wissen jedoch, wie die Welt vor der industriellen Revolution ausgesehen hat. Und auf dieser Basis können wir versuchen, uns zumindest die Grundzüge einer nichtindustrialisierten Gegenwart vorzustellen. Keine Industrialisierung heißt keine automatisch betriebenen Maschinen. Sämtliche Arbeit müsste noch per Hand und Muskelkraft verrichtet werden. Produktivitätslevel und Wohlstandsniveau wären folglich viel geringer. Die meisten Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft, der Rest in Manufakturen kleiner bis mittlerer Größe, in Heimwerkstätten und im Handel. Ohne industrielle Hilfsmittel könnte die Landwirtschaft viel weniger Menschen ernähren. Die Weltbevölkerung wäre viel kleiner. Da pharmazeutische Produkte fehlten, wäre die medizinische Versorgung schlechter. Mangelernährung und Krankheiten resultierten in einer viel kürzeren Lebenserwartung. Insbesondere die Kindersterblichkeit wäre hoch. Das tägliche Leben wäre ein Überlebenskampf. Putzen, Waschen, Kochen – all das wären tagesfüllende Aufgaben, die vermutlich weitgehend auf die Frauen abgewälzt blieben und so patriarchalische Gesellschaftsstrukturen zementierten. Das Leben spielte sich mangels motorisierter Transportmittel vor allem regional ab. Der eigene Lebenskreis wäre durch die Reichweite der Pferdekutsche oder des Segelschiffes begrenzt. Überregionale Reisen wären selten und ein Privileg der Wohlhabenden. Waren aus anderen Teilen der Welt wären Luxusgüter. Die meisten Menschen lebten auf dem Land. Städte wären kleiner, schmutziger und litten häufig unter Versorgungsengpässen. Arbeiterschaft und Besitzbürgertum hätten sich vielleicht nie zu gesellschaftlich bestimmenden Klassen ausdifferenziert. Stattdessen gäbe es eventuell immer noch eine Art Feudalgesellschaft, in der die Aristokratie in Politik und Wirtschaft das Sagen hätte. Kapitalismus und Sozialismus existierten in ihrer heutigen Form nicht. Die wichtigste Autorität im täglichen Leben der Menschen wäre vermutlich nach wie vor die Kirche. Demokratische Strukturen gäbe es nur in Ansätzen. Individuelle Freiheiten wären rar. Vermutlich lebten die Menschen in Europa vornehmlich in aufgeklärten Monarchien oder elitären Republiken, die hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt wären. Da diese Agrarstaaten ein viel geringeres Steueraufkommen hätten, wären sie durch-

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schnittlich kleiner und weniger zentralistisch organisiert. Die Rolle des Staates wäre überhaupt eine ganz andere. Sein soziales Engagement beschränkte sich vielleicht auf die Mitorganisation einer sich zum Großteil aus mildtätigen Spenden finanzierenden Armenfürsorge. Größere Nationalstaaten gäbe es kaum oder gar nicht, der Nationalismus wäre allenfalls schwach ausgeprägt. Regionale und religiöse Identitäten wären wichtiger. Die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze zwischen den Kontinenten fielen geringer aus, da es wohl nie zu einer europäischen Überseeexpansion vom Ausmaß des Kolonialismus im 19. Jahrhundert gekommen wäre. Die geopolitischen Machtverhältnisse wären infolgedessen ganz andere. Mangels der Massenproduktion anonymer Waffen gäbe es den industriellen Krieg mit seinen opferreichen Materialschlachten nicht. Konflikte um natürliche Ressourcen brächen wohl immer noch aus, wären allerdings geografisch und zeitlich deutlich begrenzter. Da fossile Brennstoffe nie großindustriell genutzt worden wären, gäbe es den menschengemachten Klimawandel nicht. Die verschiedenen, von der industriellen Entwicklung insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts so stark mitgenommenen Teilbereiche des Planeten Erde wären von der Atmosphäre bis zur Biosphäre viel weniger durch menschliche Aktivitäten beeinträchtigt. Viele natürliche Lebensräume, biologische Arten und ursprüngliche Landschaften, die es heute nicht mehr gibt, existierten noch. Und der Rhythmus, den die Natur durch die Jahres- und Tageszeiten vorgibt, bestimmte nach wie vor das alltägliche Leben.

Von Revolution zu Revolution Je nachdem, welchen Maßstab man an die Geschichte anlegt, mag man sich eine Welt ohne Industrialisierung auch ganz anders ausmalen. Jede Vorstellung wird sich von unserer tatsächlichen Lebenswirklichkeit jedoch stark unterscheiden. Genau dieser Kontrast führt uns vor Augen, wie sehr die industriellen Revolutionen der Vergangenheit Deutschland, Europa und die Welt in den vergangenen 250 Jahren verändert haben. Neben vielen anderen Faktoren wie etwa der demografischen Entwicklung und der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen spielte dabei vor allem die Wechselwirkung zwischen technologischen Innovationen und der kapitalistischen Umgebung, in der neue Technologien als gewinnbringende ökonomische Handlungsoptionen erfunden und vermarktet wurden, eine Schlüsselrolle. Die Dampfmaschine war der Motor der ersten industriellen Revolution, die sich in etwa von 1760 bis 1840 ersteckte. In dieser Zeit trieb die Nutzung der Dampfkraft zuerst die Mechanisierung von

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Herstellungsverfahren und dann den Siegeszug der Eisenbahn und des Dampfschiffes unaufhaltsam voran. Das führte in fast allen Ländern Westeuropas und Nordamerikas zu einer vorher nie dagewesenen Produktivitätssteigerung, durch die der industrielle Kapitalismus erstmals seine gewaltige Expansionskraft demonstrierte. Die Entdeckung der Elektrizität und die Nutzbarmachung des Fließbandes ließen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die zweite industrielle Revolution an- und bis ins frühe 20. Jahrhundert fortlaufen. Während der sogenannten Hochindustrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelten sich viele europäische Staaten, die vorher noch stark agrarisch geprägt waren, wie etwa das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich, zu modernen Industrienationen. Dabei lösten die neuen Industrien, die zur Produktion chemischer und pharmazeutischer Substanzen, zur Entwicklung optischer Geräte und zur Durchsetzung der Elektrifizierung wahre Innovationsfabriken einrichteten, die bis dahin dominante Montan- und Schwerindustrie als Führungssektor ab. Nach dem Ersten Weltkrieg läutete der Fordismus in der amerikanischen Automobilindustrie durch die stringente Rationalisierung und Standardisierung aller Produktionsprozesse das Zeitalter der industriellen Massenproduktion ein. Mit der Entwicklung der ersten siliziumbasierten Halbleiter und Großrechner begann in den 1960er-Jahren die dritte industrielle Revolution. Die Verbreitung des Personalcomputers in den 1970er- und 1980er-Jahren und das Aufkommen des Internets in den 1990er-Jahren sorgten schrittweise für eine immer größere Automatisierung und Digitalisierung von Organisations- und Produktionsabläufen. Diese digitale Revolution ging in den alten Industrieländern Hand in Hand mit einem Prozess der Deindustrialisierung. Alte Industriezweige verschwanden beziehungsweise verlagerten sich in andere Teile der Welt, während vor allem im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien ganz neue Branchen entstanden. Der klassische Fordismus rutschte in die Krise, die „New Economy“ begann zu boomen. Gleichzeitig bewirkte der Aufstieg des digitalen Finanzmarktkapitalismus, dass die Finanzmärkte einen immer stärkeren Einfluss auf die Realökonomie gewannen. Die rasante Verbreitung des mobilen Internets, kostengünstiger Hochleistungssensoren, selbstlernender Maschinen und der Künstlichen Intelligenz hat die Welt schließlich seit der Jahrtausendwende in einem – wie es Klaus Schwab nennt – „qualitativen Innovationssprung“ direkt in die vierte industrielle Revolution katapultiert. Diese ist zwar aus der digitalen Revolution hervorgegangen, integriert aber deren Kerntechnologien – mikroelektronische Hardwaresyste-

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me, Computer-Software und digitale Netzwerke – in vorher kaum für möglich gehaltenem Maße. Dadurch erschafft sie neue, hochkomplexe Systeme, die die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen derart tiefgreifend verändern, dass sie gerade eine ganz neue Epoche in der Menschheitsgeschichte einleiten. Die beiden am Massachusetts Institute of Technology lehrenden Experten für Digitalwirtschaft Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee sprachen bereits 2014 in einem gleichnamigen Buch vom Heraufziehen eines „zweiten Maschinenzeitalters“.

Konturen der Welt von morgen Die Umrisse dieser neuen Epoche zeichnen sich immer deutlicher ab. Unter der Bezeichnung „Industrie 4.0“, deren Entstehungsgeschichte wir später noch genauer betrachten werden, vernetzen „intelligente Fabriken“ industrielle Fertigungsprozesse und digitale Technologien mittlerweile derart eng, dass Produktionsstandorte auf der ganzen Welt in Echtzeit miteinander zusammenarbeiten und individuelle Kundenwünsche passgenau erfüllen. Das Internet der Dinge schafft eine globale Infrastruktur, die physische und virtuelle Komponenten miteinander verzahnt und durch innovative Informations- und Kommunikationstechniken zusammenarbeiten lässt. Intelligente Algorithmen lösen auf der Basis riesiger Datensätze komplexe Probleme und können dabei aus der Analyse ihrer Beobachtungen und Erfahrungen eigenständig lernen. Auf diese Weise können sich die verschiedensten Anwendungen der Künstlichen Intelligenz gewissermaßen selbst programmieren und menschliches Verhalten sowohl immer besser nachahmen als auch voraussagen. Zur Entwicklung immer intelligenterer und immer komplexerer Systeme kommen atemberaubende Fortschritte in anderen Bereichen hinzu, wie zum Beispiel der Biogenetik, Nanotechnologie, Quantenmechanik oder der Solar-, Windenergie-, Erdwärmeund Wasserstofftechnik. Die vierte industrielle Revolution ist daher von einer so noch nie dagewesenen Vielzahl gleichzeitiger technologischer Innovationsschübe geprägt. „Der grundlegende Unterschied [zu] früheren Revolutionen“, fasst Schwab zusammen, „besteht in der engen Verzahnung dieser Technologien und in ihren Wechselwirkungen über die physische, digitale und biologische Sphäre hinweg“. Anders gesagt: Was die vierte industrielle Revolution so besonders macht, ist, dass sie gerade dabei ist, die Grenzen der analogen Wirklichkeit aufzulösen und so eine ganz neue, cyber-physische Form der Realität zu schaffen, in der analoge und digitale Elemente, reale und virtuelle Umgebungen, Natur und Technik, Menschen

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und Maschinen miteinander verschmelzen und die grundlegenden Dimensionen der bisherigen Welt – Raum und Zeit – weitgehend aufgehoben werden. Das wirtschaftliche Potenzial dieser neuen Realität ist enorm. Das McKinsey Global Institute, der volkswirtschaftliche Think Tank des gleichnamigen Beratungsunternehmens, hat 2018 in der Studie „Notes from the Frontier“ errechnet, dass allein die Verbreitung verschiedener Anwendungen der Künstlichen Intelligenz das weltweite globale Bruttoinlandsprodukt bis 2030 um durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte steigern kann. Damit würde der Wachstumseffekt der Künstlichen Intelligenz die Wachstumsschübe, die einstmals von der Einführung der Dampfmaschine (0,3 Prozent), der Verbreitung von Industrierobotern (0,4 Prozent) und dem Aufkommen der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien (0,6 Prozent) ausgingen, bei Weitem übertreffen. Insgesamt verspricht die Künstliche Intelligenz, bis 2030 weltweit eine zusätzliche Wertschöpfung in Höhe von nicht weniger als 13 Billionen USDollar zu generieren. Tatsächlich schafft das Heraufziehen der neuen, cyber-physischen Realität schon jetzt ganz neue Formen der Wertschöpfung. Das liegt vor allem am rasanten Aufstieg der Datenökonomie. Es geht immer weniger um die Bereitstellung eines konkreten physischen Produkts und immer mehr um das Sammeln, Auswerten und wirtschaftliche Nutzbarmachen von persönlichen Daten. Das betrifft nicht nur neue Branchen wie etwa die sozialen Medien, sondern auch klassische Bereiche des Fordismus, wie etwa die Automobilindustrie. Gleichzeitig und folgerichtig bringt die sich gerade öffnende Realität auch neue Spielarten des Kapitalismus hervor. Einerseits hat der digitale oder Plattformkapitalismus bereits dieser Tage eine herausragende Bedeutung, die aller Voraussicht nach in Zukunft noch sehr viel größer werden wird. In diesem Typus des Kapitalismus nehmen die Betreiber großer Online-Plattformen wie die amerikanischen GAFA (Google, Apple, Facebook [seit 2021 Meta], Amazon)- und die chinesischen BAT (Baidu, Alibaba, Tencent)-Unternehmen die Rolle von Absatzmittlern ein, die Angebot und Nachfrage am Markt zusammenführen und dabei sowohl den Zugang zu Gütern als auch die Funktionsweise des jeweiligen Geschäftsmodells kontrollieren. Folge ist eine starke Tendenz zur Monopolbildung. Andererseits färbt sich der Kapitalismus aufgrund des steigenden gesellschaftlichen Drucks zur Abwehr der Klimakrise, zum Schutz der Biodiversität und zum nachhaltigen Umgang mit der Natur zunehmend grün. Die Schonung der biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Erdsystems, in die der Mensch seit Beginn der Industrialisierung oft schonungslos einge-

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griffen und dadurch gewaltige Umweltschäden verursacht hat, wird verstärkt auch zu einem wirtschaftlichen Gebot. Ökologische, sprich: klimaneutrale, umweltschonende und nachhaltige ökonomische Handlungsvarianten werden teils durch unternehmerische Eigeninitiative, teils durch staatliche Eingriffe wie die Bepreisung klimaschädlicher Emissionen vermehrt zu gewinnbringenden Optionen am Markt. Inwiefern dieser grüne Kapitalismus tatsächlich den Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft schaffen und dadurch eine Trendwende unseres Zeitalters einleiten kann, in dem der Mensch zu einer die planetarischen Grundmuster der Erde verändernden Naturkraft geworden ist, wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten herausstellen. Der Weltenwandel, der einst mit der Entstehung der Industrie 1.0 begann und nun den Aufstieg der Industrie 4.0 befördert, ist also in vollem Gange. Die Warenproduktion, die Lebensmittelindustrie, der Einzelhandel, die Werbung, die Unterhaltungsbranche, das Bildungs-, das Gesundheits-, das Versicherungs- und das Finanzwesen – das sind nur einige von unzähligen Bereichen, die sich in den nächsten zehn Jahren durch das Zusammenfallen diverser technologischer Durchbrüche fundamental verändern werden, wie die beiden amerikanischen Wissenschaftsunternehmer Peter Diamandis und Steven Kotler 2020 in einem überaus erfolgreichen Ratgeber anmahnten, der den vielsagenden Titel trägt: The Future Is Faster Than You Think.

Verunsicherung Tatsächlich verändert die vierte industrielle Revolution unsere Lebenswirklichkeit immer stärker und immer schneller  – und das, ohne dass auch nur annähernd abzusehen wäre, wo der Weltenwandel genau hinführen wird. Das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die Unvorhersehbarkeit dieser epochalen Umwälzung verlangen den Menschen viel ab. Mitunter überfordern sie sie. In einer Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) von 2018 gaben 41 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, vor einer komplett digitalen Zukunft Angst zu haben. Das sind fast doppelt so viele wie vier Jahre zuvor. Diese Zahlen sind umso alarmierender, wenn man bedenkt, dass diese Altersgruppe die erste Generation darstellt, die mit dem Internet als Alltagsphänomen aufgewachsen und deshalb besonders online-affin ist. Die Verunsicherung über den Weltenwandel ist momentan überall spürbar. Bücher, Zeitungen, soziale Medien, Hörsäle, Theater, Kinos und Streamingdienste liefern zahllose Beiträge, die die Auswirkungen der vierten industriellen Revolution thematisieren und dabei ganz unterschiedliche Hoffnungen und

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Ängste zum Ausdruck bringen. Auf der einen Seite werden schillernde Utopien entworfen, in denen moderne Technologien jenseits der Zwänge der kapitalistischen Marktwirtschaft ein Schlaraffenland ohne Erwerbsarbeit, Ressourcenknappheit und soziale Ungleichheit erschaffen haben. Das wohl prominenteste Beispiel ist Paul Masons internationaler, 2016 auch auf Deutsch erschienener Bestseller Postkapitalismus. Der britische Wirtschaftsjournalist malt darin das Bild einer digitalromantischen Zukunft, in der eben jene Informationstechnologien, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, selbigen überwinden werden, indem sie Eigentumsrechte überflüssig machen und ein unerschöpfliches Angebot an kostenlosen Gütern bereitstellen. Diese Zukunft steht ganz im Zeichen einer vornehmlich auf Wissen beruhenden „Sharing Economy“, die die Menschen weltweit miteinander vernetzen, ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen garantieren und den Planeten vor dem Umweltkollaps retten wird. Auf der anderen Seite gibt es vor allem in Kino und Fernsehen schon seit geraumer Zeit eine wahre Welle an düsteren Zukunftsvisionen, in denen die Menschen entweder zu Sklaven intelligenter Maschinen oder zu Opfern eines brutalen Kapitalismus und/oder einer globalen Klimakatstrophe werden. Zwischen 1984 und 2019 porträtierte die Terminator-Reihe in sechs Filmen, einer Fernsehserie und einer computeranimierten Webserie eine postapokalyptische Welt, in der androide Kriegsmaschinen, Cyborgs und Menschen mithilfe von Zeitreisen und allerlei Gewalt um die Vorherrschaft auf einer von Atomkriegen verwüsteten Erde kämpfen. Der 2019 erstmals auf Netflix veröffentlichte amerikanisch-australische Science-Fiction-Thriller I am Mother zeigt gar eine Zukunft, in der eine Künstliche Intelligenz darauf programmiert wurde, die gesamte Menschheit auszulöschen, um dann die Erde mit einem „besseren“ Menschentyp neu zu bevölkern. Bereits einige Jahre zuvor stellte der digital gedrehte Hollywood-Blockbuster In Time eine Zukunft dar, in der die Menschen aufgrund einer Genmanipulation mit 25 Jahren aufhören zu altern und sich in einem weltweiten Wirtschaftssystem behaupten müssen, das Währungen durch Lebenszeit ersetzt, die wie Geld verdient, ausgegeben, verschenkt oder gestohlen werden kann. Während die Armen in diesem System früh sterben, leben die Reichen so gut wie ewig. 2021 avancierte die Netflix-Produktion Squid-Game zur erfolgreichsten Streamingserie aller Zeiten. Die dystopische Gesellschaftssatire aus Südkorea erzählt von 456 Menschen, die von einer geheimen Organisation dazu eingeladen werden, in scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander um ein Preisgeld in Millionenhöhe zu kämpfen. Wer es nicht in die nächste Runde

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schafft, wird getötet und in einem Krematorium verbrannt. Einzelne Leichen werden allerdings vorher noch für den Organhandel ausgeschlachtet. Die metaphorische Kritik am sozialen Überlebenskampf im Kapitalismus wurde innerhalb weniger Wochen zu einem globalen Phänomen. So kleideten sich etwa verschiedene Demonstrantengruppen, die im Herbst 2021 bei der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Glasgow für schärfere Klimaschutzmaßnahmen protestierten, in die Sträflingsanzüge der Serienprotagonisten. Für ähnlichen Wirbel sorgte Ende 2021 der Hollywood-Streifen Don’t look up. Die als Parabel auf Klimawandel und Wissenschaftsleugnung angelegte schwarze Komödie schildert, wie eine zutiefst verunsicherte und zerrissene US-amerikanische Gesellschaft auf die unmittelbare Gefahr eines auf sie zurasenden Kometen reagiert. Anstatt den Warnungen der Entdecker des Himmelskörpers Gehör zu schenken, reagiert die Öffentlichkeit mit Spott und Verschwörungstheorien. Der Plan der NASA zur Zerstörung des Kometen wird von einer populistischen Präsidentin verworfen, die sich mehr um einen Sexskandal und die MidtermElections sorgt als um die Rettung des Planeten. Stattdessen räumt die Regierung den wirtschaftlichen Interessen eines Tech-Giganten Vorrang ein, der den Kometen zur Ausbeutung wertvoller Rohstoffe nutzen will. Am Ende wird die Erde von dem Kometen zerstört. Kinostreifen, die schildern, wie eine globale Klimakatstrophe über die Erde hereinbricht, gehören schon seit Jahren regelmäßig zu den großen Kassenschlagern. Der bekannteste ist vielleicht der 2004 veröffentlichte und mittlerweile zum Klassiker gewordene Katastrophenfilm The Day After Tomorrow. Darin thematisiert Regisseur Roland Emmerich die Gefahren und Folgen der globalen Erwärmung und setzt Naturkatastrophen wie Flutwellen, Tornados oder Schneestürme bildgewaltig in Szene. Einige Jahre später ließ Emmerich die uns bekannte Zivilisation endgültig in einem Inferno planetarer Naturgewalten auf der Kinoleinwand untergehen. In 2012 – Das Ende der Welt von 2009 erhalten die Regierungschefs der G8 von Wissenschaftlern die Nachricht, dass sich der Erdkern durch ungewöhnlich starke Sonneneruptionen anheize und deswegen die tektonischen Platten der Erdkruste in drei Jahren auseinanderbrechen werden – begleitet von Megatsunamis, Vulkanausbrüchen und Erdbeben. Sogleich beginnt ein geheimes internationales Programm zum Bau riesiger Archen, auf denen genügend Menschen, Tiere, Pflanzen und Kulturen überleben sollen, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Die meisten Menschen überstehen die bald folgende Apokalypse freilich nicht.

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Gerade in der Überzeichnung – dem grenzenlosen Cyber-Enthusiasmus à la Mason einerseits wie dem düsteren Technologie-, Kapitalismus- und Klimapessimismus à la Hollywood andererseits – spiegelt sich die allgemeine Verunsicherung über den gegenwärtigen Weltenwandel wider. Offenbar ist eine Art Überkompensation am Werk: Um die Verunsicherung darüber zu verarbeiten, wohin die dynamische Entwicklung der vierten industriellen Revolution gehen und ob sie in der Lage sein wird, den drohenden Klimakollaps noch rechtzeitig abzuwenden, wird die Zukunft entweder als glückseliges Paradies oder als menschenfeindliche Hölle dargestellt. Selbst bei jenen Stimmen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die um eine sachliche und differenzierte Einschätzung des jetzigen Weltenwandels bemüht sind, ist die Verunsicherung nicht zu überhören. So stellt der fast 90-jährige amerikanische Physiker und Ökonom Robert U. Ayres, der in den 1960er-Jahren zu den wissenschaftlichen Wegbereitern eines auf ökologische Nachhaltigkeit bedachten Industriekonzepts gehörte, im Untertitel seiner 2021 veröffentlichten Studie zur Geschichte und Zukunft der Technologie sorgenvoll die Frage: „Kann Technologie die Menschheit vor dem Aussterben retten?“. Das Cambridge Centre for the Study of Existential Risk zählt Künstliche Intelligenz in dramatischen Worten zu den größten „Risiken, die zu einer Ausrottung der Menschheit oder einem Kollaps der Zivilisation führen könnten“. Ähnlich eindringliche Töne schlug der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking an, als er 2017 kurz vor seinem Tod davor warnte, dass der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz zu „den schlimmsten Ereignissen in der Geschichte unserer Zivilisation“ gehören könnte. Sogar diejenigen, die von der vierten industriellen Revolution ökonomisch am meisten profitieren, begegnen dem Weltenwandel mitunter eher mit schweren Ängsten oder vagen Hoffnungen als mit unternehmerischer Abgeklärtheit. 2018 lieferten sich die Köpfe zweier der größten Tech-Firmen der Welt einen viel beachteten Schlagabtausch über das Potenzial Künstlicher Intelligenz. Während Tesla-Chef Elon Musk davor warnte, dass Künstliche Intelligenz „eine fundamentale Gefahr für die Existenz der menschlichen Zivilisation“ darstelle, verwarf Facebook-Gründer Mark Zuckerberg solche Warnungen als „ziemlich unverantwortlich“. Stattdessen verbreitete er die ­Zuversicht, dass „Künstliche Intelligenz uns dabei helfen werde, unsere Gemeinschaften sicher zu halten“. Der Technologiejournalist Cade Metz bezeichnete in der New York Times die Auseinandersetzung als „Fehde um Killer-Roboter“.

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Die hierzulande wohl bekannteste Aussage, in der die Verunsicherung über den Weg in die digitale Zukunft unüberhörbar mitschwang, stammt wohl von Angela Merkel. 2013 erklärte die damalige Bundeskanzlerin auf einer Pressekonferenz mit dem US-Präsidenten Barack Obama im Zusammenhang mit der Debatte um ein Online-Überwachungsprogramm des amerikanischen Geheimdienstes NSA: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Vor allem in den sozialen Medien erntete die Kanzlerin dafür viel Spott. In gewisser Hinsicht sind allerdings auch die Tausenden von Memes, Gifs und Fotocollagen, mit denen die plötzliche Entdeckung von Neuland bis heute im Netz persifliert wird, Anzeichen für die Verunsicherung, die die vierte industrielle Revolution schafft. Denn sie verdeutlichen ganz konkret, wie sehr der rasante Weltenwandel die beständig wachsende Community der „Digital Natives“ von einer Politikergeneration entfremdet, die sich erst langsam von analogen Denkkategorien löst.

Orientierung Die überall spürbare Verunsicherung birgt die große Gefahr in sich, den Weltenwandel einfach so geschehen und dadurch außer Kontrolle geraten zu lassen. Klaus Schwab warnt eindringlich davor, dass das „Potential“ der vierten industriellen Revolution drohe, „nicht effektiv und umfassend“ ausgeschöpft zu werden, weil es sowohl an „Führungsstärke“ als auch an einem „verbindenden Narrativ“ mangele, das die Chancen und Herausforderungen ausgewogen aufzeige. Was es in dieser Situation braucht, ist – wie in allen historischen Umbruchphasen – zuallererst einmal eines: Orientierung. Alle, die die Wucht der Veränderung spüren, aber nicht einfach nur davon mitgerissen werden wollen, müssen ihr Bewusstsein dafür schärfen, was da gerade eigentlich passiert. Das gilt besonders für diejenigen, die die vierte industrielle Revolution in verantwortlicher Position erleben, sei es in der Privatwirtschaft, in der Politik oder in der Forschung. Erfolgreich gestalten kann den Weltenwandel nämlich nur, wer zumindest eine grobe Vorstellung davon hat, woher die Veränderungen, die sich gerade Bahn brechen, kommen und in welche Richtung sie streben, sprich: wo wir uns gerade im Strom der Zeit befinden. Die dafür nötige Orientierung kann uns nur das Studium der Geschichte bieten. Natürlich verrät uns ein Blick auf die industriellen Revolutionen der Vergangenheit nicht direkt, wie wir die industrielle Revolution von heute meistern können. Die Geschichte ist kein Weißbuch, das wir einfach aufschlagen können, um daraus konkrete Handlungsanweisungen für die Gegen-

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wart herauszulesen. Sie ist vielmehr ein Orakel, das uns im dichten Nebel der historischen Entwicklung unendlich viele, oft widersprüchliche Erzählungen präsentiert. Wir können aber versuchen, die Komplexität dieser Erzählungen systematisch einzufangen und dadurch besagten Nebel so weit zu lichten, dass darin einzelne Punkte sichtbar werden, an denen wir uns orientieren können. Anders gesagt: Eine historische Perspektive kann unser Verständnis der evolutionären Dynamik industrieller Revolutionen vertiefen und uns so Einsichten in den heutigen Weltenwandel gewähren, die sich leicht übersehen lassen, wenn wir uns nur auf die Gegenwart fixieren oder unsere Augen allein auf die Zukunft richten. Genau in diesem Sinne versucht das vorliegende Buch, eine historische Navigationshilfe durch die vierte industrielle Revolution zu sein: Es möchte jedem, der von den rasanten Veränderungen unserer Zeit verunsichert ist, mehr Orientierung bieten. Zu diesem Zweck wird es in drei klaren, übersichtlichen und aufeinander aufbauenden Schritten vorgehen. Jeder davon legt einen „Orientierungspunkt“ frei, der am Ende des jeweiligen Abschnitts in einem kurzen Zwischenergebnis noch einmal zusammengefasst wird. Der erste Teil des Buches wird versuchen, einige historische Zugänge zur Industrie 4.0 ausfindig zu machen. Dabei wird die Frage im Mittelpunkt stehen, wie man überhaupt am geschicktesten in die Geschichte zurückblickt, um industriellen Wandel besser zu verstehen, soll heißen: welche Perspektiven und analytischen Instrumente sich anbieten, um dieses Phänomen in seinen vergangenen, gegenwärtigen und womöglich künftigen Ausprägungen zu durchdringen. Der zweite Teil widmet sich den beiden wichtigsten Schwungrädern, die die komplexe Maschinerie industrieller Revolutionen seit Erfindung der Dampfmaschine antreiben: die wellenartige Wirkung technologischer Innovationen und die evolutionären Mechanismen des modernen Kapitalismus. Der dritte Teil wird schließlich den dynamischen, sich ständig verschiebenden Realitätsrahmen unter die Lupe nehmen, innerhalb dessen sich die vierte industrielle Revolution vollzieht und den selbige weiter verändern wird. Dabei stehen zwei Phänomene im Fokus: Das neue Erdzeitalter des Anthropozäns und das Zusammenschrumpfen von Raum und Zeit. Enden wird das Buch schließlich mit einigen zusammenfassenden Überlegungen darüber, wo wir uns gerade angesichts der vierten industriellen Revolution im Strom der Zeit befinden.

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TEIL I Der Kompass der Geschichte

Im ersten Teil dieses Buches erfahren Sie, − wie wir am geschicktesten in die Geschichte zurückblicken, um die industrielle Revolution von heute besser zu verstehen, − woher der Begriff Industrie 4.0 kommt, − was industrieller Wandel ist, − wie die Kultur der Digitalität aussieht, − warum unsere Zeit Teil einer 250 Jahre alten „Großen Transformation“ ist, − in welcher Umgebung Innovationen zu Wachstum führen − und wie disruptive Technologien die Welt verändern.

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„Wir müssen wissen, wo wir stehen, damit wir gemeinsam die Zukunft meistern können“, betont die aktuelle Industriestrategie der Bundesregierung mit Blick auf den rasanten Aufstieg der Industrie 4.0. Um zu wissen, wo wir stehen, müssen wir uns allerdings zuerst einmal darüber klarwerden, wo wir überhaupt herkommen. Wie aber können wir das tun? Auf welche Weise können wir bestimmen, welchen Ort die sich gerade entfaltende vierte industrielle Revolution in den langen Linien der historischen Entwicklung einnimmt? Wie müssen wir in die Vergangenheit zurückblicken, um Orientierungspunkte für die Gegenwart zu finden? Welche Konzepte und Instrumente brauchen wir dazu? Und in welchem analytischen Rahmen müssen sich unsere Gedanken insgesamt bewegen? Kurzum: Wie müssen wir den Kompass der Geschichte ausrichten, um damit die Position, an der wir uns gerade im Strom der Zeit befinden, näher bestimmen zu können?

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1. Perspektiven Der Begriff „Industrie 4.0“ weckt ganz bewusst historische Assoziationen. Diese drängen uns förmlich dazu, die vierte industrielle Revolution in ihren größeren historischen Kontext einzuordnen. Allerdings können wir das auf ganz unterschiedliche Art und Weise tun. Es gibt viele Blickwinkel, aus denen man die langen Linien der historischen Entwicklung betrachten kann. Eine kulturhistorische Perspektive bietet bei der Suche nach historischen Orientierungspunkten jedoch eindeutig die größten Vorteile. Insbesondere macht es eine solche Herangehensweise möglich, unsere Beobachtungen aus der Geschichte industriellen Wandels direkt mit der für die heutige Welt so prägenden Kultur der Digitalität in Verbindung zu setzen.

Industrie 4.0 Die „Industrie 4.0“ ist zurzeit in aller Munde. Dabei gibt es diesen Begriff noch gar nicht so lange. Erstmals prominent aufgetaucht ist er 2014 in einer offiziellen Publikation der Bundesregierung, der sogenannten „Neuen Hightech-Strategie“. Dabei handelte es sich seit Beginn des Jahrtausends um den insgesamt vierten Zukunftsplan, in dem die Bundesregierung die Schwerpunkte ihrer Forschungs- und Wirtschaftspolitik festlegte. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen beschränkte sich diese Agenda nicht mehr nur darauf, einen zukunftsfähigen Leitmarkt, den Klimaschutz oder einzelne Bedarfsfelder in den Blick zu nehmen. Stattdessen führte sie mit der Industrie 4.0 ein ganz neues, allumfassendes Gestaltungskonzept ein. Dieses ging auf einen Vorschlag der Forschungsunion zurück, die die Bundesregierung zwischen 2006 und 2013 in Sachen Hightech-Strategie beriet. Das Expertengremium aus Wissenschafts- und Wirtschaftsvertretern definierte Industrie 4.0 als „Zukunftsprojekt“, das „auf dem Weg zum Internet der Dinge […] durch die Verschmelzung der virtuellen mit der physikalischen Welt zu Cyber-Physical Systems und dem dadurch möglichen Zusammenwachsen der technischen Prozesse mit den Geschäftsprozessen [den] Produktionsstandort Deutschland in ein neues Zeitalter“ führt. Seitdem hat der Begriff einen festen Platz im Standardvokabular, mit dem die Bundesregierung ihre Ziele und Vorhaben hinsichtlich des laufenden ­wirtschaftlichen Strukturwandels beschreibt. Die neueste, 2018 vorgestellte

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„Hightech-Strategie 2025“ spricht von der Industrie 4.0 bereits ohne weitergehende Erklärungen, ja sie weitet die hinter dem Begriff stehende Logik sogar noch aus. Die der Softwareproduktion entliehene Versionsnummerierung dient nun nicht mehr nur zur Beschreibung der Industrie im engeren Sinne, sondern auch ganz allgemein zur Erfassung der „Wirtschaft und Arbeit 4.0“. Das zentrale Netzwerk, das die Bundesregierung 2013 gemeinsam mit den großen deutschen Wirtschaftsverbänden eingerichtet hat, um die digitale Transformation der industriellen Wertschöpfung zu fördern, trägt den Namen „Plattform Industrie 4.0“. Auch das Bundeswirtschaftsministerium hat den Begriff übernommen. Die dort 2019 unter der Ägide des damaligen Ministers Peter Altmaier erstellte „Nationale Industriestrategie 2030“ bezeichnet die Industrie 4.0 mit Blick auf die deutsche und europäische Industriepolitik als „Game Changer“. Die Bundesregierung spricht mittlerweile also wie selbstverständlich von der Industrie 4.0. Aus historischer Sicht ist das überaus interessant. In der Formulierung kommt nämlich der politische Anspruch zum Ausdruck, einen Transformationsprozess zu gestalten, der nicht weniger epochal und komplex ist als die Entstehung der Industrie 1.0, soll heißen: als die erste industrielle Revolution. Die Forschungsunion hat den Begriff ganz bewusst in diesem Sinne eingeführt. In einem Bericht der Promotorengruppe Kommunikation von 2012 heißt es, dass „die deutsche Industrie […] die Chance [habe], als erste das InterErste Speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) Modicon 084 1969 Erstes Fließband, Schlachthöfe von Cincinnati 1870

GRAD DER KOMLEXITÄT

Erster mechanischer ­Webstuhl 1784

4. Industrielle Revolution auf der Basis von CyberPhysischen Systemen

3. Industrielle Revolution durch Einsatz von Elektronik und IT zur Automatisierung der Produktion

2. Industrielle Revolution durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe von elektrischer Energie

1. Industrielle Revolution durch Einführung mechanischer Produktionsanlagen mithilfe von Wasserund Dampfkraft ENDE 18. JH.

BEGINN 20. JH.

BEGINN 70ER-JAHRE

HEUTE

2 Die vier Stufen industrieller Revolution. Angelehnt an ein Schaubild aus einem Bericht der Forschungsunion, 2012.

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net der Dinge für eine 4. Industrielle Revolution zu nutzen“. Der Bericht unterstreicht diesen geschichtlichen Bezug noch zusätzlich mit einem ursprünglich vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz erstellten Schaubild, das die technologischen Schlüsselinnovationen der ersten, zweiten, dritten und vierten industriellen Revolution entlang einer Zeitachse zeigt, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt und über die Jetztzeit hinaus weiterläuft. Genau wegen dieser historischen Konnotation ist der Begriff Industrie 4.0 nicht unumstritten. Vor allem zwei Einwände werden immer wieder angeführt. Zum einen wurden die bisherigen industriellen Revolutionen allesamt erst im historischen Rückblick als solche bezeichnet. Mit den Worten des Systemwissenschaftlers Rainer Drath gesprochen: Es ist ein Novum, dass „eine industrielle Revolution ausgerufen wird, noch bevor sie stattgefunden hat“. Zum anderen beruht die Digitalisierung auf der gleichen Basistechnologie wie die in den 1970er-Jahren einsetzende dritte industrielle Revolution, nämlich auf der Mikroelektronik. Insofern handelt es sich bei der Industrie 4.0 um einen relativ „alten Hut“, wie der Informatiker Wolfgang Halang betont. Von einem rein technischen Standpunkt aus betrachtet lässt sich von einer neuen, vierten industriellen Revolution somit nur sprechen, wenn man in der Verbindung von Mikroelektronik und Künstlicher Intelligenz eine neue „Basisinnovation“, sprich: eine grundlegende technologische Neuerung sieht, deren industrielle Umsetzung vorher so nicht existierende Wirtschaftszweige, Arbeitsplätze und andere ökonomische Handlungsvarianten schafft. Zu dieser Begrifflichkeit und ihrer Bedeutung später mehr. Ob die Rede von der „Industrie 4.0“ aus technischer Sicht überhaupt gerechtfertigt ist oder nicht, spielt letztlich für unsere Zwecke keine große Rolle. Das Entscheidende ist das Bekenntnis zur historischen Anknüpfung, das mit der steten Verwendung der Bezeichnung verbunden ist. Dadurch, dass die Bundesregierung den Begriff mittlerweile routinemäßig zur Beschreibung einer bestimmten Zukunftsvision gebraucht, macht sie deutlich, was uns in ihren Augen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erwartet: ein eng mit der Industrie verknüpfter, alle Bereiche unserer Lebenswirklichkeit erfassender Veränderungsprozess, der in einer Reihe mit den größten strukturellen Umwälzungen der modernen Wirtschaftsgeschichte steht.

Industrieller Wandel als kulturhistorisches Phänomen Wie sahen die industriellen Revolutionen der Vergangenheit aus? Welche technologischen Innovationen waren am wichtigsten? In welcher Umgebung setzten sich diese durch? Und worin genau bestand die disruptive Wirkung der

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jeweiligen Technologien? Man kann an diese und ähnliche Fragen auf ganz unterschiedliche Art und Weise herangehen. Die heute in der Wirtschaftsgeschichte weit verbreitete Kliometrie wendet etwa ökonometrische Methoden und Modelle auf riesige Datensätze an, um so einzelne Probleme der historischen Entwicklung zu isolieren und möglichst vollständig zu durchleuchten. Darum kann es uns aber nicht gehen, wenn wir in der Geschichte nach Orientierungspunkten für den Weg durch die gerade einsetzende vierte industrielle Revolution suchen. Auf diesem verschlungenen, sich laufend verändernden Pfad braucht es keine historische Landkarte, die individuelle Entwicklungslinien bis ins kleinste Detail nachzeichnet, sondern eine, die einen Überblick über die geschichtlichen Landschaften gibt, in denen sich industrielle Revolutionen vollzogen haben beziehungsweise zurzeit vollziehen. Kurzum: Statt einzelne Probleme in ihre Bestandteile zu zerlegen, müssen wir die Komplexität des Ganzen einfangen. Das ist nur möglich, wenn wir industriellen Wandel als ein kulturhistorisches Phänomen begreifen. Was heißt das? Es gilt, die industriellen Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart als Manifestationen des größeren gesellschaftlichen Kulturwandels zu verstehen, der die westliche Welt ab Ende des 18. Jahrhunderts zuerst in die Moderne führte und heute in eine neue, cyber-physische Postmoderne steuert. Dafür dürfen wir die Industrie, ja die Wirtschaft insgesamt nicht – wie wir es weithin gewohnt sind – als ein in sich geschlossenes, von anderen Bereichen der Gesellschaft getrenntes System betrachten. Vielmehr müssen wir sie als eine Art kulturellen Schrein begreifen, der alle möglichen Informationen über die Lebenswelten seiner Schöpfer und Nutzer erhält, nach allen Seiten hin offen ist und deswegen fortwährend mit seiner Umgebung Inhalte austauscht. In der Sprache der Kulturhistoriker ausgedrückt: Wir müssen die industrielle Wirtschaftsordnung als ein Kulturartefakt auffassen, das sich zusammen mit seiner politischen, sozialen, kulturellen, intellektuellen und ökologischen sowie regionalen, nationalen, globalen und – ganz besonders wichtig, wie wir später noch sehen werden – planetaren Umgebung ständig wandelt. Sich auf diesen Ansatz einzulassen, um über industriellen Wandel nachzudenken, hat vielerlei Vorteile für den Versuch, im Spiegel der Geschichte nach Orientierungspunkten für unseren Weg durch die vierte industrielle Revolution zu suchen. So können wir dank des breiten Blickwinkels Netzwerke des Wandels viel besser erkennen, als wenn wir nur einzelne kleine Verästelungen der historischen Entwicklung in den Fokus nehmen. Außerdem können wir industriellen

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Wandel als kulturhistorisches Phänomen viel leichter in jenes, später noch im Detail untersuchte Erdzeitalter einordnen, in dem aufgrund tiefgreifender anthropogener Umweltveränderungen die kulturelle Wirklichkeit des Menschen und die planetarische Wirklichkeit der Erde erstmals miteinander verschmolzen sind: das Anthropozän. Darüber hinaus macht uns ein kulturhistorischer Ansatz frei von den künstlichen Gegensätzen, die wir ansonsten gedanklich sehr schnell und oft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, zwischen Wirtschaft, Staat, Natur und Gesellschaft aufbauen. Dadurch können wir wiederum über industriellen Wandel als Teil einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte nachdenken. Für unser Verständnis der historischen Gesamtzusammenhänge ist besonders dieser letzte Punkt überaus wichtig, wie der Leibniz-Preisträger Lutz Raphael 2019 in seiner viel beachteten Studie Jenseits von Kohle und Stahl hinsichtlich der Entstehung der postindustriellen Gesellschaftsordnung gezeigt hat. Löst man nämlich die wirtschaftliche Transformation seit der ersten industriellen Revolution aus der größeren Geschichte der Gesellschaft heraus, sieht man automatisch immer nur einen ganz bestimmten Ausschnitt der historischen Entwicklung, niemals aber das komplexe Gesamtbild. Das liegt an einem einfachen Zusammenhang, den wir dieser Tage überall um uns herum beobachten können, wenn wir auf die mannigfaltigen Veränderungen achten, die von den Anfängen der vierten industriellen Revolution gerade angestoßen werden: Industrieller Wandel hat Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der Wirklichkeit, in der wir leben, von den verschiedenen Sektoren der Wirtschaft, der Rolle des Staates, den Strukturen des Sozialgefüges bis hin zur Funktionsweise der Atmosphäre. Wie wir arbeiten, wie wir uns fortbewegen, wie wir uns ernähren, wie wir wohnen, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir unsere Freizeit gestalten, wie wir mit der Natur umgehen – all das und noch viel mehr hängt ganz eng mit industriellem Wandel zusammen. Das macht selbigen im wahrsten Sinne des Wortes zu einem echten Weltenwandel.

Die Kultur der Digitalität Der für unsere Zwecke wohl größte Vorteil der beschriebenen Herangehensweise liegt freilich noch in etwas anderem. Indem wir industriellen Wandel als kulturhistorisches Phänomen verstehen, können wir unsere Beobachtungen aus der Geschichte direkt mit jener spezifischen Kultur in Verbindung setzen, die in der Welt von heute zusehends dominanter wird: die „Kultur der Digitalität“. Der Schweizer Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder hat in seinem gleichnamigen Buch das Wesen dieser Kultur eingehend untersucht. Dabei hat

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er gezeigt, dass selbige das Ergebnis eines großen Veränderungsprozesses ist, der im 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm, von industriellen Revolutionen immer weiter vorangetrieben wurde und sich seit den 1960er-Jahren massiv beschleunigt hat. Die wichtigsten, wenn auch bei Weitem nicht alleinigen Aspekte dieser gewaltigen kulturellen Umwälzung sind laut Stalder die verstärkte Teilnahme einer immer größeren Zahl von Menschen an kulturellen Prozessen, die Ausweitung bereits existierender und die Entstehung ganz neuer Kulturfelder sowie die wachsende Bedeutung von komplexen Technologien. Das Internet hat diese Entwicklungslinien von den jeweiligen historischen Bedingungsfeldern, in denen sie sich ursprünglich entfaltet hatten, gelöst und miteinander verschränkt. Das so entstandene Konglomerat ist an keinen spezifischen Kontext mehr gebunden und durchdringt heute alle Lebensbereiche immer tiefer. Dabei formt es die Kultur der Digitalität. Diese zeichnet sich Stalder zufolge durch drei Hauptmerkmale aus: „Referentialität“, das heißt das Auswählen und Zusammenfügen bestehenden kulturellen Materials für die eigene Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution; „Gemeinschaftlichkeit“, das heißt kollektive Referenzrahmen, in denen Bedeutung stabilisiert, Handlungsoptionen generiert, Ressourcen zur Verfügung gestellt und so selbstbezogene Welten hervorgebracht sowie unterschiedliche Dimensionen der Existenz modelliert werden; und „Algorithmizität“, das heißt automatisierte Entscheidungsverfahren, die den im Internet zur Verfügung stehenden, unendlich großen Informationsfluss sowohl reduzieren als auch ordnen und es dem Menschen dadurch überhaupt erst möglich machen, die riesigen, die Verarbeitungskapazität unserer Gehirne weit überschreitenden Datenmengen zu nutzen. Die so beschaffene Kultur der Digitalität kann zwei völlig unterschiedliche politische Tendenzen hervorbringen, wie Stalder betont. Auf der einen Seite ist sie der Nährboden für ein autokratisches System neuer, nämlich digitaler Prägung: die „Postdemokratie“. Dieses System reagiert auf die durch den technologischen Fortschritt und die wachsende Vernetzung aller Lebensbereiche herbeigeführte Ausweitung der gesellschaftlichen Kommunikationsmöglichkeiten mit der Entkoppelung von Beteiligungsoptionen und Entscheidungsgewalt. Einfacher gesagt: Alle können sich äußern, aber nur eine verschwindend kleine Zahl an Unternehmern, Ingenieuren und Politikern entscheidet darüber, wie die neuen Technologien funktionieren, das heißt, welche virtuelle Umgebung selbige für die Handlungen aller Menschen generieren. Auf der anderen Seite macht die Kultur der Digitalität aber auch ein System der „Commons“ möglich. Darunter fallen alle Ansätze zur Entwicklung digitaler Institutionen, die Be-

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teiligung und Entscheidung direkt miteinander verbinden. Statt ökonomische Fragen zu isolieren, behandeln die entsprechenden Verfahren sie häufig auch unter sozialen, politischen und ethischen Gesichtspunkten. Stalder weist auf die Gefahr hin, dass momentan ganz klar die Tendenzen zur Postdemokratie überwiegen. Besonders deutlich wird das mit Blick auf die sozialen Massenmedien und Kommunikationsdienste, die nach der Jahrtausendwende entstanden sind. Facebook, Twitter, LinkedIn, Instagram, Whats­ App und Co. bieten vielseitige Dienste in benutzerfreundlicher Form an, die von Millionen von Menschen tagtäglich benutzt werden. Jede dieser Anwendungen beruht jedoch auf geschlossenen, von den jeweiligen Netzwerkbetreibern kontrollierten Standards, auf die die Nutzerinnen und Nutzer wenig bis gar keinen Einfluss haben. Die Funktionsweise der relevanten Algorithmen wird in der Zentrale bestimmt, wo zusätzlich auch noch alle Nutzerdaten gesammelt und ausgewertet werden. Dadurch gewinnen die jeweiligen Unternehmen eine gewaltige „Netzwerkmacht“, die demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen ist. Das ist umso bedenklicher, wenn mehrere große Netzwerke unter dem Dach ein und desselben Plattformunternehmens zusammengezogen werden. So gehören zu dem kalifornischen Technologieriesen Meta Platforms neben dem Stammunternehmen Facebook unter anderem auch noch die Tochtergesellschaften Instagram, WhatsApp und Messenger. Dazu kommt, dass sich postdemokratische Spielarten nicht nur in den Strukturen verbreiten, die die Privatwirtschaft schafft. Auch der Staat zeigt starke Tendenzen in diese Richtung. Man denke nur an die flächendeckende Überwachung des Internets durch staatliche Geheimdienste, von der die Öffentlichkeit im Juni 2013 durch die mutigen Enthüllungen des ehemaligen CIA-Agenten Edward Snowden erfuhr. Der weitere Verlauf der vierten industriellen Revolution wird darüber bestimmen, ob sich die postdemokratischen Tendenzen unserer Tage weiter verfestigen oder ob sich Commons stärker als bisher durchsetzen werden. Wir werden diese Entscheidung durch entsprechende Maßnahmen und Verhaltensweisen nur in der von uns gewünschten Richtung beeinflussen können, wenn wir zunächst einmal besser begreifen, wie industrieller Wandel und die Kultur der Digitalität überhaupt miteinander zusammenhängen. Genau dafür ist eine kulturhistorische Perspektive prädestiniert. Um deren Potenzial ganz auszuschöpfen, benötigen wir allerdings noch einige weitere analytische Hilfsmittel.

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2. Instrumente Damit uns ein Blick in die Geschichte dabei helfen kann, uns in der vierten industriellen Revolution besser zurechtzufinden, müssen wir eine gedankliche Ebene herstellen, auf der wir den industriellen Wandel von früher mit dem von heute vergleichen können. Am besten gelingt das, wenn wir den Strom der Zeit mithilfe von drei ganz speziellen konzeptionellen Instrumenten vermessen, die uns jedes auf seine Weise die Orientierung erleichtern können.

Die Great Transformation Das erste Instrument dient dazu, den Zeithorizont historischer Umbruchphasen zu erfassen. Wir sind daran gewöhnt, uns die industriellen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts genauso vorzustellen wie die politischen Revolutionen dieser Epoche, nämlich als separate Entwicklungen mit festen Start- und Endpunkten. Diese Vorstellung wird jedoch dem evolutionären Charakter industriellen Wandels nicht gerecht. Wie problematisch sie ist, zeigt sich schon daran, dass es in der historischen Zunft keinen allgemeinen Konsens darüber gibt, wann die jeweiligen wirtschaftlichen Umbruchphasen einsetzten beziehungsweise aufhörten. So herrscht eine intensive Debatte darüber, ob die erste industrielle Revolution in den deutschen Ländern schon in den 1830er- oder erst in den 1850er-Jahren begann. Die zweite industrielle Revolution wird derweil meist nicht genauer datiert als mit dem Hinweis darauf, dass sie zwischen dem Ende der Großen Depression in den 1890er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg zu einem spektakulären Wachstumsschub führte. Hinsichtlich der dritten industriellen Revolution ist man sich schließlich nicht einmal darüber einig, ob diese überhaupt bereits geendet hat oder fließend in jene Zeitenwende übergegangen ist, die wir gerade erleben. Wie oben bereits kurz erwähnt, ist es folglich auch umstritten, inwiefern sich dieser Tage überhaupt eine eigenständige vierte industrielle Revolution vollzieht. Angesichts solcher Unsicherheiten ist ein Mehr an Orientierung nur zu gewinnen, wenn wir anders auf den zeitlichen Horizont industrieller Revolutionen blicken. Statt diese als voneinander getrennte Entwicklungen zu begreifen, können wir sie nämlich auch einfach als besondere Phasen beschleunigten Umbruchs beziehungsweise Wachstums in einem epochenübergreifenden Wand-

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lungsprozess verstehen: der „Great Transformation“. Was ist damit gemeint? Ursprünglich geht der Begriff auf den ungarisch-österreichischen Sozialtheoretiker Karl Polanyi zurück. In seinem 1944 veröffentlichten Hauptwerk dieses Titels bezeichnete Polanyi am Beispiel Großbritanniens mit der Großen Transformation den gewaltigen Strom der Veränderung, der im 19. und 20. Jahrhundert die in der frühen Neuzeit vorherrschende kleinräumige, in lokale Lebenswelten „eingebettete“ Wirtschaftsweise durch den nach den Gesetzen des freien Marktes funktionierenden „entbetteten“ Kapitalismus ersetzte. Eine Umwälzung, die nahezu alle Bereiche der menschlichen Lebenswirklichkeit durch solch gewaltige Entwicklungen wie die Urbanisierung oder die Gründung von Nationalstaaten völlig neu ausformte. Polanyi kritisierte diesen eng mit der Industrialisierung zusammenhängenden Wandlungsprozess scharf. Denn obwohl die Entstehung der „Marktgesellschaft“ dauerhaftes Wachstum schuf, stürzte sie in seinen Augen Millionen Menschen ins Elend. Damit meinte er nicht etwa Hunger oder materielle Not, wie man etwa eingedenk der Verelendung weiter Teile der Industriearbeiterschaft im 19. Jahrhundert zunächst meinen könnte, sondern den Zusammenbruch überlieferter sozialer Gemeinschaften und ihrer Wertesysteme. Dementsprechend konstatierte er eine Grundspannung zwischen der Eigenregulation des freien Marktes und dem sozialen „Schutzbedürfnis“ der Gesellschaft. Daraus ergab sich für ihn ein ständiges Hin und Her zwischen wirtschaftlicher Liberalisierung und den dadurch ausgelösten Gegenbestrebungen zur stärkeren Regulierung des Marktes. Diese später häufig als „Polanyisches Pendel“ bezeichnete Doppelbewegung machte er für die ökonomischen und politischen Krisen des 20. Jahrhunderts verantwortlich. So erklärte sich seiner Meinung nach etwa der Faschismus aus dem Versuch, die Gesellschaft durch systematische Gewalt, Demagogie und ideologische Verblendung in eine den Anforderungen des Kapitalismus gerecht werdende Form zu zwingen. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Polanyi, der wegen der Juden- und Kommunistenverfolgung in den 1930er-Jahren Wien verlassen musste und über Großbritannien in die USA auswanderte, die Geschichte industriellen Wandels durch die Brille des Marxismus betrachtete. Er nannte die Industrialisierung eine „Katastrophe [für] Leben und Wohlergehen“ und konzentrierte sich ganz auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen des industriellen Kapitalismus, der in seinen Augen nicht weniger als den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und den Faschismus herbeigeführt hatte. Im Unterschied zu traditionellen Marxisten dachte Polanyi aber keineswegs determinis-

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Teil I – Der Kompass der Geschichte

tisch. Die Große Transformation steuerte in seinen Augen nicht unweigerlich auf eine proletarische Weltrevolution zu, sondern war ein offener Prozess. Der Antrieb der Geschichte war für ihn nicht die unentrinnbare Anziehungskraft eines vorherbestimmten Telos oder Ziels, sondern die unberechenbare Dialektik zwischen freiem Markt und gesellschaftlichem Schutzbedürfnis. Den Materialismus des klassischen Marxismus lehnte er folgerichtig ab. Sein Ansatz war vielmehr anthropologisch. Das Hauptproblem der wirtschaftlichen Entwicklung lag seiner Meinung nach darin, dass sie den Menschen überforderte, da sie dessen soziale Gemeinschaften zerstörte und ihn so entwurzelte – ein Kritikpunkt, dem sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung auch heute angesichts der Globalisierung und Digitalisierung häufig gegenübersieht. Kein Wunder also, dass die Ausrichtung an den sozialen Grundbedürfnissen des Menschen Polanyi bis heute zu einem vor allem in den Politik- und Wirtschaftswissenschaften viel rezipierten Klassiker macht. Jüngst bemühte der österreichisch-deutsche Historiker Philipp Ther, der 2020 das Wiener Research Center for the History of Transformations gründete, die Idee der Großen Transformation in seinem Essayband Das andere Ende der Geschichte gar dafür, um mithilfe des Polanyischen Pendels zu erklären, wie aus dem vermeintlichen Triumph der liberalen westlichen Demokratien nach Ende des Kalten Krieges solche Entwicklungen wie der Brexit oder der Aufstieg Trumps erwachsen konnten. Selbst wenn man Thers Interpretation nicht teilt, so zeigen seine Überlegungen doch, welch vielfältige Anknüpfungspunkte Polanyi bis heute bietet. Um sich auf dem Weg durch die vierte industrielle Revolution besser zu orientieren, ist die Vorstellung einer Großen Transformation überaus nützlich. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass uns dieses Konzept einen gedanklichen Rahmen bietet, in dem wir die industriellen Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart nicht – wie üblich – als eigenständige, voneinander getrennte Erscheinungen begreifen, sondern als integrale Bestandteile ein und desselben übergeordneten Wandlungsprozesses. Das hat gleich mehrere Vorteile. Erstens können wir so den von uns gerade miterlebten Weltenwandel als Fortsetzung einer sich bereits seit langer Zeit vollziehenden Transformation sehen, deren weiterer Verlauf zwar offen ist, von uns aber auf Basis dessen eingeschätzt werden kann, was wir über ihre Entwicklung in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten wissen. Anders gesagt: Die Idee der Großen Transformation macht die vierte industrielle Revolution historisch anschlussfähig. Zweitens ermöglicht uns die Vorstellung einer Großen Transformation, die durch Basisinnovationen ausgelösten Wachstumsschübe  – die sogenannten,

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später noch genauer erläuterten Kondratjew-Zyklen – revolutionsübergreifend zu vergleichen. Das ist schon allein deshalb hilfreich, weil wir so leichter erkennen können, wie sehr sich der durch technologische Neuerungen angestoßene industrielle Wandel in den letzten 150 Jahren beschleunigt hat. Lag die Zeitspanne zwischen Erfindung und Vermarktung einer technologischen Innovation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei durchschnittlich 80 Jahren, schrumpfte sie nach 1850 auf 30 Jahre zusammen. In den 1960er- und 1970erJahren betrug sie nur noch 10 bis 20 Jahre. Heute ist sie trotz der in einigen Bereichen vergleichsweise langen Patentverfahren auf wenige Jahre zusammengeschmolzen, auch wenn genaue Zahlen branchenübergreifend schwer zu ermitteln sind. Das Konzept der Großen Transformation hilft uns somit, einen ganz entscheidenden, aber dennoch oft übersehenen Faktor industriellen Wandels besser einschätzen zu können: Zeit. Drittens und letztens erleichtert es uns der Denkrahmen einer sich über zwei Jahrhunderte erstreckenden, alle Lebensbereiche erfassenden Großen Transformation, die industriellen Revolutionen von gestern und heute als unterschiedliche Manifestationen des sich in dieser Zeit mehr und mehr ausdifferenzierenden Kapitalismus zu verstehen. Das Kulturphänomen industrieller Wandel lässt sich auf diese Weise in einer Wirtschaftsordnung mit konkreten Funktionsmechanismen verankern und wird dadurch wiederum greifbarer. Denn der Kapitalismus ist letztlich nichts anderes als eine „andauernde Revolution“, sprich: eine nach hinten hin offene Große Transformation, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe in seiner 2019 erschienenen Studie Das kalte Herz mit Blick auf die historische Entwicklung dieser Art des Wirtschaftens hervorgehoben hat. Umgekehrt hilft uns eine kulturhistorische Herangehensweise an industriellen Wandel aber auch, den Kapitalismus als marktwirtschaftliches System besser zu verstehen. Schließlich zeigt sich in der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Abschnitte der Großen Transformation dessen ganze „Plastizität“, die man eben deswegen „nur historisch […] erklären“ kann, so Plumpe. Folglich bietet uns eine Perspektive, die den gegenwärtigen Weltenwandel als Teil einer Großen Transformation versteht, auch insofern mehr Orientierung, als sie uns vor Augen führt, was den industriellen Kapitalismus als wirtschaftliche Koordinationsform eigentlich ausmacht: Er existiert als ein Bündel von Praktiken, die sich im „evolutionären Zusammenspiel“ von dezentralen Privateigentumsstrukturen, preisbildenden Märkten und der politischstaatlichen Stabilisierung dieser Mechanismen herausgebildet haben und sich seitdem immer wieder „häuten“ beziehungsweise weiterentwickeln.

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Innovationskulturen Das zweite Instrument, mit dem wir das historische Wirkungsfeld industriellen Wandels vermessen und so Orientierungsmarken für den weiteren Weg durch dieses anspruchsvolle Gelände freilegen können, ist das Konzept der „Innovationskulturen“, das der israelisch-amerikanische Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr mit seinen Arbeiten zur ersten industriellen Revolution in Großbritannien populär gemacht hat. Dieses Denkmodell beruht auf einer einfachen Beobachtung: Technologische Innovationen an sich bedingen noch kein wirtschaftliches Wachstum. Dazu kommt es erst, wenn sie langfristig in einen aufnahmefähigen Markt integriert werden und dort unterschiedlichste Anwendungen finden. „Disruptiv“ sind Technologien demnach also nicht einfach, weil sie erfunden werden. Zu neuen Formen des Wirtschaftens führen sie nur dann, wenn sie auf eine dynamische Innovationskultur treffen, die ihr Potenzial entfaltet und so Wachstumsschübe generiert. Laut Mokyr ist das zentrale Merkmal solcher Innovationskulturen ein komplexer Wissenstransfer: Aus Grundlagenwissen (basic knowledge), das zur Erfindung einer bestimmten Technologie geführt hat, wird Nutzwissen (useful knowledge), das es möglich macht, diese Innovation wirtschaftlich anzuwenden. Betrachten wir die großen industriellen Umbrüche der Vergangenheit und Gegenwart in diesem Licht, erscheinen sie vor allem als Wissensrevolutionen. Diese Vorstellung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf mehrere wichtige Aspekte, die ansonsten leicht zu übersehen sind: Ebenso essenziell wie die Basisinnovationen sind die von Mokyr so bezeichneten micro inventions. Es sind die vielen kleinen technologischen Neuerungen, die große Basiserfindungen verbessern, erweitern oder vielseitiger und einfacher einsetzbar machen, die Grundlagenwissen in Nutzwissen umwandeln, sprich: das Veränderungspotenzial der jeweiligen Basiserfindungen im Produktions- und Nutzungsprozess durch die Realisierung konkreter, oft sehr vielfältiger Anwendungen ausschöpfen. Das Smartphone (Basisinnovation) hätte beispielsweise die Kommunikations- und Unterhaltungsindustrie ohne das Aufkommen von Apps (Mikroinnovationen), die es jedem technisch noch so unbewanderten Nutzer ermöglichen, mit seinem Mobiltelefon die verschiedensten Aufgaben im Alltag zu erledigen, kaum in dem Maße revolutioniert, wie wir es seit Einführung der ersten iPhone-Generation 2007 erleben. Darüber hinaus hilft uns die Vorstellung von Wissensrevolutionen, besser zu verstehen, warum dem Staat in großen industriellen Umbruchphasen bisher stets eine Schlüsselrolle zukam – und auch in der vierten industriel-

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len Revolution zukommen wird. Innovationskulturen, die dafür sorgen, dass aus Grundlagenwissen Nutzwissen wird, sind grundsätzlich nicht langfristig planbar. Dazu sind sie zu komplex, zu volatil, zu abhängig von einem sich ständig wandelnden historischen Bedingungsfeld und zu eng verknüpft mit der unberechenbaren evolutionären Dynamik des Kapitalismus. Es gibt allerdings mehrere Faktoren, durch die sich die Entstehung und Entwicklung von Innovationskulturen wirksam beeinflussen lassen. Und genau hier kommt der Staat als gestaltende Kraft industriellen Wandels ins Spiel. Denn nur er vermag die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich – um mit dem Philosophen Jürgen Habermas zu sprechen – „Öffentlichkeiten“ ausformen und entfalten können, die sich neugierig mit technologischen Innovationen auseinandersetzen und deren Potenzial nutzbar machen wollen. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Hinsicht die Bildungsund Forschungspolitik. Zu guter Letzt ist Mokyrs Theorie auch deswegen nützlich, weil sie uns den Lebenszyklus industrieller Revolutionen veranschaulicht. Sie nehmen Fahrt auf, entfalten ihre Wirkung quer durch alle Lebensbereiche, verlieren an Kraft und gehen dann in Phasen weniger rasanten industriellen Wandels über, die dann ihrerseits irgendwann von neuen technologischen Innovationen wieder beschleunigt werden und in eine neue Revolution münden. Wann das jeweils geschieht, hat maßgeblich damit zu tun, wann sich Innovationskulturen ausbilden, wann sie ihre volle Dynamik entfalten und wann sie zu stagnieren beginnen. Diese Einsicht hilft auch, den Zusammenhang zwischen industriellem Wandel und Wachstum besser zu verstehen. Um neues Wachstum durch industriellen Wandel zu generieren, müssen sich Innovationskulturen fortwährend weiterentwickeln. Tun sie das besonders stark, sorgt eine Flut neuer technologischer Anwendungen für einen wirtschaftlichen Boom. Tun sie das nicht, gibt es weniger neue Erfindungen, die darüber hinaus auch noch schwerer in den Markt aufgenommen werden und daher nur begrenzt Wachstum erzeugen können. In der Geschichte des industriellen Kapitalismus wechseln sich diese beiden Phasen mehr oder weniger ab. Anders ausgedrückt: Seit Erfindung der Dampfmaschine haben Innovationskulturen nach Phasen der Krise immer wieder eine neue Dynamik entwickelt. Genau deshalb ist die Große Transformation in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten auch nie ganz versiegt, sondern hat sich in Form immer neuer industrieller Revolutionen bis heute beständig weiter fortgesetzt und dabei zuverlässig neues Wachstum produziert.

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Disruptivität Das dritte Instrument, mit dem wir unseren Blick in die Geschichte auf geeignete Orientierungspunkte für die Gegenwart lenken können, ist ein klares Verständnis davon, was einer der wichtigsten, aber auch abstraktesten Schlüsselbegriffe bedeutet, der dieser Tage immer wieder im Zusammenhang mit industriellem Wandel fällt: „disruptive Technologien“. Unsere Vorstellung von Disruptivität ist nämlich der Filter, der darüber bestimmt, welche Aspekte industriellen Wandels bei der Betrachtung langfristiger, sich über mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erstreckenden Entwicklungen in unser Sichtfeld kommen und welche ausgeblendet werden. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie bezeichnet disruptive Technologien auf seiner Webseite gemäß einer Definition des belgisch-amerikanischen Innovationsforschers Erwin Danneels als „Innovationen, die die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung ersetzen oder diese vollständig vom Markt verdrängen“. Eine solche, rein auf die technische und marktwirtschaftliche Wirkung einer technologischen Innovation fixierte Auffassung von Disruptivität reicht jedoch nicht aus, um in der Geschichte nach Orientierungspunkten zu suchen. Die Welt, die sich gerade so rasch verändert und in der wir uns zurechtfinden müssen, besteht schließlich aus mehr als nur Maschinen und Märkten. Was wir daher brauchen, ist ein ganzheitliches Verständnis, das Disruptivität erst einmal sehr allgemein als Erneuerung durch Wandel auffasst. Anders gesagt: Wir müssen uns die Breitenwirkung bewusst machen, die disruptive Technologien auf die Wirklichkeit haben, in der die Menschen leben. In drei Bereichen ist diese Wirkung besonders groß. Auf sie müssen wir ein ganz entschiedenes Augenmerk legen. Erstens haben disruptive Technologien in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten die Wissenswelten, in denen sich Menschen bewegen, immer wieder ganz neu definiert. Basisinnovationen wie die Dampfmaschine, die Elektrizität oder das Internet und die auf ihnen aufbauenden Mikroinnovationen haben jeweils den Bereich des Erfahrbaren erweitert und damit die Möglichkeiten des Erlernbaren vergrößert. Jede dieser Verschiebungen hat wiederum das Erlebnis der jeweiligen Jetztzeit und die Erwartungen an die Zukunft verändert. Das hatte stets weitreichende Folgen für alle Bereiche sozialen Zusammenlebens, wie etwa für die Gestaltung und Legitimation von Politik und Verwaltung. So hat zum Beispiel die Verbreitung von virtuellen, internetbasierten Netzwerken aller Art dazu geführt, dass deren sich ständig vermehrende „User“

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in puncto Partizipationsmöglichkeiten und Transparenz ganz neue Ansprüche an politische Prozesse entwickelt haben, weil viele Menschen dazu tendieren, ihre Erfahrungen aus dem virtuellen auf den analogen Bereich zu übertragen. Derartige Veränderungen von Wissenswelten liegen in gewisser Hinsicht in der Natur disruptiver Erfindungen. Schließlich waren und sind große technologische Innovationen letztlich nichts anderes als die konkreten Manifestationen jener Wissensrevolutionen, die die Große Transformation seit der ersten industriellen Revolution vorangetrieben haben und sie gegenwärtig wieder einmal ganz besonders stark beschleunigen. Zweitens haben technologische Innovationen seit der Erfindung der Dampfmaschine das Verhältnis zwischen Mensch und Technik fundamental verändert. Die disruptive Wirkung auf diese Beziehung hat sich dabei besonders im Wandel der Arbeitswelt gezeigt. Muskelkraft ist mittlerweile weitgehend durch Maschinenkraft ersetzt worden. Obsolet ist der Mensch aller Unkenrufe zum Trotz jedoch auch im Maschinenzeitalter noch nicht geworden. Er wird nach wie vor in den meisten Fällen gebraucht, um die immer komplexer werdende Technik zu programmieren und zu bedienen. Der rasante Fortschritt der Künstlichen Intelligenz wird das vielleicht eines Tages ändern. Autonom lernende Roboter und sich selbst immer weiter optimierende Algorithmen sind schon jetzt Realität. Einen Automatismus hin zu immer mehr Automatisierung und Autonomisierung gibt es jedoch nicht. Die Entscheidung dazu liegt, wie es in der Großen Transformation immer schon der Fall gewesen ist, beim Menschen selbst. Ideen, wie das Verhältnis von Mensch und Technik in Zukunft kalibriert werden kann, gibt es genug. So plädiert etwa der kapitalismuskritische Wirtschaftshistoriker Aaron Benanav in seinem 2021 erschienenen Buch Automatisierung und die Zukunft der Arbeit dafür, die Wirtschaft demokratisch so zu reorganisieren, dass sich dabei die Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine auflöst. Drittens und letztens haben technologische Innovationen seit Beginn der industriellen Nutzung fossiler Brennstoffe die Beziehung zwischen Mensch und Natur ganz neu austariert. Besonders in den ersten industriellen Revolutionen beutete der Mensch die Natur oft schonungslos für ökonomische Zwecke aus. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist er zu einer geologischen Kraft geworden, die die Atmosphäre, die Biosphäre, die Hydrosphäre und die übrigen Teile des Erdsystems einschneidend verändert. Allerdings haben sich auch schon früh allerlei Bewegungen formiert, die angesichts industrieller Umweltzerstörungen für einen verstärkten Schutz der Natur eintraten. Im Laufe des

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Industriezeitalters ist das so entstandene Umweltbewusstsein immer weiter gewachsen. So liegt heute in der vierten industriellen Revolution – getrieben vom Klimawandel, dessen Auswirkungen auch in Deutschland immer deutlicher spürbar sind – ein besonderer Fokus darauf, eine Klimakatastrophe abzuwenden, die Umwelt zu schützen und nachhaltig zu wirtschaften. Die allermeisten Kräfte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind sich einig: Die Industrie 4.0 muss grün sein und das fossile Zeitalter beenden. Der Übergang zu einer fossilfreien Wirtschaftsordnung erweist sich allerdings als Jahrhundertaufgabe. Der Mensch wird gewissermaßen die Geister, die er einst mit der Erfindung der Dampfmaschine rief, nicht mehr los. Insofern gleicht die Große Transformation, wie der italienische Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla schon in den 1970er-Jahren mit Blick auf die ersten beiden industriellen Revolutionen formulierte, der Geschichte des „Zauberlehrlings, über die man lachen könnte, wenn sie nicht so tragisch wäre“. Wie diese Geschichte ausgeht, ist nach wie vor offen. Der Zauberlehrling aus Goethes gleichnamiger Ballade wird am Ende durch die Intervention seines Hexenmeisters doch noch gerettet. Die vierte industrielle Revolution könnte durch die Etablierung einer grünen Wirtschaftsordnung eine ähnlich rettende Wirkung für unseren Planeten haben. Tatsächlich muss sie es sogar, wie wir im dritten Teil dieses Buches noch sehen werden, wenn wir eine Überlastung der natürlichen Prozesse des Erdsystems verhindern und so die Zukunft der Menschheit sichern wollen. Magie wird uns dabei freilich nicht helfen können. Unsere Hoffnung muss vielmehr auf neuen, disruptiven Technologien liegen, die umweltfreundliche Alternativen bieten, die Wohlstand nicht gefährden, sondern mehren und sich deshalb am Markt auch durchsetzen. Statt technologischen Innovationen grundsätzlich mit rigider Skepsis zu begegnen, sollten wir ihnen daher einen Vorschuss an Vertrauen gewähren. Selbiges lässt sich aber nur aufbauen, wenn wir uns auf dem Weg in die Zukunft, die die vierte industrielle Revolution vermittels neuer Technologien gerade zu öffnen beginnt, bewusst machen, wo wir gerade stehen und worauf wir zusteuern. Und genau dabei kann uns ein Blick in die Geschichte industriellen Wandels von größtem Nutzen sein.

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Erster Orientierungspunkt: Wie über industriellen Wandel nachdenken? Der erste Teil dieser historischen Navigationshilfe hat uns gezeigt, wie wir am geschicktesten in die Geschichte zurückblicken, um die sich gerade immer kraftvoller entfaltende vierte industrielle Revolution besser zu verstehen. Es gilt, eine kulturhistorische Perspektive mit mehreren analytischen Instrumenten zu verbinden. Daraus ergibt sich ein Denkrahmen, der einen Bezug zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit industriellen Wandels herstellt und aus vier konzeptionellen Eckpunkten besteht: 1. Industrieller Wandel ist ein kulturhistorisches Phänomen, das unendlich viele Ausprägungen hat. Eine davon ist die immer dominanter werdende Kultur der Digitalität. 2. Die industriellen Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart waren beziehungsweise sind Phasen beschleunigten Umbruchs in einer Großen Transformation, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts alle Lebensbereiche erfasst hat und deren weiterer Verlauf offen ist. 3. Große industrielle Transformationsprozesse sind Wissensrevolutionen, die sich in spezifischen Innovationskulturen vollziehen. 4. Die Disruptivität technologischer Innovationen äußert sich in deren Breitenwirkung auf die Wirklichkeit, in der die Menschen leben. Besonders deutlich schlägt sie sich in der Veränderung von Wissens- und Arbeitswelten sowie in der Neuausrichtung der Beziehung zwischen Mensch und Natur nieder.

Der so beschaffene Denkrahmen erlaubt es uns, die evolutionäre Komplexität und die Ambivalenzen industriellen Wandels einzufangen und zu analysieren. Der zweite Teil dieses Buches wird sich dies nun zunutze machen, um das weite Feld der beiden wichtigsten Kräfte zu vermessen, die seit Erfindung der Dampfmaschine immer wieder industrielle Revolutionen angetrieben haben.

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TEIL II Die Räder der Revolution

Im zweiten Teil dieses Buches erfahren Sie, − was industrielle Revolutionen antreibt, − warum die Wohlstandsschere zwischen dem Westen und dem Rest der Welt im 19. Jahrhundert weit auseinanderging und sich seit einiger Zeit wieder schließt, − welche Innovationsschübe die Welt seit der ersten industriellen Revolution grundlegend verändert haben, − weshalb der gegenwärtige Aufstieg der Künstlichen Intelligenz wahrscheinlich den Beginn einer neuen langen Welle der Innovation markiert, − wie die beispiellose Wachstumsdynamik des Kapitalismus funktioniert, − warum der Kapitalismus die Ökonomie der armen Leute ist, − mit welchen Maßnahmen der Staat den Kapitalismus sozial abfedern kann und von welchen er lieber die Finger lassen sollte, − weshalb der grüne Kapitalismus den Planeten vor dem Klimakollaps retten kann − und wie technologische Innovationen und kapitalistisches Wirtschaften miteinander zusammenhängen.

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Die industriellen Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart gleichen komplexen Räderwerken, bei denen viele verschiedene Faktoren ineinandergreifen, um mit vereinten Kräften die Welt zu verändern. So spielen zum Beispiel demografische Entwicklungen, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zur – wie der Kolonialismus im 19. Jahrhundert in aller Brutalität demonstriert hat  – mitunter gewaltsamen Erschließung neuer Märkte eine wichtige Rolle. Im Zentrum der vielteiligen Maschinerie stehen jedoch zwei andere Triebräder, nämlich die wellenartige Wirkung technologischer Innovationen und die evolutionären Mechanismen des modernen Kapitalismus. Die Geschichte der Neuzeit zeigt deutlich: Es ist das Zusammenspiel dieser beiden Dynamiken, das ganz wesentlich darüber bestimmt, wann industrielle Revolutionen einsetzen, wie sie verlaufen und welche Auswirkungen sie haben.

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3. Die langen Wellen der Innovation Technologischer Fortschritt ist ein kontinuierlicher Prozess. Im fortwährenden Strom der Innovation hängt der Einfluss einer Technologie nicht allein von ihrer Existenz ab. Nur weil eine grundlegende Erfindung gemacht wird, heißt das noch lange nicht, dass diese auch zu einem Wandel führt, der alle Bereiche der menschlichen Lebenswirklichkeit erfasst und so gründlich umwälzt, wie es die industriellen Revolutionen von früher und heute getan haben beziehungsweise tun. Eine solche Wirkung entfaltet sich vielmehr allein dann, wenn eine Basisinnovation auf eine Umgebung oder Innovationskultur trifft, in der sie leicht angewandt, verbessert, modifiziert, schnell verbreitet und so zu einem „technologisch-ökonomischen Allgemeingut“ werden kann, wie es der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe ausdrückt. Anders gesagt: Dass Innovationspotenzial einer technologischen Erfindung hängt von den Bedingungen ab, unter denen sie gemacht, weiterentwickelt und vermarktet wird.

Die Great Divergence Ein besonders beeindruckendes Beispiel für diesen Zusammenhang ist die „Great Divergence“ oder zu Deutsch: „Große Divergenz“. Diese durch den amerikanischen Historiker und Sinologen Kenneth Pomeranz in seinem gleichnamigen Buch geprägte Bezeichnung meint den spektakulären Wachstumsprozess, durch den Europa und Nordamerika im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts Asien und Afrika hinter sich ließen und zu den mit Abstand wohlhabendsten und mächtigsten Teilen der Welt wurden. Lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum pro Jahr in Westeuropa vor 1800 bei mageren 0,4 Prozent, stieg es im Laufe des 19. Jahrhunderts auf 1,75 Prozent an und erreichte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg über 2 Prozent. Auf diesem Niveau ist es – mit diversen Unterbrechungen aufgrund verschiedener Störungen, vor allem durch Kriege – bis in unsere Tage hinein geblieben. Im gleichen Zeitraum ist das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Asien so sehr gefallen, dass sich einige Teile des Kontinents bis heute nur langsam davon erholen. Die Entwicklung des Bruttosozialprodukts – gemessen in US-Dollar auf der Preisbasis von 1992 – verdeutlicht, wie sehr die Schere auseinanderging. In Westeuropa stieg dieser Wert in der Zeit zwischen 1600 und 1913 pro Kopf

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von 907 auf 3688 US-Dollar, während er in Indien quasi stagnierte und in China sogar fiel. Dieser wirtschaftliche Aufstieg des Westens hatte viele Ursachen, über die Historikerinnen und Historiker leidenschaftlich streiten. Neben bestimmten Standortvorteilen wie zum Beispiel reichhaltigen, relativ einfach zugänglichen Kohlevorkommen oder günstigen klimatischen Bedingungen spielten auch die Erwerbung und Ausbeutung von Kolonien eine wichtige Rolle. Entscheidend war allerdings die Herausbildung einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die es möglich machte, technologische Neuerungen ökonomisch effektiv nutzbar zu machen, sprich: in ein Angebot zu überführen, das mit dem Bevölkerungswachstum der Periode entsprechend erhöht werden konnte. Die großen Basisinnovationen des 18. und 19. Jahrhunderts  – Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität – waren also deshalb besonders wirkmächtig beziehungsweise „disruptiv“ in Europa und Nordamerika, weil sie sich dort parallel zu einer dezentralen Wirtschaftsordnung entwickelten, die Marktselektion durch Wettbewerb in einem auf Privateigentum basierenden institutionellen Rahmen organisierte und damit eine ideale Innovationskultur darstellte. Erst diese Umgebung machte es lohnenswert, auf Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, die Entdeckung neuer Energiequellen und andere Veränderungen mit immer neuen technischen Lösungen zu reagieren. Mit anderen Worten: Der technologische Fortschritt der Moderne ist ein Kompagnon des Kapitalismus.

Das Herz der modernen Wirtschaft Seit sich der Kapitalismus im späten 17. Jahrhundert in Nordwesteuropa auszubilden und dann auf dem ganzen Kontinent auszubreiten begann, ist die wirtschaftliche Dynamik in Europa und Nordamerika durch eine „Co-Evolution“ geprägt, die uns heute selbstverständlich erscheint, vorher in dieser Form aber gar nicht existierte und erst im Laufe des 20. Jahrhunderts auch die nichtwestliche Welt erfasste: Kapitalintensives Wirtschaften und technologischer Fortschritt gehen Hand in Hand, ja treiben sich gegenseitig an. Dabei ermöglicht das Zusammenspiel von Basis- und Mikroinnovationen eine Art „fortwährendes Experimentieren“, das durch den Wettbewerb um Absatzmöglichkeiten seit dem 18. Jahrhundert einen äußerst intensiven technologischen Wandel erzeugt hat. Werner Plumpe, einer der größten Experten für die Geschichte des Kapitalismus, bezeichnet die ökonomische Ausbeutung des Innovationspotenzials neuer Technologien gar als das „Herz der Dynamik der modernen Wirtschaft“.

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Dieses Herz schlägt seit dem 18. Jahrhundert nicht in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal, sondern durchgängig in einem ganz bestimmten Rhythmus. Aus eben diesem Grund ist die moderne Wirtschaft von einer spektakulären Wachstumsdynamik geprägt, die sich in einer Abfolge von Aufschwungs- und Stagnationsphasen entfaltet. Besonders gut veranschaulicht das die „Theorie der langen Wellen“. Der sowjetische Statistiker Nikolai Kondratjew hat die zyklische Entwicklung der modernen Wirtschaft erstmals 1926 in dem Artikel „Die langen Wellen der Konjunktur“ in der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik beschrieben. 13 Jahre später war der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter der Erste, der die um einen Aufwärtstrend herum oszillierenden, von ihm so getauften Kondratjew-Zyklen auf technologische Innovationen zurückführte. In seinem Buch Business Cycles. A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process zeigte Schumpeter, dass sich die kapitalistische Wirtschaft in einem ständigen Strukturwandel befindet, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit von Innovationsschüben angetrieben wird. Ausgelöst werden diese Wellen jeweils von eben jenen technologischen Neuerungen, die wir oben bereits unter dem Namen kennengelernt haben, den ihnen der wohl wichtigste Interpret Schumpeters – der deutsch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Mensch  – in den 1970er-Jahren gegeben hat: Basisinnovationen. Diese grundlegenden, technologisches Neuland erschließenden und dadurch weitere Folgeinnovationen nach sich ziehenden Erfindungen werden laut Schumpeters Theorie von dynamischen Unternehmern in einem Akt „kreativer Zerstörung“ mehr oder weniger flächendeckend eingeführt. Dabei wird Bestehendes durch Neues ersetzt. Die durch diesen Prozess herbeigeführten disruptiven Veränderungen sind zyklischer Natur, wobei die Dauer beziehungsweise das Ausmaß der Wellen umstritten ist. An ihrer Existenz besteht aus historischer Sicht jedoch kein Zweifel. Es ist freilich wichtig, noch einmal festzuhalten, dass Basisinnovationen nicht die einzigen technologischen Entwicklungen sind, aus denen sich industrieller Wandel speist. Disruptivität ist beeindruckend, aber längst nicht alles. Sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart kann man feststellen, dass große industrielle Transformationsprozesse zu einem wesentlichen Teil von kleinen technologischen Neuerungen angetrieben werden. Große ökonomische Veränderungen sind also nicht nur Folge von disruptiven Technologien, sondern auch des kontinuierlichen technologischen Wandels, in dem sich die Wirkung abertausender Mikroinventionen in einem permanenten Anpassungsprozess akkumuliert. In den vergangenen 200 Jahren haben neue

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Produktionsprozesse und Produkte fortwährend alte ersetzt. Tatsächlich sind die großen industriellen „Revolutionen“ ja gerade deshalb so schwer datierbar, weil den jeweils relevanten Basisinnovationen erst unzählige kleine technologische Veränderungen zum Durchbruch verhalfen. Ebenso gilt jedoch: Im Mittelpunkt der jeweiligen Transformationsprozesse standen stets bestimmte epochale Basisinnovationen, die eine große Vielzahl von Veränderungen des Wirtschaftens herbeiführten und genau wegen dieses Schneeballeffekts disruptiv wirkten, sprich: „lange Wellen“ kreativer Zerstörung auslösten und dabei technologiegetriebenes Wachstum erzeugten. Insgesamt können wir seit dem 18. Jahrhundert fünf solcher großen Innovationsschübe ausmachen. Jeder davon wurde mittlerweile in zahlreichen wissenschaftlichen Studien eingehend untersucht. Für ein 2022 veröffentlichtes Handbuch zum Thema „Smart Technologies“ hat Werner Plumpe diese Literatur sorgfältig ausgewertet und die entsprechenden Entwicklungen mit Blick auf die Gegenwart noch einmal in ihren größeren historischen Zusammenhang eingeordnet. Seine Ausführungen machen unter anderem deutlich: Momentan stehen wir mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz sehr wahrscheinlich am Beginn einer sechsten langen Welle. Um die evolutionäre Dynamik industriellen Wandels, die uns zu diesem Punkt geführt hat, besser zu verstehen und so den gerade einsetzenden Innovationsschub besser einschätzen zu können, lohnt es sich, Plumpes Ergebnisse im Folgenden ausführlicher zusammenzufassen und um einige weitere Beobachtungen zu ergänzen.

Die erste lange Welle Der erste große Innovationsschub dauerte etwa von 1770 bis 1810 und betraf die Mechanisierung zuvor ausschließlich auf menschlicher Arbeitskraft basierender Produktionsprozesse, allen voran in Großbritannien. Führungssektor dieser Aufschwungphase war die Baumwollindustrie. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts stieg infolge des Bevölkerungswachstums die Nachfrage nach Baumwollstoffen in ganz Europa stark an. Das stimulierte sowohl den Anbau von Baumwolle, der hauptsächlich auf den großen Plantagen in Nordamerika und Asien stattfand, als auch die Verarbeitung, die vornehmlich in Europa und dort vor allem im Norden Englands erfolgte. Die traditionellen Herstellungs- und Verarbeitungsverfahren  – Entkörnung, Spinnen und Weben per Hand  – erlaubten jedoch nur eine begrenzte Angebotssteigerung. Das erzeugte einen beträchtlichen Innovationsdruck. Dieser führte wiederum zu zahlreichen Versuchen, die althergebrachten Produktionsprozesse mithilfe der Anfang des

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3 Dampfbetriebene Webstühle in einer englischen Textilfabrik. Darstellung aus Edward Baines 1835 veröffentlichter Studie History of the Cotton Manufacture in Great Britain.

18. Jahrhunderts erstmals von Thomas Newcomen entwickelten und 1769 von James Watt entscheidend verbesserten Dampfmaschine effektiver zu gestalten. Dieses Experimentieren resultierte in der Erfindung mehrerer technologischer Basisinnovationen, namentlich der automatischen Spinnmaschine („Waterframe“), des dampfbetriebenen Webstuhls („Power Loom“) und der Entkörnungsmaschine („Cotton Gin“). Außerdem entstanden erste größere Fabriken, die die verschiedenen Schritte der Baumvollverarbeitung an einem Ort zusammen­ zogen. Schon 1771 eröffnete in Cromford bei Derby die erste wasserradbetriebene Spinnerei. Für sich genommen war keine dieser Neuerungen besonders spektakulär. Sie beruhten alle auf schon länger bekannten Technologien und Organisationsformen, die Schritt für Schritt weiter verbessert wurden. Die eine revolutionäre Initialzündung gab es nicht. Zusammengenommen hatten die verschiedenen Basisinnovationen und der Aufstieg der modernen Fabrik allerdings eine überaus gewaltige Wirkung. Auf der einen Seite verdrängte die mechanisierte

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­ extilindustrie schrittweise die manuelle Baumwollverarbeitung – und das gloT bal. Die englische Textilindustrie konnte ab Beginn des 19. Jahrhunderts weltweit eine so große Menge an qualitativ hochwertigen Baumwollstoffen zu so niedrigen Preisen anbieten, dass die Konkurrenz in Indien langsam einging. Auch die heimischen Kleinbetriebe, die noch in Handarbeit produzierten, gerieten unter großen wirtschaftlichen Druck. Die Folge waren massive soziale Proteste, bei denen konventionelle Weber und Spinner nicht selten die neuen Textilfabriken stürmten und Maschinen zerstörten. Ihren Höhepunkt erreichte die Protestbewegung der „Maschinenstürmer“ um 1812, als in den Industriezentren Großbritanniens bürgerkriegsähnliche Unruhen ausbrachen, die nur mit Militärgewalt aufgelöst werden konnten. Danach kam es zwar europaweit immer wieder zu vereinzelten Protesten. Mittelfristig waren die Vorteile der neuen Produktionsmethoden aber so offensichtlich, dass sich die moderne Textilfabrik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig durchsetzte. Auf der anderen Seite stimulierte der Boom in der Textilindustrie in einer ganzen Reihe von anderen Feldern technologische Innovationen von immenser Bedeutung. Der wichtigste Begleiteffekt ging von der erhöhten Nachfrage nach Energie, Rohmaterialien und maschinellen Geräten aus. So beschleunigte der Aufstieg der modernen Textilfabrik aufgrund des damit verbundenen Energiebedarfs sowohl die Ausweitung des Kohleabbaus als auch die Intensivierung der Kohlenutzung enorm. Auf diese Weise half er dem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England entwickelten und 1796 erstmals in Deutschland eingesetzten Verfahren der Verkokung zum Durchbruch. Das war für die weitere technologiegetriebene Wirtschaftsentwicklung ganz entscheidend. Denn die Verkokung setzte so große Mengen an Kohlegas und Kohlenteer frei, dass diese „Abfallprodukte“ bald selbst zum Innovationstreiber wurden. Auf ihrer Grundlage entstanden in den 1840er- und 1850er-Jahren die Gasbeleuchtungsindustrie und die chemische Industrie. Und nicht zuletzt: Die Massenproduktion von Koks machte es nicht nur möglich, den Schmelzprozess von Eisen entscheidend zu beschleunigen, sondern auch, Roheisen ökonomisch gewinnbringend zu Stahl weiterzuverarbeiten. Erst dadurch konnte Stahl zum wichtigsten Rohstoff der modernen Industrie, ja zur Grundlage der industriellen Revolutionen des 19. Jahrhunderts überhaupt werden. Die Eisen- und Stahlindustrie avancierte bald zum wichtigsten Materiallieferanten der industriellen Produktion. Vor allem revolutionierte sie den Maschinenbau, dessen Fabrikate es wiederum erstmals möglich machten, menschliche Arbeit im großen Stil durch Maschinenarbeit zu ersetzen und so die Produktivität in vorher ungeahnte Höhen zu schrauben.

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Diese Kettenreaktion der Innovation zeigt, dass die erste industrielle Revolution keinesfalls Folge einer einzigen disruptiven Erfindung war, etwa der oft zitierten Dampfmaschine. Sie resultierte vielmehr aus einem „kumulativen Prozess technologischen Wandels“, wie Plumpe betont. Anders gesagt: Erst die Anhäufung vieler verschiedener Innovationen führte zu einer ganz neuen, industriellen Form des Wirtschaftens. Dieser technologiegetriebene Umbruch äußerte sich derweil nicht nur in ganz neuen Herstellungsverfahren und einem vorher nicht für möglich gehaltenen Produktivitätsniveau, sondern auch in zahlreichen sozialen Phänomenen. Der bereits erwähnte Protest der Maschinenstürmer ist nur ein Beispiel. Ein anderes ist die Entstehung ganzer Bergarbeitersiedlungen in Kohleabbauregionen, etwa in Nordengland, Wallonien oder dem Ruhrgebiet. Mit den strukturellen Langzeitfolgen dieser Entwicklung muss sich die Politik bis heute auseinandersetzen. Die Aufschwungphase der ersten langen Welle endete im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Der folgende Abschwung hielt bis in die 1830er-Jahre an und trug maßgeblich zur Verelendung großer Bevölkerungsteile in ganz Europa bei. So reagierten etwa die großen Textilhersteller auf die wachsenden ökonomischen Probleme mit einer scharfen Rationalisierung, die sich nicht zuletzt in Hungerlöhnen niederschlug. Die folgende Verarmung weiter Teile der Arbeiterschaft barg politisch viel Sprengstoff. Es waren die Zustände in den Siedlungen um die großen Textilfabriken im englischen Norden, die 1845 den Industriellensohn Friedrich Engels zu seinem Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England bewegten, das bald zu einer der wichtigsten Frühschriften des Sozialismus werden sollte. Engels machte die Industrialisierung direkt für das Elend der Arbeiter verantwortlich. Das stimmte insofern, als es zwar eine Reihe von anderen Faktoren gab, die den Pauperismus verschärften, wie etwa die globale Agrarkrise, die nach der Eruption des indonesischen Vulkans Tambora 1815 einsetzte, oder die ökonomischen Folgen der Napoleonischen Kriege. Im Kern war die soziale Krise aber Teil eines zyklischen Phänomens, das mit den Folgen der Durchsetzung beziehungsweise Ermattung neuer Basisinnovationen zu tun hatte.

Die zweite lange Welle Die zweite lange Welle setzte auf dem europäischen Kontinent in den 1840erJahren ein. Ihr Hauptmerkmal war eine Transportrevolution, die die Dampfkraft für die Mobilität von Menschen und Gütern nutzbar machte und dadurch ökonomische Märkte in bis dahin undenkbarem Maße ausweitete, verknüpfte

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und vereinheitlichte. Ausgelöst und angetrieben wurde diese Revolution von einem Innovationsschub, der die seit dem 18. Jahrhundert bekannten Technologien der Dampfmotorenkonstruktion und der Stahlproduktion sowie die noch viel älteren Prinzipien des Schienen- und Schiffstransports zu zwei Basisinnovationen verband, die die gesamte Wirtschaftsordnung neu aufstellten: die Eisenbahn und das Dampfschiff. Die ökonomischen Folgen der Eisenbahn waren ebenso komplex wie revolutionär. Zwischen den europäischen Wirtschaftszentren verringerte sich die Transportzeit von Tagen auf Stunden. Erstmals war es nun möglich, schwere Güter über lange Distanzen auf dem Landweg zu transportieren – und das zu relativ geringen Kosten. Dadurch passten sich Marktstrukturen auf dem gesamten Kontinent aneinander an. Es entstand ein einheitlicher europäischer Markt, der ganz neue Geschäftsmöglichkeiten bot und so unternehmerische Spielräume extrem erweiterte. Zudem waren Bau und Betrieb der Eisenbahnen selbst ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Herstellung, Wartung und Benutzung der Lokomotiven, Waggons, Schienen, Bahnhöfe, Leitsysteme und sonstigen technischen Geräte verlangte Unmengen an Rohmaterial, vor allem Stahl, sowie eine riesige Schar gut ausgebildeter Fachkräfte. All das machte die Eisenbahn zwischen den 1840er- und 1880er-Jahren zum unumstrittenen Führungssektor, der aufgrund seiner hohen Kapitalintensivität den Großteil aller privaten und öffentlichen, nicht in der Landwirtschaft gebundenen Investitionen auf sich zog. Dazu kam, dass die Eisenbahn das Aufkommen anderer technologischer Innovationen anstieß. Am wichtigsten war die Telegrafie. Die erhöhte Geschwindigkeit des Landtransports ließ sich nur mit einem verlässlichen Signalsystem sicher und effizient nutzen. Insofern war die Erfindung und Durchsetzung der Telegrafie eine natürliche Begleiterscheinung der Verbreitung des dampfgetriebenen Schienenverkehrs. Das hatte wiederum deshalb besonders weitreichende Folgen, weil die Bedeutung der Telegrafie weit über das Eisenbahnwesen hinausging. Die neue Funktechnologie war selbst eine Basisinnovation, da sie erstmals eine zeitnahe, geografisch unbeschränkte Kommunikation ermöglichte. Die überregionalen und transkontinentalen Telegrafenleitungen, die zwischen den 1840er- und 1870er-Jahren quer durch Europa beziehungsweise den Atlantik verlegt wurden, brachten die verschiedenen Wirtschaftsräume enger zusammen denn je. Ökonomische Nachrichten konnten jetzt innerhalb weniger Stunden rund um den Globus gehen. Dadurch konnten regionale Wirtschaftskrisen sehr schnell auch andere Teile der Welt erfassen. Besonders

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deutlich zeigte sich das 1873, als der in Deutschland als „Gründerkrach“ bekannte Einbruch der europäischen Finanzmärkte die New Yorker Börse zum ersten Mal in ihrer Geschichte zur Schließung zwang. In der Unternehmensorganisation sorgte die Eisenbahn ebenfalls für einen Innovationsschub. Der Betrieb der Eisenbahnen war so kapitalintensiv, dass er in fast allen Bereichen des operativen Geschäfts – von der Finanzierung bis zur Verwaltung – nach neuen unternehmerischen Strukturen verlangte. Unter diesem Anpassungsdruck entstanden zahlreiche Praktiken, die bald auch für Unternehmen in anderen Wirtschaftsbereichen zum Standard wurden, etwa die Trennung von Besitz und Geschäftsleitung oder die regionale Differenzierung verschiedener Produktions- und Angebotszweige. Kurzum: Die großen Eisenbahnfirmen entwickelten sich zu Vorreitern des modernen Unternehmensmanagements. Für die Entstehung der modernen Weltwirtschaft ebenso wichtig wie der Siegeszug der Eisenbahn war der Durchbruch der Dampfschifffahrt. Der schnelle und günstige Gütertransport über die Meere schuf völlig neue Versorgungsketten, veränderte die Preisstrukturen ganzer Produktgruppen und vereinheitlichte Märkte rund um den Globus. Nicht nur die für die industrielle Fertigung benötigten Rohstoffe, allen voran Kohle und Eisen, sondern auch landwirtschaftliche Produkte wie Getreide, Fleisch und Zucker konnten nun zu wettbewerbsfähigen Preisen von einer Ecke der Welt in die andere verschifft werden. Vor allem für die Landwirtschaft hatte das weitreichende Folgen. Ab Mitte der 1870er-Jahre stürzte billiges Importgetreide aus Nord- und Südamerika den europäischen Agrarsektor immer tiefer in eine Strukturkrise. Umgekehrt erschloss das Dampfschiff für die europäischen Staaten aber auch überseeische Absatzmärkte in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Dementsprechend explodierte das Seetransportwesen während der Hochphase des Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts förmlich. Die Transportkapazität der dampfbetriebenen Handelsflotten der fünfzehn größten Wirtschaftsmächte steigerte sich zwischen den 1880er-Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 von 13 auf 30 Millionen Nettoregistertonnen. Zumindest indirekt waren die Transportrevolutionen auf dem Land und zu Wasser mitverantwortlich für jede größere wirtschaftliche Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so etwa für den Bedeutungsverlust der Textilindustrie, den Aufstieg der Eisen- und Stahlindustrie sowie für die Ausweitung des Kapitalmarkts und der Investitionsgüterindustrie. Nicht nur aus ökonomischer Sicht besonders wichtig: Eisenbahn und Dampfschiff sorgten dafür,

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dass regionale Märkte sich preistechnisch einander anglichen. Dadurch stieg zum einen die Bedeutung anderer wirtschaftlicher Standortfaktoren, wie zum Beispiel des Bildungswesens oder des Fachkräfteangebots. Zum anderen bedeutete die wachsende Integration des globalen Gütermarktes, dass die verschiedenen Länder und Regionen der Erde in offene wirtschaftliche Konkurrenz zueinander traten – was wiederum weitreichende politische Folgen nach sich zog. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht erwiesen sich die Eisenbahn und das Dampfschiff als entscheidende Katalysatoren der ersten Globalisierung. Dazu später mehr. Spätestens Anfang der 1870er-Jahre verpuffte die disruptive Wirkung, die in den drei Jahrzehnten zuvor von den Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt ausgegangen war, jedoch allmählich. Beide blieben zwar wichtige und dynamische Wirtschaftszweige, ihr Status als alles dominierende Führungssektoren schwächelte aber zusehends. Das lag nicht zuletzt an einem generellen Konjunkturtief der Weltwirtschaft, der sogenannten Großen oder Langen Depression. Nach der Finanzmarktkrise von 1873 verlangsamte sich das internationale Wachstum bis in die 1880er-Jahre hinein. Rezessionsjahre häuften sich, der internationale Wettbewerb wurde rauer, die Ära des seit den Napoleonischen Kriegen vorherrschenden Wirtschaftsliberalismus ging zu Ende. An seine Stelle trat fast überall in Europa und Nordamerika der Protektionismus. Bis auf die Niederlande und Großbritannien bauten alle westlichen Staaten hohe Mauern aus Schutzzöllen um ihre heimischen Märkte, um dadurch beim Handel mit Waren und Dienstleistungen einen Exportüberschuss zu erzielen. Erst in den 1890er-Jahren zog die Konjunktur wieder an und beendete die Große Depression.

Die dritte lange Welle Die Ursachen für die neuerliche Dynamik der Weltwirtschaft waren vielfältig. So schwächte zum Beispiel die Entdeckung bislang unbekannter Goldvorkommen in Alaska und Südamerika den Deflationsdruck spürbar ab. Am wichtigsten war jedoch ein neuer großer Innovationsschub, nämlich das Einsetzen jener dritten langen Welle, die gemeinhin auch als zweite industrielle Revolution bezeichnet wird. Dabei handelte es sich in erster Linie um eine wissenschaftliche und technologische Revolution, die Forschung und Entwicklung erstmals direkt in den industriellen Produktionsprozess einband, die bisherige Koppelung der Produktion an natürliche Rohstoffe in vielen Fällen auflöste und dadurch ganz neue Leitindustrien schuf, die den bisherigen durch innovative Produkte und Herstellungsverfahren schnell den Rang abliefen.

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Diese Innovationswelle war kein plötzlicher Tsunami, sondern hatte sich über Jahrzehnte durch die gezielte Anhäufung und industrielle Nutzbarmachung von Wissen oder anders ausgedrückt: durch die allmähliche Herausbildung einer neuen Innovationskultur aufgebaut. Ab den 1840er-Jahren expandierte in ganz Europa und besonders in den deutschen Ländern die Universitätslandschaft. Das sorgte gerade im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften dafür, dass das Wissen über technische Grundlagen kontinuierlich wuchs. Dabei spielte die direkte Anwendung von Hypothesen in praktischen Experimenten eine wichtige Rolle. Die Forschungsinstitute und Labore der Universitäten entwickelten sich durch diese Methode zu „Hubs“ des technischen Erkenntnisfortschritts. Individuelle Tüftler gab es zwar nach wie vor. Innovation entfaltete sich aber immer mehr in einer organisierten wissenschaftlichen Umgebung, die sich durch eine ganz bestimmte Infrastruktur aus Laboren, Forschungsgruppen und unterstützendem Personal auszeichnete. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gingen zahlreiche große Unternehmen verstärkt dazu über, dieses Institutsmodell zu übernehmen und eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen einzurichten. Aufgrund starker unternehmensinterner Investitionen wuchsen diese privatwirtschaftlichen Wissensfabriken so schnell, dass sie ihre universitären Pendants schon bald in den Schatten stellten. Das zahlte sich aus. Die direkte Angliederung der wissenschaftlichen Forschung an den Produktionsprozess sorgte für einen geradezu kometenhaften Aufstieg mehrerer Industrien, die noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts so nicht existiert hatten: die Elektroindustrie, die Chemieindustrie, die pharmazeutische Industrie und die optische Industrie. Jede dieser sogenannten neuen Industrien verdankte ihren Aufstieg – wie auch schon die Textil- und Stahlindustrie  – einer ganzen Reihe von technischen Basisinnovationen, deren jeweilige Wirkungen sich gegenseitig verstärkten und so in zahlreichen Feldern atemberaubende Fortschritte auslösten. Die Schwachstromtechnik hatte bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Verbreitung des Telegrafen entscheidende wirtschaftliche Bedeutung im Nachrichtenwesen gewonnen. Nun kam das Telefon hinzu, für das ab den 1880erJahren die ersten Ortsnetze installiert wurden – allerdings fast ausschließlich zur geschäftlichen Nutzung, da der Privatgebrauch selbst für wohlhabende Bürger bis nach dem Ersten Weltkrieg zu teuer blieb. Parallel dazu verhalf die wissenschaftsgeleitete Innovation in der Starkstromtechnik Stück für Stück der Elektrifizierung zum Durchbruch, und zwar vom Kraftwerk bis zum Endgerät. Wichtigstes Anwendungsgebiet war zunächst die elektrische Beleuchtung.

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4  AEG-Werbung für die Elektrifizierung. Plakat „Göttin des Lichts“ von Louis Schmidt, 1888.

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Während die in den 1850er- beziehungsweise 1870er-Jahren erfundenen Bogenund Kohlefadenlampen der damals dominierenden Gas- und Petroleumbeleuchtung noch keine Konkurrenz machen konnten, erwies sich die 1882 durch den amerikanischen Wissenschaftsunternehmer Thomas Alva Edison vorgestellte Glühbirne als wichtigstes Vehikel der weltweiten Elektrifizierung. Erst die Entwicklung des Drehstrommotors und die Einführung günstiger Tagestarife sorgten allerdings dafür, dass auch Industrie und Handwerk elektrischen Strom in den 1890er-Jahren als Energiequelle zu nutzen begannen. Ab dann kannte der gewerbliche Gebrauch der Elektrizität kein Halten mehr. Die Vorteile gegenüber der Dampfmaschine – niedriger Lärmpegel, keine Abgase und geringere Unfallgefahr – waren so groß, dass bereits 1906 in Deutschland mehr Strom für Motoren als für Beleuchtung verwendet wurde. Im Gegensatz zur Elektroindustrie war die optische Industrie keine vollkommen neue Branche. Optische Geräte wie Fernrohre wurden schon seit dem 17. Jahrhundert kommerziell vertrieben. Allerdings erlebte die Branche im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen intensiven Verwissenschaftlichungsprozess, der die Produkte und Produktionsverfahren grundlegend veränderte. Die wichtigste Basisinnovation war das von Carl Zeiß in Jena produzierte Mikroskop. Es war das erste optische Gerät, das dank der von Ernst Abbe aufgestellten Berechnungen, auf denen es beruhte, in großer Stückzahl in gleichbleibend hoher Qualität angefertigt werden konnte. In praktischer Hinsicht war das nur deswegen möglich, weil parallel zu den theoretischen Erkenntnisfortschritten in den 1870er- und 1880er-Jahren die Glasqualität entscheidend verbessert wurde. Die preußische Regierung richtete zu diesem Zweck 1884 in Jena eigens ein glastechnisches Forschungslabor ein. Die Entwicklung neuer Glassorten erlaubte es dann, auf der Grundlage der für das Mikroskop geltenden Prinzipien eine breite Palette hochqualitativer optischer Vorrichtungen – Messgeräte, Feldstecher, Fernrohre, Fotoobjektive, Kameras – in Serie herzustellen. Dieser Fortschritt bei der Produktion optischer Geräte löste wiederum einen Innovationsschub in der chemischen und pharmazeutischen Industrie aus. Die verbesserte Leistungsfähigkeit der Mikroskope ermöglichte ganz neue theoretische Ansätze und Experimentierweisen, während ihre breite Verfügbarkeit die Einrichtung größerer Forschungsgruppen begünstigte. Auf dieser technischen Grundlage entstanden ab den 1880er-Jahren sowohl in der Industrie als auch an den Universitäten immer mehr und immer größere Chemielabore. Dadurch wurde die Förderung wissenschaftsbasierter Innovation innerhalb der Branche zu einem entscheidenden Wettbewerbskriterium. Der Kampf

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um Markthoheit wurde zu einem Kampf um Patente. Der Wettbewerb brachte zum einen neue Produktionsverfahren für bereits bekannte Chemikalien hervor, wie zum Beispiel für Soda (Natriumcarbonat) oder Chlor. Besonders wichtig war die großtechnische Einführung des Kontaktverfahrens zur massenhaften Herstellung von Schwefelsäure, des wichtigsten anorganischen Grundstoffs der chemischen Industrie. Zum anderen entstanden durch die Pionierarbeit der industriellen Chemielabore zahlreiche synthetische Grundstoffe, wie etwa künstliche Farbstoffe, Kunstfasern und Kunstharze. Diese ersetzten nicht einfach nur die jeweiligen natürlichen Substanzen, sondern besaßen oft sogar bessere Qualitätseigenschaften und infolgedessen auch mehr und vielfältigere Anwendungsmöglichkeiten. Erst dadurch konnten viele Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Waschmittel, Klebstoff oder Backpulver industriell hergestellt und so breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden. Zudem revolutionierte die chemische Industrie die Landwirtschaft. 1913 setzte die BASF in Ludwigshafen die ersten industriellen Anlagen in Betrieb, die in dem nach seinen Entdeckern benannten Haber-Bosch-Verfahren der Luft Stickstoff und Wasserstoff entzogen und daraus Ammoniak synthetisierten. Diese Methode erlaubte es erstmals, in großen Mengen hochkonzentrierten Kunstdünger herzustellen, der die Agrarproduktion nicht nur unabhängig von den begrenzten natürlichen Nitratvorkommen (Viehdung, Guano, etc.) machte, sondern sogar um einiges effektiver war. Das geschah allerdings zum Preis massiver Umwelteinwirkungen, die wir später noch genauer betrachten werden. Der wichtigste Anwendungsbereich der Chemie war vor dem Ersten Weltkrieg gerade in Deutschland die Farbenherstellung. Das lag primär am hohen Innovationspotenzial dieses Feldes. Die wissenschaftlichen Grundlagen, auf denen die Produktion künstlicher Farbstoffe beruhte, waren nämlich auch auf vielen anderen Gebieten anwendbar, ganz besonders in der pharmazeutischen Industrie. So führte etwa die Entdeckung der desinfizierenden Wirkung einiger Farbstoffe dazu, dass man in den 1860er-Jahren begann, Antiseptika industriell herzustellen. Auch die Chemotherapie, also der Einsatz chemischer Substanzen zur Behandlung von Krankheiten, hatte ihren Ursprung in der Nutzung von Nebenprodukten der Farbenherstellung. Das Gleiche galt für Aspirin, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum meistbenutzten Medikament überhaupt aufstieg. Solche Innovationssynergien eröffneten ganz neue Geschäftsmöglichkeiten. Folgerichtig reagierten die großen Farbenproduzenten auf die

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Absatzprobleme, unter denen die Teerfarbenindustrie in den 1880er-Jahren vermehrt litt, indem sie sich systematisch der Arzneimittelforschung zuwandten und eigene pharmazeutische Produktlinien auflegten. Zusammengenommen veränderten die von den neuen Industrien ausgehenden Innovationen die Realität des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts grundlegend. In Häusern und auf Straßen brannte nun elektrisches Licht. Schmutzwasser konnte jetzt mithilfe von Chemikalien gereinigt und Trinkwasser gesundheitsschonend aufbereitet werden. Dank neuer Arzneimittel verbesserte sich die medizinische Versorgung. Kunstdünger versetzte die Landwirtschaft in die Lage, mehr Menschen zu ernähren. Das stetig dichter werdende Telekommunikationsnetzwerk machte regelmäßige Kontakte in alle Welt möglich. Außerdem förderten die neuen Industrien die Urbanisierung, da ihre Ansiedlung viele neue Arbeitsplätze schuf. So wurden bereits bestehende Großstädte noch größer oder – wie im Fall von Bayer und Leverkusen – aus kleinen Provinzstädtchen Industriemetropolen. Kurzum: Gemeinsam mit der Eisenbahn und dem Dampfschiff katapultierten die neuen Industrien die Welt in die Moderne.

Die vierte lange Welle Die epochale Wirkung der neuen Industrien bestand vor allem darin, Lösungen für allgemeine Infrastrukturprobleme bereitzustellen, die das Leben der Menschen zuvor mühsamer, beschwerlicher und kürzer gemacht hatten. Auf persönlichen Konsum zielte der innovationsgetriebene Wandel der zweiten industriellen Revolution dagegen zunächst nur begrenzt. Das änderte sich erst in der vierten langen Welle, die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und mit dem Automobil das Zeitalter der industriellen Massenproduktion einläutete. Die Mobilisierung des Individuums war eigentlich nichts Neues. Carl Benz hatte das erste Automobil bereits 1886 zum Patent angemeldet. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erfindung waren anfänglich jedoch sehr gering. Um ein breites Publikum zu erreichen, waren die frühen Automobile sowohl zu teuer als auch zu schwierig zu fahren. Die meisten, die sich eines dieser abenteuerlichen Vehikel leisten konnten, nahmen auch gleich einen geschulten Chauffeur in ihre Dienste. Erst als eine ganze Reihe von kleineren technischen Verbesserungen oder – anders gesagt – Mikroinnovationen die Bedienung einfacher und die Produktion billiger machten, zeigte sich, worin das disruptive Potenzial des Automobils lag, nämlich in der Motorisierung breiter Teile der Bevölkerung, sprich: in der Herstellung des Automobils als Produkt für die Massen.

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5  Fließbandproduktion in den Ford-Werken, 1923.

Bekannt ist diese neue Form industrieller Warenproduktion unter dem Namen ihres Urhebers: Fordismus. Der amerikanische Automobilunternehmer Henry Ford war der Erste, der erkannte, dass das Automobil sein volles wirtschaftliches Potenzial nur würde entfalten können, wenn man es zu einem Preis anbot, der für einen großen Teil der Bevölkerung erschwinglich war. Um das zu erreichen, etablierte er ein „Produktionsregime“, das von einer billigen Serienherstellung bis zum Verkauf alle Aspekte der Beschaffung, Fertigung, Personalorganisation und Vermarktung regelte. Dabei spielten mehrere technologische Innovationen eine wichtige Rolle, allen voran das Fließband. Außerdem setzte Ford auf relativ hohe Löhne. Die Idee dahinter war genauso simpel wie genial: Die Arbeiter sollten das, was sie in den Ford-Fabriken produzierten, auch kaufen können. Auf diese Art und Weise gelang es Ford, Massenproduktion und Massenverkauf miteinander zu verknüpfen  – und das mit spektakulärem Erfolg. Das legendäre Modell T – die „Tin Lizzie“, zu Deutsch: „Blechliesel“ – wurde das erste Automobil der Welt, das über eine Million Mal verkauft wurde. Zwischen 1908 und 1927 bauten die amerikanischen Ford-Werke bereits ganze 15 Millionen Stück. Auf der Grundlage dieser Produktionszahlen setzte sich die Massenmotorisierung in den USA schon im Laufe der 1920er-Jahre durch. Das hatte wiederum zahlreiche wirtschaft-

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liche Folgeeffekte, wie zum Beispiel die Ausbreitung einer automobiltauglichen Infrastruktur (Straßen, Tankstellen, etc.) oder die Entstehung einer auf einen Massenmarkt ausgerichteten Werbeindustrie. Diesseits des Atlantiks ließ der Aufstieg der Automobilindustrie und der daran hängenden Industriezweige sehr viel länger auf sich warten. Das lag weniger an den speziellen Anforderungen des Fordismus, der in technischer Hinsicht zwar innovativ, aber nicht übermäßig anspruchsvoll umzusetzen war, als vielmehr an den speziellen sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen, die Europa in der Zwischenkriegszeit lähmten. Die Arbeitslosigkeit war hoch und das Lohnniveau infolge der Verarmung nach dem Ersten Weltkrieg generell deutlich geringer als in den USA. Der Markt für Automobile war daher sehr viel kleiner. Das machte den Bau großer Produktionsanlagen wenig attraktiv. In den meisten europäischen Ländern entwickelten sich deshalb nur Ansätze der Automobilindustrie. Ausnahmen waren lediglich Großbritannien und Frankreich, wo sich das Automobil aufgrund relativ wohlhabender Mittelschichten schneller verbreitete. Konzerne, die mit der Größe von Ford oder General Motors vergleichbar gewesen wären, entstanden aber auch hier noch nicht. In Deutschland bediente sich schließlich das von den Nationalsozialisten 1937 ins Leben gerufene Projekt „Volkswagen“ der Prinzipien des Fordismus. Zum Durchbruch kamen diese freilich erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges, weil bis dahin ein Großteil der Produktionskapazitäten für Rüstungszwecke eingebunden war. So füllten sich in Europa die Straßen in den 1950er-Jahren, als ältere Konzerne wie Volkswagen, aber auch Neugründungen wie der spanische Hersteller Seat frei von kriegswirtschaftlichen Beschränkungen damit begannen, voll auf Massenproduktion zu setzen. Kostengünstige Erfolgsmodelle wie der VW-Käfer oder der Seat 600 sorgten dann in Verbindung mit dem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung schnell dafür, dass sich viele Europäer erstmals ein eigenes Fahrzeug leisten konnten. Die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen, die vom Durchbruch der Automobilindustrie ausgingen, waren ähnlich groß wie die der Ausbreitung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Der Aufstieg der Automobilbranche war ein mächtiger Pull-Faktor, der auf der einen Seite einen Boom in diversen bereits bestehenden Industriezweigen auslöste, allen voran in der Stahlindustrie, und auf der anderen Seite ganz neue Zuliefererindustrien entstehen ließ. Dazu kam eine Explosion der für den Automobilverkehr notwendigen Infrastruktur, vom Straßennetz bis zu Reparaturwerkstätten. In sozialer Hinsicht sorgte das Automobil für eine vorher undenkbare, weil praktisch

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­ nmögliche Flexibilität des Zusammenlebens. Die räumlich-funktionale Trenu nung von Arbeit, Wohnen und Freizeit, die wir als eines der Kernmerkmale der heutigen Gesellschaft kennen, wurde durch das Automobil erst möglich. Dieser Effekt revolutionierte wiederum die städtebauliche Entwicklung, die Architektur, den Tourismus und den Einzelhandel. Das Shoppingcenter, der Massentourismus und das Berufspendlertum sind nur drei Beispiele für die vielfältigen sozialen Phänomene, die das Automobil spätestens im Laufe der 1970er-Jahre fest etablierte. Für die Natur war der Aufstieg der Automobilindustrie geradezu dramatisch. Das Einsetzen der Massenproduktion von Automobilen ermöglichte dem Menschen zwar eine ganz neue persönliche Mobilität, band diese aber an die Verbrennung fossilen Treibstoffs und damit an die Freisetzung klimaschädlichen Kohlenstoffdioxids. Infolgedessen ist die weltweite Motorisierung breiter Bevölkerungsschichten in den letzten siebzig Jahren zu einem wesentlichen Faktor des menschengemachten Klimawandels geworden. Im Hinblick auf die langen Wellen war der Aufstieg der Automobilindustrie auch deswegen von herausragender Bedeutung, weil sich die Produktion immer neuer Modelle im Laufe des letzten Jahrhunderts selbst als wichtiger Innovationstreiber erwiesen hat. Das galt vor allem hinsichtlich kleinerer technischer Verbesserungen, die für sich genommen keine größeren Folgen hatten. In ihrer Gesamtheit nährten diese Mikroinnovationen aber die lange, um das Automobil herum aufgebaute Welle der Innovation mit all ihren beschriebenen Auswirkungen so kontinuierlich, dass selbige bis heute niemals ganz versiegt ist. Inwiefern die gegenwärtige Umstellung vom Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb und die Entwicklung selbstfahrender Automobile womöglich sogar eine disruptive Wirkung entfalten und worin diese gegebenenfalls genau bestehen wird, ist derweil völlig offen. Ein historischer Trend lässt sich nicht ableiten, weil die zur Abwendung der Klimakrise so dringend nötige Verkehrswende hin zur Elektromobilität die erste grundlegende Weiterentwicklung der Basisinnovation Automobil ist, die politisch erzwungen und durch öffentliche Subventionen unterstützt wird. Mit anderen Worten: Es wird gerade ein ganz neues Kapitel der Motorisierung aufgeschlagen, von dem noch nicht klar ist, ob es die bisherige Geschichte fortsetzt oder eine andere beginnt. Das ist umso schwieriger einzuschätzen, weil die so eng mit dem Automobil verknüpfte Welle des Fordismus schon lange ihre ursprüngliche Beschaffenheit und Kraft verloren hat. Der Umschlagspunkt kam in den 1970er-Jahren, als die Märkte für Gebrauchsgüter in den westlichen Ländern zunehmend gesättigt waren, sprich: in den meisten amerikanischen, deutschen und britischen

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Haushalten mindestens ein Auto, Elektroherd und Kühlschrank stand. Was in den ehemaligen Zentren des Fordismus folgte, war eine Periode der wirtschaftlichen Krise und des Strukturwandels, die oft unter dem Begriff der „Deindustrialisierung“ zusammengefasst wird. Ein, wenn nicht der entscheidende Faktor für den Einbruch der westlichen Industrie nach langen Jahren des Booms war eine gewisse technologische Erschöpfung. Diese äußerte sich darin, dass ehemalige Innovationsfabriken wie die großen Autokonzerne nicht nur keine größeren Neuerungen mehr hervorbrachten, sondern sich auch nur langsam dazu bereitfanden, festgetretene technologische und organisatorische Entwicklungspfade zu verlassen und neue zu erkunden. Dadurch verloren sie rapide an Wettbewerbsfähigkeit. Nutznießer waren vor allem die Auto-, Unterhaltungs- und optischen Industrien in Ostasien, die den globalen Markt zusehends eroberten. Dieser Aufstieg war weniger das Ergebnis eigener technologischer Innovationen als vielmehr einer besseren Organisation jener Produktions- und Arbeitsprozesse, die die westlichen Industrien lähmten. Unter der Anleitung großer, in diesen Krisenjahren immer einflussreicher werdenden Managementberatungsfirmen starteten westliche Industriekonzerne ab Mitte der 1970er-Jahre deshalb einen Reorganisations- und Neustrukturierungsprozess, der vor allem auf organisatorische Diversifizierung setzte. So formte sich etwa VW in eine Holding mit mehreren nachgelagerten Marken beziehungsweise Tochterunternehmen um. Der Erfolg solcher Maßnahmen blieb jedoch überschaubar. In den 1980er-Jahren wechselte man daher die Reformstrategie. Große Industriekonzerne setzten nun verstärkt darauf, sich den Anforderungen des Marktes gemäß zu rationalisieren und gleichzeitig auf ein profitables Kerngeschäft zu konzentrieren. Finanziert wurden diese korporativen Umstrukturierungen durch komplexe Transaktionen auf dem Kapitalmarkt, die wiederum das Investmentbanking enorm expandieren ließen und dadurch dem modernen Finanzmarktkapitalismus zum Durchbruch verhalfen. Zu dessen Bedeutung später mehr.

Die fünfte lange Welle Die fünfte lange Welle setzte vor mittlerweile gut vier Jahrzehnten ein. Seitdem hat sie eine disruptive Wirkung entfaltet, die noch weit über die ihrer Vorläuferinnen hinausgeht. Bis heute verändert sie unsere Welt in unzähligen Bereichen. Die Rede ist von der Revolution der Mikroelektronik, die den Aufstieg der modernen Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungstechnologien ermöglichte. Der Computer ist an sich eine sehr alte Erfindung. Das

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6  Schaubilder aus Konrad Zuses Patent auf binäre Schaltelemente, Mai 1936.

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f­ rüheste Gerät, das in rudimentären Ansätzen mit einem „Rechner“ verglichen werden kann, ist der Abakus, der schon zweieinhalb Tausend Jahre vor Christi Geburt bei den Sumerern auftauchte. Über die Jahrhunderte fand das Kernprinzip des Computers – die Ausführung komplexer arithmetischer Operationen auf der Basis eingespeister Daten – immer wieder in unterschiedlichen Geräten in mehr oder weniger ausgefeilter Form Anwendung, so zum Beispiel in einer 1805 von Joseph-Marie Jacquard entwickelten Webmaschine. 1843 baute Georg Scheutz mit seinem Sohn Edvard in Stockholm den ersten mechanischen Computer. Im gleichen Jahr entwickelte Ada Lovelace mithilfe eines Systems von Charles Babbage eine Methode zur Programmierung und schrieb das erste Computerprogramm. 1935 stellte IBM die erste Lochkartenmaschine vor. 1941 baute Konrad Zuse die erste funktionstüchtige, vollständig programmgesteuerte binäre Rechenmaschine (Zuse Z3), die er 1945 zum ersten universell programmierbaren Computer (Zuse Z4) weiterentwickelte. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verbesserten dann vor allem Computeringenieure in den USA die computergestützte Informationsverarbeitung Schritt für Schritt in puncto Bedienbarkeit, Geschwindigkeit und Vernetzung. Der Durchbruch des modernen Computers erfolgte schließlich in den 1980er-Jahren. Neue Entwicklungen in der Mikroelektronik erlaubten es nun, Rechner entscheidend zu verkleinern und untereinander zu vernetzen. Das Internet, dessen Grundstrukturen zunächst im militärischen Bereich genutzt wurden, eröffnete bis dahin ungeahnte Möglichkeiten der Datenverarbeitung, da man nun nicht nur eine unbegrenzte Zahl dezentraler Computer miteinander verbinden und so die Rechenleistung maximieren, sondern auch komplett neue Informations- und Kontrollmechanismen einrichten konnte. Ab Beginn der 1990er-Jahre entlud sich dieses Innovationspotenzial in einer wahren ITRevolution, die große Hard- und Softwarehersteller wie Microsoft und Apple immer weiter vorantrieben. Mit jeder Verbesserung der Speicher- und Prozessortechnik wurden Computer leistungsfähiger, billiger und kleiner, sodass das Rechenvermögen der von ihnen gebildeten Netzwerke exponentiell anstieg und die jeweiligen Zugangsgeräte gleichzeitig für Durchschnittsverdiener erschwinglich wurden. Heute tragen circa 3,5 Milliarden Menschen ein Smartphone in der Tasche. Jedes davon besitzt eine um ein Vielfaches größere Rechenleistung als jeder Großcomputer der 1970er- und 1980er-Jahre. Die Superrechner im Miniaturformat haben das World Wide Web für jedermann von überall aus mobil zugänglich gemacht. Dadurch hat das Internet die konventionellen Informa-

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tionsmedien wie Fernsehen, Radio oder Zeitungen zu einem großen Teil ersetzt. Gleichzeitig hat sich der Anwendungskreis des Smartphones seit der Vorstellung des ersten iPhones 2007 kontinuierlich erweitert: Die Erfindung und günstige, oft sogar kostenlose, weil werbefinanzierte Bereitstellung immer neuer, bedienerfreundlicher „Apps“, helfen ihren Usern, die verschiedensten Dinge des alltäglichen Lebens zu erledigen, von Geldgeschäften über Einkäufe bis hin zur Familienplanung. In den beiden größten App Stores – dem Google Play Store und dem Apple App Store – standen im Frühjahr 2022 rund sechs Millionen Apps zum Download zur Verfügung. Diese Zahl führt uns eindrucksvoll vor Augen, wie groß und vielfältig die digitalen Möglichkeiten sind, die die IT-Revolution geschaffen hat. Ähnlich wie einst von der Erfindung der Eisenbahn gehen von diesem epochalen Innovationsschub unzählige kraftvolle wirtschaftliche Impulse von teilweise enormer Tragweite aus. Die Entwicklung und Produktion von Hardware, Betriebssystemen und Anwendungssoftware sowie deren Vernetzung ist an sich schon ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor. Noch wichtiger ist aber eine andere Tatsache. Dadurch, dass die computergestützten Informations- und Kommunikationstechnologien zu einer – um mit Schumpeter zu sprechen – „kreativen Zerstörung“ praktisch aller analogen Methoden der Textverarbeitung, Textproduktion und Datenübermittlung geführt und sich so quasi unersetzlich gemacht haben, können sie immer neue Anwendungsbereiche erschließen. Das gibt ihnen ein nahezu grenzenloses Innovations- und Wertschöpfungspotenzial. Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte sind bereits so gut wie alle ökonomischen Geschäftsvorgänge automatisiert worden. Die meisten Werkzeuge und Maschinen sind auf Computersteuerung umgestellt worden und bedürfen nur noch minimaler menschlicher Bedienung. In vielen Industriezweigen hat die immer stärkere Verknüpfung von Maschinen in „intelligenten“ Netzwerken weitgehend autonome Herstellungsprozesse etabliert, die sämtliche Abläufe von der Materialbeschaffung bis zur Verpackung des fertigen Produkts selbstständig dirigieren. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien haben aber nicht nur bereits existierende Felder ökonomischer Aktivität revolutioniert, sondern auch ganz neue geschaffen. Besonders eindrucksvoll ist ihnen das dadurch gelungen, dass sie unsere sozialen Interaktionen durch die Einrichtung digitaler Netzwerke zu einer Ware gemacht haben. Diese Kommodifizierung zwischenmenschlicher Beziehungen zieht zahllose und weitreichende Folgen nach sich. So hat der Aufstieg der sozialen Medien zum Beispiel einen ganz

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neuen, lukrativen Werbekörper erschaffen: den Influencer. Dabei handelt es sich um „eine Person, die in den sozialen Medien zu Bekanntheit gelangt ist und sowohl eigene Inhalte als auch Werbe-Content für Produkte aller Art […] in Form von Posts, Fotos oder Videos veröffentlicht“, wie Ole Nyomen und Wolfgang M. Schmitt in ihrer brillanten Studie über dieses Phänomen erläutern. Auf der Basis ihrer vermeintlichen Authentizität erreichen die großen Instagram-, YouTube- oder TikTok-Stars über ihre jeweiligen Profile beziehungsweise Kanäle Millionen von Followern. Diese Reichweite gibt ihnen eine „große ökonomische, aber auch ideologische Macht, die […] nicht nur zu Werbezwecken, sondern ebenso zu einer bedenklichen kulturellen wie politischen Beeinflussung […] eingesetzt wird“. Dieses Geschäftsmodell der Influencer weist uns wiederum auf eine andere überaus bedeutende Entwicklung hin. Längst beruht der spektakuläre wirtschaftliche Erfolg von Facebook, Instagram, Twitter, TikTok und Co. nicht mehr nur darauf, dass sie Menschen miteinander in Kontakt bringen. Vielmehr dienen die modernen Online-Netzwerke heute vor allem dem Sammeln und Verknüpfen persönlicher Daten, die dann für andere wirtschaftliche Zwecke eingesetzt werden können, insbesondere für personalisierte Produktwerbung. Das hinter dieser Praxis der Plattformwirtschaft stehende Prinzip, die Möglichkeiten der neuen Technologien zur Konstruktion und anschließenden Auswertung eines Datenkomplexes zu nutzen, dehnt sich auch immer weiter auf die klassische Investitions- und Konsumgüterindustrie aus. Dadurch etabliert sich eine ganz neue Form der Wertschöpfung. Vor der IT-Revolution bestand das Ziel produktiver Tätigkeit in den allermeisten Fällen ausschließlich in der Bereitstellung eines physischen Produktes mit einem konkreten Zweck. Seitdem ursprünglich rein analoge Produkte verstärkt mit innovativen, internetgestützten Anwendungen durchsetzt und so um die Möglichkeiten der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien erweitert werden, richtet sich dieses Ziel jedoch in immer mehr Fällen auf die Erstellung eines digitalen Profils der jeweiligen Nutzer und Nutzerinnen, das kontinuierlich ausgewertet, mit anderen Daten verknüpft und dadurch vielseitig wirtschaftlich weiterverwendet werden kann. Kraftfahrzeuge sind ein gutes Beispiel. Wurde das Automobil einst einzig und allein als fahrbarer Untersatz gebaut, wird es heute zusehends als komplexe Datensammelmaschine konstruiert, die dem Fahrer durch die Ermittlung seiner persönlichen Präferenzen und die anschließende Empfehlung entsprechender Produkte eine vermeintliche Optimierung seines Fahrverhaltens, Time-Managements oder Medienkonsums erlaubt.

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Das wirtschaftliche Potenzial dieser Datenökonomie ist gewaltig. Die Wachstumsmöglichkeiten scheinen so gut wie unbegrenzt, schaffen doch selbst kleinste Verbesserungen im Bereich der IT ständig neue Möglichkeiten, Daten zu sammeln, zu vernetzen und nutzbar zu machen. Hinsichtlich der Entwicklung und Auswirkungen technologischer Innovationen ist der Aufstieg der Datenökonomie aber noch aus einem anderen Grund überaus bedeutend. Das Sammeln, Verknüpfen und Auswerten von Daten vermittels der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien macht menschliches Verhalten und komplexe soziale Prozesse immer nachvollziehbarer, modellierbarer und planbarer. Auf der Basis dieses Erkenntnisfortschritts wird der Mensch nicht nur mehr und mehr zum gläsernen Objekt, was schwerwiegende ethische Fragen aufwirft, auf die wir am Ende dieses Buches noch genauer eingehen werden. Es wird auch zusehends besser möglich, intelligentes Verhalten zu automatisieren und Maschinen selbstständig lernen zu lassen. Folgerichtig ist die Künstliche Intelligenz der gegenwärtige Scheitelpunkt technologischen Wandels.

Eine sechste lange Welle? Die Geburtsstunde der Künstlichen Intelligenz als Forschungsdisziplin schlug 1956 auf einer kleinen Konferenz am renommierten Dartmouth College im amerikanischen New Hampshire. In dem Förderantrag, den der amerikanische Informatiker John MacCarthy gemeinsam mit einer Handvoll Kollegen bei der Rockefeller Foundation ein Jahr zuvor eingereicht hatte, tauchte der Begriff „Artificial Intelligence“ erstmals auf. In dem kurzen Papier heißt es, die Antragsteller gingen von der Annahme aus, dass grundsätzlich alle Aspekte des Lernens und anderer Merkmale der Intelligenz sich so genau beschreiben ließen, dass eine Maschine zur Simulation dieser Vorgänge gebaut werden könne. Deswegen wolle man versuchen herauszufinden, wie Maschinen dazu gebracht werden könnten, Sprache zu benutzen, Abstraktionen vorzunehmen und Konzepte zu entwickeln, Probleme von der Art, die zurzeit dem Menschen vorbehalten seien, zu lösen, und sich selbst weiter zu verbessern. In den gut sechseinhalb Jahrzehnten, die seit der berühmten Dartmouth Conference vergangen sind, ist die Künstliche Intelligenz von einer visionären Idee einiger wissenschaftlicher Pioniere zu einer High-Tech-Industrie geworden, deren praktische Innovationen unseren Alltag mehr und mehr durchdringen. Online-Suchmaschinen wie Google, Bing oder Yahoo durchforsten für uns die unendlichen Weiten des Internets, merken sich dabei unser Suchverhalten und sortieren auf dieser Basis unsere Suchergebnisse. Intelligente persönliche

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Assistenten wie Siri von Apple oder Alexa von Amazon erkennen unsere Sprache und führen unsere Befehle aus. Und hochmoderne Fahrzeugtypen wie Teslas Model 3, das meistverkaufte Elektroauto der Welt, verfügen standardmäßig über einen Autopiloten, der uns ohne unser Zutun über die Autobahn kutschiert, eigenständig einparkt und auf Wunsch am Supermarktausgang wieder abholt. In der Medizin, der Juristik, der Kriegswaffentechnik, dem Marketing, dem Produktdesign, der Kunst und der Bildung – überall verbreiten sich dieser Tage ganz unterschiedliche Anwendungen der Künstlichen Intelligenz mit rasender Geschwindigkeit. Dennoch gibt es immer noch keinen Konsens darüber, was wir unter Künstlicher Intelligenz eigentlich genau zu verstehen haben. Der Begriff bleibt umstritten. Das liegt vor allem daran, dass darüber, was „Intelligenz“ überhaupt ist, alles andere als Klarheit herrscht. Dementsprechend existieren auch zahlreiche verschiedene Definitionen für Künstliche Intelligenz. Auf die eine oder andere Art stellen die meisten aber entweder auf bestimmte Anwendungen oder wissenschaftliche Grundlagen ab und setzen diese mit einer Auswahl an menschlichen Fertigkeiten in Verbindung. So definiert das Europäische Parlament Künstliche Intelligenz als „die Fähigkeit einer Maschine, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren“. Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz spricht von der „Eigenschaft eines IT-Systems, ‚menschenähnliche‘, intelligente Verhaltensweisen zu zeigen“. Für Microsoft umfasst die Künstliche Intelligenz alle „Technologien, die menschliche Fähigkeiten im Sehen, Hören, Analysieren, Entscheiden und Handeln ergänzen und stärken“. Bei aller Begriffsklauberei ist eines jedoch klar: Das Innovationspotenzial der Künstlichen Intelligenz ist riesig. So betont der junge niederländische Mathematiker und Philosoph Stefan Buijsman in seinem 2021 auf Deutsch veröffentlichten Buch Ada und die Algorithmen: Künstliche Intelligenz kann unglaublich viel zur Verbesserung unseres Lebens beitragen. In Indien nutzen Analphabeten die Spracherkennung, um mit Uber Geld zu verdienen, und das, obwohl sie nicht lesen können, was in ihrer App steht. Google verkauft Pixel Buds, In-Ear-Kopfhörer, die unter anderem als automatische Dolmetscher fungieren. Lungenkrebs wird (in manchen Fällen) von Computern präziser aufgespürt als von Radiologen. Adobe entwickelt ein Programm, das Bearbeitungen von Fotos erkennen und rückgängig

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machen kann. S ­ oziale Netze nutzen künstliche Intelligenz, um Daten suizidgefährdeter Nutzer an Notdienste weiterzuleiten. Dank künstlicher Intelligenz, die Wilderer anhand des Bewegungsprofils von Gazellen und Antilopen nachverfolgt, können wir Nashörner besser schützen. Im Juli 2019 wurde angekündigt, dass in den USA der erste vollständig von einem Computerprogramm entwickelte Grippeimpfstoff getestet werden soll. Auch in Bezug auf den Klimawandel kann künstliche Intelligenz sehr hilfreich sein, zum Beispiel um die Entwaldung besser zu kontrollieren, die Energieleistung von Wind- und Solarparks genauer zu prognostizieren und die Folgen der Erderwärmung zu dokumentieren, so dass Regierungen entsprechende Vorkehrungen treffen können. Der Nutzen künstlicher Intelligenz wächst, das werden wir noch in vielen Bereichen sehen.

Tatsächlich muss man ob des riesigen Innovationspotenzials kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass von der Künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahrzehnten ein gewaltiger Weltenwandel ausgehen wird. In der populären Berichterstattung wird zwar vieles übertrieben, wie Buijsman betont. An der Wirkmächtigkeit der Künstlichen Intelligenz kann jedoch angesichts der Veränderungen, die diese in den letzten paar Jahren beispielsweise in der Chirurgie durch roboterassistierte Operationssysteme, im Wertpapierhandel durch den automatisierten Hochfrequenzhandel oder in anderen relativ klar umrissenen Bereichen erzeugt hat, kein Zweifel bestehen. Vermutlich geht das disruptive Potenzial der Künstlichen Intelligenz sogar noch einmal über das der neuen, im Vergleich zu ihr fast schon alt aussehenden Informations- und Kommunikationstechnologien hinaus. Denn während Letztere einen neuen Cyberspace geöffnet haben, verspricht die Künstliche Intelligenz durch die Verbindung von mechanischen mit informations- und softwaretechnischen Elementen, die digitale mit der analogen Welt mehr und mehr zu verschmelzen und dadurch eine ganz neue, cyber-physische Form der Realität zu erzeugen, der wir uns im nächsten Kapitel noch weiter nähern werden. Dieses Phänomen spricht stark dafür, dass von der Künstlichen Intelligenz in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine sechste lange Welle der Innovation ausgehen wird. Für diese Annahme gibt es noch einige weitere gute Gründe, die Klaus Schwab in seiner bereits eingangs erwähnten Studie in drei Punkten zusammengefasst hat, um die vierte von der dritten industriellen Revolution abzugrenzen. Erstens: „Geschwindigkeit“. Die Künstliche Intelligenz verbreitet

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sich anders als alle bisherigen Basisinnovationen nicht mit linearer, sondern mit exponentieller Geschwindigkeit. Das liegt daran, dass jede ihrer Anwendungen auf eine bereits stark vernetzte, digitalisierte Welt trifft und so ihrerseits leicht weitere neue, noch leistungsfähigere und noch intelligentere Anwendungen anregt. Zweitens: „Breite und Tiefe“. Die Künstliche Intelligenz basiert zwar auf der digitalen Revolution, verknüpft deren Errungenschaften aber mit neu entdeckten Prinzipien maschinellen Lernens. Dadurch ändert sie nicht nur, was und wie wir etwas tun können, sondern wir werden auch stärker denn je mit den Fragen konfrontiert, was uns als Menschen eigentlich ausmacht und von intelligenten Maschinen unterscheidet. Drittens und letztens: „Systemische Auswirkungen“. Die Verbreitung der Künstlichen Intelligenz verändert nicht einzelne, kleine Bereiche, sondern ganze Systeme, von Unternehmen, Branchen und Wirtschaftszweigen bis hin zu Gesellschaften und Staaten. All diese Punkte weisen in eine klare Richtung. Nichtsdestotrotz gilt natürlich auch im Fall der Künstlichen Intelligenz der Grundsatz, der aus Sicht der jeweiligen Zeitgenossen schon für alle langen Wellen der Innovation gegolten hat: Ob die derzeitigen Entwicklungen wirklich den Beginn einer neuen langen, die Welt disruptiv verändernden Innovationswelle darstellen und, wenn ja, wie diese dann genau aussehen und welche Auswirkungen sie im Einzelnen haben wird, wird sich erst im historischen Rückblick mit Gewissheit sagen lassen.

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4. Die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus Die Geschichte der industriellen Revolutionen ist auch die Geschichte des Kapitalismus. Zwischen der Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft und dem technologiegetriebenen Wandel des Industriezeitalters besteht eine enge, ja symbiotische Beziehung. Warum dem so ist, hat bereits der erste Teil dieser historischen Navigationshilfe kurz angeschnitten: Nur in einer marktwirtschaftlichen Umgebung lohnt es sich in ökonomischer Hinsicht, auf demografische Entwicklungen, soziale Veränderungen, Ressourcenknappheit, ökologische Katastrophen und sonstige Herausforderungen mit immer neuen technologischen Lösungen zu reagieren. Deshalb sind kapitalintensives Wirtschaften und technologischer Fortschritt so etwas wie Kompagnons, die sich seit der ersten industriellen Revolution Seit’ an Seit’ entwickeln und auf diese Weise innovationsgetriebenes Wachstum erzeugen.

China Gut beobachten lassen sich diese Zusammenhänge mit einem Seitenblick auf das Reich der Mitte. China hat seit den 1980er-Jahren einen spektakulären ökonomischen Aufstieg erlebt, der die oben erwähnte Große Divergenz nicht nur schrittweise immer weiter geschlossen hat, sondern nun sogar dabei ist, China zur führenden Wirtschaftsnation der Erde und damit das 21. Jahrhundert zum „chinesischen Jahrhundert“ zu machen. Dieser Aufstieg ist letztlich das Ergebnis eines unter Deng Xiaoping eingeleiteten Reformprozesses, der die kommunistische Ordnung des Landes behutsam für kapitalistische Formen des Wirtschaftens öffnete. Auch wenn es nach wie vor immer wieder stärkere Eingriffe seitens des Staates gibt, überlässt der offizielle Rahmen, den die Kommunistische Partei für wirtschaftliche Aktivitäten setzt, die Entscheidung über Erfolg und Misserfolg ökonomischen Handels weitgehend dem Markt. Bei dem sich auf der Basis dieser kapitalistischen Transformation vollziehenden Aufstieg der chinesischen Wirtschaft spielte die Globalisierung zweifelsohne eine wichtige Rolle, da das Land vor allem dank niedriger Lohnkosten enorm von der Entstehung einer weltweiten Arbeitsteilung in der industriellen Produktion profitierte. Mindestens genauso wichtig waren aber zuerst die Nachahmung und dann die immer stärkere eigenständige Entwicklung technologiebasierter Innovationen.

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7 Symbol für Chinas marktwirtschaftliche Öffnung: Propagandatafel in Shenzhen, einer der ersten von Deng Xiaoping eingerichteten Sonderwirtschaftszonen.

Man erkennt das nicht zuletzt an Chinas besonderem Platz in der fünften langen Welle der Innovation. Der zunehmende Erfolg, den chinesische Hersteller mit innovativen Produkten und Produktionsverfahren im Bereich der Informationstechnologie und Mikroelektronik seit etwa zwei Jahrzehnten feiern, hat den globalen Wettbewerb drastisch verschärft. Das nährt einen beharrlich wachsenden Antagonismus zwischen China und den alten Wirtschaftsmächten des Westens. Dieser Gegensatz wird durch offensive, zuweilen imperialistisch anmutende wirtschaftspolitische Großobjekte wie die Neue Seidenstraße weiter befeuert. Der globale Streit hat viele Facetten. So erzeugt das Thema Menschenrechte beziehungsweise deren Verletzung durch das Regime der Kommunistischen Partei Chinas regelmäßig beträchtliche Spannungen, wie jüngst etwa der diplomatische Boykott deutlich gemacht hat, mit dem viele westliche Staaten die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking belegt haben. Was die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt, geht es jedoch weniger um unterschiedliche Wert- und Weltvorstellungen. Schließlich gibt es in diesem für die Bestimmung der jeweiligen politischen Positionen so oft ausschlaggebenden Punkt aufgrund der kapitalistischen „Häutung“ Chinas nur noch begrenzt eine Konkurrenz der Systeme. Im Kern geht es vielmehr um die

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Frage, welche Weltregion sich im heraufziehenden Zeitalter der Künst­lichen Intelligenz als Zentrum innovationsgetriebenen Wirtschaftswachstums etablieren und aus diesem ökonomischen Erfolg das größte geopolitische ­Kapital schlagen kann.

Das kalte Herz Das chinesische Beispiel zeigt also, wie eng kapitalistische Marktwirtschaft, technologischer Fortschritt und innovationsgetriebenes Wachstum miteinander verflochten sind. Wer das Phänomen industrieller Wandel verstehen will, um sich auf dem Weg durch die vierte industrielle Revolution besser zu orientieren, muss sich folglich auch mit der evolutionären Dynamik des Kapitalismus auseinandersetzen. Zu diesem Zweck können wir uns einem Standardwerk zuwenden, das aus eben jener Feder stammt, die uns schon dabei geholfen hat, sicher durch die langen Wellen der Innovation zu manövrieren. In seinem 2019 veröffentlichten Buch Das kalte Herz untersucht Werner Plumpe sowohl die Entstehung des Kapitalismus in Großbritannien und den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert als auch dessen Weiterentwicklung in Westeuropa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert. Die Studie unterscheidet sich von vielen anderen historischen, aber auch soziologischen Werken über den Kapitalismus insofern auf angenehme Art und Weise, als sie weder als Kritik an noch als Loblied auf den Kapitalismus angelegt ist. Der 1954 geborene Plumpe, der als ehemaliger Anhänger der Kommunistischen Partei Deutschlands (bis 1989) und Preisträger des LudwigErhardt-Preises (2014) in seinem eigenen Leben alle Stationen vom Kapitalismuskritiker bis zum Fürsprecher der Sozialen Marktwirtschaft durchlaufen hat, tritt in seinem Alterswerk nicht als Richter auf, der die Vor- und Nachteile des Kapitalismus gegeneinander abwägt und dann ein Urteil fällt. Vielmehr betätigt er sich als Biograf, der den Lebenslauf des Kapitalismus von seinen Jugendjahren bis zur Gegenwart nachzeichnet und durchleuchtet. Dieser verschlungene Werdegang muss hier nicht noch einmal nacherzählt werden. Um ein besseres Verständnis von den Triebkräften der vierten industriellen Revolution zu gewinnen, macht es mehr Sinn, aus dem Fundus der Erkenntnisse, die Plumpe über das historische Werden der Marktwirtschaft zusammengetragen hat, einige besonders wichtige Beobachtungen über die evolutionäre Dynamik des Kapitalismus mit Blick auf die vierte industrielle Revolution gesondert hervorzuheben. Das gibt uns die Gelegenheit, wie unter einem Brennglas einige Dinge besonders klar umrissen zu erkennen, zum Bei-

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spiel, wie offen der Kapitalismus für politische Gestaltung ist. Und das zeigt uns wiederum, welche Hebel die Politik hat, um über die Co-Evolution von Kapitalismus und technologischem Fortschritt industriellen Wandel zu beeinflussen, und von welchen Instrumenten sie lieber die Finger lassen sollte.

Die andauernde Revolution Zunächst einmal gilt es festzuhalten: Den einen Kapitalismus gibt es nicht. Vielmehr existierten und existieren in Vergangenheit und Gegenwart viele verschiedene Formen von Kapitalismus. Diese teilen zwar gewisse Kernelemente, unterscheiden sich aber in ihrer konkreten Ausgestaltung unter Umständen stark. Der kanadische Politikwissenschaftler Peter A. Hall und der britische Ökonom David Soskice haben deshalb in einem 2001 erschienenen Sammelband gleichen Titels die Bezeichnung „Varieties of Capitalism“ geprägt. Die wichtigsten Merkmale, die alle Spielarten gemein haben, sind die Kapitalintensität der Produktion, die Preisbildung über den Markt statt über ein koordinierendes Zentrum, ökonomischer Erfolg beziehungsweise Misserfolg durch Marktselektion, Massenproduktion und Massenkonsum sowie Privateigentum und soziale Ungleichheit. Will man diese Merkmale zusammenfassen, lässt sich der Kapitalismus am ehesten als eine dezentrale Wirtschaftsordnung definieren, die sich durch eine große Zahl und Bandbreite mehr oder weniger autonomer Akteure auszeichnet, die über preisbildende Märkte zueinander in Beziehung treten und davon unterschiedlich stark profitieren. Das Besondere an dieser Art des Wirtschaftens ist aus historischer Sicht ihre große Wandelbarkeit. Seitdem der Kapitalismus Ende des 17. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika Fuß gefasst hat, entwickelt er sich fortwährend weiter. Auf die Ausprägung des industriellen Kapitalismus in den industriellen Revolutionen des späten 18. und langen 19. Jahrhunderts folgte erst der Siegeszug des Fordismus in der Konsumrevolution der 1920er-Jahre, dann die Ausbreitung des digitalen Finanzmarktkapitalismus und die Entstehung des Plattformkapitalismus in der seit den 1970er-Jahren den Cyberspace erschließenden Computerrevolution und nun, da Letztere geradewegs in die vierte industrielle Revolution mündet, der Aufstieg des grünen Kapitalismus, den wir noch genauer beleuchten werden. Diese Entwicklung zeigt ein ganz bestimmtes Muster. Der Kapitalismus erfindet sich parallel zu den durch den Wettbewerb schöpferischer Unternehmer ausgelösten langen Wellen der Innovation immer wieder neu. Plumpe nennt ihn deshalb eine „andauernde Revolution“:

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Wenn man so will, hat die kapitalistische Art des Wirtschaftens den grundstürzenden Wandel der materiellen Lebensgrundlage auf Dauer gestellt, und zwar auf bemerkenswerte Weise. Es gehört zu ihren evolutionären Eigenschaften, immer wieder tiefgreifende Umwälzungen der materiellen Produktion und der Güterversorgung zu ermöglichen, ja wahrscheinlich zu machen, wobei die Leistungsfähigkeit dieser Art des Wirtschaftens im Trend dauerhaft zunimmt.

Die Wachstumsraten der vergangenen 200 Jahre belegen diese Dynamik eindrucksvoll. Vor 1820 lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Westeuropa jährlich stets unter 0,15 Prozent. Bis 1870 stieg es auf 1,04 Prozent und bis 1914 auf 1,33 Prozent an. Danach ging es durch die Weltkriege und die Krisen der Zwischenkriegszeit bis 1950 auf 0,84 Prozent zurück. In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg es bis auf ein Niveau von 3,92 Prozent an. Bis 2003 näherte es sich mit 1,77 Prozent wieder dem langfristigen Wachstumsdurchschnitt an. Das Pro-Kopf-Einkommen verzwanzigfachte sich preisbereinigt zwischen 1600 und 2003 von 907 auf 20 597 Dollar. Diese spektakuläre Dynamik und der damit verbundene Wohlstandsgewinn waren und sind ein Spezifikum der kapitalistischen Marktwirtschaft. Keine andere Wirtschaftsordnung hat in der Moderne auch nur annähernd solche Wachstumswerte erzielt. Der Unterschied zu den sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks ist enorm. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gab es im Zuge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zwar in Osteuropa und der Sowjetunion ebenfalls hohe Wachstumsraten. Allerdings sackten diese auch relativ schnell wieder ab und erholten sich anschließend nicht mehr. 1973 lag das ProKopf-Einkommen in Osteuropa bei gerade einmal 5000 Dollar. Bis 2003 nahm es lediglich um 1500 Dollar zu und lag damit mehr als 19 000 Dollar unter dem im Westen.

Die Ökonomie der armen Leute Ausgelöst und getragen wird die einmalige Dynamik des Kapitalismus durch das situationsbedingte Zusammentreffen und anschließende Zusammenspiel jener Faktoren, die wir oben als die Kernmerkmale dieser Wirtschaftsordnung genannt haben. Ob eine kapitalistische Marktwirtschaft entsteht, prosperiert und sich unter verändernden Umständen immer wieder neu erfindet, hängt also „von einer bestimmten evolutionären Konstellation“ ab, wie Plumpe betont. Diese besteht in der Hauptsache aus „dezentralen Privateigentumsstruk-

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turen als Motoren der [ökonomischen] Variation, preisbildenden Märkten als Katalysatoren des Markterfolges und schließlich aus der politischen Stabilisierung dieser evolutionären Mechanismen“. Aufgrund dieses situativen und evolutionären Charakters ist der Kapitalismus entgegen der Annahmen fast aller seiner großen Kritiker von Karl Marx bis Thomas Piketty kein „System“, das an einem klar identifizierbaren Zeitpunkt vorsätzlich begründet wurde, ein vorherbestimmtes Ende hat und alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch die Erzwingung bestimmter sozialer Strukturen determiniert. Derartige Sichtweisen übersehen die dem Wesen des Kapitalismus innewohnende Flexibilität und greifen stattdessen das Gespenst einer statischen Marktwirtschaft an, die es in dieser Art nirgendwo je gegeben hat. Der Kapitalismus ist kein alle sozialen Sphären definierendes System und erst recht kein handlungsfähiges Subjekt, das dieses oder jenes mit einer gewissen, entweder guten oder schlechten Absicht tut. Aus historischer Perspektive ist er nicht mehr und nicht weniger, wie Plumpe gezeigt hat, als „eine unter besonderen, günstigen Bedingungen mögliche Koordinationsform ökonomischen Handelns, die sich durch ihre im Vergleich hohe ökonomische Effizienz auszeichnet“ und solange fortbesteht, wie ihre evolutionären Mechanismen respektiert werden. Die konkrete Ausgestaltung dieser Koordinationsform verändert sich ständig im Wechselspiel mit den technologischen Möglichkeiten und den politischen, rechtlichen, sozialen, kulturellen, ökologischen sowie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Motive der im Kapitalismus agierenden Akteure spielen bei dieser „ständigen Metamorphose“ jedoch keine Rolle. Denn in der kapitalistischen Marktwirtschaft hängt der Erfolg einer bestimmten ökonomischen Handlung allein von der Variations- und Selektionsdynamik des Marktes ab, für die wiederum alle Gesichtspunkte irrelevant sind, die keinen Einfluss auf Preis oder Zahlungsvermögen haben. Ob ein Unternehmer aus einer bestimmten technologischen Innovation Profit schlagen möchte, weil er habgierig ist oder im Glauben an die calvinistische Prädestinationslehre auf einen Platz im Himmel hofft, wie Karl Marx und Max Weber jeweils propagiert haben, ist in einer kapitalistischen Marktwirtschaft letztlich bedeutungslos. Jeder theoretische Ansatz, der von einem wie auch immer gearteten Systemcharakter des Kapitalismus und/ oder den angeblichen Motiven seiner Akteure ausgeht, verkennt daher schlicht das evolutionäre Wesen und damit die Funktionsweise des Kapitalismus. Dessen „kaltes Herz“ schlägt in der nüchternen Selektion über preisbildende Märkte. Anders gesagt: In der kapitalistischen Marktwirtschaft entscheidet

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allein die Performance am Markt darüber, ob sich eine bestimmte ökonomische Handlungsvariante durchsetzt oder nicht. Für deren politische, moralische oder sonstige Bedeutung ist der Markt blind. Er bestimmt allein nach dem Kriterium der ökonomischen Nützlichkeit. Diese Variations- und Selektionsdynamik ist unbarmherzig. Sie macht Scheitern am Markt zu einem unabdingbaren Bestandteil jeder kapitalistischen Wirtschaftsordnung – und damit auch all die sozialen Verwerfungen, die sich daraus ergeben, wie zum Beispiel die ungleiche Verteilung von Vermögen. Genau in dieser unerbittlichen Variations- und Selektionsdynamik liegt aber auch der Grund, warum der Kapitalismus seit seiner Entstehung eine größere Elastizität zur Lösung praktischer Probleme bewiesen hat als jede andere Wirtschaftsform. Der Kapitalismus macht zwar keinerlei Erlösungs- beziehungsweise Heilsversprechen einer besseren Welt, wie es etwa der Sozialismus mit der Idee einer klassenlosen Gesellschaft tut. Das „kalte Herz“ bietet aber als Reaktion auf demografische, soziale, technische oder ökologische Veränderungen einen zumindest in der bisherigen historischen Entwicklung „alles in allem effizienten Umgang mit materiellen Engpässen“, wie Plumpe resümiert. Und das ist gerade für die breite Masse der „kleinen“ Leute entscheidend. Denn diejenigen, die die Notwendigkeiten des täglichen Lebens nicht aus angehäuftem Reichtum heraus bestreiten können, sind – um günstige Waren zu erwerben, dadurch einen gewissen Lebensstandard halten und einer dafür ausreichend entlohnten Arbeit nachgehen zu können – auf Massenkonsum und Massenproduktion angewiesen. Eben diese Aspekte modernen Wirtschaftens hat bisher nur der Kapitalismus durch die effektive Ausnutzung von Skaleneffekten und die Optimierung der Angebotselastizität dauerhaft und ausreichend sicherstellen können. Insofern ist der Kapitalismus, wie Plumpe es auf den Punkt bringt, „von Anfang an stets eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen“ gewesen.

Die Rolle des Staates – Dos and Don’ts Die Geschichte hat allerdings auch gezeigt, dass das „kalte Herz“ nur schlagen, sprich: die Variations- und Selektionsdynamik des Marktes nur effizient funktionieren kann, wenn der Staat entsprechende institutionelle Voraussetzungen garantiert. Dazu gehört zuallererst das Privateigentum. Denn nur Privateigentum zwingt dazu, wirtschaftliches Handeln einem marktorientierten Nutzenkalkül zu unterwerfen und dabei Chancen und Risiken entsprechend abzuwägen. Ferner gehören zu dem institutionellen Rahmen, den der Staat ge-

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währleisten muss, damit der Kapitalismus seine Dynamik voll entfalten kann, eine ganze Reihe weiterer Faktoren. Die wichtigsten sind: die Freiheit der Märkte von politischer Intervention; solide öffentliche Finanzen, die mit einer moderaten Besteuerung auskommen und die Stabilität des Geldes gewährleisten; Rechtssicherheit, das heißt vor allem ausdifferenzierte Vorschriften im bürgerlichen Recht, die den Rechtsrahmen ökonomischer Handlungen klar definieren; und ein hoch entwickeltes Bildungswesen. Von daher gesehen entstand der Kapitalismus vor allem deswegen zuerst in Großbritannien und den Niederlanden, weil hier alle diese Bedingungen dank entsprechender staatlicher Maßnahmen bereits ausgangs des 17. Jahrhunderts zusammentrafen. Dadurch verbreiterte sich hier früher als im Rest Europas das Spektrum an ökonomischen Handlungsvarianten, von denen sich wiederum nur die am Markt erfolgreichen dauerhaft etablierten. Seitdem sich der Kapitalismus in den folgenden zwei Jahrhunderten überall in Westeuropa und Nordamerika ausbreitete und dabei neben den ersten beiden industriellen Revolutionen auch den Pauperismus und andere gesellschaftliche Missstände mit sich brachte, ist überdies deutlich geworden, dass der Staat sich nicht nur auf die Schaffung und Gewährleistung der notwendigen ökonomischen, monetären, rechtlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen für den Kapitalismus beschränken kann. Er muss vielmehr auch das soziale Umfeld der kapitalistischen Wirtschaft „stabilisieren“, das heißt, die sozialen Risiken abfedern, die Marktselektion und Konjunkturzyklen unweigerlich verursachen. Genau deswegen intensivierte sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die staatliche Sozialpolitik so weit, bis schließlich der moderne Sozialstaat mit seinen vielfältigen Absicherungen (Versicherungswesen, Rentenkasse, Arbeitslosenfürsorge, etc.) entstand. Der Staat spielt also für das Prosperieren der kapitalistischen Marktwirtschaft in vielerlei Hinsicht eine ganz zentrale Rolle. Das hat auch Implikationen für seine Möglichkeiten, industriellen Wandel zu beeinflussen. So wie sich die evolutionäre Logik des Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten entfaltet hat, besteht staatlicherseits die grundlegendste und gleichzeitig nachhaltigste Förderung industriellen Wandels und damit auch innovationsgetriebenen Wachstums in der Garantie der diversen, gerade angeführten Voraussetzungen kapitalistischen Wirtschaftens. Man kann diesen Zusammenhang auch abstrakter fassen. Unter kapitalistischen Bedingungen entscheidet das dezentral organisierte Privateigentum über das Ausmaß der wirtschaftlichen Handlungsvarianten. Das liegt daran, dass jeder Privateigentümer angesichts

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des n ­ üchternen Selektionsmechanismus des Marktes auf der Grundlage einer persönlichen Kosten-Nutzen-Kalkulation über sein Eigentum verfügt – es sei denn, es gibt allgemeinverbindliche Regeln, die ihn daran hindern. Beschränkt sich der Staat hingegen auf die Garantie der genannten Voraussetzungen, bewirken demografische, technologische, soziale, ökologische und sonstige Veränderungen der Umgebung, in der die kapitalistische Marktwirtschaft ihre evolutionären Mechanismen anwendet, dass es immer neue ökonomische Nutzungsvarianten oder – anders ausgedrückt – innovative Neuheiten am Markt gibt. Genau deswegen ist die Geschichte des Kapitalismus, wie Plumpe gezeigt hat, „auch und zunächst eine Geschichte eigentumskonstituierter Variabilität“, die mit Blick auf die Industrie wiederum eine Geschichte technologischer Innovation und innovationsgetriebenen Wachstums ist. Diese Geschichte wird so lange weitergehen, wie die evolutionären Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft respektiert werden. Das verlangt dem Staat eine gehörige Portion Selbstbeschränkung ab. Schließlich ist es für ihn ein Leichtes, durch entsprechende Gesetze und Verordnungen direkt in den Markt einzugreifen anstatt „nur“ dessen institutionellen Rahmen zu gewährleisten. Diese Disziplin zu üben, ist für die Politik hingegen alles andere als leicht. Denn wie sich kapitalistisches Wirtschaften konkret materiell realisiert und welche Folgen diese Ausformung hat, ist vollkommen offen. Daher besteht für die Politik stets die Versuchung, aus durchaus guten Absichten heraus – etwa zur Abflachung des Wohlstandsgefälles oder zur Sicherung gefährdeter Arbeitsplätze – mehr zu tun, als zur Gewährleistung der Variations- und Selektionsdynamik des Marktes nötig ist. Mit den Worten Plumpes gesprochen: Der größte „Risikofaktor“ für das Funktionieren des Kapitalismus und damit indirekt auch für innovationsgetriebenes Wachstum ist „eine prinzipienhafte Politik, die endgültige Lösungen auch dort anstrebt, wo [aufgrund der evolutionären Funktionslogik des Kapitalismus] nur zeitbedingte Übergangslösungen möglich sind“. An Aufforderungen, derart in den Markt zu intervenieren, fehlt es nicht. Man denke nur an die seit jeher lauten Rufe nach Herstellung einer wie auch immer definierten Verteilungsgerechtigkeit oder an die vielfältigen Appelle unserer Tage, aus ökologischen, sozialen oder anderen Gründen in Zukunft auf wirtschaftliche Genügsamkeit statt auf Wachstum zu setzen. Nähme sich die Wirtschaftspolitik solcher Aufforderungen ernsthaft an, würde das die Dynamik des Kapitalismus und infolgedessen auch innovationsgetriebenen Wandel geradezu abwürgen. Denn alle interventionistischen Ansätze würden in der

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e­inen oder anderen Form die Variationsmöglichkeiten ökonomischen Handelns beschneiden und/oder den Selektionsmechanismus preisgebundener Märkte durch politische Vorgaben ersetzen – ganz so, wie es der Merkantilismus und der Sozialismus in der Vergangenheit mit großem Misserfolg getan haben. Die evolutionäre Logik des Kapitalismus und damit der Hauptquell innovationsgetriebenen Wandels würden in jedem Fall zerstört, da „an die Stelle von privateigentumsgestütztem Handeln und Markterfolg […] die politische Entscheidung über das Zulässige und ethisch Begründbare“ träte, wie Plumpe unterstreicht. Ein solcher Ansatz könnte überhaupt nur von Erfolg gekrönt sein  – der Merkantilismus und der Sozialismus sind schließlich nicht zufällig gescheitert –, wenn es etwas gäbe, das weder in der Geschichte je existiert hat noch sich gegenwärtig in irgendeiner Form für die Zukunft abzeichnet: ein globales Wirtschaftsregime. Nur in einem weltweit verbindlichen System gäbe es nämlich keine internationalen Konkurrenzmechanismen, die in jenen Ländern und Regionen, die den Erfolg wirtschaftlichen Handelns nicht länger an die Selektionsdynamik des Kapitalismus bänden, den Markt mehr oder weniger rasch austrocknen und damit dort innovationsgetriebenen Wandel unprofitabel machen würden.

Finanzmarktkapitalismus Wie sehr politische Interventionen die evolutionäre Funktionsweise des Kapitalismus untergraben und dadurch Märkte pervertieren können, zeigt die jüngere Finanzgeschichte. Der seit den 1980er-Jahren im Rahmen der digitalen Revolution entstandene globale Finanzmarktkapitalismus steht vor allem wegen der durch ihn stark vergrößerten sozialen Ungleichheit im Zentrum der meisten zeitgenössischen Kapitalismuskritiken, so zum Beispiel in den Werken Thomas Pikettys. Dabei ist insbesondere seit den Schockwellen der Finanzkrise von 2008 einer der Hauptkritikpunkte die exorbitante Zunahme der weltweit gehandelten Finanzsummen und deren wachsende Diskrepanz zu den Umsätzen der Realwirtschaft. Die ökonomische Problematik dieser beiden Sachverhalte ist unbestreitbar. Der Kapitalismus an sich ist jedoch weder für den einen noch für den anderen wirklich verantwortlich. Schließlich konnte die durch den weltweiten Immobilienboom ausgelöste Spekulationsblase an den Finanzmärkten ja überhaupt nur so groß werden, weil die großen Finanzmarktakteure damit rechnen konnten, dass der Staat in den Markt eingreifen würde, um Pleiten zu verhindern, die

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gravierend negative Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft haben w ­ ürden. Und dieses Kalkül ging auf: Für alle Banken, die als too big to fail eingeschätzt wurden, setzten die betroffenen Regierungen 2008 durch Schuldengarantien und Staatshilfen den nüchternen Selektionsmechanismus des Marktes außer Kraft. Dadurch hielten sie an den Finanzmärkten ökonomisch wie sozial mitunter höchst bedenkliche Handlungsvarianten am Leben, die ohne diesen Eingriff die Finanzkrise wohl nicht überstanden hätten. Das Problem ist also nicht der Kapitalismus an sich, sondern das Abhängigkeitsverhältnis zu den Finanzmärkten, in das sich insbesondere die Staaten Europas und Nordamerikas aufgrund der starken Zunahme der öffentlichen Verschuldung seit den 1970er-Jahren begeben haben und das großangelegte Marktinterventionen wie die von 2008 aus Gründen der staatlichen Selbsterhaltung alternativlos macht. Plumpe spricht gar von einer „antikapitalistischen Lage“, die entstanden sei, „da autonome Variation und Selektion […] in den Augen vieler politischer Akteure ein zu großes Eskalationspotenzial enthalten“. Dass die Regierungen Westeuropas und Nordamerikas 2008 zu dieser Einschätzung kamen, ist aus vielerlei Gründen absolut nachvollziehbar. Man denke nur an das soziale Sprengpotenzial der vor allem in Südeuropa damals in Rekordhöhen schnellenden Jugendarbeitslosigkeit. Auf das Zusammenspiel von Privateigentum und Marktselektion – den evolutionären Wesenskern des Kapitalismus – setzte diese Entscheidung jedoch gerade nicht. Im Gegenteil: Sie beschränkte diese „Funktionslogiken, nachdem diese eben nicht automatisch das vollzogen haben, was politisch gewünscht war“.

Unberechenbarkeit und Stabilisation Zurückhaltung im Umgang mit den Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft fällt der Politik nicht zuletzt deswegen schwer, weil der Wandel, den diese Form des Wirtschaftens erzeugt, zwar fortwährend, aber unberechenbar ist. Diese Unberechenbarkeit liegt allerdings in der Natur der Sache. Da das Herz des Kapitalismus eine evolutionäre Selektionsdynamik ist, wird er sich zwangsläufig immer wieder neu konstituieren, jedenfalls so lange, wie die entsprechenden Mechanismen nicht blockiert werden. Welche konkrete Gestalt diese fortlaufende Erneuerung wo wann annimmt, lässt sich nicht planen. Der Staat kann darauf nur reagieren, und zwar mit einer fortlaufenden Anpassung der institutionellen Rahmenbedingungen, die er für die Marktwirtschaft setzt. Nicht darüber hinauszugehen, erfordert politischen Mut. Denn Selektion durch Markterfolg zu akzeptieren, heißt auch, in Kauf zu nehmen, dass Fir-

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men pleitegehen und Menschen ihre Arbeit verlieren. Derartiges Scheitern ist nämlich kein Fehler der kapitalistischen Marktwirtschaft, den man irgendwie abstellen könnte, sondern essenzieller Bestandteil ihrer Dynamik. Nur wenn ökonomische Handlungsvarianten auch fehlschlagen können und deswegen anschließend nicht weiter verfolgt, sondern durch neue, innovative Alternativen ersetzt werden, kann die effiziente Beseitigung materieller Engpässe über preisbildende Märkte überhaupt funktionieren. Der Misserfolg kann dabei verschiedene Gründe haben. So kann eine ökonomische Handlungsvariante beispielsweise aufgrund technologischer Innovationen oder einer Veränderung des Konsumverhaltens nicht länger profitabel sein. Sie kann aber auch Opfer einer Konjunkturkrise werden. Häufig besteht der Grund für Scheitern am Markt sogar in einer Kombination dieser Faktoren, da Rezessionen technologischen Wandel stimulieren, Boomphasen ihn dagegen für gewöhnlich retardieren. So wie das Scheitern gehört auch eine gewisse Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung zwangsläufig zum Kapitalismus. Ohne die Anhäufung von Kapital in den Händen bestimmter Privateigentümer kann eine auf Massenproduktion und Massenkonsum ausgerichtete Wirtschaft nicht funktionieren. Denn nur so steht genügend Kapital zur Verfügung, um fortwährend in die Aufrechterhaltung, Verbesserung und Ausweitung der Produktion zu investieren. Anders ausgedrückt: Kapitalintensives Wirtschaften ist nur möglich, wenn es große Vermögen gibt, von denen zumindest ein beträchtlicher Teil dem individuellen Konsum entzogen und stattdessen für Produktionszwecke vorgehalten wird. Im Umkehrschluss ist die Akkumulation großer Kapitalmengen somit auch im Kapitalismus nur dann gerechtfertigt, wenn dieses Kapital produktiv gebunden ist und – ganz calvinistisch – nicht allein dem privaten Vergnügen dient. Soziale Ungleichheit ist also deshalb ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus, weil sie der Aufrechterhaltung der produktiven Dynamik dient und dadurch innovativen Wandel gerade im besonders kapitalintensiven Sektor der Industrie erst möglich macht. Dieser Zusammenhang bedeutet jedoch nicht, dass auch Armut notwendigerweise zum Kapitalismus gehört. Im Gegenteil: Für eine auf Massenproduktion und Massenkonsum ausgerichtete Form der wirtschaftlichen Koordination ist Armut nicht nur nicht notwendig, sondern sogar schädlich, da sie die Anzahl an kaufkräftigen Konsumenten und damit die Nachfrage begrenzt. Eine marktfreundliche Politik, die die ganze Dynamik des Kapitalismus entfesseln möchte, um etwa industrielle Transformationsprozesse voranzu-

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treiben, umfasst daher auch Armutsbekämpfung. Diese kann auf vielfältige Art und Weise erfolgen, ohne die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus zu beeinträchtigen, wie die Sozialpolitik der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten seit Ausgang des 19. Jahrhunderts demonstriert hat. Von der Einrichtung adäquater Sozialleistungen bis hin zu einer Gestaltung des Steuersystems, die auf eine Umverteilung der nichtproduktiv gebundenen Vermögen setzt, ist aus Sicht des Marktes alles möglich. Entscheidend für die Verbesserung des Umfeldes, in dem sich die evolutionäre Dynamik des Kapitalismus entfaltet, ist nicht, wie Armut bekämpft wird, sondern dass Armut bekämpft wird. Geschieht das, geht es im Vergleich zu anderen, nichtkapitalintensiven wirtschaftlichen Koordinationsformen in der „Ökonomie der armen Menschen für arme Menschen“ durchschnittlich allen besser, wenn auch aufgrund der systemimmanenten sozialen Ungleichheit in bisweilen sehr unterschiedlichen Graden.

Das Dilemma der Politik Die Tatsache, dass Scheitern am Markt und soziale Ungleichheit essenzielle Bestandteile der evolutionären Funktionsweise des Kapitalismus sind, konfrontiert die Politik schon seit der Entstehung dieser Form des Wirtschaftens mit einem Dilemma. Will sie die Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft, die das Wohlstandsniveau in Westeuropa und Nordamerika in den vergangenen 200 Jahren so stark angehoben und dadurch die allgemeinen Lebensbedingungen so stark verbessert hat, am Laufen halten, muss sie eine ökonomische Variations- und Selektionsdynamik respektieren und fördern, die unter sozialen Gesichtspunkten in vielerlei Hinsicht problematisch ist. Insofern stellt die kapitalistische Marktwirtschaft immer auch die soziale Frage. Als Letztere im Laufe der industriellen Revolutionen des 19. Jahrhunderts durch die Entstehung der politisch organisierten Arbeiterschaft immer mehr Sprengkraft entwickelte, reagierte die Politik darauf mit der Einrichtung des Wohlfahrts- beziehungsweise Sozialstaates. Dieser federte die sozialen Risiken der kapitalistischen Marktwirtschaft ab, achtete aber gleichzeitig deren evolutionäre Mechanismen als effizienteste Funktionsweisen wirtschaftlicher Koordination. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich daraus in Deutschland die „Soziale Marktwirtschaft“. Deren Leitbild besteht darin, wie ihr Namensgeber – der Nationalökonom Alfred Müller-Armack – formulierte, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die wirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“, also „das

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Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs“ in Einklang zu bringen. Die Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft hat seit Gründung der Bundesrepublik nicht zuletzt gezeigt, dass der Sozialstaat für den Kapitalismus keine Bürde, sondern ein Gewinn ist. Der Sozialstaat kostet zwar viel Geld und kann deshalb – besonders, wenn er zu einer übermäßigen Verschuldung der öffentlichen Haushalte führt – die wirtschaftliche Entwicklung belasten. Grundsätzlich untergräbt er die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus jedoch nicht. Indem er ihre soziale Umgebung stabilisiert, ermöglicht er ihnen vielmehr, sich effizient, weil ohne größere, durch soziale Schieflagen verursachte Aufstände oder gar Revolutionen zu entfalten. Daher ist der komplexe Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, auch ein Beweis dafür, wie viel Gestaltungskraft der Kapitalismus der Politik lässt, um das in seinem Wirkungsbereich unentrinnbare Dilemma der sozialen Frage zu adressieren. Gerade in großen wirtschaftlichen Umbruchphasen wie der vierten industriellen Revolution ist es allerdings einfacher, diese Gestaltungskraft durch eine Skandalisierung der Ungleichheit oder eine Verzerrung der Funktionsweisen des Kapitalismus kleinzureden und so einen Systemwechsel zu propagieren, als sie zu nutzen. So hat bisher denn auch jede industrielle Revolution einen Höhepunkt der Kapitalismuskritik mit sich gebracht. Was es so schwierig macht, sich auf die evolutionäre Logik des Kapitalismus einzulassen, ist die oben beschriebene Unsicherheit, die mit dieser Form des Wirtschaftens zwangsweise verbunden ist. Um die Gestaltungskraft des Staates im Kapitalismus zu nutzen, müssen politische Entscheidungsträger diese Unsicherheit nicht nur akzeptieren, sondern zur Grundlage ihres Denkens machen. Denn nur so können sie Maßnahmen entwerfen und umsetzen, die sich der negativen Auswirkungen der Marktmechanismen annehmen, ohne die Wirkungsweise der Letzteren entscheidend zu beeinträchtigen und so die Dynamik der Wirtschaftsordnung insgesamt zu gefährden. Der Kapitalismus verlangt von der Politik also, ständig ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Das ist in demokratischen Systemen mit ihren langen Entscheidungsprozessen und vielfältigen Interessenvertretungen mitunter langsam und ermüdend. Eine erfolgversprechende Alternative gibt es aber nicht. Der Versuch des Sozialismus, die evolutionären Mechanismen der Variantenbildung und Selektion am Markt zu ersetzen durch politische Planentscheidungen und Rationierung, ist aus historischer Sicht grandios gescheitert. Die Folgen waren ökonomische

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Ineffizienz, Mangel, fehlende Dynamik, Dauerkrisen und schlussendlich der Untergang des sozialistischen Systems  – denn anders als der Kapitalismus setzt dieses eben nicht auf die Unberechenbarkeit des Marktes, sondern auf die Koordination durch ein politisches Zentrum, dem der Misserfolg dann auch folgerichtig angelastet werden kann. Insofern zeigt die Geschichte mit großer Eindeutigkeit, dass das „kalte Herz“ des Kapitalismus allen warmherzigen Versprechungen alternativer Wirtschaftsordnungen klar vorzuziehen ist, wie Plumpe bilanziert.

Grüner Kapitalismus Was der industrielle Kapitalismus angesichts der sich verschärfenden Klimakrise noch beweisen muss, ist, dass er auch den Übergang zu einer umweltfreundlichen Niedrigemissionswirtschaft bewerkstelligen kann. Dazu muss sich der Wert von Ökosystemen, Biodiversität, einer sauberen Atmosphäre und anderen Umweltfaktoren am Markt abbilden. Denn nur so besteht für die dortigen Akteure der Anreiz, klimaneutrale ökonomische Handlungsvarianten klimaschädlichen vorzuziehen, sprich: nachhaltig im Sinne der Umwelt zu wirtschaften. Dass diese Transformation tatsächlich möglich ist, zeigt sich in ersten Ansätzen bereits. Längst hat der Kapitalismus damit begonnen, sich grün einzufärben. Auf den Energie-, Mobilitäts- und Lebensmittelmärkten kämpfen Hersteller von Windkraftanlagen, E-Bikes und Bioprodukten mit Betreibern von Kohlekraftwerken, Autobauern und konventionellen Landwirten intensiv um Marktanteile. Dabei wenden sie die gleichen unternehmerischen Prinzipien an wie ihre klimaschädlichen Konkurrenten, verspricht ihnen der Markt doch nicht nur vielfältige Geschäftschancen, sondern auch enorme Wachstumsraten. Das liegt hierzulande nicht zuletzt daran, dass sich dank des wachsenden Umweltbewusstseins das Konsumverhalten zusehends ändert. Nachhaltige Produkte werden immer beliebter – in einigen Fällen sogar selbst dann, wenn sie teurer sind als ihre traditionellen Alternativen. Zudem verlagert sich der Konsum infolge des demografischen Wandels zumindest in den großen Industrienationen zusehends auf Dienstleistungen. Profiteure sind vor allem Bereiche wie Gesundheit, Pflege und Bildung, die im Allgemeinen deutlich klimafreundlicher sind als die Produktion der meisten Konsumgüter. Außerdem schafft die Politik verstärkt Rahmenbedingungen, die den grünen Umbau der Wirtschaft fördern. Eines der ambitioniertesten Beispiele ist der European Green Deal, ein 2019 vorgestelltes Maßnahmenpaket der Europäischen Union in den Bereichen

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8  „System Change, Not Climate Change!“. Klimaprotest, 2021.

Energieversorgung, Verkehr, Handel, Finanzmarktregulierung, Industrie sowie Land- und Fortwirtschaft, das die Netto-Emissionen von Treibhausgasen in Europa bis 2050 auf Null reduzieren soll. Bis zu einer fossilfreien Marktwirtschaft ist es freilich noch ein langer Weg. Dieser Tage scheinen die Rückschläge oft größer als die Fortschritte. So wird Deutschland seine selbstgesteckten Klimaziele bis 2030 laut Bundesumweltministerium sehr wahrscheinlich verfehlen. Angesichts solcher Versäumnisse bei gleichzeitig weltweit steigenden CO2-Emissionen, einer ununterbrochenen Erderwärmung und regelmäßigen Naturkatastrophen bezweifeln zahlreiche Klimaaktivisten, dass der Kapitalismus einen Klimakollaps abzuwenden vermag. Sie bezeichnen das Vertrauen auf marktwirtschaftliche Lösungen, die auf technologische Innovationen und Wachstum setzen, oft als naiv. Zur Begründung werden häufig zwei Punkte angeführt: Unendliches Wachstum sei aufgrund der Beschränktheit natürlicher Ressourcen unmöglich. Und selbst eine Ökologisierung des Kapitalismus führe zu keiner Klimagerechtigkeit, da auch dann jene im Zuge des Kolonialismus entstandenen Strukturen fortbestünden, die den globalen Süden zugunsten der modernen Industrienationen benachteiligten.

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Nicht wenige Klimaaktivisten halten den Kapitalismus deshalb für unvereinbar mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Die bekannte ­kanadische Kapitalismus- und Globalisierungskritikerin Naomi Klein veröffentlichte bereits 2014 ein Buch mit dem vielsagenden Untertitel. Capitalism vs. The Climate. Aufgrund dieses vermeintlichen Antagonismus, fordern einige Umweltschutzbewegungen einen grundsätzlichen wirtschaftlichen Systemwechsel. Am radikalsten geht dabei die 2018 in Großbritannien entstandene „Extinction Rebellion“ vor, die offen zu zivilem Ungehorsam aufruft, um von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weitreichendere Maßnahmen gegen den „Klima-Notstand“ zu erzwingen. Für viel Aufsehen sorgt dieser Tage auch das Aktionsbündnis „Letzte Generation“, dessen Anhänger mit Hungerstreiks im Berliner Regierungsviertel und Sitzblockaden auf Autobahnen dafür kämpfen, die Klimakatastrophe zu stoppen.

Unvereinbarkeit? Angesichts der schwerwiegenden und zahlreichen Umweltzerstörungen, die die industrielle Welt besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts angerichtet hat und die wir im nächsten Kapitel noch genauer unter die Lupe nehmen werden, ist es einfach, marktwirtschaftliche Ökonomie und ökologische Nachhaltigkeit für unvereinbar zu erklären. Letztlich baut man so aber einen künstlichen Gegensatz auf, der die nüchterne Funktionslogik des Kapitalismus verkennt. Eine prinzipielle Unvereinbarkeit besteht schlicht nicht. Denn die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus benachteiligen umweltfreundliche ökonomische Handlungsvarianten nicht automatisch. Ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Verhaltensweise dem Klima schadet oder es schont, spielt für die Selektionsdynamik des Marktes zunächst einmal keine Rolle. Sie entscheidet allein danach, welche Optionen sich gemäß des preisbezogenen Nutzenkalküls der Marktakteure rechnen und welche nicht. Dass genau das für die klimafreundlichen Alternativen bisheriger, auf der Verbrennung fossiler Energieträger basierender Praktiken zunehmend der Fall ist, dafür sorgt der wachsende Druck, den der Klimawandel auf den Markt ausübt. Dieser Druck ist zum einen finanzieller Natur. Der Klimawandel verursacht gigantische Kosten. Laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnten sich ohne stärkere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels die gesamtwirtschaftlichen Kosten bis zum Jahr 2050 allein in Deutschland auf 800 Milliarden Euro belaufen. Bis 2100 könnten sich diese Kosten gar auf 3000 Milliarden Euro erhöhen. Der sogenannte Stern-Report,

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den der ehemalige Chefökonom der Weltbank Nicholas Stern im Auftrag der britischen Regierung erstellte, hat bereits 2006 dargelegt, dass der Klimawandel jährlich ganze fünf Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes kosten wird, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Die jährlichen Kosten zur Stabilisierung der Treibhausgasemissionen liegen laut Stern dagegen nur bei einem Prozent des globalen Bruttoinlandproduktes. Kurzum: Die Bekämpfung des Klimawandels ist teuer; nichts gegen die globale Erwärmung zu tun und die daraus resultierenden Kosten zu tragen, ist aber noch viel teurer. Dementsprechend wird der Markt darauf reagieren. Zum anderen steigt angesichts der immer spürbareren Folgen des Klimawandels auch der gesellschaftliche und politische Druck auf den Kapitalismus, grüner zu werden. Klimaschutzbewegungen lassen in ihrem Protest nicht nach, sondern verschaffen sich durch ihre Beharrlichkeit immer mehr Gehör. Die wöchentlichen Demonstrationen von „Fridays for Future“ konnten nicht einmal durch die Coronapandemie langfristig gestoppt werden. Im März 2021 zählten einige der führenden Köpfe der Bewegung gar zu den Beschwerdeführern einer Klage, aufgrund derer das Bundesverfassungsgericht das Bundesklimaschutzgesetz für teilweise verfassungswidrig erklärte. Gleichzeitig erhöhen sich sowohl auf nationaler als auch auf internationale Ebene die Anstrengungen zum Klimaschutz. Der deutsche Klimaschutzplan 2050, das 555 Milliarden schwere Klimapaket der amerikanischen Biden-Administration, der European Green Deal, das Pariser Klimaschutzabkommen – all das sind Beispiele dafür, dass, selbst wenn ohne Frage noch viel mehr geschehen muss, auch auf politischer Ebene ein Umdenken stattfindet. Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die evolutionären Mechanismen des Kapitalismus entfalten, werden sich infolgedessen entsprechend anpassen, sprich: grüner werden. Genau dieser Druck, den der Klimawandel in finanzieller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht auf den Markt ausübt, macht grünes Marktverhalten für Produzenten, Konsumenten und Investoren zusehends zu einer rationalen Entscheidung. Denn Akteure im Kapitalismus tun Gutes für die Umwelt, falls und weil es sich rechnet. Klimaschonende ökonomische Handlungsvarianten verzeichnen mittlerweile so große Wachstumsraten, dass sie ihre fossilen Pendants – wenn der Staat entsprechend kluge Rahmenbedingungen setzt – innerhalb der nächsten 15 bis 20 Jahre vom Markt verdrängen könnten, wie der amerikanische Ökonom und Gründer der Foundation on Economic Trends ­Jeremy Rifkin in seinem 2019 erschienenen Buch Der globale Green New Deal vorrechnet. Der ehemalige Gouverneur der englischen

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Zentralbank Mark ­Carney betonte im selben Jahr in einem Interview mit der englischen Zeitung The Guardian, dass Unternehmen, die das Geschäftspotenzial grüner Marktentscheidungen ignorieren, „ohne Zweifel in Zukunft pleitegehen“ werden. Letztlich ist der grüne Kapitalismus alternativlos. Selbst eine gut gemeinte Ökodiktatur, in der der Staat zwecks radikalem Klimaschutz die Marktmechanismen aushebelt und individuelle Freiheitsrechte begrenzt, ist keine adäquate Alternative zur Selektionsdynamik des Kapitalismus. Das ökologische Gesamtsystem Erde ist so komplex und die Weltbevölkerung mit gegenwärtig knapp 8 Milliarden Menschen so groß, dass keine Form zentraler Lenkung vorstellbar ist, die die unterschiedlichen biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Planeten durch die Entwicklung entsprechender Techniken effektiv beaufsichtigen und schützen könnte. Dazu braucht es die Kreativität, den Unternehmergeist und – ja – auch die Gewinnorientierung der vielen, die miteinander am Markt konkurrieren und durch eben diesen Wettbewerb geeignete Lösungen durchsetzen und ungeeignete ausschalten. Der Wirtschaftsjournalist Johannes Pennekamp fasste Anfang 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen: Es gibt schlicht kein machtvolleres System, mit dem Erfindergeist und Tatkraft geweckt und ausgeschöpft werden. Nur wenn kreative Unternehmer für klimaschonende Innovationen finanziell belohnt werden, setzen sich diese auf der ganzen Welt durch und verbreiten sich in Windeseile. Nur wenn Marktmechanismen wie der Emissionshandel flächendeckend durchgesetzt werden, gibt es handfeste Anreize, Treibhausgase kostengünstig einzusparen. Und nur wenn Menschen das Gefühl haben, dass Umwelt-, Klimaschutz nicht nur aus den an manchen Stellen unvermeidlichen Verboten und Einschränkungen besteht, werden sie nicht auf die Barrikaden gehen.

Auch die vermeintlichen Grenzen des Wachstums sind kein überzeugendes Argument für einen Systemwechsel weg vom Kapitalismus. Die Behauptung, technologische Innovationen könnten das Aufbrauchen natürlicher Ressourcen allenfalls verlangsamen, ist historisch gesehen sogar spekulativer als das Vertrauen darauf, dass technologische Innovationen nach und nach in unterschiedlichen Bereichen Lösungen für das Problem der Ressourcenknappheit finden werden, beispielsweise durch die intelligente Nutzung regenerativer Rohstoffe.

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Wenn die langen Wellen der Innovation in den vergangenen 250 Jahren eines gezeigt haben, dann ist es doch das: Die Elastizität des Kapitalismus ist so groß, dass in seiner Umgebung immer wieder technologische Innovationen entstehen, die sich der großen Herausforderungen der Zeit annehmen und materielle Engpässe jedweder Art auflösen. Dazu kommt, dass Wachstum und Klimaschutz kein Widerspruch sind. Auch grüne, das Klima schonende ökonomische Handlungsvarianten erzeugen Wachstum – nur eben in anderen Bereichen als ihre konventionellen Pendants. Man denke nur etwa daran, wie vielfältig die wirtschaftlichen Pull-Effekte sind, die vom Ausbau der erneuerbaren Energien ausgehen. Tatsächlich kann Dekarbonisierung ein Impulsgeber für die Wirtschaft sein. So konnte Schweden seine Treibhausgasemissionen seit dem Jahr 2000 um 21 Prozent senken und gleichzeitig seine Wirtschaftsleistung um 31 Prozent steigern. In der Tat hat, „wer Ökologie und Ökonomie als natürliche Feinde betrachtet, […] ein völlig falsches Verständnis von Wachstum“, wie die Wirtschaftsjournalistin Dorothea Siems 2019 in der Zeitung Die Welt pointiert schrieb. Wachstum entsteht dann, wenn jeder Einzelne, jedes Unternehmen, jeder Staat nach wirtschaftlicher Verbesserung strebt. Und das geht eben nur dann, wenn sie sich als Akteure am Markt an veränderte Verhältnisse anpassen – zum Beispiel an politische Zielvorgaben zum Klimaschutz, steigende Kosten für Klimawandelfolgeschäden oder klimabewussteres Konsumverhalten. Genau deswegen hat sich die kapitalistische Marktwirtschaft in ihrer Geschichte ja immer wieder gehäutet. Wachstum ist also nicht das natürliche Gegenteil, sondern ein mögliches, ja wahrscheinliches Resultat von Klimaschutz. Das Argument, sich vom Kapitalismus aus Gründen der globalen Klimagerechtigkeit abzuwenden, ist ebenfalls kurzsichtig. Natürlich ist die globale Wirtschaftsordnung vom Erbe des zweifellos von kapitalistischen Interessen getriebenen Kolonialismus geprägt. Die vom Kapitalismus getragene Globalisierung zu verdammen, ist aber keine tragfähige Lösung, um benachteiligende Strukturen zu überwinden und eine gerechtere Welt zu schaffen. Im Gegenteil: Auf Wachstum zu verzichten und die globale Arbeitsteilung zugunsten einer Regionalisierung der Wirtschaft aufzugeben, würde auf der ganzen Welt zu einem dramatischen Einbruch des Wohlstandsniveaus führen. Auch für die ärmsten Regionen der Welt ist eine Rückkehr in die Zeit vor dem industriellen Kapitalismus nicht erstrebenswert. Niemandem ist geholfen, wenn alle ärmer werden. Das Ziel muss vielmehr mit den Worten Ludwig Erhards lauten: „Wohlstand für Alle“, und zwar weltweit. Erreichen wird man das jedoch nicht, indem

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man sich vom Kapitalismus abwendet, sondern nur, indem man die Menschen in ärmeren Ländern durch die Förderung entsprechender Strukturmaßnahmen dazu ermächtigt, dessen evolutionäre Dynamik für sich zu nutzen. In diesem Sinne ist die grüne Häutung des Kapitalismus nicht zuletzt eines: ein Zukunftsversprechen, das sich an alle Menschen auf der Welt richtet und sie dazu auffordert, Lösungen für den Klimawandel zu finden, die ihnen neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnen und dadurch ihren Wohlstand mehren können anstatt ihn zu gefährden.

Zukunftsversprechen zum Preis der Unsicherheit Die grüne Transformation des Kapitalismus wird nicht ablaufen können ohne neue Verteilungskämpfe, die ihrerseits wieder neue Verlierer hervorbringen werden. In dieser Hinsicht darf man sich nichts vormachen. Ungleichheit und Scheitern am Markt liegen nun einmal in der evolutionären Logik des Kapitalismus. Und diese gilt auch für neue, ökologischere Handlungsvarianten. Das Herz des Kapitalismus bleibt kalt, sonst kann es nicht schlagen. Es ist daher schlicht unehrlich, zu propagieren, der grüne Kapitalismus sei eine Art Wunderlösung, die keine Kosten und Verlierer hervorbringen werde. Genauso falsch ist es aber, einer Ergrünung des Kapitalismus mit Verweis auf dessen gleichbleibende Selektionsdynamik keine Chance zu geben. Der grüne Kapitalismus kann sein gerade erläutertes Zukunftsversprechen nämlich durchaus einlösen, und zwar dann, wenn die Verlierer entsprechend entschädigt werden  – im Idealfall sowohl innerhalb eines Staates oder der Europäischen Union als auch weltweit. Diesbezüglich stehen die großen Industrienationen in der Pflicht, entsprechende Zielvorgaben zu formulieren, das heißt staatliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Klimaschutz, Marktwirtschaft und Gerechtigkeitsfragen nicht gegeneinander ausspielen, sondern zusammendenken und so dafür sorgen, dass der Kapitalismus mehr ökologische und soziale Parameter in seine evolutionären Mechanismen einbaut. Aus empirischer Sicht spricht jedenfalls nichts dagegen, dass sich die kapitalistische Marktwirtschaft so, wie sie sich auch auf die Ausformung des modernen Sozialstaates eingestellt hat, auch an strengere Umweltschutzstandards, eine höhere CO2-Bepreisung oder umfangreichere Fair-Trade-Richtlinien anpassen kann. Eben dies haben die Organisations- und Managementwissenschaftler Christopher Wright und Daniel Nyberg in einer Studie über „kreative Selbstzerstörung“ beziehungsweise Erneuerung von Unternehmen angesichts des Klimawandels 2015 gezeigt.

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Am Reißbrett planen lässt sich die grüne Häutung des Kapitalismus freilich nicht. Genau wie alle Transformationen dieser wirtschaftlichen Koordinationsform vor ihr muss sie auf die dynamische Interaktion der Kräfte am Markt statt auf zentrale staatliche Lenkung setzen. Der Kapitalismus kommt zum Preis der Unsicherheit. Das ist wohl der eigentliche Grund, warum viele Klimaaktivisten ihn ablehnen. Der Kapitalismus macht keine Versprechungen. Insbesondere verspricht er nicht von vorneherein jene absolute Sicherheit, die sich eine junge Generation angesichts der existenziellen Bedrohung des ganzen Planeten durch die Klimakrise so eindringlich und so nachvollziehbar wünscht. Eben wegen der in seiner evolutionären Dynamik angelegten Unsicherheit beziehungsweise Unvorhersehbarkeit hat der Kapitalismus es in der Geschichte der Neuzeit jedoch besser geschafft als alle anderen, Heilsversprechen machenden Wirtschaftsformen, Wachstum zu generieren, materielle Engpässe zu beheben und Lösungen für demografische, soziale und sonstige Probleme zu finden. Es gibt keinen überzeugenden Grund, warum dies bezüglich der großen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit anders sein sollte.

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Zweiter Orientierungspunkt: Was treibt industriellen Wandel an? Der zweite Teil dieser historischen Navigationshilfe hat gezeigt, welche unterschwelligen Dynamiken industriellen Wandel im Kontext der modernen Wirtschaftsgeschichte antreiben. Zwei Faktoren, die schon die industriellen Revolutionen der Vergangenheit maßgeblich geprägt haben, spielen auch heute eine zentrale Rolle: 1. Die historische Entwicklung der modernen Wirtschaft vollzieht sich in technologischen Innovationsschüben. Seit der ersten industriellen Revolution gab es davon insgesamt fünf Stück. Die bisher letzte lange Welle der Innovation setzte in den 1980er-Jahren mit der Verbreitung der Mikroelektronik sowie der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ein. Der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz markiert dieser Tage sehr wahrscheinlich den Beginn einer neuen, sechsten langen Welle der Innovation. 2. Die Dynamik des Kapitalismus wird von den evolutionären Mechanismen der Variation und Selektion an preisbildenden Märkten bestimmt. Eine zurückhaltende Politik, die diese Mechanismen respektiert und laufend die institutionellen Rahmenbedingungen dafür schafft, dass sie sich störungsfrei entfalten können, fördert technologische Innovationen, industriellen Wandel und wirtschaftliches Wachstum. Beim Treffen der entsprechenden Maßnahmen muss die Politik stets ökonomisches Leistungsvermögen und soziale Sicherheit gegeneinander abwägen. Gegenwärtig ist der Kapitalismus dabei, seine evolutionäre Funktionslogik um ökologische Parameter zu erweitern. Für eine wirksame Bekämpfung des Klimawandels muss diese grüne Häutung des Kapitalismus weiter vorangetrieben werden. Eine gleichwertige Alternative dazu gibt es nicht.

Diese beiden Triebräder industrieller Revolutionen sind eng miteinander verzahnt. Technologische Innovationen setzen sich nur dann flächendeckend

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Zweiter Orientierungspunkt: Was treibt industriellen Wandel an?

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durch und entfalten nur dann ihr volles Veränderungspotenzial, wenn sie in einer wirtschaftlichen Umgebung entwickelt und vermarktet werden, die es zu einer lohnenswerten ökonomischen Handlungsvariante macht, praktische Probleme durch neue Technologien zu lösen. In der Geschichte der Neuzeit hat das bisher einzig und allein der Kapitalismus mit großer Regelmäßigkeit geschafft. Kapitalistische Marktwirtschaft und technologische Innovationen bilden daher einen zweitaktigen Motor, der die industrielle Transformation der Welt seit gut 250 Jahren am Laufen hält und gerade einmal wieder besonders kraftvoll antreibt. Der so erzeugte Schub ist dabei immer wieder so stark, dass er die Grenzen der Wirklichkeit verschiebt. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat er gar ein neues Erdzeitalter eingeläutet: das Anthropozän. Momentan öffnet er zudem eine ganz neue cyber-physische Realität. Diesen beiden Phänomenen wird sich der dritte und letzte Teil dieses Buches nun genauer zuwenden.

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TEIL III Der Rahmen der Realität

Im dritten Teil dieses Buches erfahren Sie, − wie sich industrieller Wandel zur Wirklichkeit verhält, − was das Verhältnis von Mensch und Natur zu einer komplexen Machtbeziehung macht, − wodurch der Mensch Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Naturkraft geworden ist, − warum wir daher in einer neuen Epoche der Erdgeschichte leben, − wie dieses Zeitalter des Anthropozäns den Planeten überfordert, − weshalb und wie wir deswegen die Geschichte neu organisieren müssen, − welche Möglichkeiten der Mensch hat, die weitere Entwicklung des Anthropozäns zu beeinflussen, − warum Zeit und Raum seit der ersten industriellen Revolution zusammenschrumpfen, − wie die vierte industrielle Revolution diese beiden Dimensionen der analogen Welt zunehmend ganz aufhebt, − weshalb dabei eine neue cyber-physische Realität entsteht − und welche Herausforderungen diese immer stärker heraufziehende Wirklichkeit mit sich bringt.

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Die vierte industrielle Revolution vollzieht sich in einem komplexen Gefüge aus unterschiedlichen Teilwirklichkeiten, die sie ihrerseits weiter verändern wird. Durch die Intensivierung industrieller Umwelteingriffe ist die Erde spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts in ein neues geologisches Zeitalter getreten: das Anthropozän. In dieser Epoche ist der Mensch zu einer Naturkraft geworden, die die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse des Erdsystems verändert und dadurch die kulturelle Wirklichkeit seiner eigenen Spezies mit der planetarischen Wirklichkeit der Erde verschmilzt. Erstmals überhaupt in den Jahrmillionen seit Entstehung der Erde haben sich infolgedessen die vorher auf ganz unterschiedlichen Zeitskalen operierenden Entwicklungslinien der menschlichen und geologischen Geschichte heute miteinander verflochten. Dazu kommt noch eine weitere Realitätsverschiebung. Der industrielle Wandel hat im Laufe des Anthropozäns die beiden grundlegenden Dimensionen der analogen Welt verändert, die für den Großteil der Geschichte die einzige Umgebung konstituiert hat, innerhalb derer Menschen agiert haben. Seit der ersten industriellen Revolution sind Raum und Zeit schrittweise immer weiter zusammengeschrumpft. Gegenwärtig sorgt die verstärkte Verbindung von mechanischen mit informations- und softwaretechnischen Elementen in allen Lebensbereichen dafür, dass die analoge mit der digitalen Welt zusehends verschmilzt. Dadurch entsteht eine ganz neue, cyber-physische Wirklichkeit, in der Raum und Zeit so gut wie ganz aufgehoben sind. Genau wie das Anthropozän insgesamt stellt uns diese Umformung des Realitätsrahmens, in dem wir leben, vor riesige Herausforderungen. Wie diese bewältigt werden können und welche Zukünfte sich dabei öffnen, wird stark davon abhängen, in welche Richtung wir die vierte industrielle Revolution lenken werden.

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5. Das Zeitalter des Anthropozäns Der industrielle Wandel der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte hat den Menschen zu einer Naturkraft gemacht, die in die Atmosphäre, die Landoberfläche, die Ozeane, die Küstenzonen und in alle anderen Teile des geophysischen Systems Erde auf noch nie dagewesene Art und Weise eingreift. Spätestens seit den 1950er-Jahren hat sich so ein neues Kapitel der Erdgeschichte geöffnet, in dem der Mensch erstmals die Hauptrolle des Erdveränderers spielt: das Anthropozän.

Natur und Macht Der Mensch lebt in und mit der Natur. Um zu überleben, entnimmt er ihr Ressourcen. Dabei konkurriert er mit zahllosen anderen Lebewesen, die dasselbe tun. Schon seitdem sich die ersten Vertreter des Homo sapiens vor rund 300 000 Jahren entwickelten, ist ihre Beziehung zur Natur deshalb wesentlich für die kulturelle Wirklichkeit ihrer Spezies. Von Beginn an hat der Mensch versucht, wie es der göttliche Auftrag im Schöpfungsbuch Genesis formuliert, „sich die Erde Untertan zu machen“, sprich: der Natur so viele Ressourcen zu entnehmen und sich seine Existenz dadurch so angenehm zu machen, wie es seine Möglichkeiten zulassen. Seit der ersten industriellen Revolution hat sich die Beziehung zwischen Mensch und Natur jedoch fundamental verändert. Die Erfindung der Dampfmaschine hat den Menschen erstmals in die Lage versetzt, die Natur durch übernatürliche, automatisierte Kräfte zu zwingen. Anders gesagt: Die mechanische Nutzbarmachung fossiler Energieträger hat dem menschlichen Streben nach Ausbeutung der Natur völlig neue Maßstäbe eröffnet. Der amerikanische Umwelthistoriker Daniel Headrick fasst diese neue Phase im Verhältnis zwischen Mensch und Natur in seiner 2021 auf Deutsch erschienenen globalen Umweltgeschichte Macht Euch die Erde untertan mit Blick auf jenen Dreiklang aus technologischen Innovationen, Kapitalismus und industriellem Wandel zusammen, von dem im zweiten Teil dieses Buches bereits die Rede war:

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Teil III – Der Rahmen der Realität

Der Zugang zu Lagerstätten von fossilen Brennstoffen vervielfachte die Energie, die den Menschen zur Verfügung stand. Der Kapitalismus förderte die Konzentration von Arbeit und Wohlstand, um die Naturausbeutung zu maximieren. Das Entwicklungsstreben des 20. Jahrhunderts kombinierte die Macht des Staates mit der von Kapital und Industrie, um den Menschen immer größere Macht bei ihrem Versuch zur Beherrschung der Natur zu geben. Das Ergebnis waren Staatswesen und Volkswirtschaften, die auf unbegrenztes Wachstum, und Gesellschaften, die auf grenzenlosen Konsum ausgerichtet waren. Angesichts dieser zunehmenden Macht des Menschen über die Natur wirken nachhaltige Naturnutzung, Naturbewahrung und Umweltbewusstsein wie Rückzugsgefechte zur Rettung dessen, was von der Natur noch übrig ist. Mit der globalen Erwärmung beginnt menschliches Handeln nun die Zukunft der Menschheit ebenso zu bedrohen wie den Rest der Natur.

Umwelthistoriker haben diese Geschichte der Mensch-Natur-Beziehung seit der ersten industriellen Revolution lange Zeit entlang sehr widersprüchlicher Denkschablonen erzählt. Auf der einen Seite standen ökopessimistische Narrative der schonungslosen Ausbeutung und der vollkommenen Zerstörung der Natur durch den Menschen. Auf der anderen Seite gab es revisionistische Studien, die den Menschen sowie die industrielle Erschließung natürlicher Ressourcen nur als eine von vielen temporären Erscheinungen im immerwährenden Wandel der Natur beschrieben. Ein anderer wichtiger Gegensatz bestand zwischen jenen, die das Leben von Urvölkern als einen harmonischen Einklang mit der Natur idealisierten, und denen, die sich darauf versteiften, dass etwa die Verschmutzung der Atmosphäre, die Zerstörung von Wäldern, die Ausrottung von Arten und die Vergiftung von Flüssen, Ozeanen und Böden nichts Neues seien, weil es solche Umwelteingriffe durch den Menschen schon im vorindustriellen Zeitalter stets in der einen oder anderen Form gegeben habe. Diese schablonenartigen Ansätze gibt es in der Umweltgeschichte zwar vereinzelt auch heute noch. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat aber eine große Zahl ausgezeichneter Arbeiten aus einer globalen Perspektive heraus gezeigt, dass die Geschichte der Mensch-Natur-Beziehung gerade im Hinblick auf das Industriezeitalter sehr viel komplexer ist. Es muss hier genügen, zwei besonders wichtige Werke exemplarisch zu nennen. Der Bielefelder Umwelt- und Technikhistoriker Joachim Radkau hat pünktlich zur Jahrtausendwende unter

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dem Titel Natur und Macht eine Zusammenschau seiner wissenschaftlichen Tätigkeit veröffentlicht, die schnell zum viel gepriesenen Standardwerk geworden ist. Darin kritisiert er die beschriebenen Denkschablonen eingangs scharf, um sie dann durch ein zwischen verschiedenen Weltregionen und -epochen ständig hin- und herwanderndes Narrativ Stück für Stück zu entkräften. So zeigt Radkau etwa, dass die Menschheit im 19. Jahrhundert eben nicht „arglos in die Industrialisierung [hineintappte], ohne von den unerwünschten Folgewirkungen [auf die Natur] eine Ahnung zu haben“. Vielmehr bildete sich, sobald „die Dampfmaschine mit ihrer Explosionsgefahr und ihrem Lärm und Qualm signalisierte […], daß jetzt etwas Beunruhigendes neuer Art auf die Menschheit zukam“, dank vielfältiger, mitunter sehr mitgliederstarker Umweltbewegungen ein differenziertes Umweltbewusstsein heraus. Beispielhaft dafür ist die Hygienebewegung. In diesem teilweise sogar über die Landesgrenzen hinweg operierenden Netzwerk setzten sich im 19. Jahrhundert überall in Westeuropa Kommunalpolitiker, Mediziner und Ingenieure, „getragen von einem Ethos und einer Begeisterung, die sich bis zum Fanatismus steigerten“, intensiv mit der Boden- und Wasserverunreinigung, der Seuchengefahr, der Luftverschmutzung und den anderen Umweltschäden auseinander, die die Industrialisierung verursachte. Zwanzig Jahre nach Radkau hat Daniel Headrick unser Bild von der historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur in seiner oben erwähnten globalen Umweltgeschichte weiter differenziert. Insbesondere hat er darauf aufmerksam gemacht, dass „die Beziehung des Menschen zur Umwelt keine Einbahnstraße ist“. Der Mensch hat die Natur in der Geschichte eben nicht nur ausgebeutet – und das seit der Erfindung der Dampfmaschine in industriellem Umfang –, sondern die Natur hat sich auch immer wieder „gewehrt“. Der menschlichen Einwirkung auf die Natur stand stets die Einwirkung der Natur auf den Menschen und die von ihm geformten Zivilisationen gegenüber. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei schon immer „Naturkatastrophen, die die wachsende Macht des Menschen über die Natur unterbrochen (und manchmal umgekehrt) haben“. Wichtige Beispiele für das Industriezeitalter sind neben regelmäßigen Flutkatastrophen Vulkanausbrüche wie die schon erwähnte Eruption des indonesischen Tambora, die 1815 zum Versiegen der ersten langen Welle der Innovation beitrug, Dürren und Stürme, die in den 1930erJahren die Great Plains der USA zur nahezu unbewirtschaftbaren „Dust Bowl“ machten und dadurch die Weltwirtschaftskrise verstärkten, und Erdbeben wie jenes, das 1906 weite Teile von San Francisco zerstörte und die Versicherungs-

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branche weltweit in eine tiefe Krise stürzte. Zu solchen „natürlichen“ Ereignissen dazu kommen „unvorhergesehene und unerwünschte Nachwirkungen menschlichen Handels“, wie die Versalzung und Vernässung von Böden, die Versauerung der Ozeane, die Verwandlung von Krankheiten in Pandemien wie in den Fällen der Spanischen Grippe und von Covid-19 sowie der anthropogene Klimawandel. Kurzum: „Die Natur ist kein passives Opfer“, wie Headrick betont, „sondern besitzt Handlungsfähigkeit und wird in der Umwelt der Zukunft ebenso eine Rolle spielen wie in der Vergangenheit“. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur ist also seit jeher ausgesprochen komplex. Einerseits strebt der Mensch mithilfe des Einsatzes technologischer Hilfsmittel danach, sich die Erde zu unterwerfen, andererseits leistet die Natur in der Form von plötzlichen Schocks oder sich langsam aufstauenden Nebenwirkungen menschlicher Aktivität Widerstand. Die Geschichte des Industriezeitalters ist deswegen nicht zuletzt die Geschichte davon, wie sich diese Machtbeziehung durch die Potenzierung technologischer Möglichkeiten zum Eingriff in die Natur immer stärker ausgeprägt und verschoben hat.

Umwelt, Kultur, Wirklichkeit Um die Dynamik der Machtbeziehung zwischen Mensch und Natur besser zu verstehen, macht es Sinn, die Umwelt als Teil der kulturellen Wirklichkeit zu untersuchen, in der sich der Mensch bewegt. Aus geschichtlicher Perspektive hat das zum Beispiel der Frühneuzeithistoriker Wolfgang Behringer getan, und zwar mit Blick auf den gegenwärtig wohl wichtigsten Aspekt dieser Machtbeziehung. Seine 2007 erstmals veröffentlichte Kulturgeschichte des Klimas, die mittlerweile nicht weniger als zehn Auflagen aufzuweisen hat und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist, unternimmt eine wahre Tour de Force durch die Erd- und Menschheitsgeschichte. Dabei macht Behringer besonders zwei Dinge deutlich. Erstens haben sich die klimatischen Bedingungen seit der Entstehung der Erde immer wieder gewandelt. Und zweitens haben sich seit dem Aufkommen des Menschen die verschiedensten Gesellschaften immer wieder mit Erfolg an diese Klimaveränderungen angepasst. Ein besonderes Augenmerk legt Behringer auf die sogenannte Kleine Eiszeit, das heißt auf die relativ kühle Klimaperiode, die sich von Anfang des 15. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein erstreckte. Das liegt zum einen daran, dass es sich dabei um die „einzige Klimakrise [handelt], die gut aus den Quellen rekonstruierbar“ ist. Zum anderen sieht Behringer die frühneuzeitliche Klimakrise „als Testlauf für die Globale Erwärmung“ unserer Tage, da man

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aus ihr lernen könne, „dass bereits geringe Veränderungen des Klimas zu enormen sozialen, politischen und religiösen Erschütterungen führen“. So umfassten die Folgen der Kleinen Eiszeit laut Behringer nicht nur die Suche nach Sündenböcken, die in der Hexenverfolgung ihren traurigen Höhepunkt fand, und eine reflexive Sündendiskussion, sondern auch zahllose praktische Anpassungen, von der Bauweise von Häusern bis zur Art der Kleidung. Bewältigt wurde die Klimakrise der Kleinen Eiszeit in Behringers Augen schließlich erst durch ein anderes vielschichtiges Phänomen, nämlich die Industrialisierung. Diese habe den Menschen zumindest „scheinbar von Kräften der Natur“ abgekoppelt und dadurch „unsere moderne Welt zum Ergebnis“ gehabt. Behringer beschreibt die Industrialisierung also nicht als eine der Hauptursachen der globalen Erwärmung, sondern als „Befreiung der Menschen von Hunger“ und sonstigen durch die Natur gesetzten Einschränkungen. Diese narrative Entscheidung ist Teil einer Argumentation, die seine Kulturgeschichte des Klimas höchst ambivalent macht. Auf der einen Seite ist es in Zeiten hoch emotionalisierter, apokalyptische Szenarien aufrufender Klimadiskurse durchaus sinnvoll, wie der Münchner Kulturhistoriker Uwe Lübken in einer Rezension schreibt, mit Blick auf die gesamte Erdgeschichte „darauf hinzuweisen, dass langfristige und zum Teil gravierende Temperaturänderungen ebenso normal sind wie der Anstieg und das Absinken von Meeresspiegeln, das Entstehen und Verschwinden von Gletschern oder das Auftreten von Dürrephasen“. Von daher stellt Behringer völlig zu Recht klar, dass wir geologisch gesehen nach wie vor in einer Eiszeit leben, die „in der Geschichte unseres Planeten […] ein Ausnahmezustand“ ist, da es „während mehr als 95 % der Erdgeschichte […] hier kein permanentes Eis [gab]“. Dementsprechend sollte man ungeachtet dessen, was ein heißeres Erdklima für das menschliche Leben bedeuten würde, nicht vergessen, dass „statistisch gesehen Warmzeiten das charakteristische Klima der Erde [sind], also Zeiten, in denen es sehr viel wärmer war als heute“. Auf der anderen Seite leitet Behringer aus seiner historischen Darstellung jedoch ein Plädoyer für „Gelassenheit“ im Umgang mit der heutigen Klimakrise ab. Dabei wird er unverhohlen politisch – und bleibt selbst alles andere als gelassen. Alle, die die Zukunft der Erde ob des anthropogenen Klimawandels pessimistischer einschätzen als er, brandmarkt er als unseriöse, moralisierende „Priester des Bestehenden“. Besonders klagt er „die Ideologen der Schuldkultur“ an, die „nicht nur Reue und Buße, sondern Strafen im Namen der Opfer des Klimawandels“ verlangten und die entsprechenden Maßnahmen, wenn nötig, „mit Hilfe einer ökostalinistischen Weltregierung“ umsetzen wollten. Dabei

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wendet er sich explizit gegen Forderungen, Industriestaaten beim Kampf gegen den Klimawandel stärker zu belasten als andere Nationen. Seine Begründung: „Jeder Erdenbewohner: der südafrikanische Buschmann, der mit Hilfe von Buschfeuern Land rodet oder jagt, ebenso wie der argentinische Großfarmer, dessen Rinder Methan produzieren, jeder Reisbauer auf Bali“, sie alle gehörten grundsätzlich „in dieselbe Kategorie der Klimasünder“ wie „der chinesische Banker, der in einem klimatisierten Büro Finanzgeschäfte macht“, oder die Chefs der großen „Ölfirmen in Texas“, weil sie alle Schuld am weltweit vermehrten Ausstoß von Kohlenstoffdioxid hätten. Über die geschichtlichen Prozesse der Ungleichheit, aus denen die Welt von heute hervorgegangen ist, insbesondere über den Kolonialismus und den Imperialismus, verliert Behringer derweil kein Wort. Auch nicht näher definierte „Naturschützer“ stellt er an den Pranger. Diese wollten gar „nicht ‚die Natur‘ erhalten, sondern [nur] eine gewohnte Art von Natur, einen ökologischen Zustand, der so viel oder so wenig ‚natürlich‘ [sei] wie jeder andere Zustand“. Tatsächlich gehe es beim Naturschutz „weniger um die Natur als um menschliches Wohlbefinden“. „Das große Wort vom ‚Klimaschutz‘ [verdecke] nur die Angst vor der Veränderung.“ Schließlich seien „überspezialisierte Arten“ immer schon ausgestorben. Das sei „keine Frage der Moral, sondern der Evolution“. Die Basis für Behringers provokanten Aufruf zur Gelassenheit ist neben seiner Beobachtung, dass schon in den 1960er-Jahren die damals verbreiteten Schreckensszenarien hinsichtlich eines globalen Temperaturabsturzes nicht eingetroffen seien, vor allem die These, dass „Abkühlung […] immer in schwere Erschütterungen der Gesellschaft“ mündete, „Erwärmung […] hingegen manchmal kulturelle Blüte“ bewirkte. Diese Korrelation zwischen Klima und Kultur überfordert allerdings die empirische Belastbarkeit der Quellen bei Weitem. Am Ende des Buches gipfelt diese methodisch zweifelhafte Vorgehensweise gar in der Schlussfolgerung: „Wenn wir etwas aus der Kulturgeschichte lernen können, dann dieses: Die Menschen waren wohl ‚Kinder der Eiszeit‘ – die Zivilisation ist aber ein Produkt der Warmzeit.“ Überspitzt formuliert heißt das: In kultureller Hinsicht kann man dem derzeitigen globalen Temperaturanstieg mit gelassener Zuversicht begegnen, ist er doch jedenfalls nicht so schlimm wie eine Abkühlung der Erde. Dass Behringer ausgerechnet dieses empirisch nicht belegbare Pauschalurteil als Essenz seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem historischen Umgang mit Klimaschwankungen präsentiert, macht sein Buch in gewisser

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Hinsicht gefährlich. Schließlich spielt diese Schlussfolgerung letztlich all jenen in die Hände, die den anthropogenen Klimawandel mit seinen weitreichenden Folgen für die Erde anzweifeln. Auch wenn Behringer das selbst nicht tut, taugt seine Darstellung folglich nicht als Vorbild für den Versuch, die Umweltgeschichte als Teil der kulturellen Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und so die durch den industriellen Wandel erzeugten Realitätsverschiebungen sichtbar zu machen. Im Gegenteil: Behringers Aufruf zur Gelassenheit ist, wie der weltweit renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber in seinem 2015 veröffentlichten Buch Selbstverbrennung kritisiert hat, „entweder trivial oder unwissenschaftlich, da sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkung der künftigen Erderwärmung nur schwerlich geschichtliche Analogieschlüsse ziehen lassen“. Tatsächlich lässt sich eine Kulturgeschichte des Klimas nur schreiben, wenn man etwas tut, auf das sich Behringer trotz seiner kleinen Ausflüge in die längere Erdgeschichte nie richtig einlässt. Man muss die historische Entwicklung der Mensch-Natur-Beziehung sowohl auf einer menschlichen als auch auf einer geologischen Zeitskala betrachten, sprich: untersuchen, wie sich die kulturelle Wirklichkeit des Menschen und die planetarische Wirklichkeit der Erde zueinander entwickelt haben. In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben das zahlreiche Geologen, Klimaforscher und Historiker getan und dabei im Licht ihrer Erkenntnisse ein neues, nach wie vor umstrittenes Erdzeitalter ausgerufen. Ein genauerer Blick auf diese neue Epoche unseres Planeten mahnt uns ganz und gar nicht zur Gelassenheit, sondern zur Sorge, Überlegung und Tat.

Das Anthropozän Im Jahr 2000 veröffentlichte der niederländische Atmosphärenforscher Paul Crutzen, der fünf Jahre zuvor den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte, gemeinsam mit dem amerikanischen Biologen Eugene Stoermer im Newsletter Global Change des International Geosphere-Biosphere Programme einen Denkanstoß. Darin erklärten die beiden Wissenschaftler: „Angesichts […] des großen und weiter wachsenden Einflusses menschlicher Aktivitäten auf die Erde und die Atmosphäre […] scheint es uns mehr als angebracht, die zentrale Rolle der Menschheit in der Geologie und Ökologie zu betonen, indem wir – so unser Vorschlag – den Begriff ‚Anthropozän‘ für die gegenwärtige geologische Epoche verwenden.“ Dieses kurze Statement sorgte weit über die geowissenschaftliche Fachwelt hinaus für Aufsehen. Immerhin ging es um nicht weniger als um das Ausrufen eines neuen Erdzeitalters. Inspiriert von Crutzens und Stoermers Vorstoß

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­ egannen bald überall auf der Welt Wissenschaftler der verschiedensten Disb ziplinen damit, ganz anders als bisher über die planetarische Wirklichkeit der Erde und die Rolle, die der Mensch darin spielt, nachzudenken. Im Laufe der sich seitdem entfaltenden Diskussion hat das Anthropozän immer schärfere Konturen erhalten. Was ist also damit gemeint? Wortwörtlich bezeichnet das Anthropozän das „Zeitalter des Menschen“. Diese Epoche der Erdgeschichte ist davon gekennzeichnet, dass der Mensch gleich einer großen Naturkraft derart stark in die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde eingreift, dass er das planetarische Gesamtsystem verändert. Diese Definition grenzt unsere Gegenwart als geochronologische Epoche vom sogenannten Holozän ab, das bisher als der Zeitabschnitt der Erdgeschichte galt, in dem wir leben. Das Holozän ist ein warmes Interglazial beziehungsweise eine warmzeitliche Epoche des gegenwärtigen, vor 2,6 Millionen Jahren einsetzenden Eiszeitalters, des sogenannten Quartärs. Die Zwischenkaltzeit des Holozäns begann vor rund 11 700 Jahren mit einem durchschnittlichen Anstieg der globalen Temperaturen von rund 8 bis 11 Grad Celsius und ist seitdem zu einer in der Erdgeschichte einzigartig langen Periode gemäßigten Klimas geworden, in der und dank der rund um den Globus Landwirtschaft und Kulturen entstanden sind. Wieso es sinnvoll ist, von dieser geochronologischen Epoche, die die menschliche Zivilisation überhaupt erst möglich gemacht hat, ein Anthropozän abzugrenzen, erläuterte Crutzen ausführlicher in einem viel beachteten Artikel, der 2002 in der renommierten Fachzeitschrift Nature erschien: In den vergangenen drei Jahrhunderten sind die Einwirkungen des Menschen auf die globale Umwelt eskaliert. Aufgrund der anthropogenen Emissionen von Kohlenstoffdioxid wird das globale Klima womöglich für viele Jahrtausende signifikant von seinem natürlichen Verhalten abweichen. Es erscheint [daher] angemessen, der gegenwärtigen, von Menschen dominierten geologischen Epoche den Namen Anthropozän zu geben, um so das Holozän – die Warmperiode der vergangenen zehn bis zwölf Jahrtausende – zu ergänzen. Das Anthropozän setzte wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, für die Analysen der im Polareis eingeschlossenen Luft den beginnenden Anstieg der globalen Konzentration von Kohlenstoffdioxid und Methan zeigen. Diese Zeit fällt mit der Erfindung von James Watts Dampfmaschine 1784 zusammen.

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Die Grundidee hinter diesen Überlegungen war nicht ganz neu. Schon 1873 sprach der italienische Geologe Antonio Stoppani vor dem Hintergrund der industriellen Revolution von einer „Anthropozoischen Ära“ oder einem „Anthropozoikum“, in dem „eine neue tellurische Macht […] es an Kraft und Universalität mit den großen Gewalten der Natur aufnehmen [könne]“. Auch im 20. Jahrhundert verwendeten verschiedene Naturwissenschaftler hin und wieder diverse Varianten des Begriffs. Erst Crutzen und Stoermer verhalfen dem Anthropozän jedoch zum Durchbruch. Seitdem hat die Idee einer neuen, auf die geologische Kraft „Mensch“ konzentrierten Erdepoche in Fachkreisen immer mehr an Akzeptanz gewonnen. 2008 erklärte die stratigrafische Kommission der Geological Society of London, der ältesten geowissenschaftlichen Vereinigung der Welt, dass auf Basis eines „konservativen“ Ansatzes „ausreichend Beweise für eine stratigrafisch signifikante Veränderung“ vorlägen, die es rechtfertigten, der Fachwelt zu empfehlen, darüber zu diskutieren, „das Anthropozän – gegenwärtig eine lebhafte, jedoch informelle Metapher für den globalen Naturwandel – als eine neue geologische Epoche […] zu formalisieren“. In einem zeitgleich in dem Fachjournal GSA Today unter dem Titel „Are we now living in the Anthropocene?“ veröffentlichten Artikel erklärten die Mitglieder der Kommission ihre Beweggründe für diese Entscheidung. Ausschlaggebend seien die industriell bedingte Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre, die durch landwirtschaftliche Monokulturen verursachten Sediment- beziehungsweise Bodenveränderungen, die Übersäuerung der Ozeane sowie die andauernde Vernichtung und erzwungene Migration von Arten. Die „Kombination“ dieser Faktoren sei ein „unmissverständliches biostratigrafisches Signal unserer Zeit“. Schließlich seien „diese Auswirkungen […] bleibend, da die künftige Evolution auf den überlebenden (und häufig durch den Menschen verlagerten) Beständen“ aufbaue. 2009 richtete die International Commission on Stratigraphy daraufhin die Arbeitsgruppe Anthropozän ein. Dabei handelt es sich um einen interdisziplinären Fachausschuss, der über dreißig Experten aus den Bereichen Geologie, Erdsystemwissenschaft, Ökologie, Archäologie, Meeres- und Bodenkunde, Geschichte und Recht vereint und von dem britischen Paläobiologen Jan Zalasiewicz geleitet wird. Die einzige Aufgabe dieses Gremiums besteht darin, zu ermitteln, „ob es genügend Gründe [dafür gibt], ein neues Intervall geologischer Zeit auf der Grundlage weitreichender Auswirkungen anthropogener Einflüsse auf stratigrafisch signifikante Parameter zu etablieren“, wie ein Mitglied der Kommission zusammenfassend erläuterte. 2016 bestätigte die Arbeitsgruppe

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auf dem 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt die Thesen Crutzens und Stoermers. Weitere drei Jahre später entschied sich die Arbeitsgruppe schließlich mit großer Mehrheit, bis 2021 einen Entwurf für die offizielle Einführung des Anthropozäns – inklusive eines definitiven geologischen Startpunkts – auszuarbeiten, um ihn anschließend bei der Internationalen Stratigrafiekommission einzureichen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Stratigrafen, die „Hüter der geologischen Zeit“, länger brauchen, um eine geologische Epoche im Gestein der Erde genau nachzuweisen und zu datieren. Das war auch beim Holozän der Fall. Als der britische Geologe Charles Lyell 1833 vorschlug, „die post-glaziale geologische Epoche der letzten zehn- bis zwölftausend Jahre“ als Holozän zu bezeichnen, erntete er anfangs viel Skepsis. Es dauerte schließlich mehr als ein halbes Jahrhundert, ehe der Internationale Geologenkongress die Epoche 1885 auf einer Konferenz in Bologna offiziell anerkannte. Das Anthropozän ist allerdings insofern besonders, als Crutzens Vorstoß der Epoche nicht nur in den Erd- und Natur-, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften sofort zu einer erstaunlichen Karriere verhalf. Von der Politikwissenschaft und Soziologie bis zur Philosophie und Geschichte haben Experten und Intellektuelle in den vergangenen zwanzig Jahren damit begonnen, sich intensiv mit dem Anthropozän zu beschäftigen. Mittlerweile wird der Begriff außerhalb der Geologie fast wie selbstverständlich benutzt, um von einer durch den Menschen veränderten Erde in verschiedenen kulturellen Kontexten zu reden. In der Diskussion um die großen globalen Umweltkrisen unserer Zeit  – Klimawandel, radioaktiver Niederschlag, Mikroplastik – ist das Anthropozän allgegenwärtig, selbst in den Massenmedien. Jüngst widmete etwa die populäre Dokumentationsreihe Terra X dem „Zeitalter des Menschen“ einen sehenswerten Dreiteiler im Zweiten Deutschen Fernsehen. Der rasante Aufstieg des Anthropozäns ist umso erstaunlicher, als es alles andere als klar ist, was es mit dieser Epoche eigentlich genau auf sich hat. Wann hat sie begonnen? Wie kann man sie im Gestein der Erde nachweisen? Was bedeutet sie für unseren Blick auf die Erde und die Rolle des Menschen? Und warum ist es überhaupt wichtig, die Existenz dieser neuen Epoche der Erdgeschichte anzuerkennen? Die beste Einführung zu diesen Fragen stammt aus der Feder des amerikanischen Umweltwissenschaftlers Erle Ellis. Der an der University of Maryland lehrende Fachmann für anthropogene Veränderungen von Ökosystemen hat 2018 ein gut verständliches Kompendium zum Zeitalter des Menschen vorgelegt, in dem er beständig zwischen den Disziplinen hin- und

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herwandert und dadurch den Zusammenfall der planetarischen Wirklichkeit der Erde und der kulturellen Wirklichkeit des Menschen deutlich macht. Besonderes Augenmerk legt Ellis zum einen auf die Einsichten und Diskussionen der Erdsystemwissenschaft, die unseren Planeten, wie es in der „Amsterdam Declaration on Global Change“ des International Geosphere-Biosphere Programme von 2001 heißt, „als ein geschlossenes, sich selbst regulierendes System aus physikalischen, chemischen, biologischen und menschlichen Bestandteilen“ betrachtet. Dabei postuliert die Erdsystemwissenschaft, dass die „anthropogenen Veränderungen der Landflächen und der Meere, der Küsten und der Atmosphäre sowie in der Artenvielfalt, im Wasserkreislauf und in den biochemischen Kreisläufen jenseits der natürlichen Variabilität sind“, dass sie „in Ausmaß und Wirkung […] einigen der großen Kräfte der Natur“ gleichkommen und sich seit einigen Jahrzehnten extrem beschleunigen. Zum anderen untersucht Ellis die vielschichtigen ökologischen, sozialen, politischen und technologischen Implikationen des Anthropozäns. Seine anschaulichen Ausführungen sind die beste Grundlage, um sich im Folgenden näher mit dem neuen Erdzeitalter und dessen Bedeutung für den Realitätsrahmen auseinanderzusetzen, in dem sich die vierte industrielle Revolution dieser Tage entfaltet.

Anfänge Geochronologische Epochen brauchen – wie jeder andere genauer festgelegte Zeitrahmen auch – einen definitiven Startpunkt. Um diesen zu ermitteln, suchen Geologen im Gestein der Erde nach „Goldnägeln“ oder „Golden Spikes“. Dabei handelt es sich um klar identifizierbare Marker, die in der Abfolge von Gesteinsschichten einen bestimmten Punkt zweifelsfrei kennzeichnen. Häufig sind das biostratigrafische Signaturen, wie zum Beispiel das erstmalige Auftauchen einer bestimmten fossilen Spezies. Goldnägel können aber etwa auch in den Gesteinsspuren, die durch Veränderungen des Erdmagnetfeldes oder Umschwünge des Klimas entstanden, eingeschlagen werden. Gleichgültig, welcher Art der Marker genau ist, gibt es ein wichtiges Anliegen: Die durch ihn im Gestein markierte chronologische Grenze soll möglichst isochron sein, das heißt, an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt gleichzeitig auftauchen. Deswegen müssen, um eine geochronologische Epoche festzulegen, viele unterschiedliche Gesteinsproben und mögliche Marker rund um den Erdball gesammelt, abgeglichen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wird nach jahrelanger Forschung ein Vorschlag für einen neuen Goldnagel gemacht, muss dieser noch ein mehrstufiges Anerkennungsverfahren der International Commission

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on Stratigraphy und der International Union of Geological Sciences durchlaufen. Erst dann gilt eine Epoche offiziell als geologisch definiert, soll heißen: als ein neues, durch die physikalischen Einträge im Gestein belegbares Zeitintervall der Erdgeschichte. Für das Anthropozän ist ein solcher Goldnagel ausgesprochen schwierig zu finden. Das liegt daran, dass es – wie Kritiker immer wieder betonen – für ein Zeitalter, in dem der Mensch die Erde gleich einer geologischen Naturkraft zu verändern begann, weltweit eben keinen einheitlichen Startpunkt gibt. Rund um den Globus haben Menschen zu ganz unterschiedlichen Zeiten angefangen, in großem Umfang in die komplexen biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Gesamtsystems Erde einzugreifen. Man denke zum Beispiel nur daran, wie ungleich in Europa die erste industrielle Revolution einsetzte. Zwischen den Kontinenten sind die zeitlichen Unterschiede noch viel größer, wie wir oben bei unserem Blick auf die sogenannte Große Divergenz gesehen haben. Außerdem hat der Mensch nicht plötzlich von Heute auf Morgen damit begonnen, in das Erdsystem einzugreifen. Vielmehr sind seine Interventionen seit dem Ende der letzten Eiszeit über mehr als 10 000 Jahre hinweg schrittweise zahlreicher und intensiver geworden. Und genau für diesen erdgeschichtlichen Zeitraum gibt es eben schon eine offizielle geochronologische Epoche, nämlich das Holozän. Aufgrund dieser Schwierigkeiten, das Anthropozän erdgeschichtlich abzugrenzen, ist mittlerweile eine sehr vielstimmige Debatte darüber entbrannt, wann das Zeitalter des Menschen denn nun genau begann. Um zu verstehen, worum es bei dieser Periodisierung eigentlich geht, muss man sich die wichtigsten Vorschläge kurz vor Augen führen. In dem Vorstoß, der 2000 die Diskussion über das Anthropozän auslöste, schlugen Crutzen und Stoermer die industrielle Revolution des späten 18. Jahrhunderts, genauer gesagt: die Erfindung der Dampfmaschine 1784 als Startpunkt vor. Dem gegenüber stehen Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns sehr viel weiter nach hinten verlagern. So argumentieren viele Paläoarchäologen, dass der Mensch bereits seit dem Ende des Pleistozäns vor etwa 11 700 Jahren, also unmittelbar vor Beginn des Holozäns, damit begonnen habe, seine terrestrische Umwelt nachhaltig zu verändern. In der Tat gibt es mittlerweile eindrucksvolles Beweismaterial dafür, dass Jäger-Sammler-Gesellschaften je nach Kontinent vermutlich für das Aussterben von 20 bis 70 Prozent aller Spezies der damaligen Großfauna verantwortlich waren. Diese Massenauslöschung veränderte die Flora- und Faunamuster auf der ganzen Erde. Dazu kam der verstärkte Einsatz von Feuer, der sich nicht nur auf die Vegetation, sondern

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wahrscheinlich auch auf das Erdklima auswirkte, wie immer mehr Befunde nahelegen. Angesichts dieser globalen Umweltfolgen datieren einige Experten den Beginn des Anthropozäns auf einen Zeitpunkt vor etwa 14 000 Jahren. Die Eingriffe der Jäger und Sammler in die Biosphäre verblassen allerdings gegen das Ausmaß und die Intensität der Umweltveränderungen, die von der Entstehung und Ausbreitung von Agrargesellschaften ausgingen und bis heute anhalten. Daher argumentieren nicht wenige Fachleute, wie die Geografen Simon Lewis und Mark Maslin 2015 in einem Nature-Artikel „Defining the Anthropocene“ zusammenfassten, es sei der „Domestizierungsprozess […], der die archäologische Signatur für große Manipulationen terrestrischer Ökosysteme durch den Menschen und [damit] den Beginn des Anthropozäns“ liefere. Insbesondere verweisen Vertreter dieser Sichtweise auf die starke Veränderung der Erdoberfläche durch Rodung, Düngung, Bewässerung und andere Praktiken der Landnutzung. Dementsprechend schlagen sie häufig die globale Verbreitung anthropogener, das heißt vom Menschen bearbeiteter und umgeschichteter Böden vor circa 2000 Jahren als Startpunkt des Anthropozäns vor. Der amerikanische Paläoklimatologe William Ruddiman macht die Landwirtschaft gar für einen noch früheren Beginn des Anthropozäns verantwortlich. In seinem Artikel „The Anthropogenic Greenhouse Era began Thousands of Years ago“ argumentiert er, dass bereits die ersten Bauern in der Jungsteinzeit durch Waldrodungen und den Anbau von Nassreis derart viel Kohlenstoffdioxid und Methan produziert hätten, dass sich die Konzentration dieser Treibhausgase in der Erdatmosphäre signifikant verändert und dadurch einen Erwärmungseffekt ausgelöst habe, durch den die nächste Eiszeit hinausgezögert worden sei. Seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2003 ist diese „Frühe-Anthropogen-Hypothese“ hoch umstritten. Einerseits fragen Kritiker, wie die wenigen Millionen Menschen, die vor etwa 7000 Jahren die ersten größeren Agrargesellschaften formten, ausreichend große Landflächen hätten roden und bewirtschaften sollen, um den von Ruddiman diagnostizierten Verzögerungseffekt auszulösen. Auch ist nach wie vor ungeklärt, warum die von Ruddiman herangezogenen Emissionen mit dem Bevölkerungswachstum im Verlauf des Holozäns nicht weiter anstiegen. Andererseits haben Archäologen wie Dorian Fuller gezeigt, dass die frühe Reisproduktion tatsächlich für etwa 80 Prozent des frühen anthropogen verursachten Methans in der Atmosphäre verantwortlich gewesen sein könnte. Insofern scheint es nach jetzigem Forschungsstand zumindest möglich, dass die Treibhausgasemissionen der frühen Agrargesellschaften die Entwicklung des Klimas beeinflusst haben könnten.

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Frühe menschliche Gesellschaften breiteten sich zwar nach und nach auf allen Kontinenten aus und begannen so, die verschiedenen Prozesse des Erdsystems rund um den Globus zu beeinflussen. Weltweit miteinander vernetzt waren sie jedoch noch nicht. Folglich bildeten sie auch noch keine „gemeinsame“ Naturkraft im engeren Sinne. Einige Forscher sehen deshalb jenen Zeitpunkt als Beginn des Anthropozäns, ab dem sich die vorher kontinental voneinander getrennten menschlichen Gemeinschaften der „Alten“ und „Neuen Welt“ erstmals zu einem wirklich globalen Netz kulturellen, sozialen, materiellen und biologischen Austauschs miteinander verbanden: die Entdeckung Amerikas durch Christopher Columbus 1492. Die europäische Expansion veränderte die Ökosysteme auf beiden Seiten des Atlantiks im Laufe des 16. Jahrhunderts massiv. Im Gepäck der Eroberer reisten Tiere, Pflanzen und Krankheiten von Eurasien auf den amerikanischen Doppelkontinent und zurück. Der traurige Höhepunkt dieses „Columbian Exchange“ war das Einschleppen der Pocken, das bis 1650 über 50 Millionen indigene Amerikaner das Leben kostete. Zahllose Flora- und Faunaarten, die sich bis dahin über Millionen von Jahren auf verschiedenen Kontinenten getrennt voneinander entwickelt hatten, vermischten sich jetzt in einem Prozess der „biotischen Homogenisierung“, der die östliche und westliche Hemisphäre miteinander verschmelzen ließ und so weltweit entsprechende Spuren in Gesteinsschichten hinterließ. In den Augen der Londoner Professoren Simon Lewis und Mark Maslin stellt der Columbian Exchange daher einen „Orbis Spike“ oder „Erdkreis-Nagel“ dar, der den Zeitpunkt markiert, an dem der Mensch zu einer wahrhaft globalen Kraft von vorher nie dagewesener geologischer Wirkung wurde und damit sein eigenes Erdzeitalter einläutete. Zu guter Letzt gibt es noch ein relativ breites Spektrum an Vorschlägen aus der Geschichtswissenschaft, die den Beginn des Anthropozäns irgendwo zwischen den frühen Hochkulturen in Eurasien und Afrika und der frühen Neuzeit verorten – zumeist freilich ohne sich auf vermeintliche Spuren im Gestein der Erde zu berufen. Daniel Headrick hat in seiner Umweltgeschichte des Anthropozäns einige der interessantesten Überlegungen gesammelt. So argumentiert etwa der britische Historiker Stephen Mosley in seinem 2010 veröffentlichten Buch The Environment in World History, dass die geistigen Wurzeln der anthropogenen Umweltveränderungen von heute bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen, da dort erstmals ein „wissenschaftliches Weltbild“ entstanden sei, das „die Natur als totes Material für den menschlichen Gebrauch“ auffasse. Der amerikanische Mediävist Lynn T. White Jr. argumentierte schon Ende der 1960er-

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Jahre, dass der Ausgangspunkt der modernen „ökologischen Krisen“ im Europa des späten Mittelalters liege. Denn damals habe es das Christentum durch die Zerstörung des heidnischen Glaubens an die Seelenhaftigkeit aller Tiere, Pflanzen und natürlichen Dinge erstmals möglich gemacht, „die Natur gleichgültig gegenüber den Gefühlen natürlicher Objekte auszubeuten“. Der Umwelthistoriker Sing C. Chew geht in seinem Buch World Ecological Degradation schließlich noch ein Stück weiter zurück. Indem er einen direkten Zusammenhang zwischen der „Geschichte von Umweltzerstörung und -krise“ und der „Geschichte von Zivilisationen, Königreichen, Imperien und Staaten“ diagnostiziert, entwickelt er die These, dass der historische „Verlauf von menschlicher ‚makro-parasitischer‘ Aktivität […] auf der systemweiten strukturellen Ebene mindestens die letzten 5000 Jahre“ umfasse. Diese bunte Debatte um die Periodisierung des Anthropozäns zeigt, wie Daniel Headrick eingangs seiner Umweltgeschichte betont, „die sehr menschliche, aber sinnlose Gewohnheit, einem langfristigen Prozess Daten anzuheften“. Unabhängig von irgendwelchen Goldnägeln genügt eigentlich eine verhältnismäßig einfache und allgemein anerkannte Erkenntnis, um die zeitlichen Dimensionen des Anthropozäns zu erfassen: Der menschliche Einfluss auf die Umwelt begann vor sehr langer Zeit in ganz geringem Maße, wuchs aber schrittweise – wenn auch nicht kontinuierlich  – bis zum 18. Jahrhundert an und beschleunigte sich dann bis heute. Was sich im Lauf der Zeit verändert hat, war nicht der Wunsch der Menschen, ihre jeweilige Umwelt auszubeuten, sondern [waren] die technologischen und organisatorischen Mittel, die sie gegen die übrige Natur entwickelten und anwandten – und deren Folgen.

In der Tat ist es für die Bedeutung, die das Anthropozän mittlerweile im öffentlichen Diskurs über den so sehr von anthropogenen Umweltveränderungen geprägten Weltenwandel unserer Tage erlangt hat, relativ unerheblich, ob die stratigrafische Fachwelt diese Bezeichnung jemals für einen bestimmten geochronologischen Zeitraum offiziell einführen wird oder nicht. Was letztlich zählt, ist nicht die Feststellung eines zweifelsfreien Golden Spike, sondern etwas ganz anderes, wie Erle Ellis in seiner Einführung zum Anthropozän unterstreicht: „Die Bedeutung des Anthropozäns liegt in seiner Funktion als einer Art neuen Brille, durch die uralte Narrative und philosophische Fragen ­gesehen

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werden, sodass sie umgeschrieben werden müssen. Es ist sowohl ein neues Narrativ über das Verhältnis von Mensch und Natur als auch ein kühnes neues Wissenschaftsparadigma […], das möglicherweise unsere Auffassung vom Menschsein verändert“. So wird sich das Anthropozän vielleicht einmal als genauso bedeutsam für das menschliche Weltbild herausstellen wie einst die Kopernikanische Revolution, die die Sonne anstelle der Erde in den Mittelpunkt des Universums rückte. Insbesondere für unser Verständnis davon, was industrieller Wandel mit der Erde macht und in welche Richtung wir selbigen folglich lenken sollten, kann die Bedeutung der „anthropozänen Brille“ gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Große Beschleunigung Alle der gerade beschriebenen anthropologischen, archäologischen, historischen, geografischen und geologischen Sichtweisen auf die Anfänge des Anthropozäns haben eines gemein: Sie datieren dessen Beginn Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende vor unserer Gegenwart. Und doch entschied sich die oben bereits erwähnte Arbeitsgruppe, die seit 2009 im Auftrag der Internationalen Kommission für Stratigrafie die vermeintliche Existenz einer neuen erdgeschichtlichen Epoche näher untersucht, ganz anders: Sie sieht die Mitte des 20. Jahrhunderts als den besten Zeitpunkt für die nach wie vor laufende Suche nach einem Goldnagel, der auf der geologischen Zeitskala den Anfang des Anthropozäns exakt markiert. Warum? Nur ein Jahr, nachdem Crutzen und Stoermer das Anthropozän ausgerufen hatten, veröffentlichten der amerikanische Chemiker und Klimatologe Will Steffen, Hans Joachim Schellnhuber und andere namhafte Forscherinnen und Forscher unter dem Titel Global Change and the Earth System. A Planet under Pressure in einer Schriftenreihe des International Geosphere-Biosphere Programme einen Aufsehen erregenden Bericht. Dieser legte wissenschaftlich fundiert dar, dass die auf den Menschen zurückzuführenden Veränderungen der verschiedenen Teile des Erdsystems – von der Biosphäre über die Hydrosphäre bis zur Atmosphäre  – nicht etwa, wie auch Crutzen und Stoermer in ihrem ursprünglichen Vorstoß intuitiv annahmen, seit dem Einsetzen der ersten industriellen Revolution kontinuierlich zunahmen, sondern sich erst um 1950 herum jählings intensivierten. Um den drastischen Anstieg der Rate anthropogener Umweltveränderungen zu demonstrieren, bediente sich der Bericht zweier Schautafeln mit jeweils zwölf Kurvendiagrammen. Letztere zeigten für den Zeitraum zwischen 1750 und 2000 auf der einen Seite die Entwicklung so-

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9 Die Große Beschleunigung: Entwicklung menschlicher Aktivität (links) und Veränderungen im Erdsystem (rechts) seit 1750. Schautafeln aus dem IGBP-Bericht „Global Change and the Earh System. A Planet under Pressure“, 2001.

zioökonomischer Faktoren (Bevölkerung, gesamtes reales Bruttosozialprodukt, ausländische Direktinvestitionen, Flussdämme, Wassernutzung, Düngerverbrauch, Stadtbevölkerung, Papierverbrauch, McDonald’s Restaurants, Kraftfahrzeuge, Telefone und internationaler Tourismus) und auf der anderen Seite biophysikalische Trends des Erdsystems (Kohlenstoffdioxid-, Nitrat- und Methankonzentration, Ozonabbau, durchschnittliche Oberflächentemperatur der nördlichen Hemisphäre, große Überschwemmungen, Zustand der Fischgründe in Meeresökosystemen, Struktur und Biogeochemie der Küstenzonen, Verlust an tropischem Regenwald und Waldland, Menge des genutzten Landes, Verlust der globalen Biodiversität). Die Gegenüberstellung führt dem Betrachter eindrucksvoll vor Augen, wie sehr sich so gut wie alle der untersuchten Parameter menschlicher Aktivität und planetarischer Veränderung Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkten. Stiegen die jeweiligen Entwicklungsraten bis 1950 entweder allmählich oder unregelmäßig, sind sie seitdem viel steiler, wenn nicht sogar exponentiell in die Höhe geschnellt. Jenes „Hockey Stick“-Muster, das Michael Mann und andere Klimatologen schon Ende der 1990er-Jahre mit Blick auf die globale Erwärmung identifizierten und das seitdem in der politischen Auseinandersetzung um den Klimawandel zum Zankapfel zwischen Mahnern und Leugnern

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g­ eworden ist, kann man also auch hinsichtlich zahlreicher anderer anthropogener Umweltveränderungen beobachten. Der Bericht zog aus dieser Beobachtung den Schluss: „In den letzten 50 Jahren hat sich zweifellos die rapideste Veränderung der menschlichen Beziehung zur Natur in der Geschichte der Menschheit vollzogen […]. Die Größenordnung, das räumliche Ausmaß und die Geschwindigkeit der vom Menschen verursachten Veränderung sind in der Menschheitsgeschichte und vielleicht sogar in der Erdgeschichte beispiellos: Das Erdsystem befindet sich mittlerweile in einem ‚nicht analogen Zustand‘.“ Mit anderen Worten: Seit den 1950er-Jahren ist der Mensch zu einer großen Kraft der Natur geworden, die das Gesamtsystem des Planeten so stark verändert, dass viele biophysikalische Indikatoren über die bis dahin zu beobachtenden Variabilitätsgrenzen des Holozäns hinausgehen und von einer neuen Ära der Erdgeschichte zeugen. In den Jahren nach der Veröffentlichung des Berichts etablierten vor allem Erdsystemwissenschaftler wie Will Steffen für die dramatisch zunehmende Belastung der Erde durch den Menschen seit Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff der „Great Acceleration“ oder „Großen Beschleunigung“. Damit knüpften sie ganz bewusst an jenes Konzept an, das der österreichisch-ungarische Sozialtheoretiker Karl Polanyi 1944 entwickelte und das wir bereits in Teil I dieses Buches kennengelernt haben: die Große Transformation. Denn so wie Polanyis Denkmodell ein wichtiges Narrativ für den durch die Industrialisierung ausgelösten Wandel der menschlichen Lebenswelten bereitstellt, bietet die Große Beschleunigung ein wichtiges Narrativ für den durch den Menschen und seine industrielle Gesellschaftsform bedingten Wandel der planetarischen Lebenswelten, der für die Einführung eines neuen, auf den Menschen konzentrierten Erdzeitalters spricht. Was genau es mit diesem Narrativ auf sich hat, fasst Erle Ellis, der selbst Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropozän ist, wie folgt zusammen: Die Große Beschleunigung erklärt den Übergang in ein Anthropozän mit einem komplexen, multikausalen Narrativ, in dem soziale, politische und ökonomische Veränderungen mit ihren unterschiedlichen ökologischen Folgen von lokalen bis globalen Dimensionen, darunter Wechselwirkungen zwischen diesen Veränderungen, über alle Ebenen hinweg [eine Rolle spielen]. Mit der Großen Beschleunigung wird zwar anerkannt, dass der Mensch schon lange vorher die Erde verändert hat, aber zugleich festgestellt, dass die Umweltveränderungen

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durch den Menschen vor dem 20. Jahrhundert zwar in manchen Regionen signifikant waren, aber auf globaler Ebene ‚weit innerhalb der Grenzen der natürlichen Variabilität der Umwelt‘ blieben. Vorindustrielle Gesellschaften haben nicht die anthropogenen Umweltveränderungen hervorgerufen, weder in ihrem Ausmaß noch in ihrer Intensität, um ‚mit den großen Kräften der Natur‘ konkurrieren zu können. Das Anthropozän begann nicht mit dem Aufkommen der Landwirtschaft, nicht einmal mit der industriellen Revolution, sondern erst mit der Entstehung von Industriegesellschaften im großen Stil nach 1945 und ihren beispiellosen Möglichkeiten, die Ökologie der Erde in steigendem Tempo zu verändern. Mitte des 20. Jahrhunderts erreichte der Druck durch den Menschen ein Ausmaß, das einen anthropogenen Regimewechsel in der Funktionsweise des Erdsystems herbeiführen könnte.

Als Narrativ zur Erklärung des Übergangs der Erdgeschichte ins Anthropozän ist die Große Beschleunigung demnach also vor allem eines: ein Perspektivöffner. Denn sie ermöglicht es uns, die Jetztzeit der Erdgeschichte aus der Perspektive des Erdsystems zu betrachten. Genauer gesagt: Die Große Beschleunigung gibt uns die Chance, die kulturelle Wirklichkeit, die der Mensch sich im Laufe der Industrialisierung geschaffen hat, als Teil der planetarischen Wirklichkeit der Erde zu sehen. Dieser Blickwinkel zeigt uns wiederum, wie eng sich die einstmals auf ganz anderen Zeitskalen operierenden Entwicklungslinien der Menschheits- und der Erdgeschichte mittlerweile miteinander verflochten haben. Es lohnt daher, sich zumindest die wichtigsten Bereiche, in denen die Große Beschleunigung den anthropogenen Druck auf den Planeten in den vergangenen sieben Jahrzehnten massiv erhöht hat, kurz näher anzuschauen.

Der überforderte Planet Seit Beginn der Großen Beschleunigung in den 1950er-Jahren hat der Mensch die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Erdsystems über die für das Holozän bis dahin übliche, natürliche Variationsbreite hinaus verändert. Fünf anthropogene Eingriffe beeinflussen das Gesamtsystem Erde besonders stark – so stark, wie Ellis und viele andere Erdsystemwissenschaftler warnen, dass die Kombination ihrer Auswirkungen einen rapiden, transformativen Regimewechsel des Erdklimas möglich macht.

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1 Die Nutzung der Landoberfläche  Seit sich die ersten Jäger und Sammler in der neolithischen Revolution zu bäuerlichen Gesellschaften zusammenschlossen, bearbeitet der Mensch den Boden. Er rodet, gräbt, pflügt, düngt, bewässert und baut. Im Industriezeitalter hat die menschliche Bodennutzung durch die Mechanisierung der Landwirtschaft, neue Dünge- und Bewässerungsverfahren, die Verstädterung, das Bevölkerungswachstum und andere technologische und sozioökonomische Veränderungen extensive Formen angenommen. Im Jahr 2000 bestanden über 75 Prozent der terrestrischen Biosphäre aus anthropogenen Biomen oder kurz „Anthromen“, das heißt aus Großlebensräumen, deren ökologische Eigenschaften wesentlich auf den Einfluss der menschlichen Landnutzung zurückgehen, wie Ellis gemeinsam mit dem Agrargeografen Navin Ramankutty 2008 in einem Fachartikel mit dem Titel „Putting People in the Map“ gezeigt hat. Dabei entfällt rund die Hälfte der dauerhaft eisfreien terrestrischen Erdoberfläche auf den Anbau von Nutzpflanzen (11 Prozent), die Weidehaltung von Nutztieren (25 Prozent), die Forstwirtschaft und Produktion anderer natürlicher Materialen (2 bis 10 Prozent) sowie auf Städte, Dörfer und Infrastruktur (1 bis 3 Prozent). Die andere Hälfte wird zwar nicht direkt und intensiv bewirtschaftet oder bebaut. Aber auch von diesem Land sind mindestens 50 Prozent maßgeblich von anthropogenen Einflüssen geprägt, etwa durch Umweltverschmutzung, Ressourcenbeschaffung oder Jagd. Somit gibt es nur noch auf etwa einem Viertel der terrestrischen Biosphäre Wildnisgebiete, die nicht der menschlichen Landnutzung dienen oder von deren Auswirkungen betroffen sind – Tendenz weiter sinkend. Das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung: Erst im Laufe der vergangenen 100 Jahre ist über die Hälfte der gesamten Landoberfläche der Erde in Städte, Dörfer oder landwirtschaftlich genutzte Gebiete umgewandelt worden, der Großteil davon nach 1950. Die ökologischen Folgen dieses industriellen Ausmaßes der Landnutzung sind enorm. Bodenerosion, Grundwasserverunreinigung und andere Umweltverschmutzungen, Treibhausgasemissionen, die Vernichtung natürlicher Lebensräume, die Ausrottung biologischer Arten  – die Gier nach Land ist die Wurzel zahlreicher anderer Umweltveränderungen, durch die der Mensch massiv in das Gesamtsystem Erde eingreift. 2 Die Umstrukturierung der Süßwassersysteme  Der Mensch hat die Süßwassersysteme der Erde schon immer durch die Entnahme von Grundwasser, das Stauen und Umleiten von Flüssen, das Anlegen von Bewässerungsgräben und Kanälen und das Graben von Brunnen verändert. In der zweiten Hälf-

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te des 20. Jahrhunderts haben die Eingriffe in die sogenannte terrestrische Hydrosphäre jedoch ein ganz neues Ausmaß erreicht. Megadämme schaffen riesige künstliche Wasserreservoirs, die den Abfluss ins Meer um Jahre verzögern. Feuchtgebiete werden in großem Stil trockengelegt, um mehr Platz für den Anbau von Nutzpflanzen, für Weideflächen und den Bau von Siedlungen zu schaffen. Und dem Boden wird so viel Grundwasser entnommen, um die stark angewachsene Weltbevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen und deren Nahrungsbedarf durch landwirtschaftliche Produktion zu decken, dass der Grundwasserspiegel vielerorts gefährlich sinkt oder schon ganz ausgetrocknet ist. Auf der einen Seite wird also die Menge an natürlichem Süßwasser und damit auch der irgendwann durch Verdunstung in die Atmosphäre aufsteigenden Wassermoleküle drastisch verringert, was schon jetzt weltweit zu zahlreichen, mitunter gewaltsamen Konflikten um Wasserzugänge führt. Auf der anderen Seite unterbricht die Massenspeicherung von Wasser die natürlichen Abflusssysteme. Dazu kommt die großflächige Verunreinigung oder gar Vergiftung von Süßwasser durch synthetische Chemikalien oder überschüssige Nährstoffe. Kurzum: Der Mensch hat die Verfügbarkeit von Süßwasser nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen tierischen und pflanzlichen Wasser- und Landlebewesen seit den 1950er-Jahren massiv verändert. Im Jahr 2000 flossen etwa 5000 Kubikkilometer, das heißt rund die Hälfte des dem Menschen insgesamt jährlich zur Verfügung stehenden erneuerbaren Süßwassers, durch künstlich angelegte Systeme. Davon wurden allein 60 bis 75 Prozent für die Bewässerung von Feldern benutzt. Die vom Menschen vorgenommenen Modifizierungen der terrestrischen Hydrosphäre haben ihrerseits weitreichende Folgen für andere Teile des Erdsystems. So verhindert etwa das Stauen und Umleiten von Flüssen, dass der Wasserlauf Sedimente zum Meer abtransportiert. Stromaufwärts entstehen daher verstärkt Ablagerungen, die dann an den Küsten fehlen. Das Resultat sind Bodenabsenkungen und letztlich ein Anstieg des Meeresspiegels. 3 Die Ausrottung biologischer Arten und die Einführung invasiver Spezies  Die Auslöschung ganzer Tier- und Pflanzenarten ist die wohl drastischste Art und Weise, auf die der Mensch in die Biosphäre eingreift. Schon die Jäger und Sammler waren für das Aussterben diverser Arten verantwortlich. Erst durch die Entstehung der modernen Landwirtschaft und der Industriegesellschaft ist der Druck, den der Mensch auf andere Spezies und ökologische

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­ rozesse ausübt, jedoch so groß geworden, dass die natürliche Aussterberate P der vorausgehenden Erdgeschichte signifikant übertroffen wird. Das gilt ganz besonders für die Zeit seit den 1950er-Jahren. Die Ursachen sind vielfältig. Die Ausbreitung menschlicher Siedlungen und die Expansion der Landwirtschaft infolge des globalen Bevölkerungswachstums beschneiden, zerstückeln, verändern, verunreinigen, vergiften und vernichten natürliche Lebensräume in großem Stil. Der resultierende Habitatverlust ist hauptverantwortlich für die Abnahme und Auslöschung von Nichtbeutetieren. Gleichzeitig werden wilde Tiere oft unkontrolliert gejagt und Raubbau an natürlichen Pflanzenvorkommen betrieben, besonders an tropischen Hölzern. Die starke Nachfrage nach Meerestieren führt zur Überfischung der Ozeane. Der industrielle Fischfang bedient sich riesiger Schleppnetze, die über den Meeresboden gezogen werden und dort eine Unterwasserwüste hinterlassen. Zudem leitet der Mensch massenweise synthetische Chemikalien und überschüssige Nährstoffe in die Umwelt, wo sie katastrophale Auswirkungen auf die Artenvielfalt haben können. So führen Stickstoff und Phosphor aus Düngemitteln und Viehdung regelmäßig zur Eutrophierung stehender Gewässer und Küstenozeane, wo sie riesige Algenteppiche wachsen lassen, die anderen Wasserlebewesen zuerst das Licht und dann, wenn sie absinken und sich zersetzen, den Sauerstoff zum Atmen nehmen. Dazu kommt das Einschleppen invasiver Spezies, die einheimische Arten vernichten, weil diese keine adäquaten Schutzmechanismen gegen die Eindringlinge zur Verfügung haben. Fremde, mit dem Menschen in andere Ökosysteme gereiste Arten, insbesondere Schädlinge, sind Schätzungen zufolge für das Aussterben von bis zu 40 Prozent aller Tierarten verantwortlich, deren Auslöschungsgrund bekannt ist. Die Kombination dieser anthropogenen Belastungen hat die globale Biodiversität derart dezimiert, dass Ökologen in Anlehnung an die fünf großen, durch Vulkanausbrüche und andere geologische Urkräfte ausgelösten Aussterbeereignisse der Erdgeschichte immer öfter von der „sechsten Massenauslöschung“ sprechen. Tatsächlich liegt heute die Aussterberate allein für Wirbeltiere, wie etwa die amerikanischen Ökologen Stuart Pimm, Thomas Brooks und Anthony Barnosky nachgewiesen haben, mindestens zehn und womöglich sogar bis zu eintausend Mal höher als im erdgeschichtlichen Durchschnitt. Und der Höhepunkt ist vermutlich noch nicht einmal erreicht, schickt sich der anthropogene Klimawandel doch an, zum größten Artenkiller der Erdgeschichte zu werden.

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4 Der Eingriff in biogeochemische Kreisläufe  Wie sehr der Mensch vor allem durch die Verbrennung fossiler Energieträger den natürlichen Kohlenstoffdioxid-Kreislauf verändert und welche enormen Folgen das für das Erdklima hat, ist hinlänglich bekannt. Weniger prominent, aber aus ökologischer Perspektive nicht weniger bedeutsam ist die Manipulation des globalen Stickstoff-Kreislaufs. Stickstoff ist für alle Lebewesen ein zentraler Nährstoff, da das Element zum Aufbau von Zellen benötigt wird. Die meisten Pflanzen  – einschließlich der Nutzpflanzen, von denen sich der Mensch und sein Vieh ernähren – können Stickstoff allerdings nur in der Form von Ammonium (NH4+) oder Nitrat (NO3-) aufnehmen. Obwohl die Luft beziehungsweise die bodennahe Atmosphäre zu 78 Prozent aus reinem Stickstoff (N2) besteht, ist das Element daher der natürliche Nährstoff, der das Pflanzenwachstum an Land und zu Wasser am meisten begrenzt. Um diese Limitierung beim Anbau von Nutzpflanzen zu umgehen, setzt die Landwirtschaft ammonium- beziehungsweise nitrathaltige Dünger ein. Über Jahrhunderte konnten diese nur in verhältnismäßig geringen Mengen gewonnen werden, vor allem durch das Sammeln von Gülle und den Abbau natürlicher Vorkommen, wie etwa dem als Guano oder Chilesalpeter bekannten Vogelkot aus Südamerika. Als Ende des 19. Jahrhunderts das rasante Bevölkerungswachstum dazu führte, dass diese Quellen den Bedarf an Stickstoffdünger nicht mehr ausreichend decken konnten und deswegen Hungersnöte drohten, wandte sich die Forschung der sich zeitgleich entwickelnden chemischen Industrie verstärkt dem Problem zu, wie der in der Luft enthaltene Stickstoff chemisch fixiert werden könnte. Ergebnis dieser Anstrengungen war 1910 die Entwicklung des im Zusammenhang mit der dritten langen Welle der Innovation bereits erwähnten Haber-Bosch-Verfahrens, das den natürlichen StickstoffKreislauf praktisch umdreht: Unter hohem Energieaufwand wird atmosphärischer Stickstoff zu Ammonium reduziert. Auf diese Weise kann synthetischer Stickstoffdünger in praktisch unbegrenzten Mengen hergestellt werden. In Kombination mit den Hochleistungssorten der Nutzpflanzen, die seit der sogenannten Grünen Revolution in den 1960er-Jahren entwickelt und rund um den Erdball eingesetzt werden, steigert dieser Kunstdünger den Ertrag bei gleichbleibender Bewirtschaftungsfläche häufig um mehr als das Doppelte. Nur auf dieser Grundlage ist das beispiellose Wachstum der Weltbevölkerung von gut drei Milliarden Menschen im Jahr 1960 auf heute über 7,9 Milliarden Menschen überhaupt möglich gewesen – inklusive seiner vielfältigen und massiven Folgen für das Erdsystem. Im Jahr 2000 produzierte das Haber-Bosch-­

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Verfahren mehr als dreimal so viel reaktiven Stickstoff wie alle natürlichen Prozesse in der terrestrischen Atmosphäre zusammengenommen. Die daraus resultierenden Umweltschäden sind enorm. Die zügellose Anwendung von Kunstdünger verseucht das Grundwasser, die Flüsse und die Meere, mit den oben bereits beschriebenen Folgen. Überdüngte Felder emittieren außerdem Lachgas (N2O), das als Treibhausgas in der Atmosphäre eine zunehmend wichtigere Rolle bei der globalen Erwärmung spielt. Und diese Probleme werden sich aller Voraussicht nach in Zukunft noch verschärfen. Denn wenn die Weltbevölkerung wirklich wie erwartet bis 2100 auf über 11 Milliarden Menschen anwachsen sollte, wird deren Nahrungsmittelversorgung wahrscheinlich nur über eine weitere Erhöhung der synthetischen Stickstofffixierung sichergestellt werden können. 5 Die Veränderung der Atmosphäre  Der wohl folgenreichste Eingriff des Menschen in das Gesamtsystem Erde betrifft die Zusammensetzung der Atmosphäre. Seit Beginn der ersten industriellen Revolution setzt der Mensch durch die Verbrennung fossiler Energieträger, die Massenhaltung von Nutzvieh, die Herstellung von Zement und andere Aktivitäten immer mehr Treibhausgase frei. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Emissionen von Kohlenstoffdioxid, Methan und Lachgas steil angestiegen  – so steil, dass sie eine im Holozän nie dagewesene Konzentration erreicht haben. Nur in zwei Fällen ist es gelungen, die Emission von direkt oder indirekt am Treibhauseffekt beteiligten Gasen wirkungsvoll einzuschränken. Mitte der 1990er-Jahre wurden Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die zuvor vor allem als Kältemittel in Kühlschränken und als Treibgase in Sprühdosen Einsatz fanden und maßgeblich für die Zerstörung der Ozonschicht verantwortlich waren, per internationaler Vereinbarung verboten. Seitdem hat sich die Ozonschicht erholt. Der Ausstoß von Stickoxiden (NO, NO2), die zusammen mit Schwefeloxiden „sauren Regen“ bilden und bei der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Biomasse entstehen, ist ebenfalls seit den 1990er-Jahren durch verschiedene Regulierungen, wie beispielsweise die Einführung von Katalysatoren sowie Filteranlagen für Automobile und Kraftwerke, allmählich unter Kontrolle gebracht worden. Von diesen Ausnahmen abgesehen ist die Geschichte industriellen Wandels allerdings auch die Geschichte ungebremster Emissionen. So ist heute der atmosphärische Gehalt an Kohlenstoffdioxid mit über 400 ppm aller Wahrscheinlichkeit nach höher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten vier Millionen Jahren. Zudem ist die Geschwindigkeit der Temperaturverän-

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derung in der Atmosphäre seit den 1950er-Jahren parallel zu den anthropogenen CO2-Emissionen stark angestiegen. Das gleiche kann man für die mittlere Oberflächentemperatur der Erde beobachten. Auch ihr Anstieg folgt dem der von Menschen ausgestoßenen Treibhausgase. All das lässt aus Sicht der Erdsystemwissenschaft nur einen Schluss zu, wie Ellis betont: „[Die] starke Korrelation bestätigt nur die Ergebnisse von Simulationsmodellen des Erdsystems, die durchgängig zeigen, dass der heutige Anstieg der globalen Temperatur mit keinem anderen Prozess im Erdsystem erklärt werden kann als mit dem anthropogenen Treibhauseffekt.“ Natürlich war es über die Jahrmillionen der gesamten Erdgeschichte gesehen in vielen Epochen heißer als heute, so heiß, dass biologisches Leben überhaupt nicht möglich war. Aber in der gesamten Epoche des Holozäns, ja sogar in den vergangenen 100 000 Jahren waren die mittleren Temperaturen nie höher als heute. Jeder dieser fünf großen Eingriffe in die verschiedenen Prozesse und Sphären des Erdsystems hat schon für sich genommen ausgesprochen viele und schwerwiegende Folgen. In Kombination miteinander drohen sie jedoch, wie die Erdsystemwissenschaft in Ellis’ Worten warnt, einen „Prozess der Systemveränderung [auszulösen], der zu einem […] Regimewechsel im Klimasystem der Erde führt“. Derartige Regimewechsel hat es seit Entstehung der Erde häufiger gegeben, etwa beim Übergang von Eiszeiten zu Warmzeiten. Ob auch der Mensch durch die massiven Einflüsse, die er seit Einsetzen der Großen Beschleunigung auf das Erdsystem ausübt, einen Regimewechsel herbeiführen kann, diskutieren Geologen, Klimatologen und andere Erdsystemwissenschaftler seit vielen Jahren. Dabei werden mitunter sehr unterschiedliche Modelle entworfen, von einem allmählichen, sich über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langsam hinziehenden Zustandswechsel bis zu einem plötzlichen Sprung. Vier Erkenntnisse gelten jedoch als relativ gesichert. Erstens kann man ob der gerade beschriebenen, durch den Menschen verursachten Veränderungen festhalten, dass das Erdsystem dabei ist, mit wachsender Geschwindigkeit immer weiter aus dem Holozän herauszutreten. Derweil ist freilich noch unklar, was danach kommt. Welche Gestalt ein anthropozäner Zustand des Erdsystems genau haben und wie stabil und von welcher Dauer dieser sein wird, sprich: ob er einen oder mehrere Regimewechsel umfassen wird, lässt sich jetzt noch nicht seriös sagen. Zweitens steigt ohne jeden Zweifel die Gefahr eines Regimewechsels kontinuierlich an. Das liegt einfach daran, dass die Eingriffe des Menschen in die Biosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und biogeochemischen Kreisläufe des

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Erdsystems nach wie vor weitergehen, ja trotz aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anstrengungen zur Abwendung der Klimakrise und anderer Umweltkatastrophen in Ausmaß und Intensität weltweit insgesamt sogar zunehmen. Das besonders Bedenkliche daran: Die durch den Menschen verursachte Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre hat noch gar nicht die Dimensionen angenommen, die viele der anderen anthropogenen Veränderungen des Erdsystems seit den 1950er-Jahren erreicht haben – man denke nur an die großangelegte Umkehrung des globalen Stickstoffkreislaufs. Drittens ist der Schaden zu einem großen Teil bereits angerichtet und irreversibel. Viele der Veränderungen, die der Mensch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Erdsystem herbeigeführt hat, sind ausgesprochen langlebig. So halten sich laut Angaben des Deutschen Klimakonsortiums, eines Forschungsverbundes universitärer und außeruniversitärer Forschungseinrichtungen im Bereich der Klimaforschung, 15 bis 40 Prozent des einmal ausgestoßenen Kohlenstoffdioxids bis zu 1000 Jahre lang in der Atmosphäre. Angesichts solcher Lebensspannen der anthropogenen Umweltveränderungen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass das Erdsystem in den Zustand des Holozäns zurückkehren wird – selbst dann, wenn der durch den Menschen erzeugte Druck auf einmal komplett nachlassen sollte. Das bedeutet aber wiederum nicht, dass schnelle und wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel und andere vom Menschen verursachten Umweltkrisen nicht sinnvoll sind. Im Gegenteil: Sie sind die beste Möglichkeit, einen kompletten Regimewechsel zu verhindern. Und das liegt letztlich im Eigeninteresse der Menschheit, will sie in ihrer jetzigen Form überleben. Denn viertens und letztens sprechen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür, dass ein Ende des relativ stabilen Zustands, den das Erdsystem trotz der globalen Erwärmung momentan immer noch hat, katastrophale Folgen für das Leben auf diesem Planeten hätte. Regimewechsel des Klimasystems, wie sie vor dem Holozän beim Wechsel von Eis- zu Warmzeiten und umgekehrt die Regel waren, hat es in der Geschichte der Menschheit nie gegeben. Es ist zumindest fraglich, ob selbst hochentwickelte Industriegesellschaften eine derartige Veränderung der Lebensbedingungen auf der Erde überstehen würden, zumal, wenn sie plötzlich einträte. Insofern ist der von Skeptikern des Klimawandels immer wieder vorgebrachte Verweis darauf, dass sich das Klima schon immer geändert habe und es in den Jahrmillionen der Erdgeschichte zumeist deutlich heißer gewesen sei als selbst die schlimmsten Prognosen für die Zukunft annehmen, zynisch, wenn nicht gar menschenverachtend.

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Der Erdsystemingenieur Jedes Lebewesen verändert seine Umwelt allein schon dadurch, dass es existiert. Seine physische Gestalt nimmt Raum ein. Sein Stoffwechsel entzieht der Umwelt Substanzen und führt ihr andere zu. Und seine Präsenz beeinflusst sowohl biotische als auch abiotische Faktoren, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Nahrung für andere Lebewesen oder die Temperatur- und Lichtverhältnisse. Es gibt jedoch bestimmte Schlüsselarten, die ihre Umwelt bei der Konstruktion ihrer jeweiligen ökologischen Nische über dieses Minimum hinaus beeinflussen. So bauen etwa Biber Dämme, und Seetang bildet unterhalb der Meeresoberfläche riesige Unterwasserwälder. Solche Arten, die ein Ökosystem schaffen, verändern, erhalten oder zerstören bezeichnet man auch als „Ökosystemingenieure“. Parallel dazu ist die Spezies Mensch angesichts der Eingriffe, mit denen sie seit Beginn der Großen Beschleunigung den gesamten Planeten verändert, nicht weniger als ein Erdsystemingenieur. Es macht daher heute keinen Sinn mehr, die über Jahrhunderte von vielen Wissenschaften getroffene Unterscheidung zwischen Mensch und Natur weiterhin aufrecht zu erhalten. Im Anthropozän lösen sich alle vermeintlichen Gegensätze zwischen „ursprünglicher“ und „zivilisierter“ Natur auf. Eine von anthropogenen Einflüssen gänzlich freie Natur hat es seit dem Auftauchen des Menschen im Pleistozän ohnehin nie gegeben. Die unberührte Natur, nach der viele Aktivsten und Romantiker auch heute immer noch suchen, ist ein Mythos. Mensch und Natur bilden seit jeher komplexe „sozialökologische Systeme“, in denen menschliche Aktivitäten wie das Sammeln von Feuerholz oder das Angeln von Fischen in Verbindung stehen mit sogenannten „Ökodienstleistungen“ – also jenen Leistungen, die intakte Ökosysteme dem Menschen bereitstellen, wie zum Beispiel sauberes Trinkwasser, die Bestäubung von Blüten oder Raum für Erholung. Tatsächlich ist dieses von dem kanadischen Ökologen Fikret Berkes und seinem schwedischen Kollegen Carl Folke in den 1990er-Jahren entwickelte Konzept heute vielerorts die Grundlage für ein praktisches Umweltmanagement, in dem Natur- und Sozialwissenschaftler fächerübergreifend zusammenarbeiten, um von der Vergiftung von Habitaten bis zum Raubbau an natürlichen Rohstoffen konkrete Probleme in der Mensch-Natur-Beziehung zu lösen. Im Hinblick auf das Zeitalter des Anthropozäns ist Berkes und Folkes Denkmodell vor allem deswegen hilfreich, weil es verdeutlicht, dass menschliche Interventionen in die Umwelt zwar prinzipiell nichts Neues, seit der Großen Beschleunigung aber zu solch immensen Eingriffen in die biologischen, ­geologischen

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und ­atmosphärischen Prozesse der Erde angewachsen sind, dass sie die weitere Existenz der von ihnen mitgeformten sozialökologischen Systeme gefährden. Mehr noch: Man kann auch die Erde selbst als ein großes, sozialökologisches System sehen, dessen Stoffwechsel von den immer zahlreicheren Aktivitäten einer immer größeren und immer wohlhabenderen Weltbevölkerung zusehends überfordert ist. Auf der Grundlage dieser oder ähnlicher Gedanken gibt es seit Jahrzehnten zahlreiche Warnungen davor, dass der Mensch den Planeten Erde an dessen Grenzen führe, ja in einigen Bereichen sogar schon darüber hinaus gedrängt habe. Am bekanntesten ist wohl der Bericht Grenzen des Wachstums, den der Club of Rome 1972 veröffentlichte. Die bis heute überaus einflussreiche Studie der gemeinnützigen Expertenorganisation für eine nachhaltige Zukunft machte der Öffentlichkeit zum ersten Mal mithilfe von Computersimulationen bewusst, welch schwerwiegende ökologische Folgen von einem unbegrenzten Wachstum der Weltbevölkerung für die gesamte Erde ausgehen. Das Global Footprint Network, eine internationale Denkfabrik zu Umweltfragen, betreibt seit Jahren eine Kampagne zum „Earth Overshoot Day“ oder „Erd­ überlastungstag“. Diese macht alljährlich auf den Tag aufmerksam, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Reproduktion dieser Ressourcen überschreitet. Seit 1970, als der jährliche Verbrauch erstmals die weltweit zur Verfügung stehenden Ressourcen überschritt, verschiebt sich der Aktionstag von Jahr zu Jahr nach vorne. Lag er noch Mitte der 1980er-Jahre im November, fiel er 2021 auf den 29. Juli. In eben diesem Jahr verbrauchte die Weltbevölkerung laut der Berechnungen der Organisation nicht weniger als 1,74 Erden. Auch in der Erdsystemwissenschaft ist die Diskussion um planetare Grenzen angekommen. 2009 identifizierten der schwedische Resilienzforscher Johan Rockström, Will Steffen, Hans Joachim Schellnhuber und andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unter der Überschrift „A Safe Operating Space for Humanity“ in dem Fachjournal Nature für neun Veränderungen des Erdsystems (atmosphärischer Aerosolgehalt, chemische Belastung, Klimawandel, Meeresversauerung, stratosphärischer Ozonabbau, biogeochemische Flussgrenze, globaler Süßwasserverbrauch, Wandel in der Landwirtschaft und Biodiversitätsverlust) Punkte, die bei einer Überschreitung „einen nicht annehmbaren ökologischen Wandel“, sprich: eine Katastrophe für das menschliche Leben auf der Erde zur Folge haben könnten. So gerechtfertigt derartige Warnungen vor einer Überforderung der planetaren Grenzen der Erde auch sein mögen: Man muss sich fragen, wie zielfüh-

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rend sie sind. Bisher sind „Kipppunkte“ nur für den Klimawandel, den Ozonabbau und die Versauerung der Meere überzeugend nachgewiesen worden. Für alle anderen Bereiche des Erdsystems sind die wissenschaftlichen Beweise für Kipppunkte dagegen rar. Dieser Umstand untergräbt die Seriosität aller Warnungen, die sich auf eben solche planetaren Grenzen beziehen, nicht unerheblich. Das gilt erst recht, wenn sich die angekündigten Schreckensszenarien nach Überschreiten der zuvor beschworenen Grenzen nicht erfüllen, so wie etwa die Hungersnöte, die der amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich angesichts des starken Wachstums der Weltbevölkerung in seinem 1968 erschienenen Buch The Population Bomb prognostizierte. Dazu kommt noch ein anderes Problem: Die Rede von Grenzen und Kipppunkten kann – sei es aus Absicht oder aus Unkenntnis – leicht so gedeutet werden, dass unterhalb der jeweiligen Werte kein Grund zur Besorgnis bestünde, ja dass die jeweiligen Schwellen bis zum Anschlag ausgereizt werden könnten. Genau das ist aber nicht der Fall. Auch wenn die Eingriffe des Menschen in das Erdsystem unterhalb gewisser Grenzen bleiben, sind sie in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität bereits jetzt so hoch, dass sie die Funktionsweise der entsprechenden planetarischen Prozesse und damit letztlich das menschliche Leben auf der Erde ernsthaft gefährden. In Anbetracht dieser Probleme scheint es nicht unbedingt ratsam, unser Verhalten ausschließlich an planetarischen Grenzen auszurichten. Demarkationslinien wie das 1,5-Grad-Ziel sind ohne Frage hilfreich, um bestimmte Worst-Case-Szenarien zu vermeiden. Jenseits dessen bieten sie jedoch nur wenig Orientierung. Daher ist es sinnvoll, sich zusätzlich mindestens genauso viele Gedanken darüber zu machen, was der spätestens durch den Klimawandel bewirkte Zusammenfall der kulturellen Wirklichkeit des Menschen und der planetarischen Wirklichkeit der Erde im Anthropozän für uns beziehungsweise unseren Ort in der menschlichen und geologischen Geschichte bedeutet, wie wir damit in der sich gerade entfaltenden vierten industriellen Revolution umgehen wollen und wohin uns das führen soll.

Die Neuorganisation der Geschichte Die in den vergangenen Jahrzehnten von Erdsystemwissenschaftlern gewonnene Einsicht, dass unser Planet mit dem Anthropozän in ein neues Zeitalter getreten ist, in dem der Mensch eine die Erde verändernde Naturkraft darstellt, hat profunde Auswirkungen auf unser Verständnis der Geschichte. Der in Chicago lehrende indische Südostasienhistoriker Dipesh Chakrabarty, der zu den renommiertesten Vertretern der postkolonialen Geschichtsschreibung zählt,

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hat diesem Zusammenhang 2021 unter dem Titel The Climate of History in a Planetary Age ein vielbeachtetes Buch gewidmet, das jüngst unter dem Titel Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter auch auf Deutsch erschienen ist. Darin führt er unter dem Eindruck der weltweiten Coronapandemie die Thesen weiter aus, die er bereits 2009 in einem provokanten Aufsatz gleichen Titels zur Debatte gestellt hat, und entwirft so eine neue „planetarische Perspektive“ auf Geschichte und Gegenwart. Um den Übergang des Holozäns ins Anthropozän sowie die Rolle und Möglichkeiten des Erdsystemingenieurs Mensch in diesem neuen Zeitalter besser zu verstehen, ist es ausgesprochen lohnenswert, sich mit Chakrabartys originellen Gedanken, aber auch mit der teils überaus harschen Kritik daran näher auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang bietet sich auch ein kurzer Seitenblick auf die wichtigsten Gegennarrative an, die sich dieser Tage zum Anthropozän formieren. Chakrabarty geht von zwei Beobachtungen aus, die auch wir bei unserem Gang durch das Anthropozän an verschiedenen Stellen immer wieder in ähnlicher Form haben machen können. Erstens habe sich „das geologische Jetzt des Anthropozäns mit dem Jetzt der Menschheitsgeschichte verwoben“. Da der Mensch zu einer geologischen Kraft geworden sei, die das Erdsystem verändere, lebe er gegenwärtig zum ersten Mal in seiner Geschichte „in zwei verschiedenen Arten der ‚Jetztzeit‘ gleichzeitig“, nämlich im „Jetzt der Menschheitsgeschichte“ und im „langen Jetzt der geologischen und biologischen Zeitskalen“. Dadurch verbinde der Mensch nun „drei Geschichten, die sich vom Standpunkt der Menschheitsgeschichte aus gesehen normalerweise in so verschiedenen Geschwindigkeiten entwickeln, dass sie […] als separate Prozesse behandelt werden: die Geschichte des Erdsystems, die Geschichte des Lebens, inklusive der menschlichen Evolution auf dem Planeten, und die sehr viel jüngere Geschichte der industriellen Zivilisation“. Eine Möglichkeit, über das Anthropozän nachzudenken, sei deshalb, seine Krisenerscheinungen – allen voran den menschengemachten Klimawandel – als ein „Problem nicht zusammenpassender Temporalitäten“ zu begreifen. Das verlange wiederum, „intellektuelle Denkfiguren“ zusammenzuführen, die von einer „gewissen Spannung“ geprägt seien: „das Planetarische und das Globale, Deep History und Recorded History; das Denken in Spezies und Kapitalismuskritik“. Zweitens sei das Anthropozän nicht nur ein „globales Zeitalter“, sondern auch ein „planetarisches“. Diese Tatsache mache es nötig, sich „beim Nachdenken über die letzten paar Jahrhunderte der menschlichen Vergangenheit und über die menschlichen Zukünfte sowohl an dem zu orientieren, was wir übli-

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cherweise [im Englischen] ‚Globe‘ nennen, als auch an einem neuen historischphilosophischen Gebilde namens ‚Planet‘“. Letzteres sei eben „nicht dasselbe wie der Globe, oder die Erde, oder die Welt, jene Kategorien, die wir bisher benutzt haben, um die moderne Geschichte zu organisieren“. Der Globe oder die Erde sei eine „menschenzentrierte Konstruktion“, der Planet oder das Erdsystem nehme den Menschen dagegen „aus dem Zentrum heraus“. Es handele sich dabei nämlich um „ein dynamisches Zusammenspiel von Beziehungen […], das [in seiner Gesamtheit] das System Erde bildet“. Die Prozesse der Globalisierung und der globalen Erwärmung bezögen sich deshalb – trotz der verwirrenden Verwendung desselben Wortstammes – auf zwei sehr verschiedene Dinge. Eigentlich sei es somit angebrachter, von „planetarischer Erwärmung“ zu sprechen. Unsere heutige Zeit historisch zu reflektieren, verlange folglich, „uns selbst aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten: der planetarischen und der globalen“. Erstere sei dabei der „Versuch der Menschen, ihre eigene Geschichte von Außen zu verstehen“. Aus diesen beiden Grundbeobachtungen zieht Chakrabarty den Schluss, dass der Zusammenfall der menschlichen und geologischen Jetztzeit danach verlange, darüber nachzudenken, „wie verschiedene Lebensformen, unsere eigene und andere, in die historischen Prozesse verstrickt seien, die den Globe und den Planeten als Gedankengebilde und theoretische Kategorien zusammenbringen und dadurch die begrenzte Zeitskala, auf der moderne Menschen und Historiker über Geschichte nachdenken, mit den unmenschlich großen Zeitskalen der geologischen Geschichte vermischen“. Die beiden wichtigsten, das Globale und das Planetarische miteinander verbindenden Faktoren sind laut Chakrabarty eben jene beiden kulturhistorischen Phänomene, die wir im zweiten Teil dieses Buches als Antriebsräder der industriellen Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart kennengelernt haben: Technologie und Kapitalismus. Die Fähigkeiten des Menschen, den Planeten zu verändern, sind weitgehend technologischer Natur. Daraus folgert Chakrabarty, dass „Technologie auch ein intrinsischer Teil der sich entfaltenden Geschichte der Menschen“ sei. Das globale System menschlicher Technologie sei, so Chakrabarty, zu einer „Voraussetzung für die Biologie, für die Existenz der Menschen in so großer Zahl auf diesem Planeten“ geworden. Durch den technologischen Fortschritt seit der ersten industriellen Revolution hätten die Menschen folglich „die Erde bereits zu einem Raumschiff für sich selbst“ gemacht. Bezüglich des Kapitalismus betont Chakrabarty, dass dessen Expansionsdynamik im Industriezeitalter und die daraus resultierenden ökonomischen

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­ ngleichheiten zwischen verschiedenen Teilen der Welt natürlich einen wichU tigen Grund für die Umweltmiseren des Anthropozäns darstellten. Es sei aber beunruhigend, dass das Problem des Klimawandels allzu oft „auf das des Kapitalismus (im Rahmen der Geschichte europäischer Expansion und Imperien) reduziert“ werde. Denn dies mache uns „blind für das Handeln – die Handlungsfähigkeit, wenn man so will  – der Prozesse des Erdsystems und ihrer nichtmenschlichen Temporalitäten“, mit dem Resultat, dass wir die „Natur unserer Gegenwart“, also das „Zusammenkommen der relativ kurzfristigen Prozesse der Menschheitsgeschichte und der sehr viel längerfristigen Prozesse der Geschichte des Erdsystems und der Geschichte des Lebens auf dem Planeten“ aus den Augen verlieren. Tatsächlich sei „das Haus der modernen Freiheiten“ und des Wohlstandes überall auf dem Planeten seit der ersten industriellen Revolution „auf dem sich ständig ausweitenden Fundament der Nutzung fossiler Energieträger errichtet worden“. Daher sei die Spezies Mensch insgesamt „durch die industrielle Lebensart wie durch das Kaninchenloch in der Geschichte von Alice [im Wunderland]“ in das Anthropozän mit all seinen Umweltkrisen „hineingerutscht“. Dies anzuerkennen, bedeute nicht, „die historische Rolle“ zu verleugnen, „die reichere und hauptsächlich westliche Nationen bei der Emission von Treibhausgasen gespielt“ hätten. In den Kategorien der Spezies Mensch zu denken, verneine nicht die Suche nach Verantwortung, die ohne Frage eng mit der Geschichte des Kapitalismus und der Modernisierung verbunden sei. Aber die Entdeckung, dass die Spezies Mensch im Laufe des Industriezeitalters zu einer geologischen Kraft geworden sei, deute stark darauf hin, dass die Menschheit in eine „gemeinsame Katastrophe […] hineingefallen“ sei. Im Lichte dieser Überlegungen plädiert Chakrabarty in Anlehnung an die „kulturelle Wende“, mit der sich die Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für kulturhistorische Fragestellungen öffnete, für eine „planetarische Wende“. Es sei nötig, ein ganz neues Verständnis von der Geschichte der Moderne zu entwickeln. Dieses müsse eine „planetarische Perspektive“ einnehmen, die sich nicht auf verschiedene menschliche Gruppen oder Individuen konzentriere, sondern auf das Erdsystem insgesamt – und den Menschen folglich als eine von vielen dort lebenden Spezies betrachte. In einer solchen „negativen Universalgeschichte“ solle „das Nichtmenschliche fähig sein, sich Gehör zu verschaffen, ohne vermenschlicht zu werden oder die Sprache der Menschen sprechen zu müssen“. Was das genau heißt, könne man freilich noch nicht sagen. Einen „konkreten positiven Inhalt“ müssten Historiker dieser neuen Art von Geschichte erst noch geben.

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Chakrabartys Vorstoß löste schon nach der Veröffentlichung seines ursprünglichen Artikels in weiten Teilen der Geisteswissenschaften einen Sturm der Entrüstung aus, der sich seit dem Erscheinen des Buches noch gesteigert hat. Besonders Gelehrte aus dem Bereich der postkolonialen Studien, also aus Chakrabartys eigener intellektueller Heimat, brachte dessen Argumentation regelrecht zur Weißglut. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu erkennen. Kritische Leser monierten vor allem, dass Chakrabarty anscheinend die Bedeutung von Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus für den globalen Klimawandel herunterspiele und damit hart erkämpfte Fragen der historischen Gerechtigkeit wieder relativiere. Diese Kritik folgte mehr oder weniger immer demselben Muster: Indem Chakrabarty alle Menschen ungeachtet ihrer nationalen, kulturellen, ethnischen und sozioökonomischen Unterschiede zu einer einzigen taxonomischen Gruppe zusammenfasse, zeichne er das Bild einer speziesgetriebenen Entwicklung des Industriezeitalters, in der nicht der von Machtinteressen getriebene und Ungleichheit produzierende Kapitalismus, sondern die Moderne selbst mit ihrem Streben nach Freiheit und Wohlstand für den Klimawandel verantwortlich sei. Dadurch spreche er die Hauptverursacher von Treibhausgasemissionen in der Geschichte – die reichen Staaten Westeuropas und Nordamerikas  – von ihrer historischen Schuld frei, während er die in der Industrialisierung ausgebeuteten und heute in einem Aufholprozess nach globaler Gleichheit strebenden Entwicklungs- und Schwellenländer im Rest der Welt mitschuldig spreche. Diese Art der Kritik speist sich aus dem wohl bedeutendsten Gegennarrativ, das sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Anthropozän entwickelt hat: dem Kapitalozän. Die Vertreter dieser Denkschule, wie etwa der amerikanische Historiker und Humangeograf Jason Moore, lehnen die Vorstellung eines anthropozänen Zeitalters und alle sich darauf beziehenden Narrative als ahistorisch und unpolitisch ab, da sie verschleiere, wie und aus welchen Gründen es dazu gekommen sei. In ihren Augen ist die spezifische Wirtschaftsform des Kapitalismus und nicht die allgemeine Industrialisierung der Welt für die menschengemachten Veränderungen im Erdsystem verantwortlich. Und diese kapitalismusgetriebene Transformation des Planeten habe vermittels der europäischen Expansion im Kolonialismus und Imperialismus weltweit massive Ungleichheit geschaffen, weswegen – so die Betonung – Milliarden Mitglieder der Spezies Mensch eben keine Gewinner oder Täter, sondern Verlierer und Opfer dieser Entwicklung seien. Die oben bereits erwähnte Aktivistin Naomi Klein schrieb dazu 2016 im London Review of Books: „Für unsere von fossilen

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Brennstoffen angetriebene Wirtschaft sind Opferzonen unabdingbar.“ Einige Vertreter des Kapitalozän beschreiben die anthropogenen Eingriffe des Industriezeitalters in das Erdsystem gar als kalkulierte Strategie einer hegemonialen kapitalistischen Elite. Das ist keinesfalls ganz unbegründet. So haben zum Beispiel die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes (ein weiteres Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropozän) und ihr Kollege Erik Conway in ihrem Buch Merchants of Doubt überzeugend dargelegt, dass große Ölkonzerne schon seit Langem von den weltweiten negativen Umweltfolgen ihrer industriellen Tätigkeit wussten und gezielt Kampagnen finanzierten, um diese vor der Öffentlichkeit zu verbergen und Zweifel am anthropogenen Klimawandel zu streuen. Die Kritik an Chakrabartys Blick auf den Menschen als Spezies kann sich noch auf ein weiteres Gegennarrativ zum Anthropozän stützen. Auf der Basis früherer Arbeiten prägte die feministische Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway 2016 in ihrem Buch Staying with the Trouble in Anlehnung an eine mythische Figur, erfunden von dem amerikanischen Schriftsteller H. P. Lovecraft, den Begriff des „Chthuluzäns“, der seitdem viele Anhänger in den Geistes- und Sozialwissenschaften gefunden hat. Haraway fordert, das „Speziesdenken“ zu überwinden, auf dem die Vorstellung des Anthropozäns beruht. Denn dieses habe das „extinktionistische“ Muster, nach dem der Mensch schonungslos in die natürlichen Prozesse der Erde eingreift, überhaupt erst begründet. Deshalb müsse der Mensch ganz neu gedacht werden, nämlich nicht mehr als eine von anderen Spezies getrennte Gattung, sondern als Teil eines dicht verwobenen Netzes des Lebens, in dem auch nichtmenschliche Organismen eine wichtige Rolle spielen. Wirkliche Individuen gebe es ohnehin nicht, da in den meisten Spezies viele andere existierten – man denke nur an die Millionen von Bakterien, die jeder Mensch in seinem Darm mit sich trägt. Dementsprechend könne der Mensch angesichts der riesigen Umweltprobleme unserer Zeit nur im „Mit-Werden“ überleben, das heißt, indem er sich mit anderen Arten als „Symbionten“ verbinde und so alles Leben in der Biosphäre zusammenführe. Diese durch eine Mischung aus naturhistorischer Darstellung und utopischen Geschichten entwickelte, strikt sozialökologische Perspektive bringt Haraway auf die einfache Formel: „Macht euch verwandt, nicht Babys!“. Zurück zu Chakrabarty. Neben der Relativierung des Kapitalismus und der Fokussierung auf den Menschen als Spezies gibt es noch einen weiteren großen Kritikpunkt an dessen Überlegungen zur Neuorganisation der Geschichte, den zum Beispiel der deutsche Sozialwissenschaftler Peter Wagner eindringlich formuliert hat. Die Tatsache, dass Chakrabarty infolge der Transformation

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der Menschheit zu einer geologischen Kraft das „Kollabieren der geisteswissenschaftlichen Unterscheidung zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte“ konstatiert, wie er schon in seinem Aufsatz von 2009 zusammenfasste, stellt laut Wagner „die Grundlagen der Geistes- und Sozialwissenschaften infrage“. Indem Chakrabarty in seinem Buch das Anthropozän nun immer und immer wieder als eine „unbeabsichtigte Nebenerscheinung menschlicher Entscheidungen“ beschreibe, betreibe er „eine sozial- und geisteswissenschaftliche Bankrotterklärung“. Schließlich gehöre die Suche nach Kausalität und Kontingenz zum Kerngeschäft dieser Wissenschaften. Daher müsse man „die ‚große Divergenz‘, die sich um 1800 zwischen Europa und dem Rest der Welt auftat, den ‚Energiegraben‘, der die Industrieländer seit etwa 1900 von anderen Weltregionen trennte, und die ‚große Beschleunigung‘, die nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand, schon genauer untersuchen: daraufhin, welche Probleme sich den Gesellschaften stellten und in welcher Weise fossile Rohstoffe als Beitrag zur Lösung dieser Probleme erscheinen konnten“. Jede alternative Geschichte müsse daher – auch wenn sie geowissenschaftliche Erkenntnisse miteinbeziehe – „immer noch von Menschen [erzählen], für die die Erde der Grund aller Erfahrung“ sei. Die genannten Kritikpunkte an Chakrabartys Vorstoß haben ohne Zweifel einiges für sich. So ist es tatsächlich ein ziemlich schmaler Grat zwischen Chakrabartys Versuch, die ganze Menschheit als eine Spezies zusammenzufassen, und etwa Wolfgang Behringers oben geschilderter Rede davon, dass der „südafrikanische Buschmann“ und die „Ölfirmen in Texas“ grundsätzlich „in dieselbe Kategorie der Klimasünder“ gehörten – und das, obwohl der eine die Erforschung der durch Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus bedingten globalen Ungleichheit zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat und der andere sich explizit gegen Forderungen wehrt, die Industriestaaten beim Kampf gegen den Klimawandel aus historischen Gründen stärker zu belasten als Entwicklungs- und Schwellenländer. Auch die Tatsache, dass Chakrabarty selbst noch nicht weiß, mit welchen Inhalten die von ihm vorgeschlagene alternative Geschichte der Moderne gefüllt werde muss, hilft nicht gerade dabei, sein Plädoyer für eine Ausrichtung an der Erdsystemwissenschaft nicht als einen vorschnellen Angriff auf die methodischen Säulen der Geistes- und Sozialwissenschaften erscheinen zu lassen. Derartige Probleme, die sich  – je nach Absicht  – leicht übertreiben oder herunterspielen lassen, ändern jedoch nichts an der grundsätzlichen Bedeutung von Chakrabartys Vorstoß. An der Kernforderung, dass wir  – um die

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­ erausforderungen des Anthropozäns besser zu verstehen – die Geschichte der H Moderne auf der Basis der jüngsten Erkenntnisse der Erdsystemwissenschaften neu erzählen müssen, führt kein Weg vorbei. Das geben selbst vehemente Kritiker wie Peter Wagner zu, wenn sie schreiben, dass „die Forderung […] Chakrabartys nach einer ‚alternativen Geschichte der Moderne‘ […] nicht nur berechtigt“, sondern auch „dringlich einzulösen“ sei. Im Zusammenhang mit diesem Auftrag an die Geistes- und Sozialwissenschaften erscheint es ausgesprochen sinnvoll, so wie Chakrabarty nach einer Perspektive Ausschau zu halten, die sich nicht auf die Suche nach historischer Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand des Erdsystems konzentriert, sondern auf die geschichtliche Einordnung der Einflussmöglichkeiten, die der Mensch als Spezies hat. Denn da der Schaden in vielen Teilen des Erdsystems nun einmal bereits angerichtet ist, kann ein besseres Verständnis der speziesweiten Problemzusammenhänge und Lösungspotenziale letztlich mehr dazu beitragen, menschliches Verhalten zu ändern und so die Klimakrise noch abzuwenden, als die müßige Bestimmung der Schuldfrage. Dazu kommt noch etwas anderes. Wenn wir wirklich akzeptieren, dass die Erde mit dem Anthropozän in ein neues Zeitalter eingetreten ist, fällt es aus historischer Perspektive schwer, für einige von Chakrabartys kontroversen Schlussfolgerungen überzeugende Alternativen zu finden. Ein gutes Beispiel ist ein auch von Wagner vorgebrachter Einwand gegen die Charakterisierung der Verbrennung fossiler Energieträger als Basis der modernen Freiheit und des Wohlstands: „Nur weil manche Teile der Welt (Europa und Nordamerika) ihre größeren Freiheiten durch massiv zunehmenden Ressourcenverbrauch erreicht“ hätten, sei das „keine notwendige Beziehung“. Unter rein logischen Gesichtspunkten mag dieses Argument zutreffen. Historisch gesehen hat es allerdings in der Geschichte der Moderne keine andere wirtschaftliche Koordinationsform außer dem industriellen Kapitalismus mit seiner so eng mit technologischen Innovationen verknüpften Expansionsdynamik je geschafft, Wohlstand und Freiheit in vergleichbaren Maßen dauerhaft zu garantieren. Und dafür haben seine evolutionären Wachstumsmechanismen bisher nun einmal Unmengen natürlicher Rohstoffe benötigt. Die grüne Häutung, zu der der steigende gesellschaftliche Druck, die Kosten der anthropogenen Umweltprobleme und die Erschöpfung natürlicher Rohstoffvorkommen den Kapitalismus gegenwärtig zwingen, wird dies vermutlich und hoffentlich in absehbarer Zukunft ändern. Bis dahin ist es aus historischer Sicht jedoch schwer, um Chakrabartys unangenehme Feststellung herumzukommen.

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Mit seinem Vorstoß ist Chakrabarty denn auch ein Stück weit über seinen eigenen Schatten gesprungen. Als einer der wichtigsten Köpfe der sogenannten Subaltern Studies, also jener bunten Gruppe von wissenschaftlichen Ansätzen, die seit den 1980er-Jahren die nuanciertesten Analysen des Kolonialismus und seiner Folgen in Südasien hervorgebracht haben, ist es ihm sicher nicht leicht gefallen, eine Perspektive zu entwerfen, die die Verantwortung des Kapitalismus für die Erderwärmung derjenigen der Spezies Mensch unterordnet. Mit diesem Schritt hat er Mut und Flexibilität bewiesen. Das gleiche sollten andere Vertreter der Geistes- und Sozialwissenschaften auch tun, anstatt sich von seinem Vorstoß bedroht zu fühlen. Mit seiner planetarischen Perspektive hat Chakrabarty zur Neuorganisation der Geschichte auf Basis der Erkenntnisse der Erdsystemwissenschaften einen ersten konkreteren Vorschlag gemacht – nicht mehr und nicht weniger. Diesen Vorschlag kann man annehmen oder, wie es die Vertreter des Kapitalozäns und des Chthuluzäns versuchen, zugunsten einer durchdachten Alternative verwerfen. In jedem Fall gilt es jedoch, die Geschichte der Moderne neu zu erzählen, um unsere Gegenwart besser zu verstehen und auf dieser Basis Lösungen für die großen, menschengemachten Umweltkrisen zu finden. Und dazu muss man sich mit jenen, von Chakrabartys provokantem Vorstoß in aller Deutlichkeit herausgestellten Fragen beschäftigen, die die Fähigkeit des Menschen zur Veränderung der großen planetarischen Prozesse aufwirft und die immer dringlicher zu werden versprechen, je mehr sich diese Fähigkeit im Zuge der vierten industriellen Revolution entfalten wird: „Sind die Menschen jetzt eine ‚Gottspezies‘? Sollten die Menschen sich mit anderen, nichtmenschlichen Geschöpfen verbinden? Sollten menschliche Gesellschaften danach streben, ein Teil der natürlichen Systeme des Planeten zu werden? [Und] wird die Erde dank der Integration von Technosphäre und Biosphäre zu einem ‚intelligenten‘ Planeten werden?“

Anthropozäne Zukünfte Angesichts der Zuspitzung der Klimakrise und der enormen Umweltschäden, die der Mensch trotz des Wissens um die Tragweite seiner Eingriffe in das Erdsystem nach wie vor verursacht, kann man leicht die Zuversicht verlieren und das Zeitalter des Anthropozäns als eine menschengemachte Apokalypse deuten, die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Großen Beschleunigung einsetzte und die natürlichen Lebensgrundlagen früher oder später ganz zerstören wird. Es ist allerdings wenig zielführend, sich in den Sog pessimistischer Untergangsszenarien hinabziehen zu lassen. Man darf die Perspektive nicht verlieren,

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wie Erle Ellis am Ende seiner aufrüttelnden Analyse des neuen Erdzeitalters schreibt: Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, ist das Anthropozän weder gut noch schlecht; es ist schlichtweg eine beobachtbare Realität. Aber es sollte auch klar sein, dass das Anthropozän noch nicht abgeschlossen ist. Wie andere Epochen der geologischen Zeit dauert es vielleicht Millionen Jahre – mit oder ohne uns. Bessere und schlechtere „Anthropozäne“ sind echte Möglichkeiten, je nachdem, wie sich menschliche Gesellschaften heute und in Zukunft verhalten.

In welche Zukunft diese „beobachtbare Realität“ genau führen wird, ist noch nicht gewiss. Alles, was sich zum jetzigen Zeitpunkt sagen lässt, ist, dass sich die künftige Entwicklung des Anthropozäns in einem „Dreieck der Möglichkeiten“ bewegen wird, wie Daniel Headrick am Ende seiner globalen Umweltgeschichte resümiert. In einer Ecke dieses Dreiecks liegt eine Zukunft, in der der Mensch eine 180-Grad-Wendung vollzogen hat. Statt weiterhin auf die Verbrennung fossiler Energieträger, Massenproduktion und -konsum sowie Wachstum zu setzen, hat er seine Gewohnheiten, ja sogar seinen Charakter grundlegend verändert. Er setzt jetzt konsequent auf Nachhaltigkeit und Selbstbeschränkung, und zwar sowohl bei der wirtschaftlichen Entwicklung als auch im Alltag. Dafür nimmt er beträchtliche Wohlstandeinbußen bereitwillig in Kauf. „Weniger ist mehr“ ist sein neues Mantra, auch wenn das Leben – je nachdem, von welcher Region der Welt die Rede ist  – unbequemer wird beziehungsweise ausgesprochen beschwerlich, ja elendig bleibt. Über Jahrhunderte ordnet er seine eigenen Bedürfnisse der Erholung der verschiedenen Sphären des Erdsystems unter. So erholt sich schließlich die Atmosphäre von den anthropogenen Eingriffen der Vergangenheit, und das Klima erwärmt sich nicht länger. Schön ist diese Zukunft für den Planeten – aber auch unwahrscheinlich. Tatsächlich erscheint Headrick diese Ecke des Dreiecks gegenwärtig mehr als blumige Utopie denn als realistische Möglichkeit: „Ohne Frage sind manche Menschen zu Weisheit, Selbstbeschränkung und Demut fähig, aber gilt das auch für die ganze Menschheit angesichts unserer Kulturen und unserer politischen und wirtschaftlichen Institutionen?“ In der zweiten Ecke des Möglichkeitendreiecks liegt eine Zukunft, in der der Mensch einfach weitermacht wie bisher. Trotz eines immer stärkeren Anstieges der globalen Durchschnittstemperaturen und der Zunahme von Na-

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turkatastrophen betreibt er business as usual. Es gibt zwar in einzelnen Bereichen technologische Fortschritte, die der Umwelt entgegenkommen. So verbreiten sich etwa Solar- und Windanlagen genauso wie Elektroautos, weil sie sich sowohl für Hersteller als auch für Verbraucher zusehends rechnen. Insgesamt gesehen nehmen die Eingriffe in die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Erdsystems aber weiter zu  – und infolgedessen auch die Umweltschäden. „Es ist nicht schwer“, betont Headrick, „sich eine solche Welt vorzustellen“. Dazu muss man nur auf China und die anderen Länder schauen, die völlig zu Recht danach streben, die im Laufe der Industrialisierung entstandene Wohlstandslücke zu schließen. Denn um das zu erreichen, beschreiten sie momentan zum großen Teil genau wie einst Westeuropa und Nordamerika Wege, die von massiven Umwelteingriffen geprägt sind. Verlängert man diese Kontinuitätslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft, landet man unweigerlich in dieser zweiten Ecke der Zukunftsmöglichkeiten. In der dritten und letzten Ecke liegt wiederum eine ganz andere Zukunft. Darin haben die Menschen aufgehört, die von ihnen verursachten Umweltschäden zu relativieren oder zu leugnen. Gleichzeitig versuchen sie aber auch nicht, Selbstbeschränkung zu üben, weil sie entweder Wohlstandseinbußen ablehnen oder keinen anderen Weg als den des Wachstums finden können, um ihren Lebensstandard anzuheben. Stattdessen beginnen sie, mithilfe neuer Technologien und Institutionen die verschiedenen Prozesse des Erdsystems absichtlich zu manipulieren, um dadurch bedrohlichen Umweltkrisen entgegenzuwirken, insbesondere der Erderwärmung. Anders gesagt: Die Menschen fangen damit an, den Planeten rational zu steuern. Dieses „Erdmanagement“ bringt viele Chancen, aber auch enorme Risiken mit sich. Außerdem verlangt es von der Menschheit als Ganzes, sich darauf zu einigen, in welche Richtung die planetarischen Verhältnisse verändert werden sollen. Das ist bei der unterschiedlichen Interessenlage verschiedener Weltregionen überaus schwierig. So resultiert Headrick zufolge aus dieser Entwicklungsmöglichkeit des Anthropozäns schon heute eine Frage, die immer dringlicher werden wird, je mehr sich die Fähigkeiten des Menschen zum Management des Planeten vergrößern werden: „Wie können wir Wissenschaft und Technik mit Weitblick und moralischem Mut verbinden?“ Wohin genau in diesem Dreieck der Möglichkeiten sich das Anthropozän entwickeln, ob es geradewegs auf eine der Ecken zustreben oder irgendwo dazwischen landen wird, das wird maßgeblich davon abhängen, welchen Verlauf

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die sich gerade so kraftvoll vor unseren Augen entfaltende vierte industrielle Revolution nehmen wird. Und das bedeutet, wie uns die Kapitel über „Die Räder der Revolution“ gezeigt haben, dass die Zukunft des Planeten und somit auch der Menschheit aufs Engste damit verknüpft ist, wie sich das Zusammenspiel zwischen technologischen Innovationen und den evolutionären Mechanismen kapitalistischen Wirtschaftens gestalten wird. Was der Kapitalismus tun muss, um das Anthropozän in eine nachhaltigere Richtung zu steuern, haben wir im Laufe dieses Buches schon mehrfach gesehen: Er muss sich – wie so oft in seiner Geschichte – einmal mehr häuten und „grün“ werden. Im Gleichklang damit ist es eine zentrale Herausforderung der technologischen Entwicklung, Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern zu ermöglichen, von fossilen Energieträgern wegzukommen, ohne dabei ihren Wohlstand zu verlieren oder ihr Streben danach zunichtezumachen. Dafür braucht es zuallererst technologische Lösungen, die erneuerbare Energien in der Erzeugung, Speicherung und Verteilung effektiver und günstiger machen.

Erdmanagement „Sind wir noch zu retten?“, fragt der amerikanische Umweltphilosoph Christopher J. Preston angesichts der massiven Umweltzerstörungen des Anthropozäns im Titel seines 2019 auf Deutsch erschienenen Buchs über das von ihm so bezeichnete „synthetische Zeitalter“. Seine Antwort: ja! Denn neue Technologien von der synthetischen Biologie über die Nanotechnologie bis hin zum Geoengineering versprechen, uns mittel- bis langfristig in die Lage zu versetzen, durch gezielte Eingriffe in die verschiedenen Teile des Erdsystems dessen in Mitleidenschaft gezogene Prozesse zu „heilen“. Die Risiken dieses Weges sind allerdings hoch – so hoch, dass Preston davor warnt, die Entscheidung darüber allein den Ingenieuren zu überlassen. Tatsächlich ist „Erdmanagement“ längst kein Wunschtraum verschrobener Tech-Visionäre mehr, sondern eine realistische Möglichkeit, an deren Umsetzung seriöse Wissenschaftler schon seit vielen Jahren arbeiten. Schon 1989 widmete die Zeitschrift Scientific America dem Thema eine ganze Ausgabe. Zehn Jahre später fragte Hans Joachim Schellnhuber in einem Nature-Artikel über „Die Erdsystemanalyse und die zweite Kopernikanische Revolution“ mahnend: „Warum sollte Prometheus Gaia nicht zur Hilfe kommen?“ Mit dieser mythologischen Anspielung auf den griechischen Gott Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, und die personifizierte Mutter Erde bezog sich der renommierte Klimatologe auf die sogenannte Gaia-Hypothese. Gemäß dieser ab Mitte

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der 1970er-Jahre von dem Biophysiker James Lovelock und der Mikrobiologin Lynn Margulis entwickelten Theorie reguliert die Biosphäre der Erde das Erdklima, indem sie sich wie ein Thermostat verhält. Wärmt sich die Erde auf, reagiert sie mit Abkühlungseffekten. Infolge des kontinuierlichen Anstieges der globalen Durchschnittstemperaturen ist von dieser Hypothese im Laufe der Jahre nicht mehr übrig geblieben als die für die Erdwissenschaften nach wie vor grundlegende Annahme, dass die Erde ein komplexes dynamisches System ist, in dem unterschiedliche Prozesse untereinander verschiedene Rückkoppelungen aufweisen. Vor diesem Hintergrund versteht sich Schellnhubers Botschaft: Gaia braucht Hilfe. Und zwar vom menschenfreundlichen Retter Prometheus, der Symbolfigur für wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt. Die bekannteste Form des Erdmanagements ist das sogenannte Geo- oder Klimaengineering. Der Grund dafür liegt in der Dringlichkeit der Klimakrise. Seit 1990 sind die weltweiten Emissionen von Kohlenstoffdioxid von knapp 23 000 Millionen Tonnen auf über 34 000 Millionen Tonnen gestiegen. Alle politischen Bemühungen, inklusive der internationalen Klimakonferenzen von Rio de Janeiro (1992), Berlin (1995), Kyoto (1997), Kopenhagen (2009) und ­Paris (2015), und alle Effizienzfortschritte bei den erneuerbaren Energien haben es nicht geschafft, die globalen Treibhausgasemissionen signifikant einzudämmen. Die Hoffnung, dass dieses Ziel innerhalb weniger Jahre erreicht werden könne, ist ohnehin unrealistisch. Wie der kanadische Umweltwissenschaftler Vaclav Smil in seinem Artikel „The Long Slow Rise of Solar and Wind“ gezeigt hat, haben die Übergänge von Holz zu Kohle, von Kohle zu Öl und von Öl zu Erdgas jeweils fünfzig bis sechzig Jahre in Anspruch genommen. Der Umstieg auf erneuerbare Energien dürfte selbst dann ähnlich lange dauern, wenn die gegenwärtigen Anstrengungen deutlich forciert werden. Je länger sich die Umstellung jedoch hinzieht und je länger es somit nicht gelingt, die globalen Treibhausgasemissionen deutlich zu senken, desto wahrscheinlicher wird es, dass es irgendwann gar keine andere Möglichkeit mehr gibt, die Erderwärmung aufzuhalten, als mit vorsätzlichen und großräumigen Eingriffen in die geo- und biogeochemischen Prozesse des Erdsystems. Die zu diesem Zweck diskutierten Maßnahmen sind ausgesprochen vielfältig. Einige davon muten geradezu bizarr an. So gibt es beispielsweise Vorschläge, ganze Bergketten weiß zu streichen oder Milliarden von Spiegeln beziehungsweise Solarreflektoren im Weltraum zu installieren, um die Sonnenenergie in den Weltraum zurückzustrahlen. Andere Ideen setzen auf riesige Sonnenschirme, die der Erde vom Weltraum aus Schatten spenden sollen,

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10 Kühne Geoengineering-Vision: Solarreflektoren im Weltraum sollen die globale Erwärmung stoppen.

oder auf „­ kosmisches Konfetti“, 16 Billionen kleiner Kunststoffscheibchen, die im Schwarm zwischen Erde und Sonne hin- und herflittern und dabei bis zu 1,8 Prozent des Sonnenlichts ablenken sollen, das sonst auf die Erde treffen würde. Wieder andere sehen vor, ab einem gewissen nördlichen Breitengrad alle Bäume zu roden, um so das Sonnenlicht von der kahlen Landschaft zurückreflektieren zu lassen. Besonders kühne Pläne wollen die Erde gar auf eine neue, der Sonneneinstrahlung weniger stark ausgesetzte Umlaufbahn zwingen. Jenseits solch radikaler Vorhaben gibt es auch eine ganze Reihe gemäßigtere Vorschläge. So wird verstärkt darüber nachgedacht, wie man den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre verringern kann. Das Anpflanzen schnellwachsender Bäume, die vermittels Fotosynthese CO2 binden können, ist eine altbekannte Methode. Gegenwärtig werden infolge der menschlichen Gier nach Land jedoch deutlich mehr Wälder gerodet als angelegt. An „sauberer Kohle“, das heißt einer Serie von komplexen technischen Verfahren, die CO2 aus Fabrikabgasen filtern, wird vor allem in den USA mithilfe gewaltiger öffentlicher Subventionen intensiv geforscht. Es ist allerdings hoch umstritten, was mit dem so aus den Fabrikschornsteinen „abgefangenen“ Kohlenstoffdioxid geschehen soll. Sowohl die Möglichkeit, das Gas in riesigen Hohlräumen unter-

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halb der Erdoberfläche einzulagern, als auch die Alternative, es in die Tiefen der Weltmeere zu pumpen, birgt enorme Gefahren, von Erdbeben bis zu einer Vergiftung der Ozeane. Außerdem löst eine Filterung von Fabrikabgasen weder das Problem der vielen anderen CO2-Quellen noch das des schon in der Atmosphäre in hoher Konzentration angereicherten Kohlenstoffdioxids. Um Letzteres aus der Luft zu entfernen, schlagen manche Wissenschaftler vor, durch die Verteilung von Eisenspänen in den Ozeanen riesige Teppiche aus foto­ synthesetreibendem Phytoplankton wachsen zu lassen. Damit es dabei nicht zu einer Versauerung der Meere kommt, sollen zusätzlich gewaltige Mengen an Kalziumoxid und Kalziumkarbonat beigemischt werden. Auch diese Idee ist ausgesprochen aufwendig und kostenintensiv. Ob sie der Erderwärmung wirklich Einhalt gebieten kann, ist darüber hinaus nicht abschließend geklärt. Unter den gleichen Problemen leiden auch viele Vorschläge, die die Erderwärmung durch eine Verringerung der Sonneneinstrahlung aufhalten wollen. Diese reichen von der Erzeugung künstlicher Blasen im Ozean, die die Wasseroberfläche vergrößern und so mehr Sonnenlicht reflektieren sollen, bis zur Bildung künstlicher Wolken, etwa durch das Zerstäuben von Meerwasser oder die Durchsetzung von Flugzeugabgasen mit bestimmten Chemikalien. Die realistischste, weil ökonomisch und technisch am ehesten durchführbare, aber vermutlich auch gefährlichste Methode, die im Rahmen des „Solar Radiation Management“, zu Deutsch „Strahlungsmanagement“, diskutiert wird, geht auf eben jenen Mann zurück, der die Debatte um das Anthropozän einst ausgelöst hat: Paul Crutzen. Schon 2002 war der niederländische Atmosphärenchemiker der Auffassung, es bestünden „kaum Zweifel“ darüber, dass Menschen im weiteren Verlauf des Anthropozäns „alles tun werden, was in ihrer Macht steht, [um] die Entwicklung einer neuen Eiszeit durch Einführung wirkmächtiger künstlicher Treibhausgase in die Atmosphäre zu verhindern“. Vier Jahre später stellte er dann in der Zeitschrift Climatic Change einen konkreten Plan vor, wie eine weitere Erwärmung der Erde auch trotz des weiteren Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid gestoppt werden könnte. Sein Vorschlag sieht vor, mithilfe von Flugzeugen feinste Aerosolpartikel aus Schwefeldioxid, Schwefelwasserstoff oder Schwefelsäure in der Stratosphäre zu versprühen, damit diese dort dann einen großen Teil der Sonneneinstrahlung zurück in den Weltraum reflektieren. In den vergangenen Jahren haben Studien vor allem anhand der Analyse historischer Vulkanausbrüche bestätigt, dass Crutzens Idee keinesfalls unrealistisch ist. Eine Abkühlung der Erde könnte durch die atmosphärische Anreicherung von Sulfataerosolen in einer Menge erreicht werden, die Düsenjets

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tatsächlich relativ kostengünstig versprühen könnten. Der Harvard-Physiker David Keith hat ausgerechnet, dass eine Absenkung der Erdtemperaturen um ein Grad Celsius mithilfe dieses Verfahrens jährlich rund 700 Milliarden Dollar kosten würde  – und damit deutlich weniger als alle konventionellen Methoden zur Verminderung von Treibhausgasemissionen, von den Ausgaben für die durch die Erderwärmung entstehenden Umweltschäden ganz zu schweigen. Selbst das Worst-Case-Szenario einer Erderwärmung von vier bis sechs Grad Celsius bis zum Ende des laufenden Jahrhunderts könnte durch Sulfatinjektionen in die Stratosphäre wohl abgewendet werden. Allein: Die Risiken dieser Methode sind zahlreich, ja unüberschaubar. Ein erhöhter Anteil an Schwefel in der Stratosphäre könnte das seit dem Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen in den 1990er-Jahren mühsam geschlossene Ozonloch wieder aufreißen und damit die lebensbedrohliche UV-Strahlung auf der Erde erhöhen. Auch langanhaltende Dürreperioden könnten die Folge sein. Der Monsunregen, der die Grundlage für die Nahrungsversorgung von nicht weniger als der Hälfte der Weltbevölkerung bildet, könnte sich verschieben oder – im schlimmsten Falle – ganz ausfallen. Zudem würde sich eine atmosphärische Anreicherung von Schwefel auf die verschiedenen Teile der Welt ganz unterschiedlich auswirken, was wiederum komplizierte Fragen der globalen Gerechtigkeit aufwirft, zumal ausgerechnet die ohnehin schon reicheren gemäßigten Zonen wohl profitieren und ärmere tropische Regionen Nachteile davontragen würden. Außerdem besteht keine Garantie, dass es nicht zu unvorhergesehenen Fehlschlägen kommen könnte. Einmal in die Stratosphäre injiziert, lassen sich die Schwefelaerosole nicht einfach wieder einsammeln. Gleich, welche Folgen das Experiment auch verursachen würde, es wäre unumkehrbar. Kein Wunder also, dass selbst der Urheber der Idee von Beginn an darauf hoffte, dass sie niemals umgesetzt werden müsse. Crutzens Artikel von 2006 schließt denn auch mit der Bemerkung: „Das Beste wäre, wenn sich die Treibhausgasemissionen so weit senken ließen, dass das Experiment mit der Freisetzung von Schwefel in der Atmosphäre nicht stattzufinden bräuchte. Im Moment wirkt das wie ein frommer Wunsch.“ Die Skepsis sitzt keinesfalls nur in diesem konkreten Fall tief. Vorbehalte gegen Klimaengineering sind angesichts der damit verbundenen Risiken im Allgemeinen sehr groß. Allein schon die Idee, vorsätzlich in planetarische Prozesse einzugreifen, stößt teilweise auf entschiedene Ablehnung. Headrick hat einige besonders charakteristische Beispiele zusammengestellt. Der vielleicht schärfste Kritiker ist der australische Philosoph Clive Hamilton, der seinen Be-

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denken 2013 ein ganzes Buch gewidmet hat. In Earthmasters. The Dawn of the Age of Climate Engineering verurteilt er Klimaengineering als „technische Arroganz der Menschheit“. Der amerikanische Historiker James R. Fleming, der sich in seiner Arbeit unter anderem mit der Historie der Klimaforschung beschäftigt, warnt in seinem Buch Fixing the Sky eindringlich: „Globales Klima-Engineering ist unerprobt, kann nicht erprobt werden und ist unvorstellbar gefährlich.“ Der oberste Wissenschaftler von Greenpeace UK, Doug Parr, bezeichnet Maßnahmen wie die Injektion von Sulfataerosolen in die Stratosphäre gar als vollkommen unverantwortlich, wie der Artikel „The Climate Fixers“ 2012 im New Yorker berichtete: „Die Konzentration des Wissenschaftlers auf das Herumbasteln am gesamten System Erde ist keine dynamische neue Technologie und wissenschaftliche Innovation, sondern ein Ausdruck politischer Verzweiflung.“ Neben dem viel kritisierten Klimaengineering gibt es noch diverse andere Formen des Erdmanagements. Die wichtigste ist vielleicht der Versuch, durch gezielte Eingriffe in die Biosphäre das von der Großen Beschleunigung angestoßene sechste Massenaussterben aufzuhalten oder in Teilen umzukehren. Head­ rick unterscheidet zwei unterschiedliche Herangehensweise. Auf der einen Seite propagieren zahlreiche Biologen und Ökologen, Tier- und Pflanzenarten dadurch zu retten, dass man ihre ursprünglichen Lebensräume wiederherstellt oder zumindest Schutzzonen einrichtet, die diesen so ähnlich wie möglich sind. In beiden Fällen heißt dieses als Renaturierung bekannte Vorgehen vor allem, bestimmte Habitate dem menschlichen Zugriff zu entziehen. Derartige Projekte betreffen oft riesige Gebiet, wie etwa die Einrichtung ganzer Wildniskorridore in den nordamerikanischen Appalachen oder den Schutz eines Pleistozän-Parks in Nordostsibirien, in dem auf 14 000 Hektar Elche, Rentiere, Bisons und andere Wildtiere die moosige Tundra abgrasen und so eine „Mammutsteppe“ erschaffen, die vor dem Aussterben des gleichnamigen Großelefanten weite Teile der borealen Ökozone bedeckte. Der amerikanische Biologe und Pulitzer-Preisträger Edward O. Wilson forderte in seinem 2016 veröffentlichten Buch Half Earth gar, die Hälfte der Erde oder mehr zu „unantastbaren Naturreservaten“ zu erklären. Ob des teilweise dramatischen Rückgangs der Biodiversität mehren sich außerdem die Stimmen, die sich für eine „Pleistozän-Renaturierung“ aussprechen. Die betreffenden Vorschläge zielen darauf, in speziell eingerichteten Wildparks die nächsten noch lebenden Verwandten jener Tiere anzusiedeln, die in den jeweiligen Regionen früher einmal gelebt haben, mittlerweile aber ausgestorben sind. So könnten etwa Elefanten Mammuts ersetzen.

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Auf der anderen Seite gibt es eine wachsende Zahl von Genetikern und Molekularbiologen, die darauf setzen, die Artenvielfalt mithilfe der modernen Gentechnik zu retten. Sie schlagen vor, bestimmte, vom Menschen im Laufe der Geschichte ausgerottete Tiere und Pflanzen im Reagenzglas wiederauferstehen zu lassen. Eine der bekanntesten Befürworterinnen dieser Methode ist die amerikanische Evolutionsbiologin Beth Alison Shapiro, die um die Jahrtausendwende zu den Ersten gehörte, denen es gelang, winzige DNA-Teile aus den Knochen eines Dodo zu isolieren. Später entwickelte Shapiro komplexe biostatistische Verfahren, mit deren Hilfe man die Populationsdynamik ausgestorbener und gefährdeter Tierarten aus verschiedenen Gensequenzen rekonstruieren kann. Einiges von dem, was Shapiro 2015 in ihrem Buch How to Clone a Mammoth. The Science of De-Extinction beschreibt, mag zwar an den Kultfilm Jurassic Park erinnern, ist aber schon länger Realität. 2003 pflanzten Forscher einer Ziege die DNA einer drei Jahre zuvor ausgestorbenen Steinbockart ein und schufen so den ersten Klon einer ausgerotteten Spezies  – der allerdings wenige Minuten nach der Geburt starb. Seit 2012 versucht das kalifornische Projekt „Revive & Restore“ eine ausgestorbene Wandertaube zurückzubringen. In Korea laufen Experimente, einem Elefanten die Eizelle eines im sibirischen Eis über Jahrtausende konservierten Mammuts einzusetzen. Auch das amerikanische Biotech-Start-up Colossal investiert massiv in ein Forscherteam, das mithilfe der Genschere CRISPR/Cas Erbgutabschnitte fossilierter Mammuts in asiatische Elefanten einschleusen will. Spätestens 2028 soll der erste ElefantenMammut-Hybrid zur Welt kommen. In Europa gibt es ähnliche Bestrebungen, um den im 17. Jahrhundert ausgerotteten Auerochsen wieder zum Leben zu erwecken. Tatsächlich bereitet man sich schon jetzt vielerorts darauf vor, gefährdete Arten, die womöglich bald aussterben könnten, in Zukunft, sprich: sobald es die Gentechnik erlaubt, wiederauferstehen zu lassen. Rund um den Globus lagern zoologische und naturgeschichtliche Sammlungen riesiger DNABestände in der Form von konservierten Zellkulturen, Spermien, Eiern und Embryos. Auch für bedrohte Pflanzenarten werden solche Lebensversicherungen geschaffen. Nahe dem Nordpol sind in einem unterirdischen Silo mehr als 5000 essbare Pflanzen verwahrt. Die Wissenschaftsjournalistin Malia Wollan bezeichnete diese riesigen, für den Fall der Fälle angelegten Vorratsschränke des Lebens 2017 in einem von dem Fotografen Spencer Lowell eindrucksvoll illustrierten Artikel für das New York Times Magazine als „Archen für die Apokalypse“.

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Umweltgovernance Ganz gleich, ob Maßnahmen des Erdmanagements die Atmosphäre, die Biosphäre oder die anderen Teile des Erdsystems betreffen, bedeuten sie mitunter radikale Veränderungen der Lebensbedingungen einer großen Zahl von Menschen, ja manchmal sogar der gesamten Weltbevölkerung. Insofern ziehen sie ausgesprochen schwierige politische Probleme nach sich. Die ihnen jeweils zugrunde liegenden Umweltschäden sind das ohnehin schon. Der Klimawandel ist nicht zuletzt eine soziale Frage, da er diejenigen, die ihn am wenigstens verursacht haben, am härtesten trifft, nämlich die Armen in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig ist die Klimakrise auch eine Generationenfrage, da die Menschen von morgen den Preis für die Fehler und Versäumnisse von früher und heute werden bezahlen müssen. Gegenwärtig gibt es so gut wie keine politischen Institutionen, die dafür ausgelegt sind, diese Fragen der sozialen und intergenerationalen Gerechtigkeit wirkungsvoll zu adressieren, das heißt schnell tiefgreifende Maßnahmen gegen die Umweltzerstörungen des Anthropozäns zu treffen und dafür – wenn nötig – womöglich sogar vorsätzliche Eingriffe in die planetarischen Prozesse der Erde zu legitimieren. Chakrabarty weist darauf hin, dass dieses „weltweite Versagen, einen geeigneten Governance-Rahmen für den planetarischen Klimawandel zu schaffen“, nicht zuletzt an dem Problem unterschiedlicher Zeitlichkeiten liegt. Verhandlungen zwischen verschiedenen Mitgliedern der Vereinten Nationen operieren normalerweise genauso wie Verhandlungen zwischen den diversen Parteien innerhalb eines Staates auf der Basis eines „offenen und unbegrenzten Kalenders“. Viele anthropogene Umweltschäden, allen voran die Klimakrise, konfrontieren die Politik aber mit „begrenzten Kalendern“. Anders gesagt: Die Rettung der verschiedenen Teile des Erdsystems hat eine unweigerlich näherrückende Deadline. Deren genaue Datierung ist zwar häufig sehr umstritten. Die Uhr läuft jedoch früher oder später ab. Das erfordert eine Kombination aus langfristigem Denken, das kurzfristigen Wahlzyklen widerspricht, und mutigen Entscheidungen, die sofort mitunter schmerzhafte Einschnitte verursachen, sich womöglich aber erst nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten auszahlen. Dennoch haben die „mächtigen Nationen der Welt bisher versucht, das Problem mithilfe eines [politischen] Apparates zu lösen, der für Entscheidungen auf Basis eines unbegrenzten Kalenders gemacht ist“. Dieses Problem drängt dazu, den institutionellen Rahmen politischer Entscheidungen im Anthropozän völlig neu zu denken. Diesbezüglich gibt es sowohl mit Blick auf die nationale als auch die internationale Ebene eine Reihe

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interessanter Vorschläge. Diese werden vermutlich nie eins zu eins umgesetzt werden, da sie mit den bestehenden Systemen radikal brechen und in einigen Fällen Wohlstand und/oder Freiheit ernsthaft gefährden würden. Man sollte sich aber dennoch mit diesen Visionen auseinandersetzen, um sich darüber klar zu werden, in welche Richtung Reformen gehen könnten. Vor allem aus dem Lager linker Umweltaktivisten gibt es immer wieder Forderungen nach einer Weltregierung für den Klimaschutz. Derartige Vorschläge laufen meistens auf die Errichtung einer globalen Ökodiktatur hinaus, die zur Rettung des Planeten eine wie auch immer geartete Instanz mit weitgehenden Vollmachten ausstattet, um den Regierungen rund um den Erdball Weisungen zu geben, so „die Hölle zu verhindern“ und „die Menschheit zum Überleben zu zwingen“, wie der Journalist und ehemalige Betonbauer Jürgen Schiebert im Herbst 2021 im Rahmen einer Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung ausführte. Mit liberalen Vorstellungen von Demokratie und Selbstbestimmung ist dieser diktatorische Ansatz nicht vereinbar. Von daher stellt er keine akzeptable Lösung des anthropozänen Governance-Problems dar. Die Tatsache, dass er in den Kreisen vieler Klimaaktivisten ernsthaft diskutiert wird, ist jedoch ein Weckruf, der die Politik daran erinnern sollte, wie notwendig es auch aus demokratischen Gründen ist, die internationale Gemeinschaft auf mehr Klimaschutz zu verpflichten. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre eine ernsthafte Stärkung des schon 1988 von den Vereinten Nationen gegründeten Weltklimarates. Andere Vorschläge widmen sich der Weiterentwicklung demokratischer Grundstrukturen. So argumentieren Jörg Tremmel und andere Politikwissenschaftler, die sich mit Fragen der Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit beschäftigen, dass das klassische System der Gewaltenteilung nicht mehr zeitgemäß sei. Im Anthropozän hätten viele Entscheidungen, die in Regierungssystemen durch Wahlen, Gesetze, Maßnahmen und Urteile gefällt werden, einen viel stärkeren Einfluss auf künftige Generationen, als das in früheren Zeiten der Fall gewesen sei. Deshalb müssten Legislative, Exekutive und Judikative um einen vierten Zweig der Staatsgewalt erweitert werden: eine future branch oder „Zukunftsgewalt“. Selbige solle sicherstellen, dass die Bedürfnisse zukünftiger Generationen bei allen Entscheidungen mit langfristigeren Auswirkungen angemessen berücksichtigt werden. Wie eine solche vierte Gewalt institutionell genau aussehen kann, sprich: welche Instanzen sie umfasst, wie sich ihre Organe bilden und zusammensetzen und wem sie verantwortlich ist, bleibt freilich offen. Insofern ist das „Vier-Gewalten-Modell“ weniger eine strikte Anleitung

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zur Umstrukturierung bestehender Verfassungsordnungen als vielmehr eine Aufforderung, darüber nachzudenken, wie sich Generationengerechtigkeit mit Blick auf die großen Herausforderungen des Anthropozäns in den Entscheidungsprozessen demokratischer Systeme besser abbilden lässt.

Ein gutes Anthropozän? Klimaengineering, Biosphärenmanagement, Umweltgovernance – wie wir diese und andere Mittel zur Beeinflussung des Erdsystems handhaben werden, ob wir sie vereinzelt oder großflächig, ganz oder teilweise nutzen oder sie aus Überzeugung, Angst oder Bequemlichkeit ausschlagen werden, wird mit darüber entscheiden, welche Zukunft sich für das Anthropozän öffnen wird. Angesichts der Bandbreite an Möglichkeiten, die bereits jetzt zur Verbesserung des planetaren Status quo bestehen und sich im Laufe der vierten industriellen Revolution aller Voraussicht nach weiter multiplizieren werden, sollte man ob des zweifelsohne kritischen Zustands des Erdsystems nicht in Depressionen verfallen. Aufrichtige Besorgnis muss sein; Umweltapokalypsen heraufzubeschwören, ist dagegen unnötig und kontraproduktiv. Ein gutes Anthropozän ist möglich, wie Ellis am Ende seiner Einführung in das Zeitalter des Menschen bilanziert. In einigen Bereichen ist diese positive Zukunft bereits jetzt schon Realität. Das Ozonloch über der Antarktis hat sich dank der im Montreal-Protokoll von 1987 international verabredeten Maßnahmen  – allen voran des Verbots von Fluorchlorkohlenwasserstoffen  – mittlerweile wieder geschlossen. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten konnten durch das Verbot von DDT und anderen Giftstoffen gerettet werden. Tatsächlich werden viele Arten in Gebieten, in denen sie ganz oder fast ausgerottet waren, wieder erfolgreich angesiedelt. So ist etwa der Wolf in den vergangenen Jahren nach Westeuropa zurückgekehrt. Positive Anzeichen, die Anlass zur Hoffnung geben, sind überall sichtbar. Die Anzahl der Naturschutzgebiete auf der Welt nimmt zu. Mittlerweile bedecken sie insgesamt ein Areal, das mit 16,4 Millionen Quadratkilometern annähernd so groß ist wie Südamerika und mehr als zehn Prozent der gesamten Landfläche der Erde umfasst. Das Wachstum der Weltbevölkerung, das seit Beginn der Großen Beschleunigung so viele Umweltprobleme dramatisch verstärkt hat, verlangsamt sich seit Jahrzehnten. Gleichzeitig wird mehr Nahrung pro Kopf produziert als jemals zuvor, und zwar ohne dafür seit der Jahrtausendwende zusätzliches Land in Agrarfläche umzuwandeln. Globale Investitionen in die Wende von fossilen hin zu erneuerbaren Energien sind laut Bloomberg

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zwischen 2013 und 2020 von 240 Milliarden auf über 500 Milliarden US-Dollar gestiegen. Allein in der ersten Jahreshälfte 2021 wurden laut RWE weltweit ganze 174 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert. Das sind 1,8 Prozent mehr als im ersten Halbjahr des Vorjahres, und das trotz der Auswirkungen der Coronapandemie. 2020 ist der weltweite Bestand an Elektroautos um 2 Millionen auf 10,9 Millionen gestiegen. In Deutschland betrug die Wachstumsrate der Neuzulassungen spektakuläre 264 Prozent. Inspiriert von der Jugendikone Greta Thunberg, die schon seit Jahren für den Friedensnobelpreis im Gespräch ist, werden rund um den Erdball Millionen junger Menschen nicht müde, jeden Freitag für den Klimaschutz auf die Straße zu gehen. Überall auf der Welt reagieren Regierungen und Staatengemeinschaften auf den steigenden gesellschaftlichen Druck und die Warnungen der Wissenschaft, indem sie Klima- und Umweltschutzprogramme auflegen. Der Green Deal der amerikanischen Biden-Administration und der European Green Deal der Europäischen Union sind besonders umfangreich. All das ist zweifelsohne noch nicht genug, um das Anthropozän in eine Zukunft zu lenken, in der sich die planetarischen Prozesse erholen können. Während der vierten industriellen Revolution müssen sich überall – in den Parlamenten und Regierungen, in den Firmen und Betrieben, in den Chefetagen und Fabrikhallen, auf den Straßen und Feldern, in den Häusern und Familien – die Anstrengungen weiter, ja deutlich stärker als bisher steigern. Man sollte die vielversprechenden Entwicklungen, die es schon jetzt gibt, allerdings auch nicht kleinreden. Man muss sie wahrnehmen und honorieren. Denn nur so lässt sich die Möglichkeit eines guten Anthropozäns in den Köpfen verankern. Diese Bewusstseinsschärfung ist ganz entscheidend, da die Bedeutung des Anthropozäns, wie wir gesehen haben, vor allem in seiner Eigenschaft liegt, ein Narrativ über die Beziehung zwischen Mensch und Natur bereitzustellen. Und dieser Erzählung werden wir in der vierten industriellen Revolution nur dann einen Verlauf geben können, der sowohl Wohlstand schafft als auch die natürlichen Lebensgrundlagen sichert, wenn wir sie mit einer entsprechenden Zukunftsversion verknüpfen. Nur so werden wir nämlich die Begeisterung, den Mut, die Veränderungsbereitschaft und die Weitsicht aufbringen, die nötig sind, um technologische Innovationen zur Lösung der großen Umweltkrise zu entwickeln, den Kapitalismus grün zu färben und verantwortlich mit den uns in immer größerer Zahl zur Verfügung stehenden Mitteln zur Manipulation des Erdsystems umzugehen.

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6. Das Zusammenschrumpfen von Zeit und Raum Im Laufe des Anthropozäns hat industrieller Wandel die Grenzen der beiden grundlegenden Dimensionen der analogen Welt stark verschoben. Schon seit Beginn der ersten industriellen Revolution schrumpfen Raum und Zeit zusammen. Das hat viel mit den Auswirkungen technologischer Innovationen und der evolutionären Logik des Kapitalismus zu tun. Gegenwärtig erleben wir jedoch eine bisher noch nie dagewesene Intensivierung dieses Phänomens. Die vierte industrielle Revolution verschmilzt die analoge mit der digitalen Welt zusehends dadurch, dass sie in immer mehr Lebensbereichen mechanische mit informations- und softwaretechnischen Elementen verbindet. Im Zuge dessen entsteht eine ganz neue, cyber-physische Realität, in der Zeit und Raum weitgehend aufgehoben sind.

Die Geburt der industriellen Zeit Die Entstehung des industriellen Kapitalismus hat das menschliche Zeitbewusstsein zutiefst beeinflusst. Um diesen Zusammenhang und die Entwicklung des Phänomens Zeit im Industriezeitalter insgesamt zu verstehen, müssen wir zwei verschiedene Ausprägungen von Zeit unterscheiden, die im Zuge einer methodischen Neuausrichtung – des sogenannten temporal turn – in den vergangenen paar Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaft geraten sind. Auf der einen Seite gibt es die physikalische Zeit, also die Zeit, die durch natürliche oder mechanische Instrumente wie die Sonne, Uhren oder Kalendern gemessen wird. Auf der anderen Seite existieren ganz unterschiedliche Zeitlichkeiten oder Temporalitäten, also Formen des Zeitbewusstseins, die teilweise sehr unterschiedlich wahrnehmen, wie Geschichte, Gegenwart und Zukunft durch zyklische Wiederholungen und lineare Entwicklung, Kontinuitäten und Brüche, Erfahrungen und Erwartungen miteinander verbunden sind. Der britische Historiker E. P. Thompson hat in einem der meistzitierten Artikel der modernen Geschichtswissenschaft 1967 erstmals untersucht, wie die industrielle Zeit entstanden ist. Der Aufsatz ist erkennbar von Thompsons marxistischer Weltvorstellung geprägt, gilt aber bis heute als wichtiges Grundlagenwerk. Das komplexe Argument lässt sich in etwa so zusammenfassen: In der vorindustriellen Welt war das Leben der Menschen von einer task time oder

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„Aufgabenzeit“ geprägt. Diese bestimmte sich nach den jeweils zu erledigenden Aufgaben und schenkte der dabei tatsächlich aufgewandten physikalischen Zeit wenig bis gar keine Beachtung. Das Einbringen des Getreides oder das Melken der Kühe dauerte eben so lange, wie es dauerte. War eine Aufgabe erledigt, folgte so lange eine Periode weniger intensiven Arbeitens oder des Müßiggangs, bis eine andere vom Rhythmus der Natur diktierte Aufgabe anstand. Solche Ruhephasen waren ob der mühseligen Realität der vorindustriellen Welt freilich ausgesprochen selten. An einem gewissen, unmöglich genauer zu bestimmenden Punkt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, also just in jener Take-Off-Phase, in der sich die erste industrielle Revolution Bahn brach, löste sich diese Aufgabenorientierung auf. Je mehr Menschen die Landwirtschaft verließen und in einer der sich rasch ausbreitenden Manufakturen und Fabriken arbeiteten, desto organisierter wurde ihre Zeit. Nicht nur besaßen immer mehr Menschen dank der zunehmenden industriellen Herstellung erschwinglicher Uhren eigene Zeitmessgeräte. Sie arbeiteten in den Fabriken auch unter der Aufsicht von Vorarbeitern, die ihre Produktivität mithilfe von Uhren kontrollierten. Dadurch entwickelte sich anstelle der task time ein temporales Bewusstsein, das physikalische Zeit als einen ökonomischen Faktor verstand, der dem Geldverdienen diente und in einheitlichen Arbeitsstunden gemessen wurde. Laut Thompson gab es also einen direkten Zusammenhang zwischen der Ausbreitung mechanischer Zeitmesser, der Etablierung des getakteten Arbeitsrhythmus industrieller Produktion und der strengen Orientierung des Lebens an der physikalischen Zeit. Was so entstand, war ein eng an die industrielle Entwicklung gebundenes Zeitbewusstsein. Das bedeutet natürlich nicht, dass es von da an keine anderen Wahrnehmungen und Organisationsformen von Zeit mehr gab. Im Gegenteil: Vielen Menschen fiel und fällt es schwer, eine Zeit zu internalisieren, die auf einem abstrakten, 24 Stunden umfassenden Koordinatensystem beruht und um die Anforderungen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung herum organisiert ist. Besonders in ländlichen Gegenden spielen selbst in den westlichen Industrieländern auch heute noch verschiedene Formen der task time, die einem natürlichen, biophysischen oder religiösen Rhythmus folgen, eine gewisse Rolle. Die Ausbreitung der „industriellen Zeit“ hat die temporale Landschaft also nicht komplett homogenisiert, dominiert sie aber, und das ist das Entscheidende, spätestens seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts unangefochten.

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Die Öffnung der Zukunft Das Zeitbewusstsein des Industriezeitalters versteht Zeit als eine lineare Abfolge von Ereignissen, die sich entlang einer unbegrenzten Zeitachse entfaltet und strikt zwischen gestern, heute und morgen unterscheidet. Frühere in Europa weit verbreitete Temporalitäten waren dagegen sehr viel stärker von zyklischen, millenaristischen und eschatologischen Zeitvorstellungen geprägt. In ihnen wiederholte sich die Zeit in der immer gleichen Abfolge natürlicher (Jahreszeiten) und religiöser (liturgischer Kalender) Abläufe bis zu einem göttlich vorherbestimmten, durch verschiedene biblische Prophezeiungen angekündigten Ende aller Tage. Dieser Unterschied ist für den Sprung der Welt in die Moderne ganz wesentlich. Denn die „neue“, lineare Zeit öffnete erstmals einen Horizont, der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, ja jeden einzelnen Menschen dazu anhielt, das jeweilige Tun vor allem auf Entwicklung und Fortschritt auszurichten: die Zukunft. Eingehend untersucht worden sind diese Zusammenhänge von einem der bedeutendsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts, Reinhart Koselleck. In seinem erstmals 1979 veröffentlichten Standardwerk Vergangene Zukunft hat der Mitschöpfer der Begriffsgeschichte die Entwicklung temporaler Wahrnehmungen in der von ihm so bezeichneten „Sattelzeit“, in der sich ausgangs des 18. Jahrhunderts in Europa die Wende zur Moderne vollzog, genau unter die Lupe genommen. Durch den Autoritätsverlust der Kirche, die durch philosophische und naturwissenschaftliche Entdeckungen angetriebenen Verbreitung rationaler Weltbilder, den als tiefen Bruch mit allem bisher Erlebten empfundenen Einschnitt der Französischen Revolution und diverse andere Faktoren änderte sich Koselleck zufolge das Zeitbewusstein fundamental, erstmals waren „Erfahrungsräume“ und „Erwartungshorizonte“ klar voneinander getrennt. Die Erfahrungen mit der Vergangenheit dienten nicht länger als direkte und ausschließliche Anleitung für den Umgang mit der Gegenwart. Die alte, auf Ciceros De oratore zurückgehende Losung „historia magistra vitae“ – „Die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens“ – musste einem verstärkten Interesse an Planung, Prognosen und Utopien, kurzum: an der Zukunft Platz machen. Diese ausdifferenzierte Temporalität verbreitete sich schnell in allen möglichen Lebensbereichen. Gut erkennbar ist das mit Blick auf die zahlreichen Konzepte, die in der Sattelzeit maßgeblich geprägt wurden und die wir bis heute benutzen. Das bekannteste und bedeutendste ist wohl jenes, das zunächst Ende des 18. Jahrhunderts für den turbulenten politischen Systemwechsel in Frankreich und dann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch für den Durchbruch

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der industriellen Lebenswelten verwendet wurde. Der Begriff „Revolution“ beschreibt schließlich nichts anderes als einen Transformationsprozess, der grundlegend mit der Vergangenheit bricht und so aus sich selbst heraus eine neue Zukunft gebiert. Im Laufe der Industrialisierung wurde diese an einer linearen Zeitskala orientierte Temporalität überall auf der Welt zur bestimmenden Zeitwahrnehmung. Der Kolonialismus, der Imperialismus und ganz besonders der Kapitalismus exportierten die industrielle Zeit in alle Winkel der Erde. Allerdings kann die Moderne nach wie vor ganz unterschiedliche „Zeitschichten“ umfassen, wie Koselleck in einem 2000 veröffentlichten Buch gleichen Titels deutlich gemacht hat. Damit ist ein relativ einfaches, immer wieder zu beobachtendes Phänomen gemeint. In einem bestimmten historischen Moment können ganz verschiedene Wahrnehmungen von der jeweils eigenen Verortung in der Zeit existieren. Während einige Praktiken und Institutionen bereits eine neue, an der Zukunft ausgerichtete Zeit propagieren, denken und handeln andere noch in einer alten Zeit, indem sie an historisch überlieferten beziehungsweise seit Längerem etablierten Formen der Organisation, Produktion etc. festhalten. So unterscheidet sich etwa das Zeitbewusstsein der Amish, Hutterer, Zeugen Jehovas oder anderer religiöser Gemeinschaften, die moderne Technologien ablehnen oder an eschatologischen Vorstellungen einer den Weltuntergang herbeiführenden Endzeit festhalten, oft fundamental von der Zeitauffassung, die in der weiteren, säkularen Umgebung dominiert, in der sie leben. Die Existenz verschiedener Zeitschichten ändert aber nichts daran, dass die Moderne im Gegensatz zu früheren Epochen von der Zukunft besessen ist. Ironischerweise trifft diese Erkenntnis Kosellecks ganz besonders auf die von ihm kaum beachtete Geschichte des industriellen Kapitalismus zu, wie zum Beispiel die in Kalifornien lehrende Historikerin Vanessa Ogle gezeigt hat. Die evolutionäre Dynamik des Kapitalismus, die den industriellen Wandel der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte getragen hat, hing stets von den Zukünften ab, die diese Form des Wirtschaftens für sich selbst definierte. Denn Investoren von großen Kapitalmengen müssen fortwährend die zukünftige Rentabilität ihrer ökonomischen Handlungsvarianten kalkulieren und dabei unterschiedlichste Faktoren berücksichtigen – von der Entwicklung der politischen Lage bis zum Einfluss des Wetters auf die nächste Ernte. Das war natürlich schon in vorindustriellen Zeiten der Fall. Die Entstehung des modernen Kapitalismus im 18. Jahrhundert machte dieses Zukunftsdenken aber viel intensiver, komplexer und planvoller.

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Diese neue Qualität wirtschaftlichen Denkens äußerte sich in zahllosen Versuchen, sich auf unterschiedliche ökonomische Zukunftsszenarien systematisch einzustellen und dabei die Variations- und Selektionsdynamik am Markt bezüglich des eigenen Geschäfts so kalkulierbar wie irgend möglich zu machen. So entwickelte sich zum Beispiel der bereits seit dem 17. Jahrhundert bekannte, aber lange Zeit nur lückenhaft eingesetzte Terminkontrakt Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Standardinstrument für alle börsengehandelten Finanzgeschäfte, bei denen sich die Vertragsparteien dazu verpflichten, die gegenseitigen Erfüllungen über mehr als zwei Handelstage hinaus auf einen vereinbarten Zeitpunkt zu verschieben. Aus den gleichen Gründen etablierte sich im Laufe der ersten beiden industriellen Revolutionen auch das Konzept des Risikos, das Unsicherheit – also unbekannte Zukünfte – ökonomisch berechenbarer machte. Ab Ende des 18. Jahrhunderts breiteten sich verstärkt immer spezialisiertere Versicherungen aus, etwa gegen Feuerschäden, Diebstahl, Seeunfälle oder Lebensverlust. Das war für die industrielle Entwicklung ausgesprochen wichtig. Denn erst die Möglichkeit, sich gegen Zufälle und Notlagen zu versichern, machte kapitalintensive Vorhaben wie etwa die Investition in große Produktionsanlagen neuer Industriezweige, die sonst ob des unkalkulierbaren Risikos reines unternehmerisches Abenteurertum gewesen wären, zu einer seriösen, weil berechenbaren Geschäftsoption. Ein anderes Beispiel für die starke Zukunftsorientierung, die der industrielle Kapitalismus im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte, ist der Aufstieg der ökonomischen Prognose zu einer aus dem heutigen Wirtschaftsleben kaum wegzudenkenden Größe. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Wunsch, die krisengeschüttelte Weltwirtschaft berechenbarer zu machen, so stark, dass die Beschäftigung mit Modellen zur Vorhersage der Wirtschaftsentwicklung zu einem eigenen Zweig der Wirtschafswissenschaften wurde. Während der Großen Depression der Zwischenkriegszeit schaffte die Idee regelmäßiger Konjunkturzyklen dank der Wiener Schule um Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek ihren Durchbruch. Jene wirtschaftlichen Hochs und Tiefs, die vorher als punktuelle Phänomene betrachtet wurden, galten von nun an als regelmäßige Phasen eines immer wiederkehrenden Zyklus aus Auf- und Abschwüngen, die mal länger, mal kürzer dauerten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der meist in Fünfjahresabschnitten operierenden Planwirtschaft in den sozialistischen Ländern des Ostblocks die auf einer offenen Zeitskala operierende Marktwirtschaft in den kapitalistischen Staaten des Westens gegenüber. Letztere entwickelte im Laufe der Zeit auf der Grundlage

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des technologischen Fortschritts zwei unterschiedliche Tendenzen im Umgang mit der Zukunft. Auf der einen Seite sorgte die Integration des Computers in den Börsenhandel für den Aufstieg eines Finanzmarktkapitalismus, der durch die sekundenschnelle Verschiebung riesiger Geldmengen nach der Prognose äußerst kurzfristiger Entwicklungen verlangt. Auf der anderen Seite schufen Computersimulationen ab den 1970er-Jahren die Möglichkeit, auf der Grundlage immer größerer Datensätze das Zusammenspiel von Bevölkerungswachstum, Umweltverschmutzung, Lebensmittelproduktion, Rohstoffverbrauch und anderen Faktoren zu modellieren und so nicht nur Aussagen über die wirtschaftliche Entwicklung, sondern über die Zukunft des ganzen Planeten zu treffen. Seitdem geraten Bemühungen, langfristige Strategien der Nachhaltigkeit zu verfolgen, wie etwa der schon erwähnte, 1972 veröffentlichte Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“, nicht selten in Konflikt mit dem kurzfristigen Denken, das politische Wahlzyklen begünstigen. Obwohl dabei Prognosen nur selten genau so eintreffen, wie sie einst gestellt worden sind, ziehen sie in derartigen Konflikten häufig viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Interesse ist auch ein Beleg dafür, wie sehr die zukunftsorientierte Temporalität des industriellen Kapitalismus mit ihren komplexen Konzepten des Risikos beziehungsweise Risikomanagements und ihrer Politisierung der Unberechenbarkeit das allgemeine Denken heute durchdringt.

Time-space compression Kommen wir nun dazu, wie sich der Aufstieg dieses modernen Zeitbewusstseins auf die andere Dimension der analogen Realität ausgewirkt hat und umgekehrt. Raum und Zeit sind seit der ersten industriellen Revolution aufs Engste miteinander verknüpft. Das hat schon Karl Marx beobachtet, als er mit Blick auf die evolutionäre Wachstums- beziehungsweise Expansionsdynamik des industriellen Kapitalismus die „Vernichtung des Raums durch die Zeit“ beklagte. In Anlehnung an diese viel zitierte Formel hat der britische Humangeograf und Sozialtheoretiker David Harvey 1989 in seinem inzwischen berühmt gewordenen Buch The Condition of Postmodernity das Konzept der time-space compression entwickelt. Damit meint er alle Phänomene, die die Beschaffenheit von und die Beziehung zwischen Zeit und Raum derart verändern, dass sich die Zeit in unserer Wahrnehmung beschleunigt und der Raum schrumpft. Derartige Kompressionen im Raum-Zeit-Gefüge sind im Laufe der Moderne vor allem infolge technologischer und organisatorischer Innovationen aufgetreten und haben dabei laut Harvey jeweils „eine desorientierende und

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disruptive Wirkung auf politisch-ökonomische Praktiken, die soziale Machtbalance, sowie das kulturelle und gesellschaftliche Leben“ gehabt. Grundsätzlich lassen sich seit Beginn der Neuzeit zwei derartige Phasen unterscheiden: die Blütezeit der Transportrevolution von der Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts und die Informationsrevolution seit den 1970er-Jahren. In jeder dieser Phasen hat, wie Harveys Geografiekollegen Jon May und Nigel Thrift betonen, „eine radikale Restrukturierung der Natur und Erfahrung von Zeit und Raum […] durch die Beschleunigung des Lebenstempos und den gleichzeitigen Zusammenfall traditioneller Raumkoordinaten“ stattgefunden. Gegenwärtig schickt sich die vierte industrielle Revolution an, eine dritte Phase einzuläuten, in der sich die Kompression so weit steigert, dass Raum und Zeit in vielen Bereichen nahezu vollständig implodieren. Um diese Entwicklung besser nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, im Folgenden auf jede dieser Kompressionsphasen einen genaueren Blick zu werfen.

Die erste Phase der Kompression Das 19. Jahrhundert erlebte – wie der Publizist Wolfgang Schivelbusch in seinem 1977 erstmals erschienenen Klassiker über die Geschichte der Eisenbahnreise erläutert hat – die „Industrialisierung von Raum und Zeit“. Die Einführung und flächendeckende Ausbreitung der Eisenbahn, aber auch der Dampfschifffahrt führten dazu, das Menschen und Waren eine gegebene räumliche Entfernung, die vor der Transportrevolution noch eine beschwerliche Reise von mehreren Tagen oder Monaten nötig gemacht hatte, nun in einem Bruchteil dieser Zeit bewältigen konnten. Andersherum ausgedrückt: In derselben Zeit konnte man nun eine viel größere räumliche Entfernung zurücklegen. Der Raum schrumpfte, und die Zeit beschleunigte sich – und das in außerordentlich großem Maße. Selbst die ersten Eisenbahnen in England kamen auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 bis 30 Meilen pro Stunde. Das war ungefähr drei Mal so schnell wie das Tempo des bis dahin schnellsten Verkehrsmittels, der Postkutsche. Die neue Reise- beziehungsweise Transportgeschwindigkeit schrumpfte den Raum jedoch nicht einfach nur zusammen, sie erweiterte ihn zugleich. Gegenden, die vor der Einführung der Eisenbahn von einer bestimmten Stadt aus innerhalb eines Tages oder einer anderen gegebenen Zeiteinheit praktisch unerreichbar waren, rückten nun näher. So erschlossen sich die Metropolen das Umland. Das Zeitalter der Vorstädte begann, von wo aus die Menschen täglich in die Innenstädte pendeln konnten. Schon 1851 war es in London nichts Ungewöhnliches mehr, 15 bis 20 Meilen vom Arbeitsort entfernt zu wohnen.

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Mit den Jahrhundertinnovationen Eisenbahn und Dampfschiff vernichtete die Industrialisierung also nicht einfach den Raum durch die Zeit, wie es Marx anprangerte. Als physikalische Größe blieb der Raum ja ohnehin gleich groß. Vielmehr erlebten die Menschen durch die neue Verkehrstechnik eine Veränderung ihres Raum-Zeit-Bewusstseins. Bisher war Letzteres allein durch die Geschwindigkeit natürlicher Fortbewegungsarten  – Laufen, Reiten, Segeln  – bestimmt gewesen. Nun negierten die Eisenbahn und das Dampfschiff durch die dampfgetriebene Ausnutzung der Newtonschen Mechanik alles, was den alten Verkehr ausgezeichnet hatte. Der Transport von Menschen und Waren war jetzt nicht mehr wie in der Kutsche oder auf dem Segelboot relativ sanft in die Natur eingebunden, sondern durchpflügte Landschaften und Ozeane in stählernen Kolossen. Damit verlor das Raum-Zeit-Bewusstsein seine gewohnte Orientierung. Die durch die erhöhte Geschwindigkeit bedingte Verkleinerung des Raumes nahm den Menschen einen verlässlichen, wenn auch oft beschwerlichen Fixpunkt der vorindustriellen Welt: die Zwischenräume, die Ausgangsund Ankunftsort klar voneinander getrennt hatten. Stattdessen rückten Start und Ziel nun unmittelbar aneinander heran. Infolgedessen erhöhte sich nicht einfach nur das Tempo des alltäglichen Lebens, sondern Menschen wie Waren verloren ihr „altes Hier und Jetzt“, wie Schivelbusch hervorhebt. Bisher war Individualität vor allem ortsgebunden gewesen. Die Isolation, die die räumliche Entfernung zwischen verschiedenen Orten mit sich brachte, hatte die Identität der Bewohner und ihrer Erzeugnisse definiert. Das änderte sich, je mehr das neue Entfernungs-, besser gesagt: Nähebewusstsein sich ausprägte. Die Reise mit der Bahn, das Sich-Erschließen der Welt, wurde für alle, die es sich leisten konnten, zu einem Teil ihrer Selbst. Der Kauf einer Fahrkarte wurde genauso selbstverständlich wie der Kauf einer Eintrittskarte ins Theater. Gleichzeitig machte das zunehmende Auseinanderfallen von Herstellungs- und Verbrauchsort Waren gewissermaßen „heimatlos“. Je weiter sie als Konsumgegenstände mithilfe der neuen Transportmittel um die Welt geschickt wurden, desto stärker erhielten sie ihre Identität nicht länger an der Stätte ihrer Produktion, sondern am Markt. In einem ganz konkreten Sinn wurde das Raum-Zeit-Bewusstsein dadurch neu definiert, dass die Eisenbahn den Regionen der Länder, ja den Gegenden der Welt ihre jeweilige lokale Zeit raubte. Solange verschiedene Orte dank der räumlichen Entfernung zwischen ihnen „isoliert“ gewesen waren, hatte jeder von ihnen seine eigene Zeit besessen. Schlug etwa in London die Mittagsstunde, war es in Reading schon 12:04 Uhr, in Cirencester 12:07 Uhr und in Bridgewater

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12:14 Uhr. Diese Differenzen verursachten erst dann Probleme, als die zeitliche Verkürzung der Strecken zwischen diesen Orten dazu führte, dass der Verkehr nicht länger so langsam floss, dass die Zeitunterschiede während der Reise quasi „versickerten“. Die Eisenbahn verlangte jetzt angesichts ihrer Geschwindigkeit nach einem überregionalen, genau getakteten Fahrplan. Kurzum: Sie machte eine Vereinheitlichung der Zeit notwendig. 1840 glich die Great Western Railway im Südwesten Englands erstmals die lokalen Durchschnittszeiten aneinander an. Im

11 Ende der lokalen Zeit, Anfang der deutschen Einheitszeit: Bekanntmachung des Bürgermeisters von Uetersen zur Zeitumstellung am 1. April 1893 von der Ortszeit auf die mittlere Sonnenzeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich (Mitteleuropäische Zeitzone).

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Laufe der 1840er-Jahre machten die verschiedenen Eisenbahngesellschaften die Greenwich-Zeit für alle Linien verbindlich. 1880 wurde diese „Eisenbahnzeit“ die Standardzeit für ganz England. Bereits vier Jahre später teilte eine internationale Konferenz in Washington, die den Greenwich-Meridian als Basis für das globale Koordinatensystem festlegte, die Welt in Zeitzonen auf. Das Deutsche Reich führte die entsprechende Zonenzeit offiziell 1893 ein. In den USA dauerte es bis 1918, ehe man die bereits 1883 durch die großen Eisenbahngesellschaften geschaffenen vier Zeitzonen zu staatlichen Standardzeiten erhob. Anfang des 20. Jahrhunderts gingen somit überall in der industrialisierten Welt die Uhren nicht nur viel schneller als noch wenige Jahrzehnte zuvor. Sie hatten sich darüber hinaus auch synchronisiert. Das machte den Raum wiederum zugänglicher als jemals zuvor. Die Transportrevolution hatte das Gefüge von Raum und Zeit also gleichzeitig verkleinert, vereinheitlicht und geöffnet. Die Verbreitung des Automobils und der Aufstieg der Luftfahrtindustrie setzten diese dreifache Entwicklung im Laufe des Jahrhunderts weiter fort.

Die zweite Phase der Kompression Die zweite lange Phase der Kompression von Zeit und Raum setzte gegen Ende der 1970er-Jahre ein, als sich die computerbasierten Informations- und Kommunikationstechnologien verstärkt auszubreiten begannen. David Harvey hat diese Anfänge der digitalen Revolution in seiner bereits erwähnten Studie über den postmodernen Kulturwandel eingehend untersucht. Dabei hat er das Einsetzen vieler Entwicklungen beschrieben, die sich im Verlauf der nächsten Jahrzehnte immer weiter intensivierten und die Welt auch noch am Beginn der vierten industriellen Revolution stark prägen. Es lohnt sich daher, Harveys Beobachtungen im Folgenden ausführlicher zu schildern und mit den Wirklichkeitsverschiebungen abzugleichen, die wir gerade erleben. Das zentrale Charakteristikum der in den 1970er-Jahren einsetzenden Raum-Zeit-Kompression war laut Harvey die enorme Beschleunigung der Bearbeitungs- beziehungsweise Umschlagszeit in der industriellen Produktion. Ausgelöst wurde diese Geschwindigkeitserhöhung durch die Koppelung technologischer und organisatorischer Innovationen, die die verkrusteten Strukturen des Fordismus durch vielfältige Maßnahmen der vertikalen Desintegration aufbrachen, etwa durch Outsourcing, die Vergabe einzelner Produktions- und Vermarktungsschritte an Subunternehmen oder die Einführung der fertigungssynchronen Lagerkontrolle. Derartige Neuerungen verkürzten nicht nur die Umschlagsdauer, sondern intensivierten infolgedessen auch den Arbeitspro-

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zess. Das sorgte wiederum dafür, dass Fachkräfte immer schneller immer neue Fähigkeiten erwerben mussten, um mit den sich immer rascher wandelnden Arbeitsanforderungen Schritt zu halten. Parallel zur Umschlagszeit in der Produktion beschleunigten sich auch der Warenaustausch und der Konsum. Die neuen Kommunikations- und Informationssysteme funktionierten quasi in Echtzeit und machten es so in Verbindung mit rationalisierten Vertriebsmechanismen (Verpackung, Bestandüberwachung, Containertransport usw.) möglich, Verbrauchsgüter sehr viel schneller durch den Markt zirkulieren zu lassen als bisher. Dazu kam dank der Etablierung des elektronischen Bankverkehrs und der Kreditkarte eine e­ norme Beschleunigung des Geldflusses. Der Aufstieg des digitalen Finanzmarktkapitalismus erlaubte und verlangte es nun, enorme Geldmengen zu Investitionszwecken in Sekundenbruchteilen rund um den Globus zu schicken. Das Konsumtempo beschleunigte sich ebenfalls in vorher nicht gekanntem Maße. Das lag vor allem daran, dass die Bekleidungs-, Dekorations- und Unterhaltungsindustrie zusehends ihre alten Luxus- und Nischenmärkte aufgab und stattdessen verstärkt auf die Erschließung von Massenmärkten setzte. Dadurch wurde Mode jeglicher Art – seien es Kleider, Popsongs oder Videospiele – zu einem Massenprodukt, das ständig wechselte. Außerdem begannen die Menschen in den Industriestaaten damit, zusätzlich zu physischen Gütern immer mehr Dienstleistungen zu konsumieren – und zwar nicht nur zu Geschäfts-, Bildungs- oder Gesundheitszwecken, sondern auch zur bloßen Unterhaltung. Die „Lebensspanne“ solcher Dienstleistungen – wie zum Beispiel der Besuch eines Rockkonzerts oder die Absolvierung eines Fitnesskurses – ist durchschnittlich viel kürzer als die eines herkömmlichen Konsumguts, wie etwa eines Automobils oder einer Waschmaschine. Entsprechend erhöhte sich mit der verstärkten Nachfrage nach diesen Dienstleistungen auch die Geschwindigkeit des Konsums. So gut wie alle Bereiche der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurden also spätestens im Laufe der 1980er-Jahre von einer Beschleunigung erfasst, die Zeit und Raum stärker komprimierte, als es vor der Verbreitung der Mikroelektronik je möglich gewesen wäre. Diese Entwicklung hatte weitreichende wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Folgen, die alle mit den von der starken Beschleunigung ausgelösten Veränderungen im Raum-Zeit-Gefüge zu tun hatten. So führten die drastische Verkürzung der industriellen Umschlagszeit und die dadurch ermöglichte Erhöhung des Konsumtempos etwa dazu, dass Produkte, Produktionstechniken, Arbeitsprozesse, Moden, Ideen, Ideologien, Werte und seit Langem etablierte Praktiken so volatil und kurzlebig

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wurden wie nie zuvor. Die Konsumgüterproduktion entdeckte das Potenzial sofort verwendbarer und wegwerfbarer Erzeugnisse für sich und begann, es in Form von Fast Food, Instantkaffee, Plastikbechern, Papierservietten, Papierwindeln und anderen Sofort- und Einmalprodukten maximal auszuschlachten. Dadurch entstand zunehmend eine „Wegwerfgesellschaft“, in der sich alle Individuen ständig mit Verfügbarkeit, Wechsel, Erneuerung und der Aussicht auf sofortige Überflüssigkeit auseinandersetzen müssen – und zwar nicht nur von Gebrauchsgegenständen, sondern auch von Lebensstilen, Werten, Orten und sozialen Beziehungen. Diese immer dominanter werdende, von Harvey so bezeichnete „Vergänglichkeit der Strukturen des öffentlichen und persönlichen Wertesystems“ förderte wiederum die Fragmentierung der Gesellschaft. Zudem bedeutete die neue Volatilität das Ende langfristigen Planens. Stattdessen war es von jetzt an nötig, sich verstärkt auf kurzfristige Gewinne zu konzentrieren und den Geschmack, die Empfindungen und Meinungen der breiteren Öffentlichkeit durch Werbung zu manipulieren, um so neue Trends unter den Massen zu verbreiten. Diese Notwendigkeit gab Bildern eine noch stärkere Bedeutung als zuvor. Sie wurden zu flüchtigen, oberflächlichen Vehikeln von Illusionen, die einer zusehends individualisierten Gesellschaft ihre vermeintlichen Bedürfnisse und Werte vermitteln sollten. Produkte, Marken, politische Parteien, gesellschaftliche Gruppen und Individuen – sie alle begannen, ihre Identität immer stärker durch ein Image oder zu Deutsch: Bild zu definieren, das nicht mehr auf Kontinuität, sondern auf permanente Anpassung setzte. Imageberatung etablierte sich als eigenständige Profession. Der Auftritt und Erfolg in den Medien bestimmte immer mehr, wie sich politische Identitäten definierten und wie Politik überhaupt gemacht wurde. All das förderte den Aufstieg und die Expansion einer von Harvey so genannten „image production industry“ aus Künstlern, Marketingstrategen, Spin-Doktoren, Beratern, Händlern, und anderen ImageExperten, die sich darauf spezialisieren, durch die Produktion und Vermarktung von Bildern und Narrativen die Umschlagszeit von Produkten – seien es technische Geräte, politische Programme oder prominente Persönlichkeiten – weiter zu beschleunigen. Auf diese Weise entwickelte sich Kurzlebigkeit zu einer effektiven Strategie, die den willentlichen Zusammenfall überschaubarer Zeithorizonte in Kauf nimmt, ja sogar darauf angewiesen ist. Die Folge war ein allgemeiner Verlust von Zukunftserwartungen. Das Morgen und Übermorgen wurde ins Hier und Jetzt verlegt. In der Politik äußert sich dieses Phänomen seither in einem ver-

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stärkten Mangel an langfristigen Visionen und in der fast routinemäßigen Berufung auf eine vermeintliche Alternativlosigkeit zur Durchsetzung eigener Problemlösungsansätze. Auch in fast allen anderen Bereichen ließ die verstärkte Gegenwartsorientierung verabsolutierende, aber auch relativistische und fragmentierende Tendenzen erblühen. Vom Arbeitsmarkt bis zur Literatur wurden Befristung und Atomisierung zum Standard, in der Architektur kam der Dekonstruktivismus in Mode. Gleichzeitig stieg als Reaktion auf diesen Verlust der Zukunft das Bedürfnis nach Authentizität, Halt und Autorität. Je kurzlebiger die Welt wurde, desto mehr Interesse erhielten plötzlich wieder Institutionen, die seit Beginn des Fordismus vermehrt in den Hintergrund getreten waren, allen voran die Familie. Auch Religiosität und Spiritualität wuchsen in ihrer Bedeutung wieder an, wobei alternative Glaubensgemeinschaften oft stärkeren Zulauf erhielten als die traditionellen Kirchen. Die Veränderungen in der Dimension des Raumes waren nicht weniger traumatisch. Ab dem Zeitpunkt, als sich satellitenbasierte Kommunikationssysteme in den frühen 1970er-Jahren durchsetzten, hingen Zeit und Kosten der Kommunikation nicht länger von der Distanz ab. Unterdessen machten neue Modelle und Techniken den Flugverkehr so günstig, dass sich alle Ecken der Welt für den Durchschnittsverdiener öffneten. Die Umstellung auf den Containerverkehr reduzierte zudem die Frachtkosten auf dem See- und Landweg beträchtlich. Multinationale Kooperationen konnten nun erstmals ihre Standorte rund um den Globus so koordinieren, dass zentrale Entscheidungen bezüglich Finanzierung, Marktauftritt, Faktorkosten, Qualitätskontrolle und Arbeitsprozessen überall quasi zeitgleich umgesetzt werden konnten. Der Aufstieg des Fernsehers zum Massenprodukt führte in Verbindung mit der neuen Satellitentechnik dazu, dass die ganze Welt in einer Serie von beweglichen Bildern in die heimischen Wohnzimmer kam. Zusammengenommen rissen diese Entwicklungen jene räumlichen Barrieren ein, die die Welt bisher definiert hatten. Das „Hier und Dort“ fiel in sich zusammen. Diese Entgrenzung im Raum-Zeit-Bewusstsein bedeutete jedoch nicht, dass der physische Faktor Raum seine Bedeutung verlor. Im Gegenteil: Die zunehmende Globalisierung des ökonomischen Wettbewerbs machte regionale Unterschiede wichtiger denn je. Nuancen im Arbeitskräfteangebot, den verfügbaren Ressourcen, der Infrastruktur und ähnlichen Faktoren entschieden nun darüber, wie erfolgreich ein bestimmter Ort den industriellen Strukturwandel meisterte. Diese Logik der räumlichen Transformation ließ eine weltweite Hierarchie von Produktionsstandorten, Absatzmärkten und urbanen Systemen

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e­ ntstehen. Um in dieser Rangordnung möglichst weit oben zu stehen, sprich: für ein breites Spektrum an ökonomischen Handlungsoptionen attraktiv zu sein, wurde Standortpolitik immer wichtiger. So führte die neue Raum-ZeitKompression letztlich zu einer paradoxen, sich selbst immer weiter verstärkenden Dynamik: Je mehr räumliche Barrieren kollabierten, desto empfindlicher wurden kapitalintensive Formen des Wirtschaftens für kleine Variationen in der Beschaffenheit unterschiedlicher Räume und desto stärker differenzierten sich Länder, Regionen und Städte aus, um wirtschaftlich attraktiv zu sein. Die Wirkung der beschriebenen Veränderungen im Raum-Zeit-Gefüge verstärkte sich noch einmal dadurch, dass diese mit einem radikalen Umbruch des Geldwertsystems einhergingen. 1973 brach das Bretton-Woods-System in sich zusammen. Die daraus folgende Ersetzung des Goldstandards durch flexible Wechselkurse sorgte dafür, dass auch das internationale Geldwertsystem äußerst volatil wurde. Die Entkoppelung des Finanzsystems von der aktiven Produktion und jedweder materiellen Basis stellte die Verlässlichkeit monetärer Mechanismen ganz grundsätzlich infrage. Folge war ein langer Prozess der Geldentwertung. Die Inflation erreichte in allen westlichen Industrieländern in den 1970er-Jahren zweistellige Zahlen und blieb auch danach äußerst unbeständig. Das ermutigte Investoren, andere Formen der Wertanlage zu nutzen. So erlebte der Kunstmarkt einen regelrechten Boom. Tatsächlich hängt die Kommerzialisierung, die die Produktion von Kulturgütern in den vergangenen fünfzig Jahren erlebt hat, eng zusammen mit der Suche nach alternativen Methoden, um Geld in einer Umgebung anzulegen, in der klassische monetäre Anlagen keine ausreichende Sicherheit mehr bieten. Diese Entwicklung verdeutlicht, wie wirkmächtig die Kombination aus fluktuierenden Wechselkursen und den riesigen, an den globalen Finanzmärkten gehandelten Geldmengen unter den zeitlichen und räumlichen Bedingungen ist, die seit den 1970er-Jahren entstanden sind. Das Bedenkliche daran ist die Tatsache, dass alle drei Elemente dieses Komplexes – Zeit, Raum und Geldflüsse – von der digitalen Revolution mittlerweile so weit zusammengeschrumpft beziehungsweise beschleunigt worden sind, dass sie kaum mehr in den Dimensionen menschlicher Vorstellungskraft erfasst werden können. Noch am eindeutigsten erkennbar war von Anfang an die Zusammenschrumpfung des globalen Raumes, und zwar mit einem Blick in die Regale der Supermärkte. Unzählige Produkte der verschiedenen regionalen Küchen wurden seit den 1970er-Jahren in den weltweiten Lebensmittelhandel integriert. Ehemals exotische Erzeugnisse des Nahrungsmittelsektors sind mittlerweile gewöhnliche Handelswaren, während einige regionale Delikatessen zu teuren,

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aber weithin erhältlichen Luxusgütern geworden sind. Es ist ein globaler Lebensmittelmarkt entstanden, auf dem kulinarische Stile schneller zirkulieren als die Menschen, aus deren Kulturen sie stammen. In den großen Metropolen ist heute die Kochkunst der ganzen Welt versammelt. Das gleiche gilt für Musikstile und alle möglichen Unterhaltungsformen, vom Kino bis zur Performance Art. Die Auswahl dessen, was konsumiert werden kann, ist praktisch grenzenlos geworden. Dadurch hat die Schrumpfung des Raumes den kulturellen Eklektizismus gewissermaßen zum Leitmotiv der modernen Welt gemacht. Überspitzt formuliert: Im Laufe der zweiten Kompressionsphase sind Raum und Zeit so sehr zusammengeschrumpft, dass uns die ganze, sich ständig verändernde Welt immer und überall zur Verfügung steht.

Mental Maps und Steinzeitwerkzeug Auf die Zusammenschrumpfung von Raum und Zeit gab es von Beginn an zwei verschiedene Reaktionen, die wir auch heute überall um uns herum beobachten können. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das erweiterte Angebot voll auskosten, das durch die zeitliche wie räumliche Entgrenzung entsteht. Dafür nehmen sie Kurzlebigkeit, Fragmentierung und ständigen Wechsel in Kauf. Gleichzeitig suchen sie aber auch häufig nach persönlicher und kollektiver Identität. Selbige finden sie mitunter, indem sie sich in ausgewählten Bereichen, wie etwa der Religion oder Spiritualität, der Tradition zuwenden beziehungsweise neue Traditionen begründen. Dem gegenüber stehen diejenigen, die sich von der erhöhten Volatilität ihrer Umgebung überfordert, bedroht oder entwertet fühlen und deshalb die neuen Verhältnisse ablehnen. Auf der Suche nach Sicherheit versuchen sie nicht selten, dem Raum-Zeit-Bewusstsein einen verloren geglaubten Sinn zurückzugeben. Dafür laden sie die Bedeutung besonders sensibler Konzepte und Handlungsbereiche auf, beispielsweise indem sie Heimat zu einem politischen Kampfbegriff machen, Umweltschutz mit quasireligiösem Eifer zum Endzeitkampf gegen die Apokalypse erklären oder Politik – je nach Orientierung – entweder als kosmopolitische Mission oder als nationale Rettung inszenieren. Diese beiden Reaktionen sind keine absoluten, sich gegenseitig ausschließenden Kategorien. Es gibt zahllose Nuancen und fließende Übergänge. Viele Menschen reagieren – je nach Situation, Lebensalter, Umgebung und Sachlage – mal so, mal so. An den grundsätzlichen Verhaltensmustern, die die Zusammenschrumpfung von Raum und Zeit hervorruft, ändert das jedoch nichts. Insofern sind die beiden geschilderten Reaktionen, wie Harvey argumentiert,

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Symptome dafür, wie sehr sich die Kompression von Zeit und Raum auf unsere „kognitiven Karten“, sprich: auf unser Orientierungsvermögen in unserer Lebensrealität auswirkt. Dieser Zusammenhang weist auf ein grundlegendes Dilemma hin. Unser durch Zehntausende von Jahren der Evolution in einer vorindustriellen, „langsamen“ Welt entstandenes Gehirn ist schlicht nicht auf eine Realität programmiert, in der es keine deutlichen zeitlichen und räumlichen Distanzen gibt. Wir müssen uns gewissermaßen, wie der Neurowissenschaftler Adam Gazzaley und der Psychologe Larry D. Rosen in ihrem 2018 auf Deutsch veröffentlichten Buch Das überforderte Gehirn argumentieren, mit einem „Steinzeitwerkzeug in einer Hightech-Welt“ zurechtfinden. Durch das Zusammenschrumpfen von Raum und Zeit ist unsere Umwelt stärker mit Informationen gesättigt denn je. E-Mails, Chat-Nachrichten, Werbeeinblendungen, Dialogfenster, computerbasierte Netzwerke sind seit den 1970er-Jahren durch die Ausbreitung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien Teil unseres Alltags geworden und heute dank des Smartphones allgegenwärtig. Parallel dazu hat sich in den vergangenen 50 Jahren eine allgemeine Erwartung entwickelt, überall jederzeit erreichbar zu sein. Das sorgt für ständige Unterbrechungen und Ablenkungen. Das Informationszeitalter ist infolge dieser „Interferenzen“ von einem permanenten „Hintergrundrauschen“ geprägt, das unser Gehirn nur schwer, wenn überhaupt, bewältigen kann, und das leicht dazu führt, dass wir „relevante Signale […] aus dem Blick verlieren“. Kurzum: Unser Gehirn kann sich in dem modernen, zeitlich wie räumlich entgrenzten „technischen Ökosystem“, in dem wir seit Beginn der Computerrevolution mit immer höheren Informations- und Kommunikationsanforderungen zurechtkommen müssen, „nur ungenügend orientieren“, und das beeinträchtigt unsere Kognition, Bildung, Sicherheit, Arbeit und persönlichen Beziehungen. Die hohe Geschwindigkeit, mit der sich alle Lebensbereiche seit den 1970erJahren verändern, bedingt in diesem Kontext ein zusätzliches Problem. Sie impliziert nämlich, dass unsere Mental Maps zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen, ja es sogar sehr wahrscheinlich nicht tun, weil unser „Steinzeitwerkzeug“, das menschliche Gehirn, erst einmal eine Weile braucht, um Verschiebungen im Raum-Zeit-Gefüge zu verarbeiten und anschließend so gut wie möglich wiederzugeben. Deswegen kann es leicht passieren, dass wir unsere Umgebung oder – genauer gesagt – alle Entwicklungen, durch die sich unser Bewusstsein für Raum und Zeit weiter verändert, verzerrt wahrnehmen. Das führt wiederum zu einer Desorientierung, die unsere Fähig-

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keit, den Wandel um uns herum zu gestalten statt ihn einfach nur geschehen zu lassen, ernsthaft beeinträchtigen kann – so sehr, dass wir uns in einer instinktiven Abwehrreaktion vor ihm verschanzen oder uns der Volatilität, die er verursacht, voll und ganz hingeben und es dadurch vernachlässigen, übergeordnete Ziele zu verfolgen beziehungsweise überhaupt erst zu formulieren. Besonders folgenschwer äußert sich die Schwierigkeit, unsere kognitiven Möglichkeiten mit den zeitlich und räumlich entgrenzten Bedingungen der Hightech-Welt in Einklang zu bringen und so unsere Mental Maps up to date zu halten, in jener Arena, in der wir kollektiv versuchen, den Weltenwandel zu lenken: in der Politik. So haben wir es trotz aller zwischenzeitlichen Fortschritte im Bereich der globalen Handelsbeziehungen (Gründung der WTO 1994) und der europäischen Integration (Einführung des Euros 2002) nach wie vor nicht geschafft, den sich seit den 1970er-Jahren so stark beschleunigenden Kontrollverlust der Nationalstaaten über die Fiskal- und Geldpolitik durch eine qualitativ gleichwertige Internationalisierung dieser beiden Politikfelder aufzufangen. Und Nationalismus, Lokalismus und Populismus sind ja gerade deshalb in den vergangenen Jahrzehnten rund um den Globus wiedererstarkt, weil sie uns in einer zunehmend entgrenzten Welt einen Ort der Sicherheit versprechen. Sie übermalen unsere „kognitiven Karten“ mit leicht zugänglichen, uns bekannten und daher willkommenen Landschaften, die indes mit der sich verändernden Realität wenig gemein haben. Insofern sind solche Phänomene wie der Brexit, die katalanische Separatistenbewegung, der Trumpismus oder der Aufstieg anderer national-populistischer Bewegungen und Parteien auch ein Beleg dafür, wie sehr die Kompression, die seit den 1970er-Jahren Raum und Zeit immer weiter schrumpfen lässt, unsere kognitiven Fähigkeiten zur Einordnung der sich verändernden Wirklichkeit herausfordert.

Die dritte Phase der Kompression Tatsächlich führt die Beschleunigung der vierten industriellen Revolution unseren Orientierungssinn dieser Tage näher an seine Grenzen als jemals zuvor. Harvey machte seine Beobachtungen zur Raum-Zeit-Kompression Anfang der 1990er-Jahre. Da konnte er noch nicht ahnen, wie sehr sich die Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien, des Internets sowie der Künstlichen Intelligenz und infolgedessen die Auswirkungen dieser Innovationen auf das Raum-Zeit-Gefüge in den nächsten zwei Jahrzehnten noch einmal steigern würden. Vieles spricht dafür, dass wir gegenwärtig den Beginn einer dritten Phase der Kompression erleben, in der Zeit und Raum durch die

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­ erschmelzung der analogen mit der digitalen Welt in zahlreichen Bereichen V nahezu ganz aufgehoben werden. Die Industrie 4.0 vernetzt heute mithilfe flexibler Herstellungsprozesse, wandelbarer Fabriken, kundenzentrierter Lösungen, optimierter Logistik, dem Einsatz riesiger Datenmengen und einer vom Design bis zur Vermarktung möglichst ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft Maschinen, Menschen und Produkte so intelligent und effizient, dass man kaum noch von einer Umschlags-Dauer reden kann. Damit ist jene Größe, die Harvey zum Maßstab für die Kompressionen von Zeit und Raum erhoben hat, so gut wie irrelevant geworden – alles passiert in Echtzeit und das oft an mehreren, über die ganze Welt verstreuten Orten gleichzeitig. Künstliche Intelligenz kann sich dank intelligenter Algorithmen und Deep Learning unabhängig von Raum und Zeit zusehends selbst optimieren und dabei gigantische, jede menschliche Vorstellungskraft übersteigende Datensätze zur Entschlüsselung unserer Gedanken, Gefühle und Wünsche so schnell analysieren, dass die entsprechenden Anwendungen mitunter sogar bereits vor uns selbst wissen, was wir wann wo tun möchten. So können mittlerweile bestimmte, im Online-Einzelhandel eingesetzte intelligente Algorithmen anhand des Einkaufsverhaltens Schwangerschaften bestimmen, noch bevor sich die werdenden Mütter darüber selbst im Klaren sind. Die Raum-Zeit-Kompression, deren Anfänge Harvey vor dreißig Jahren beschrieb, hat sich mittlerweile also so sehr intensiviert, dass Zeit und Raum nicht mehr nur auf ein Minimum zusammenschrumpfen, sondern implodieren. Anders gesagt: Die vierte industrielle Revolution schickt sich an, die temporalen und räumlichen Landschaften unserer Lebenswelten weitgehend einzuebnen. Diese Entwicklung liegt vor allem in der Verbreitung digitaler Anwendungen in bisher gänzlich analogen Bereichen begründet. Das Internet durchdringt unsere Lebenswirklichkeit immer tiefer und verändert dadurch deren zeitliche und räumliche Signatur. Für diese Veränderung verantwortlich ist wiederum ein einfacher physikalischer Zusammenhang. Die Existenz von Raum und Zeit ist an Materie gebunden. Das Internet ist immateriell und kennt daher diese beiden grundlegenden Dimensionen nicht. Je mehr die analoge mit der digitalen Welt verknüpft wird, desto mehr lösen sich Zeit und Raum folglich auf. An die Stelle der physischen tritt verstärkt eine virtuelle Umgebung: der Cyberspace. Dieser „Datenraum“ besteht aus der Gesamtheit aller Umgebungen, die mithilfe von Computern zu Kommunikations-, Arbeits-, Bedienungs- oder Unterhaltungszwecken geschaffen werden. Die Sozialwissenschaften sprechen von einem „computermedial erzeugten Sinnhorizont“, der als soziokulturel-

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ler Raum menschlicher Interaktion Online-Gemeinschaften mit einer eigenen Netzkultur beherbergt und so zur Ausprägung einer Cybergesellschaft führt. Für diese neue Gesellschaftsform spielen zeitliche und räumliche Grenzen ob der digitalen Erschließung einer stetig wachsenden Zahl an Lebensbereichen eine immer geringere Rolle. Denn im Gegensatz zur analogen Umgebung macht der Cyberspace – solange man einen Internetanschluss hat und der Zugang zum World Wide Web nicht etwa durch politische Restriktionen begrenzt ist – alle Informationen zu jeder Zeit von jedem Ort aus zugänglich. Dabei ist der physische Standort grundsätzlich egal. Es ist irrelevant, von wo aus man eine bestimmte Seite aufruft und wo die Daten, auf denen selbige beruht, aufbewahrt werden. Das Surfen im Netz ist ortsunabhängig. Statt sich in einer bestimmten gegenständlichen Geografie zu bewegen, folgt der User eher Assoziationen und den jeweils angebotenen Verlinkungen. Alle Informationen – egal, ob sie aus Europa, Amerika oder Asien kommen – liegen grundsätzlich auf der gleichen Ebene. Eine physische Verortung gibt es dadurch genauso wenig wie temporale Differenzen. Anstatt räumlicher und zeitlicher Barrieren herrscht totale Entgrenzung. Anders gesagt: Das Internet ist – wie zum Beispiel der renommierte Soziologe und Luhmann-Schüler Rudolf Stichweh argumentiert – von „Gleichzeitigkeit“ und „Globalität“ geprägt. Diese Implosion von Zeit und Raum wird sich auf immer mehr Bereiche ausdehnen, je stärker die vierte industrielle Revolution unser Leben digitalisieren wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass Raum und Zeit dadurch ihre ganze Bedeutung verlieren werden. Im Gegenteil: Wie wir im Laufe dieses Buches schon mehrfach gesehen haben, besteht das große Potenzial der Künstlichen Intelligenz ja gerade in dem Versprechen, die digitale mit der analogen, das heißt aus Raum und Zeit bestehenden Welt zu verschmelzen und so eine ganz neue, in ihrer genauen Gestalt noch gar nicht abzusehende cyber-physische Form der Realität zu schaffen. Schon heute macht erst die Verknüpfung mit den Strukturen der physischen Wirklichkeit die meisten konkreten informations- und softwaretechnischen Anwendungen des Internets überhaupt brauchbar – und bringt dadurch Raum und Zeit wieder zurück ins Spiel, wie der Frankfurter Soziologe und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung Christian Stegbauer betont: „Das WeltWeiteWeb [entfaltet] einen Großteil seines Nutzens in Verbindung mit dem sozial definierten Raum außerhalb und [mit] der dort vorhandenen Infrastruktur.“ Das klingt sehr viel abstrakter, als es eigentlich ist. Es macht zum Beispiel nur Sinn, das Theaterprogramm online nachzuschauen, wenn man auch die Absicht hat, in eine Vorstellung zu gehen.

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Ebenso ist ein internetbasierter Navigationsdienst nur dann von praktischem Vorteil, wenn man auch ein Auto oder sonstiges Transportmittel besitzt oder zumindest zu Fuß irgendwo hingehen möchte. Hotelangebote online zu vergleichen, bringt gleichfalls nur dann etwas, wenn man an einem anderen Ort übernachten will. Dieser praktische, durch die physische Existenz des Menschen bedingte Zusammenhang zwischen Cyberspace, Raum und Zeit relativiert auch die egalitäre Wirkung des Internets. Im Cyberspace sind zwar prinzipiell alle User gleich. Aber durch die Frage, wer überhaupt einen Internetzugang hat, wie schnell dieser ist, mit welchen Fähigkeiten er bedient werden kann, welchen äußeren, meist politischen Restriktionen er unterliegt und wie die konkreten Lebensumstände der Nutzerinnen und Nutzer aussehen, sind sowohl soziale Unterschiede in puncto Wohlstand, Bildung, Alter als auch nationale Unterschiede in puncto Freiheit, Demokratie, Menschenrechte selbst im Internetzeitalter noch bedeutend. Sie werden es bleiben, es sei denn, die vierte oder eine weitere industrielle Revolution löst den Menschen irgendwann einmal gänzlich von den physischen Grenzen seiner Existenz, sprich: macht ihn von einem Geschöpf aus Fleisch und Blut zu einem Avatar in einer Cyberwelt. Während sich die neue cyber-physische Realität durch die zunehmend enger werdende Verbindung informations- und softwaretechnischer mit mechanischen Elementen immer weiter öffnet und uns dabei immer weiter in den Cyberspace hineinzieht, ist es aus vielerlei Gründen überaus wichtig, diese Gebundenheit des Menschen an die räumlichen und zeitlichen Bedingungen der analogen Welt nicht zu vergessen. Das gilt besonders mit Blick auf Identitätsfragen. Die Identifikation mit einem bestimmten Raum oder – wie es im klassischen Sinne heißt – einer bestimmten Heimat bildet einen wichtigen Bestandteil menschlicher Identität. Wer sich souverän durch den barrierefreien Cyberspace bewegt, hat zumindest die Möglichkeit, seine Identität von seiner direkten physischen Umgebung zu lösen und global zu denken – auch wenn die jeweiligen „Online-Blasen“ oder Teilräume des Cyberspace, in denen man sich bewegt, natürlich ebenso gut regionalistische oder nationalistische Tendenzen der eigenen Selbstwahrnehmung verstärken können. Hat man jedoch von vorneherein entweder nicht die technischen Voraussetzungen oder die notwendigen Fähigkeiten, um sich den „Datenraum“ zu erschließen, bleibt die eigene Identität zwangsweise allein an den jeweiligen physischen Aufenthaltsort gebunden. Die sozialen, politischen und kulturellen Folgen solcher Identitätsausprägungen können enorm sein.

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Insgesamt gesehen muss man also festhalten: Gut 200 Jahre, nachdem die ersten Eisenbahnen die Transportrevolution anstießen und so die Kompression von Raum und Zeit einleiteten, befinden wir uns gegenwärtig in einer überaus komplexen Übergangssituation. Am Beginn der vierten industriellen Revolution lösen sich Zeit und Raum in immer mehr Bereichen durch deren Digitalisierung beziehungsweise Überführung in den Cyberspace auf, bleiben jedoch gleichzeitig in der physischen Welt, mit der die jeweiligen Anwendungen verknüpft sind, bestehen – wobei wir sie auch dort als immer stärker zusammengeschrumpft wahrnehmen. Dieses allmähliche Verschwinden von Zeit und Raum wird einen großen Einfluss darauf haben, wie die cyber-physische Realität, die gerade durch die zunehmende Verschmelzung der analogen mit der digitalen Welt entsteht, einmal aussehen wird. Exakt voraussagen lässt sich die Gestalt dieser neuen Wirklichkeit freilich nicht. Dafür ist das historische Bedingungsfeld einfach zu komplex. Das gleiche gilt für die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen, die von der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung des Realitätsrahmens ausgehen. Einige der Herausforderungen, vor die uns die neue Wirklichkeit stellen wird, lassen sich jedoch bereits jetzt im Lichte mehrerer Tendenzen erkennen, die seit einiger Zeit kontinuierlich stärker werden.

Politische Legitimation Die neue cyber-physische Realität wird von uns verlangen, neue Formen politischer Legitimation zu finden. Denn sowohl für demokratische als auch für nichtdemokratische Systeme hat die Entgrenzung von Raum und Zeit enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Das liegt vor allem daran, dass von der Aufhebung der räumlichen und zeitlichen Grenzen der analogen Wirklichkeit im Cyberspace ein großes politisches Ermächtigungspotenzial ausgeht. Die internetbasierten Kommunikationsmedien machen es für eine unbegrenzte Zahl von Menschen möglich, sich unabhängig von ihrem physischen Aufenthaltsort in Echtzeit zu organisieren und zu koordinieren. Sie verlegen sozusagen „die Straße“ in den orts- und zeitunabhängigen Cyberspace und ermöglichen dadurch einerseits grenzenlosen Protest und andererseits grenzenlose Affirmation. Das gibt den anonymen „Massen“ gewaltige Einflussmöglichkeiten. Genau deswegen fürchten so viele autoritäre Regime das Internet und sperren immer wieder Facebook, Twitter, YouTube und andere Plattformen, über die sich große Gruppen von Menschen unkompliziert koordinieren und

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­ olitische Nachrichten in Windeseile verbreiten lassen. Dabei geht es aber nicht p nur darum, die Organisation politischen Protests im eigenen Land zu verhindern. Ebenso wichtig ist es aus der Sicht autokratischer Systeme, die Verbreitung von Bild- und Videomaterial zu verhindern, das den Rest der Welt aus erster Hand am Geschehen vor Ort live teilnehmen lassen und so aus lokalen blitzschnell internationale Angelegenheiten machen kann, die einen Anlass für Eingriffe „von außen“ bieten. Der arabische Frühling hat diesen Zusammenhang zwischen sozialen Medien, der globalen Anteilnahme an lokalen Ereignissen und geopolitischen Interventionen Anfang des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends eindrucksvoll gezeigt. Der russische Überfall auf die Ukraine demonstriert 2022 einmal mehr, wie gefährlich die Wirkungsmacht der sozialen Medien für autoritäre Regime ist. Der Kreml hat die wichtigsten Internetplattformen der Jugend gleich zu Beginn der Kriegshandlungen geblockt, um so zu verhindern, dass der dortige internationale Austausch die Staatspropaganda über die Geschehnisse in der Ukraine entlarvt. Gleichzeitig setzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ganz gezielt auf die sozialen Medien, um demonstrativ seinen Verbleib in Kyiv zu dokumentieren, die heimische Moral zu stärken und durch Appelle die internationale Gemeinschaft zu militärischer und politischer Unterstützung aufzurufen. Auch in demokratischen Gesellschaften untergräbt die Entgrenzung von Zeit und Raum traditionelle Legitimationsstrukturen. Wenn die politische Entscheidungsfindung 24 Stunden am Tag unter medialer Beobachtung steht und die entsprechenden Informationen den Bürgerinnen und Bürgern überall in Echtzeit zur Verfügung stehen, entfällt die temporale und lokale Trennung, die zu analogen Zeiten stets eine gewisse Distanz zwischen Regierenden und Regierten garantiert hat. Berlin ist gewissermaßen zu jeder Zeit überall in Deutschland. Nachrichten werden nicht mehr erst nach einigen Stunden oder gar erst am nächsten Morgen von Zeitungen oder dem Fernsehen in die Regionen getragen, sondern gehen unmittelbar nach Einsetzen des jeweiligen Ereignisses im Netz „viral“ und erreichen so den hintersten Winkel der Republik innerhalb von Minuten. Auf der einen Seite erhöht diese Entwicklung die Transparenz politischer Prozesse und kann so das Vertrauen in demokratische Institutionen erhöhen. Auf der anderen Seite reicht es deswegen in der zeit- und raumlosen Digitaldemokratie nicht mehr aus, wenn sich Politik punktuell an gewissen Orten legitimiert, wie etwa hierzulande alle vier Jahre bei Bundestagswahlen und dazwischen in regelmäßigen Abständen bei Landtags- und Kommunalwahlen.

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Vielmehr verlangen die neuen, „entgrenzten“ Bedingungen von der Politik, sich überall fortwährend aufs Neue zu legitimieren. Eben dies ist der Grund, warum Twitter auch in Deutschland in den vergangenen Jahren zu einem Standardmedium politischer Kommunikation avanciert ist. Spätestens in der Coronapandemie ist das deutlich geworden. Kein Beschluss, keine Maßnahme, die der Bundesgesundheitsminister oder die zuständigen Landespolitiker nicht umgehend über Twitter begründet hätten. Diese politische „Instant-“ oder „Direkt-Kommunikation“ ist kein Zufall. Denn in der raum- und zeitlosen Welt des Cyberspace ist es für die Akzeptanz politischer Entscheidungen – zumal in Krisenzeiten – ganz entscheidend, von Beginn an einen Spin zu erzeugen, der die Wahrnehmung der dahinterstehenden Informationen bestimmen und so legitimierend wirken kann. Aus dem gleichen Grund sind Fake News im digitalen Zeitalter eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie, zumal intelligente Algorithmen derartige Unwahrheiten heute automatisch generieren und verbreiten können. Darüber hinaus macht es die Verlagerung der politischen Kommunikation in den Cyberspace für politische Entscheidungsträger schwieriger denn je, vertrauensvoll miteinander zu verhandeln und sich die für komplexe Entscheidungen nötige Zeit zu nehmen. Die Versuchung ist groß, mithilfe eines kurzen Tweets oder eines Instagram-Fotos Interna an die Öffentlichkeit zu bringen, dadurch Druck aufzubauen und so die jeweiligen Verhandlungen im eigenen Sinne zu beeinflussen. 2017 ist die Bildung einer Jamaikakoalition auf Bundesebene auch daran gescheitert, dass solche Durchstechereien die Verhandlungen immer wieder schwer belastet und Vertrauen zerstört haben. Wollen wir sicherstellen, dass unsere demokratischen Prozesse auch in der heraufziehenden cyber-physischen Realität weiterhin funktionieren, werden wir sie gegen derartige Probleme immunisieren müssen. Und das geht nur, wenn wir Mittel und Wege finden, wie wir sie mit den zeitlich wie räumlich entgrenzten Bedingungen, die die vierte industrielle Revolution schafft, besser in Einklang bringen können.

Globalisierung und Regionalisierung Ebenfalls nicht zu übersehen ist gegenwärtig, dass die Implosion von Zeit und Raum die ohnehin bereits starke Spannung zwischen Globalisierung und Regionalisierung in der heraufziehenden cyber-physischen Realität weiter verstärken wird. Die totale Auflösung zeitlicher und räumlicher Barrieren im Cyberspace und deren Zusammenschrumpfen auf ein Minimum in der physischen Welt lässt die Weltwirtschaft noch viel enger zusammenwachsen, als es einst

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die Transportrevolution durch die Eisenbahn und das Dampfschiff getan hat. Dementsprechend steigt die Notwendigkeit, sich international bei der Festlegung der Rahmenbedingungen abzustimmen, innerhalb derer sich die evolutionäre Dynamik des Kapitalismus entfalten kann. Die Politik hat das seit Beginn der Computerrevolution in den 1970er-Jahren immer deutlicher erkannt und ergreift besonders seit der internationalen Finanzkrise von 2008 verstärkt entsprechende Maßnahmen. Auf europäischer Ebene hat das in der jüngeren Vergangenheit etwa das jahrelange Ringen um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer demonstriert. Gleichzeitig stärkt die Kompression des Raum-Zeit-Gefüges aber auch die Region, wie schon Harvey beobachtet hat. Je mehr sich der globale Wettbewerb von räumlichen und zeitlichen Grenzen löst, desto mehr gilt: Es können nur die Länder und Regionen bestehen, die sich durch lokale Ausdifferenzierung für Unternehmen, Fachkräfte und Investoren attraktiv machen. Daher wird eine kluge, auf die jeweiligen lokalen Besonderheiten maßgeschneiderte Standortpolitik in der neuen cyber-physischen Realität tendenziell noch wichtiger werden als heute. Das birgt wiederum die Gefahr in sich, politische Gruppierungen zu befördern, die internationale gegen nationale Interessen ausspielen, Ängste bezüglich einer vermeintlichen „Überfremdung“ durch Einwanderung schüren und populistische Ansätze verfolgen, die sich bereits seit einigen Jahren in solchen Kampagnen wie „America First“ verstärkt Bahn brechen. Zu verhindern, dass die Spannung zwischen Globalisierung und Regionalisierung das politische System überfordert und die Gesellschaft auseinanderreißt, ist eine der größten Herausforderungen, die die Politik in der neuen cyber-physischen Realität bewältigen muss. Die Bundesrepublik genießt dabei einen gewissen historischen Vorteil: Sie kann auf eine föderale Tradition zurückgreifen, die über Jahrhunderte vielfältige Mechanismen zum Ausgleich der Interessen verschiedener Ebenen entwickelt hat. Um unter den neuen raumund zeitlosen Bedingungen nicht als anachronistische Bremse, sondern als zeitgemäßer staatlicher Rahmen zu wirken, muss der Föderalismus aber im digitalen Zeitalter ankommen. Für diesen Sprung reicht es nicht aus, endlich das digitale Bürgeramt einzurichten und Faxgeräte durch Webtools zu ersetzen. Es braucht „grundlegende Veränderungen in der Aufgabenwahrnehmung, Organisation und Kultur der öffentlichen Verwaltung“, wie der Trendreport Digitaler Staat 2017 feststellte. Zur elektronischen Abwicklung amtlicher Prozesse muss das intelligente Vernetzen von Regierungs- und Verwaltungshandeln auf und zwischen allen Ebenen des Bundesstaates hinzukommen. Auf neudeutsch

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gesprochen: Föderalismus 4.0 heißt flächendeckendes E- und Smart-Government. Um die nötigen Reformschritte in diese Richtung zu wagen, bedarf es zu allererst der Bereitschaft, vor dem Hintergrund der Entgrenzung von Raum und Zeit ganz neue, unbequeme Fragen an die deutsche Bundesstaatsordnung zu stellen: Wie viel Föderalismus brauchen wir angesichts neuer Informationsund Kommunikationstechnologien noch? Wo können effizientes Regieren und Verwalten sowie Bürgernähe besser zentral online als dezentral analog sichergestellt werden? Und wer bestimmt und kontrolliert die digitalen Standards im Föderalismus 4.0?

Kapitalismus auf Steroiden Zu guter Letzt kann man heute auch schon erkennen, wie folgenreich sich die Maximierung der Kompression von Raum und Zeit in der cyber-physischen Realität auf die Funktionsweise des Kapitalismus auswirken wird. Das hat etwas mit der speziellen Temporalität zu tun, die in den evolutionären Mechanismen dieser wirtschaftlichen Koordinationsform angelegt ist. Kapitalintensives Wirtschaften setzt die Akkumulation von Kapital voraus. Nur wenn dem Konsum der Gegenwart ein Teil der Wirtschaftsleistung entzogen wird, um beispielsweise in neue Produktionsanlagen zu investieren, kann die kapitalistische Marktwirtschaft Wachstum generieren. Dazu kommt aber noch etwas anderes. Das kapitalistische Geschehen dreht sich notwendigerweise immer um eine Spekulation, wie Werner Plumpe in seiner Biografie des Kapitalismus hervorhebt. Diese Spekulation besteht darin, „zum Zeitpunkt der Produktion nicht zu wissen, ob diese Produktion schließlich auch ihren Markt finden wird, sich aber gleichwohl dafür zu entscheiden“. Sowohl die Kapitalakkumulation als auch die Spekulation sind also eng mit dem Faktor Zeit verknüpft. Indem nun aber der Cyberspace diesen Faktor aufhebt, erlaubt er es der evolutionären Dynamik des Kapitalismus, nahezu unbegrenzt auszuufern. Das äußert sich etwa darin, dass einzelne Technologieunternehmen wie Apple oder Alphabet/Google so viel Kapital akkumulieren, dass sie faktisch eine marktbeherrschende Stellung einnehmen; oder darin, dass Investmentfonds mithilfe der computerbasierten Methoden des digitalen Finanzmarktkapitalismus am Aktienmarkt in Sekundenbruchteilen solch hochspekulative Geschäfte abwickeln, dass schon kleinste Kursschwankungen gigantische Geldmengen vermehren oder vernichten und dadurch entsprechende Auswirkungen auf die Realökonomie haben können. Mit Blick auf solche Phänomene sprach der amerikanische Soziologe William H. Sewell 2008 – also in dem

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Jahr, als der Zusammenbruch der US-Großbank Lehman Brothers den Höhepunkt der Weltfinanzkrise einläutete  – in einem einflussreichen Artikel über die „Temporalitäten des Kapitalismus“ von einem „hyper-ereignisreichen Kapitalismus […] auf Steroiden“. Spekulatives Verhalten und hohe Marktkonzentrationen hat es zwar in der Geschichte des Kapitalismus immer schon gegeben. Man denke nur an die Tulpenmanie, die 1637 in den Niederlanden die erste gut dokumentierte Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte platzen ließ, oder an die Monopolstellung, die Unternehmen wie Siemens, die AEG, Bayer, die BASF oder später die IG Farben im Bereich der neuen Industrien ab Ende des 19. Jahrhunderts innehatten. Durch die Aufhebung von Zeit und Raum in der digitalen und der Zusammenschrumpfung dieser Dimensionen in der analogen Welt kennen Spekulation und Monopolisierung jedoch keine natürlichen Grenzen mehr. Um Exzesse und deren unkalkulierbare Folgen zu verhindern, muss die Politik ihnen deshalb künstliche setzen, und zwar in der Form einer strikten Regulierung von Finanzmarktgeschäften und einer umsichtigen Monopolgesetzgebung. Das liegt letztlich im eigenen Interesse des Kapitalismus. Denn andernfalls droht er, ob solcher Ausschweifungen wie der Anhäufung riesiger Privatvermögen, der Bewegung gigantischer Geldmengen oder der Ausnutzung sozialer Notlagen auch trotz der Generierung immer neuen Wachstums seine gesellschaftliche Akzeptanz irgendwann zu verlieren. Wie weit dieser Akzeptanzverlust bereits fortgeschritten ist, zeigte sich jüngst etwa in der harschen Kritik, die Online-Riesen wie Amazon selbst in pro-marktwirtschaftlichen Kreisen angesichts der gigantischen Gewinne einstecken mussten, die sie als „Krisengewinnler“ im Gegensatz zu den vielen klassischen, um ihre Existenz kämpfenden Einzelhändlern während der Covid-19-Pandemie eingestrichen haben. Es ist kein Zufall, dass viele renommierte Wissenschaftler und Intellektuelle, die sich mit dem Phänomen Zeit beschäftigt haben, Marxisten sind beziehungsweise waren und dementsprechend in ihren Schriften eine Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsform fordern. Harvey und Thompson sind nur zwei der prominentesten Namen. Auch der französische Kulturtheoretiker Paul Virilio nahm Anleihen bei Marx, als er in den 1970er-Jahren begann, mit einem als „Dromologie“ bezeichneten Forschungsansatz die Beschleunigung gesellschaftlicher Verhältnisse zu untersuchen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass Geschwindigkeit in der kapitalistischen Welt die versteckte Triebfeder von Reichtum und Macht und damit der wichtigste Faktor ist, der über die Entwicklung der Gesellschaft entscheidet. Ausgehend von ähnlichen Beobachtungen

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hat der britisch-marxistische Philosoph Nick Land in den 1990er-Jahren mit dem „Akzelerationismus“ gar eine ganze Denkschule begründet, in der heute verschiedene linke und rechte Strömungen den Kapitalismus als einen Beschleunigungsprozess kritisieren, der sich auf eine posthumanistische Welt zubewege. Derartige Kritik ist natürlich häufig auch politisch motiviert. Dennoch ist es unklug, sie vorschnell als rein marxistische Agenda zurückzuweisen. Man sollte die jeweiligen Überlegungen zumindest insofern ernst nehmen, als dass sie uns darauf hinweisen, wie notwendig es unter den räumlich wie zeitlich entgrenzten Bedingungen der heraufziehenden cyber-physischen Realität sein wird, die Vision eines nachhaltigen, grünen Kapitalismus zu verfolgen, der schonend mit natürlichen Ressourcen umgeht, das Klima nicht gefährdet, sondern zu dessen Schutz beiträgt, und versucht, die durch seine evolutionären Funktionsweisen unvermeidlich produzierte soziale Ungleichheit durch eine allgemeine Anhebung des Wohlstandsniveaus weltweit zu relativieren.

Bewusstseinsschärfung Man könnte die Liste der Auswirkungen, die von der Entgrenzung von Raum und Zeit ausgehen und die in der heraufziehenden cyber-physischen Realität zu gewaltigen Herausforderungen zu werden versprechen, noch lange weiterführen. Gerade die sozialen Folgen werden ausgesprochen vielfältig sein. Ansätze davon spüren wir bereits jetzt in unserem Alltag. So verspricht die vierte industrielle Revolution durch die abermalige Komprimierung von Zeit und Raum die erst im Laufe der ersten industriellen Revolution etablierte Trennung von Arbeitszeit (work time) und Freizeit (leisure time) wieder aufzuweichen, wenn nicht gar zu beseitigen. Unter dem Druck der Coronapandemie hat sich das digitale Homeoffice 2020/21 in den westlichen Industrieländern erstmals fast flächendeckend durchgesetzt. Bleibt es dabei – wovon zumindest in einigen Branchen ob der nun empirisch belegbaren Wirtschaftlichkeit dieser Praxis auszugehen ist –, wird das wiederum weitreichende Konsequenzen für den Städtebau und das Mobilitätswesen haben. Es kommt an dieser Stelle jedoch nicht darauf an, alle Folgeerscheinungen, die gerade von den Verschiebungen im Raum-Zeit-Gefüge ausgehen, möglichst vollständig und ausführlich aufzuzählen. Das macht schon deshalb wenig Sinn, weil viele davon erst in Umrissen erkennbar sind und man daher unweigerlich viel spekulieren muss, wenn man ihre weitere Entwicklungsrichtung einzuschätzen versucht. Anders gesagt: Wir können zwar mit ziemlicher Sicherheit

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feststellen, dass die cyber-physische Realität, in die uns die vierte ­industrielle Revolution gerade führt, kaum noch zeitliche und räumliche Grenzen kennen wird. Was genau das für unsere jeweilige Lebenswirklichkeit bedeutet, lässt sich jedoch jetzt noch nicht sagen. Darüber Spekulationen anzustellen, ist zwar ­interessant, aber auch müßig. Sinnvoller ist es, sich im Spiegel der Geschichte immer wieder aufs Neue ins Bewusstsein zu rufen, wie sehr Raum und Zeit seit Beginn des Industriezeitalters zusammengeschrumpft sind und wie sehr sich diese Kompression auf die Lebenswelten der Menschen ausgewirkt hat. Denn wenn wir diese Dynamiken ignorieren, laufen wir Gefahr, uns irgendwann in der neuen, entgrenzten Realität zu verlieren. Schärfen wir dagegen unser Bewusstsein für Zeit und Raum, kann uns das die nötige Orientierung bringen, um nach Lösungen für die vielfältigen Probleme zu suchen, vor die uns der sich ständig verändernde Realitätsrahmen in der vierten industriellen Revolution stellt.

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Dritter Orientierungspunkt: Wie verhält sich industrieller Wandel zur Wirklichkeit? Der dritte Teil dieser historischen Navigationshilfe hat gezeigt, in welchem Realitätsrahmen sich industrieller Wandel entfaltet, und in welcher Weise Letzterer wiederum die Rahmenbedingungen verändert. Seit der Erfindung der Dampfmaschine ist ein komplexes Gefüge aus unterschiedlichen Teilwirklichkeiten entstanden, für das zwei Entwicklungen besonders prägend sind: 1. Im Anthropozän verschmilzt die kulturelle Wirklichkeit des Menschen mit der planetarischen Wirklichkeit der Erde. Heute sind die vorher auf ganz unterschiedlichen Zeitskalen operierenden Entwicklungslinien der menschlichen und geologischen Geschichte erstmals seit der Entstehung der Erde überhaupt aufs Engste miteinander verwoben. 2. Der industrielle Wandel hat im Laufe des Anthropozäns die beiden grundlegenden Dimensionen der analogen Welt, in der sich der Mensch für den Großteil seiner Geschichte ausschließlich bewegt hat, fundamental verändert. Seit der ersten industriellen Revolution sind Raum und Zeit nach und nach immer weiter zusammengeschrumpft. Gegenwärtig sorgt die verstärkte Verbindung von mechanischen mit informations- und softwaretechnischen Elementen in allen Lebensbereichen dafür, dass die analoge mit der digitalen Welt zusehends verschmilzt. Dadurch entsteht eine ganz neue, cyber-physische Wirklichkeit, in der Raum und Zeit so gut wie aufgehoben sind.

Dieser komplexe, sich ständig verschiebende Realitätsrahmen stellt die Menschheit in der vierten industriellen Revolution vor riesige Herausforderungen. Wie können die planetarischen Prozesse stabilisiert werden, um einen Kollaps des Erdsystems zu verhindern? Wie weit dürfen die Menschen dabei vorsätzlich das Klima oder die Biosphäre manipulieren? Wie können wir politische Institutionen schaffen, die den geschundenen Planeten effektiv schützen und so dafür Sorge tragen, dass auch zukünftige Generationen noch eine lebenswerte

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­ mwelt vorfinden? Wie können sich demokratische Systeme in einer zeitlich U wie räumlich entgrenzten Welt ausreichend legitimieren? Wie kann die steigende Spannung zwischen Globalisierung und Regionalisierung gemildert und so das Erstarken neuer und alter Formen von Nationalismus, Lokalismus und Populismus verhindert werden? Und wie kann der Kapitalismus dazu gebracht werden, die Implosion von Zeit und Raum nicht für Exzesse, sondern für eine grüne Metamorphose zu nutzen, um so dem menschengemachten Klimawandel und den anderen anthropogenen Krisenerscheinungen des Erdsystems wirksam entgegenzuwirken?

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Der Strom der Zeit In diesem Schlusskapitel erfahren Sie, − wo wir in der historischen Entwicklung industriellen Wandels gerade stehen, − warum die Zukunft schon da ist, − was die größten Herausforderungen sind, vor denen wir im Zusammenhang mit der vierten industriellen Revolution stehen − und wieso wir trotz aller Probleme optimistisch bleiben sollten.

Alles ist gegenwärtig im Fluss. Das schafft teilweise enorme Verunsicherung. Doch erste Konturen der neuen Wirklichkeit, die die vierte industrielle Revolution hervorbringt, verfestigen sich allmählich. Jener Innovationsschub, der seit dem Aufkommen der Mikroelektronik und der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in den 1970er-Jahren über die Welt geschwappt ist und mittlerweile die Digitalisierung und Vernetzung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen, Maschinen, Menschen und Produkten zum Standard macht, mündet dieser Tage ohne viel Aufhebens in eine neue, sechste lange Welle der Innovation. Diese baut sich um die verschiedensten Anwendungen der Künstlichen Intelligenz herum auf und sorgt dafür, dass automatisierte, selbstlernende Systeme, die menschliches Verhalten zusehends perfekter imitieren und antizipieren, unser tägliches Leben immer tiefer durchdringen. Gleichzeitig schafft das Internet der Dinge für die Informationsgesellschaft eine globale Infrastruktur, in der sich virtuelle mit physischen Objekten so perfekt vernetzen, dass sie nahtlos in ihre jeweilige Umgebung integriert werden. Auch wenn wir es nur langsam realisieren, leben wir längst in einer Kultur der Digitalität, in der das Auswählen und Zusammenfügen bestehenden kulturellen Materials zu neuen Bedeutungsträgern, die Schaffung neuer kollektiver Referenzrahmen und die Automatisierung von Entscheidungsverfahren mithilfe von intelligenten Algorithmen postdemokratische Tendenzen v­ erstärken,

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aber auch die Chance dazu bieten, Beteiligung und Entscheidung in der digitalen Welt stärker miteinander zu verbinden. In dieser Umgebung besteht Wertschöpfung immer weniger in der Bereitstellung eines physischen Produktes und immer mehr im Sammeln von Daten, die die Erstellung eines digitalen Profils des jeweiligen Nutzers erlauben und kontinuierlich ausgewertet, mit anderen Daten verknüpft und so für die verschiedensten Zwecke wirtschaftlich nutzbar gemacht werden. Anders gesagt: Aus der Realökonomie wird zunehmend eine Datenökonomie. Durch diese Art des industriellen Wandels verschieben sich selbst die grundlegenden Dimensionen der bisherigen, analogen Wirklichkeit. Zeit und Raum gibt es im Cyberspace nicht mehr, während sie in der physischen Welt besonders vermittels der neuen Kommunikationstechnologien auf ein Minimum zusammenschrumpfen. Angetrieben von der evolutionären Expansionsdynamik des Kapitalismus zieht durch all diese Entwicklungen gerade eine ganz neue, aus der Verbindung von mechanischen mit informations- und softwaretechnischen Elementen hervorgehende cyber-physische Realität herauf, in der wir uns zurechtfinden müssen, währenddessen sie sich ständig immer weiter wandelt und so nur in Ansätzen zu erkennen gibt, wie sie einmal genau aussehen wird. Insofern ist die Zukunft nicht einfach nur  – wie es im Titel des eingangs bereits zitierten Bestsellers über wachstumsstarke Technologien von Peter Diamandis und Steven Kotler heißt – „schneller als wir denken“. Sie ist vielmehr in Teilen bereits hier, ohne dass wir sie auch nur ansatzweise vollständig erfasst hätten.

Die anthropozäne Mammutaufgabe In dieser Umbruchphase stellen sich der Menschheit gigantische Herausforderungen. Zunächst einmal ist da die für die gesamte Spezies Mensch überlebenswichtige Mammutaufgabe, einen Kollaps der durch den industriellen Wandel seit den 1950er-Jahren so sehr überforderten biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse des Erdsystems zu verhindern. Das dringlichste Problem, das dabei bewältigt werden muss, ist der anthropogene Klimawandel. Die grüne Transformation des Kapitalismus, die dieser Tage Fahrt aufnimmt, aber immer noch zu langsam ist, um den globalen Temperaturanstieg bis 2100 auf 1,5   Grad zu begrenzen, muss den Übergang zu einer Niedrigemissionswirtschaft schaffen – und zwar so schnell wie möglich. Wenn nur einzelne Nationen oder Wirtschaftszweige sich dazu bereit finden, wird das nicht genug sein. Um die globalen Probleme zu lösen, die anthropogene Eingriffe in das Erdsystem

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verursacht haben, muss die Menschheit als Ganzes handeln. Überall auf der Welt braucht es verstärkte Anstrengungen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und jedem Einzelnen. Wie man eine solche, in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesene Gemeinschaftsleistung technologisch, wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich auf die Beine stellen kann, ist wohl zugleich die wichtigste und komplizierteste Schlüsselfrage, auf die wir in der vierten industriellen Revolution eine Antwort finden müssen. Vieles ist diesbezüglich noch unklar. Zumindest ein paar generelle Beobachtungen lassen sich aber jetzt schon festhalten. Damit die vierte industrielle Revolution das Anthropozän in eine für die „Gesundheit“ des Planeten positive Entwicklungsrichtung umlenken kann, ist es zunächst einmal nötig, den Istzustand zu akzeptieren. Die Erkenntnis, dass der Mensch durch seine industrielle Lebensweise längst zu einer geologischen Kraft geworden ist, die das Erdsystem verändert und so ein neues Kapitel in der Erdgeschichte aufgeschlagen hat, muss zur Basis unseres allgemeinen Denkens werden. Auf dieser Grundlage müssen wir uns sodann Gedanken darüber machen, was das Narrativ des Anthropozäns für unseren Blick auf die Vergangenheit, für unsere Handlungen in der Gegenwart und für unsere Vision von der Zukunft bedeutet. Dabei müssen wir uns klarmachen, in welches Anthropozän uns die vierte industrielle Revolution überhaupt führen soll. Einfacher gesagt: Wir müssen auf Basis einer ehrlichen Einschätzung des Status quo ein Ziel definieren. Der Wissenschaft kommt bei dieser Aufgabe eine besondere Verantwortung zu. Um die komplexen Probleme, die das Anthropozän stellt, zu verstehen und zu lösen, ist interdisziplinäre Zusammenarbeit nötiger denn je. Natur- und Geowissenschaftler müssen den Schaden des Erdsystems analysieren und Auswege aufzeigen. Ingenieure müssen technologische Lösungen entwickeln. Philosophen, Theologen und Ethiker müssen darlegen, was moralisch vertretbar ist und was nicht. Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler müssen die politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen ermitteln, die den Herausforderungen des neuen Zeitalters gerecht werden. Und Historiker müssen erläutern, wo im Strom der Zeit wir uns jeweils gerade befinden, wie wir dorthin gekommen sind und worauf wir von dort aus zusteuern. Schließlich und endlich müssen Politiker, Hersteller, Verbraucher, Familien und Privatpersonen den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, entsprechende Schritte – von individuellen Veränderungen des Konsumverhaltens über die Förderung fossilfreier Produkte und Marktoptionen bis zu Maßnahmen des Erdmanagements  – auch zu ergreifen, selbst wenn damit mitunter

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­ arte Einschnitte in unsere gewohnten Lebenswelten verbunden sind. Das h kann überhaupt nur gelingen, wenn die vierte industrielle Revolution es den Menschen einfacher und nicht schwieriger macht, ihre Bedürfnisse mit dem Schutz der natürlichen Prozesse des Erdsystems in Einklang zu bringen. Und dafür darf sie nicht etwa Teil des Problems werden, indem sie zum Beispiel neue Möglichkeiten „dreckigen“, CO2-ausstoßenden Wirtschaftens schafft. Sie muss vielmehr durch „grüne“ Innovationen selbst die Lösung sein.

Alte Herausforderungen in neuer Qualität Neben den bedrohlichen Umweltkrisen des Anthropozäns steht die Welt in der vierten industriellen Revolution noch vor zahlreichen anderen Herausforderungen politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Natur. Nicht wenige davon sind in den industriellen Revolutionen der Vergangenheit bereits in ähnlichen Formen aufgetreten und uns daher im Verlauf der vorangegangenen Kapitel immer wieder begegnet. Unter den Bedingungen der zeitlich wie räumlich zunehmend entgrenzten Realität unserer Tage gewinnen diese Probleme aber eine ganz neue Qualität, die wiederum neue beziehungsweise viel intensivere Folgeerscheinungen nach sich zieht. Drei Beispiele zeigen dies besonders eindrücklich. Erstens hat industrieller Wandel durch die Begünstigung einiger Standorte und die Benachteiligung anderer schon immer geopolitische Implikationen gehabt. Die erste, durch die Transportrevolution ausgelöste Welle der Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts befeuerte den Wettbewerb zwischen den Großmächten und trug dadurch nicht unwesentlich zur Vergiftung des geopolitischen Klimas bei, in dem schließlich 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Ebenso entspannt auch die gegenwärtige, von der Entfaltung des Innovationspotenzials der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Künstlichen Intelligenz getragene zweite Welle der Globalisierung keinesfalls die großen politischen Konflikte. Im Gegenteil: Sie verschärft den Wettbewerb zwischen den Großmächten teilweise drastisch. Gut beobachten lässt sich das am Aufstieg Chinas. Die Volksrepublik hat das Heraufziehen der neuen cyber-physischen Realität seit Ende des Kalten Krieges durch die geschickte Kombination von quasi-kapitalistischen Reformen, Industrie- und Innovationsförderung sowie der Zementierung der Position der Kommunistischen Partei dazu genutzt, die im 19. Jahrhundert durch die ersten beiden Phasen der Industrialisierung geöffnete Große Divergenz nicht nur zu schließen, sondern sogar dazu anzusetzen, den Westen im Laufe

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der vierten industriellen Revolution zu überholen. Sinnbildlich für den neuen globalen Machtanspruch Chinas steht die Neue Seidenstraße. Dieses gigantische Handels- und Infrastrukturprojekt ist mehr als nur ein wirtschaftliches Netzwerk, mit dem China industrielle Überkapazitäten abbauen, seine Position auf internationalen Märkten stärken, neue Exportmärkte erschließen und Rohstoffzugänge sichern möchte. Die Neue Seidenstraße ist, wie der frühere Wirtschafts- und Außenminister Sigmar Gabriel 2018 klarstellte, „eine geopolitische Jahrhundertidee, mit der China seine Ordnungsvorstellungen und Machtprojektionen durchzusetzen entschlossen ist“. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Weltpolitik hat zwar schon den Imperialismus des 19. Jahrhunderts geprägt. Nicht umsonst trat das Deutsche Reich erst mit aller Macht auf die koloniale Bühne, als es zu einem ökonomischen Riesen geworden war. In einer Phase, in der es China darum geht, im globalen Wettbewerb zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hegemon einer durch die neuen Technologien weitgehend zeit- wie raumlosen und dadurch Machtansprüchen so gut wie keine physischen Grenzen mehr setzenden Realität zu werden, ist das geopolitische Eskalationspotenzial allerdings noch um ein Vielfaches größer als in der rein analogen Wirklichkeit der Vergangenheit. Die Politik der westlichen Industrieländer gegenüber dem wiedererstarkten Reich der Mitte muss daher in der vierten industriellen Revolution mehr denn je um Entspannung bemüht sein, gleichzeitig aber – und das ist ein Spagat – die eigenen Interessen so selbstbewusst vertreten, dass sie in der entgrenzten Welt nicht verschwinden. Zweitens hat es seit Beginn des Industriezeitalters auch schon immer technologische Arbeitslosigkeit und Phasen der Unterbeschäftigung gegeben. Historisch gesehen ist es daher nichts Ungewöhnliches, wenn industrieller Wandel menschliche Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt oder von anderen Beschäftigungskrisen begleitet wird. Man denke nur an die Maschinenstürmer und den Pauperismus des 19. Jahrhunderts, die Massenarbeitslosigkeit zwischen den Weltkriegen oder die zahlreichen unternehmerischen Rationalisierungsprozesse, die im Zuge des Strukturwandels zwischen den 1970er-Jahren und der Jahrtausendwende Tausende von Arbeitsplätzen in der Industrie vernichtet haben. Insofern ist der Rückgang klassischer Beschäftigungen, den die immer stärkere Vernetzung von Produktionsprozessen und deren Steuerung durch Künstliche Intelligenz mit sich bringen, ein altbekanntes Problem. Und doch: Der „Abschied vom Malocher“, dessen Anfänge der deutsche Historiker Lutz Raphael in seiner eingangs bereits erwähnten Geschichte des Strukturwandels

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in den westeuropäischen Staaten zwischen 1970 und 2000 eindrücklich beschrieben hat, scheint sich mit der Ausformung der entgrenzten cyber-physischen Realität noch einmal zu intensivieren. „Neu“ ist in diesem Zusammenhang vor allem die starke Segmentierung des Arbeitsmarktes aufgrund des immer höheren Levels an intellektuellen Anforderungen und technischen Fertigkeiten, das die neuen Spitzentechnologien verlangen. Die soziale Schere zwischen hochqualifizierten Fachkräften, die vom rasanten technologischen Fortschritt profitieren, und den Geringqualifizierten, die von dieser Entwicklung in einen beständig wachsenden Niedriglohnsektor gedrängt werden, geht rasant auseinander. Darin liegt viel soziale Sprengkraft. Die Entstehung eines neuen „technologischen“ Prekariats bietet reichhaltigen Nährboden für Radikalisierung und Populismus. Es ist kein Zufall, dass nationalistische und populistische Bewegungen verstärkten Zulauf haben, seitdem der technologiegetriebene Wandel im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends an Fahrt aufgenommen hat. Fremdenfeindliche Parolen, die propagieren, dass Migranten entweder Einheimischen die Jobs wegnehmen oder in die Sozialsysteme einwandern, machen den Zusammenhang zwischen politischer Radikalisierung und der technologiebedingten Segmentierung des Arbeitsmarktes erschreckend deutlich. Will die Politik verhindern, dass die Gesellschaft im Laufe der vierten industriellen Revolution auseinanderbricht, muss sie sich dieses Problems annehmen. Und das geht letztlich nur, indem sie an dem Hebel ansetzt, der bestimmt, wie gut wir mit den Möglichkeiten der neuen Technologien und den Änderungen, die diese in unserer Lebenswelt verursachen, umgehen: Bildung. Drittens und letztens hat sich industrieller Wandel auch schon immer auf die Würde des Menschen ausgewirkt. Das liegt letztlich an dem facettenreichen und vielschichtigen Wesen, das industriellen Wandel als kulturhistorisches Phänomen ausmacht. Selbiger bestimmt eben nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die sozialen, politischen und ökologischen Lebensumstände jedes Einzelnen maßgeblich mit. Neben den Folgen des anthropogenen Klimawandels hat sich diese „lebensprägende“ Wirkung industriellen Wandels in den vergangenen zwei Jahrhunderten zumindest in der westlichen Welt wohl am deutlichsten in zwei Entwicklungen manifestiert, die gewissermaßen das Janusgesicht des industriellen Kapitalismus darstellen, nämlich einerseits in der beispiellosen Anhebung des Wohlstandsniveaus und der daraus resultierenden Steigerung der Lebensqualität auf ein im vorindustriellen Zeitalter kaum denkbares Niveau und andererseits in dem Elend, das die mangelnde soziale Abfe-

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derung der evolutionären Expansionsdynamik des Kapitalismus immer wieder mit sich brachte und beispielsweise während der Zeit des Pauperismus breite Schichten der Bevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen mehr existieren denn leben ließ. Dementsprechend haben große industrielle Transformationsprozesse schon immer Gefühle der Verunsicherung, Ohnmacht und Minderwertigkeit, aber auch der Euphorie, des Optimismus und Glücks ausgelöst. Durch die zentrale Bedeutung, die die Ökonomie der zeit- und raumlosen Realität persönlichen Daten gibt, hat sich in dem Verhältnis zwischen industriellem Wandel und menschlicher Würde jedoch etwas fundamental verändert. Die vierte industrielle Revolution wirkt sich auf die menschliche Würde eben nicht mehr nur dadurch aus, dass sie unsere Lebensumstände prägt, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie das Leben selbst – sprich: das Menschsein – vermisst, bewertet und ummodelliert. Der Mensch wird zum Objekt datenhungriger, selbstlernender Maschinen, die permanent und ohne, dass wir es merken, Informationen über unser Menschsein sammeln und auswerten, um so unser Verhalten – wie wir essen, wohin wir fahren, was wir kaufen – ständig zu optimieren. Gleichzeitig entwurzelt die Auflösung von Zeit und Raum den Menschen physisch wie sozial so stark wie nie zuvor.

12 Künstliche Intelligenz bewertet den Menschen als Fehlkonstruktion. Karikatur von Timo ­Elliott. Übersetzung des Untertitels: „Die gute Nachricht ist: Ich habe Unzulänglichkeiten entdeckt. Die schlechte Nachricht ist: Du bist eine davon.“

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Diese Entwicklungen greifen die Würde des Menschen in ihrem Kern an, ja lassen selbigen allmählich erodieren, ohne dass wir es die meiste Zeit bemerken würden. Dagegen etwas zu tun, ist eine Verpflichtung, die Paragraf 1 des Grundgesetzes uns zwingend vorschreibt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Diesem Auftrag nachzukommen, ist nicht nur Aufgabe der Politik, sondern aller gesellschaftlichen Gruppen, ja jedes Einzelnen. Und das bedeutet, dass Menschenwürde zum Leitbild der vierten industriellen Revolution werden muss. Aber was heißt das konkret? Denkanstöße bietet zum Beispiel die Arbeit von The Interface Society, einem Zusammenschluss aus Politik-, Wirtschafts- und Wissenschaftsvertretern, der sich mit dem Wesen und den Folgen der Digitalisierung beschäftigt. In einem 2020 veröffentlichten Thesenpapier zum Thema „Digitalisierung in Würde“ sieht der Expertenkreis die wichtigste Voraussetzung zum Schutz der Menschenwürde während der vierten industriellen Revolution darin, den „Weltenwandel“ nicht einfach nur geschehen zu lassen, sondern ihn aktiv zu gestalten. Mit anderen Worten: Egal, wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Privatpersonen die von der vierten industriellen Revolution verursachten Veränderungen genau handhaben werden, menschliche Würde muss der Kompass sein, an dem sie sich dabei orientieren, zumal wenn es um besonders sensible Fragen der Verteilung, Inklusion, Diversität oder anderer Faktoren geht, die unser Menschsein direkt betreffen. Es gilt, alle innovativen Entwicklungen, die sich im Laufe der vierten industriellen Revolution auftun werden, stets unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde zu denken und diese so zum zentralen Organisationsprinzip der neuen cyber-physischen Realität zu machen. Über allem muss die zentrale Frage stehen: Wie kann die Würde des Menschen unter den Bedingungen der neuen Wirklichkeit sichergestellt werden?

Der Bootsmann auf dem Strom der Zeit Wir stehen am Beginn einer gewaltigen Zeitenwende. Die vierte industrielle Revolution wird die Welt vermutlich stärker verändern, als wir es uns im Moment überhaupt vorstellen können. Tatsächlich könnten die Herausforderungen, derer sie sich annehmen muss und die sie mit sich bringt, größer kaum sein. Auf der einen Seite muss sie die den ganzen Planeten Erde und damit den Fortbestand der Menschheit ernsthaft bedrohenden Umweltkrisen des Anthropozäns in den Griff bekommen, allen voran den anthropogenen Klimawandel. Auf der anderen Seite müssen wir die vierte industrielle Revolution so gestal-

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ten, dass die sich gerade öffnende cyber-physische Realität Leben schützt, individuelle Freiheit garantiert, unterschiedliche Lebensentwürfe respektiert und allen Menschen politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe gewährt. Diese doppelte Herausforderung ist die vielleicht schwierigste Aufgabe, die sich der Menschheit jemals gestellt hat. Das rasante Tempo, das der Weltenwandel schon jetzt erreicht hat, macht sie nicht gerade einfacher. Müssen wir deshalb verzweifeln oder in Schockstarre verfallen? Nein. Ungeachtet der Größe, Komplexität und Tragweite der Probleme, mit denen wir uns zu Beginn der vierten industriellen Revolution konfrontiert sehen, gibt es durchaus Grund zum Optimismus. Wenn uns die Geschichte seit Erfindung der Dampfmaschine eines gezeigt hat, dann dieses: Industrielle Revolutionen sind – trotz aller sozialen, politischen, ökologischen und sonstigen Verwerfungen, die sie zweifelsohne verursachen  – große „Ermächtiger“, die durch vorher nie für möglich gehaltene Entdeckungen und Entwicklungen die Manövrierfähigkeiten des Menschen als Bootsmann auf dem Strom der Zeit erhöhen. So liegt es auch in der vierten industriellen Revolution in unseren Händen, wie die Zukunft, die dieser gewaltige Transformationsprozess gerade zu öffnen beginnt, einmal genau aussehen wird. Wir müssen die uns zur Verfügung stehende Gestaltungsfreiheit aber auch verantwortlich und mutig nutzen. Und das heißt in der gegenwärtigen „Take off “-Phase der Revolution, technologische Innovation, wirtschaftliche Entwicklung, politische und soziale Sicherheit, Menschenwürde und Umweltschutz zusammenzudenken, auf diese Weise eine konkretere Vorstellung davon zu gewinnen, wo wir hinwollen, und unser Handeln als Einzelne und als Gemeinschaft im Großen wie im Kleinen danach auszurichten. Dafür ist eine fortwährende und breite gesellschaftliche Debatte darüber nötig, was das Narrativ des Anthropozäns und solche Konzepte wie geopolitische Handlungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde für uns unter den „entgrenzten“ Bedingungen der neuen cyber-physischen Realität eigentlich bedeuten. In einer solchen Debatte ist es unabdingbar, immer wieder auch einen Blick zurück in die Geschichte zu werfen und darüber nachzudenken, welchen Punkt in der historischen Entwicklung wir erreicht haben. Denn nur auf Basis der so gewonnenen Orientierung können wir hoffen, derart durch den rauen, mitunter tosenden Strom der Zeit zu navigieren, dass wir die Tücken seiner Verwirbelungen und Untiefen umschiffen, seine Strömung geschickt für unsere Zwecke nutzen und einer Zukunft entgegensteuern, die wir für uns und unsere Nachkommen für erstrebenswert halten.

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Literaturhinweise Es ist unmöglich, für so ein dynamisches, breites und so viele Fachgebiete betreffendes Thema wie die vierte industrielle Revolution eine vollständige Bibliografie zu erstellen. Das folgende Literaturverzeichnis ist deswegen stark selektiv. Die Auswahl beschränkt sich auf die wichtigsten Werke, die mir dabei geholfen haben, Struktur, Ordnung und Sinn in dem Weltenwandel zu erkennen, der sich gerade vor unseren Augen vollzieht. Insbesondere habe ich jene Bücher und Aufsätze aufgenommen, die den schwierigen Balanceakt zwischen der Vermittlung von Fachwissen und einer spannenden Erzählweise meistern und deshalb von einem breiteren Publikum sowohl zur Information als auch zum Genuss gelesen werden können. Um interessierten Leserinnen und Lesern die Literatursuche zu erleichtern, habe ich neben fremdsprachigen, zumeist englischen Originalausgaben auch die deutschen Ausgaben der jeweiligen Werke angegeben. Sofern ich aus den Originalausgaben zitiert habe, stammen die Übersetzungen von mir. Zudem habe ich mich bemüht, wann immer möglich eine Online-Verlinkung beizufügen, unter der die jeweiligen Texte frei zur Verfügung stehen. Viele der spannendsten Informationen zur vierten industriellen Revolution finden sich im Internet. Ich beschränke mich im Folgenden auf die wichtigsten Webseiten. Dabei handelt es sich um besonders nützliche Startpunkte, von denen aus jeder User auf der Suche nach Informationen über die vierte industrielle Revolution seinen eigenen Pfad durch die unendlichen Weiten des Netzes finden kann. Außerdem habe ich in das folgende Verzeichnis auch einige journalistische Beiträge aufgenommen. Diese ordnen das jeweilige Tagesgeschehen klug und pointiert in die größeren Zusammenhänge ein und eröffnen dadurch dem Leser noch einen weiteren Zugang zur vierten industriellen Revolution. Einleitung: Die größte Revolution aller Zeiten Abelshauser, Werner. Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart (2. Aufl. München, 2011). Gutes Überblickswerk. Ayres, Robert U. The History and Future of Technology. Can Technology Save Humanity from Extinction? (Cham, 2021). Brynjolfsson, Erik, und Andrew McAfee. The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird (Kulmbach, 2014). OA.: The Second Machine Age. Work, Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies (New York, 2014).

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Bildnachweis nach Bildnummern Abb. 1: picture alliance/dpa | Shigesato Imaizumi; Abb. 2: Die 4 Stufen industrieller Revolutionen, Quelle: dfKI (2011), https://silo.tips/download/forschungsunion-wirtschaft-und-wissenschaft-begleiten-die-hightech-strategie; Abb. 3: akg-images / © SCIENCE SOURCE/SCIENCE SOURCE; Abb. 4: akg-images / Universal Images Group / Universal History Archive; Abb. 5: akg-images / Universal Images Group / Universal History Archive; Abb. 6: wikipedia; Abb. 7: Kees Metselaar / Alamy Stock Foto; Abb. 8: wikimedia commons; Abb. 9: Schautafeln aus dem IGBP-Bericht „Global Change and the Earh System. A Planet under Pressure“, 2001. In: W. Steffen, A. Sanderson, P. D. Tyson, J. ­Jäger, P. Matson, B. Moore, F. Oldfield, K. Richardson, H.-J. Schellnhuber, B. L. Turner und R. J. Wasson:  Global Change and the Earth System: A Planet Under Pressure. The IGBP Book Series, Berlin, Heidelberg, New York 2004, S. 336; Abb. 10: Zoonar GmbH / Alamy Stock Foto; Abb. 11: wikimedia commons; Abb. 12: Timo Elliot (timoelliott.com)

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Als wbg Paperback auch erhältlich: Karin Bojs, Meine europäische Familie Klaus-Jürgen Bremm, 1866 Klaus-Jürgen Bremm, Preußen bewegt die Welt Angelos Chaniotis, Die Öffnung der Welt Eric H. Cline, 1177 v. Chr. Oliver F. R. Haardt, Industrielle Revolution 4.0 Peter Heather, Die letzte Blüte Roms Leoni Hellmayr, Der Mann, der Troja erfand Gunther Hirschfelder, Manuel Trummer, Bier Douglas A. Howard, Das Osmanische Reich Arne Karsten, Volker Reinhardt Kardinäle, Künstler, Kurtisanen Irmgard Knechtges-Obrecht, Clara Schumann Harald Lesch, U. Forstner, Wie Bildung gelingt Philip Matyszak, Legionär in der römischen Armee Peter Meier-Hüsing, Nazis in Tibet Günter Müchler, Napoleon Magali Nieradka-Steiner, Exil unter Palmen Sam Pivnik, Der letzte Überlebende Gunda Trepp, Gebrauchsanweisung gegen Antisemitismus Abigail Tucker, Katzen

»Das richtige Buch zur rechten Zeit« Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister a. D.

Wir befinden uns am Beginn einer gewaltigen Revolution: Die Künstliche Intelligenz wird die Welt stärker verändern als die Erfindung der Dampfmaschine oder des Computers. Die vierte industrielle Revolution schafft ungeahnte Möglichkeiten, aber auch ganz neue Risiken. Angetrieben von einer Welle technologischer Innovationen und der Dynamik des Kapitalismus öffnet sie vor unseren Augen eine noch nie dagewesene, cyber-physische Realität. Gleichzeitig zieht mit dem Anthropozän ein neues Erdzeitalter herauf. Dieses Buch richtet sich an alle, die diesen Weltenwandel verstehen wollen. Denn indem wir einen aufmerksamen Blick in die Geschichte werfen, können wir die Revolution besser gestalten.

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Foto: Jehangir Cama

wbg Paperback. Für Leserinnen und Leser, die mehr Wissen wollen.

Oliver F. R. Haardt Industrielle Revolution 4.0

Mit einem Geleitwort von Peter Altmaier

Oliver F. R. Haardt

Industrielle Revolution 4.0 Eine historische Navigationshilfe

Oliver F. R. Haardt studierte am Trinity College der Universität Cambridge Geschichte und promovierte 2017 bei Christopher Clark. Danach lehrte er am Magdalene College der Universität Cambridge. Heute wirkt er als freier Autor und Historiker. Seine Arbeit konzentriert sich auf den großen Kulturwandel, der die Welt im 19. und 20. Jahrhundert in die Moderne führte, und hat mehrere bedeutende Preise in Deutschland und Großbritannien gewonnen. Zuletzt erschien von ihm die hochgelobte neue Geschichte des deutschen Kaiserreichs »Bismarcks ewiger Bund«.

Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Umschlagabbildungen von oben nach unten: fahrbare Dampfmaschine zum landwirtschaftlichen Gebrauch / akg-images; elektrische Glühbirne von Edison, wie er sie am 15.12.1879 zum Patent anmeldete / akg-images; Standbild aus dem Film »Metropolis«, 1927 / akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek; Internationale Funkausstellung, West-Berlin 1985 / akg images / Peter Hebler; Ausschnitt aus »Salat« von Johannes Geeslors auf der Cyber Arts 08 / akg-images / ANA

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