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German Pages 159 [158] Year 2013
Geschichte kompakt Herausgegeben von Kai Brodersen, Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich Neuzeit: Uwe Puschner Berater für den Bereich Neuzeit: Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Dieter Ziegler
Die Industrielle Revolution 3. Auflage Die Geschichte
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Für Manuela und Anton Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 3., bibliographisch aktualisierte Auflage 2012 i 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2005 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25604-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73351-4 eBook (epub): 978-3-534-73352-1
Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
I. Die deutschen Staaten und die europäische Industrialisierung .
1
II. Die leichtindustrielle Phase der Industrialisierung (1770 – 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die institutionelle Revolution . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Agrarreformen und Agrarrevolution . . . . . . . . . . 1.2. Die Aufhebung der Zunftverfassung . . . . . . . . . . 1.3. Die Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes 2. Erste regionale Ansätze moderner industrieller Entwicklung 3. Die sozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13 15 18 27 29 34 40
III. Die schwerindustrielle Phase der Industrialisierung (1830 – 1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex . . . . 1.1. Die Transportrevolution . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Der Steinkohlenbergbau . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Eisen- und Stahlindustrie . . . . . . . . . . . 1.4. Der Maschinenbau . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Das Geld- und Bankwesen . . . . . . . . . . . . 2. Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen 3. Die sozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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51 51 55 63 71 77 79 84 93
IV. Die Industrialisierungsphase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren 2. Die neue Rolle des Staates . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“ . . 4. Die regionale Verbreitung der Industrialisierung . . . . 5. Die sozialen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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101 103 111 121 132 137
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Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Schlussbetrachtung Literatur
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Geschichte kompakt In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muß sie suchen. (Marc Bloch) Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt
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I. Die deutschen Staaten und die europäische Industrialisierung Die Industrialisierung Europas war nicht nur ein welthistorisches Ereignis, weil sie mittelfristig jeden Winkel der Erde in der einen oder anderen Weise tangierte, sondern sie besaß sogar eine menschheitsgeschichtliche Dimension. Denn nicht zu Unrecht sehen zahlreiche Historiker in der Geschichte der Menschheit nur einen mit der Industrialisierung vergleichbaren Einschnitt: die Sesshaftwerdung des Menschen im Neolithikum und die folgende Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht. Aus dieser mehr als zehntausend Jahre umfassenden Perspektive heraus erscheint die sich über mindestens eineinhalb Jahrhunderte hinziehende Industrialisierung Europas tatsächlich als eine plötzliche Umwälzung, als eine Industrielle Revolution. Auch aus der Perspektive der neueren Geschichte ist die Industrialisierung zweifellos ein epochaler Einschnitt. In der jüngeren Forschung wird aber gleichzeitig immer mehr die graduelle Veränderung betont und damit der evolutionäre Charakter der Industrialisierung. So stellt sich die Frage, ob der Umwälzungsprozess nicht sehr viel früher eingesetzt hatte, als man lange Zeit annahm, und ob er – mit Blick auf die Ränder Europas, ganz zu schweigen von Asien, Lateinamerika und Afrika – überhaupt schon zum Abschluss gekommen ist? Am Anfang jeder Diskussion um Revolution oder Evolution sollte deshalb die Definition von „Industrialisierung“ bzw. „Industrieller Revolution“ stehen, um sich über die Merkmale verständigen zu können, die den Beginn und den Abschluss dieses Umwälzungsprozesses markieren. Nach einer naiven, aber weit verbreiteten Vorstellung wird die „Industrielle Revolution“ mit der Dampfmaschine gleichgesetzt. Danach begann die Industrialisierung mit der Erfindung dieser revolutionär neuen Antriebsmaschine, und ihren Abschluss könnte man mit der Verdrängung der Dampfmaschine durch den Verbrennungsmotor und den Elektromotor datieren. Richtig ist an dieser Vorstellung lediglich, dass die Dampfmaschine, insbesondere die mit Rädern versehene und auf Schienen gesetzte Dampfmaschine (Lokomotive) das Symbol der Industrialisierung darstellt. Aber die Vorstellung, eine technische Erfindung habe die Industrialisierung ausgelöst, ist absurd. Selbstverständlich ist der europäische Weg der Industrialisierung nicht ohne Kohle und Koks, die Dampfmaschine, die „Spinning Jenny“ als erste Baumwollspinnmaschine oder die Stahlgewinnung durch das „Puddeln“ vorstellbar. Diese und andere technische Errungenschaften stellen insofern eine notwendige Bedingung für die Industrialisierung dar, aber hinreichend sind sie noch lange nicht. Es ist in der Weltgeschichte vieles „erfunden“ worden, das zunächst überhaupt keine praktische Bedeutung erlangte, sondern erst sehr viel später Verbreitung fand. Entscheidend für die wirtschaftliche Durchsetzung einer Maschine oder eines technischen Verfahrens sind vielmehr eine bestehende oder zumindest latente Nachfrage nach dem Produkt, für dessen Herstellung Maschine oder Verfahren benutzt werden können, und die Wirtschaftlichkeit ihrer Anwendung.
„Revolution“ oder „Evolution“
Technischer Fortschritt und Wirtschaftlichkeit
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
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„Spinning Jenny“ Da das Weben auf dem Webstuhl schneller ging als das Spinnen mit dem Handspinnrad, entstand um die Mitte der 18. Jahrhunderts in der britischen Grafschaft Lancashire ein akuter Garnmangel. Die Nachfrage war so groß, dass eine Lösung nur durch eine nachhaltige Steigerung der Arbeitsproduktivität denkbar war. So schrieb die britische Society of Arts 1761 einen Preis aus, wonach eine Maschine gesucht wurde, welche „sechs Fäden aus Wolle, Flachs, Hanf oder Baumwolle auf einmal spinnen und nur eine Person brauchen würde, um mit ihr zu arbeiten und sie zu bedienen“. Damit sollte aber nicht nur der Garnmangel behoben, sondern auch die bisher dezentrale Produktion durch das Heimgewerbe räumlich konzentriert werden. Die Technisierung war demnach auch ein gezielter Versuch des Unternehmers, die Kontrolle über eine wachsende Produktion zu behalten. Die Kontrolle der Produktion wurde zum Dreh- und Angelpunkt der ersten Fabriken, noch bevor es um sinkende Kosten ging. Diese Vorgaben wurden von der „Spinning Jenny“ des Handwebers James Hargreaves (1720 – 1778) erfüllt. Mit ihr konnte eine Arbeiterin mit einer Handkurbel zunächst sechs Spindeln gleichzeitig antreiben. Später wurde die Handkurbel durch Wasserradantrieb ersetzt, weil die Zahl der Spindeln immer weiter gesteigert wurde. Die wichtigste Konkurrentin der „Jenny“ war die nur wenig später entwickelte „Waterframe“-Spinnmaschine des Perückenmachers Richard Arkwright (1732 – 1792), die das kontinuierliche Spinnen mit dem Flügelspinnrad nachempfand und von Anfang an größer ausgelegt war, so dass der Wasserradantrieb für sie sogar namensgebend wurde.
Die Leistung von James Watt (1736 – 1819) bestand nicht darin, die Dampfmaschine erfunden zu haben, und die Leistung von George Stephenson (1781 – 1848) und seinem Sohn Robert (1803 – 1859) bestand nicht darin, die Lokomotive erfunden zu haben. Sie haben aber die ersten wirtschaftlich einsetzbaren Maschinen ihrer Art erfunden, wozu erstens eine gewisse Zuverlässigkeit und Stetigkeit der Leistungsabgabe, zweitens aber auch eine wirtschaftliche Relation von Energieeinsatz und Leistungsabgabe zählt. So waren Dampfmaschinen lange vor Watts Erfindung in Steinkohlenbergwerken im Einsatz, um dort die Wasserhaltung zu regulieren. Ihr Einsatz war wegen des hohen Energieverbrauchs aber nur dort wirtschaftlich, wo die Kohle als Antriebsenergie direkt anfiel. Das Revolutionäre an Watts Erfindung war also nicht das technische Prinzip, Steinkohle nicht nur als Wärmeenergieträger, sondern auch als Antriebsenergieträger einzusetzen. Entscheidend für die erfolgreiche Durchsetzung der Dampfmaschine war der wirtschaftliche Einsatz des Energieträgers. Indem Steinkohle nun nicht mehr nur als Brennstoff zum Heizen genutzt wurde, sondern auch zum Befeuern von Dampfmaschinen, wurde für die Steinkohle mittelfristig ein riesiger neuer Markt erschlossen, so dass nicht mehr nur die Anwender der Dampfmaschine in den verschiedensten Bereichen billiger produzieren konnten, sondern auch die Steinkohlenbergwerke dank der Marktausweitung weitere Investitionen tätigten, die es ihnen ermöglichten, billiger – weil in größeren Mengen – zu produzieren. Diese Wirkung der Dampfmaschine entfaltete sich aber nicht von einem Tag auf den anderen. Denn Dampfmaschinen waren teuer und ihr Kauf für jeden Unternehmer anfangs ein Risiko. Es sollte deshalb Jahrzehnte dauern, bis sich in England die „Dampfmaschinen-Ökonomie“ durchgesetzt hatte.
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung Bis sie in anderen Teilen Europas ankam, dauerte es sogar eine oder mehrere Generationen. Es war deshalb auch nicht die Schwerindustrie, die als Pionier der modernen industriellen Produktion gilt, sondern die Textilindustrie, genauer gesagt: die Baumwollspinnerei. Sie bestimmte die erste Phase der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie war aber zunächst nur in Großbritannien und auch dort nur in wenigen Regionen wie der Grafschaft Lancashire mit dem Baumwollhafen Liverpool und dem nicht weit entfernt gelegenen Manchester wirkungsmächtig, der ersten Großstadt der Industrialisierung. Die Dampfmaschine spielte in dieser ersten Phase noch eine untergeordnete Rolle. Erfindung und Einsatz der ersten Spinnmaschine, der „Spinning Jenny“ in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, gingen der Wattschen Dampfmaschine sogar um einige Jahre voraus. Zusammen zum Einsatz kamen Spinnmaschine und Dampfmaschine sogar noch viel später. Schon die Bezeichnung des Flügelspinnrades macht das deutlich. In Arkwrights Fabrik in Nottingham wurde zwar erstmals die für die Industrialisierung typische Verbindung zwischen Arbeits- und Kraftmaschine hergestellt. Aber die Spinnräder wurden nicht mit Dampfkraft, sondern mit dem Göpel (Pferdeantrieb) angetrieben. Nachdem diese Fabrik abgebrannt war und Arkwright zu Beginn der achtziger Jahre in Cromford seine zweite Fabrik errichtet hatte, wurden die Spinnmaschinen mit Wasserkraft angetrieben. Fabrik Die Fabrik ist eine zentralisierte Produktionsstätte, in welcher der Produktionsprozess stärker arbeitsteilig organisiert ist als in der herkömmlichen handwerklichen Produktion. Die Fabrik ist mit einem System von Kraft- und Arbeitsmaschinen ausgerüstet, wobei zur Bedienung der Arbeitsmaschinen in der Frühzeit der Fabrik noch ein hohes Maß an qualifizierter Handarbeit erforderlich war. Bemühungen um eine Reduzierung der Handarbeit bis hin zur Automatisierung der Fertigung setzten zwar schon im 19. Jahrhundert ein, durchgreifende Erfolge zeitigten sie aber erst im 20. Jahrhundert. Für die Belegschaft erschöpfte sich die Bedeutung der Fabrik nicht in ihrer Bedeutung als Produktionsstätte, sondern sie bildete zugleich einen Sozial- und Herrschaftsverband, indem das Unternehmen zur Arena ökonomischer, sozialer und gesellschaftlicher Konflikte wurde. Damit wurde sie auch zu einem Ort für ein neuartiges Verhältnis zur Zeit (also der strikten Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit), gemeinschaftlicher Arbeitserfahrung, Kooperation und Solidarität.
Max Weber (1864 – 1920) zur Bedeutung von Maschine und Fabrik für den modernen Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, S. 835.
I. Textilindustrie als Pionier
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Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur, dass sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsver-
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
hältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden.
Erst als die Wasserkraft knapp wurde, weil wegen der vielen Wasserräder an den Wasserläufen in Lancashire die Energie nicht mehr ausreichte, schlug die Stunde der Dampfmaschine. Mittlerweile war die Verbesserung der Maschinen auch soweit fortgeschritten, dass der Kostenvergleich zwischen Investition und Betriebskosten für den Göpel auf der einen Seite und für die Dampfmaschine auf der anderen Seite immer öfter zugunsten der letzteren ausfiel. Durch die Emanzipation vom Wasserantrieb konnte dann auch eine zweite Entwicklung einsetzen, die für die Industrialisierung in den meisten Regionen Europas typisch war, die Konzentration der Produktion in Städten (statt der notwendigerweise dezentralen Produktion an den Wasserläufen). Ähnlich war die Situation bei den Lokomotiven. Schienenwege gab es schon lange bevor es Lokomotiven gab. Sie wurden mit Loren befahren, die von Pferden gezogen wurden. In der Regel dienten diese Schienenwege für den Transport von Steinkohle oder Roheisen zum nächstgelegenen Fluss oder Kanal. Seit der Wende zum 19. Jahrhundert war es nahe liegend, die natürlichen Pferdestärken durch Pferdestärken einer Dampfmaschine zu ersetzen. Doch alle Versuche scheiterten lange Zeit daran, dass die Lokomotiven zu schwer für die Schienen waren. Leichter gebaute Lokomotiven waren andererseits zu anfällig und nicht sehr leistungsstark. Robert Stephensons Ruhm gründete sich also ähnlich wie bei Watt nicht auf die Erfindung der Lokomotive, sondern auf die Erfindung der ersten im regelmäßigen Verkehr zuverlässig einsetzbaren Lokomotive. Dies stellte er mit seiner „Rocket“ bei einem Rennen auf dem ersten Teilstück der ersten modernen Eisenbahnstrecke, der Liverpool & Manchester Railway, unter Beweis. Er gewann das Rennen und bekam den Auftrag für die ersten Lokomotiven dieser Eisenbahngesellschaft.
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„Rocket“ Bei Baubeginn der Eisenbahnstrecke zwischen Liverpool und Manchester war noch keineswegs sicher, wie die Züge einmal diese Strecke befahren sollten. Lokomotiven, denen man zutrauen konnte, die Strecke im regelmäßigen Verkehr zu befahren, gab es nicht, und so wurde zunächst der Einsatz von stationären Dampfmaschinen erwogen, welche die Züge per Seilzug bewegen sollten. Der leitende Ingenieur George Stephenson konnte die Verantwortlichen der Bahngesellschaft aber davon überzeugen, einen Versuch zu unternehmen. Anfang Oktober 1829 fand auf einem ebenen Gleisabschnitt von eineinhalb Meilen Länge vor den Toren Liverpools ein neuntägiger Wettbewerb („Rainhill Trials“) um die leistungsfähigste Dampfmaschine statt – stationär und lokomotiv. Der Sieger dieses Wettbewerbs war die „Rocket“, eine Lokomotive, die Stephensons Sohn Robert in seiner Fabrik in Newcastle konstruiert hatte. Sie erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 24 Meilen pro Stunde (39 km/h) und befuhr die Strecken mehrfach ohne Störungen. Dieser Erfolg bildete den Grundstein für eine sehr erfolgreiche Lokomotivfabrik, aus der später auch zahlreiche Lokomotiven nach Deutschland exportiert wurden.
Die deutschen Staaten und die Industrialisierung Wenn es also keinen Sinn macht, die Industrialisierung nach technischen Erfindungen zu definieren, weil die Erfindung nur dann zur Innovation wird, wenn ihr die Wirtschaftlichkeit ihres Einsatzes zu einer schnellen Verbreitung (und damit auch zu weiteren technischen Verbesserungen) verhilft, müssen wirtschaftliche Kriterien zur Definition von Industrialisierung gesucht werden. Lange Zeit diente die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums als ein entscheidendes Merkmal der Industrialisierung. Ältere Arbeiten gingen noch davon aus, dass es in Großbritannien seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu einer deutlichen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums kam. Man sprach deshalb von einer „Industriellen Revolution“. Analog ging man davon aus, dass sich der gleiche revolutionäre Vorgang im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in Belgien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland und etwas später noch in Österreich-Ungarn, Italien und Skandinavien wiederholte, bis er dann am Ende des 19. Jahrhundert auch das zaristische Russland erreichte. Wirtschaftswachstum Unter Wirtschaftswachstum wird die Zunahme des realen (d. h. inflationsbereinigten) Bruttosozialprodukts verstanden, also der Wertsumme aller im Inland in einer bestimmten Periode (meist ein Kalenderjahr) erzeugten Güter und Dienstleistungen. Zur Messung der relativen Größe einer Volkswirtschaft wird das Bruttosozialprodukt häufig auch statistisch auf die Köpfe der Bevölkerung verteilt (Pro-Kopf-Einkommen). Heute wird das Bruttosozialprodukt in Deutschland über die Konten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung durch das Statistische Bundesamt errechnet. In der vor- und frühindustriellen Zeit gab es solche Behörden noch nicht. Entsprechende Daten für diese Zeit wurden erst später auf der Grundlage sehr lückenhafter Datenüberlieferungen geschätzt. Sie sind deshalb nur mit größter Vorsicht zu gebrauchen.
Von dieser Vorstellung ist die Forschung aber seit einiger Zeit abgekommen. Insbesondere für Großbritannien konnte nachgewiesen werden, dass das Wachstum dank einer entwickelten handwerklichen Produktion und heimgewerblicher Protoindustrie während der Jahrzehnte vor dem Beginn des „Maschinenzeitalters“, der „Industriellen Revolution“, bisher unterschätzt worden war. Da das Ausgangsniveau des Bruttosozialprodukts in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts demzufolge höher war, als bisher angenommen, konnte das Wachstum nicht so rasant gewesen sein, wie es die älteren Arbeiten noch angenommen hatten. Man geht deshalb von einer graduellen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums aus. In einer ähnliche Richtung wird heute auch von manchen Autoren im Falle der kontinentaleuropäischen Ökonomien argumentiert. Im Falle Frankreichs passte die Vorstellung einer „Industriellen Revolution“ ohnehin nie, weil Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhundert bereits ein hohes, mit Großbritannien vergleichbares Niveau des Pro-Kopf-Volkseinkommens aufwies, dann aber von der schneller wachsenden britischen Volkswirtschaft abgehängt wurde. Beim Eintritt in das 19. Jahrhundert war Frankreich den anderen kontinentaleuropäischen Ländern dann aber trotzdem noch deutlich voraus, wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte von einigen Konkurrenten jedoch eingeholt und teilweise auch überholt. Im Gegensatz zur politischen
I. Definitionen von „Industrialisierung“
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Wachstumstempo
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
Kapitalintensität
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Entwicklung war an der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs damit immer schon wenig „Revolutionäres“ zu entdecken. Etwas anders sieht das bei Belgien oder Deutschland aus, die beide innerhalb weniger Jahrzehnte Anschluss an die führende Industrienation herstellen konnten. Im Falle Deutschlands wird aber mittlerweile auch darüber diskutiert, ob das Wirtschaftswachstum vor dem Beginn des „Maschinenzeitalters“ nicht unterschätzt wurde. Dennoch eignen sich Deutschland, Belgien und insbesondere Schweden, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa am schnellsten wachsende Volkswirtschaft, noch am ehesten für eine Rettung des Konzepts beschleunigten Wachstums als Kriterium für Industrialisierung oder Industrielle Revolution. Da Industrialisierung heute aber weniger als ein nationalstaatlicher Vorgang, sondern mehr als ein europäisches Phänomen von industrialisierenden Regionen innerhalb politischer Grenzen und auch über Grenzen hinaus gesehen wird, muss eine Definition von Industrialisierung im gesamten europäischen Maßstab Gültigkeit besitzen. Die Wachstumspfade Frankreichs und Großbritanniens reichen aber aus, um das Konzept beschleunigten Wirtschaftswachstums zu verwerfen. Eine alternative Definition wäre in diesem Zusammenhang das Kriterium einer beschleunigten Kapitalbildung. Denn um die technischen Errungenschaften des „Maschinenzeitalters“ wirtschaftlich einsetzen zu können, bedarf es eines Wandels in der Struktur und Organisation der gewerblichen Produktion. Für die Errichtung von Fabriken, Bergwerken, Schiffswerften, Eisenhütten, Kanälen und Eisenbahnen benötigt man Kapitalsummen, wie man sie bisher für solche Zwecke noch nie eingesetzt hatte. Kapitalbildung Unter der Kapitalbildung versteht man die Erweiterung des Kapitalstocks einer Volkswirtschaft durch Neuinvestitionen. Investitionen werden durch ersparte Geldeinkommen finanziert. Sie setzen somit einen Konsumverzicht der Einkommensbezieher zugunsten einer erweiterten Produktionsgütererzeugung voraus. Bei den ersparten Geldeinkommen kann es sich um bereits verteilte Einkommen handeln, die als Kredite (direkt oder vermittelt über die Banken bzw. den Kapitalmarkt) oder als Beteiligungen (meist den Erwerb von Aktien) der Wirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Investitionen können aber auch aus noch nicht verteilten Einkommen finanziert werden, indem etwa der Unternehmensgewinn nicht ausgeschüttet wird, sondern ganz oder teilweise zur Produktionserweiterung in der Unternehmung verbleibt.
Auch diese Definition konnte sich allerdings nicht durchsetzen, und wieder liefert der Pionier der industriellen Entwicklung das entscheidende Gegenargument. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die britische Industrialisierung zunächst keineswegs durch die kapitalintensive Schwerindustrie geprägt wurde, sondern durch die weiterhin sehr arbeitsintensive, aber vergleichsweise wenig kapitalintensive Textilindustrie. Weitaus größere Summen wurden etwa in Getreidemühlen investiert, die überall gebraucht wurden und deshalb lange vor dem Beginn der Industrialisierung über das ganze Land verstreut errichtet wurden. Technisch waren sie als Wind- oder Wassermühlen in ganz Europa noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auf einem vorindustriellen Stand. Angesichts des in dieser Weise vor-
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung industriell investierten Kapitals fielen die modernen britischen Baumwollspinnereien quantitativ kaum ins Gewicht. Für eine statistisch merkliche, womöglich gar ruckartige Steigerung der Kapitalbildung waren die „modernen“ Fabriken viel zu wenige. Ein weiteres Kriterium für eine industrielle Wirtschaft und Gesellschaft bildet die Verteilung der Beschäftigten auf die Wirtschaftssektoren. In vorindustrieller Zeit war der bei weitem größte Teil der Bevölkerung im primären Sektor, in der Landwirtschaft beschäftigt. Auch ein hoher Anteil des tertiären Sektors, also bei den Dienstleistungen, war im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft – anders als heute – noch keineswegs ein Zeichen von „Modernität“. Im Gegenteil, die berufliche Zusammensetzung der im tertiären Sektor Beschäftigten sah im 18. und 19. Jahrhundert gänzlich anders aus als heute. Das gilt besonders für weibliche Beschäftigte. Die typischen „Frauenberufe“ des 20. Jahrhunderts gab es entweder noch gar nicht oder sie spielten zumindest quantitativ noch keine Rolle. Pflegerische und „soziale“ Berufe gab es für Frauen so gut wie noch gar nicht. Insbesondere die Krankenpflege, die Geburtshilfe usw. galten zwar auch schon in vorindustrieller Zeit als „weiblich“, wurden vielfach aber noch „ehrenamtlich“, insbesondere durch kirchliche Einrichtungen, ausgeübt. Die Verkäuferin und die Sekretärin sind hingegen neue Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts. Einen sehr großen Anteil der im tertiären Sektor beschäftigten Frauen bildeten deshalb die Hausangestellten, insbesondere die Dienstmädchen, die quantitativ heute fast gar keine Bedeutung mehr besitzen, sondern in relativ kurzer Zeit während der zwanziger bis fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem Einzug der industriellen Technik in die Haushalte „wegrationalisiert“ wurden. Wirtschaftssektoren Die Wirtschaft besteht aus drei Sektoren. Der erste (oder primäre) Sektor umfasst die Urproduktion (Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei). Der zweite (oder sekundäre) Sektor umfasst das verarbeitende Gewerbe (Handwerk und Industrie) sowie den Bergbau, die Bau- und die Versorgungswirtschaft. Der dritte (oder tertiäre) Sektor umfasst Handel und Verkehr sowie das Dienstleistungsgewerbe und die öffentliche Verwaltung.
I.
Bedeutungsverschiebung der Wirtschaftssektoren
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Es war vielmehr der sekundäre Sektor, die Beschäftigten in Handwerk und Gewerbe, deren steigender Anteil den Übergang zur industriell geprägten Wirtschaft markiert. Allerdings ist auch dieses Kriterium nicht unproblematisch. Denn die Statistik unterscheidet nicht zwischen den (vorindustriell) tätigen Produktionshandwerkern und den Industriearbeitern. Wenn also ein Handwerksgeselle seine Arbeitsstelle verlor, weil die Kutschen, die sein Meister in dessen Werkstatt produzierte, gegen die Eisenbahn nicht mehr konkurrieren konnten, statt dessen aber ein zusätzlicher Arbeiter in einem Waggonbauunternehmen eingestellt wurde, weil die Nachfrage nach Eisenbahnen durch die erfolgreiche Verdrängung der Kutschen stieg, ändert sich in der Statistik der im sekundären Sektor Beschäftigten nichts, obwohl ein „vorindustrieller“ durch einen „industriellen“ Arbeitsplatz ersetzt worden war. Ähnlich verhält es sich im primären Sektor. Die protoindustrielle Heimarbeit wurde in der Regel auf dem Land von Kleinststellenbesitzern und
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
Schwankungen des Wirtschaftswachstums
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Kleinbauern im Nebengewerbe betrieben. In der Statistik lässt sich diese Übergangsform zur industriellen Produktion aber nicht erkennen. Denn der Kleinbauer mit einem Nebenverdienst als Heimarbeiter wird genauso zum primären Sektor gezählt wie der Vollbauer. So können also „moderne“ Beschäftigte im primären Sektor und vorindustriell Tätige im sekundären Sektor versteckt sein, ohne dass sich das aus der Statistik erkennen ließe. Aber selbst wenn es gelänge, in der Statistik etwa zwischen im sekundären Sektor beschäftigten Handwerkern und Fabrikarbeitern zu unterscheiden, bliebe die Zahl der Fabrikarbeiter in Deutschland im Vergleich zu der großen Zahl der Handwerker bis weit ins dritte Viertel des 19. Jahrhunderts so gering, dass sie für sich allein genommen eine kaum merkliche Verschiebung zugunsten der Beschäftigtenstruktur des sekundären Sektors auslösen konnten. Eine vergleichsweise präzise zeitliche Festlegung des Beginns der Industrialisierung in den Staaten des Deutschen Zollvereins ist in den siebziger Jahren dem Wirtschaftshistoriker Reinhard Spree gelungen, indem er die Wachstumsmuster der modernen, besonders schnell wachsenden Industrien identifizierte und auf ihre Regelhaftigkeit untersuchte. Dabei konnte er feststellen, dass ihr Einfluss auf die Konjunktur seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine solche Bedeutung erlangte, dass die wirtschaftlichen Wechsellagen nicht mehr von den Ernteschwankungen der Landwirtschaft bestimmt wurden, sondern von der Entwicklung der Industriewirtschaft. Konjunktur Das Wirtschaftswachstum erfolgt niemals als ein gleichförmiger Prozess mit einem Jahr für Jahr annähernd gleichen Tempo. Die jährlichen Schwankungen können vielmehr beträchtlich ausfallen. In der Frühen Neuzeit wurde die wirtschaftliche Entwicklung ganz wesentlich durch die Schwankungen der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt. Diese Schwankungen waren unregelmäßig und zufällig, weil sie – abgesehen von den Kriegen im 17. und 18. Jahrhundert und deren Folgen – im wesentlichen durch klimatische Faktoren bestimmt wurden. Das industriewirtschaftliche Wachstum setzte in Deutschland im 19. Jahrhundert zunächst in wenigen Branchen und Regionen ein, von denen aus es sich langsam verbreitete. Damit löste sich der Rhythmus des Wachstums von den Zufälligkeiten des Klimas und wurde mit dem Bedeutungszuwachs der Industriewirtschaft in der Gesamtwirtschaft durch die Abfolge von Innovations- und Investitionsschüben und deren Nachlassen bestimmt. Dadurch entstand ein zyklischer Rhythmus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wegen der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung immer mehr Volkswirtschaften erfasste, deren Wachstumszyklen nun weitgehend synchronisiert waren.
Bis 1873 war das Wirtschaftswachstum in Deutschland, von kurzfristigeren Schwankungen abgesehen, durch eine lange Aufschwungsphase gekennzeichnet. Der Historiker Friedrich Lenger hat erst kürzlich wieder die Kompatibilität dieser Beobachtung mit älteren Vorstellungen einer „Industriellen Revolution“ herausgestellt. Außerdem gibt es bisher kein überzeugenderes Konzept für die empirische Verifikation einer „Industriellen Revolution“ als das von Spree. Aber dennoch beruht Sprees Analyse auf einer ganzen Reihen von statistischen Gewichtungen, die nicht unumstritten geblieben sind. Außerdem ist es nicht erwiesen, ob mit dieser Methode auch ein
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung langsameres Hinübergleiten von einer vorindustriellen in eine industriell geprägte Wirtschaft erfassbar ist. Ganz abgesehen davon ist die Datengrundlage für die Berechnung des Volkseinkommens in der Frühzeit der Industrialisierung in fast allen europäischen Ländern äußerst lückenhaft. Oft basieren die Datenreihen auf Schätzungen, denen ein bestimmtes Verständnis der industriellen Entwicklung im jeweiligen Land zugrunde liegt. Wenn dann fehlende Daten aufgrund dieses Verständnisses interpoliert werden, können sie auf der anderen Seite nicht hergenommen werden, um genau dieses Vorverständnis zu beweisen. Das wäre tautologisch. Schließlich sollte berücksichtigt werden, dass alle verfügbaren Daten zur Berechnung von Volkseinkommen, Kapitalbildung usw. immer durch politische Grenzen bestimmt werden. Doch politisch definierte Regionen sind selten gleichzusetzen mit Wirtschaftsregionen. Das gilt für Nationalstaaten ohnehin, selbst für kleine Nationalstaaten wie Belgien oder die Schweiz, aber auch für kleinere Verwaltungseinheiten wie etwa die preußischen Provinzen. Dennoch kann etwa die Verteilung der Erwerbstätigen auf die Wirtschaftssektoren als ein grober Indikator für den Fortschritt der Industrialisierung angesehen werden. Wenn wir beispielsweise das Königreich Sachsen mit dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin vergleichen, lässt sich leicht ausmachen, welcher deutsche Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts industriell fortgeschrittener war. So waren in Sachsen bereits 1871 nur noch 28% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, während es in Mecklenburg-Schwerin im gleichen Jahr 62% gewesen waren. Demgegenüber gab es auch innerhalb vieler im Durchschnitt weit entwickelter Verwaltungseinheiten, wie etwa der preußischen Rheinprovinz, Regionen, die, wie etwa die Eifel, nicht nur von der Industrialisierung unberührt geblieben waren, sondern die sogar „deindustrialisierten“, indem Kapital, Arbeitskräfte, technisches und unternehmerisches Know How abwanderten, weil der vorindustrielle Standortvorteil des Holzreichtums im Zeitalter der Steinkohle nichts mehr Wert war, nun aber die periphere Lage und die schwierige verkehrliche Erschließung als Standortnachteile durchschlugen. Im Gegensatz zu vielen anderen nationalstaatlich definierten Industrialisierungswegen legen fast alle genannten Indikatoren im deutschen Fall eine Industrialisierungsphase zwischen der Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, nur kurz unterbrochen durch die Revolution von 1848 und ihren Folgen, und der Mitte der siebziger Jahre mit dem Abflauen der Hochkonjunktur nach der Reichsgründung nahe. In der Literatur über die deutsche Industrialisierung wird diese Periode deshalb mit guten Gründen bis heute als die Phase der „Industriellen Revolution“ oder entsprechend der Terminologie älterer industrialisierungstheoretischer Vorstellungen als „Take off“ oder als „Big Spurt“ bezeichnet, der eine vorbereitende Phase, die Frühindustrialisierung, vorgeschaltet war und der nach Überwindung der Wachstumsschwäche der späten siebziger und achtziger Jahre eine Phase der Hochindustrialisierung folgte. So sinnvoll diese Periodisierung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Zollvereinsstaaten bzw. des Deutschen Kaiserreichs auch ist, sie verdrängt die regionalen Besonderheiten und passt die deutsche Entwicklung
I. Statistische Probleme
Probleme der Periodisierung
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
Industrialisierung als europäisches Phänomen
Grenzräume
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viel zu wenig in den gesamteuropäischen Kontext ein. Die Wirtschaftsordnung und die Wirtschaftspolitik, im 19. Jahrhundert insbesondere die Handelspolitik, können zwar Bedingungen schaffen, die nur innerhalb bestimmter politischer Grenzen Gültigkeit besitzen, aber Waren, Kapital, Arbeitskräfte und nicht zuletzt auch Know How zirkulierten auch schon im 18. Jahrhundert über Grenzen hinweg, so dass die britischen Versuche ganz aussichtslos waren, zwar Baumwollgarne und Baumwollstoffe nach Kontinentaleuropa zu exportieren, nicht aber Maschinen und Menschen, die diese Maschinen aufstellen und bedienen konnten. Spätestens nach der Beendigung der Kontinentalsperre und dem kaum gebremsten Zugang englischer Garne und Stoffe auf den kontinentaleuropäischen Markt orientierten sich immer mehr Zeitgenossen in Deutschland am britischen Vorbild, auch wenn die dort zu beobachtenden sozialen und politischen Folgen der Industrialisierung durchaus auch kritisch gesehen wurden. Immerhin mussten aber die kontinentaleuropäischen „Nachzügler“ das Rad nicht neu erfinden, sondern konnten vom britischen Vorbild lernen und einige der dortigen Errungenschaften auf die eigenen Verhältnisse angepasst übernehmen. Die Kostenersparnis einer intelligenten Nachahmung war beträchtlich und erklärt zu einem Gutteil, weshalb manche kontinentaleuropäische Volkswirtschaften sowie die USA den britischen Vorsprung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen ein- und in manchen sogar überholen konnten. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr die „Werkstatt der Welt“ waren und dass es durchaus Sinn machte, von den Nachbarn zu lernen, war für die Briten ein sehr schmerzhafter und deshalb auch langwieriger Prozess. In manchen Bereichen verpassten sie deshalb den Anschluss und holten den Vorsprung, den sich die dynamischsten aller Nachzügler, die USA und Deutschland, vor dem Ersten Weltkrieg etwa in der elektrotechnischen Industrie erarbeitet hatten, nie wieder ein. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten, so prekär sie im Einzelfall auch gewesen sein mag, begann keineswegs mit ihrer Institutionalisierung in den „Römischen Verträgen“ im Jahr 1957 oder gar erst mit dem Beitritt Großbritanniens zur EWG 1973, sondern weitaus früher. Abgesehen von der grenzüberschreitenden Bedeutung des wirtschaftlichen Austauschs hielten sich auch die Rohstoffvorkommen, insbesondere die Steinkohle, aber auch Eisenerz und andere Bodenschätze nicht an nationalstaatliche Grenzen, so dass Industrieregionen auf beiden Seiten von Grenzen entstanden. Man denke im deutschen Fall nur an das deutsch-belgische Revier zwischen Lüttich und Aachen, das deutsch-französische Saarrevier oder den sächsisch-böhmischen bzw. den schlesisch-böhmischen Grenzraum. Jeder Versuch, die gegenseitige Befruchtung benachbarter Wirtschaftsräume zu unterbinden, hätte nicht nur dem Nachbarn geschadet, sondern hätte auch die eigene Entwicklung gebremst. Da mögen die Abneigungen der Preußen gegenüber dem aus einer Revolution geborenen Belgien noch so groß gewesen sein, ohne die Impulse aus den belgischen Revieren wäre nicht nur die Geschichte des Aachener Reviers, sondern auch die Geschichte des Ruhrgebiets anders verlaufen. Verlässt man aber die nationalstaatliche Perspektive ist es nicht mehr möglich, die Periodisierung der Industrialisierung in Frühindustrialisierung,
Die deutschen Staaten und die Industrialisierung „Take off“ und Hochindustrialisierung aufrechtzuerhalten. Denn während Preußen zum Zeitpunkt der Gründung des Deutschen Zollvereins noch in der Phase der Frühindustrialisierung steckte, war Großbritannien bereits ein Industrieland, das seinen ersten Eisenbahnboom erlebte, während die russische Wirtschaft andererseits noch ganz in den Fesseln des Feudalismus gefangen war. Im Folgenden soll deshalb einem anderen Periodisierungsschema gefolgt werden. Die Forschung geht heute einhellig davon aus, dass die Industrialisierung ein sowohl sektoral als auch regional ungleichgewichtiger und ungleichzeitiger Prozess war. Das gilt im nationalen Rahmen selbst für einen vergleichsweise kleinen Staat wie Belgien, und demzufolge noch viel stärker für den gesamten Kontinent Europa. Regional ungleichzeitig und ungleichgewichtig bedeutet, dass regionale Wachstumskerne entstanden, die untereinander in Beziehung traten und Impulse auf benachbarte, noch rückständige Regionen absonderten. Sehr schematisch betrachtet handelte es sich dabei, von England ausgehend, um eine West-Ost-Wanderung industrieller Wachstumszonen entlang der Kohlevorkommen von der französischen Kanalküste bis nach Nordböhmen und Oberschlesien sowie um eine Nord-Südwanderung entlang des Rheins bis in das schweizerische Voralpenland und darüber hinaus bis nach Piemont. Sektoral ungleichzeitig und ungleichgewichtig bedeutet, dass nicht alle Gewerbezweige gleichzeitig von der Industrialisierung erfasst wurden sondern nach und nach. Dabei bildeten sich bestimmte, auf „Basisinnovationen“ wie der mechanischen Baumwollspinnerei, der Eisenbahn oder der Elektrifizierung beruhende industrielle Führungssektoren heraus, die über einen längeren Zeitraum in der Lage waren, den Wachstumsrhythmus maßgeblich zu bestimmen. Die Wachstumsimpulse dieser Führungssektoren hielten in der Regel bei leichten Schwankungen über mehrere Jahrzehnte an, bis sie an Dynamik einbüßten. In diesen schwächeren Wachstumsphasen erfolgte dann der Durchbruch einer neuen Basisinnovation, die sich nach einiger Zeit zu einem neuen industriellen Führungssektor entwickelte und ihrerseits die Wachstumsdynamik bestimmte. Wenn eine rückständige nationale Volkswirtschaft den Anschluss an die industrialisierenden Volkswirtschaften herstellen wollte, musste sie sich im 19. Jahrhundert in der Regel dem Wachstumsmuster der höher entwickelten Volkswirtschaften anpassen, indem sie etwa ihre geringere Arbeitsproduktivität und Produktqualität durch niedrigere Lohnkosten ausglichen. Während der Boomphasen war die Nachfrage meist so hoch, dass auch die anfangs noch teuren und qualitativ kaum konkurrenzfähigen Produkte ihre Absatzchancen besaßen. Mit der Zeit wurden die Produkte der nachholenden Volkswirtschaften durch Nachahmung dann qualitativ besser, so dass sie dank der weiterhin vergleichsweise niedrigen Lohnkosten zumindest auf dem Binnenmarkt und bei den noch rückständigeren Nachbarn dauerhaft konkurrenzfähig wurden. So konnte ein selbst tragendes Wachstum über die nachholende Industrialisierung in bestimmten Schlüsselbranchen erreicht werden. Die folgende Darstellung wird sich an diesen langwelligen Industrialisierungsmustern orientieren. Sie gliedert sich in drei Phasen, die durch unter-
I.
Regionale Ungleichzeitigkeit
Sektorale Ungleichzeitigkeit
Industrialisierung unter der Bedingung relativer Rückständigkeit
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Die deutschen Staaten und die Industrialisierung
I.
schiedliche Führungssektoren bestimmt wurden: die Phase der Baumwollindustrie von den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts (leichtindustrielle Phase), die Phase des Eisenbahnbaus von den dreißiger/vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts (schwerindustrielle Phase) und die Phase der elektrotechnischen Industrie seit den achtziger/neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Phase der „neuen“ Industrien).
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II. Die leichtindustrielle Phase der Industrialisierung (1770–1840) Das 19. Jahrhundert gilt in Europa zwar als ein vergleichsweise friedliches Jahrhundert, aber die Revolutionskriege (1792 – 1799) und die Napoleonischen Kriege (1799 – 1815) verhinderten zu seinem Beginn für einige Zeit die Ausbreitung von Wachstumsimpulsen über Großbritannien hinaus. Unter dem künstlichen Schutz der Kontinentalsperre blühten auf dem Kontinent sogar noch eine Weile rückständige Gewerbezweige, auf die ohne die Kontinentalsperre ein erheblich größerer Modernisierungsdruck ausgeübt worden wäre. Ohne diesen Zwang zur nachholenden Industrialisierung hatte sich der Abstand der britischen zur kontinentaleuropäischen Produktionsweise, insbesondere im Textilgewerbe, bis zur Aufhebung der Kontinentalsperre noch wesentlich vergrößert. Er konnte deshalb kaum noch aufgeholt werden. Kontinentalsperre Nach dem Sieg über Preußen verfügte Napoleon im Jahr 1806 eine Wirtschaftsblockade des zu dieser Zeit weitgehend unter französischer Kontrolle stehenden europäischen Kontinents gegen Großbritannien. Durch das Einfuhrverbot britischer Industriewaren und über Großbritannien gehandelter Kolonialwaren sowie durch das Ausfuhrverbot für Getreide nach Großbritannien sollte der Hauptgegner entscheidend wirtschaftlich geschwächt werden. Dieses Ziel wurde allerdings nicht nur verfehlt, sondern im Gegenzug blockierte Großbritannien die kontinentalen Nordseehäfen. Für die kontinentale Gewerbewirtschaft, insbesondere für das Spinnereigewerbe, bedeutete die Kontinentalsperre eine kurze Atempause, die allerdings nicht genutzt wurde, um den britischen Vorsprung einzuholen. Im Gegenteil: Nach der Aufhebung der Kontinentalsperre im Jahr 1813 war der Vorsprung der britischen Maschinenspinnerei gegenüber der kontinentalen, überwiegend handbetriebenen Spinnerei noch größer geworden.
Die erste Phase der europäischen Industrialisierung war demzufolge noch im wesentlichen eine britische. Nichtsdestotrotz entwickelten sich auch auf dem Kontinent schon am Ende dieser ersten Phase einige moderne regionale Wachstumskerne. Viel wichtiger war jedoch, dass vielfach die Voraussetzungen geschaffen wurden, die es weiten Teilen West- und Mitteleuropas ermöglichten, in der Aufschwungphase des zweiten, des schwerindustriell bestimmten Industrialisierungszyklus buchstäblich auf den Industrialisierungszug aufzuspringen. Lange Zeit glaubten viele Zeitgenossen auf dem europäischen Kontinent, sie müssten das britische Vorbild nur kopieren, um ähnlich erfolgreich zu sein. Allerdings mischte sich in diese aus heutiger Sicht etwas naive Fortschrittsgläubigkeit immer auch eine gehörige Portion Skepsis. Das galt für den Sozialisten und Theoretiker Karl Marx (1818 – 1883) in derselben Weise wie für den Viersener Textilverleger Friedrich Diergardt (1795 – 1869).
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Das britische Vorbild
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
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Friedrich Diergardt (1850): „Es ist und bleibt eine anerkannte Wahrheit, dass die Maschinenspinnerei die Bestimmung hat, eine radikale Revolution in der Masse der Produktion hervorzurufen […] Sich gegen die stets wachsende Kraft der Mechanik aufzulehnen ist vergeblich, und man kann England nur den Boden streitig machen, indem man es mit den eigenen Waffen bekämpft.“ Zit. in: R. Boch, Grenzenloses Wachstum. Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814 – 1857, Göttingen 1991, S. 156. Karl Marx (1867): „An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.“ Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Vorwort zur Ersten Auflage (1867), MEW Bd. 23, S. 12.
Der schweizerische Weg
Der schwerindustrielle Weg
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Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus. Um den Weg in die industrielle Zukunft erfolgreich beschreiten zu können, mussten die europäischen Nachzügler ein den jeweiligen Bedingungen angepasstes Set von institutionellen Arrangements entwickeln. Dem britischen Industrialisierungspfad am nächsten kam noch die Schweiz, die sich auf hochwertige Textilien und andere Produkte für den Weltmarkt spezialisierte, die durch die britischen Produzenten zunächst vernachlässigt worden waren. Die Schweiz konnte diese Nische nutzen, weil das Land klein war und über billige, aber gleichwohl hoch qualifizierte Arbeitskräfte verfügte, was sich bei dem weiterhin sehr arbeitskräfteintensiven, handwerklich bestimmten schweizerischen Weg als sehr vorteilhaft erweisen sollte. Die Schweiz lieferte damit das erste erfolgreiche Beispiel eines exportorientierten Industrialisierungsweges. Für größere Volkswirtschaften wie Frankreich, Preußen oder das Habsburger Reich war ein solcher Weg unmöglich. Ein leichtindustrieller Industrialisierungsweg wäre nur über die Massenherstellung von Textilien denkbar gewesen, und dort war der Vorsprung der britischen Produzenten einfach zu groß, um ihnen auf dem Weltmarkt erfolgreich Konkurrenz machen zu können. Für den Binnenmarkt konnten aber auch nach Aufhebung der Kontinentalsperre weiterhin Textilien produziert werden. Einige erfolgreich modernisierende Regionen wie Westsachsen oder das Bergische Land in Deutschland konnten aber die Deindustrialisierungswirkungen der zusammenbrechenden heimgewerblichen (Proto-)Industrie im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts noch nicht ausgleichen. Für die Nachzügler der ersten Generation wie Belgien, Frankreich und die Staaten des Deutschen Zollvereins sollte sich deshalb der schwerindustrielle Weg der Industrialisierung als der erfolgreiche erweisen. In Großbritannien war die Schwerindustrie zwar auch schon von der Industrialisierung erfasst worden, aber erstens verfügten alle genannten Volkswirtschaften über Steinkohlevorkommen als einer notwendigen Voraussetzung für den schwerindustriellen Weg und zweitens waren die britischen Kapazitäten im Steinkohlebergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie zu Beginn des Eisenbahn-
Die institutionelle Revolution
II.
zeitalters noch nicht annähernd so weit ausgebaut, dass sie die Nachfrage vom Kontinent in ähnlicher Weise billig hätte bedienen können, wie dies im Fall der Textilindustrie nach Aufhebung der Kontinentalsperre der Fall gewesen war.
1. Die institutionelle Revolution In ihrer kürzlich erschienen Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts haben die Historiker Clemens Wischermann und Anne Nieberding ein neues theoretisches Erklärungsmodell für die Geschichte der Industrialisierung in Deutschland vorgestellt. Dabei bedienen sie sich des zwar nicht mehr ganz neuen Theorieansatzes der Neuen Institutionenökonomik, der bisher aber noch nie auf die gesamte Breite des Industrialisierungsprozesses in Deutschland angewendet worden ist. Die Grundthese dieses auf den Nobelpreisträger Douglas North zurückgehenden Erklärungsansatzes lautet, dass „es letztlich nicht die ,unsichtbare Hand des Marktes‘ im Smithschen Sinne“, sondern „die ,sichtbare Hand‘ des Rechts resp. der von ihm abgebildeten institutionellen Regeln“ gewesen ist, die der Industrialisierung zum Durchbruch verhalf. Damit die „unsichtbare Hand“ des Marktes überhaupt wirksam werden konnte, bedurfte es einer Gestaltung der Verfügungsrechte über Sachen (Kapital und Boden) und Personen (Arbeitskraft), die den Wirtschaftssubjekten und ihrem Optimierungskalkül Anreize zur Steigerung des Ertrages und damit zur Investition liefert. Solche Anreize sind notwendig, weil Investitionen nur durch den Verzicht auf den unmittelbaren Konsum ermöglicht werden. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes Adam Smith (1723 – 1790) geht in seinem 1776 veröffentlichten Werk „The Wealth of Nations“ (Der Wohlstand der Nationen) davon aus, dass jeder Wirtschaftsakteur nur seine eigenen Interessen verfolgt. Denn „nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von ihren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.“ Obwohl jeder Akteur damit nur seinen individuellen Vorteil im Auge hat, wird er „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat“: den gesamtwirtschaftlichen Nutzen. Denn im Ergebnis führt der individuelle Egoismus zu einer größeren Effizienz wirtschaftlichen Handelns und damit zu einem höheren Wohlstand.
Mit der neoklassischen Theorie geht auch die Neue Institutionenökonomik davon aus, dass eine effektive Ressourcenverteilung nur über einen Wettbewerbsmarkt erfolgen kann. Die Neue Institutionenökonomik bestreitet allerdings, dass die Koordination der Tauschvorgänge auf den Märkten kostenlos erfolgt und dass jedes Wirtschaftssubjekt über so vollständige Informationen verfügt, dass es – in einem objektiven Sinne – vollständig rational entscheiden kann. Vielmehr entstehen bei der Benutzung des Marktes
Neue Institutionen Ökonomik
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Transaktionskosten
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
Fesseln der feudalen Wirtschaftsweise
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Transaktionskosten, die den von der Neoklassik unterstellten Markt- und Preismechanismus maßgeblich modifizieren. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Such- und Informationskosten, Vertragskosten und Durchsetzungskosten, falls sich ein Vertragspartner einmal nicht an die erwarteten Regeln halten sollte. Was für die Märkte gilt, gilt aber auch für Unternehmen, wo Kosten der Organisationsnutzung wie Vertragskosten und Kosten für Arbeitsund Qualitätskontrollen anfallen. Für einen effizienten Einsatz aller Ressourcen und zur Minimierung dieser Kosten ist das institutionelle Arrangement der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Wischermann und Nieberding verstehen ihre Einführung deshalb auch nicht als eine Geschichte der „Industriellen Revolution“, sondern als eine Geschichte der „Institutionellen Revolution“. Denn sie interessieren sich weniger für die mit bestimmten physischen Merkmalen ausgestatteten Güter, sondern für die mit ihnen verbundenen und mittels Verträgen in den Transaktionen übertragenen Verfügungsrechte. Unter einer Institution verstehen sie dabei ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen, das dem Zweck dient, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dieser institutionelle Wandel war noch viel weniger als die Industrialisierung ein revolutionärer Vorgang. Vielmehr zog er sich über Jahrhunderte hin. Nach Douglas North setzte er in Westeuropa in dem Moment ein, als die Kosten für Änderungen des institutionellen Gefüges geringer waren als die erwarteten Gewinne auf den sich etablierenden Märkten. Im 18. Jahrhundert kulminierten diese anfänglich punktuellen institutionellen Änderungen in den Niederlanden und England zu einer neuen Wirtschaftsordnung, die durch individuelle (statt gemeinschaftliche) Verfügungsrechte gekennzeichnet war. Damit war in North‘ Interpretation die institutionelle Voraussetzung für ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum geschaffen worden, das in England als „Industrielle Revolution“ bezeichnet wurde. Unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Sozialordnung des 18. Jahrhunderts war in Deutschland an ein Einschlagen des britischen Weges überhaupt nicht zu denken gewesen. Dafür waren Landwirtschaft und Gewerbe noch viel zu sehr in den Fesseln der feudalen Wirtschaftsweise gefangen. Deshalb musste erstens ein institutioneller Wandel eingeleitet werden, in dessen Verlauf marktwirtschaftliche Transaktionen hierarchiegesteuerte Transaktionen in der Volkswirtschaft verdrängen konnten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Förderung des Privateigentums an landwirtschaftlichem Grund und Boden sowie die volle Dispositionsfreiheit über die eigene Arbeitskraft in der Landwirtschaft durch die Aufhebung feudaler Abhängigkeitsverhältnisse sowie die Förderung des Wettbewerbs durch die Einführung der Gewerbefreiheit zu nennen. Zweitens musste ein einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen werden, in dem nicht durch eine Vielzahl von Zollbarrieren der interregionale Austausch unnötig verteuert oder sogar unmöglich gemacht wurde. Drittens musste die Landwirtschaft in die Lage versetzt werden, nicht nur die wachsende Bevölkerung zu ernähren, sondern auch den steigenden Anteil derjenigen Arbeitskräfte, die nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Theoretisch ist zwar auch ein Import von Nahrungsmitteln denkbar. Das setzte aber die Fähigkeit zum Export anderer Produkte voraus, um den Nah-
Die institutionelle Revolution rungsmittelimport zu finanzieren. Da in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine solche Möglichkeit nicht gegeben war, musste der „Industriellen“ eine „Agrarrevolution“ vorausgehen. Die entscheidende Wende im institutionellen Arrangement der Wirtschaftsordnung in Deutschland passt sehr gut in die Northsche Interpretation von Kosten und erwartetem Nutzen dieser Innovation. Denn in den konzeptionellen Überlegungen der preußischen Reformer lässt sich eine solche Kosten-Nutzen-Abwägung klar nachweisen. Obwohl es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere in Preußen erste vorsichtige Ansätze zur Lockerung der feudalen Fesseln eines (markt-)wirtschaftlichen Entwicklungsschubes gab, bedurfte es schließlich einer fast totalen militärischen Niederlage und der daraus folgenden territorialen Verstümmelung des preußischen Staatsverbandes, um die vielfältigen Widerstände zu überwinden. Insofern markiert die preußische Niederlage in der Schlacht von Jena und Auerstedt im Jahr 1806 sowohl gesellschafts- als auch wirtschaftspolitisch den Anbruch einer neuen Epoche. Den Spitzen der preußischen Bürokratie war danach nämlich vollkommen klar, dass es für den preußischen Staat nur zwei Alternativen gab: entweder eine Reform von Wirtschaft und Gesellschaft nach westeuropäischem Vorbild oder der Untergang als europäischer Machtfaktor. In ihrer Rigaer Denkschrift vom September 1807 entwickelte die Reformbürokratie um Karl August von Hardenberg (1750 – 1822), von April bis Juni 1807 preußischer Premierminister, und Karl von und zum Stein (1757 – 1831), von 1804 bis Januar 1807 preußischer Handelsminister, ihr Programm einer „Revolution von oben“, das heute in der Forschung fast einhellig als ein Programm der „defensiven Modernisierung“ interpretiert wird. Denkschrift „Über die Reorganisation des Preußischen Staates“ G. Winter, Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1, Leipzig 1931, S. 305 f.
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Preußische Reformbürokratie
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Die Begebenheiten, welche seit mehreren Jahren unser Staunen erregen und unserem kurzsichtigen Auge als fürchterliche Übel erscheinen, hängen mit dem großen Weltplan einer weisen Vorsehung zusammen. […] [Deren Grundsätze sind so wirkungsmächtig], so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergang oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muß. […] Der Staat, dem es glückt, den wahren Geist der Zeit zu fassen und sich in jenen Weltplan durch die Weisheit seiner Regierung ruhig hineinzuarbeiten, ohne daß es gewaltsamer Zuckungen bedürfe, hat unstreitig große Vorzüge. […] Eine Revolution im guten Sinn, zu dem großen Zwecke der Veredelung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder außen, – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip.
Ähnlich war die Situation in den Staaten des 1806 gegründeten Rheinbunds, den Napoleon im Süden, Westen und in der Mitte Deutschlands als Puffer gegenüber einer östlichen Bedrohung Frankreichs hatte errichten lassen. Die napoleonische Herausforderung wirkte sich dort allerdings direkter aus. Denn zum Programm der „defensiven Modernisierung“ gab es wegen
Französischer Einfluss
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der begrenzten politischen Autonomie noch nicht einmal theoretisch eine Alternative. Das französische Recht, der Code Civil, wurde, abgesehen von den annektierten linksrheinischen Gebieten, zwar nur im Königreich Westfalen und im Großherzogtum Berg eingeführt. An die französische Gesetzgebung angelehnte Varianten kamen aber auch in Baden, in der bayerischen Pfalz und im Großherzogtum Frankfurt zustande. Lediglich in Bayern verhinderte eine altaristokratische Opposition die durchgreifende Modernisierung des Rechts.
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Code Civil („Code Napoléon“) Der französische Code Civil aus dem Jahr 1804 war das erste bürgerliche Gesetzbuch eines ständefreien Staates. Er verband die durch die Französische Revolution neu errungenen Freiheitsrechte für Person und Eigentum zwar mit einem patriarchalischen Autoritätsprinzip, aber dieses war bürgerlicher und nicht mehr aristokratischer Natur. Wegen seiner großen Attraktivität setzte Napoleon sein Gesetzbuch auch als Assimilationsinstrument der französischen Hegemonialpolitik in Europa ein. Viele Nachbarstaaten kamen deswegen nicht umhin, wesentliche Bestandteile des Code Civil zu übernehmen – oder zumindest eine entsprechende Absicht zu behaupten.
Unter Außerachtlassung aller einzelstaatlicher Unterschiede, insbesondere was die Durchsetzung der einzelnen Reformschritte bis zur Jahrhundertmitte betrifft, lassen sich die (wirtschafts-)ordnungspolitischen Reformmaßnahmen wie folgt zusammenfassen: – Die Umwandlung der nicht zu überschauenden herrschafts-, besitz-, eigentums- und nutzungsrechtlichen Vielfalt feudaler Ansprüche in kapitalistische Eigentumsrechte an landwirtschaftlichem Grund und Boden; – Die Herstellung der uneingeschränkten Dispositionsfreiheit über die eigene Arbeitskraft in der Landwirtschaft; – Die Beseitigung korporatistischer Zutrittsbeschränkungen in allen gewerblichen Bereichen; – Die Herstellung eines einheitlichen einzelstaatlichen Wirtschaftsraumes durch die Aufhebung binnenwirtschaftlicher Zölle und Handelshemmnisse; – Die Reform und die Vereinheitlichung des Steuerwesens durch eine überschaubare Zahl staatlicher Hauptsteuern, die nach zumindest ansatzweise egalitären Prinzipien erhoben werden sollten.
1.1. Agrarreformen und Agrarrevolution Grundherrschaft
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In der Agrarverfassung hatte sich die herrschaftliche Grundstruktur während des gesamten 18. Jahrhunderts erhalten. In dem seit Jahrhunderten germanisch besiedelten Westen, Nordwesten und Süden Deutschlands („Altsiedelland“) waren die Agrarverhältnisse größtenteils durch die Grundherrschaft und damit bäuerlich geprägt. Die Bauern waren im modernen vermögensrechtlichen Sinne allerdings in der Regel nicht die Eigentümer ihrer Höfe, sondern besaßen nur ein erbliches dingliches Nutzungsrecht, das durch das Obereigentum des Grundherrn eingeschränkt wurde. Im Gegenzug für die
Die institutionelle Revolution Überlassung des Nutzungsrechtes standen dem Grundherrn Abgaben und Dienste zu, welche die eigenbehörigen Bauern in regional recht unterschiedlicher Weise zu leisten hatten. Wenn die Abgaben in Naturalien zu leisten waren, waren die bäuerlichen Haushalte fast vollkommen auf die Selbstversorgung ausgerichtet. In der Mehrzahl der Fälle waren im 18. Jahrhundert jedoch Abgaben in Geld zu leisten, und um dieses Geld zu erwirtschaften, mussten die Bauern Marktbeziehungen eingehen. Von einer Marktorientierung lässt sich in der süd- und westdeutschen Landwirtschaft des 18. Jahrhunderts aber dennoch nicht sprechen. Die Marktproduktion blieb unbedeutend und verharrte häufig in fest eingespielten Bahnen. Dennoch reichten die Rentenzahlungen in der Regel aus, um den adligen Grundherren eine standesgemäße Lebensführung zu sichern. In den ehemaligen Kolonisationsgebieten nördlich und östlich der Elbe war die Agrarverfassung im 18. Jahrhundert überwiegend durch die Gutsherrschaft geprägt. Dabei handelte es sich um eine Sonderform der Grundherrschaft, deren wichtigstes Merkmal die Zusammenfassung der drei Herrschaftsrechte Grund-, Leib- und Gerichtsherrschaft in der Person des Grund-, d. h. des Gutsherrn war. Im Gegensatz zum süd- und westdeutschen Grundherrn lebte der ostdeutsche Gutsherr nicht in erster Linie von den Geld- oder Naturalabgaben derjenigen Bauern, die den im seinem Obereigentum befindlichen Boden bearbeiteten, sondern er bewirtschaftete als Gutsherr mit den Frondiensten seiner Bauern einen herrschaftlichen Eigenbetrieb („Vorwerk“). Dabei hatten die Vollbauern an mehreren Tagen in der Woche mit ihren Pferdegespannen die Vorwerksfelder zu bearbeiten. Zu den Handdiensten bei der Heu- und Getreideernte waren überwiegend die unterbäuerlichen Schichten verpflichtet, die über kein Pferdegespann verfügten. Durch diese Dienste konnten die Gutsherren fast ohne eigene Arbeitskräfte auskommen, während die Bauern zusätzlich Arbeitskräfte beschäftigen mussten. Denn auch wenn die bäuerliche Familie theoretisch in der Lage gewesen wäre, ihren Hof allein zu bewirtschaften, fielen die Leistungen für den Gutsherrn verstärkt in der derselben Zeit an, in der die Bewirtschaftung des eigenen Hofes den vollen Arbeitseinsatz der Familienmitglieder benötigte. Im Vergleich zur grundherrlichen Landwirtschaft war die gutsherrliche Landwirtschaft sehr viel stärker auf die Marktproduktion ausgerichtet. Vor der Kontinentalsperre bestritten die ostelbischen Großbetriebe mit ihren Exporten über die Ostseehäfen Stettin, Danzig, Elbing und Königsberg rund 50 % des britischen Getreideimports. Die große Exportorientierung galt bei allen regionalen Unterschieden neben der Getreideproduktion auch für die Schafzucht. Damit waren die großen Güter allerdings auch wesentlich stärker von der agrarkonjunkturellen Entwicklung abhängig. Da der Rohertrag wegen der quasi kostenlos zur Verfügung stehenden Arbeitskraft allein dem Gutsherrn zufloss, bestand aber selbst in Krisenzeiten kaum ein Anreiz zur Investition. Statt dessen wurde eher die Dienstpflicht der Bauern und unterbäuerlichen Schichten erhöht. Die Unfreiheit der grundherrlichen Bauern erschöpfte sich allerdings nicht in der materiellen Abhängigkeit. Die bäuerliche Familie war vielmehr auch persönlich vom Guts- bzw. vom Grundherren abhängig. So durften die Eigenbehörigen etwa den Hof nicht ohne die Einwilligung des Grundherrn ver-
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Gutsherrschaft
Rechtsstellung der Bauern
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„Bauernbefreiung“?
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lassen („Schollenbindung“) und ihre Kinder unterlagen dem Gesindezwang, wobei die Möglichkeiten zur Anwendung von Zwangsmitteln in der gutsherrlichen Agrarverfassung wesentlich ausgeprägter waren als in der grundherrlichen. Denn innerhalb des Gutsbezirks lagen auch Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit in der Hand des Gutsherrn. Darüber hinaus bedurfte auch die Eheschließung oftmals noch der Genehmigung des Grundherrn. Allgemein galt, dass eine solche Genehmigung nur dann erteilt wurde, wenn der heiratswillige Mann in der Lage war, seine Familie selbständig zu ernähren. Auf diese Weise konnte das Wachstum gerade der unterbäuerlichen Schichten in Grenzen gesteuert werden. Wegen dieser massiven Einschränkung der persönlichen Freiheit der bäuerlichen Familien sind die Agrarreformen des frühen 19. Jahrhunderts in der Historiographie lange Zeit euphemistisch als „Bauernbefreiung“ bezeichnet worden. Tatsächlich waren die Aufhebung der feudalen Dienstverpflichtungen und der Beschränkungen der Freizügigkeit ein wichtiger Bestandteil der Reformen. Aber der Preis, den die ehemals Abhängigen dafür zu zahlen hatten, war hoch und zerstörte nicht selten deren wirtschaftliche Existenzgrundlage. Denn auch die Kehrseite der feudalen Bindung „an die Scholle“, der bislang praktizierte Bauernschutz, wurde aufgehoben. Insofern verschärfte die formale Gleichstellung der Wirtschaftssubjekte einer modernen Marktgesellschaft die ökonomische Ungleichheit des Eigentums. Ein mecklenburgischer Adliger verteidigte 1766 die Leibeigenschaft nach folgendem Gesprächsprotokoll Thomas Nugents Reisen durch Deutschland 1781, in: G. Franz, Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, Darmstadt 1963, S. 236 f. Hauptmann Kettenburg gab mit sehr vieler Wärme der Leibeigenschaft für die Freiheit der Bauern den Vorzug. Sein Hauptargument war dies: Da diese Klasse der Menschen dem Gutsherrn eigentümlich gehörte, so erfordre es schon das Interesse ihrer Herrn, sie menschlich zu behandeln, und alle mögliche Sorgfalt für ihre Gesundheit und Unterhaltung anzuwenden: Folglich würden die Bauern in Mecklenburg in gesunden und kranken Tagen viel besser unterhalten, als wenn sie ihrer eigenen Discretion überlassen wären. Sollte nun auch die Leibeigenschaft mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden sein, so würden doch diese immer wieder aus den daraus erwachsenden Vorteilen ersetzt. […] Menschen, die nichts weiter hätten als ihr Leben und ihre Freiheit, wären armutshalber gezwungen, die abscheulichsten Bosheiten zu begehen: Freiheit ohne Eigentum wäre nicht immer ein Sporn zur Tugend. […] Und endlich wäre das gemeine Volk wenig besser als wilde Tiere, deren Wut man, wenn sie gleich in Fesseln und Ketten lägen, so lange fürchten müsste, als sie noch knurrten und in ihre Ketten bissen, damit sie den Vorübergehenden nicht schaden könnten.
Den größten Vorteil von der Privatisierung des Bodens und der Ablösung der Dienste hatten die Großgrundbesitzer, in Preußen nicht zuletzt die ostelbischen Junker. Denn entweder stand ihnen für die Überführung des „Bauernlandes“ in freien bäuerlichen Besitz eine Entschädigung durch Landabtretungen zu, oder ihnen wurden (insbesondere in den westlichen preußischen Provinzen) für die Ablösung der auf dem bäuerlichen Boden haftenden Ar-
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beitsdienstverpflichtungen ein Kapitalisierungssatz zuerkannt, der das fünfundzwanzigfache der geschätzten jährlichen Arbeitsrente betragen konnte. Auf diese Weise flossen den ehemaligen Grundherren mit den Ablösesummen über Jahrzehnte hinweg Finanzmittel zu, die diese wiederum zur Melioration vorhandener und zum Ankauf neuer Flächen nutzen konnten. Aufgrund dieser günstigen Startvoraussetzungen, zu denen auch die Adelsbefreiung von der im Jahr 1810 in Preußen eingeführten Grundsteuer zu rechnen ist, konnten sich Rittergüter und Großbesitzungen bürgerlicher Landwirte sehr schnell zu agrarkapitalistischen Betrieben entwickeln, die sich nicht selten landwirtschaftliche Nebengewerbe wie Brennereien oder Zuckerfabriken angliederten. Junker Der ostelbische Niederadel, die Junker, bildete mit etwa 0,3% der preußischen Bevölkerung, d. h. 85.000 Köpfen und rund 20.000 Familien, die größte deutsche Adelsformation. Da die Junker aufgrund ihrer historischen Genese in erster Linie Landadlige gewesen waren, behielt der große Grundbesitz seine Bedeutung als zentrales Fundament ihrer Macht und ihres Prestiges, nicht zuletzt im eigenen Selbstverständnis. Landbesitz reichte jedoch als Klassenbasis seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr aus, als bürgerliche Großagrarier in die Welt der Rittergüter einbrachen. Deshalb bekamen die Machtbollwerke in Staatsregierung und Verwaltung, im Heer und in der Diplomatie eine immer größere Bedeutung und wurden mit Zähnen und Klauen gegen das aufstrebende Bürgertum verteidigt. Im Gegensatz zum süd- und westdeutschen, überwiegend katholischen Adel waren die protestantischen Junker mit dieser Strategie außerordentlich erfolgreich. Mit den Deutschkonservativen hatte der ostdeutsche Adel sogar seine eigene, preußisch-partikularistisch und ultra-protestantische Partei, und auch bei der etwas liberaleren Freikonservativen Partei war der Anteil protestantischer Adliger außerordentlich hoch.
Neben der formalrechtlichen Aufhebung der alten Standesgrenzen durch die Rechtsgleichheit der Individuen und die Aufhebung des geteilten Eigentums durch die Abschaffung des Obereigentums bei gleichzeitiger Umwandlung des Untereigentümers in den neuen, alleinigen Eigentümer bildete die Individualisierung kollektiver Besitzrechte die dritte Säule der Agrarreformen. Außerhalb der gutsherrlichen Betriebe wurde die Organisation der bäuerlichen Betriebe neben der Bindungen an den Grundherrn im wesentlichen durch die Bindungen an die Markgenossenschaft bestimmt. Bei den Marken (oder Allmenden) handelte es sich um Flächen, die von der Dorfgemeinschaft gemeinschaftlich genutzt wurden. Da es sich dabei überwiegend um unkultivierte Wiesen und Wälder handelte, beruhte sowohl die Viehwirtschaft als auch die Brennstoffversorgung auf dieser Eigentumsform. Die Nutzung war extensiv, und zu größeren Investitionen konnte sich die Markgenossenschaft in der Regel nicht entschließen. Charakteristisch für den Zustand der meisten Marken waren der Raubbau an den Wäldern und ein weitaus zu hoher Viehbesatz im Verhältnis zum Zustand der Weiden. Auch die Nutzung der Felder litt darunter, dass es selbst beim Ackerbau häufig keine klare Zuordnung der dem Grundherrn gehörenden Felder („Gemeinheiten“) zwischen Flächenstück und Nutzer gab. Diese Gemengelage machte es dem einzelnen Bauern so gut wie unmöglich, Neuerungen im Feldbau ein-
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Allmenden
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Separationen
zuführen. Davon abgesehen fehlte aber auch der Anreiz zur Intensivierung der Produktion. Denn ein Großteil des Mehrertrages wäre ohnehin vom Grundherrn beansprucht worden. Die Forschung ist sich heute weitgehend darin einig, dass die Aufhebung der personellen Bindungen und die Privatisierung des ländlichen Grundund Sacheigentums eine notwendige Voraussetzung für den Anstieg der Agrarproduktion in Deutschland gewesen ist. Dazu gehörte auch die Aufteilung der Allmenden, die zunächst in Preußen 1821 gesetzlich geregelt wurde und wenig später auch die Separation der von wechselnden Nutzern bearbeiteten Flächen. Dadurch wurden die Blockaden zur Intensivierung der Landwirtschaft beseitigt. Denn es konnte nun für den einzelnen Bauern rentabel sein, neue Formen des Feldbaus (wie die verbesserte Dreifelderwirtschaft) anzuwenden oder in die Melioration bisher nicht nutzbarer Flächen zu investieren, um seine landwirtschaftliche Nutzfläche zu vergrößern. Erstens musste er nicht fürchten, dass der erwartete Mehrertrag vom Grundherrn abgeschöpft wurde, und zweitens existierte wegen der Ablösezahlungen, die mitunter durch den Verkauf von Land beglichen wurden, auch ein ökonomischer Zwang zur Intensivierung, um den Verlust an landwirtschaftlicher Nutzfläche auszugleichen.
E
Dreifelderwirtschaft Bereits im Mittelalter hatte sich in weiten Teilen Europas mit der Verdichtung der Besiedlung die Dreifelderwirtschaft entwickelt, die eine systematischere und regelmäßigere Nutzung des Bodens erlaubte als die bis dahin üblichen Nutzungsformen (Urwechselwirtschaft). Danach folgte einem Jahr der Brache die Nutzung mit Wintergetreide und im folgenden Jahr mit Sommergetreide. Während der anschließenden Vegetationsperiode überließ man die Ackerfläche sich selber. Das Hauptziel der Brache bestand darin, den Boden durch die beim Zerfall frei werdenden Pflanzennährstoffe wieder anzureichern, um im folgenden Jahr mit der Nutzung als Ackerland ohne Ertragseinbuße fortfahren zu können. Im 18. Jahrhundert ging man langsam dazu über, den Boden während der Brache nicht sich selber zu überlassen (einfache Dreifelderwirtschaft), sondern Blattfrüchte anzubauen, die dem Boden keine Nährstoffe entzogen, die für die Wiederaufnahme des Getreideanbaus im Folgejahr notwendig waren (verbesserte Dreifelderwirtschaft). Dabei handelte es sich anfangs überwiegend um Futtermittel wie Klee, durch welche die Leistungen der Viehhaltung nachhaltig verbessert werden konnten. Denn durch den erhöhten Anfall von Stallmist wurde damit auch die Viehhaltung stärker in die landwirtschaftliche Kreislaufwirtschaft einbezogen. Neben dem Klee wurden aber auch Rohstoffe für die gewerbliche Nutzung wie Flachs und Hanf sowie Gemüse wie Kohl, Erbsen, Bohnen und Linsen auf den Brachen angebaut.
Soziale Folgen der Agrarreformen
Die sozialen Folgen der Agrarreformen fielen sehr unterschiedlich aus. Insbesondere für die unterbäuerlichen Schichten konnten die Reformen verheerende Wirkung erzielen. So erfolgte die Aufteilung der Allmende und Gemeinheiten nicht nach sozialen Kriterien von „Bedürftigkeit“, sondern aufgrund der Größe der landwirtschaftlichen Nutzfläche der ehemaligen Nutzungsberechtigten. Die Landarmen und Landlosen gingen bei der Separation deshalb ganz leer aus und waren gleichzeitig von der für sie lebensnotwendigen Nutzung der Weiden, Moore und Wälder ausgeschlossen. Da außerdem die herrschaftliche Sorgepflicht in Notzeiten wegfiel, standen sich
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Die institutionelle Revolution viele Angehörige der ländlichen Unterschichten schlechter und lebten wirtschaftlich ungeschützter als vor den Reformen. Die soziale Deklassierung, die in den vierziger Jahren mit der Markenteilung in Preußen ihren Höhepunkt erreichte, führte zu heftigen sozialen Spannungen. Insbesondere der Holzdiebstahl und die Wilderei waren spezifische Formen des sozialen Protestes unterbäuerlicher Schichten, die zum einen eine Art Überlebensmaßnahme nach dem Ausschluss von der kollektiven Nutzung der Wälder darstellte, zum anderen aber auch den Protest gegen den Entzug der Lebensgrundlage ausdrückte. Deshalb konnte der Protest auch sehr gewalttätige Formen annehmen, zumal der Staat das neue Eigentumsrecht mit aller Härte durchzusetzen versuchte. Denn das angestrebte Ziel einer modernen nachhaltigen Forstwirtschaft war nur durch den Ausschluss fast aller früherer Nutzungsberechtigten zu erreichen. In diesem Konflikt kamen im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht nur Holzdiebe und Wilderer, sondern auch mancher Förster als Repräsentant der staatlichen Ordnung ums Leben. Auf der anderen Seite bildete die durch die Reformen ausgelöste Freisetzung von Arbeitskräften mittelfristig die Voraussetzung für die Entstehung der Fabrikarbeiterschaft. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten von knapp zwei Dritteln auf etwa 55% um die Jahrhundertmitte (bezogen auf das Gebiet des späteren Deutschen Reichs). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Bevölkerungszahl in derselben Zeit um rund 50% von 23 Mio. auf gut 35 Mio. Menschen anstieg. Für die erste Generation derjenigen, die in der Landwirtschaft kein Auskommen mehr fanden und denen auch der heimgewerbliche Nebenerwerb nicht mehr über die Runden verhalf, standen neue Arbeitsplätze in den Städten noch nicht zur Verfügung. Der Preis, den viele Angehörige der ländlichen Unterschichten im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts für die Aufhebung ihrer persönlichen Unfreiheit bezahlen mussten, war extrem hoch, und nicht wenige bezahlten ihre „Freiheit“ schließlich mit dem Leben. Insofern war die „Bauernbefreiung“ auch eine Befreiung des Adels von den Verpflichtungen gegenüber ihren eigenbehörigen Bauern in Notzeiten. Die Gewinner der Agrarreformen waren im Bereich der gutsherrschaftlichen Agrarverfassung auch langfristig die Junker und die bürgerlichen Großgrundbesitzer. Sie hatten vielfach bereits vor 1806 marktorientiert gewirtschaftet und nutzten nun insbesondere die Chancen, welche die Aufhebung der Corn Laws in Großbritannien für die Getreidewirtschaft des Ostseeraumes eröffnete. Die Arbeitskraft war zwar seit der „Bauernbefreiung“ nicht mehr „umsonst“, aber sie war weiterhin billig, und auf den Gütern hielten sich die informellen Formen feudaler Abhängigkeitsbeziehungen noch über Jahrzehnte. Auch die preußische Gesindeordnung, die 1810 an die Stelle von Erbuntertänigkeit und Gesindezwang getreten war und bis 1918 in Kraft blieb, war noch weitgehend vom Herrschaftsbezug der ständischen Ordnung durchdrungen. Knechte und Mägde wurden nur mit einem Minimum an Eigenrechten ausgestattet, während die Dienstherren faktisch eine nahezu unbeschränkte Verfügungsgewalt besaßen, die auch Körperstrafen bei offenem Protest ausdrücklich einschloss.
II. Verlierer der Reformen
Gewinner der Reformen
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
E
Produktionssteigerungen
Pflanzenproduktion
Corn Laws Im Jahr 1815 hatte in Großbritannien die Einführung von Getreidezöllen zu einer massiven Verteuerung der Nahrungsmittelpreise geführt, die insbesondere die städtischen Unterschichten sehr hart traf. Da die Fabrikarbeiterlöhne aber ohnehin nahe der Grenze der physischen Existenzsicherung lagen, hatten höhere Getreidepreise auch für die Unternehmer den negativen Effekt höherer Arbeitskosten. Die meisten Unternehmer waren deshalb überzeugte Freihändler – zumal sie ausländische Konkurrenz für gewerbliche Waren kaum zu fürchten hatten. Durch eine Wahlrechtsreform erhielten die vermögenden Mittelschichten in den dreißiger Jahren eine bessere Repräsentanz im britischen Unterhaus, so dass die Zölle nach einer landesweiten Kampagne der Freihändler im Jahr 1846 aufgehoben wurden. Einer der größten Nutznießer des nun freien Zugangs zum britischen Agrarmarkt war die ostelbische (Getreide-)Landwirtschaft. Die ostelbischen Junker gehörten deshalb in den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts im Zollverein anders als der britische grundbesitzende Adel zu den entschiedensten Verfechtern des Freihandels.
In West-, Nordwest- und Süddeutschland profitierten in erster Linie die mittleren und großbäuerlichen Betriebe. Für sie war auf der einen Seite die Belastung durch die Ablösungen vergleichsweise leicht zu tragen. Im Königreich Hannover waren die Reformgesetze sogar so abgefasst worden, dass der bäuerliche Besitz durch Abtretungen von Land zur Ablösung nicht in seiner Substanz gefährdet werden durfte und ein Sechstel der Gesamtfläche nicht überschreiten durfte. So weit war man in Preußen zwar nicht gegangen, aber auch die mittleren und größeren bäuerlichen Betriebe in den westlichen Provinzen erhielten in der Regel durch die Aufteilung der Allmende mehr als sie durch die Ablösung verloren hatten. Darüber hinaus erlaubte es die günstige Agrarkonjunktur auch vielen Betrieben, bei der Ablösung ganz auf den Verkauf von Land zu verzichten. Obwohl sich die am Anfang des Jahrhunderts in den meisten deutschen Staaten eingeleiteten Agrarreformen nur langsam und regional höchst unterschiedlich durchsetzten und obwohl mehrere Missernten 1816/17 und 1846/47 noch einmal Hungerkrisen vorindustriellen Ausmaßes verursachten, konnte die deutsche Landwirtschaft bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine deutliche Produktionssteigerung erzielen. Das galt sowohl für den Pflanzenbau als auch für die Viehwirtschaft. Verantwortlich für das Wachstum der pflanzlichen Produktion war neben der Steigerung der durchschnittlichen Hektarerträge (s. Tabelle 1) auch die Tabelle 1: Geschätzte Hektarerträge im Gebiet des späteren Deutschen Reichs (in kg/ha) Pflanzenart Roggen Weizen Gerste Hafer Kartoffeln
um 1800
um 1850
um 1870
900 1.030 810 680 8.000
1.070 1.230 1.120 1.090
1.270 1.500 1.300 1.300 9.000
Quelle: Achilles, Agrargeschichte, Tab. 20, S. 223.
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Die institutionelle Revolution Ausweitung der Anbauflächen. Friedrich-Wilhelm Henning schätzt, dass die Ackerfläche in Deutschland zwischen 1800 und 1850 von ursprünglich etwa 13 Mio. ha auf 25 Mio. ha fast verdoppelt wurde. Dabei spielten mehrere Faktoren zusammen. Zum einen wurde Ödland durch Meliorationen, Eindeichungen von Meeresgebieten, Seen und Flüssen, durch die Trockenlegung von Sümpfen oder die Urbarmachung von Heidegebieten in landwirtschaftliche Nutzfläche verwandelt. Insbesondere im deutschen Nordosten war dies der entscheidende Faktor. Allein in Pommern stieg der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche an der Gesamtfläche der Provinz von 15,5 % zur Zeit des Wiener Kongresses 1814/15 auf über 50 % ein halbes Jahrhundert später. Während nur ein Teil dieser Flächen sofort als Ackerland nutzbar war, wurde nach der Aufteilung der Allmende und ihrer Überführung in privates Eigentum zweitens ein Großteil der neu erworbenen Flächen von den Eigentümern in Ackerland verwandelt. Insgesamt stieg der Anteil des Ackerlandes an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche (ohne Waldflächen) von etwa 60 % zu Beginn des Jahrhunderts auf mehr als 70 % um die Jahrhundertmitte. Drittens wurde der Brachenanteil an der Ackerfläche deutlich verringert. Obwohl auch hier die Entwicklung regional sehr unterschiedlich verlief, gehen Schätzungen davon aus, dass der Anteil des Brachlandes am Ackerland von etwa einem Viertel zu Anfang des Jahrhunderts auf etwas über 10% zur Jahrhundertmitte zurückging (s. Tabelle 2). Angesichts der Tatsache, dass die in dieser Zeit in Ackerland verwandelten Böden von durchschnittlich schlechterer Qualität gewesen sein dürften als die alten Ackerflächen, ist die Steigerung der durchschnittlichen Hektarerträge in erster Linie beim Getreideanbau besonders bemerkenswert. Ausschlaggebend hierfür war noch nicht der Einsatz von Maschinen und auch nicht der Einsatz von Kunstdünger oder gar von Schädlingsbekämpfungsmitteln. Vielmehr wurden die traditionellen Geräte wesentlich verbessert: Die Pflüge griffen tiefer und die Sense verdrängte die traditionelle Sichel. Außerdem verbilligte die industrielle Produktion die leistungsfähigeren Ackergeräte, so dass sie sich relativ schnell verbreiten konnten. Etwas anders war die Situation bei der Kartoffel. Die Hektarerträge stiegen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum (s. Tabelle 1). Das Pro-
II.
Getreide
Kartoffeln
Tabelle 2: Der Pflanzenbau in Deutschland im 19. Jahrhundert (Anteile auf dem Ackerland im Gebiet des späteren Deutschen Reichs) Pflanzenart
um 1800
1850/55
1900
Getreide Hülsenfrüchte Kartoffeln Rüben, Gemüse Futterpflanzen Sonstige
61,1 % 3,9 % 1,5 % ? 4,7 % 3,8 %
58,8 % 3,8 % 9,4 % 3,1 % 10,4 % 3,2 %
57,6 % 2,6 % 12,6 % 4,7 % 15,6 % 1,2 %
Brache
25,0 %
11,3 %
4,8 %
Quelle: Achilles, Agrargeschichte, Tab. 13, S. 198 u. Tab. 19, S. 216.
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
Viehwirtschaft
Rückwirkung auf Handelsbilanz
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duktionswachstum wurde deshalb ausschließlich durch die Vergrößerung der Anbaufläche erreicht. Sie stieg von etwa 300.000 ha um 1800 auf 1,4 Mio. ha oder fast 10 % der Anbaufläche um 1850 (s. Tabelle 2). Da aber der Kalorienwert der pro Flächeneinheit geernteten Kartoffeln bei 360 % des auf der gleichen Fläche geernteten Getreides lag, trug auch die Ausweitung der Anbauflächen, die im wesentlichen zu Lasten des Getreides ging, trotz des stagnierenden Hektarertrages zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion insgesamt bei. Im Vergleich zum Getreide hatte die Kartoffel außerdem den Vorteil, dass sie auch auf kleinen Parzellen rationell angebaut werden konnte und auf eher schlechten Böden gute Erträge erzielte. Dadurch wurde sie zum wichtigsten Bestandteil der Nahrungsbasis der Unterschichten. Nicht zufällig wurde die letzte große europäische Hungerkrise 1846/47 durch die Kartoffelfäule ausgelöst. Denn durch den Ausfall der Kartoffelernte brach die Nahrungsbasis derjenigen weg, die selbst unter normalen Umständen ihren Kalorienbedarf durch Getreide oder andere Nahrungsmittel nicht mehr hatten decken können. Neben der Kartoffel waren am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit Mais, Sonnenblume und Tabak weitere neue Früchte nach Europa eingeführt worden. Den Blattfrüchten, zu denen auch der Klee zählt, kam insofern eine besondere Bedeutung für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu, als ihre Produktionsausweitung ein wichtiger Indikator für die Durchsetzung der verbesserten Dreifelderwirtschaft war. Obwohl der Anteil des Weidelandes an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche durch die Umwandlung in Ackerflächen während der ersten Jahrhunderthälfte zurückging, konnte auch die tierische Produktion in dieser Zeit deutlich gesteigert werden. Vieh wurde seit der Jahrhundertwende immer seltener ausschließlich zur Selbstversorgung und für die Mistgewinnung gehalten, sondern auch kleinere Betriebe begannen damit, für den Markt zu produzieren. Analog zum Hektarertrag beim Pflanzenbau stieg das durchschnittliche Schlachtgewicht bei Rindern und Schweinen, die durchschnittliche Milchleistung bei Kühen und der durchschnittliche Ertrag an Wolle bei Schafen deutlich an. Gleichzeitig wurde die Aufbringungszeit bei der Fleischproduktion deutlich verkürzt. Ursächlich hierfür waren die Zuchterfolge der nach Kriegsende auch in Deutschland einsetzenden planmäßigen Tierzucht sowie die Stallhaltung in Verbindung mit dem Futtermittelanbau. Der Agrarrevolution kam im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts auch eine zentrale Bedeutung für die preußische Handelsbilanz zu. Vor der Gründung und in der Frühzeit des Zollvereins, als die Eisenbahn den Gütertransport über weite Strecken im Binnenland noch nicht revolutioniert hatte, scheint der Außenhandel mit Großbritannien eine vermittelnde Funktion zwischen dem Getreide produzierenden deutschen Osten und dem gewerblich entwickelteren Westen Deutschlands gespielt zu haben. Denn während Großbritannien sein Getreide in erster Linie über den Seeweg aus Ostelbien importierte, bezog Westdeutschland aus Großbritannien Halbfertigwaren zur Weiterverarbeitung. Westdeutsche Fertigwaren, für die sich der teure Transport nach Osten wegen ihrer höheren Wertigkeit eher lohnte als der Transport billiger Massengüter aus dem Osten, wurden schließlich im Ge-
Die institutionelle Revolution
II.
genzug nach Ostelbien verkauft, wodurch das Handelsdreieck OstelbienGroßbritannien-Westdeutschland vervollständigt wurde.
1.2. Die Aufhebung der Zunftverfassung Die Befreiung des Gewerbes von den feudalen Hemmnissen des Zunftwesens war im Konzept nicht weniger radikal als die Agrarreformen. In ihrer Wirkung war die Gewerbefreiheit aber zunächst nicht mit den Agrarreformen zu vergleichen. In Preußen legte das Gewerbesteueredikt vom 28. Oktober 1810 zusammen mit dem Gewerbepolizeiedikt vom 7. September 1811 die rechtlichen Grundlagen für eine Wirtschaftsverfassung, die unter dem Vorzeichen der Gewerbefreiheit völlig umgestaltet werden sollte. Jedes Gewerbe konnte danach durch den Kauf eines staatlichen Gewerbescheins von Volljährigen ausgeübt werden. Zunftverfassung und Zunftzwang wurden vollständig aufgehoben. Da der Austritt oder das Fernbleiben von der Zunft in das Belieben der individuellen Entscheidung gestellt wurde, verloren die Zünfte gleichzeitig ihren öffentlich-rechtlichen Charakter als Zwangskorporationen und wurden zu privaten Vereinen degradiert. Zunft Eine Zunft ist eine ständische Körperschaft von (in der Regel) Handwerkern mit rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben. Die Anfänge des Zunftwesens liegen im Hochmittelalter, seine typische Ausprägung behielt es während der gesamten Frühen Neuzeit bis ins frühe 19. Jahrhundert bei. Die Zunftverfassungen der Frühen Neuzeit sahen Regelungen zu Rohstofflieferung und Verteilung, Absatzmengen, Löhnen und Preisen sowie zu Beschäftigungszahlen vor. Damit war Konkurrenz zwischen zünftigen Handwerkern weitgehend ausgeschaltet. Um sich gegen fremde, nicht zünftige Handwerker zu schützen, wurde die Ausübung eines bestimmten Handwerkszweiges an die Mitgliedschaft in der entsprechenden Zunft gebunden. Durch den Zunftzwang einerseits und die Verhinderung von Konkurrenz andererseits sollte den Mitgliedern der Zünfte ein standesgemäßes Leben durch gesicherte Einkommen („gerechte Nahrung“) und den Verbrauchern ein stabiles Preis-Leistungsverhältnis gesichert werden.
Gewerbefreiheit
E
Gleichzeitig fand die bisherige Praxis der Konzessionserteilung ihr Ende. Für Teile des Gewerbes existierte zwar weiterhin eine Konzessionspflicht, aber sie war nicht mehr mit den Privilegien verbunden, die für die merkantilistische Wirtschaftsförderung mit ihrem staatlich-ökonomischen Steuerungsbedürfnis typisch gewesen waren. Abgesehen von der Konzessionierung von Aktiengesellschaften nach dem preußischen Aktiengesetz von 1843 besaß das Konzessionswesen seit der Reform nur noch einen gewerbepolizeilichen Charakter zur Gefahrenabwehr für den Einzelnen oder die Allgemeinheit. Geschäfts-Instruktion für die preußischen Provinzen aus dem Jahr 1808 Geschäfts-Instruktion für die Regierungen in sämtlichen Provinzen v. 26.12.1808, zit. nach: Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 63.
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
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Auf keinen Fall aber müssen die Regierungen von jetzt ab Konzessionen oder Berechtigungen zu Gewerben, von welcher Gattung diese seyn mögen, ertheilen, durch welche ein Exklusiv- oder gar Zwangs- und Bannrecht begründet werden soll. Letztere sollen von jetzt ab unter keinen Umständen mehr verliehen, und Exklusivrechte gleichfalls, soviel als möglich, vermieden, höchstens nur dann und nur auf gewisse Jahre gegeben werden, wenn bei einem neuen Gewerbe der Versuch gemacht werden soll, ob es gedeihen werde. Es ist dazu auch jedesmal die Genehmigung der höheren Behörde nothwendig. Widerstände
Entstehung moderner Unternehmen
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Der Widerstand gegen die Gewerbereform war in allen deutschen Staaten heftig. Insbesondere das alte Stadtbürgertum tat sich dabei hervor. Unterstützung bekamen die Reformer lediglich durch die unzünftigen Freimeister, das unzünftige ländliche und das große Gewerbe. Das zünftige Handwerk befürchtete dagegen in seiner übergroßen Mehrheit, dass die Reformer den ungezügelten Wettbewerb an die Stelle „sicherer Nahrung“ treten lassen und damit den Niedergang des „alten Handwerks“ als Wirtschaftsweise und Lebensform herbeiführen wollten. Durch die Erfahrungen in den preußischen Ostprovinzen wurde diese Befürchtung auch tendenziell bestätigt. In Süddeutschland war der Widerstand gegen die Einführung der Gewerbefreiheit erfolgreicher. Die kleinbürgerlichen Gewerbetreibenden wehrten die Versuche der staatlichen Bürokratie ab, den Zunftzwang aufzulockern und die Gründung von Handwerksbetrieben durch staatliche Konzessionen zu erleichtern. Trotz einiger Reformedikte konnte das verkrustete Zunftwesen im Handwerk nirgendwo grundlegend erschüttert werden. In Süddeutschland, aber auch in weiten Teilen Preußens, wurde lediglich der bereits seit längerem bestehende Zustand des Nebeneinanders von zünftigem und unzünftigem Gewerbe durch die Reformgesetze legalisiert. Da allerdings langfristig das Vordringen einer primär marktorientierten freien Gewerbewirtschaft nur durch eine Restauration der alten Zunftverfassung zu verhindern gewesen wäre, schuf die Gewerbegesetzgebung durch ihren ausdrücklichen Verzicht auf eine solche Restauration zumindest indirekt eine wichtige Voraussetzung für die spätere Industrialisierung der gewerblichen Produktion. Wie angreifbar allerdings selbst diese vorsichtige Bewertung der Gewerbereformen noch ist, zeigt das Beispiel des Königreichs Sachsen. Während dort einerseits der Zunftzwang bis 1861 formal in Kraft blieb, entwickelte sich Westsachsen andererseits unbeeindruckt von der restriktiven Gewerbeverfassung zu einem frühindustriellen Zentrum der Textilproduktion. Der von der Zunftverfassung befreite Unternehmer war in der Regel Eigentümer und Leiter seines Unternehmens, dessen Größe nach heutigen Maßstäben als klein oder bestenfalls mittelständisch bezeichnet werden könnte. Je größer und je komplexer die Unternehmen jedoch wurden, desto weniger reichte die herkömmliche Form der Personengesellschaft aus. Spätestens mit dem Eisenbahnbau entstand deshalb die Notwendigkeit, einen allgemeinen institutionellen Rahmen für sozietär betriebene Wirtschaftsunternehmen zu schaffen. Das preußische Aktiengesetz von 1843 schuf einen solchen Rahmen. Auch wenn es zunächst kaum mehr regelte als die Konkretisierung bisher unzureichend fixierter Rechtsfragen bei der Errichtung von Kapitalgesell-
Die institutionelle Revolution
II.
schaften, entwickelte sich die Aktiengesellschaft seit der Jahrhundertmitte zur vielleicht wichtigsten institutionellen Innovation der Gewerbewirtschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert. Dank der beschränkten Haftung zog sie Kapital von verschiedensten Seiten an und schuf mittelfristig die Voraussetzung für die Trennung von Eigentum und Unternehmensleitung im modernen managergeführten Unternehmen. Aktiengesellschaft Die Aktiengesellschaft ist eine Organisationsform für Großunternehmen. Das Grundkapital der Aktiengesellschaft ist in Anteile („Aktien“) geteilt. Die Anteilseigner („Aktionäre“) besitzen einen Anspruch auf Gewinnbeteiligung („Dividende“) und haften nur bis zu der Höhe ihrer Einlage. Ihr Einfluss auf die Unternehmensführung ist in der Regel auf Wahlrecht, Stimmrecht und Auskunftsrecht in der Hauptversammlung beschränkt. Geleitet wird eine Aktiengesellschaft durch den Vorstand, der in der Regel aus angestellten Managern besteht. Dessen Tätigkeit wird von dem Aufsichtsrat (in der Mitte des 19. Jahrhunderts häufig noch Verwaltungsrat genannt) kontrolliert, der in der Regel von Vertretern größerer Anteilseigner, Großgläubigern und Geschäftspartnern gebildet wird. Die ersten Aktiengesellschaften waren in den Niederlanden entstanden. Als erste deutsche Aktiengesellschaften dürften wohl die der preußischen Kolonialgesellschaften des 18. Jahrhunderts angesehen werden. An den wichtigsten deutschen Börsen, in Frankfurt und Wien, wurden Aktien aber erst seit 1820 gehandelt. Größere Verbreitung erfuhr die Unternehmensform der Aktiengesellschaft mit dem privat finanzierten Eisenbahnbau in Preußen seit den späten dreißiger Jahren. Das preußische Aktiengesetz von 1843 erleichterte zwar die Gründung solcher Gesellschaften, aber sie war auch weiterhin – bis 1870 – an eine staatliche Konzession gebunden, die durchaus nicht immer erteilt wurde. Dennoch entstanden neben den Eisenbahnaktiengesellschaften im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts zahlreiche Industrieaktiengesellschaften, insbesondere in der kapitalintensiven Schwerindustrie. Lediglich bei der Konzessionsvergabe für Aktienbanken war der preußische Staat auch in dieser Zeit noch sehr restriktiv.
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1.3. Die Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes Nach der Auflösung des Alten Reiches im Jahr 1806 existierte seit 1815 mit dem Deutschen Bund ein Staatenbund von 39 – später 41 – souveränen Staaten und Städten. Der Bund besaß aber mit Ausnahme der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands keine Zuständigkeiten. Insofern lag alle Macht bei den Einzelstaaten und hier insbesondere bei den beiden größten Staaten Österreich und Preußen. Die territoriale Neuordnung Deutschlands auf dem Wiener Kongress hatte zu einer erheblichen Vergrößerung des preußischen Staatsgebietes geführt. Aber dieses Staatsgebiet war in zwei unverbundene Teile getrennt worden. Der westliche Teil, die Provinzen Rheinland und Westfalen, war von den preußischen Kernlanden durch das Königreich Hannover und das Kurfürstentum Hessen räumlich getrennt. Bevor man sich jedoch dem Problem der Verbindung dieser beiden Landesteile zuwandte, musste es zunächst das Bestreben des preußischen Staates sein, die Monarchie mit ihren etwa 10 Millionen Einwohnern und einer
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
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Preußisches Zollgesetz (1818)
Befreiung des Binnenmarktes
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Fläche von 5.000 Quadratmeilen nach den zahlreichen territorialen Neuerwerbungen auf einheitliche administrative Grundlagen zu stellen. Nach dem großen territorialen Zuwachs erschien gerade die münz-, zoll- und steuerpolitische Situation des preußischen Staates unübersichtlicher denn je. Allein in den alten preußischen Provinzen östlich der Elbe zählte man 1817 noch 57 verschiedene Zoll- und Akzisetarife. Die Zahl der umlaufenden Münzen war gar nicht zu überschauen. Das Zollgesetz von 1818 und das Münzgesetz von 1821 setzten an diesen Problemen an. Insbesondere bei der Neuordnung des Zollwesens konnten die Preußen allerdings auf Vorbilder zurückgreifen. Als erster deutscher Staat hatte Bayern in der Rheinbundzeit sein Zollsystem reformiert und auf diese Weise einen einheitlichen Binnenwirtschaftsraum geschaffen, der seit 1807 eine Zeitlang als der liberalste Europas angesehen werden darf. Im Jahr 1818 folgte der preußische Staat diesem Vorbild und ordnete im Innern des Staates die Aufhebung aller Zollschranken an. So wurde erstmals der freie Warenverkehr auf dem Binnenmarkt ermöglicht. Nach außen wurde durch das Zollgesetz ein Grenzzollsystem eingeführt, das im Gegensatz zu den Prohibitivsystemen der meisten europäischen Großmächte mit ihren hohen Schutzzöllen sowie Ein und Ausfuhrverboten nach freihändlerischen Prinzipien ausgerichtet war. Begleitet wurde die Aufhebung der Binnenzölle durch den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit dem Ziel, alle preußischen Provinzen mit Berlin und damit untereinander mit leistungsfähigen Kunststraßen („Chausseen“) zu verbinden.
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Grenzzoll Bereits die Rheinbundstaaten Bayern (1807), Württemberg (1808), Berg (1808) und Baden (1812) hatten neue Zollordnungen erlassen, durch die alle inneren Handelsschranken zugunsten eines einheitlichen Grenzzollsystems beseitigt wurden. Die Zollhoheit wurde gleichzeitig ausschließlich auf den Staat übertragen. Das Grenzzollsystem erleichterte den Einsatz des zollpolitischen Instrumentariums und ermöglichte erstmals auch die statistische Erfassung des Außenhandels. Für den Handel war die Klarheit und Einheitlichkeit des Zollsystems innerhalb eines größeren Wirtschaftsraums ein kaum zu überschätzender Vorteil. Das Prinzip des Grenzzolls trug später insofern maßgeblich zum zollpolitischen Zusammenschluss der deutschen Staaten bei, als fiskalische Motive eine wesentliche Rolle spielten. Denn bei annähernd gleichen Einnahmen aus Einfuhrzöllen an den Grenzen zu Drittstaaten konnten die Kosten für Zollverwaltung und Grenzbewachung an der gemeinsamen Grenze eingespart werden. Bei der Verteilung der Einnahmen auf die jeweiligen Staaten wurde dann ein Schlüssel gefunden, der den zögerlichen kleineren Staaten weit entgegenkam.
Fiskalische Bedeutung
Die Voraussetzung für eine solche staatlich finanzierte Infrastrukturpolitik bildete allerdings eine geordnete Finanzwirtschaft auf der Grundlage eines steigenden Steueraufkommens. Auch hierbei kam dem Zollgesetz eine große Bedeutung zu. Denn nach den langen, kostenreichen Kriegsjahren befanden sich die preußischen Staatsfinanzen zunächst in einer außerordentlich schwierigen Situation, zumal die Erhebung neuer Steuern am Widerstand des preußischen Adels weitgehend gescheitert war. Die Staatsschuld war bis 1818 deshalb auf 217 Mio. Taler angestiegen, und der drohende Staatsbankrott konnte nur durch eine Anleihe in London abgewendet werden. Um
Die institutionelle Revolution den angeschlagenen Kredit des Staates und das Gleichgewicht seines Haushaltes wiederherzustellen, wurde die rasche Beschaffung von neuen, sicheren Einnahmequellen zur wichtigsten Aufgabe preußischer Finanzpolitik. Den Zolleinnahmen kam dabei eine wichtige Funktion zu. Dieses zweite Ziel des Zollgesetzes, die Steigerung der indirekten Steuern, wurde vor allem durch die relativ hoch besteuerten Kolonialwaren rasch erreicht. Die fast rein fiskalisch motivierten Zölle auf Kaffee, Tabak und Zucker und alkoholische Getränke stellten 1819 etwa 70 % aller Einfuhrzolleinnahmen. Das bedeutete, dass wichtige Rohstoffe, die für die gewerbliche Entwicklung von großer Bedeutung waren, mit einer nur geringen Zollbelastung importiert werden konnten. Gleichzeitig konnten aber auch ausländische, überwiegend britische Fertigwaren nicht nur eingeführt werden, sondern durch die niedrige Zollbelastung wurden sie auch nur unwesentlich verteuert, so dass ein erheblicher Druck auf die technisch und wirtschaftlich rückständigen preußischen Produzenten ausgeübt wurde. Während die wirtschaftspolitischen Folgen dieser liberalen Zolltarife zunächst auf manche textilgewerblich dominierte Regionen verheerend wirkten, weil etwa britische Textilien nun auch auf dem preußischen Binnenmarkt die auf traditionelle Weise heimgewerblich produzierten Textilien verdrängten, schufen die sofort fühlbaren günstigen Auswirkungen der fiskalischen Zollsätze die Grundlagen für finanzielle Konzessionen, die den anderen deutschen Staaten später die Teilnahme am preußischen Zollsystem schmackhaft machen sollten. Im europäischen Vergleich mochten die neuen preußischen Tarife liberal erscheinen, für die auf den Absatz in das großflächige und bevölkerungsreiche Preußen angewiesenen kleineren deutschen Nachbarstaaten wirkten sie aber äußerst drückend. Besonders betroffen waren direkt an Preußen angrenzende Regionen, die bis zur Einführung des Grenzzollsystems vielfach kaum behinderte Handelsbeziehungen mit dem Nachbargebiet unterhalten hatten und nun eine neue Handelsbarriere überwinden mussten. Diese negativen Folgen wurden durch die recht hohen preußischen Transitzölle, vor allem aber durch die äußerst strenge Grenzkontrolle noch drastisch verschärft. Aus wirtschaftlichen Gründen bot es sich deshalb für viele Nachbarstaaten an, mit Preußen zu einer Zollvereinbarung zu gelangen, welche die Ausfuhr nach Preußen oder den Transit durch Preußen – etwa zu den deutschen Seehäfen – erleichterten. Der preußischen Regierung kam dabei zugute, dass sich die kleineren Nachbarstaaten noch nicht von den finanziellen Lasten des Krieges erholt hatten und dass auch der drittgrößte deutsche Staat (nach Österreich und Preußen), das Königreich Bayern, ebenfalls das Problem zweier unverbundener Landesteile hatte. Das rechtsrheinische Bayern war von der linksrheinischen Pfalz durch einen Korridor bestehend aus dem Großherzogtum Baden und dem Großherzogtum Hessen getrennt. Auch Bayern war deshalb für Zollunionspläne zu interessieren. Der Deutsche Bund war für die Überwindung der wirtschaftlichen Zersplitterung Deutschlands keine Hilfe. Nach den Befreiungskriegen war die Erwartung zwar groß gewesen, wie der Remscheider Großkaufmann Johann Gottlieb Diederichs (1771 – 1825) im Jahr 1814 deutlich machte. Aber der Wiener Kongress war in dieser Hinsicht eine einzige Enttäuschung. Es waren
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Wirkung auf Nachbarstaaten
Vision von einheitlichem deutschen Wirtschaftsraum
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
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zwar Verhandlungen über Wirtschaftsfragen begonnen worden. Das einzige konkrete Ergebnis von 1815 war aber eine relative Freizügigkeit der Untertanen und die Freiheit zum Grunderwerb unabhängig von der Staatszugehörigkeit. Alle anderen Fragen, etwa ein gemeinsames Währungssystem und eine gemeinsame Zoll- und Verkehrspolitik, wurden vertagt und auch später nicht mehr ernsthaft weiter verfolgt.
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Johann Gottlieb Diederichs‘ Hoffnungen auf eine Liberalisierung (1814) Zit. in: Boch, Wachstum, S. 55. Englands allgewaltige Industrie hat an der deutschen und vor allem an der bergischen einen furchtbaren Rivalen, den […] es gerne von allen Märkten verdrängen möchte. […] Bloß im kleinen Herzogtum Berg haben wir ein anderes Birmingham, ein Sheffield, ein Manchester und ein Leeds, und wenn auch nicht in allen Teilen so ausgebildet, so liegt doch die Kraft dieser Ausbildung im Stamme. Ein mächtiger Regent oder Deutschlands Regenten vereinigt, dürften ihn nur hegen und pflegen […], alsdann wird man erst diesen Koloß in seiner Kraft und Wirkung anstaunen.
Regionale Zollvereinsgründungen
Gründung des Deutschen Zollvereins (1834)
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Getrennte Verhandlungen über den Abbau von Zollgrenzen zwischen den süddeutschen Staaten auf der einen Seite und zwischen Preußen und seinen nord- und mitteldeutschen Nachbarn auf der anderen Seite gestalteten sich aber ebenfalls schwierig. Im Falle der süddeutschen Staaten standen einer Einigung zunächst vor allem territoriale Meinungsverschiedenheiten und grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über die künftige Zolltarifgestaltung im Wege. Während Bayern und Württemberg zum Schutz ihrer Textilgewerbe gegen die vergleichsweise liberalen Tarife nach preußischem Vorbild eintraten, votierte das Transitland Baden für noch liberalere Tarife als die preußischen. Es lag deshalb nahe, dass sich 1828 zunächst Bayern und Württemberg zu einer Zollunion zusammenschlossen. Etwas anders war die Interessenlage in Nord- und Mitteldeutschland. Während man dort die liberalen Tarife nicht fürchtete und im Falle von Sachsen auch kaum fürchten musste, war es hier eher das politische Misstrauen der kleineren Staaten gegenüber dem scheinbar übermächtigen Preußen, wodurch eine Einigung verhindert wurde. Allerdings reichte die gemeinsame Gegnerschaft zu Preußen für eine lebensfähige Zollunion in Mitteldeutschland nicht aus. Der aus Sachsen, den thüringischen Staaten, Kurhessen, Nassau, Frankfurt und einigen norddeutschen Staaten einschließlich Hannovers mit tatkräftiger Unterstützung Österreichs 1828 gebildete Mitteldeutsche Handelsverein besaß nur eine kurze Lebensdauer. Schließlich überwand Preußen das Misstrauen, indem es seinen künftigen Partnern derart günstige Konditionen bei der Verteilung der Zolleinnahmen anbot, dass diese angesichts ihrer weiterhin prekären Haushaltslage nicht mehr umhinkonnten, sich einem preußisch dominierten Deutschen Zollverein anzuschließen. Die besonders widerspenstigen thüringischen Staaten waren darüber hinaus durch ein großzügiges Straßenbauprojekt geködert worden, das die Anbindung Thüringens an Bayern und an die preußische Provinz Sachsen sicherstellte. Nach dem Beitritt Hannovers zum Deutschen
Die institutionelle Revolution Zollverein im Jahr 1854 waren – abgesehen von Österreich, den beiden Mecklenburgs und den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg – alle deutschen Staaten Mitglieder des Zollvereins. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum bildeten die chaotischen Währungsverhältnisse, insbesondere die zahlreichen umlaufenden Münzen, deren (Metall-)Wert häufig unbekannt und nicht selten auch unsicher war. Die Beseitigung dieses Chaos war bereits 1815 als eine zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe des Deutschen Bundes erkannt worden. Doch auch dieser Aufgabe war der Bund nicht gewachsen. Die Einzelstaaten gingen deshalb frühzeitig dazu über, eine eigene Währung zu schaffen. Hannover machte 1817 dank englischer Unterstützung den Anfang, und Preußen folgte 1821. Dort war die Aufgabe allerdings wegen der zersplitterten territorialen Verhältnisse und der Annexionen besonders schwierig. Durch das Münzgesetz wurde zwar mit dem Taler – unterteilt in 30 Silbergroschen à 12 Pfennige – eine einheitliche Silberwährung eingeführt und auch der Gebrauch von unterwertigen Scheidemünzen beschränkt. Aber es sollte noch rund zehn Jahre dauern, bis sich die neue Recheneinheit in allen Landesteilen vollständig durchgesetzt hatte. Insbesondere in den annektierten Gebieten und an der Peripherie des vergrößerten Preußen, im Rheinland, in der Provinz Sachsen und in Vorpommern übernahm die Bevölkerung die neue Währung nur widerwillig, weil für sie die Wirtschaftsbeziehungen zu den Nachbarländern, in denen andere Recheneinheiten galten, weiterhin wichtiger waren als zu den anderen preußischen Provinzen. Gutachten der Abteilung des Staatsrats für die Finanzen, den Handel und das Innere … über das Münzwesen v. 7. 4. 1818 Friedrich v. Schrötter (Bearb.), Die Preußische Münzreform 1806 bis 1873, Münzgeschichtlicher Teil, Zweiter Band, Berlin 1926, S. 337 ff.
II.
Chaotische Währungsverhältnisse
Q
Die alte Scheidemünze (unterwertige Münze) ist eine höchst unbequeme Münzsorte. Denn bei Zahlungen im Ganzen ist der Umlauf in verschlossenen Beuteln und Tüten wegen der häufigen und leichten Verfälschung sehr misslich, das Auszählen aber sehr beschwerlich. […] Daher ist man in allen Teilen der alten Provinzen genötigt, eine doppelte Rechnung in Kurant (vollwertige Münze) und in Scheidemünze zu führen. […] Zu diesen Schwierigkeiten treten nun noch die besonderen und äußerst mannigfaltigen Verhältnisse der […] neu erworbenen Länder hinzu. Allein die vollhaltigen Konventionsthaler (Kurantmünze mit einem vertraglich vereinbarten Metallgehalt) sind sowohl in Sachsen als überhaupt in Deutschland größtenteils aus dem Umlaufe verschwunden, und die Münzsorten, wonach Zahlung in angeblichem Konventionswerte geleistet wird, sind bedeutend schlechter. […] Die Rheinprovinzen haben eigentlich gar kein festes Zahlungsmittel. […] Diese Umstände machen es dringend notwendig, sowohl Sachsen als besonders den Rheinprovinzen ein inländisches festes Geld zu schaffen, und die schwankenden fremden Zahlungsmittel dadurch zu verdrängen.
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
Münzkonventionen
E
Nach der Gründung des Zollvereins liefen in Deutschland immer noch zahlreiche Münzen mit unterschiedlichem Münzfuß um. Die Bedeutung dieses Zustandes für die Entwicklung des innerdeutschen Handels wurde von den Zeitgenossen zu Recht als ähnlich gravierend angesehen wie die Zollgrenzen. Der Zollvereinsvertrag sah deshalb ausdrücklich vor, dass die Mitgliedsstaaten ihre Münzsysteme vereinheitlichen sollten. Im Gegensatz zum Deutschen Bund wurde diese Aufgabe tatsächlich umgehend in Angriff genommen. Wegen der positiven Auswirkung des preußischen Münzgesetzes hatten sich die Währungsverhältnisse in ganz Norddeutschland Mitte der dreißiger Jahre verbessert. Deshalb war das Problem im Süden besonders drängend. Bereits 1837 einigten sich die süddeutschen Staaten auf eine gemeinsame Guldenwährung („Münchner Münzkonvention“). Ein Jahr später folgte dann die „Dresdner Münzkonvention“, in der festgelegt wurde, dass jeder Zollvereinsstaat sich entweder für die süddeutsche Guldenwährung oder für die norddeutsche (= preußische) Talerwährung entscheiden musste. Bei beiden Währungen handelte es sich um Silberwährungen, die in einem festen Wechselkursverhältnis zueinander standen. Damit war auf Zollvereinsebene eine neue Währungsordnung geschaffen worden, wodurch die Wechselkursrisiken im innerdeutschen Handel wirksam verringert wurden. Etwa zwanzig Jahre später trat schließlich sogar Österreich währungspolitisch in den Zollverein ein. Praktische Bedeutung besaß diese „Wiener Münzkonvention“ von 1857 allerdings nicht, da Österreich nicht in der Lage war, die eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, bevor es kaum zehn Jahre später mit der Auflösung des Deutschen Bundes ohnehin aus „Deutschland“ ausgeschlossen wurde. Silberstandard Eine Silberwährung liegt vor, wenn die Währungseinheit eines Währungsgebietes in einer festen Silbermenge definiert ist. Von einem internationalen Währungssystems, dem Silberstandard, kann man dagegen erst sprechen, wenn mehrere Länder solche Silberwährungen annehmen und die Ein- und Ausfuhr des Silbers nicht behindern. Damit wird ein festes Wechselkursverhältnis zwischen den Währungen geschaffen, was den Handel wegen des entfallenden Wechselkursrisikos entscheidend erleichtert.
2. Erste regionale Ansätze moderner industrieller Entwicklung Vorindustrielle Gewerbetraditionen
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Bei den ersten, noch überwiegend leichtindustriell geprägten deutschen Industrieregionen handelte es sich um Landschaften mit einer frühneuzeitlich hochentwickelten Gewerbetradition. Vorindustriell hoch entwickelte Gewerberegionen gab es im Alten Reich in großer Zahl, allerdings schafften nur wenige erfolgreich den Sprung in das Industriezeitalter. Insbesondere außerhalb der zunftgeschützten städtischen Wirtschaft hatte sich im 18. Jahrhundert auf dem Land eine in der Produktionsweise traditionelle, aber bei der Distribution moderne „Hausindustrie“ entwickelt.
Erste regionale Ansätze industrieller Entwicklung „Hausindustrie“, Protoindustrie Die „Hausindustrie“ war bereits in der älteren deutschen wirtschaftshistorischen Literatur ein zentrales Thema. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde aber damit begonnen, die wirtschaftshistorische Forschung mit der historischen Demographieforschung zu kombinieren und die ländliche gewerbliche (meist Textil-)Produktion in Hinblick auf die (Fabrik-)Industrialisierung als „Protoindustrie“ neu zu bewerten. Obwohl sich die Forschung heute weitgehend darin einig ist, dass die These nicht mehr haltbar ist, wonach die Protoindustrie eine notwendige, wenn auch nicht hinreichenden Bedingung für die Durchsetzung der fabrikindustriellen Produktion gewesen ist, kommt der international breit geführten Debatte dennoch das Verdienst zu, die Aufmerksamkeit der Forschung wieder auf die längerfristige Vorgeschichte der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in der Fabrikindustrialisierung gelenkt zu haben. Die in weiten Teilen des alten Reiches im 18. Jahrhundert rasch wachsende Landbevölkerung, insbesondere die auf einen Nebenerwerb angewiesenen landarmen und landlosen Familien, bildete ein großes Arbeitskräftepotential, das zahlreiche handelskapitalistische Verleger dazu veranlasste, die Warenproduktion auf das Land und damit außerhalb der Zunftgewerbe zu verlagern. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich vor allem in Schlesien, Westfalen, Brandenburg und dem Rheinland eine marktorientierte „Hausindustrie“ herausgebildet, deren Absatzgebiete oftmals bis weit außerhalb der produzierenden Region reichten. Die Heimarbeiter waren in der Regel de jure selbständig. Sie lebten zum Teil von ihrer Landwirtschaft und zum Teil vom Verkauf ihrer protoindustriell, überwiegend in Saisonarbeit hergestellten Produkte an den Verleger bzw. durch die Abgabe dieser Produkte gegen Stücklohn.
II.
E
Der Aufschwung des Heimgewerbes schuf zahlreiche neue Erwerbsstellen, die es der im ländlichen Gewerbe tätigen Bevölkerung erlaubten, Familien zu gründen. Diese neuen Erwerbsstellen waren ökonomisch allerdings außerordentlich anfällig. Die Gründung einer Familie als Produktionsgemeinschaft war deshalb vielfach geradezu eine Voraussetzung zur Aufnahme der protoindustriellen Produktion. Denn typischerweise wurden alle Familienmitglieder, auch die Kinder, in die Heimarbeit eingespannt. Das Heiratsalter lag niedrig, und die Geburtenzahlen übertrafen diejenigen der übrigen bäuerlichen Bevölkerung bei weitem. Als die protoindustrielle Textilproduktion im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts der Konkurrenz durch die maschinelle Produktion zunehmend weniger gewachsen war und die Eisenbahn die überlegenen und billigen Produkte selbst in die Zentren der Protoindustrie transportierte, verfielen die meisten dieser Regionen in Deutschland wirtschaftlich. In der für die Industrialisierungsgeschichte äußerst wichtigen Frage, weshalb einigen textilindustriell geprägten Regionen der Übergang von der protoindustriellen zur fabrikindustriellen Produktion gelang, der Mehrheit aber nicht oder nur mit einer von hohen sozialen Kosten begleiteten Verzögerung, hatte der Historiker Herbert Kisch bereits in den fünfziger Jahren Neuland betreten, indem er sich den raumstrukturierenden Prozessen zuwandte und im interregionalen Vergleich analysierte. Sein Vergleich des Beitrages des Textilgewerbes im Rheinland und in Schlesien für die Industrialisierung der jeweiligen Regionen hob insbesondere auf die überragende Bedeutung der sozialen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der jeweiligen Regionen ab. Während er im schlesischen Fall die Ein-
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
Bergisches Land
Standortbedingungen
Produktpalette
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bindung der Hausindustrie in die feudale Agrarverfassung für die Behinderung einer langfristigen Expansion des Textilgewerbes verantwortlich machte, sah er im Rheinland im Fehlen einer derartigen Wachstumsbremse die Voraussetzung für eine dynamische marktwirtschaftliche Expansion der Textilindustrie. Obwohl beide Regionen sich auf die gleiche Gewerbebranche stützten und somit einem ähnlichen Industrialisierungstypus folgten, war der Erfolg in beiden Regionen offenbar sehr unterschiedlich. Zu den ältesten, auf einer entwickelten vorindustriellen gewerblichen Tradition fußenden Industrieregionen zählen das Bergische Land (präziser: das Städtedreieck Elberfeld, Lennep und Solingen) sowie Westsachsen (präziser: der Kreisdirektionsbezirk Zwickau). Bereits direkt nach der Wende zum 19. Jahrhundert meinten viele Zeitgenossen dort die Vorboten der neuen Zeit studieren zu können. Die jeweiligen textilindustriellen Zentren Elberfeld und Chemnitz wurden deshalb auch nicht selten als „deutsches Manchester“ bezeichnet. Voller Stolz auf die eigene Leistung bei der Nachahmung englischer Vorbilder benannten manche Unternehmer ihre Betriebe „Birmingham“, „Sheffield“ oder „Cromford“. Die ausgeprägte gewerbliche Blüte von Handel und Gewerbe im Bergischen Land um 1800 war das Ergebnis einer sich im 18. Jahrhundert ständig weiter ausdifferenzierten regionalen Organisation von Produktion und Absatz. Bevölkerungswachstum und kleinbäuerliche Strukturen zwangen zahlreiche bäuerliche Hauswirtschaften in dieser Zeit zu einer verstärkten gewerblichen Nebentätigkeit. Während die Standortvoraussetzungen für die Landwirtschaft wegen der Bodenqualität ohnehin recht ungünstig waren, brachte die Region für die Entwicklung von Handel und Gewerbe einige günstige natürliche Standortvoraussetzungen mit: Der Holzreichtum des Landes bot die Grundlage zur Holzkohlengewinnung, der Reichtum an Bächen die Voraussetzung für die Gewinnung von Wasserkraft zum Betrieb von Eisenschmelzen und Hammerwerken. Außerdem boten die sumpfigen, unfruchtbaren Talwiesen an der Wupper die Möglichkeit zum Garnbleichen. Im Gegensatz zur energetischen Grundlage waren die für die gewerbliche Tätigkeit notwendigen Rohstoffe – Roheisen und Rohgarn – in der Region nicht vorhanden. Sie mussten aus den benachbarten Regionen herangeführt werden. Die Rohgarne konnten aus Minden-Ravensberg, später auch aus dem Raum Hildesheim bezogen werden, Baumwolle über den Rhein aus Übersee sowie Eisenerz und Roheisen aus dem Siegerland. Die Produktpalette des Bergischen Landes umfasste im 18. Jahrhundert die Kleineisenproduktion, insbesondere Klingen, Sensen und Werkzeug, sowie die Textilproduktion von der Garnveredelung (Bleicherei und Färberei) bis zur Schmal- und Breitweberei. Angesichts der Tatsache, dass nahezu alle Erzeugnisse dieser gewerblichen Tätigkeiten schon früh für den überregionalen Bedarf hergestellt wurden und auch die Rohmaterialbeschaffung organisiert werden musste, stellte sich die Frage nach der optimalen Verbindung zu den Absatzmärkten außerhalb der Region. Dabei setzte sich schließlich das Verlagssystem als dominierende Form der Absatzorganisation sowohl im Eisengewerbe als auch im Textilgewerbe durch. Denn Zünfte spielten in der Region schon im 18. Jahrhundert nur noch eine geringe Rolle, so dass sie nicht mehr die Möglichkeit besaßen, einer marktorientierten, sich
Erste regionale Ansätze industrieller Entwicklung im interregionalen Wettbewerb weiterentwickelnden Produktion Fesseln anzulegen. Der erfolgreiche gewerbliche Ausbau führte zu einem gesteigerten Arbeitskräftebedarf, der nur durch Zuwanderung gedeckt werden konnte. Die Bevölkerungszahl der beiden Wupperstädte Elberfeld und Barmen versechsfachte sich dadurch zwischen 1700 und 1800 von ca. 5.500 auf rund 32.000. Gleichzeitig entwickelte sich eine interregionale Arbeitsteilung, indem die Rheinauen zwischen Düsseldorf und Opladen die Funktion als agrarisches Versorgungsgebiet für das menschenreiche Gewerbegebiet an der Wupper übernahmen, wozu die Landwirtschaft im Bergischen Land allein nicht mehr in der Lage war. Trotz der Einführung der Gewerbefreiheit und der Vereinheitlichung des Rechts durch die Einführung des Code Napoléon erwies sich die Zeit der französische Besetzung ebenso wie die unmittelbare Nachkriegszeit als eine schwere Belastung der Wirtschaft des Wuppertals. Denn während das Gewerbe im Krieg von der Rohstoffzufuhr und manchen wichtigen Absatzmärkten abgeschnitten war, sah es sich nach der Aufhebung der Kontinentalsperre auf den nun wieder offenen internationalen Märkten mit einem riesigen, zu Billigstpreisen angebotenen, verbesserten englischen Warenangebot konfrontiert. Die Wuppertaler Fabrikanten stellten sich jedoch diesen Herausforderungen und versuchten, durch Investitionen im technischen und organisatorischen Bereich, durch die Erschließung neuer Märkte und durch eine gewisse Spezialisierung wieder konkurrenzfähig zu werden. Das gelang in erster Linie in der Weberei, die auch in England in dieser Zeit noch nicht so stark industriell überformt war wie die Garnspinnerei. Von den 20 Dampfmaschinen mit insgesamt knapp 200 PS, die Ende der vierziger Jahre im Wuppertal installiert waren, standen bezeichnenderweise nur zwei in Spinnereien. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Baumwollweberei lag in der sprunghaften Verbreitung eines halbmechanischen Webstuhls seit 1821. Um der bedrängten bergischen Wirtschaft zu helfen, hatte die preußische Regierung ein Modell dieses leicht nachzubauenden Webstuhls beschafft und den Wuppertaler Fabrikanten zur Verfügung gestellt. Diese Wirtschaftsförderungsmaßnahme erwies sich als ein voller Erfolg. Die „Barmer Artikel“ (Litzen, Kordeln, Spitzen, Seiden-, Baumwoll- und Gummibänder) sollten sich seit der Mitte des Jahrhunderts auch auf internationalen Märkten erfolgreich durchsetzen. Im Bereich der Bleicherei und Färberei waren besonders die Türkischrotfärbereien konkurrenzfähig. Sie entwickelten sich aus handwerklichen Kleinbetrieben in den vierziger Jahren zu Mittel- und Großbetrieben. Die Türkischrotfärber-„Gesellen“ zählen deshalb zu den frühesten Fabrikarbeitern Westdeutschlands im modernen Sinne. Im Windschatten der erfolgreichen Textil- und Textilveredlungsbetriebe entwickelten sich in der Region andere moderne Industrien als Zulieferer: Die chemische Industrie lieferte Bleichmittel, Farben und Seifen, Knopfbetriebe spezialisierten sich auf Holz- oder Metallknöpfe, wobei von letzteren sogar die Anregung zum Aufbau kleinerer Walzwerke ausging. Der Maschinenbau gewann seit Mitte der dreißiger Jahre zunehmend Bedeutung als Hersteller von Textilmaschinen. Bis dahin waren alle wichtigeren Maschi-
II.
Wirkung der französischen Besatzung
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II. Regionale Arbeitsteilung
Urbanisierung
Q
nen aus dem Ausland beschafft worden, vor allem aus England und Frankreich. Mit der Ausdehnung der fabrikindustriellen Produktion vertiefte sich auch die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Orten des Wuppertals: Das industrielle Zentrum bildete Barmen mit seinen fabrikmäßig betriebenen Webereien und Garnveredelungsfabriken. Als kommerzielles und Handelszentrum fungierte dagegen Elberfeld, wo sich darüber hinaus zahlreiche Metallwarenfabriken ansiedelten. In Ratingen befand sich mit der bereits 1783 gegründete Baumwollspinnerei „Cromford“ eine der wenigen modernen Baumwollspinnereien, und in Beyenburg war die Tuchweberei zu finden. Ronsdorf spezialisierte sich auf die weiterhin sehr stark handwerklich dominierte Bandwirkerei und Cronenberg auf das Kleineisengewerbe, das ebenfalls überwiegend noch handwerklich strukturiert war. Die Entstehung der Fabriken im Wuppertal blieb nicht ohne Folgen für die Städte und die Lebensbedingungen dort. Innerhalb von nur dreißig Jahren – von 1810 bis 1840 – verdoppelten sich die Bevölkerungszahl der beiden größten Städte von rund 19.000 (Elberfeld) und 16.000 (Barmen) auf knapp 40.000 bzw. 31.000. Über die Hälfte dieses für damalige Verhältnisse gewaltigen Zuwachses ging auf das Konto der Zuwanderung. Die wachsende Bevölkerung führte jedoch zunächst nicht zu einer Ausdehnung der Städte. Vielmehr verdichtete sich der Siedlungsraum, indem Baulücken geschlossen und neue größere anstelle der alten Häuser gebaut wurden und ganze Familien in Keller und Hinterhäuser auswichen. Die „innere“ Stadterweiterung führte zu einer völlig unkontrollierten Zerstörung der bisherigen Lebensumwelt, wovon besonders die städtischen Unter- und Mittelschichten betroffen waren. Die Industrie bebaute die noch freien Plätze in der Stadt mit Fabrikgebäuden und verdrängte die Gärten und Bleichwiesen, so dass die bestehende Gemengelage von Arbeits- und Wohnstätten immer dichter wurde. Gleichzeitig stieg die Umweltbelastung durch den Lärm und Qualm der Dampfmaschinen, die seit 1820 installiert wurden, sowie durch die beim Bleichen und Färben in der Textilindustrie anfallenden Abwässer, die zusammen mit den menschlichen Exkrementen in die Wupper gelangten. Der Fluss stellte besonders in Trockenzeiten einen Seuchenherd ersten Ranges dar, da sein Uferfiltrat bei der noch über Hausbrunnen organisierten Trinkwasserversorgung weiterhin eine maßgebliche Rolle spielte. Bei Hochwasser transportierte der Fluss darüber hinaus die Krankheitserreger und den Unrat bis in die Straßen und Keller der tiefer gelegenen Wohnviertel. Sozialen Konsequenzen der „inneren“ Stadterweiterung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Bericht aus Vohwinkel P. Göhre (Hg.), Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters, Leipzig 1904, S. 197. Mit der Zeit gefiel es mir nicht mehr in meinem Quartier, denn mein Wirt hatte während des Sommers noch zwei Kostgänger angenommen. Anfänglich hatte ich lange Zeit in einem Bett allein geschlafen, aber schließlich mussten wir in einem breiten Bett unter dem Dache drei Mann zusammen schlafen, und zeitweise kam
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Erste regionale Ansätze industrieller Entwicklung
II.
auch noch der Lehrling hinzu. Da graute einem vor der Hitze, wenn man zu Bett musste und konnte schlecht schlafen. […] Morgens war man froh, wenn man, ganz in Schweiß gebadet, wieder aus dem Bett konnte. […] Ich war das gar nicht gewohnt von zu Hause her, denn wie groß auch das Elend manchmal gewesen war, aber meine Mutter hatte soviel Betten gehabt, dass wir allezeit jedes allein schlafen konnten. […] Da entschloss ich mich, in Vohwinkel aufzuhören und nach der Eifel zu machen und wollte mir viel lieber wieder eine Bude bauen und darin wohnen als in solcher Schlafstelle schlafen.
Die Zunahme der Fabriken in der Stadt galt der Obrigkeit als Beweis des Gewerbefleißes und der Prosperität, die eben ihre sozialen Kosten verursachten. Sie begann sich zwar in den vierziger Jahren wegen der von den dicht besiedelten Vierteln ausgehenden Brand- und Seuchengefahr für die Zustände dort zu interessieren, griff aber nur in Extremfällen ein. Die städtische Oberschicht der Verlegerkaufleute und Fabrikanten löste das Problem außerdem für sich selbst, indem sie sich durch die Ansiedlung in den grünen Randbereichen der zunehmenden Umweltbelastung entzog. Auch in Sachsen existierte im 18. Jahrhundert ein hoch entwickeltes Baumwollspinnereigewerbe. Bereits zu dieser Zeit lag der Schwerpunkt der Produktion im Westen des Landes, im sächsischen Vogtland. Schätzungen gehen davon aus, dass zu Beginn der achtziger Jahre mehr als 25.000 Menschen in der Handspinnerei beschäftigt waren, überwiegend auf dem Land und fast alle im Nebenerwerb. Ähnlich wie in England wurde auch in Sachsen die Mechanisierung der Spinnerei durch den Garnmangel verursacht, den einige technische Verbesserungen bei den Webstühlen hervorgerufen hatten. Bereits in den siebziger Jahren wurden deshalb einige „Spinning Jennies“ in das Land geschmuggelt, die dann von sächsischen Tischlern nachgebaut wurden. Denn der sächsische Staat hatte die Bedeutung dieser Aktivitäten klar erkannt und förderte den Nachbau durch finanzielle Zuwendungen an die „Maschinenbauer“. Um 1800 waren deshalb in Sachsen vermutlich schon rund 2.000 Jennies in Betrieb. Die frühe Verbreitung der „Spinning Jenny“, die noch mit der Hand betrieben werden konnte und auch für einen Handspinner noch erschwinglich war, erwies sich allerdings während der folgenden Jahrzehnte als eine Bürde für die vollständige Mechanisierung der Baumwollspinnerei. Denn dadurch konnte die traditionelle dezentrale Produktionsweise im Gegensatz zum Wuppertal noch verhältnismäßig lange überleben, so dass Spinnfabriken in Sachsen deutlich später entstanden als im Westen. Darüber hinaus war die sächsische Eigenproduktion von Jennies zwar im Vergleich zur Situation in vielen anderen Regionen mit frühneuzeitlicher Textilgewerbetradition ein großer Konkurrenzvorteil, aber der sächsische Textilmaschinenbau entwickelte sich nicht so schnell weiter wie der englische. Zur Einführung der englischen „Waterframe“ kam es in Sachsen erst vergleichsweise spät. Diese Spinnmaschine benötigte erstens einen mechanischen Antrieb (in der Regel Wasserkraft) und konnte deshalb nicht mehr aus Holz hergestellt werden. Mit ihrem Metallrahmen stellte der Nachbau ein kaum lösbares technisches Problem für die aus dem Tischlereihandwerk entstammenden Handwerker dar.
Westsachsen
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II. Wirkung der Kontinentalsperre
Baumwollweberei
Maschinenbau
Während der Kontinentalsperre gingen die Geschäfte der sächsischen Baumwollspinnereien zunächst noch recht gut. Während das Wuppertal unter der zollpolitischen Abschottung gegenüber Frankreich litt, profitierte die sächsische Baumwollspinnerei uneingeschränkt vom Ausschluss der englischen Konkurrenz. Mittlerweile konnten auch zunehmend moderne englische Spinnmaschinen nachgebaut werden. Die Spindelzahl dieser durch Wasserkraft angetriebene Maschinen dürfte im Jahr 1812 über 250.000 gelegen haben. Denn Wasserkraft war im mittelgebirgigen Westen Sachsens reichlich vorhanden. Nach Aufhebung der Kontinentalsperre änderte sich die Situation dramatisch. Ähnlich wie im Wuppertal brach die Baumwollspinnerei auch in Sachsen seit den zwanziger Jahren ein. Der wachsende Bedarf der Baumwollwebereien wurde wieder überwiegend durch englische Importe gedeckt, so dass nur die leistungsfähigsten sächsischen Spinnfabriken überlebten. Wesentlich erfolgreicher als die Spinnerei war auch in Sachsen die Baumwollweberei. Die Vorteile englischer Stoffe, insbesondere die bessere Färberei und Appreturtechnik, reichte Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht aus, um die sächsischen Stoffe ernsthaft zu bedrohen. Gleichzeitig machte die Einfuhr billigen englischen Maschinengarns die sächsischen Stoffe günstiger, wodurch sich die Absatzmärkte weiter ausdehnen ließen. Der erste halbmechanische Webstuhl wurde etwas später als im Wuppertal in Sachsen zu Beginn der dreißiger Jahre in Betrieb genommen, verbreitete sich dann aber sehr schnell, so dass innerhalb von weniger als einem Jahr allein in Chemnitz über 700 solcher Webstühle installiert waren. Damit hatte Chemnitz mit Elberfeld gleichgezogen. Langfristig machte sich aber die kleingewerbliche Struktur der sächsischen Industrie negativ bemerkbar, indem der Übergang zum voll mechanisierten Webstuhl in Sachsen wesentlich langsamer voranging als in den anderen Staaten des Zollvereins. Sachsen verfügte 1861 zwar über knapp ein Drittel aller Baumwollwebereien im Deutschen Zollverein. Der sächsische Anteil an den Maschinenwebstühlen lag aber bei gerade einmal 6 %. Ähnlich wie im Wuppertal hatten sich auch in Westsachsen im Windschatten der Textilindustrie andere Industrien entwickelt. Das galt besonders für den Maschinenbau, der Chemnitz um die Mitte des Jahrhunderts zu einem Zentrum dieser modernen Industrie machte. Dabei schaffte es der Chemnitzer Maschinenbau sogar, erfolgreich in den Lokomotivbau einzusteigen, so dass Westsachsen nicht zuletzt auch wegen seiner Steinkohlevorkommen durchaus gut gerüstet in die zweite Phase der Industrialisierung eintreten konnte.
3. Die sozialen Folgen Im wirtschaftlichen Verständnis der absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts stellte das Wachstum der Bevölkerungszahl einen erwünschten Effekt ihrer Politik dar. Es war das erklärte Ziel der merkantilistischen Wirt-
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Die sozialen Folgen schaftspolitik, durch den Landesausbau und die Peuplierungspolitik das Bevölkerungswachstum zu beschleunigen. Eine große Volkszahl in Stadt und Land galt als Reichtum und versprach einen Zuwachs an Macht für die Herrscher. Dieses Verhältnis zum Bevölkerungswachstum verlor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter den aufgeklärten Beobachtern jedoch mehr und mehr an Rückhalt. Die Bevölkerung hatte in vielen Teilen des Alten Reiches stetig zu wachsen begonnen, während die Landwirtschaft, noch weitgehend in den Fesseln der feudalen Produktionsweise gefangen, mit dieser Entwicklung nicht Schritt zu halten schien. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (seit 1816) beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum weiter. Um 1816 lebten im Gebiet des späteren Deutschen Reichs etwa 24 Millionen Menschen, um die Jahrhundertmitte waren es schon 35 Millionen. Im Durchschnitt nahm die deutsche Bevölkerung damit jährlich um etwa ein Prozent zu. Für die Beschleunigung des Bevölkerungswachstum war in erster Linie eine Steigerung der Geburtenzahlen verantwortlich, wobei weniger die eheliche Fruchtbarkeit als vielmehr die höheren Heiratsquoten ausschlaggebend waren. Der Rückgang der Sterblichkeit spielte für die steigenden Geburtenüberschüsse noch keine Rolle. Die Lebenserwartung lag bis in die sechziger Jahre hinein relativ konstant (je nach Region) zwischen 25 Jahren und 30 Jahren, so dass sich eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Medizin zu dieser Zeit noch nicht hatten auswirken können. Für einen messbaren Rückgang der Mortalität gegenüber dem 17. und 18. Jahrhundert war eher ein Rückgang der „Krisen“-Sterblichkeit verantwortlich. Denn die Friedenszeit seit 1815 und das Ausbleiben von großen Seuchen verhinderten solche katastrophenähnliche Einbrüche, wie sie in den vorangegangenen Jahrhunderten immer wieder aufgetreten waren. Obwohl die Geburtenzahlen in allen Teilen des Deutschen Bundes seit 1816 deutlich anstiegen, verlief die Entwicklung regional unterschiedlich. Besonders hoch lagen die Geburtenzahlen und damit auch die Geborenenüberschüsse im Nordosten, während sie in Westdeutschland und besonders in Bayern deutlich unterdurchschnittlich ausfielen. Diese regionalen Unterschiede lassen sich zwar zum Teil durch ein in Bayern besonders strenges Heirats- und Niederlassungsrecht erklären, wodurch das Heiratsalter allgemein hochgetrieben wurde und überproportional viele Unterschichtsangehörige unverheiratet blieben. Diese Maßnahmen waren aber nur sehr begrenzt wirksam. Denn nicht zufällig war die Zahl der unehelich Geborenen dort am höchsten, wo die Restriktionen am schärfsten waren. Von größerer Bedeutung für das regional unterschiedliche Bevölkerungswachstum war deshalb die höchst unterschiedliche wirtschaftliche Situation im agrarischen Nordosten und dem kaum weniger agrarisch geprägten Südosten. Die seit dem 18. Jahrhundert regelmäßig wiederkehrenden Krisen hatten die soziale Lage insbesondere der bayerischen Landbevölkerung so sehr verschlechtert, dass das Fertilitätsniveau insbesondere in den kleinbäuerlich geprägten Gebieten weit unter den Wert anderer Regionen mit einer ähnlich restriktiven Bevölkerungspolitik sank. Im Gegensatz zu Bayern hatten die neue Agrarverfassung und der Landesausbau in den nordöstlichen Agrargebieten mit ihrer zunächst sehr geringen Bevölkerungsdichte zu einer erheblichen Ausweitung der Stellenzahl auf
II.
Bevölkerungswachstum
Regionale Differenzierung
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
den Gütern und in den Dörfern geführt, so dass dem rasant wachsenden Arbeitskräftepotential anfänglich noch ein ausreichendes Arbeitsplatzangebot gegenüberstand. Insofern konnte die liberalisierte „Bevölkerungspolitik“, insbesondere die Aufhebung der herrschaftlich sanktionierten Eheerlaubnis, ihre Wirkung voll entfalten. Abgesehen von Nordostdeutschland stand der wachsenden Bevölkerung aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch kein wachsendes Arbeitsplatzangebot gegenüber. Die ersten entstehenden Industriestädte waren noch zu klein und zu wenige, um die ländlichen Unterschichten aufzunehmen, für die es nach der Aufhebung des Bauernschutzes und der Privatisierung der Allmende auch auf dem Land immer weniger Arbeitsgelegenheiten gab. Damit bahnte sich eine demographische Katastrophe ungeheuren Ausmaßes an, zumal es sich dabei keineswegs allein um ein Problem Mitteleuropas handelte. In den dreißiger und vierziger Jahren trat in Deutschland tatsächlich jene demographische Katastrophe ein, die in Teilen Westeuropas bereits früher zu beobachten gewesen war und die auch andere Teile Europas heimsuchen sollte, wobei die Bevölkerung von Irland und Italien wohl am härtesten betroffen wurde: die Bevölkerung stieß an die Grenzen des vorhandenen Nahrungsspielraums. Dramatische Ausmaße nahm das Problem der neuen Massenarmut in Deutschland zunächst im Südwesten an. Auch dort hatte sich seit den dreißiger Jahren die Bevölkerung zu vermehren begonnen, und zwar schneller, als es die kleingewerbliche und kleinbäuerliche Wirtschaft verkraften konnte. In Anlehnung an den englischen und französischen Sprachgebrauch setzte sich in Deutschland seit dieser Zeit der Begriff „Pauperismus“ zur Beschreibung des Phänomens von Bevölkerungswachstum und Verarmung durch. Einig waren sich die Zeitgenossen darin, dieses Phänomen als eine historisch neuartige Massenarmut zu bewerten, die mit der traditionellen Armut nicht mehr vergleichbar war.
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Pauperismus Der anglikanische Geistliche und Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) hatte als erster die sich in der demographischen Entwicklung ankündigende Zeitenwende wahrgenommen. 1798 veröffentlichte er seine berühmten Thesen zum „ehernen Bevölkerungsgesetz“ in einer Schrift mit dem Titel „Essay on the Principle of Population“. Darin behauptete Malthus, dass die Bevölkerung schneller wachse als die Produktion von Nahrungsressourcen. Damit musste das Bevölkerungswachstum zwangsläufig nach einer gewissen Zeit an die Grenze des Nahrungsspielraums gelangen und eine Übervölkerungskatastrophe war unvermeidlich (s. Quellentext). Bei dieser Behauptung blieb Malthus aber nicht stehen, sondern er forschte auch nach den Ursachen der Bevölkerungsentwicklung. Dabei ging er davon aus, dass diese sozial bedingt waren und das derzeit beobachtete Wachstum der Bevölkerungszahl keine anthropologische Konstante darstellte. Soziale Bedingtheit bedeutete aber, dass die Entwicklung sich beeinflussen ließ. Mit großem empirischem Forschungsaufwand gelang ihm der Nachweis, dass für die Bevölkerungsentwicklung das Heiratsverhalten entscheidend sei, das wiederum von moralischen Vorschriften und der gesellschaftlichen Stellung – ob Unterschicht oder Bürger – abhänge. Das Zölibat oder die Pflicht zur späten, dann aber existentiell gesicherten Heirat waren solche Normen.
Die sozialen Folgen
Robert Malthus zur Bevölkerungsentwicklung R. Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977 (1. Auflage 1798), S. 18, 22 f.
II.
Q
Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu. Schon einige wenige Zahlen werden ausreichen, um die Übermächtigkeit der ersten Kraft im Vergleich zu der zweiten vor Augen zu führen. Aufgrund jenes Gesetzes unserer Natur, wonach die Nahrung für den Menschen lebensnotwendig ist, müssen die Auswirkungen dieser ungleichen Kräfte im Gleichgewicht gehalten werden. Dies bedeutet ein ständiges, energisch wirkendes Hemmnis für die Bevölkerungszunahme aufgrund von Unterhaltsschwierigkeiten, die unweigerlich irgendwo auftreten und notwendigerweise von einem beachtlichen Teil der Menschheit empfindlich verspürt werden. […] Nehmen wir für die Bevölkerung der Welt eine bestimmte Zahl an, zum Beispiel 1.000 Millionen, so würde die Vermehrung der Menschheit in der geometrischen Reihe vor sich gehen, die der Unterhaltsmittel in der arithmetischen Reihe. Nach 225 Jahren würde die Bevölkerung zu den Nahrungsmitteln in einem Verhältnis von 512 zu 10 stehen, nach 300 Jahren wie 4096 zu 13. […] Bei diesen Annahmen sind den Erträgen der Erde keine Grenzen gesetzt. Sie mögen unablässig zunehmen und größer sein als jede bestimmbare Menge. Dennoch kann, da die Vermehrungskraft der Bevölkerung eine Größe höherer Ordnung darstellt, das Wachstum der Menschheit nur dadurch auf gleicher Höhe mit dem Wachstum der Unterhaltsmittel gehalten werden, indem das unabdingbare Gesetz der Not die stärkere Kraft in ihrer Entfaltung hemmt.
Die Ursachen für den Pauperismus waren umstritten. Lange Zeit nahm man an, dass die Industrialisierung das Bevölkerungswachstum ausgelöst habe. Diese These ist aber mit Sicherheit falsch. Denn die Bevölkerung begann bereits im 18. Jahrhundert und damit lange vor der Industrialisierung zu wachsen. Darüber hinaus waren Regionen wie der agrarische Nordosten mit seinen extrem hohen Wachstumsraten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch von jedem Ansatz moderner Industrie unberührt. Richtig ist an dieser Annahme allerdings, dass es einen positiven Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und Bevölkerungswachstum gab. Nur war das in der ersten Jahrhunderthälfte noch nicht die moderne Industrie. Günstige Bedingungen konnten durch eine Extensivierung der Landwirtschaft wie in Nordostdeutschland, aber auch durch ein Ausweichen auf heimgewerbliche – meist textile – Produktion geschaffen werden. In beiden Fällen erschien die persönliche Zukunft des Einzelnen lange Zeit günstig. Der Aufschwung der Heimindustrie schuf zahlreiche neue Erwerbsstellen, die es der im ländlichen Gewerbe tätigen Bevölkerung erlaubten, neue Familien zu gründen. Da der heimgewerbliche Zusatzverdienst zu einem nicht geringen Teil durch Kinderarbeit sichergestellt wurde, lag das Heiratsalter niedrig, und die Geburtszahlen übertrafen diejenigen der übrigen bäuerlichen Bevölkerung bei weitem. Im Gegensatz zur modernen Industrie eine Generation später erwies sich das Heimgewerbe in den dicht besiedelten Regionen Schlesiens, Westfalens
Ursachen des Pauperismus
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II.
Krise der 1840er Jahre
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und der Rheinprovinz als ein wenig dauerhafter „Boomfaktor“. Als die maschinenproduzierten Textilien die Preise für heimgewerblich produzierte Waren immer weiter herabdrückten, ließ sich das einmal in Gang gesetzte rasante Bevölkerungswachstum nicht einfach wieder abbremsen. Die Auswanderung konnte in der Zeit der agrarischen Bevölkerungswelle das Problem der „Überschussbevölkerung“ noch nicht lösen. Dennoch wanderten zwischen 1815 und 1835 mehr als 400.000 Menschen aus Deutschland, insbesondere aus Südwestdeutschland, aus. Die wichtigsten Ziele waren zu diesem Zeitpunkt Holland, Polen oder Russland, weil man sie zu Fuß erreichen konnte. Wenn sich in den vierziger Jahren das Bevölkerungswachstum etwas verlangsamte, lag dies in erster Linie an den Missernten, Hungerkatastrophen und Epidemien, die besonders in der Mitte dieses Jahrzehnts nicht nur Deutschland, sondern auch weite Teile Europas heimsuchten. Hunderttausende von Tagelöhnern in der Stadt und auf dem Land, aber auch Kleinbauern (insbesondere in den Gebieten der Realteilung und in den Mittelgebirgen), Handwerker und (arbeitslose) Bildungsbürger hungerten.
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Realteilung Bei der Vererbung landwirtschaftlicher Anwesen unterscheidet man zwei Prinzipien: das Anerbenrecht und die Realteilung. Beim Anerbenrecht erfolgt die Vererbung an einen einzigen Erben, in der Regel an den ältesten oder den jüngsten Sohn. Alle anderen Erben werden abgefunden. Auf diese Weise bleibt der Betrieb als lebensfähige Einheit erhalten. Bei der Realteilung wird der Besitz (einschließlich des landwirtschaftlichen Anwesens) real unter den Erbberechtigten aufgeteilt. Handelt es sich um mehrere Erbberechtigte, kann es zu einer Aufteilung des Anwesens kommen, so dass die Lebensfähigkeit der parzellierten und verselbständigten Betriebsteile sehr schnell nicht mehr gegeben sein kann. Während in den meisten Teilen Deutschlands das Anerbenrecht praktiziert wurde, herrschte die Realteilung besonders im Südwesten vor, was zum Teil die hohen Auswandererquoten der südwestdeutschen Staaten erklärt.
Hunger und Kriminalität
Die Nahrung der Unterschichten bestand ohnehin nur aus Kartoffeln, Roggenbrot, Graupen und Kraut. Kleinbauern konnten ihre Kost gelegentlich auch durch etwas Milch und Speck anreichern, aber selbst sie mussten das Fleisch in die Stadt verkaufen. Viele landlose Unterschichtenfamilien betrieben Wilderei, Holz- und Getreidediebstahl, um zu überleben. Sie sahen darin einen Ausgleich für die entgangene Nutzung der Allmenden. In den Städten war die Situation nicht besser. Auch dort blühte die Unterschichtenkriminalität und viele Frauen und Mädchen aus den Unterschichten wurden in die Prostitution getrieben. Da ein immer kleinerer Teil der Einkommen der Unter- und Mittelschichten für andere Zwecke als die Beschaffung von Lebensmitteln zur Verfügung stand, traf die Krise auch das Gewerbe, insbesondere die Produzenten von Massenverbrauchsgütern. Insofern bestimmte eine Agrarkrise zum letzten Mal in der deutschen Geschichte auch die industrielle Konjunktur und sorgte zum letzten Mal in Friedenszeiten für eine Hungerkrise mit Tausenden von Toten. Allein in Oberschlesien erkrankten Mitte der vierziger Jahre etwa 80.000 Menschen an Hungertyphus, von denen etwa 16.000 starben.
Die sozialen Folgen
Bettina von Arnim über die Situation einer Berliner Heimarbeiterfamilie, 1843 B. v. Arnim, Werke und Briefe, Bd. 3, Frechen 1963, S. 241.
II.
Q
Der Weber Fischer ist 42 Jahr alt. Sein Äußeres flößt wenig Zutrauen ein; er kann nicht über die Straße gehen, ohne durch sein struppiges Haar, das finstere Auge und den zerlumpten Anzug die Aufmerksamkeit der Polizeidiener auf sich zu ziehen. Man sieht auf den ersten Blick, dass ihn das Elend schon lange von jeder ordentlichen Gesellschaft abgeschlossen hat. […] Die Frau sieht liederlich aus. Sie saß mit zerzaustem Haare auf dem schmutzigen Bette und strickte. Dem zehnjährigen Knaben sieht man es gleich an, dass sich die Eltern mehr um die Bobinen [= Spinnradspulen] bekümmern, die er macht, als um ihn selbst. Ein achtjähriges Mädchen war ausgegangen; acht Kinder sind tot. Fischer hat sich als Webergeselle schon weit herumgetrieben. Gegen das Ende des vorigen Jahres fehlte es ihm 17 Wochen an Arbeit. Er blieb im Familienhause acht Taler Miete schuldig, reiste nach Hamburg, fand daselbst auch nichts zu tun, kam krank nach Berlin zurück und wurde in die Charité [städtisches Krankenhaus] gebracht; die Polizei brachte ihn mit seiner ganzen Familie ins Arbeitshaus, wo er 15 Wochen, getrennt von Frau und Kindern, als Gefangener lebte neben Verbrechern aller Art. […] Man entließ ihn mit vier Talern Unterstützung. […] Er blieb also noch fünf Taler Miete schuldig. Er wäre abermals ohne Arbeit, wenn ihn nicht der arme Nachbar Sigmund gestern dreißig Ellen Zettel abgeschnitten hätte, an welchen an 14 Tagen drei Taler Weberlohn zu verdienen sind. Auf zwei Wochen ist die Existenz der Familie gesichert. Es ist aber vorauszusehen, dass sie binnen kurzer Zeit wieder ins Arbeitshaus gebracht werden muss.
Der Staat stand dem Pauperismusproblem weitgehend machtlos gegenüber. Das in allen deutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts geltende Heimatrecht verpflichtete die Städte und Gemeinden, die dort geborenen Armen zu unterstützen. In Süddeutschland und in Sachsen konnten die Gemeinden deswegen Ehebeschränkungen verfügen, die ein Mindestalter und einen ausreichenden „Nahrungsstand“ der Heiratswilligen zur Voraussetzung erklärten. Der Erfolg dieser Maßnahmen war aber gering. Die Abwanderung vieler armer junger Leute mag zwar noch intendiert gewesen sein. Aber der als „sittliche Verwahrlosung“ stigmatisierte außereheliche Geschlechtsverkehr mit den Folgen steigender unehelicher Geburten und Totgeburten sowie einer Erhöhung der Säuglingssterblichkeit ließen solche Maßnahmen kaum geeignet erscheinen, das „Überbevölkerungsproblem“ zu lösen. Außerdem behinderte das Heimatrecht die Entwicklung von überregionalen Arbeitsmärkten, wie sie durch die Befreiung der Arbeitskraft von den feudalen Fesseln seit der Reformzeit im Prinzip möglich geworden waren. Angesichts der höchst unsicheren Perspektiven in der Fremde, bedeutete die dramatische Erhöhung des Lebensrisikos durch Verarmung nach einem Umzug, dass viele „freigesetzte“ Arbeitskräfte ihren Heimatort nicht verließen, auch wenn es für sie dort kaum Arbeit gab. In Preußen stellte sich der Gesetzgeber diesem Problem erst zu Anfang der vierziger Jahre. In zwei Gesetzen wurde 1842 die Fürsorgepflicht von Dorfgemeinden, Gutsherren und Städten gegenüber ihren Mitgliedern zwar
Ohnmacht des Staates
Heimatrecht
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Die leichtindustrielle Phase (1770 – 1840)
II.
Fabrikarbeit
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bestätigt. Das Heimatrecht wurde aber insofern modifiziert, als ein Mitglied nach drei Jahren Abwesenheit sein Heimatrecht in der Herkunftsgemeinde verlor und andererseits nach drei Jahren an seinem neuen Wohnsitz gewann. Gleichzeitig wurden die Gemeinden vor dem Zuzug Mittelloser geschützt, indem die nicht-sesshaften pauperisierten Massen durch die Androhung harter Strafen dazu gezwungen wurden, ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten. Unzumutbarkeitsgrenzen existierten sowohl bei den Arbeitsbedingungen als auch bei der Entlohnung nicht. Auch den wenigen frühen Fabrikarbeitern ging es kaum besser, jedenfalls wenn sie nicht zu der schmalen Schicht der vergleichsweise gut bezahlten Facharbeiterelite zählten. Die breite Masse der Industriearbeiterfamilien lebte immer an der Grenze des physischen Existenzminimums und konnte nur bei kontinuierlicher Arbeit dank anhaltender Gesundheit des Mannes sowie der Mitarbeit der Frau und meist auch der Kinder das bare Mindesteinkommen erzielen, um ihr kümmerliches Dasein fristen zu können. Die Arbeit auf dem Land und im zünftigen Handwerk war hart und die Aufseher und Meister oft brutal und rücksichtslos, aber Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft bildeten noch weitgehend deckungsgleiche Lebenssphären. Die Fabrikarbeit trennte diese Sphären und der Takt der Maschine war viel unerbittlicher, als es ein Vorarbeiter oder Meister je hätte sein können. Arbeitszeit war nicht mehr gelebte Zeit, durch den Rhythmus des Tages bestimmt, sondern abstrakte Zeit, die durch Uhren oder Signale gemessen wurde. Die neue Zeit verlangte Pünktlichkeit, Konstanz und Gleichmäßigkeit der Arbeit, Beschränkung und Fixierung von Pausen. Der Durchsetzung von Arbeitsdisziplin dienten strenge Fabrikordnungen, in denen die Lohn- und Arbeitszeitgestaltung ebenso geregelt wurden wie die Kontrollen und Strafen bei Zuwiderhandlungen. Fabrikordnung einer Weberei in Mönchengladbach, achtziger Jahre Die Fabrikordnung der Firma F. Brandts zu Mönchengladbach (bearb. v. W. Löhr), Mönchengladbach 1974. § 4: Arbeiter, die sich innerhalb der Fabrik öffentlicher Verhöhnung der Religion oder der guten Sitten, oder grober unsittlicher Handlungen schuldig machen, oder in trunkenem Zustande betroffen oder der Veruntreuung überführt werden, oder Schlägerei veranlassen oder daran theilnehmen, werden sofort entlassen. Dieselben Vergehen, außerhalb der Fabrik begangen, sowie liederlicher Lebenswandel, leichtsinniges Schuldenmachen, wiederholte Trunkenheit ziehen Verwarnung oder, wenn diese fruchtlos erscheint, Kündigung nach sich. Ungehorsam, Widersetzlichkeit gegen die Vorgesetzten der Fabrik, Unverträglichkeit mit den Mitarbeitern, böswilliges Verderben von Stoffen oder Maschinen, kann ebenfalls mit sofortiger Entlassung oder Kündigung bestraft werden. […] § 5: Die weiblichen Arbeiter sollen während der Arbeit, soweit thunlich, von den Arbeitern männlichen Geschlechts getrennt sein. Ebenso ist denselben während der freien Zeit jeder gegenseitige Verkehr untersagt. Zuwiderhandlungen, sowie jeder leichtsinnige, der christlichen Sitte widerstrebende Verkehr der jungen Leute beiderlei Geschlechts, auch außerhalb der Fabrik, ziehen Verwarnungen […] und falls diese fruchtlos, Kündigung nach sich.
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Die sozialen Folgen
II.
Obwohl die Fabrikarbeit für viele junge arbeitsfähige Männer in der Zeit des Pauperismus zumindest das physische Überleben sicherstellte, war die Fluktuation wegen der unerträglichen Fabrikdisziplin sehr hoch. Viele Fabrikarbeiter der ersten Generation entflohen ihren Arbeitsstätten, sobald sie auch nur die kleinste Chance erblickten, auf dem Land wieder Arbeit zu finden – und sei es auch nur vorübergehend während der Erntesaison. Der Widerstand war damit eher individuell. Kollektive Widerstandsaktionen waren – abgesehen von den Revolutionsjahren 1848/49 – bis zur Reichsgründung die Ausnahme. Insbesondere die Maschinenstürmerei ist in der Vergangenheit maßlos überschätzt worden. Zur Unterordnung unter die Fabrikdisziplin kamen der Lärm und Gestank der Fabrik, die Monotonie der Arbeit und ein Arbeitsweg, der oft einen stundenlangen Fußmarsch erforderte. Bei Arbeitszeiten von in der Regel 12 bis 14 und im Extremfall bis zu 16 Stunden in den dreißiger und vierziger Jahren bestand das Leben eines Fabrikarbeiters an sechs Tagen in der Woche fast nur aus (physisch und psychisch extrem belastender) Arbeit und (viel zu kurzem) Schlaf. Die Lebenserwartung war entsprechend niedrig. Nur etwa 5 % bis 7 % der Bevölkerung waren älter als 60 Jahre, Fabrikarbeiter werden um die Jahrhundertmitte kaum darunter gewesen sein. Wer tatsächlich dieses Alter erreichte und dessen Arbeitsfähigkeit keine kontinuierlich anstrengende Arbeit mehr zuließ, sah sich erneut einem existentiellen Lebensrisiko ausgesetzt, der Altersarmut, die nur durch die Einbettung in die Familie einigermaßen sicher aufgefangen werden konnte. Bericht eines Arztes über die Arbeitsbedingungen in den Fabriken Die Not des vierten Standes (von einem Arzte), Leipzig 1894, S. 2 f.
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Es ist kein schöner, kein erheiternder Anblick, die Arbeitermassen so zu betrachten, wenn sie von ihrer Tätigkeit kommen, die Männer mit den rußigen Gesichtern und abgetragenen, schmierigen Kitteln, die bleichen Weiber in ihren dürftigen Kleidern, man sieht ihnen das Ungesunde, die harte, drückende Ausnutzung der Kräfte und das geistig Abstumpfende ihres Berufs an. […] Die Arbeitszeit ist lang mit ganz unzureichenden, zu klein bemessenen Unterbrechungen, und dazu kommt, dass die Arbeit zum größten Teil äußerst einförmig und gleichmäßig ist, häufig den Körper in eine bestimmte, andauernde Haltung zwingt, die leicht zur Ermüdung führt und gesundheitsschädlich wirkt. […] Die Arbeit in den Fabrikräumen ist aus dem Grunde schon der Gesundheit nicht zuträglich, weil sie in geschlossenen, überfüllten, ungenügend gelüfteten Werkstätten stattfindet, und eine ausreichende und ausgleichende Bewegung in frischer Luft mangelt. […] So arbeiten sie einen Tag wie den anderen von früh bis abends, jahrein jahraus, immer wieder dasselbe in denselben Räumen auf demselben Fleck. Eine Hoffnung, dass sie mit der Zeit durch Ausdauer und Anstrengung vorwärts streben könnten, giebt es nicht. […]
Die Frauen der Fabrikarbeiterfamilien arbeiteten vielfach als Dienstboten bürgerlicher Haushalte oder im Gesindedienst. Zunehmend wurden aber auch Frauen zur Fabrikarbeit herangezogen, insbesondere in der Textilindustrie. Einen gesetzlichen Schutz von Frauenarbeit (Beschränkung der Arbeits-
Frauenarbeit
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Kinderarbeit
Fabrikinspektoren
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zeiten bei Schwangeren oder Wöchnerinnen, Nachtarbeitsverbot) existierte in der Frühzeit der Industrialisierung nicht. Abgesehen von einigen wenigen frühen Sozialreformern wurde die schrankenlose Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft von den Zeitgenossen kaum als anstößig angesehen. Denn auch in der Landwirtschaft hatten Frauen seit Jahrhunderten körperlich schwer und dauerhaft arbeiten müssen. Etwas anders wurde die Fabrikarbeit von Kindern beurteilt. In den höher entwickelten Gewerberegionen Westdeutschlands fiel den Schulbehörden bereits nach den Napoleonischen Kriegen auf, dass viele Kinder der Schulpflicht nicht nachkamen, weil sie in der Fabrik arbeiteten. Auch die Militärbehörden kritisierten bereits in den zwanziger Jahren, dass die körperlichen Schäden durch die Kinderarbeit in den Fabriken und Kohlezechen die Bereitstellung von Ersatzkontingenten für die Armee gefährdeten. Gesetzliche Maßnahmen wurden aber erst seit den späten dreißiger Jahren ergriffen, zunächst in Preußen und wenig später auch in Bayern und Baden. Im fabrikindustriell zu dieser Zeit am weitesten entwickelten Sachsen dauerte es allerdings noch fast ein Vierteljahrhundert länger, bis im Jahr 1861 gesetzlich gegen die ungezügelte Ausbeutung von Kindern vorgegangen wurde. Das preußische „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ von 1839 bestimmte, dass Kinder frühestens mit neun Jahren in einer Fabrik arbeiten durften, sofern sie zuvor mindestens drei Jahre lang zur Schule gegangen waren. Die tägliche Arbeitszeit der neun- bis sechszehnjährigen Kinder wurde auf zehn Stunden begrenzt. Nacht-, Feiertags- und Sonntagsarbeit war generell untersagt. Inwieweit diese gesetzlichen Beschränkungen der Kinderarbeit auch tatsächlich durchgesetzt wurden, ist nur schwer zu ermitteln. Wahrscheinlich wurden sie mindestens in den vierziger Jahren in vielen Fällen nicht eingehalten. Denn eine Kontrolle der Fabriken durch staatliche Inspektoren existierte noch nicht und auch die Strafen waren gering. Fabrikinspektoren zur Überwachung der Arbeitsschutzbestimmungen wurden in den Schwerpunktregionen der Fabrikarbeit von Kindern in Preußen, in den Regierungsbezirken Arnsberg, Düsseldorf und Aachen, erst 1853 eingesetzt. Die zeitgenössischen Berichte deuten allerdings an, dass nur in Aachen tatsächlich etwas erreicht wurde. Wie der Lebensbericht von Adelheid Popp (1869 – 1939) zeigt, waren auch Jahrzehnte später erst bestenfalls die schlimmsten Auswüchse industrieller Kinderarbeit beseitigt worden. Adelheid Popp, die später eine der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung werden sollte, berichtete über ihre Kindheit in den siebziger Jahren: Sie war das jüngste von 15 Kindern einer Weberfamilie, von denen nur vier überlebten. Ihr Vater starb, als Adelheid sechs Jahre alt war. Nach drei Jahren Elementarschule musste sie als zehnjähriges Kinder erstmals in der Fabrik arbeiten: Wir zogen in die Stadt zu einem alten Ehepaar in eine kleine Kammer, wo in einem Bett das Ehepaar, im andern meine Mutter und ich schliefen. Ich wurde in einer Werkstätte aufgenommen, wo ich Tücher häkeln lernte; bei zwölfstündiger fleißiger Arbeit verdiente ich 20 bis 25 Kreuzer am Tag. Wenn ich noch Arbeit für
Die sozialen Folgen
II.
die Nacht mit nach Hause mitnahm, so wurden es einige Kreuzer mehr. Wenn ich frühmorgens um 6 Uhr in die Arbeit laufen musste, dann schliefen andere Kinder meines Alters noch. Wenn ich um 8 Uhr abends nach Hause eilte, dann gingen die anderen gut genährt und gepflegt zu Bette. Wenn ich gebückt bei meiner Arbeit saß und Masche an Masche reihte, spielten sie […] oder saßen in der Schule. […] Ein heißer Wunsch überkam mich immer wieder: mich nur einmal ausschlafen zu können. […] Wenn ich aber das Glück hatte, schlafen zu können, dann war es erst recht kein Glück, dann war Arbeitslosigkeit oder Krankheit die Veranlassung.
Mit zwölf Jahren begann Adelheid eine Lehre als Näherin. Nach nur einem Jahr brach sie zusammen und verbrachte einige Zeit im Krankenhaus. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sich ihr geschundener Körper wieder erholen konnte. Zwölf Stunden am Tag musste ich aus Perlen und Seidenschnüren Aufputz für Damenkonfektion herstellen. […] Unaufhörlich, ohne sich auch nur eine Minute Ruhe zu gönnen, musste ich arbeiten. Mit welchem Verlangen sah ich immer nach der Uhr, wenn mich die zerstochenen Finger schon schmerzten und wenn ich mich am ganzen Körper ermüdet fühlte. Und wenn ich dann endlich nach Hause ging, an schönen warmen Sommertagen, oder im bitterkalten Winter, musste ich oft, wenn viel zu tun war, noch Arbeit für die Nacht nach Hause nehmen. Darunter litt ich am meisten, weil es mich um die einzige Freude brachte, die ich hatte. Quelle: Aus den Lebensberichten deutscher Fabrikarbeiter. Zusammengestellt v. Georg Eckert, Braunschweig 1953, S. 40.
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Nach den offiziellen Zahlen erreichte die industrielle Kinderarbeit in den vierziger Jahren ihren Höhepunkt, als etwa 1,5 % aller neun- bis vierzehnjährigen Kinder in Preußen in der Industrie beschäftigt waren. 1846 waren dies etwas mehr als 30.000 Kinder. Abgesehen von der Dunkelziffer bei der Fabrikarbeit sind dabei allerdings nicht die weitaus größeren Gruppen der im Familienverband in der Landwirtschaft und im Handwerk tätigen Kinder erfasst, die unter keinerlei gesetzlichem Schutz standen und die nicht selten genauso lange und genauso hart arbeiten mussten wie die Kinder in den Fabriken. Der spätere württembergische Parlamentarier Moritz Mohl über die Kinderarbeit in der Landwirtschaft, 1828 S. Quandt, Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland 1783 – 1976, S. 34.
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Wer kann ohne Rührung an das Loos der Tausende in den Spinnereien Englands, Frankreichs, der Schweiz usw. vom frühen Morgen bis zum späten Abend eingeschlossener Kinder denken, denen kaum einige Zeit zum Essen, vielleicht eine Stunde zum Schulbesuche, für ihre Erholung wenige Augenblicke gegönnt sind. […] Dennoch wäre das Loos dieser Fabrik-Kinder noch glücklich zu nennen ge-
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II.
gen das Schicksal der Kinder in den unbemittelsten Classen überbevölkerter Ackerbau-Staaten. Die Nachlässigkeit, womit die Kinder der Fabrik-Arbeiter in ihren ersten Lebensjahren behandelt werden mögen, kann nicht größer sein als die schreckliche Verwahrlosung, welche in Gegenden ländlicher Überbevölkerung Kinder von Eltern erfahren, denen es aus Armuth an Mitteln, aus Ermattung an Sorgfalt zu ihrer Pflege fehlt, Eltern bei welchen Mangel und Elend selbst die Liebe zu ihren Kindern abstumpfen. […] Diese armen Kleinen […] müssen Sommers mühselig Futter für Vieh an Straßen und Hecken, Winters Brennmaterial in Feld und Wald sammeln, vielleicht stehlen und wehe ihnen, wenn sie mit leeren Händen heimkehrten. […] Dabei schlechte und unreinliche Kleidung, oft kaum mehr als Lumpen, häufig ohne Fußbedeckung, schlechte Nahrung und schlechte Betten, die dem Kinde […] bei Nacht nicht einmal den Trost eines warmen Lagers gewähren.
In den fünfziger Jahren ging die Fabrikarbeit von Kindern deutlich zurück. 1858 waren nur noch etwa 12.500 unter acht bis vierzehn Jahre alte Kinder registriert. Damit sank der Anteil der Kinder an der Fabrikarbeiterschaft in Preußen von 6,6 % (1846) auf 3,2 %. Gleichzeitig stieg allerdings der Anteil der Frauen an der Fabrikarbeiterschaft deutlich an. In der Textilindustrie konnte der Frauenanteil in der Reichsgründungszeit durchaus bei 50 % oder darüber liegen.
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III. Die schwerindustrielle Phase der Industrialisierung (1830–1890) 1. Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex In der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung der klassischen Phase der Industrialisierung von den 1840er Jahren bis in die 1870er Jahre, der auch als „Industrielle Revolution“ oder „Take-off“-Phase bezeichneten Periode, hat sich die bei dem „schwerindustriellen Führungssektorkomplex“ ansetzende Erklärung für die erfolgreiche nachholende Industrialisierung der Zollvereinsstaaten weitgehend durchgesetzt. Der Begriff des „Führungssektors“ ist der Entwicklungsökonomie entlehnt und bezeichnet den strategischen Kern des Industrialisierungsprozesses. Die Textilindustrie konnte im deutschen Fall trotz einiger bemerkenswerter Ansätze in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rolle eines Führungssektors nicht spielen. Das Wachstum war in der Durchbruchphase der Industrialisierung selbst in den expandierenden Bereichen der Textilindustrie zu einem nicht unerheblichen Teil extensiv. Obwohl die Mechanisierung der Textilindustrie in allen Bereichen seit der Jahrhundertmitte deutliche Fortschritte erzielte und sich das Wachstum in allen Produktbereichen bei gleichzeitig deutlich steigender Arbeitsproduktivität spürbar beschleunigte, erreichten auch die Baumwollspinnereien und Webereien als die modernsten Teilbranchen keine mit der Eisen- und Stahlindustrie oder gar dem Maschinenbau vergleichbare Spitzenstellung auf dem Weltmarkt. Die „Lokomotivfunktion“ in der Industrialisierung der Zollvereinsstaaten übernehmen vier Branchen: der Steinkohlenbergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, der Maschinenbau und die Eisenbahnen. Wegen der starken wechselseitigen Verflechtung der Branchen spricht man auch von einem Führungssektorkomplex, in dessen Zentrum die Eisenbahnen standen: zum Bau und Betrieb von Eisenbahnen benötigte man Stahl, Steinkohle und Lokomotiven; für die Stahlproduktion benötigte man Steinkohle und für die Produktion von Steinkohle benötigte man Förderanlagen, Pumpen und andere Maschinen. Für alle Industrien, die genannten und die meisten anderen, standen die Eisenbahnen schließlich als Transportmittel zur Verfügung, das durch die Verbilligung der Transportkosten die erreichbaren Märkte vergrößerte und damit einen weiteren Impuls zur Ausweitung der Produktion lieferte. Einen Ausschnitt der wechselseitigen Verflechtung des Führungssektorkomplexes zeigt das folgende Input-Output-Schema (s. Seite 52). So wurde etwa in den sechziger Jahren 25 % der Leistungsabgabe der Eisenbahnen vom Steinkohlenbergbau nachgefragt, während umgekehrt 27 % der Stahlproduktion von den Eisenbahnen nachgefragt wurden. Die dominante Stellung innerhalb des Führungssektorkomplexes hatten zweifellos die Investitionen in den Eisenbahnbau inne. Die Investitionen in den Steinkohlebergbau und in die Eisen- und Stahlindustrie müssen dagegen eher als eine Reaktion auf die expandierende Eisenbahnnachfrage interpretiert werden.
Verflechtung der Führungssektoren
Führungssektor Eisenbahn
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Lieferung von/an in %
Eisenbahn
Kohlenbergbau
Stahlproduktion
Hochöfen
Eisenbahn 1840er Jahre 1850er Jahre 1860er Jahre
0 1 25
Kohlenbergbau 1840er Jahre 1850er Jahre 1860er Jahre
0 2 3
7 7 7
5 12 30
Stahlproduktion 1840er Jahre 1850er Jahre 1860er Jahre
32 36 27
Hochöfen 1840er Jahre 1850er Jahre 1860er Jahre
84 88 92
Quelle: Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel, Tab. 58, S. 336.
Wachstum
Gesamtwirtschaftliches Gewicht
52
Im Folgenden soll deshalb das Führungssektorkonzept am Beispiel der Eisenbahnen genauer betrachtet werden. Nach der auf den amerikanischen Ökonomen Walt Rostow (1916 – 2003) zurückgehenden Theorie muss ein Sektor folgende Kriterien erfüllen, um als ein Führungssektor bezeichnet werden zu können: 1. ein überdurchschnittliches Wachstum, 2. ein großes und zunehmendes gesamtwirtschaftliches Gewicht, 3. sinkende Produktionspreise bzw. steigende Produktqualität aufgrund von Produktivitätsfortschritten sowie 4. starke Ausbreitungseffekte („spread effects“) – vom Wachstumssektor ausgehend – auf andere (abhängige) Sektoren. Alle diese Kriterien wurden in den Staaten des Deutschen Zollvereins während des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts fast lehrbuchartig durch den Eisenbahnsektor erfüllt: 1. Die Indikatoren für das Wachstum des Sektors weisen sämtlich eine auch im Vergleich zur Gesamtwirtschaft expansive Tendenz auf. Die Entwicklung der Kapazitäten (Streckenlänge) ist ebenso erstaunlich wie die Entwicklung der Leistungsabgabe (geleistete Tonnen- und Personenkilometer) und das Wachstum der im Eisenbahnbetrieb Beschäftigten (s. Tab. 3). 2. Die außergewöhnlich expansive Tendenz des Wachstums macht aber erst der Vergleich zur Gesamtwirtschaft deutlich. Denn dank des im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich schnellen Wachstums stieg
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex
III.
Tabelle 3: Streckenlänge, Beschäftigtenzahl und Leistungsabgabe der deutschen Eisenbahnen 1840 – 1880 Jahr
Streckenlänge (in km)
Beschäftigtea
Güterverkehr (in Mio. tkm)
Personenverkehr (in Mio. pkm)
1840 1850 1860 1870 1880
469 5.856 11.089 18.667 30.125
1.600 26.100 85.600 161.000 272.800b
3 303 1.675 5.876 13.039
62 783 1.733 4.447 6.479
a
ohne Beschäftigte im Eisenbahnbau 1879 Quelle: Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum, Tab. 2, S. 17, Tab. 7, S. 24; Ziegler, Eisenbahnen und Staat, Tab. A2, S. 551 ff.
b
auch das gesamtwirtschaftliche Gewicht des Eisenbahnsektors. Das galt zum einen für die Beschäftigten (bei Bau und Betrieb), deren Anteil an den Beschäftigten der Gesamtwirtschaft von unter einem Prozent in den vierziger Jahren auf rund 3 % in den siebziger Jahren stieg. Noch eindrucksvoller ist der Bedeutungszuwachs des Kapitalstocks, dessen Anteil am Kapitalstock der Gesamtwirtschaft von knapp 3 % um 1850 auf etwa 10 % Mitte der siebziger Jahren anstieg. Die Ursache für das überdurchschnittliche Kapazitätenwachstum und für die steigende gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Kapitalstock und Beschäftigten im Eisenbahnsektor waren die seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre extrem hohen Nettoinvestitionen, die nach einer Schätzung von Rainer Fremdling bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre einen Anteil von bis zu 20 % der Nettoinvestitionen der Gesamtwirtschaft erreicht haben könnten. Zwischenzeitlich sank dieser Anteil zwar auf etwa 12 % zu Anfang der fünfziger Jahre und zu Anfang der sechziger Jahre ab, aber insgesamt scheint bis Mitte der siebziger Jahre ein anhaltend gutes und nur kurzzeitig unterbrochenes Investitionsklima geherrscht zu haben. 3. Die Frachttarife der deutschen Eisenbahnen sanken während der vierziger bis sechziger Jahre beträchtlich. Zu Beginn des „Eisenbahnzeitalters“ hatten sich die Tarife an den Transportpreisen der Landfuhrwerke orientiert. Es zeigte sich jedoch sehr schnell, dass Tarifsenkungen zu einer deutlichen Steigerung des Transportaufkommens führten, wodurch die Kapazitäten der Infrastruktur, etwa durch eine dichtere Zugfolge, besser ausgelastet wurden. Umgekehrt führte die rasch steigende Nachfrage nach Transportdienstleistungen dazu, dass die Kapazitätsgrenzen überschritten wurden. Um die Nachfrage zu befriedigen, mussten dann weitere Investitionen erfolgten, solange die Kapazitätserweiterung gleichzeitig eine bessere Verzinsung des investierten Kapitals versprach. Teilweise war die Steigerung der Transportkapazitäten bereits beim Bau der Bahnen von den Bahngesellschaften erwartet worden. Da aber der Bahnbau die veranschlagten Kosten in der Regel deutlich überstieg, hatte
Transportpreissenkungen
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Ausbreitungseffekte
Vorwärtskopplung
Rückwärtskopplung
54
man zunächst auf den vollen Ausbau der Kapazitäten verzichtet. So ist etwa zu erklären, dass zahlreiche Bahnstrecken zunächst nur eingleisig betrieben wurden, der Unterbau der Trassen aber schon für den späteren zweigleisigen Ausbau ausgelegt worden war. Durch die Verlegung des zweiten Gleises konnte deshalb relativ schnell und mit vergleichsweise geringem Investitionsaufwand eine deutliche Steigerung der Transportkapazitäten erreicht werden. Eine weitere wesentliche Ursache für die Transportkostensenkungen bildete der „technische Fortschritt“. In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die verbesserten Signal- und Bremstechniken zu nennen, die zusammen mit dem zweigleisigen Ausbau der wichtigsten Strecken eine schnellere Zugfolge ermöglichten. Daneben stieg aber auch die Leistungsfähigkeit von Lokomotiven und Güterwaggons, so dass Steigungen leichter überwunden werden konnten und die Tonnage der Nutzfracht pro Zug vergrößert werden konnte, was sich gerade mit dem Beginn des Transports von Massengütern besonders positiv bemerkbar machte. Auch die Nutzungsdauer verschiedener Eisenbahnkomponenten erhöhte sich, indem beispielsweise die Stahlqualität der Schienen verbessert und die Haltbarkeit der Schwellen durch eine spezielle Imprägnierung erhöht wurde. 4. Durch die Senkung der Frachttarife wurden die Eisenbahnen in die Lage versetzt, Wachstumsimpulse für andere Sektoren zu geben. Durch die verbilligte Transportmöglichkeit konnten zunächst Produzenten und (Groß-)Händler von mittelwertigen Zwischenprodukten und Fertigwaren (etwa Textilien) ihre Absatzmärkte erweitern, und mit der Zeit folgten dann auch mittelwertige und seit den sechziger Jahren auch geringwertige Massengüter (wie etwa die Steinkohle), die wesentlich für das anhaltend hohe Wachstum der Transportleistungen von Eisenbahnen bis in die siebziger Jahre hinein verantwortlich waren. Dadurch kam den Eisenbahndienstleistungen ein Vorleistungscharakter („Vorwärtskopplungseffekt“) zu, der von der neueren Forschung als ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Wachstums- und Modernisierungsimpuls für andere Sektoren angesehen wird. Annähernd ebenso bedeutsam für den gesamtwirtschaftlichen Ausbreitungseffekt der Eisenbahnen wie die Vorwärtskopplungseffekte waren die aus der realen Investitionsnachfrage resultierenden Impulse („Rückkopplungseffekte“). Von der Nachfrage des expandierenden Eisenbahnsektors profitierten in erster Linie die Eisen- und Stahlindustrie (Schienen), der Maschinenbau (Lokomotiven) und der Steinkohlenbergbau (Kohle als Antriebsenergie), aber auch andere Branchen wurden erfasst. Das galt insbesondere für die Bauwirtschaft und die Baustoffindustrie, welche die Baumaterialien für die Trassen und die Bahnhöfe lieferte. Auch die Nachrichtentechnik profitierte vom Eisenbahnbau, indem mit dem Netzaufbau der Eisenbahnen gleichzeitig ein Netz von Telegraphenleitungen zur besseren Zugleitung entlang der Trassen gezogen wurde. Von der Eisenbahnnachfrage gingen aber nicht nur direkt, sondern auch vermittelt über die anderen Industrien des schwerindustriellen Führungssektorkomplexes Impulse zur Ausweitung und Modernisierung von Zuliefererindustrien aus. So wurden etwa die Holzindustrie und die Forstwirt-
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex
III.
schaft einmal direkt durch Rückkopplungseffekte von der Eisenbahnnachfrage erfasst, indem für die neu errichteten Eisenbahnstrecken neben den Stahlschienen auch gewaltige Mengen von Holzschwellen benötigt wurden. Zum anderen erhöhte sich die Holznachfrage aber auch indirekt durch die Eisenbahnnachfrage, indem der Ausbau der Tiefbauzechen im Steinkohlenbergbau große Mengen von Grubenholz erforderte.
1.1. Die Transportrevolution Damit die Eisenbahnen diese Funktion als Führungssektor der Industrialisierung in den deutschen Staaten so erfolgreich ausfüllen konnten, bedurfte es bestimmter Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die keineswegs in allen europäischen Ländern gegeben waren und die erklären können, weshalb die Staaten des Deutschen Zollvereins gerade während des schwerindustriellen Zyklus der europäischen Industrialisierung so erfolgreich nachholend industrialisierten. Im Folgenden sollen insbesondere zwei Aspekte deutlich werden, welche die Qualität des Eisenbahnwesens als Führungssektor erklären: erstens der frühzeitige und im kontinentaleuropäischen Vergleich rasend schnelle Aufbau des Netzes, und zweitens die Fähigkeit der deutschen Industrie, in relativ kurzer Zeit selbst in der Lage zu sein, die Komponenten der Eisenbahnen in erstklassiger Qualität herzustellen und damit nicht nur vom Import ausländischen Materials unabhängig zu werden, sondern ihrerseits zu einem der weltweit größten Exporteure von Stahl (Schienen) und Maschinen (Lokomotiven) aufzusteigen. Theoretisch ist es vorstellbar, dass die deutschen Staaten in Erkenntnis des Entwicklungspotentials, das in den Eisenbahnen steckte, damit begannen, Eisenbahnen als infrastrukturelle Vorleistung zu bauen. Damit könnte dann eine Entwicklung ausgelöst worden sein, bei der die reale Transportnachfrage relativ schnell in die infrastrukturelle Vorleistung „hineinwuchs“ und bald weitere Investitionen erforderlich machte. Eine solche Vorstellung hat allerdings mit der Wirklichkeit überhaupt nichts gemein. Denn erstens erkannten in den dreißiger Jahren nur sehr wenige Zeitgenossen auch nur ansatzweise die Chance, durch den Bau von Eisenbahnen den industriellen Vorsprung Englands zu verkürzen, und zweitens hatten die deutschen Staaten zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, Eisenbahnen in der Größenordnung zu bauen, wie es dann innerhalb von nur zwei Jahrzehnten bis zu Beginn der fünfziger Jahre tatsächlich geschah. Die Verkehrsverhältnisse in Deutschland im 18. Jahrhundert waren – selbst gemessen an dem niedrigen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau der deutschen Staaten – völlig unangemessen gewesen. Bis in die Zeit der napoleonischen Besetzung Westdeutschlands gab es so gut wie keine leistungsfähigen Kunststraßen. Abgesehen von einigen älteren Straßen im deutschen Südwesten gingen die ersten Impulse zum Bau von Fernstraßen von den Franzosen aus, die bereits in den ersten Jahren der napoleonischen Besatzung versuchten, die annektierten westdeutschen Gebiete durch verbesserte
Fernstraßenbau
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Verkehrsrevolution in Großbritannien
Deutsche Visionen
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Kommunikationsbedingungen wirtschaftlich näher an Frankreich heranzuführen. Mit dem großen Fernstraßenprojekt Metz – Bremen war auch die Anbindung der Rheinbundstaaten über Mainz mit einem Abzweig über Frankfurt nach Mitteldeutschland geplant gewesen. Die französische Besatzungszeit war allerdings zu kurz, um dieses ehrgeizige Projekt zu realisieren. Nach dem Wiener Kongress wurde es zwar von den deutschen Einzelstaaten weitergeführt. Dies geschah aber weitgehend unkoordiniert. Denn der Deutsche Bund erwies sich als unfähig, Staaten übergreifende Projekte zu initiieren. Ähnlich wie die Franzosen hatten auch die Preußen recht früh die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für die Anbindung der neuen Provinzen an das preußische Kernland erkannt. Die verbesserte Finanzlage erlaubte es dann auch in den zwanziger Jahren, durch den Bau von „Chausseen“ Berlin mit fast allen wichtigen preußischen Provinzstädten östlich der Elbe zu verbinden. Auch in seinen westlichen Provinzen baute der preußische Staat zwar zahlreiche Verbindungen. Deren Anbindung nach Mitteldeutschland wurde aber bis in die Zollvereinsgründungszeit durch die ablehnende Haltung der „Korridor“-Staaten Kurhessen und Hannover verhindert, die die preußische Übermacht nicht auch noch durch den Bau von Straßen im eigenen Territorium stärken wollten. Private Straßen wurden im Gegensatz zu den „Turnpikes“ in Großbritannien in ganz Deutschland nur sehr wenige gebaut. Zum Zeitpunkt der Zollvereinsgründung verfügte damit zumindest Norddeutschland über eine gegenüber dem 18. Jahrhundert deutlich verbesserte Verkehrsinfrastruktur. Aber für die erhoffte Staaten übergreifende interregionale Arbeitsteilung in der wirtschaftlichen Entwicklung war das Straßennetz bei weitem nicht ausreichend. Es war deshalb das Transportbedürfnis einzelner privater Unternehmer, das bereits in den zwanziger Jahren auch in Deutschland Überlegungen zum Bau von Eisenbahnen anregte. Trotz des deutlich geringeren Transportaufkommens ist es gar nicht so verwunderlich, dass in Deutschland nur unwesentlich später als in Großbritannien über die Einführung dieses neuen Transportmittels nachgedacht wurde. Denn der Druck war weitaus größer. Großbritannien hatte seinen naturräumlichen Vorteil der Insellage im 18. Jahrhundert durch ein dichtes binnenländisches Kanalnetz ausgebaut und war dank der Küsten- und Binnenschifffahrt in der Lage, eine effektive Verbindung zwischen den Wirtschaftsregionen und zwischen den Rohstoffe und Nahrungsmittel produzierenden Landesteilen und der Großstadt London herzustellen. Im Gegensatz dazu – und auch im Vergleich zu Frankreich – waren in Deutschland im 18. Jahrhundert weder die Flüsse für die Schifffahrt ausgebaut noch waren, von Ausnahmen abgesehen, Kanäle gebaut worden, so dass die großen Ströme nicht zu einem Wasserstraßennetz erweitert worden waren. Selbst die gewagtesten Visionen der dreißiger Jahren hatten aber noch nicht in Kategorien der Vernetzung und flächendeckenden Erschließung gedacht, sondern es wurden zunächst nur einzelne Strecken geplant, die sich bestenfalls durch die Anbindung an einen Binnenhafen erweitert denken ließen. So hatte der Plan des Unternehmers Friedrich Harkort (1793 – 1880) aus dem Jahr 1825 für eine Verbindung zwischen Köln und Minden durchaus
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex auch die Verbindung von Rhein und Weser als Merkmal. Auch die wesentlich berühmtere Vision des Nationalökonomen Friedrich List (1789 – 1846) für ein das gesamte Deutschland umfassendes Eisenbahnnetz aus dem Jahr 1833 kannte noch Lücken, die durch den Schiffstransport – etwa auf Rhein und Elbe – geschlossen werden sollten. In den staatlichen Bürokratien gab es zu dieser Zeit nur sehr wenige Verantwortliche, die diese Visionen teilten. Besonders in Preußen waren zahlreiche Mitglieder des Staatsministeriums gar nicht erfreut darüber, wenn den gerade erst mit einem, wie man glaubte, gigantischen finanziellen Aufwand errichteten Chausseen Konkurrenz gemacht werden würde. Denn die Kosten für die Unterhaltung sollten durch Straßenbenutzungsgebühren erwirtschaftet werden. Wenn sich aber der Verkehr von der Straße auf die Eisenbahn verlagerte, entstand für den preußischen Staat ein finanzpolitisches Risiko. Der wirtschaftspolitisch sehr einflussreiche Staatsminister Christian von Rother (1778 – 1849), der Generalpostmeister Karl von Nagler (1770 – 1846) und der Finanzminister Albrecht von Alvensleben (1794 – 1858) waren deshalb alles andere als Förderer des Eisenbahnwesens. Eisenbahnpolitisch weitblickende Personen wie die früheren Finanzminister Friedrich v. Motz (1769 – 1834) und Karl Georg Maaßen (1775 – 1830) gab es an der Spitze der preußischen Bürokratie und insbesondere in den Provinzen zwar auch, aber sie konnten sich anfangs nicht gegen die Vertreter der fiskalischen Interessen des preußischen Staates durchsetzen. Ähnlich war die Situation in Bayern, wo sich die Befürworter von Eisenbahnen einem König gegenübersahen, der weiterhin dem Kanalbauprojekt einer Verbindung von Main und Donau (Ludwigs-Kanal) den Vorrang gab. Der kommerzielle Erfolg der ersten im Jahr 1835 für den Personenverkehr eröffneten Eisenbahnstrecke von Nürnberg nach Fürth stärkte dann aber die Eisenbahnbefürworter in den Bürokratien der meisten deutschen Staaten. Ludwigs-Kanal Seit dem Mittelalter wurde wiederholt versucht, das Flusssystem des Rheins mit dem der Donau zu verbinden. Den vermutlich ersten Versuch unternahm Karl der Große im Jahr 793 (Fossa Carolina). Im Jahr 1836 wurde mit den Bauarbeiten für eine etwa 178 Kilometer lange Verbindung von Kehlheim an der Donau bis nach Bamberg am Main begonnen. Das vom bayerischen König Ludwig I. stark beförderte Projekt wurde im Jahr 1846 fertiggestellt, gewann aber wegen des Aufkommens der Eisenbahn und wegen seiner rund 100 Schleusen als Verkehrsweg keine große Bedeutung mehr.
III.
Haltung der Bürokratien
E
Das war auch dringend notwendig. Denn auch der privat finanzierte Eisenbahnbau kam nicht ohne staatliche Unterstützung aus. Erstens benötigten private Eisenbahngesellschaften eine staatliche Konzession zur Gründung einer Aktiengesellschaft und zum Bau der Strecke, und zweitens musste ihnen vom Staat das Recht eingeräumt werden, private Grundbesitzer zu enteignen, falls sie sich weigern sollten, den für den Bau der Trasse notwendigen Grund und Boden zu verkaufen. Noch wichtiger war das staatliche Interesse am Eisenbahnbau allerdings in denjenigen Staaten, in denen es an privaten Initiativen mangelte und wo
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Bayern
Preußen
Preuß. Eisenbahngesetz (1838)
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deshalb nur der Staat als Bauherr in Frage kam. In den dreißiger Jahren gab es nur in Sachsen, Bayern und Preußen eine reale Chance für privat finanzierten Eisenbahnbau, der über die Größenordnung der frühen und nur wenige Kilometer langen Strecken Nürnberg – Fürth oder Frankfurt – Wiesbaden (Taunusbahn) hinausging. Zur Mobilisierung des notwendigen Kapitals musste allerdings in allen drei Staaten ein günstiges Investitionsklima geschaffen werden. Denn zumindest Sachsen, die preußische Rheinprovinz, Berlin und die großen preußischen Handelsstädte litten zwar nicht unter Kapitalmangel, aber angesichts der Unterentwicklung der Kapitalmärkte war es ein großes Problem, das durchaus vorhandene Kapital verfügbar zu machen. Zu einer aktiven Förderung des privaten Eisenbahnbaus kam es zunächst in Bayern. Nach dem Erfolg der Nürnberg-Fürther Bahn fanden sich recht schnell Initiatoren für weitere Bahnprojekte. Deshalb konnte der bayerische Staat davon ausgehen, dass die bayerischen Bahnen durch private Gesellschaften gebaut und betrieben werden konnten. Ende 1836 waren zu diesem Zweck von der Staatsregierung in Zusammenarbeit mit den bereits genehmigten Eisenbahngesellschaften so genannte Fundamentalbestimmungen für die Gesellschaftsverträge erarbeitet worden. Darin wurden unter anderem Fragen der Kapitalbeschaffung sowie des Verhältnisses der Eisenbahngesellschaften untereinander und zum Staat geregelt. Ein Jahr später wurden die Fundamentalbestimmungen dann durch das erste moderne deutsche Enteignungsgesetz ergänzt. Zu einer solchen weitgehenden Unterstützung des privaten Bahnbaus war der preußische Staat 1836 noch nicht bereit. Einem der ersten größeren preußischen Bahnprojekte, der Berlin – Sächsischen Bahn, wurden sogar ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, weil eine direkte Verbindung von Berlin nach Leipzig aus politischen Gründen unerwünscht war. Mit Ausnahme der Bahn Berlin-Stettin konnten die übrigen frühen Großprojekte – die Rheinische Bahn (Köln – Aachen), die Rhein-Weser Bahn (Köln – Elberfeld – Minden), die Bahn Berlin – Frankfurt/Oder und die Magdeburg – Leipziger Eisenbahn – dem Staat keinerlei finanzielle Zugeständnisse abringen. Immerhin wurde aber im Vorfeld der Konzessionierung der Magdeburg – Leipziger Eisenbahn mit den „Allgemeinen Bedingungen, welche bei denjenigen Eisenbahnunternehmungen, die für gemeinnützig und zur Genehmigung geeignet befunden worden, den weiteren Verhandlungen zur Vorbereitung der allerhöchsten Bestätigung der Gesellschaft und Erteilung der Konzession zu Grund zu legen sind“ im Jahr 1836 eine Art Kriterienkatalog erlassen, nach denen sich die Initiatoren neuer Projekte richten konnten. Dieser den bayerischen Fundamentalbestimmungen ähnliche Katalog, der in einzelnen Punkten auch innerhalb der preußischen Bürokratie höchst umstritten war, wurde jedoch im Unterschied zum bayerischen Vorbild dekretiert und nicht in Kooperation mit den Eisenbahngesellschaften erarbeitet. Im großen ganzen fiel er deshalb nicht so aus, wie sich das die Eisenbahnpioniere vorgestellt hatten. Zwei Jahre später wurde dann das preußische Eisenbahngesetz erlassen, das in den wesentlichen Punkten mit den „Allgemeinen Bedingungen“ übereinstimmte, diese aber noch erweiterte. Auch dieses Gesetz wurde von den zeitgenössischen Eisenbahnpionieren überwiegend negativ beurteilt. Tat-
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex sächlich gelang es dem Eisenbahngesetz im Gegensatz zu den „Allgemeinen Bedingungen“ nicht, neue Bahnbauprojekte anzuregen, sondern vier Jahre nach dem Erlass des Gesetzes waren nur noch wenige Strecken in Planung. Denn den zum Teil sachlich durchaus begründeten Restriktionen waren keine finanziellen Anreize (oder wenigstens risikobegrenzende Sicherheiten) für die Investoren gegenübergestellt worden, die durch die schlechte Ertragslage fast aller bestehenden Privatbahnen sowie durch die aktuellen Schwierigkeiten der im Bau befindlichen Bahnen durch das Gesetz nur abgeschreckt werden konnten. Erst im Jahr 1842 reagierte der preußische Staat, nachdem das Staatsministerium nun endlich den Nutzen von Eisenbahnen für das Militär, aber auch für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erkannt hatte. Allerdings war es in Preußen unter den gegebenen verfassungspolitischen Bedingungen im Vormärz nicht möglich, Staatsbahnen zu bauen. Denn das Staatsschuldenedikt von 1820 hatte die Hürde für eine Neuverschuldung des Staates sehr hoch gelegt, indem es als Voraussetzung die Einberufung, „Zuziehung und Mitgarantie“ einer „reichsständischen Versammlung“ bestimmte. Da der preußische Staat dazu im Vormärz jedoch nicht bereit war und da die notwendigen Mittel aus dem laufenden Haushalt nicht abzuzweigen waren, konnte im Vormärz an einen staatlichen Eisenbahnbau nicht gedacht werden. Der preußische König begründete seine Initiative gegenüber den vereinigten ständischen Ausschüssen, einem Repräsentativorgan der Provinziallandtage, das als Provisorium für den nicht existierenden preußischen Landtag 1842 ad hoc ins Leben gerufen worden war, folgendermaßen:
III.
Zinsgarantien (1842)
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Ich wünsche dem Lande auch die Vorteile zu verschaffen, die, in mehrfacher Hinsicht, von einer Verbindung der Hauptstadt mit den Provinzen und der Provinzen unter einander vermittelst umfassender, in den Hauptrichtungen das Ausland berührender, Eisenbahn-Anlagen erwartet werden dürfen. Ich bestimme daher […], dass die Ausführung solcher, von für ein dringendes Bedürfnis erachteten Eisenbahn-Verbindungen durch die dem Staate zu Gebote stehenden Mittel und insbesondere auch durch Übernahme einer Garantie für die Zinsen der Anlage-Kapitalien mit Kraft und Nachdruck befördert werden soll. Quelle: Gesetzsammlung für die Kgl. Preußischen Staaten No. 25, v. 22.11.1842, S. 307 f.
Allerdings erlaubte es die außerordentlich günstige Haushaltslage, einen staatlichen Baufonds einzurichten, mit dessen Hilfe Zinsgarantien für bestimmte Eisenbahnprojekte gewährt werden konnten. Darüber hinaus war es dem Staat ermöglicht worden, sich bei Kapitalbeschaffungsproblemen auch direkt an einer Eisenbahngesellschaft zu beteiligen, um das Vertrauen der potentiellen Investoren in das Unternehmen zu stärken. Diese Maßnahme erwies sich als ein voller Erfolg. Bereits Mitte der vierziger Jahre erlebte Deutschland seinen ersten Eisenbahnbauboom (s. Tab. 3). Abgesehen von Preußen gelang es aber in keinem Staat des Zollvereins, ein die wichtigsten Städte untereinander und diese mit den Nachbarstaaten verbindendes Eisenbahnnetz ausschließlich durch private Initiative zu reali-
Mittelstaatliche Staatsbahnen
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III.
„Gemischtes System“
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sieren. Zwar planten nur wenige deutsche Staaten von Anfang an den Bau von Staatsbahnen. Aber in der Regel scheiterten die privaten Projekte entweder bereits in Planungs- oder Baustadium, oder ihre Rentabilität war nach Fertigstellung der Strecke so gering, dass der Bau weiterer Strecken durch private Eisenbahngesellschaften ausgeschlossen war. Die Mittelstaaten gingen deswegen zunehmend dazu über, Staatsbahnen zu bauen, wobei die Furcht vor der Umgehung des eigenen Territoriums durch den schnelleren Bau im Nachbarstaat ein wesentliches Motiv darstellte. Nach der Revolution waren aufgrund der Verfassungen von 1849 bzw. 1850 und der Errichtung eines aus zwei Kammern bestehenden Landtages endlich auch in Preußen die Voraussetzungen geschaffen worden, staatliche Eisenbahnen bauen zu können. In den fünfziger Jahren, als die günstige Ertragslage den Bau von Privatbahnen wieder möglich werden ließ und „Staatsbahnstaaten“ wie Bayern auch wieder den privaten Bahnbau zuließen, versuchte der konservativ-liberale preußische Handelsminister August von der Heydt (1801 – 1874), die als übermächtig empfundenen privaten Bahngesellschaften unter staatliche Verwaltung zu bringen oder sie durch den Aktienankauf schleichend zu verstaatlichen. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 1853 eine Abgabe auf alle Eisenbahnen in Preußen eingeführt, mit deren Hilfe der Staat Aktien privater Bahngesellschaften aufkaufte. Zinsgarantierte Eisenbahnen, die in den Jahren nach 1848 aufgrund ihrer schlechten Ertragslage die Zinsgarantie des Staates in Anspruch nehmen mussten, wurden darüber hinaus konsequent in staatliche Verwaltung übernommen. Da der preußische Staat ferner während der fünfziger Jahre zahlreiche Staatsbahnbauprogramme auflegte, befanden sich bereits am Ende des Jahrzehnts rund 50 % der preußischen Eisenbahnen unter staatlicher Verwaltung. Preußen verfügte damit über ein „gemischtes System“ von Staatsbahnen, Privatbahnen und unter staatlicher Verwaltung stehender privater Bahnen. Darin unterschied sich das preußische Eisenbahnwesen allerdings nicht von dem bayerischen. Denn dort hatte der Staat begonnen, sich aus dem Neubau von Eisenbahnen zurückzuziehen, als der preußische Staat gerade darum bemüht war, das Eisenbahnwesen in die Hand zu bekommen. Allerdings wurden den privaten Bahngesellschaften in Bayern Gebietsmonopole zugestanden, in denen ihnen weder der Staat noch eine private Eisenbahngesellschaft Konkurrenz machen durfte. Ein solches Zugeständnis wurde wegen der peripheren Lage der zu diesem Zeitpunkt noch zu erschließenden Regionen, im Osten Bayerns und in der linksrheinischen Pfalz, offenbar für nötig befunden, um private Investoren für den Bahnbau in diesen Regionen zu interessieren, in denen das Verkehrsaufkommen nicht sehr hoch sein würde und die auch für den Fernverkehr nur eine geringe Bedeutung besaßen. Von den Nutzern der Eisenbahnen, insbesondere von der großen Industrie, wurde die preußische Politik der Zurückdrängung der privaten Bahngesellschaften heftig kritisiert. Die Erfahrung stetig sinkender Transportkosten wurde mit der bestehenden Konkurrenz zwischen den Bahngesellschaften erklärt. Denn im Gegensatz zu Bayern verfügte keine preußische Bahngesellschaft über ein Gebietsmonopol, so dass es für die Frachtkunden bei
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex größeren Entfernungen fast immer möglich war, zwischen konkurrierenden Gesellschaften zu wählen. Als nach dem Wahlsieg der Liberalen im preußischen Landtag 1858 die konservative Regierung Manteuffel durch eine liberalere ersetzt wurde, blieb der für die Eisenbahnpolitik zuständige Handelsminister August von der Heydt zwar noch einige Jahre im Amt. Er wurde allerdings gezwungen, das staatliche Engagement im Eisenbahnwesen deutlich zurückzunehmen. Daran änderte auch der wenig später ausbrechende Verfassungskonflikt nichts. Im Gegenteil, es war sogar ein Charakteristikum dieses Konflikts, dass Ministerpräsident Otto v. Bismarck (1815 – 1898), der im Konflikt um die Heeresreform ohne Haushalt gegen den Landtag mit seiner liberalen Mehrheit regierte, dieser Mehrheit in wirtschafts- und handelspolitischen Fragen weit entgegenkam. In der Eisenbahnpolitik konnte er die Liberalen dadurch sogar in eine für sie besonders schwierige Situation manövrieren. Denn die von den Liberalen mit zunehmender Vehemenz geforderte Entstaatlichung des Eisenbahnwesens erleichterte Bismarck das Regieren ohne Haushalt ganz erheblich. Insbesondere die Kriege gegen Dänemark 1864 und Österreich 1866 wären ohne den Verkauf von Eisenbahnaktien angesichts der innenpolitischen Lage nur schwer zu finanzieren gewesen. Der Verkauf von Eisenbahnanteilen durch den preußischen Staat war in erster Linie fiskalisch motiviert. Wirtschaftsordnungspolitisch bedeutsamer war die Konzessionierungspraxis von privaten Bahngesellschaften unter von der Heydts Nachfolger als preußischer Handelsminister, Heinrich von Itzenplitz. Dessen Politik sah ganz im liberalen Interesse eine weitere Verschärfung der Konkurrenz durch die Gründung neuer Eisenbahngesellschaften vor, was von den großen Frachtkunden auch ausdrücklich begrüßt wurde. Vorstand des Bergbaulichen Vereins Essen zur Ausweitung der Bahnkonkurrenz E. Adolph, Ruhrkohlenbergbau, Transportwesen und Eisenbahntarifpolitik, in: Archiv für Eisenbahnwesen 50 (1927), S. 719.
III. „Entstaatlichung“ der 1860er Jahre
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In den Kreisen der Eisenbahnverwaltungen ist trotz vielfacher noch unerfüllter Wünsche seit einigen Jahren ein bereitwilliges Entgegenkommen gegen die Steinkohlen-Bergbauindustrie nicht zu verkennen. Der nächste Grund dieser Umstimmung ist ohne Zweifel in der zunehmenden Konkurrenz zu suchen, welche es den Produzenten endlich hie und da möglich gemacht hat, ihre Produkte je nach den offerierten Transportbedingungen der einen oder anderen Bahn zuzuwenden, und namentlich ist es der Eintritt der Rheinischen Bahn in das Schienennetz des Ruhrbezirkes, welcher schon jetzt von den wohltätigen Folgen für die Verkehrsverhältnisse derselben begleitet gewesen ist.
Da in Sachsen zu derselben Zeit eine ganz ähnliche Politik betrieben wurde, war fast ganz Norddeutschland von einem Netz konkurrierender Eisenbahnstrecken überzogen. Diese Konkurrenz bewirkte eine nochmalige Beschleunigung des Bautempos. Doch bevor alle in den sechziger Jahren konzessionierten Strecken eröffnet werden konnten, sorgte die auf den „Gründerboom“ folgende Depression für ein rapides Absinken des Verkehrsaufkommens. Für viele der kleineren Bahngesellschaften war diese Krise exis-
Eisenbahnverstaatlichung in Sachsen
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
tenzgefährdend – zumal wenn noch nicht alle Strecken eröffnet waren. Um den Zusammenbruch zahlreicher privater Bahngesellschaften zu verhindern, kaufte der sächsische Staat Mitte der siebziger Jahre die privaten sächsischen Bahnen auf und kam damit den Bestrebungen des neu gegründeten Reiches und seines Kanzlers Fürst von Bismarck zuvor, der die deutschen Eisenbahnen für das Reich verstaatlichen wollte. Ende der siebziger Jahre folgte auch Preußen dem sächsischen Beispiel nach heftigen politischen Auseinandersetzungen und verstaatlichte nach und nach die wichtigsten Bahngesellschaften. Die Unübersichtlichkeit der Tarife, die unkoordinierte Bauweise, schlechte Abstimmungen der Fahrpläne sowie die Vernachlässigung peripherer Räume bei der Erschließung hatten schließlich auch viele Industrielle zu einem Umdenken bewegt. Das Misstrauen gegenüber einem starken staatlichen Engagement in der Wirtschaft war aber gleichwohl noch weit verbreitet.
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Otto v. Bismarck zu staatlichem Wirtschaftsengagement Ziegler, Eisenbahn und Staat, S. 187, 223. Während Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen vermöge ihres […] Staatsbahnbesitzes einer einheitlicheren Gestaltung ihrer Eisenbahnen in Anlage, Betrieb und Verwaltung sich erfreuen, zerfällt in Preußen […] das Eisenbahnnetz in 63 Einzelgebiete mit 50 Vorständen, darunter 49 Privatbahn-Unternehmungen mit 40 mehr oder weniger autonomen Vorständen. […] Die Zersplitterung des Eisenbahnnetzes durch die Privatindustrie und die […] spekulative Tendenz der letzteren hat aber – neben vielen anderen Mißständen – zur Folge: eine unnötige Verteuerung der Betriebskosten und damit der Tarife durch die zahlreichen, kostspieligen Verwaltungsstellen […], mangelhafte Ausnutzung des Betriebsmaterials und die überflüssigen Doppelbauten; eine […] mangelhafte Leistungsfähigkeit der Bahnen für die Zwecke des allgemeinen Verkehrs und der Landesverteidigung; das Tarifchaos […]; aus unberechtigten Konkurrenzinteressen gelähmte direkte Verbindungen in den Zügen und in den Verkehrsbeziehungen.
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Gustav v. Mevissen (1815 – 1899), Unternehmer, zu staatlichem Wirtschaftsengagement Welche Machtfülle muß aus der Verfügung über diese immense, mit ihren Familien 2 Millionen Köpfe umfassende Beamten- und Arbeiterschar entspringen, welche ihrerseits die produzierende und distribuierende Tätigkeit unseres Volkes auf weiten Gebieten beherrscht! Eine solche Machtfülle in einer Hand konzentriert, droht die Harmonie der Kräfte im Deutschen Reiche aufzuheben und die Befürchtung liegt nur zu nahe, daß dadurch auf dem wirtschaftlichen Gebiete jener Absolutismus wieder ins Leben gerufen werden könnte, welche die Kulturstaaten Europas auf politischem Gebiete nur nach harten Kämpfen in feste verfassungsmäßige Schranken eingedämmt haben.
Eisenbahnverstaatlichung in Preußen
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Tatsächlich ging der preußische Staat seit den achtziger Jahren daran, das Netz dort zu verdichten, wo die privaten Bahngesellschaften wegen des absehbar geringen Verkehrsaufkommens zurückhaltend geblieben waren. Die
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex
III.
Kosten des staatlichen Bahnbaus wurden durch die enormen Gewinne aufgebracht, welche die preußischen Staatsbahnen bis zum Ersten Weltkrieg abwarfen. Im Gegenzug war es aber auch mit den Tarifsenkungen vorbei. Produktivitätsfortschritte wurden kaum noch über Preissenkungen an die Kunden weitergegeben, sondern in wenig rentable Bahnstrecken investiert, von denen sich die Regierung eine Belebung der regionalen Wirtschaft erhoffte. Obwohl der süddeutsche Raum überwiegend von Staatsbahnen erschlossen worden war, beschleunigte auch hier der Konkurrenzgedanke den Bahnbau nicht unerheblich. Südlich des Mains waren es aber von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht private Bahngesellschaften, die gegeneinander konkurrierten, sondern die Staatsbahnsysteme der Mittelstaaten. Insbesondere Baden, Württemberg und Bayern waren jeweils bemüht, möglichst viel Verkehr über ihr Staatsgebiet zu lenken und eine Umgehung auf jeden Fall zu vermeiden. Deshalb bemühte sich jeder Staat darum, als erster den Anschluss nach Norden herzustellen. Auch hier mangelte es – ähnlich wie beim privaten Bahnbau – an der Koordination. So wurden zwar bis zum Beginn der fünfziger Jahre drei parallele Nord-Süd-Strecken gebaut. Bis eine Ost-West-Verbindung dieser drei Strecken realisiert wurde, dauerte es aber fast zehn Jahre. Im Gegensatz zu den preußischen waren die Staatsbahnen der süddeutschen Staaten in der Zeit des Kaiserreichs allerdings nicht sehr rentabel. Deshalb fiel der Süden bei der Verdichtung des Netzes ein wenig hinter den Norden zurück. Dennoch kann auch den süddeutschen Staaten und Sachsen nicht abgesprochen werden, dass sie versuchten, durch verkehrsinfrastrukturelle Vorleistungen einen Beitrag zur nachholenden Industrialisierung auch peripherer Räume zu leisten. Aus diesen Gründen blieb das Tempo des Bahnbaus bis zum Ersten Weltkrieg in ganz Deutschland recht hoch, auch wenn er in der Zeit des Kaiserreichs nicht mehr die „Lokomotivfunktion“ wahrnehmen konnte wie im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts.
1.2. Der Steinkohlenbergbau Die steigende Nachfrage nach Energie im Zeitalter der Eisenbahn ist sicherlich eine wesentliche Erklärung für das Wachstum des Steinkohlenbergbaus. Es erscheint aber zweifelhaft, ob unter den institutionellen Rahmenbedingungen des vorliberalen „Bergregals“ die Wachstumsimpulse durch die Nachfragesteigerung wirklich so hätten umgesetzt werden können, wie es seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts insbesondere im Ruhrgebiet und in Oberschlesien, aber auch in den anderen Steinkohlerevieren an der Saar, in Niederschlesien, Sachsen und im Aachener Revier tatsächlich geschehen ist. So wie die Liberalisierung der Verfügungsrechte über Boden und Arbeitskraft eine notwendige Bedingung für die Agrarrevolution gewesen ist, so stellte die Liberalisierung des Bergrechts eine notwendige Bedingung für die ausreichende Bereitstellung inländischer Energie im Eisenbahnzeitalter dar.
Bergregal
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Im Gegensatz zu Landwirtschaft und Gewerbe wurde der Bergbau durch die großen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts zunächst allerdings nicht berührt. Das Bergregal, welches das Verfügungsrecht über die im Boden vorhandenen Mineralien allein dem Territorialherren zusprach, blieb unangetastet. Danach konnte der Territorialherr das Abbaurecht zwar an Interessenten verleihen und dafür Abgaben erheben, aber ein freies Unternehmertum konnte sich unter diesen Bedingungen nicht entwickeln.
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Rividierte Bergordnung für das Fürstentum Cleve, Fürstentum Meurs und für die Grafschaft Mark, Caput XXIX H. Brassert (Hg.), Berg-Ordnungen der preußischen Lande, Köln 1858, S. 856 f. Da es die Erfahrung bezeuget, wie sehr es Bergwerks-Liebhabern zum Schaden und Nachtheil gereichet, wenn ihnen die Einrichtung des Baues auf ihren gemutheten und bestätigten Werken alleinig überlassen, indem sie sich größtenteils auf […] ganz unerfahrene Arbeiter, Steiger und Schichtmeister verlassen müssen […] und um das Geld gebracht werden, […] sollen künftighin unter des Berg-Amtes Direction alle Zechen betrieben und vor denselbigen berechnet werden, und dasselbige, so bald eine Zeche verliehen und bestätiget ist, sich derselbigen sofort annehmen, den Bau darauf reguliren und die dazu nötigen Arbeiter, Steiger und Schichtmeister […] nach Beschaffenheit und Umständen der Zeche ordnen und ansetzen, auch zu Bestreitung der Kosten die Zubuße ausschreiben.
An diesem Grundprinzip hatte sich auch durch die für den preußischen Teil des Ruhrgebiets gültige Bergordnung, die Rividierte Bergordnung für das Fürstentum Cleve, Fürstentum Meurs und für die Grafschaft Mark von 1766, nichts geändert. Sie wurde nach der territorialen Neuordnung auch auf die im 18. Jahrhundert noch nicht preußischen Abbaugebiete ausgedehnt und blieb bis 1850 trotz ihres offenkundig merkantilistischen Charakters weitgehend unverändert in Kraft. In Schlesien war die Rechtslage im Grundsatz zwar ähnlich, aber insgesamt wesentlich komplizierter. Dort hatten bereits die Habsburger das Bergregal für sich beansprucht, trafen dabei aber auf den Widerspruch der Grundherren, die auf ihre älteren Rechte pochten. Nach dem Übergang Schlesiens an Preußen wurde das Gebiet anders als später an der Ruhr nicht einheitlich behandelt, sondern für bestimmte Herrschaften wurden Sonderrechte geschaffen. So verzichtete der preußische Staat im Jahr 1824 für die Herrschaft Pleß, die im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts über die ergiebigsten Gruben in Oberschlesien verfügte, auf jedwede Einflussnahme in Bergbauangelegenheiten, während für das schnell aufholende Gleiwitzer Revier das landesherrliche Bergregal galt. Es verwundert deshalb nicht, wenn auch für außerhalb der Herrschaft Pleß gelegene Gruben in privatem Eigentum die Aufhebung des landesherrlichen Bergregals gefordert und auf dem Gerichtsweg weitgehend durchgesetzt wurde. So existierten in Oberschlesien vor der liberalen Bergrechtsreform der fünfziger und sechziger Jahre fiskalische neben privatwirtschaftlich betriebenen Gruben. An der Saar war die Situation wieder anders. Dort hatte der Landesherr Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken (1718 – 1768) den Steinkohlen-
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III.
bergbau 1751 ganz in staatliche Regie überführt und drei Jahre später jede weitere Steinkohlegewinnung durch Privatpersonen bei hoher Strafandrohung untersagt. Mit der Annexion durch Frankreich wurde an der Saar das französische Berggesetz von 1791 eingeführt, das auch den privatwirtschaftlichen Betrieb von Steinkohlengruben ermöglichte. Tatsächlich wurde aber nur eine Grube privatisiert. Die französische Bergrechtsreform von 1810 hatte insofern für das Saarrevier kaum eine Bedeutung, weil der Saarbergbau weiterhin überwiegend im Staatseigentum verblieb. Es war deshalb auch in der preußischen Zeit bis 1865 gültig. Abseits der staatlichen Aktivitäten gehörte der Bergbau zu den ersten Wirtschaftsbereichen überhaupt, in denen sich dauerhafte Gesellschaftsformen entwickelt hatten. Denn die Errichtung von Stollen zum Abbau der unter der Erde vermuteten Kohlevorkommen war mit einem extrem hohen Risiko verbunden und erforderte Investitionen, welche die finanziellen Möglichkeiten eines Einzelunternehmers in der Regel weit überschritten. Deshalb schlossen sich mehrere meist kleine, Bergbau oft nur im Nebengewerbe ausübende Gewerbetreibende zu einer bergrechtlichen Gewerkschaft zusammen. Bergrechtliche Gewerkschaft Dabei handelte es sich um eine genossenschaftliche Gesellschaftsform, in der die Kosten von Investitionen und Betrieb ebenso wie die Erträge anteilsmäßig auf die Anteilseigner („Gewerke“) umgelegt wurden. Die Haftung war unbeschränkt, so dass für den Fall, dass die Erträge die Aufwendungen nicht deckten, die Gewerke diese Unterdeckung ausgleichen mussten („Zubuße“). Das Bergwerkseigentum war in Preußen in der Regel in 130 Anteile („Kuxe“) geteilt, von denen 128 Zubußepflichtige von den Gewerken gehalten wurden. Zwei Freikuxe erhielt der Landesherr.
Das Risiko des privatwirtschaftlichen Kohlenbergbaus wurde in der Frühneuzeit aber nicht nur auf mehrere Schultern verteilt, sondern es wurde auch begrenzt, weil die Unternehmensführung nicht bei den Anteilseignern („Gewerken“) lag, sondern von erfahrenen Fachleuten der zuständigen Bergbehörden wahrgenommen wurde („Direktionsprinzip“). Nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 wurden die Gewerke bei Investitionsentscheidungen lediglich beratend hinzugezogen. Die Preisgestaltung der Gruben eines Abbaugebietes erfolgte nicht durch den Wettbewerb. Die Kohlepreise wurden vielmehr von den Bergbehörden gestaffelt so festgelegt, dass auch ungünstig gelegene Gruben ihre Absatzchancen erhielten. Mit der steigenden Brennstoffnachfrage erwies sich der traditionelle Stollenbau als nicht mehr angemessen, um die Wachstums- und Gewinnchancen zu realisieren. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde im damals größten Abbaugebiet an der Ruhr damit begonnen, statt vom Hang aus durch Stollen nun von der Oberfläche aus mit senkrechten Schächten bis zu den Kohlenflözen vorzustoßen. Dabei musste das grundwasserführende Mergeldeckgebirge durchstoßen werden, das die Kohle überlagerte. Die für die Wasserförderung und für die Förderung in den Schächten notwendigen Dampfmaschinen erforderten einen sehr hohen Investitionsaufwand. Das technische Verfahren war schon seit längerem bekannt. In Oberschlesien
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Direktionsprinzip
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III.
Forderung nach „Bergbaufreiheit“
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war bereits Ende des 18. Jahrhunderts die erste Dampfmaschine im Tarnowitzer Bleibergbau in Betrieb genommen worden. Kurze Zeit später kam auch in Westdeutschland auf der Saline Königsborn bei Unna die erste Dampfpumpe zum Einsatz. Die anschließend begonnenen Versuche des Dampfpumpeneinsatzes im Kohlenbergbau waren aber nicht erfolgreich und wurden deshalb von den zuständigen Bergbehörden auch nicht energisch weiter betrieben. Über die Frage der Unternehmensführung kam es im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zu heftigen Konflikten zwischen einigen Großgewerken und den Bergbehörden. Den regionalen Schwerpunkt dieser Konflikte bildete das Ruhrgebiet, wo sich einige Großgewerke, marktorientierte Großkaufkeute und Unternehmer wie Friedrich Harkort, Franz Haniel (1779 – 1868) und Mathias Stinnes (1790 – 1845) die Investitionspolitik ihrer Gruben nicht mehr von zaudernden Beamten vorschreiben lassen wollten. Die Konfliktlinien waren in dieser Frage ähnlich gezogen wie in der Frage der Gewerbefreiheit ein Vierteljahrhundert zuvor. Unterstützung bekamen die Großgewerke von wesentlichen Teilen der Bürokratie, insbesondere von der höheren Provinzialverwaltung, während sich die kleinen Gewerke aus Angst vor den Folgen des freien Wettbewerbs den Forderungen nach „Bergbaufreiheit“ widersetzten und darin von der Mehrheit der Bergbeamten mit Hinweis auf die „staatswirtschaftlichen Interessen“ unterstützt wurden. Die Gegner des Direktionsprinzips erreichten in den dreißiger Jahren zwar noch keine Reform der Bergordnungen, aber immerhin wurde das Direktionsprinzip insofern aufgeweicht, als die Anordnungen der Bergbehörden eher als Empfehlungen und nicht als unbedingt zu befolgende Anordnungen verstanden wurden. So gelang es im Ruhrgebiet 1832 erstmals in Essen, die wasserführende Mergelschicht zu durchstoßen und einen Tiefbauschacht abzuteufen. Etwas anders war die Situation in Oberschlesien und an der Saar, wo der Einfluss des Staates noch stärker war als im Ruhrgebiet. In Oberschlesien verloren die fiskalischen Gruben allerdings in den ersten Boomjahren des Steinkohlenbergbaus, als das Revier zum zweitbedeutendsten in Deutschland aufstieg, deutlich an Bedeutung. Im Jahr 1806 entfielen noch etwa 40 % der Fördermenge auf die fiskalischen und 60 % auf die gewerkschaftlichen Gruben. Bis 1860 sank der Anteil der fiskalischen Gruben dann aber auf knapp 20 % der Fördermenge. Nur an der Saar behauptete sich der Staatsbergbau. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte dort überhaupt nur eine nichtstaatliche Grube. Der Anteil des preußischen (und bayerischen) Staatsbergbaus lag entsprechend bei über 90 % der Steinkohleförderung des Reviers. Gesetz über die Verhältnisse der Miteigentümer eines Bergwerks, 12. 5. 1851 Gesetzsammlung f. d. Kgl. Preuß. Staaten 1851, S. 265 ff. Die Verhältnisse der Miteigentümer eines Bergwerks (der Gewerke) unter sich sind nach dem unter ihnen bestehenden Vertrage […] zu beurteilen. […] Die Gewerke fassen ihre Beschlüsse nach den Anteilen, nicht nach den Personen. […] Wenn ein Bergwerk mehreren Personen verliehen ist, […] so sind dieselben ver-
66
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex
III.
pflichtet einen Repräsentanten zu bestellen […] [oder] einen aus zwei bis zu fünf Personen bestehenden Grubenvorstand aus ihrer Mitte [zu] erwählen […] und der Bergbehörde namhaft zu machen. Den Repräsentanten oder Grubenvorständen liegt […] die Besorgung folgender Geschäfte ob: die Verhandlungen mit der Bergbehörde, […] die Wahl der Grubenbeamten, […] die Annahme und Entlassung der Arbeiter, […] die Mitwirkung bei der Bestimmung der Verkaufspreise für die Produkte des Bergwerks.
Den Durchbruch erzielten die Verfechter der „Bergbaufreiheit“ erst 1851, als mit dem Miteigentümergesetz das Direktionsprinzip endgültig abgeschafft wurde. Gleichzeitig wurden die Abgaben deutlich reduziert, weil für die Bergbehörden nun auch die kaufmännisch-technischen Aufgaben entfielen. Wie sehr die „Bergbaufreiheit“ ein Ziel allein der großen Gewerke war, zeigt die Tatsache, dass die kleineren Gewerkschaften wegen des Mangels an eigenem geeigneten technischen und kaufmännischen Personal keinerlei Eile damit hatten, in die „Freiheit entlassen“ zu werden. So hatten über ein Jahr nach der Reform im Raum Essen-Bochum erst 15 Zechen die Leitung selber übernommen, während 137 meist kleinere Zechen noch von der Bergbehörde geführt wurden. „Bergbaufreiheit“ war mit der Übernahme der Unternehmensleitung aber auch für die großen Gewerkschaften noch nicht erreicht. Denn selbst wenn die Preisbildung nun nach den Regeln eines Wettbewerbsmarktes erfolgte, wurden die Löhne weiterhin von den Bergämtern festgelegt. Gegen den heftigen Widerstand der betroffenen Bergleute wurde der freie Arbeitsvertrag im preußischen Bergbau erst 1860 durch das so genannte Freizügigkeitsgesetz eingeführt. Abgeschlossen wurde der Reformprozess des Bergrechts in Preußen durch das Allgemeine Berggesetz im Jahr 1865, das die Tätigkeit der Bergbehörde im Wesentlichen auf die bergpolizeiliche Aufsicht beschränkte. Damit war „an die Stelle des Direktionsprinzips, nach welchem der Bergbehörde eine vorwiegend entscheidende Mitwirkung bei der Benutzung und Verwaltung des verliehenen Bergwerkseigentums zustand, das bloße ,Inspektionsprinzip‘ getreten“, wie es eine Festschrift aus dem Jahr 1904 treffend formulierte. Ihr Ziel sahen die Bergämter seitdem nur noch darin, die schrankenlose Nutzung des Eigentums einzudämmen, wenn diese die Sicherheit des Baus, Leben und Gesundheit der Arbeiter und die Oberfläche gefährdete und gemeinschädliche Folgen des Bergbaus wie die Grundwasserabsenkung zu erwarten waren. Für die Investitionen, die der Tiefbau erforderte, war die Unternehmensform der bergrechtlichen Gewerkschaft kaum geeignet. Die Kuxe waren als Eigentumstitel außerordentlich immobil. Zu den Zeiten, als die angesessenen kleinen Kuxenbesitzer noch selber im Stollen arbeiteten, war eine Eigentumsübertragung außer im Erbfall auch kaum erforderlich. Mit der Trennung von bergmännischer und kaufmännischer Tätigkeit stieg aber bereits die Notwendigkeit, Eigentumsübertragungen zu erleichtern. Besonders drängend wurde das Problem, als der Tiefbau in großem Umfang fremdes Kapital
Preuß. Miteigentümergesetz (1851)
Gewerkschaft neuen Rechts
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Anhaltende Investitionshemmnisse
68
erforderte. Für mögliche Investoren wurde die Übertragbarkeit der Kuxe und die Entstehung eines Kuxenmarktes für die Investitionsentscheidung immer wichtiger. Außerdem haftete jeder einzelne Kuxenbesitzer unbegrenzt für die Gesamtheit aller Kuxenbesitzer. Wegen des damit verbundenen Risikos musste jeder Kuxenbesitzer entweder ein Interesse an einer Unternehmensführung durch die vorsichtigen Bergbeamten haben oder er musste selber mit dem Unternehmen eng verbunden sein. Außenstehende riskierten die Investition in den Bergbau unter diesen Bedingungen nur sehr zögerlich. Schließlich konnte nur jeder Kuxenbesitzer als einzelner seinen Anteil hypothekarisch verpfänden, nicht aber die Gewerkschaft als ganzes, die als eigentumsrechtliche Figur gar nicht existierte. Damit war auch die Kreditaufnahme erheblich erschwert. Das Miteigentümergesetz von 1851 reformierte auch einige dieser Schwächen. Indem es den Bergbauunternehmen die Nutzung ihres Eigentums übergab, konstituierte es gleichzeitig die Gewerkschaft als juristische Person. Trotzdem bemühten sich in den fünfziger Jahren zahlreiche Bergbauunternehmer um die Konzession für die Gründung einer Aktiengesellschaft. Aber auch diese Unternehmensform erwies sich zunächst als nicht sehr glücklich. Nach dem preußischen Aktiengesetz von 1843 durfte die Konzession für die Gründung einer Aktiengesellschaft nur erteilt werden, wenn diese dem höheren Interesse des Gemeinwohls diente. Was im höheren Interesse des Gemeinwohl lag, war weitgehend in das Belieben der Genehmigungsbehörden gestellt und wurde nach 1843 bis zur Liberalisierung des Aktienrechts 1870 recht unterschiedlich ausgelegt, meistens wurde jedoch eine restriktive Politik verfolgt. Da der Aktienmarkt ohnehin eine Tendenz zu großen zyklischen Ausschlägen besitzt, wurde die Tendenz zum Gründungs- und damit auch zum Aktienboom durch die schwankende Konzessionierungspraxis noch angeheizt. Auf diese Weise kamen in Boomphasen zahlreiche Investoren in den Besitz von Bergbauaktien, die keinerlei Beziehung zum Unternehmen und auch kein Interesse an einer langfristigen Festlegung ihrer Mittel besaßen. Sie zeichneten Bergbauaktien in der Erwartung steigender Kurse. Wenn diese Entwicklung eintrat, realisierten sie ihre Kursgewinne, indem sie ihre Aktien wieder verkauften. Brach der Boom dann wegen der überspannten Erwartungen und der beginnenden Flucht aus dem Markt für Bergbauaktien zusammen, war frisches Kapital über den Kapitalmarkt nur schwer zu beschaffen. Erwies sich dann auch noch die Errichtung der geplanten Tiefbauzeche als kostspieliger als erwartet, drohte die Fertigstellung der Grube bis zur Abbaureife wesentlich verzögert zu werden, wodurch die Investitionen überhaupt gefährdet waren. Das wiederum ließ die Kreditwürdigkeit der Aktiengesellschaft mit ihrer beschränkten Haftung ins Bodenlose sinken. Wegen dieser Schwierigkeiten verlegten sich zahlreiche Bergbauunternehmer in den sechziger Jahren doch wieder auf die bergrechtliche Gewerkschaft, die Krisenjahre mit Hilfe der Zubuße besser überstehen konnte. Allerdings reichte die Reform des Jahres 1851 noch nicht aus, um diese Unternehmensform zu einer echten Alternative der Aktiengesellschaft aufzubauen. Deshalb ließ der Staat im Interesse großer Kapitaleigner 1865 auch eine Gewerkschaft neuen Typs zu, deren Anteile im Falle von Verlusten zwar wei-
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex
III.
terhin zubußepflichtig waren, die aber insbesondere die Kreditaufnahme wesentlich erleichterte. Tabelle 4: Die preußische Steinkohlenproduktion 1817 – 1910 Jahr
in Mio. t
1817 1820 1825 1830 1835 1840 1845 1850 1855 1860
1,0 1,0 1,3 1,4 1,7 2,5 3,6 4,0 7,9 10,3
Wachstums- Jahr rate
27 % 9% 21 % 46 % 43 % 14 % 96 % 30 %
1865 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910
in Mio. t
Wachstumsrate
18,6 23,3 33,4 42,2 52,9 64,4 72,6 102,0 113,0 144,0
80 % 25 % 43 % 26 % 25 % 22 % 13 % 40 % 11 % 27 %
Tabelle 5: Die Anteile der Reviere an der preußischen Steinkohleproduktion (in %) Jahr
Ruhr
Oder
Saar
Sonstige
1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900
40 39 38 40 41 50 53 55 59
14 15 22 24 24 25 24 26 24
13 18 19 18 21 18 14 12 11
33 28 21 18 14 12 9 7 6
Die Tabellen erfassen nur den preußischen Steinkohlenbergbau, weil Daten für das Gebiet des Deutschen Zollvereins erst ab 1860 vorliegen. Da in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerhalb Preußens nur etwa 10 % der Zollvereinsproduktion gefördert wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Daten für Preußen eine gewisse Repräsentativität für den Zollverein insgesamt besaßen. Das einzig nennenswerte Revier außerhalb Preußen war das westsächsische, ansonsten gab es nur kleinere Vorkommen in Schaumburg, Meiningen, Baden, Bayern und der Rheinpfalz. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag der Anteil dieser Reviere vermutlich zwischen 10 % und 20 %. Quelle: eigene Berechnungen nach R. Banken, Die Industrialisierung der Saarregion, Bd. 2, Anhang: Tab. A8.
Wie Tab. 4 zeigt, begann der Aufschwung des Steinkohlenbergbaus in Preußen bereits vor dem ersten Liberalisierungsschritt im Jahr 1851. So weisen bereits die zweite Hälfte der dreißiger Jahre und die erste Hälfte der vierziger Jahre kräftige Wachstumsraten auf. Dieses frühe Datum lässt sich wohl
Produktionswachstum
69
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Rolle der Bergverwaltungen
Boom der 1850er Jahre
70
nur so erklären, dass mit der Aufnahme des Tiefbaus eine bereits vorher bestehende Nachfrage befriedigt werden konnte. Eine Ausweitung des Marktes durch die Verbesserung und Verbilligung der Transportbedingungen mit dem Bau von Eisenbahnen scheidet zu diesem Zeitpunkt noch als Erklärung aus. Denn der Transport von Steinkohle war bei den ersten Bahnprojekten gar nicht in Erwägung gezogen worden und war bis in die fünfziger Jahre hinein auch nur sehr gering entwickelt. Für eine nennenswerte Erweiterung der Absatzmärkte waren die Frachttarife einfach noch zu hoch. Die Ruhrkohle und die oberschlesische Kohle profitierte dann aber später davon, dass die traditionellen Nachfrager nach Transportdienstleistungen (Handelsgüter und Personenverkehr) ein ausreichendes Verkehrsaufkommen sicherstellten, um die Herstellung der Strecken zu ermöglichen. Durch die folgenden Produktivitätszuwächse wurden Ermäßigungen der Frachttarife möglich, welche die Eisenbahn auch für billige Massengüter wie die Steinkohle attraktiv machten. Auch die institutionelle Innovation des Miteigentümergesetzes scheidet als Erklärung für diesen ersten Aufschwung noch aus. Denn das Gesetz wurde erst 1851 erlassen. Insofern ist der Bewertung des Wirtschaftshistorikers Carl-Ludwig Holtfrerich für das Ruhrgebiet zuzustimmen, der bereits im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts die Tendenz zu einer größeren Selbständigkeit der Unternehmer von den Bergbeamten feststellt und die Reformgesetze insofern als die nachholende Institutionalisierung einer schon weitgehend bestehenden Praxis interpretiert. Allerdings zeigt auch der Vergleich des Ruhrgebiets mit den beiden anderen bedeutenden preußischen Revieren an der Saar und in Oberschlesien, wo es zahlreiche Gruben in Staatsbesitz gab, dass auch die preußische Bergverwaltung den Neuerungen des Tiefbaus in den dreißiger Jahren durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. So war den preußischen Bergbeamten an der Saar bereits 1816 klar, dass in einzelnen Gruben nur dann weiterhin Kohleproduktion möglich war, wenn man zum Tiefbau und zum Einsatz von Dampfmaschinen überging. Der erste Tiefbauschacht wurde deshalb vom preußischen Fiskus dort bereits 1826 angelegt. Weitere Tiefbaubauschächte folgten dann in den dreißiger und vierziger Jahren, so dass der preußische Staatsbergbau 1850 bereits über sechs Gruben mit zwölf Tiefbauschächten verfügte. In Oberschlesien waren die Abbauverhältnisse wesentlich günstiger als in den anderen Revieren. Entsprechend lagen auch die Produktionskosten mit etwa 4 Mark pro Tonne (1850) deutlich niedriger als an Saar und Ruhr, wo die Steinkohle zu dieser Zeit zu etwa 6,25 Mark pro Tonne gefördert wurde. Die für den Abbau günstige geologische Struktur wurde allerdings durch die ungünstige Lage Oberschlesiens und die hohen Transportkosten zu den Verbrauchern außerhalb des Reviers zunächst weitgehend wieder wettgemacht. Erst dank der Erschließung des Reviers mit der Eisenbahn und der Senkung der Transportkosten für Steinkohle konnten größere Märkte außerhalb des Reviers erschlossen werden. Das mit Abstand größte Wachstum erzielte der deutsche Steinkohlenbergbau während der fünfziger und sechziger Jahre. Zwischen 1848 und 1864 hatte sich die Zahl der im Bergbau Beschäftigten in den sechs wichtigsten
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex deutschen Steinkohlenbecken in Rheinland-Westfalen, an der Saar, in Sachsen und in Schlesien auf knapp 100.000 Arbeiter fast verdreifacht. Da durch die Einführung der neuen Techniken gleichzeitig die Arbeitsproduktivität deutlich gestiegen war, hatte sich im selben Zeitraum die Menge der geförderten Steinkohle sogar mehr als vervierfacht. Der wichtigste Grund für den Anstieg in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre dürfte in der Liberalisierung des Bergrechts zu sehen sein. In dieser Zeit verdoppelte sich die Steinkohleproduktion Preußens nahezu. Nach einer kurzen, aber heftigen Krise Ende der fünfziger Jahre, stieg die Steinkohleproduktion Preußens in der ersten Hälfte der sechziger Jahre dann noch einmal kräftig an (s. Tab. 4), wobei das Ruhrgebiet diesmal das mit Abstand größte Wachstum aller preußischen Reviere aufwies. Beim Aufschwung der fünfziger Jahre waren alle drei großen preußischen Reviere noch in etwa im Gleichschritt vorangekommen und hatten alle anderen Reviere deutlich hinter sich gelassen. In den sechziger Jahren hatte dagegen nur Oberschlesien seinen Anteil von etwa 25 % an der preußischen Steinkohleproduktion halten können, während die Anteile aller anderen Reviere zugunsten des Ruhrgebiets zurückgingen (s. Tab. 5). Der Grund für diesen Aufschwung des Ruhrgebiets und – mit etwas Abstand – auch Oberschlesiens lag in der wachsenden Bedeutung der Eisenbahnen für den Steinkohlenbergbau und der daraus folgenden Markterweiterung. Durch die Verbilligung der Kohlentransporte gelang es zunächst der schlesischen Steinkohle seit den fünfziger Jahren, die englische Importkohle auf den mitteldeutschen Märkten zu verdrängen. Seit den sechziger Jahren eroberte daneben auch die Ruhrkohle mittel- und norddeutsche Märkte. Lediglich in den Küstenstädten konnte die englische Kohle zur Reichsgründungszeit der deutschen Kohle noch erfolgreich Paroli bieten. Gleichzeitig wurde der Zollverein zu einem der größten Steinkohleexporteure Europas. Die Steinkohleexporte glichen deshalb die Importe britischer Steinkohle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur aus, sondern erzielten darüber hinaus zum Teil erheblich Exportüberschüsse und trugen damit zur Verbesserung der Handelsbilanz bei.
III.
Bedeutung der Eisenbahn
1.3. Die Eisen- und Stahlindustrie Eisen und Stahl wurden in Westeuropa seit dem späten Mittelalter in zwei Stufen hergestellt. Die erste Stufe bestand in der Verhüttung des Eisenerzes zu Roheisen. Dieses Metall war aber für die meisten technischen Anwendungen ungeeignet. Es war spröde und brüchig, so dass es sich weder schmieden noch walzen ließ. Für den Endverbrauch musste das Roheisen weiter verarbeitet werden, um den Eisenanteil des Metalls zu erhöhen und die Verunreinigungen, insbesondere den Kohlenstoffanteil, durch Oxidation zu verringern („Frischen“). Traditionellerweise wurde die Verringerung des Kohlenstoffanteils durch die Verwendung von Frischhämmern erreicht. Nach dem heutigen Verständnis wird der Werkstoff als „Stahl“ bezeichnet, wenn der Kohlenstoffanteil auf weniger als 1,7 % sinkt. Nach dem zeitgenössischen Verständnis hatte „Stahl“ jedoch einen Kohlenstoffanteil von um
71
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III. Vorindustrielle Eisenerzeugung
Oberschlesien
E
72
1 %. Lag der Kohlenstoffanteil über 1,6 %, handelte sich um „Gusseisen“, bei deutlich unter 1 % Kohlenstoffanteil um „Schmiedeeisen“. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Eisenerzeugung in Deutschland regional weit gestreut. Für die Standorte der Eisenerzeugung bildete in der Regel die räumliche Nähe zu den Eisenerzvorkommen und die billige Verfügbarkeit von Holz den entscheidenden Vorteil. Für die Weiterverarbeitung des Eisens waren Flüsse und größere Bäche eine Standortvoraussetzung, da Wasserkraft als Antriebsenergie für die Hammerwerke benötigt wurde. Eisenerzeugung und Verarbeitung siedelten sich deshalb vorzugsweise in stark bewaldeten und wasserreichen Mittelgebirgsregionen an wie im Hunsrück, in der Eifel, im Thüringer Wald, im Erzgebirge, im Harz, im Sauerland, im Siegerland und dem benachbarten nassauischen Lahn-Gebiet. Diese Zentren der Roheisenerzeugung und Verarbeitung waren überall kleingewerblich strukturiert. Dabei gab es nur eine Ausnahme. In Oberschlesien war der Erzbergbau schon 1766 vom Bergregal ausgenommen worden. Mit der tatkräftigen Unterstützung der staatlichen Verwaltung entwickelten die dortigen Großgrundbesitzer, vielfach Adlige, ein großes Interesse an der Eisenproduktion, zumal auch in Oberschlesien reichlich Holz vorhanden war. Bereits 1804 existierten in Oberschlesien 49 Hochöfen und 158 Frischfeuer. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert lag der Anteil Oberschlesiens an der preußischen Roheisenproduktion vermutlich bei mehr als einem Drittel. Obwohl die Daten für diese frühe Zeit sehr lückenhaft sind, dürfte keine andere Eisen erzeugende Region auch nur in die Nähe dieses Wertes gekommen sein. In Oberschlesien wurden wie an allen anderen deutschen Standorten die Hochöfen allerdings noch ausschließlich mit Holzkohle befeuert. Erste Experimente mit einem schottischen Kokshochofen auf der staatlichen Hütte in Gleiwitz im Jahr 1796 waren nicht erfolgreich und so wurde dieses in Großbritannien längst erfolgreiche Verfahren zur Roheisengewinnung zunächst nicht weiter verfolgt. Koks Die Verkokung von Steinkohle wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England entwickelt. Im Jahr 1740 wurde dort erstmals ein Hochofen mit Koks beschickt. Steinkohle selbst ist als Brennstoff bei der Eisenproduktion im Hochofen ungeeignet, weil das gewonnene Eisen durch Rauch und Ruß verunreinigt würde. Deshalb erforderte die Substitution der Holzkohle durch Steinkohle in der Eisenproduktion mit der Verarbeitung von Kohle zu Koks einen Zwischenschritt: In der Kokerei wird die Steinkohle unter Luftabschluss erhitzt, so dass sich die flüchtigen Bestandteile entfernen. Zurück bleibt als fester Bestandteil der hoch kohlenstoffhaltige Koks. Bis etwa 1870 wurde nur ein kleiner Anteil der Steinkohleförderung zu Koks verarbeitet, weil ein Drittel der Kohle beim Verkoken verloren ging. Durch die Verkokung mit Eigengasen in Coppéöfen wurde der Kohleverbrauch in den siebziger Jahren so sehr gesenkt, dass seitdem bis zu 15 % der Kohleförderung in die Koksproduktion gingen. Seit den achtziger Jahren wurden sogar Überschussgase gewonnen. Das Kokereigas diente seit der Mitte des 19. Jahrhunderts als „Stadtgas“ für Beleuchtungs- und Heizzwecke und um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde es daneben auch zum Antrieb von Gasdynamomaschinen zur Produktion von elektrischer Energie eingesetzt.
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex Auch im späteren Ruhrgebiet und an der Saar entstanden bereits im 18. Jahrhundert die ersten Eisenhütten. An der Ruhr lief die Produktion jedoch nur schleppend an, weil weder das Eisenerz noch die Holzkohle in der nötigen Menge dauerhaft zur Verfügung standen. Deshalb wurden auch hier um die Jahrhundertwende auf Geheiß des Bergamtes erste Versuche mit Steinkohlen angestellt. Aber auch sie schlugen fehl und wurden zunächst nicht weiter verfolgt. An der Saar, wo auch die meisten Eisenhütten bis zur französischen Besatzung im Eigentum des Landesherren standen, aber von Pächtern betrieben wurden, suchten die staatlichen Stellen die Verwendung von Steinkohle zu erhöhen, um den Holzverbrauch zu senken. Nachdem diese Versuche sich als nicht erfolgreich erwiesen hatten, drängte auch die französische Besatzung auf die verstärkte Verwendung von Steinkohle, indem sie die Vergabe von Konzessionen an diese Bedingung band und den Bezug von Holz erschwerte. Alles im allem verbesserte sich der technische Standard der deutschen Eisenindustrie im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts kaum. Angesichts der Verfügbarkeit von Holz an den meisten Standorten und der insgesamt nur geringfügig steigenden Nachfrage, fehlten zunächst auch die entscheidenden Impulse. Am Vorabend des Eisenbahnzeitalters war der technologische Vorsprung Großbritanniens deshalb größer als je zuvor. Dort hatte der Kokshochofen die Verhüttung auf Holzkohlenbasis schon lange abgelöst und die Stahlherstellung erfolgte durch das Puddelverfahren, dem große Walzwerke angeschlossen wurden, in denen der Stahl zu Schienen ausgewalzt werden konnte.
III.
Der britische Vorsprung
Das Puddelverfahren Das Puddelverfahren, das sich Henry Cort (1740 – 1800) im Jahr 1784 hatte patentieren lassen, stellte im Gefüge der Stahlerzeugung – Hochofen, Frischwerk, Walzwerk – die mittlere Verarbeitungsstufe dar. Es hatte das Ziel, Roheisen mit billiger Steinkohle zu frischen und gleichzeitig mit dem Brennstoff nicht in Berührung zu kommen. Der Puddelofen besaß deshalb eine Feuerbrücke, die das Roheisen von der Kohle trennte. Damit die Flamme ihre oxidierende Wirkung entfalten konnte, musste das flüssige Eisenbad durch den Puddler mit einer Stange kräftig durchgerührt werden. Diese schwere Arbeit unter enormer Hitzeeinwirkung gehörte zu den gesundheitsschädlichsten Tätigkeiten der Industriegeschichte. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Puddlers war kurz. Durch das Entkohlen verfestigte sich das Eisen zu einer breiigen Masse. Darauf wurden größere Stücke herausgelöst, die anfangs mit dem Hammer in Form gebracht wurden. Später wurden sie in einem angeschlossenen Walzwerk ausgewalzt. Die kalibirierten Walzen übernahmen sowohl die Führung des Werkstückes als auch die Formgebung, etwa in der Form von Schienen. Durch das Puddeln und Walzen gelang es in Großbritannien eine Stahlindustrie aufzubauen, die in kurzer Zeit in der Lage war, den Massenbedarf der Eisenbahngesellschaften zu befriedigen.
E
Durch den Eisenbahnbau veränderten sich allerdings auch in Deutschland die Bedingungen grundlegend. Denn während der Eisenbedarf in Deutschland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts nur bei etwa 4 kg pro Einwohner und Jahr gelegen hatte, wurde für den Bau von nur einem Kilometer zwei-
Stahl
73
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Importsubstitution (Schienen)
spuriger Eisenbahn um die Jahrhundertmitte etwa 160.000 kg Eisen benötigt. Der erste Nachfragestoß der Eisenbahnen erfasste die Eisenindustrie im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts allerdings noch nicht auf der ersten Verarbeitungsstufe, der Roheisenproduktion, sondern nur auf der zweiten Stufe, der Stahlproduktion. Nachdem die Schienen für den Bau der ersten Eisenbahnstrecken in Deutschland noch aus dem Ausland hatten importiert werden müssen, gelang es in erstaunlich schneller Zeit, den rasant wachsenden Bedarf zunehmend durch Schienen aus deutscher Produktion zu befriedigen. Die Eisenbahnschiene dürfte deshalb als der erste Fall einer erfolgreichen Importsubstitution in der deutschen Industriegeschichte angesehen werden (s. Tab. 6). Tabelle 6: Herkunft des Schienenbestandes preußischer Eisenbahnen (in %) Jahr
Zollverein
Großbritannien
Belgien
Österreich
1843 1851 1852 1853 1854 1858 1863
10 31 43 48 58 61 85
88 67 56 51 41 38 13
2 2 1 1 1 1 1
1
Quelle: R. Fremdling, Technologischer Wandel, Tab. 57, S. 330.
In rascher Folge entstanden mit dem Eisenbahnbau an der Ruhr, an der Saar und in Oberschlesien vertikal integrierte Puddel- und Walzwerke. Das dafür benötigte Roheisen wurde allerdings bis zur Jahrhundertmitte noch zu einem Großteil importiert. Insbesondere in Westdeutschland lag es nahe, das billigere Koksroheisen aus Großbritannien und Belgien einzuführen und weiter zu verarbeiten, zumal die Einfuhr bis 1844 zollfrei möglich war. Durch diese Entwicklung gerieten die traditionell Eisen produzierenden Regionen ins Hintertreffen. Denn sie hielten an der Holzkohleverhüttung fest, weil die Verfügbarkeit von Holz ihr wichtigster Standortvorteil war. Indem aber durch die Massenproduktion von Eisen eine Entwicklung einsetzte, die nur auf Koksbasis möglich war, spielte der alte Standortvorteil nicht nur eine zunehmend unwichtigere Rolle, sondern die verkehrstechnisch schwierige Erschließung der Mittelgebirge entwickelte sich sogar zu einem entscheidenden Standortnachteil gegenüber den durch das Vorkommen von Steinkohle gesegneten Revieren an Ruhr, Saar und Oder. Langfristig konnte sich von den traditionell kleingewerblichen Eisen produzierenden Standortorten nur das Siegerland behaupten. Das hatte zwar auch etwas mit der räumlichen Nähe des Ruhrgebiets und damit mit der vergleichsweise günstigen Verfügbarkeit von Steinkohle zu tun. Mindestens ebenso wichtig war aber die staatliche Unterstützung für die Region, die sich schon früh durch Sondertarife der verstaatlichten Eisenbahn bemerkbar machte.
74
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex Der Schutz der deutschen Eisenerzeugung vor der scheinbar übermächtigen britischen und belgischen Konkurrenz gehört zu den ersten und wichtigsten zollpolitischen Streitfragen der deutschen Industrialisierungsgeschichte. Tatsächlich wurde Roheisen seit 1844 mit einem Zoll von 25 % belegt. Damit war die alte Philosophie der preußischen Zollpolitik der Reformzeit durchbrochen, für die Industrie wichtige Rohstoffe und Halbfertigwaren nicht mit Schutzzöllen zu verteuern. Dieser Zollschutz reichte aber dennoch nicht aus, um die Holzkohleverhüttung an der traditionellen Standorten zu retten. Er bildete aber andererseits einen Anreiz, nun in den Steinkohlerevieren eine eigene Eisenerzeugung auf Koksbasis aufzubauen. Insofern wird die langfristige Wirkung des Eisenzolls von 1844 in der Forschung durchaus nicht negativ beurteilt. In Tabelle 7 lässt sich die Phasenverschiebung von Stahl- und Roheisenproduktion sehr deutlich ablesen. Während die Stahlproduktion schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine deutliche Beschleunigung erfuhr, die nur durch die krisenhafte zweite Hälfte der vierziger Jahre unterbrochen wurde, um dann in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre ihre absolut höchste Beschleunigung zu erreichen, stieg die Roheisenproduktion bis etwa 1850 nur sehr langsam, um dann ebenfalls in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die höchsten Wachstumsraten in der Industrialisierungsgeschichte des Eisens zu erzielen. Da die Wachstumsraten der Roheisenproduktion seitdem für etwa 15 Jahre höher lagen als die Wachstumsraten der Stahlproduktion, lässt sich vermuten, dass der Roheisenimport seit der Jahrhundertmitte immer weiter zugunsten der Roheisenerzeugung des Zollvereins zurückgedrängt wurde. Tatsächlich sank der Importanteil am Inlandsverbrauch von Roheisen von 34 % im Jahr 1850 auf nur noch etwas über 10 % in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. In dieser Zeit wurden auch entscheidende Produktivitätsfortschritte erzielt, so dass die Kostenvorteile des Importeisens durch die deutsche Hüttenindustrie weitgehend aufgeholt werden konnten. Die sechziger Jahren waren mit dem Bessemerverfahren auch für den technischen Fortschritt in der Stahlherstellung ein wichtiges Jahrzehnt. Alfred Krupp (1812 – 1887) war zu Beginn des Jahrzehnts der erste Patentnehmer in Deutschland. Aber es dauerte noch knapp ein Jahrzehnt, bis das Verfahren beherrscht wurde. In den siebziger Jahren verbreitete es sich dann schnell, so dass es 1873 einen Anteil von 15 % an der gesamten deutschen Stahlproduktion und 1880 sogar einen Anteil von 34 % erreichte. Die Investitionskosten waren noch wesentlich höher als beim Puddelverfahren und deshalb waren nur große Unternehmen oder neue Unternehmen mit starker finanzieller Rückendeckung in der Lage, dieses neue Verfahren zur Stahlproduktion anzuwenden. Insbesondere das Ruhrgebiet setzte wegen der leichteren Verfügbarkeit von phosphorfreiem Roheisen auf diese neue Technologie. 1873 hatte allein Krupp 18 Bessemerkonverter aufgestellt, und die Eisen- und Stahlwerke Hoesch sowie die Rheinischen Stahlwerke wurden Anfang der siebziger Jahre als reine Bessemerstahlwerke gegründet. Das Bessemerverfahren Das Bessemerverfahren, das sich Henry Bessemer (1813 – 1898) im Jahr 1856 hatte patentieren lassen, stellte im Vergleich zu dem arbeitsaufwändigen Puddel-
III. Zollschutz für Roheisen
Massenproduktion von Stahl
E 75
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Tabelle 7: Die preußische Roheisen- und Stahlerzeugung 1825 – 1910 Jahr
Roheisen in 1000 t
Wachstumsrate
Stahl in 1000 t
Wachstumsrate
1825 1830 1835 1840 1845 1850 1855 1860 1865 1870 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910
49 58 84 108 106 135 301 394 772 1.155 1.393 2.053 2.665 3.289 3.779 5.782 7.107 9.995
18 % 45 % 29 % –2% 27 % 123 % 31 % 96 % 50 % 21 % 47 % 30 % 23 % 15 % 53 % 23 % 41 %
30 41 53 93 142 150 317 352 611 916 1.346 1.731 2.348 3.187 4.346 6.275 8.557 10.797
37 % 29 % 75 % 53 % 6% 111 % 11 % 74 % 50 % 47 % 29 % 36 % 36 % 36 % 44 % 36 % 26 %
Quelle: R. Banken, Industrialisierung, Bd. 2, Anhang Tab. A21.
verfahren eine stärker mechanisierte Methode der Stahlherstellung dar. Sie ermöglichte es, in 20 Minuten die gleiche Menge Stahl herzustellen, für die man bisher beim Puddeln 24 Stunden benötigt hatte. Das Prinzip des Bessemerverfahrens bestand darin, flüssiges Roheisen in einem großen, mit dem entsprechenden Futter ausgekleideten Gefäß („Konverter“) durch das Einblasen von Luft zu frischen. Die durch das flüssige Eisenbad gepresste Luft oxidierte mit dem Kohlenstoff und den anderen unerwünschten Legierungsstoffen des Roheisens, wie es auch im Puddelofen geschehen war. Allerdings erforderte das Bessemerverfahren nicht mehr die mechanische Bewegung des flüssigen Eisens durch den Puddler. Ein weiterer Vorteil dieses Verfahrens war die Möglichkeit, das gefrischte Eisen („Flussstahl“) in beliebig große Formen gießen zu können und nicht als verfestigtes Eisen weiter verarbeiten zu müssen. Der Nachteil des Bessemerverfahrens bestand darin, dass die Auskleidung des Konverters die Verwendung phosphorhaltiger Erze unmöglich machte. Dadurch war die Übernahme in bestimmten Revieren, etwa dem Saarrevier, nicht möglich, weil dort in erster Linie phosphorhaltiges Minetteroheisen verarbeitet wurde. Das Puddelverfahren hielt sich dort, bis mit dem Thomasverfahren Anfang der achtziger Jahre ein Verfahren verfügbar wurde, das die Herstellung von Flussstahl auch mit Minetteroheisen ermöglichte. Die Größe der Konverter und die Menge des gefrischten Eisens machte eine Ausdehnung der Produktion unumgänglich. Das bedeutete, dass im Gefolge der Errichtung eines Bessemerstahlwerks auch die Kapazitäten der Walzwerke erhöht werden mussten. Das technische Verfahren zwang deshalb zur Entstehung großer Unternehmen und zu einer deutlichen Steigerung der Kapitalintensität.
Durch die Einführung des Bessemerverfahrens stieg allerdings auch wieder die Nachfrage nach Importroheisen. Denn in Deutschland konnte lediglich die Georgs-Marien-Hütte bei Osnabrück fürs Bessemern geeignetes,
76
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex phosphorarmes Roheisen anbieten. Der größte Teil des Roheisens der Bessemerstahlwerke kam deshalb aus Großbritannien, wodurch der Importanteil am Inlandsverbrauch in den siebziger Jahren wieder auf etwa 25 % stieg. Erst durch die Einführung des mit dem Bessemerverfahrens eng verwandten Thomasverfahrens in den achtziger Jahren konnte der Importanteil bei Roheisen wieder gesenkt werden. Das Thomas- und das Bessemerverfahren kamen wie schon das Puddelverfahren und der Kokshochofen aus Großbritannien. Überhaupt spielte der Technologietransfer, nicht selten gefördert durch britische oder belgische Investoren, bei der Modernisierung der deutschen Schwerindustrie eine ganz wichtige Rolle. Das galt besonders für das Aachener Revier und das Ruhrgebiet, wo sich viele belgische Unternehmer niederließen und die Fachkräfte gleich mitbrachten. An der Saar sollte die Einführung des Puddelverfahrens nach dem Willen des Bergamtes zwar ohne ausländische Fachleute erfolgen. Aber die privaten Unternehmer sahen das anders und heuerten in den dreißiger Jahren britische Facharbeiter an. Außerdem spielte an der Saar französisches Kapital eine besondere Rolle. In Oberschlesien besaßen ausländische Fachkräfte und Investoren eine geringere Bedeutung als im Westen. Offenbar kam es nur vereinzelt zur Anstellung von britischen Fachleuten. Sogar die Informationsreisen nach England, die im 18. Jahrhundert noch regelmäßig unternommen worden waren, bildeten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher eine Ausnahme. Ob die technische Überlegenheit der westlichen Reviere gegenüber Oberschlesien, die insbesondere im Fall der Stahlindustrie des Ruhrgebiets schon um die Jahrhundertmitte deutlich zu erkennen war, mit der besseren Verbindung nach Westeuropa erklärt werden kann, ist schwer zu belegen. Wenn man aber die ungünstige geographische Lage als Begründung für den relativen Bedeutungsverlust der oberschlesischen Eisen- und Stahlindustrie akzeptiert, sollte man nicht nur die Marktferne in Verbindung mit einer vergleichsweise schlechten verkehrlichen Erschließung im Blick behalten, sondern auch die größere Distanz nach Westeuropa und damit zu den leistungsfähigsten Industrien und den besten Facharbeitern und Technikern.
III.
Technologietransfer
1.4. Der Maschinenbau Auch die Erfolgsgeschichte des deutschen Maschinenbaus begann mit einer erfolgreichen Importsubstitution. In noch größerem Umfang als die Schienen waren die Lokomotiven zu Beginn des Eisenbahnzeitalters in Deutschland importiert worden. So war von den älteren (bis zum Jahr 1841 gebauten) und im Jahr 1853 bei den preußischen Eisenbahnen in Betrieb befindlichen 51 Lokomotiven nur eine einzige in Deutschland hergestellt worden. Die britischen Lokomotivbauer hatten zu diesem Zeitpunkt fast noch ein Monopol auf dem Weltmarkt, das wohl nur durch belgische Konkurrenten gefährdet schien. In den vierziger Jahren holten aber die deutschen Lokomotivbauer den britischen Vorsprung ein, so dass schon in den fünfziger Jahren Lokomotiven nur noch in Ausnahmefällen importiert wurden (s. Tab. 8).
Importsubstitution (Lokomotiven)
77
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Tabelle 8: Herkunftsländer der 1853 auf den preußischen Eisenbahnen in Betrieb befindlichen Lokomotiven (nach Anschaffungsjahr) Jahr
1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853
GesamtZahl 7 12 12 20 22 35 17 50 80 106 74 24 53 54 58 105
Deutschland Zahl 0 0 1 0 6 11 7 26 56 72 57 23 42 54 56 99
in %
8 27 31 41 52 70 68 77 96 79 100 96 94
England
Belgien
USA
Zahl
in %
Zahl
in %
Zahl
6 12 11 19 12 13 8 21 20 14 11 0 5 0 1 0
86 100 92 95 55 37 47 42 25 13 15
1 0 0 1 2 3 1 3 4 20 6 1 6 0 1 6
14
0 0 0 0 0 2 8 1 0 0 0 0 0 0 0 0
9 2
5 9 9 6 6 5 19 8 4 11 2 6
in %
9 23 6
Quelle: R. Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum, Tab. 26, S. 76.
Fabrikausrüstungen
78
Da abgesehen von Preußen in allen größeren deutschen Staaten überwiegend Staatsbahnen gebaut wurden und sich die jeweiligen Regierungen bemühten, die Nachfrageimpulse im eigenen Land zu halten, entstand eine auch geographisch weit gestreute Palette von Lokomotivbauern in Deutschland: Borsig und Wöhlert in Berlin, Kessler (später Maschinenfabrik Karlsruhe) in Baden, Maschinenfabrik Esslingen in Württemberg, Maffei in Bayern, Egestorff in Hannover, Hartmann in Sachsen und Henschel in Kurhessen. Ähnlich sah auch die Entwicklung im Waggonbau aus, der sich ebenfalls über ganz Deutschland ausbreitete. Denn im Gegensatz zum Steinkohlenbergbau und der Eisen- und Stahlindustrie war der Maschinenbau – und damit auch der Lokomotiv- und Waggonbau – wesentlich weniger standortabhängig und musste sich deswegen nicht in den schwerindustriellen Revieren konzentrieren. Das heißt aber nicht, dass dort keine Maschinenbauindustrie entstanden wäre. Im Gegenteil, der Einfluss der Eisenbahnen war dort nur nicht direkt, sondern indirekt, indem sich der Maschinenbau etwa im Ruhrgebiet auf die Ausrüstung der Eisenhütten, Stahlwerke, Steinkohlengruben und Kokereien spezialisierte. Auf diese Weise konnten sich die Kopplungseffekte der Führungssektoren in Führungsregionen besonders schnell und besonders konzentriert durchsetzen. Ebenso wie die textil- und die schwerindustriellen Gewerberegionen ihre Maschinenbauanstalten hervorbrachten, konnte aber auch die Konzentration anderer Industrien in anderen Regionen eine regional begrenzte, aber national bedeutende Maschinenbauindustrie hervorbringen. So entwickelte sich in der Magdeburger Börde wegen der günstigen Bodenbeschaffenheit
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex ein Zentrum der deutschen Zuckerrübenproduktion heraus. Auf die Ausrüstung der dadurch seit der Jahrhundertmitte entstehenden Zuckerfabriken spezialisierten sich zahlreiche Maschinenbauer in Magdeburg und der näheren Umgebung. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert existierten in Magdeburg über 100 Maschinenbaufabriken, von denen einige zu den größten in Deutschland zählten. Von Magdeburg ausgehend entwickelte sich ein Band mitteldeutscher Maschinenbaufabriken nach Süden über Dessau und Köthen bis nach Halle (und Leipzig). Dabei wurde die Produktpalette diversifiziert, indem sich die Unternehmen auch auf andere Maschinen des landwirtschaftsnahen Gewerbes spezialisierten (Brennereiausrüstung, Bäckereimaschinen, Landmaschinen). Insbesondere in Halle wirkte auch der im südlichen Teil der Provinz Sachsen beginnende Braunkohlenbergbau mit seinem Bedarf an Förderanlagen im Tagebau stimulierend auf den Maschinenbau. Um die Jahrhundertwende lag die Zahl der Halleschen Maschinenbaufabriken deshalb kaum hinter der Magdeburgischen, im Gegensatz zu Magdeburg war der Hallesche Maschinenbau aber nicht großbetrieblich dominiert. In der Frühzeit des deutschen Maschinenbaus war das Nachahmen und Lernen von den ausländischen Maschinenbaufabriken mindestens genauso wichtig wie in der Eisen- und Stahlindustrie. Der Nachbau englischer Maschinen war aber dadurch erschwert, dass dort bis 1842 ein mehr oder weniger strikt überwachtes Maschinenausfuhrverbot existierte. Deshalb fuhren zahlreiche Unternehmer, Techniker und Staatsbeamte nach England, aber auch nach Belgien und Frankreich, um bei den dortigen Maschinenbaufabriken Industriespionage zu treiben. In den meisten Sparten des Maschinenbaus erreichte Deutschland aber spätestens zu Beginn der siebziger Jahre eine führende Position auf dem Weltmarkt. Um die Jahrhundertwende kam schätzungsweise ein Viertel der Weltausfuhr an Maschinen aus Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hatten die deutschen Produzenten sogar eher die amerikanische als die britische Konkurrenz zu fürchten, die nun auf den dritten Platz zurückgefallen war.
III.
Technologietransfer
1.5. Das Geld- und Bankwesen Der außerordentlich zügige Aufbau der modernen, aber gleichzeitig vergleichsweise kapitalintensiven Industrien in Deutschland gilt in der Forschung als eine Besonderheit des deutschen Industrialisierungsweges, die in erster Linie durch den parallelen Aufbau eines leistungsfähigen Bankensystems erklärt wird. Die Bedeutung des Bankwesens in Deutschland erschließt sich besonders durch den Vergleich mit dem industriellen Pionier Großbritannien. Der leichtindustrielle Weg der Industrialisierung hatte den Vorteil, weniger kapitalintensiv zu sein. Für den Aufbau einer Baumwollspinnerei reichten oftmals die Ersparnisse der Familie des Unternehmers; und wenn das nicht der Fall war, konnten die Investitionen über den örtlichen informellen Kapitalmarkt beschafft werden, der sich um einen Notar oder ein anderes
Industriefinanzierung in Großbritannien
79
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Kapitalmarktunterentwicklung in Deutschland
„Newcomer“ aus der Provinz
Zahlungsmittelversorgung
80
Mitglied der örtlichen Honoratiorenschaft entwickelte. Zur Vorfinanzierung der Baumwolle und anderer Rohstoffe hatte sich im 18. Jahrhundert darüber hinaus ein leistungsfähiges Kreditsystem entwickelt, in dessen Mittelpunkt der Handelswechsel als Kreditinstrument und Zahlungsmittel stand. Größere Investitionen, welche die Möglichkeiten eines örtlichen Kapitalmarktes sprengten, wurden nur beim Aufbau einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur gebraucht, insbesondere für das Kanalnetz. Kapital für diese privat finanzierte und im 18. Jahrhundert weltweit einzigartige Infrastrukturausstattung war nicht nur in ausreichendem Maße im Land vorhanden, sondern die Besitzer von Geldvermögen waren auch bereit, ihre Mittel in privatwirtschaftliche Unternehmungen zu investieren. Ganz anders war die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland. In den deutschen Staaten herrschte während der Frühindustrialisierung zwar kein Kapitalmangel, aber die Vermögensbesitzer waren es (noch) nicht gewohnt, in Industrie- oder Handelsunternehmen zu investieren, sondern sie scheuten das damit verbundene Risiko und zogen die auf dem ,embryonalen‘Kapitalmarkt gängigen, aber auch vergleichsweise niedrig verzinslichen Wertpapiere wie Staatsschuldtitel oder Pfandbriefe vor. In dieser Situation erforderte ein erfolgreicher Durchbruch der Industrialisierung solche Finanzinstitutionen, die in der Lage waren, die verfügbaren Ersparnisse zu sammeln und den neuen Wachstumsbranchen zuzuführen. Die etablierten Bankhäuser der Finanzzentren Frankfurt und Hamburg waren zunächst aber wenig an der Erschließung dieses neuen Marktes interessiert. Denn ihre traditionellen Märkte, die Finanzierung des überseeischen Handels in Hamburg sowie die Finanzierung der zahlreichen deutschen Staaten und der „Devisen“-Handel in Frankfurt waren in den dreißiger Jahren noch florierende Geschäftsbereiche. Für Hamburger und Frankfurter Banken bestand insofern wenig Veranlassung, sich in der riskanten Industriefinanzierung zu engagieren. Es blieb deshalb „Newcomern“ aus der Provinz überlassen, diese Märkte zu entwickeln und Erfahrungen zu sammeln, die ihnen später einen entscheidenden Vorsprung vor den etablierten Häusern des frühen 19. Jahrhunderts sichern sollten. Die wichtigsten „provinziellen“ Finanzplätze wie Köln und Berlin sowie mit Abstrichen auch Breslau, Elberfeld und Leipzig waren zugleich Zentren des frühen Eisenbahnbaus. Dort waren örtliche Bankiers frühzeitig als Gründer von Eisenbahngesellschaften in Erscheinung getreten. Ihre Bankhäuser finanzierten diese Gesellschaften dann auch maßgeblich: Sal. Oppenheim jr. & Cie, A. Schaaffhausen und I. H. Stein in Köln, Gebr. Schickler, anfangs auch Mendelssohn & Co. und später S. Bleichröder in Berlin, von der Heydt-Kersten & Söhne in Elberfeld, E. Heimann in Breslau. Diese Banken gaben einerseits langfristige Kredite und brachten die Aktien bei ihren Kunden unter, andererseits waren sie aber auch bereit, selber Aktien zu halten, wenn der Markt einmal nicht aufnahmefähig war. Für den schwerindustriellen Weg der deutschen Industrialisierung mindestens ebenso wichtig wie eine ausreichende Kreditversorgung war die ausreichende Versorgung mit Zahlungsmitteln. Während die Vereinheitlichung der Währungen der Zollvereinsstaaten bereits im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts bedeutende Fortschritte gemacht hatte, blieb die notwendige
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex Ausweitung der Geldmenge bis zur Jahrhundertmitte schwierig. Denn eine reine Metallwährung kann den Geldumlauf nur sehr langsam vergrößern. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der vierziger Jahre nahmen aber auch die geschäftlichen Transaktionen zu, so dass die Zahlungsmittelversorgung zu einem Hemmnis der beschleunigten Industrialisierung zu werden drohte. Eine schnelle Abhilfe war durch die Errichtung von Notenbanken und die Ergänzung des Münzumlaufs durch Banknoten zwar möglich, aber Banknoten wurden von den meisten Staaten als unerwünscht abgelehnt. Denn zum einen sahen sie sich zur Errichtung einer ausreichend leistungsfähigen staatlichen Notenbank außerstande und zum zweiten wurde die Errichtung privater Notenbanken als eine Aushöhlung des staatlichen Münzregals betrachtet. Erst der Zusammenbruch der Mitte der vierziger Jahre durch den ersten Eisenbahnboom überhitzten Konjunktur, der durch den Zusammenbruch der Kreditmärkte eingeleitet wurde, führte in Preußen zu einem Umdenken. Die als Zentralnotenbank konzipierte Preußische Bank erwies sich allerdings schon nach kurzer Zeit als nicht ausreichend leistungsfähig, so dass die kleineren Nachbarstaaten ihre Chance nutzten und Preußen mit den Talernoten ihrer Notenbanken überschütteten. Erst unter diesem Druck erfolgte in Preußen Ende der fünfziger Jahre eine Reform des Notenbankgesetzes, das die Preußische Bank in die Lage versetzte, den Zahlungsmittel- und Kreditbedürfnissen einer rasch expandierenden Wirtschaft gerecht zu werden. Die Notenbanken standen in den deutschen Staaten entweder unter einer staatlichen Leitung – wie die Preußische Bank – , oder auch wenn sie durch privates Kapital errichtet und private Unternehmer geleitet wurden, waren ihnen die Geschäfte von Kreditbanken meist untersagt. Die Ausgabe von Banknoten und die längerfristige Kreditvergabe waren deshalb von Anfang an unterschiedlichen Instituten zugeordnet. Aus den Statuten der Preußischen Bank (Notenbank, 1846) N. Hocker, Sammlung der Statuten aller Actienbanken Deutschlands, Köln 1858, S. 33, 500, 505.
III.
Preußische Bank
Q
Die Bank ist bestimmt, den Geldumlauf des Landes zu befördern, Kapitalien nutzbar zu machen, Handel und Gewerbe zu unterstützen und einer übermäßigen Steigerung des Zinsfußes vorzubeugen. […] Zur Erreichung dieser Zwecke ist die Bank befugt, Wechsel und Geldanweisungen sowie inländische Staats- […] und andere öffentliche Papiere zu diskontieren und für eigene Rechnung […] zu kaufen und zu verkaufen; gegen genügende Sicherheit Kredit und Darlehen zu geben; […] Geldkapitalien […] zinsbar und unzinsbar anzunehmen, edle Metalle und Münzen zu kaufen und zu verkaufen. Andere kaufmännische Geschäfte, namentlich Warenhandel, sind und bleiben der Bank untersagt. […] Die Bank ist befugt, nach Bedürfnis ihres Verkehrs Anweisungen auf sich selbst als ein reines Geldzeichen unter der Benennung ,Banknoten‘ auszugeben. […] Von dem Gesamtbetrage der in Umlauf befindlichen Banknoten müssen in den Bankkassen […] zwei Sechstel in barem Gelde (= Münzgeld, D.Z.) oder Silberbarren, drei Sechstel mindestens in diskontierten Wechseln und der Rest in Lombardforderungen […] vorhanden sein.
81
Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Aus den Statuten der Berliner Handelsgesellschaft (Kreditbank, 1856) Der Zweck der Gesellschaft ist der Betrieb von Bank-, Handels- und industriellen Geschäften aller Art, ihre Wirksamkeit erstreckt sich daher insbesondere auch auf industrielle und landwirtschaftliche Unternehmungen, auf Bergbau, Hüttenbetrieb, Kanal-, Chaussee- und Eisenbahnbauten, sowie auf die Begründung, Vereinigung und Konsolidierung von Aktiengesellschaften und die Emission von Aktien oder Obligationen solcher Gesellschaften.
Industriefinanzierung durch Kreditbanken
Aktienkreditbanken
82
Für die Herausbildung des deutschen Prototyps einer Kreditbank hatte diese klare funktionale Trennung den Vorteil, dass die privaten Banken in Deutschland nicht gezwungen waren, die Struktur ihrer Aktiva der durch die Ausgabe von Banknoten vorgegebenen Struktur ihrer Passiva anzupassen. Im Falle der englischen Banken war dadurch die Vergabe langfristiger Kredite außerordentlich erschwert. Statt dessen passten die deutschen Banken die Struktur ihrer Passiva der Struktur ihrer Aktiva an. Aufgrund der längerfristigen Festlegung ihrer Mittel waren die deutschen Banken gezwungen, das verglichen mit der Notenausgabe leichter berechenbare Kontokorrentgeschäft zu entwickeln. Außerdem musste das Eigenkapital einen wesentlich größeren Anteil an der Bilanzsumme ausmachen als bei den englischen Banken. Die Festlegung eigener Ressourcen in oftmals nicht leicht liquidierbare Wertpapiere blieb aber ein äußerst riskantes Geschäft. Die Bankiers lernten dabei aber frühzeitig, durch die Diversifizierung ihrer Portfolios Techniken zu entwickeln, die sie vor dem Zusammenbruch bewahrten, wenn sich die Marktlage verschlechterte. Die bei der Finanzierung des Eisenbahnbaus gewonnenen Erfahrungen wurden von den westdeutschen und Berliner Banken zunächst zögernd, dann aber immer häufiger auf die Finanzierung von Industrieunternehmen übertragen. Denn nur durch den Aufbau von Großunternehmen, welche die finanziellen Mittel der Eigentümer sprengten, war es möglich, den Bedarf an Eisen und Kohle des rasch expandierenden Eisenbahnsektors zu befriedigen. Die Aktiengesellschaft, die sich beim Aufbau eines überwiegend privat finanzierten Eisenbahnnetzes in Preußen bewährt hatte, wurde nun immer häufiger auch auf Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie sowie des Maschinenbaus übertragen. Angesichts des nach wie vor geringen Entwicklungsniveaus der Kapitalmärkte waren die Banken auch hier bei der Unterbringung der Aktien und der Beschaffung von Fremdkapital unverzichtbar. Bereits im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts überstieg der Finanzbedarf der deutschen Industrie häufig die Ressourcen der Bankiers. Wenn diese das lukrative Geschäft weiterführen wollten, mussten sie auch ihre eigenen Unternehmensstrukturen modernisieren. Seit den fünfziger Jahren wurden deshalb die ersten Aktienkreditbanken gegründet. Die Gründer – zumindest der erfolgreichen Aktienbanken – waren in aller Regel Bankiers, die ihr „Know-how“ auf die neuen Aktienbanken übertrugen. Nachdem die meisten größeren deutschen Staaten dieser Entwicklung zunächst sehr misstrauisch gegenübergestanden hatten und oftmals Konzessionen für Aktienbanken verweigerten, löste die Liberalisierung des Aktienrechts im Norddeutschen
Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex Bund im Jahr 1870 einen wahren Gründungsboom aus. Nicht zufällig wurden Deutsche Bank, Commerzbank und Dresdner Bank zwischen 1870 und 1872 gegründet, und zwar in allen drei Fällen von erfahrenen Privatbankiers, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnten, dass sich ihre ,Töchter‘ recht bald von ihnen emanzipieren und ihnen bis zum Ende des Jahrhunderts das großindustrielle Kreditgeschäft sogar ganz abnehmen würden. Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines universellen, alle Finanzdienstleistungen umfassenden Bankgeschäftes war allerdings eine Zentralnotenbank, die als „Bank der Banken“ im Notfall bereit war, die Liquidität derjenigen Bankhäuser zu sichern, die über grundsätzlich solide, aber vorübergehend schwer realisierbare Aktiva verfügten. Dank der Rückendeckung durch die Preußische Bank als „Lender of Last Resort“ entwickelten die deutschen Banken das universelle Bankgeschäft („mixed banking“), das gegen Ende des 19. Jahrhundert zum Vorbild für viele andere Bankensysteme nachfolgend industrialisierender Staaten werden sollte. Die preußische Zentralnotenbank, die 1846 gegründete Preußische Bank, besaß die Freiheit, als „Lender of Last Resort“ zu agieren, erst seit der Novellierung des Preußischen Bankgesetzes im Jahr 1857. Diese Freiheit nutzte sie und bewährte sich durch ihre de facto Liquiditätsgarantie bereits im Jahr 1866, als sie das Übergreifen einer englischen Finanzkrise während der politisch kritischen Wochen im Frühsommer 1866 (Kriegszustand mit Österreich und seinen deutschen Verbündeten) erfolgreich verhinderte. Die nach der Reichsgründung als Nachfolgerin der Preußischen Bank errichtete Reichbank übernahm diese in keinem Gesetz fixierte Aufgabe und betrieb eine kluge Geldpolitik, die ihrer Funktion als Hüterin der Währung und als „Bank der Banken“ in gleicher Weise verpflichtet war.
III.
Zentralnotenbank
„Lender of Last Resort“ Die Lender-of-Last-Resort-Funktion beschreibt die Aufgabe der modernen Zentralnotenbank als Reservebank („Bank der Banken“). Danach muss die Zentralbank höhere Reserven halten, als es für ihr eigenes Bankgeschäft notwendig wäre. Diese Reserve ermöglicht es ihr, in einer Krisensituation dem Geldmarkt oder einer soliden, aber in Liquiditätsproblemen steckenden Bank auszuhelfen. Obwohl sie als Reservebank in einer solchen Situation einen hohen Zinssatz berechnen darf, bedeutet die hohe Reservehaltung in normalen Zeiten zusätzliche Kosten, während die Anlage der Reserve einen Gewinn brächte. Die Preußische Bank kam dem Markt in der Krisensituation des Jahres 1866 zu Hilfe, indem sie dank ihrer Reservepolitik weiterhin gute Wechsel ohne jede Einschränkung diskontierte. Im Gegensatz dazu verfolgten alle anderen Notenbanken in Deutschland in dieser Zeit eine eher restriktive Politik. Seitdem galt die Preußische Bank als ein verlässlicher Rückhalt des Universalbanksystems und ermöglichte so eine risikobereitere Politik der Kreditbanken.
E
Universalbank Eine Universalbank mitteleuropäischen Typs zeichnet sich durch die Kombination von kurzfristigen Kredit- und Depositengeschäften mit langfristigen Kapitalmarkttransaktionen aus, für die es im angelsächsischen Spezialbankensystem eigene, auf diese Geschäfte spezialisierte Institute gibt: Geschäftsbanken oder Depositenbanken für das kurzfristige Kredit- und Depositengeschäft und Merchant Banks oder Investment Banks für langfristige Kredit- und Kapitalmarkttransaktio-
E
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
nen. Obwohl es in Belgien mit der Société Générale und in Frankreich mit dem Credit Mobilier ältere Vorbilder gibt, gelten die deutschen Universalbanken als die Pioniere des „mixed banking“, weil sie alle Bankgeschäfte betrieben, die ihnen nicht gesetzlich untersagt waren, wie die Ausgabe von Banknoten und – abgesehen von einigen frühen Bankgründungen – das Hypothekargeschäft. Für diese beiden Sparten existierten mit den Notenbanken und den Hypothekenbanken auch in Deutschland Spezialinstitute.
2. Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen
Führungsregionen
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Die Raum strukturierende Bedeutung der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert kann kaum überschätzt werden. Dabei gab es durchaus nicht nur Gewinner. Im Gegenteil, die unterschiedlichen regionalen Entwicklungsniveaus wurden nicht nur nicht abgebaut, sondern der bestehende Dualismus zwischen gewerblich und industriell entwickelten Regionen auf der einen Seite und vorindustriell-agrarisch geprägten Regionen auf der anderen Seite wurde sogar noch verstärkt. Denn die Eisenbahnen schufen zwar theoretisch die materielle Voraussetzung für die Integration von Faktor- und Gütermärkten, praktisch begünstigten sie aber in erster Linie die Regionen mit einem größeren Entwicklungspotenzial, da hier ein höheres Verkehrsaufkommen und damit eine höhere Rendite des investierten Kapitals zu erwarten war. Die schwerindustrielle Phase der Industrialisierung ist wegen der Standortbindung der Montanindustrie deshalb überall in Europa als ein regional extrem ungleichgewichtiger Wachstumsprozess verlaufen. In Deutschland verstärkte sich das nach den napoleonischen Kriegen vorhandene einkommens- und beschäftigungsstrukturelle Gefälle zumindest bis gegen Ende des Jahrhunderts. Der schwerindustriell geprägte Entwicklungsschub der zweiten Jahrhunderthälfte erfasste nicht alle Landesteile gleichzeitig, sondern nur einige wenige nicht durch politische Grenzen definierte Regionen mit besonders günstigen Standortvoraussetzungen. Neben diesen „Führungsregionen“ waren insbesondere in Süddeutschland eine ganze Reihe von industriellen „Inseln“ entstanden, in denen es einer oder höchstens einer Handvoll Gewerbebranchen erfolgreich gelungen war, die traditionell-handwerkliche Produktionsweise zu überwinden (Esslingen, Heidenheim, Pforzheim, Nürnberg, Augsburg). Wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation im Umland, die ein sich selbst tragendes regionales Wachstum auf den „Inseln“ verhinderte, waren sie essentiell auf den Austausch mit anderen „Inseln“ oder „Führungsregionen“ angewiesen. Die „Führungsregionen“ und „industriellen Inseln“ entweder direkt oder indirekt über bestimmte Handelsplätze untereinander in Verbindung zu setzen, war die Aufgabe der Eisenbahnen. Dabei verbesserten sie nicht nur die jeweiligen Standortbedingungen (Vorwärtskopplungseffekte) und erzeugten ihrerseits neue Nachfrage (Rückwärtskopplungseffekte), sondern sie schufen auch neue, quasi künstliche „Inseln“, die allein aufgrund der günstigen Ver-
Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen kehrslage (beispielsweise an Eisenbahnknotenpunkten) entstanden („Etappenorte“). Selbstverständlich vollzog sich die Verbesserung der Standortbedingungen durch einen Eisenbahnanschluss nicht als „Nullsummenspiel“ auf Kosten benachbarter Räume. Da aber die für den industriellen Aufstieg einer Region oder eines Ortes notwendigen Ressourcen (insbesondere Arbeitskräfte und Kapital) meist nicht vor Ort direkt und in ausreichendem Maß verfügbar waren, wurden sie zunächst aus Nachbarregionen, später auch aus entfernteren, von der Industrialisierung kaum erfassten Regionen herangeführt. Während die Eisenbahnen demnach die Agglomerationsvorteile verstärkten, indem sie den sich entwickelnden Industrieregionen die notwendigen Ressourcen zuführten und die Industrieprodukte über das Land verteilten, sorgten sie auf der anderen Seite auch für einen „lebensbedrohenden“ Ressourcenabzug und die Zerstörung gewachsener Gewerbestrukturen ganzer Landstriche. Das Risiko der wirtschaftlichen Entleerung war für traditionelle Gewerberegionen im Zuge der sich durch den Zollverein vertiefenden interregionalen Arbeitsteilung sogar noch größer als durch die Einflüsse der sich verdichtenden Weltmarkteinflüsse. Denn unter der Voraussetzung einer weitgehend gleichmäßigen verkehrlichen Erschließung aller Landesteile sind Wirtschaftsregionen im Allgemeinen „offener“ als Staaten. Zum Schutz seiner eisenerzeugenden Gewerbe hatte man sich im Zollverein zwar 1844 auf eine Erhöhung der Roheisenzölle einigen können. Der gleichzeitigen Beseitigung der zu diesem Zeitpunkt noch prohibitiv wirkenden Verkehrsverhältnisse konnten die meisten alten eisenerzeugenden Regionen aber nichts entgegensetzen. Die Eisenerzeugung verlagerte sich in die Steinkohlereviere, während die Verfügbarkeit von Holzkohle in den traditionellen Standorten den Übergang zum Kokshochofen lange Zeit verhinderte. Von den zehn größten Puddel- und Walzwerken im Gebiet des Zollvereins um 1860 lagen jeweils drei im Aachener und im Ruhrrevier, zwei an der Saar und je eines in Oberschlesien und in Sachsen (Zwickau). Nur selten führte der Bau von Eisenbahnen in den traditionellen eisenerzeugenden Regionen dazu, dass auch dort, wie in Siegerland, Kokshochöfen errichtet wurden. Häufiger führte die Verdrängung des Holzkohlehochofens zur Vernichtung der gewerblichen Struktur der Region. Ähnlich wie bei der Roheisenproduktion wirkte die markterweiternde Funktion der Eisenbahnen auch in der Textilproduktion als ein Prozess der schöpferischen Zerstörung. Ebenso wie die Konkurrenzfähigkeit der technologisch rückständigen Holzkohlehochöfen durch die Eisenbahnen weiter verschlechtert wurde, beschleunigten die Eisenbahnen auch den Niedergang des protoindustriell betriebenen Leinengewerbes und der Handspinnerei. Zunächst erschloss die Eisenbahn der englischen Konkurrenz neue, bislang unerreichbare Märkte, später half sie der entstehenden deutschen Baumwollindustrie neben der Markterweiterung durch die Verbilligung der Rohstoffimporte bei ihrer Expansion. Die Dynamik der Textilindustrie reichte in den Staaten des Zollvereins aber dennoch nicht aus, um die Funktion eines Führungssektors auszufüllen. Deshalb entwickelten sich die textilindustriell geprägten Regionen der Frühindustrialisierung auch nicht zu erstrangigen Führungsregionen der Industrialisierung.
III. Regionalwirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III. Rohstoffvorkommen
Revierbildung
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Eine notwendige Bedingung für die Entstehung einer montanindustriellen Führungsregion war die unmittelbare Verfügbarkeit von Steinkohle. Die Bedeutung dieses Faktors war so groß, dass etwa eine gewerbliche Tradition, die bei den textilindustriell geprägten Regionen noch eine wichtige Standortbedingung gewesen war, bei den montanindustriellen Führungsregionen keineswegs eine Voraussetzung bildete. Wegen der anfangs sehr hohen Transportkosten der Steinkohle siedelte sich häufig der wichtigste Energieverbraucher der Frühindustrialisierung, die Eisen- und Stahlindustrie, in der Nähe von Bergwerken an. Auch Eisenerz (oder Roheisen) waren nur mit hohen Kosten zu transportieren. Deshalb waren zumindest in der Startphase auch die Verfügbarkeit von Eisenerz oder eine verkehrsgünstige Lage für den regionalen Import etwa von Eisenerz oder Roheisen eine weitere Voraussetzung. Als die Transportsysteme im Laufe der Zeit immer leistungsfähiger wurden, verlor die regionale Verfügbarkeit aller wichtigen Rohstoffe deutlich an Bedeutung, aber eine vergleichbar hohe Standortunabhängigkeit wie sie etwa die textilindustriell geprägten Regionen besaßen, erreichten die montanindustriellen Führungsregionen zu keiner Zeit. Die standortabhängigen Wachstumsbranchen, der Steinkohlenbergbau und die Eisen- und Stahlindustrie, zogen weitere, standortunabhängigere, nachgelagerte Branchen an. Insbesondere der Maschinenbau besaß in den beiden Wachstumsbranchen bedeutende potentielle Nachfrager. Wie schon in den frühen Textilfabriken entstanden zunächst eigene Konstruktionsbüros, welche die Ausrüstung der Werkstätten und Puddelanlagen besorgten. Entsprechend waren auch Ende der fünfziger Jahre noch die Eisenhütten die größten Maschinenbaufabriken im Ruhrgebiet. Mit der Zeit entstanden jedoch einige selbständige Maschinenbauunternehmen, die allerdings immer auf die Großabnehmer im Revier bezogen blieben und selbst keine großindustriellen Strukturen herausbildeten. So waren im Jahr 1886 zwar 80 % der Dampfmaschinen und Pumpen im Steinkohlenbergbau des Ruhrgebiets von nur fünf Unternehmen geliefert worden, bei vier davon handelte es sich aber um die Maschinenbauanstalten von Eisenhütten. In relativ kurzer Zeit zogen die Reviere viele Menschen als Arbeitskräfte an. Oftmals kleine Ackerbürgerstädte und Dörfer expandierten innerhalb weniger Jahrzehnte zu Großstädten, wodurch über die Nachfrage nach Fabrik- oder Bergarbeitern hinaus auch eine große Nachfrage nach Bauhandwerkern entstand. Auch das Nahrungsmittelhandwerk sah sich einer rapide steigenden Konsumnachfrage gegenüber – trotz der Kärglichkeit der Einkommen der einzelnen Arbeiterfamilien. Die traditionelle Sicht, wonach das Handwerk der wichtigste Verlierer der Industrialisierung gewesen sei, ist deshalb dahingehend zu modifizieren, dass die Situation bei denjenigen Handwerken, die der direkten Konkurrenz der entstehenden Industrie ausgesetzt waren, tatsächlich dramatisch war. Einige Handwerke wie Nadler, Feilenhauer, Seifensieder, Seiler, Böttcher, Gerber, Drechsler oder Stellmacher verschwanden ganz, während andere, wie die Schuster und zum Teil auch die Schneider, ihre wirtschaftliche Funktion immerhin von der Produktion zur Reparatur verschieben konnten. Ausgesprochen günstig entwickelte sich dagegen die Situation für das Bauhandwerk (Maurer, Zimmerleute), das einerseits von dem einsetzenden Städtewachstum profitierte, andererseits aber
Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen auch (noch) nicht von der fabrikindustriellen Produktion bedroht war. In ähnlicher Weise profitierten auch die Handwerke im Ernährungssektor (Metzger, Bäcker) sowie Friseure und Gastwirte von der Urbanisierung. Steinkohlevorkommen existierten an vielen Stellen des Zollvereins. Aber nur drei Reviere können als montanindustrielle Führungsregionen bezeichnet werden: das oberschlesische Revier, das Saarrevier und das Ruhrgebiet. Oberschlesien war das älteste der drei Reviere, aber das Ruhrgebiet war das mit Abstand bedeutendste. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es nicht nur der größte industrielle Ballungsraum in Deutschland, sondern in ganz Europa. Im späteren Ruhrgebiet gab es bis in das 19. Jahrhundert hinein kaum eine gewerbliche Tradition. Steinkohle wurde von Kleinbauern an der Ruhr im Nebenerwerb im Tagebau oder im Püttenbau, einem nur wenige Meter tiefen brunnenartigen Schacht, gewonnen und diente kaum mehr als dem Eigenbedarf. Erst im 18. Jahrhundert ging man wegen der Wasserhaltungsprobleme zur Anlage von Stollenzechen über, die zunächst durch angeworbene Bergmänner aus dem Harz oder Erzgebirge angelegt wurden. Damit veränderte sich auch der Verhältnis zwischen Nebenerwerb und Haupterwerb, so dass die Steinkohle zum Exportgut werden konnte. Der Markt für die Steinkohle war aber auch deswegen lange Zeit sehr begrenzt geblieben, weil die Ruhr erst 1780 von Ruhrort bis zu den Abbaugebieten bei Witten und Hörde schiffbar gemacht worden war. Ruhr Der Fluss, der dem Ruhrgebiet seinen Namen gab, wurde in den Jahren 1774 bis 1780 für die Schifffahrt von Ruhrort, dem Umschlagplatz zwischen Ruhr und Rhein, bis nach Fröndenberg ausgebaut. Das wichtigste Transportgut war in dieser Zeit neben der Steinkohle Salz von der Saline Königsborn bei Unna. Seit der Erschließung des Reviers mit der Eisenbahn und der Nordwanderung des Kohlenbergbaus verlor die Ruhrschifffahrt an Bedeutung, nicht jedoch der Hafen Ruhrort. Der Hafen war bereits zwischen 1820 und 1825 mit großem Aufwand ausgebaut worden. Weitere Ausbauten folgten 1859 bis 1868 und 1905. In den siebziger Jahren wurde sogar die Flussmündung verlegt. Denn im Gegensatz zur Ruhrschifffahrt gewann der Hafen Ruhrort durch die Eisenbahn, indem er seit 1848 als Umschlagplatz zwischen Eisenbahn und Rheinschiffen fungierte. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der Hafen zum größten Binnenhafen Europas. Ruhrzone Die Ruhrzone bildete die erste Entwicklungsachse des Ruhrgebiets. Insbesondere Mülheim und Witten, aber auch Werden, Steele, Hattingen und Hörde profitierten vom Ausbau der Ruhrschifffahrt. Mülheim, zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit etwa 10.000 Einwohnern die größte Stadt des späteren Ruhrgebiets, entwickelte sich zum Kohlenumschlagplatz für die oberhalb gelegenen Stollenzechen. Für die Verbindung von frühem Kohlenbergbau und Binnenschifffahrt steht vor allem Matthias Stinnes, der seine gleichnamige Firma 1808 in Mülheim gegründet hatte. Mit der Nordwanderung des Steinkohlenbergbaus verlor die Ruhrzone an Bedeutung und die Städte der Ruhrzone wuchsen wesentlich langsamer als die Städte der anderen Teilregionen des Ruhrgebiets (s. Tab. 9).
Die Anfänge der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes sind noch weniger augenfällig. Die ersten Gründungen von Hüttenwerken erfolgten in
III.
Ruhrrevier
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E
Territoriale Neugliederung (1815)
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Nordwanderung des Bergbaus
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der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aber die Hütten blieben gänzlich unbedeutend, weil die heimischen Rohstoffe (Raseneisensteinerze und Holzkohle) eine dauerhafte Produktion während des gesamten Jahres nicht zuließen. Die territoriale Neugliederung der Region und ihr Anschluss als Provinzen Rheinland und Westfalen an Preußen 1815 schuf deshalb die erste Voraussetzung für die Expansion der Schwerindustrie. Das aber reichte noch nicht. Weitere Voraussetzungen für den Aufstieg des Ruhrgebiets wurden in den dreißiger Jahren gelegt: Die Marktzugänge veränderten sich, und die technologischen Entwicklungshorizonte weiteten sich zu einer massiven Begünstigung dieses Gebiets aus. Mit dem Zugang zur Nordsee über den Rhein oder seit den vierziger Jahren alternativ mit der Eisenbahn über Belgien war für das Gebiet nördlich der Ruhr eine neue Wettbewerbssituation entstanden. Zugleich bildete sich seit 1834 im Deutschen Zollverein ein Binnenmarkt von erheblicher Größe heraus, der aber erst durch eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur erschlossen werden musste. Dies geschah mit Produkten der Eisen- und Stahlindustrie vor allem des Ruhrgebiets, das damit eine Schlüsselstellung in der deutschen Industrialisierung erhielt. Der Steinkohlenbergbau begann seit den dreißiger Jahren seine Expansion mit der Anlage von Tiefbauzechen. Gleichzeitig wanderte der Bergbau nach Norden zunächst in die Hellwegzone und im dritten Jahrhundertdrittel in die Emscherzone. Von den zwölf größten Steinkohlezechen des Reviers lagen am Ende des Jahrhunderts acht in den „Kohlenstädten“ an der Emscher, in Gelsenkirchen und Herne. Die Expansion der Eisenindustrie setzte etwas später zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die reichlich vorhandene Fettkohle eignete sich ausgezeichnet zur Herstellung von Hüttenkoks. Dieser Rohstoff begründete den für das Ruhrgebiet typischen engen Verbund zwischen Kohle und Eisen.
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Hellwegzone Der Durchbruch des Ruhrbergbaus erfolgte seit den vierziger Jahren durch die Anlegung von Tiefbauzechen. Damit wanderte der Ruhrbergbau nach Norden an die am Hellweg, einem alten Ost-West-Handelsweg gelegenen Städte heran. So lagen die beiden ersten erfolgreich fördernden Tiefbauzechen vor den Toren Essens und Bochums. Da die Tiefbauzechen sehr viel mehr Arbeitskräfte benötigten als die Stollenzechen an der Ruhr, wuchsen die Hellwegstädte auch wesentlich schneller, zumal sich dort nun auch Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie ansiedelten: Krupp in Essen und der Bochumer Verein in Bochum, etwas später auch Thyssen in Duisburg und Hoesch in Dortmund. Dortmund und Essen waren damit zu den größten Städten des Ruhrgebiets geworden, wobei Dortmund 1885 75.000 Einwohner und Essen 65.000 Einwohner zählte. Zu diesem Zeitpunkt war das Stadtgebiet allerdings noch nicht über das der alten Reichsstadt bzw. des Reichsstifts hinausgewachsen. Nach der ersten Eingemeindungswelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Dortmund dann von Essen überholt.
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Emscherzone In den sechziger Jahren erreichte der Kohlenbergbau die dritte Entwicklungsachse des Ruhrgebiets, die Emscherzone. Im Gegensatz zu den Ruhr- und den Hellwegstädten, so klein sie zu Beginn des Wachstums auch gewesen sein mögen, war
Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen
III.
die Emscherzone nur sehr dünn besiedelt. Siedlungen von mehr als einigen Hundert Einwohnern gab es dort nicht. Den Kern dieser Zone bildeten einige Hüttengesellschaften, die sich dort angesiedelt hatten, lange bevor der Steinkohlenbergbau die Emscher erreichte. Das Wachstum dieser „Industriedörfer“ war rasant, so dass Oberhausen, das überhaupt erst 1862 als Ort gegründet worden war, zum Zeitpunkt der Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1874 bereits 15.000 Einwohner besaß. Ein besonders rasantes Wachstum wies Gelsenkirchen auf, wo 1850 nur etwa 900 Menschen wohnten. Zwanzig Jahre später waren es dann schon 8.000. Überhaupt verzeichnete die Emscherzone mit einem Bevölkerungswachstum von knapp 6 % pro Jahr in der Zeit des Kaiserreichs den höchsten Zuwachs, den es in einer Teilregion des Ruhrgebiets je gegeben hat (s. Tab. 9).
Tabelle 9: Das Bevölkerungswachstum in Teilregionen des Ruhrgebiets Jahr
1816/18 1858 1871 1905
Ruhrzonea
Hellwegzoneb
Emscherzonec
Bevölkerung absolut
Jährliches Wachstum
Bevölkerung absolut
Jährliches Wachstum
Bevölkerung absolut
Jährliches Wachstum
23.648 63.548 89.558 204.273
24,1 % 26,4 % 24,3 %
76.178 218.882 392.859 1.455.378
25,7 % 45,0 % 38,5 %
27.365 53.851 91.751 588.387
16,5 % 41,0 % 57,7 %
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Mülheim, Hattingen, Sprockhövel, Witten (jeweils einschl. später erfolgter Eingemeindungen). Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund (jeweils einschl. später erfolgter Eingemeindungen). c Dinslaken, Oberhausen, Bottrop, Gladbeck, Gelsenkirchen, Herne, Castrop-Rauxel (jeweils einschl. später erfolgter Eingemeindungen). Quelle: W. Köllmann u. a., Bevölkerungsgeschichte, in: ders. u. a., Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter, Bd. 1, Tab. 1, S. 114 f. b
Von der Stahlindustrie war der Weg in den Maschinenbau nicht weit. Viele Unternehmen unterhielten mechanische Werkstätten für Bau und Unterhaltung der eigenen Anlagen. Die leichtere Vermittelbarkeit von Know-how in der Frühzeit der Revierbildung, gerade für die noch recht ungelenken und grob konstruierten Maschinen in der Wasserhaltung und der Förderung, ließ eine Maschinenbau-Struktur entstehen, die für die Bedürfnisse des Reviers hoch leistungsfähig, allerdings insgesamt weniger differenziert war als in anderen Maschinenbauzentren Deutschlands. Einen weiteren wichtigen Standortvorteil des Ruhrreviers bildete die günstige verkehrsgeographische Lage. Dabei ist zunächst mehr an die Schifffahrt zu denken als an die Eisenbahn. Denn Steinkohle ist ein Massentransportgut mit einem niedrigen Wert/Gewicht-Verhältnis und deshalb wie geschaffen für den Wassertransport. Ruhr und Rhein bildeten zunächst die wichtigsten Transportwege für Kohle, aber auch für Importe von Eisenerz und Roheisen zur Weiterverarbeitung im Revier. Als der Steinkohlenbergbau im letzten Drittel des 19. Jahrhundert die Emscherzone erreichte, die Emscher selber aber als Wasserweg nicht leistungsfähig genug war, wurde mit dem RheinHerne-Kanal kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch der nördliche Teil des Reviers an den Rhein angeschlossen. Mit dem Dortmund-Ems-Kanal war bereits zuvor im Jahr 1899 ein direkter Zugang des östlichen Reviers an die
Bedeutung der Wasserwege
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Nordsee geschaffen worden, mit der Perspektive der Erweiterung nach Magdeburg und Berlin über den Mittellandkanal. Abgesehen von einigen Kohlebahnen, welche die Stollenzechen mit der Ruhr verbanden, spielte die Eisenbahn bis Anfang der sechziger Jahre als Transportweg für die Kohleindustrie keine große Rolle. Die Köln-Mindener Eisenbahn hatte Mitte der vierziger Jahre die damaligen Kohlefelder weiträumig umgangen, und auch als das Herz des Reviers durch die Eisenbahn erschlossen wurde, waren die Frachtkosten zu hoch, um die bevölkerungsund industriereichen Märkte östlich des Reviers beliefern zu können. Erst die Einführung des in Oberschlesien bereits erprobten „Einpfenningtarifs“ ermöglichte schließlich auch die Nutzung der Eisenbahn als Transportweg für die Ruhrkohle.
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Einpfennigtarif Um Ende der vierziger Jahre auf dem Berliner Kohlenmarkt gegen die englische Steinkohle konkurrenzfähig zu sein, durfte der Transportpreis oberschlesischer Kohle nicht höher als 24 Silbergroschen pro Zentner liegen. Bei einer Entfernung der oberschlesischen Gruben von gut 70 preußischen Meilen nach Berlin durfte demnach der Frachttarif nicht mehr als ein Pfennig pro Zentner und Meile betragen. Im Jahr 1849 bzw. 1851 wurde dieser zu damaliger Zeit einmalig niedrige Frachttarif gegen den Willen der betroffenen Eisenbahngesellschaften vom preußischen Handelsminister von der Heydt für Steinkohlensonderzüge nach Berlin durchgesetzt. Obwohl die Einführung des „Einpfennigtarifs“ für oberschlesische Kohle ein voller Erfolg war – sowohl für den Bergbau als auch für die Eisenbahngesellschaften – , scheiterte seine Einführung für Kohlenzüge von der Ruhr nach Mitteldeutschland am Widerstand der Hannoverschen Staatsbahnen, die aus politischen Gründen kein Interesse an einer Förderung des preußischen Steinkohlenbergbaus hatten. Erst 1860 kam es schließlich zu entsprechenden Verträgen für den Kohletransport über Hannover in Richtung Magdeburg/Berlin. Durch den „Einpfennigtarif“ eroberten oberschlesische und Ruhrkohle den gesamten mitteldeutschen Markt und drängten die englische Kohle bis zu den Küstenregionen Norddeutschlands zurück.
Technologietransfer
Angesichts der geringen gewerblichen Tradition der Region kam der Verfügbarkeit von qualifizierten Technikern und Facharbeitern ebenfalls eine zentrale Bedeutung zu. Der Import von Know-how geschah auf zweierlei Weise. Erstens warben deutsche Unternehmer ausländische Fachleute an. Das galt besonders für die Eisen- und Stahlindustrie. So wurde die erste Generation der Stahlkocher im Ruhrgebiet überwiegend in England oder Belgien rekrutiert. Um diese sehr selbstbewussten Spezialisten anzuwerben, mussten natürlich hohe Löhne gezahlt werden. Zweitens erkannten auch ausländische Unternehmen die besonders günstigen Standortbedingungen an der Ruhr und siedelten sich hier an. Der Franzose Charles Détillieux (1819 – 1876) und der Ire William Thomas Mulvany (1806 – 1885) waren wohl die bedeutendsten Einwanderer unter den Ruhrunternehmern. Sie gehörten zu den Pionieren des Steinkohlenbergbaus in der Emscherzone. Mit den Unternehmern kam auch das Kapital in das entstehende Revier. Kapital war ebenso wichtig wie die Arbeitskräfte. Denn die Schwerindustrie war in der zweiten Phase weitaus kapitalintensiver, als es die Textilindustrie in der ersten Phase der europäischen Industrialisierung gewesen war. Abge-
Kapitaltransfer
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Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen sehen vom Mülheimer Kohlenhandel war innerhalb der Region in der Vergangenheit die Kapitalbildung nur sehr langsam erfolgt. Für die Kapitalbeschaffung spielte Köln als nächstgelegenes Finanzzentrum eine herausragende Rolle. Über die internationalen Kontakte der Kölner Bankhäuser wurden auch zahlreiche ausländische Anleger für Investitionen im Ruhrrevier angeworben. Zahlreiche Zechennamen wie Hibernia, Shamrock oder Neuschottland weisen auf den ausländischen Ursprung des Anlagekapitals ebenso hin wie die Rheinischen Stahlwerke, die 1870 in Paris als Société Anonyme des Aciéries Rhénane à Meiderich gegründet worden waren. Die Ausgangslage in Oberschlesien war der des Ruhrgebietes durchaus nicht unähnlich. Oberschlesien kam zwar etwas früher zu Preußen als das Ruhrgebiet, es gehörte aber auch nicht zu den älteren preußischen Provinzen, sondern besaß eine Randlage, nur geringfügig weiter von der Handelsstadt Breslau entfernt als das Ruhrgebiet von Köln. Auch war Oberschlesien durchaus nicht die erste Gewerberegion der Provinz gewesen. Ähnlich wie das Bergische Land beziehungsweise das märkische Sauerland mit seinem Eisen verarbeitenden und Textilgewerbe hatte Niederschlesien eine textilund eisengewerbliche Tradition. Im Ruhrgebiet hatte der preußische Staat (in Verbindung mit anderen beteiligten Landesherren) durch die Schiffbarmachung der Ruhr für einen ersten Ansatz von gewerblicher Entwicklung mit überregionaler Bedeutung gesorgt. In Oberschlesien förderte der preußische Staat ebenfalls den Beginn dieser Entwicklung. Hier engagierte er sich aber nicht in erster Linie mit infrastrukturellen Vorleistungen, sondern trat selber wesentlich stärker unternehmerisch in Erscheinung als an der Ruhr. Das betraf zum einen den Erzbergbau – zunächst Silber und Blei bei Tarnowitz – , zum anderen den Steinkohlenbergbau bei Zabrze und die Eisenverhüttung in Gleiwitz und Königshütte. Lediglich die Zinkproduktion war bereits zu Beginn der Revierbildung überwiegend in den Händen privater Unternehmer. Die Zinkindustrie war nach der Jahrhundertwende der erfolgreichste moderne Wirtschaftsbereich der Region. Oberschlesien entwickelte sich sogar mir einem Marktanteil von ca. 40 % zum bedeutendsten Produzenten weltweit. Der Energiebedarf dieser Industrie war sehr groß und kann wohl als der entscheidende Impuls zur Modernisierung des Steinkohlenbergbaus gelten. Die Abbauverhältnisse waren im Allgemeinen zunächst günstiger als an der Ruhr. Das betraf sowohl die geringe Teufe als auch die Mächtigkeit der Flöze. Allerdings war die verkehrsgeographische Lage Oberschlesiens weitaus ungünstiger als an der Ruhr. Denn der Versuch, die Region durch einen Kanal mit der Oder zu verbinden, war wenig erfolgreich gewesen. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaute Klodnitz-Kanal war nicht sehr leistungsfähig, und auch die Oder selber war als Schifffahrtsweg nicht mit dem Rhein zu vergleichen. Ihr Wasserstand erlaubte den Transport nur während einiger Monate im Jahr. Eine Eisenbahnanbindung wurde zwar recht zügig erreicht, aber die Frachttarife ließen zunächst noch keine Kohletransporte in Richtung Berlin zu. Erst die Einführung des „Einpfennigtarifs“ änderte die Situation in den fünfziger Jahren. Der Berliner Markt blieb der oberschlesischen Kohle aber nicht lange erhalten, denn in den sechziger Jahren sah sie sich mit der
III.
Oberschlesisches Revier
Verkehrsgeographische Lage
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Konkurrenz der Ruhrkohle konfrontiert. Dank handelsvertraglicher Vereinbarungen mit Russland und der Habsburgermonarchie war aber nach dem Bau entsprechender Eisenbahnverbindungen der Weg nach Osten und Süden offen, so dass ein Großteil der schlesischen Kohle exportiert werden konnte.
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Klodnitz-Kanal Der Klodnitz-Kanal verband Gleiwitz mit der Oder bei Kosel. Er wurde zwischen 1782 und 1812 im Tal des Flüsschens Klodnitz, das nicht schiffbar war, errichtet und hatte eine Länge von 46 Kilometern. Die Tiefe und die Schleusengestaltung ließen nur Schiffe mit einer Traglast bis 50 Tonnen den Kanal passieren. Damit war er für viele Schiffe ungeeignet, die beispielsweise den größeren Finowkanal befahren konnten, der die Oder mit Berlin verband. Nach der Erschließung Oberschlesiens durch die Eisenbahn wurde der Kanal fast gar nicht mehr befahren. In den Jahren 1888 bis 1893 wurde der Klodnitz-Kanal ausgebaut. Eine Bedeutung wie der etwas später errichtete Rhein-Herne-Kanal für das östliche Ruhrgebiet erlangte der Klodnitz-Kanal für Oberschlesien aber trotzdem nicht. Dafür war er immer noch zu klein dimensioniert.
Eisen- und Stahlindustrie
Ein weiterer wichtiger Abnehmer der oberschlesischen Kohle war auch die Region selber, insbesondere die Eisenindustrie, die bis zur Jahrhundertmitte ganz zur Verhüttung mit Koks übergegangen war. Die staatlichen Hütten hatten hier den Vorreiter gespielt. Doch zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte wurden mehr und mehr private Hüttenwerke gegründet, welche die staatlichen Hütten schon bald in Produktion und Absatz überflügelten. Die größten und erfolgreichsten davon waren Hütten der oberschlesischen Magnaten, weshalb sich die Rechtsform der Aktiengesellschaft in der oberschlesischen Eisen- und Stahlindustrie erst verhältnismäßig spät durchsetzte. Ähnlich war die Situation im Steinkohlenbergbau. Auch hier entstanden neben den fiskalischen Gruben nach der Aufhebung des Direktionsprinzips große Werke, von denen einige im Eigentum der großen Magnatenfamilien waren.
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Adlige Schwerindustrielle (Magnaten) Eine Besonderheit der Industrialisierung Oberschlesien war das Engagement des grundbesitzenden Adels in der Schwerindustrie, der oberschlesischen Magnaten. Die Fürsten Hohenlohe und Pleß sowie die Grafen Henckel v. Donnersmarck, Schaffgotsch und Ballestrem bauten große Privatunternehmen auf, welche die Bodenschätze auf ihren Besitzungen ausbeuteten und dort verarbeiteten. Trotz ihrer Größe wurden manche dieser Unternehmen sogar noch nach der Gründung des Kaiserreichs im Rahmen der hochadligen Güterverwaltungen betrieben. Vor dem Ersten Weltkrieg standen drei der oberschlesischen Magnaten aus den Familien Henckel von Donnersmarck, Hohenlohe und Pless an der Spitze der Liste der reichsten preußischen Adligen. Trotz ihres offensichtlichen Erfolges wurde das Beispiel der oberschlesischen Magnaten, von Einzelfällen abgesehen, auch später in Deutschland nirgends nachgeahmt.
Obwohl sich auch in Oberschlesien einige Eisenhütten mechanische Werkstätten angliederten, erreichte der Maschinenbau in Oberschlesien nicht annähernd die Bedeutung wie im Ruhrgebiet. Das schlesische Maschinenbauzentrum war eindeutig Breslau, von wo aus auch die oberschlesischen Hüttenwerke und Steinkohlegruben mit ihrer Ausrüstung beliefert
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Die sozialen Folgen wurden. So stammten von den 64 im Jahr 1852 in Oberschlesien registrierten Dampfmaschinen immerhin zehn aus Breslau und nur elf, zudem meist ältere Maschinen waren aus oberschlesischer Produktion. Für das geringe Entwicklungsniveau des oberschlesischen Maschinenbaus spricht aber besonders die Tatsache, dass mit 33 Dampfmaschinen mehr als die Hälfte aus Westdeutschland, dem Aachener und dem Ruhrrevier, stammten. In seiner Ausdehnung war das oberschlesische Revier deutlich kleiner als das Ruhrgebiet, und auch das Städtewachstum war bei weitem nicht so rasant. Die größte Stadt war Königshütte mit 32.000 Einwohnern (1885). Weitere wichtige Städten waren Gleiwitz, Beuthen, Tarnowitz, Kattowitz und Zabrze. Ähnlich wie die Hellwegstädte besaßen Gleiwitz und Beuthen durchaus eine ältere städtische Tradition, während Kattowitz und Zabrze wie die Städte der Emscherzone „Industriedörfer“ waren, die durch das Zusammenwachsen mehrerer Dörfer entstanden waren. Kattowitz erhielt aber immerhin bereits 1867 das Stadtrecht, Zabrze, das 1915 in Hindenburg umbenannt worden war, musste dagegen sogar bis zum Jahr 1922 warten.
III.
Städtewachstum
3. Die sozialen Folgen Auch während der mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts setzte sich das Bevölkerungswachstum in Deutschland weitgehend ungebremst fort. In seiner Wirkung auf die soziale Lage der Unterschichten wurde es aber dadurch abgemildert, dass nun die Auswanderung nach Übersee einsetzte. Nie zuvor hatten so viele Deutsche ihre angestammte Heimat verlassen. Während der fünfziger Jahre wanderten rund 1,1 Millionen Menschen aus Deutschland aus, 1854 allein 239.000. Rund ein Viertel davon stammte aus Südwestdeutschland. Weitere Schwerpunkte der Auswanderung waren Teile Westdeutschlands, Mecklenburg, Brandenburg, Pommern und Schlesien. Das weitaus wichtigste Auswanderungsziel waren die USA. Mehr als 90 % der Auswanderer zog es dorthin. Für das Anwachsen der Auswandererzahlen nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 waren auch politische Gründe verantwortlich. Manche flohen, weil sie verfolgt wurden, manche gingen, weil sie desillusioniert waren. Die Hauptursachen der Auswanderung waren aber die sozialen Missstände und die akute wirtschaftliche Not. Die Bewohner ganzer Dörfer verkauften ihren Besitz, um die Überfahrt bezahlen zu können. Manche Gemeinden beteiligten sich sogar an den Kosten für die Überfahrt, wenn die Empfänger bereit waren, auf jegliche Armenunterstützung in der Zukunft zu verzichten, und erklärten, aus Amerika nicht mehr heimzukehren. Politische Motive für die Auswanderung, Brief aus Milwaukee aus den vierziger Jahren an Verwandte in Pommern W. Helbich u. a. (Hg.), Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830 – 1930, München 1988, S. 182, 292.
Auswanderung
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
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Für einen Mann, der da arbeitet, ist es hier viel besser als dort; man kann das leibliche Stückchen Brot viel besser erwerben wie in Deutschland, lebt auch nicht so eingeschränkt und unter solcher Unterthanschaft wie bei Euch unter den Gutsbesitzern, braucht auch nicht den Hut zu drücken unter dem Arm oder ihn der Türe lassen, wenn man seinen verdienten Lohn haben will. Es herrschet eine ziemliche Gleichheit unter den Menschen hier in Amerika. Die Hohen und Reichen schämen sich nicht umzugehen mit den Armen und Niedrigen. […] Man kann auch frei und ungehindert reisen durch ganz Amerika, ohne etwa einen Paß oder dergleichen.
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Die soziale Not trieb dagegen Mitte der fünfziger Jahre einen 19-Jährigen aus einem kleinen Dorf an der Mosel zu seinem älteren Bruder, der sich bereits mit seiner Familie in Michigan angesiedelt hatte: Die Woche drauf gieng ich mit meinem Bruder Peter Arbeiten. Hier arbeite ich von 7 Uhr Morgens bis 7 Uhr Abens, und dann bekomm ich 1 Thlr. 20 Sgr., wenn ich von 4 M. bis 9 A. arbeite, was jetzt sehr oft der Fall ist, dann bekomm ich 2 1/2 Preußische Thaler. Da ich nun nicht mehr haben will daß mir eines von meinen Geschwistern was umsonst thun soll so geb ich unserm Peter 12 Sgr. pro Tag für Kost und Wasch. Es gefällt mir sehr gut hier und wenn es sich macht dass ihr den Herbst kommt, so müssen wir übers Jahr um dieße Zeit auch ein eigenes Haus hier stehen haben. Ich habe mich überlegt, […] daß es dieß Jahr guten Wein gibt, ihr es vieleicht ganz gut machen könnt. Ich schicke euch darum das Geld ganz gerne, denn wenn ihr hier seid braucht ihr nicht mehr so in Kummer zu leben wie in Deutschland.
Die Organisation der Auswanderung entwickelte sich zu einem eigenen Gewerbe. Es entstanden Auswandererzeitungen und Gesellschaften, welche die Informationen über die „Neue Welt“ verbreiteten. Es wurden Auswanderer-Agenturen gegründet und es entstanden Schifffahrtslinien wie die Hamburg-Amerika Packet AG (Hapag), welche sich auf die Überfahrt auswandernder Europäer spezialisierten. Das wichtigste Medium der forcierten Auswanderung bildeten jedoch die Briefe, welche an Verwandte und Nachbarn in Deutschland geschrieben wurden und dazu aufforderten nachzukommen. So entstanden in den USA ganze landsmannschaftlich geprägte Regionen, und auch Städtenamen weisen manchmal noch heute auf eine größere deutsche Kolonie zur Gründungszeit hin (Hanover/New Hampshire, Berlin/Connecticut, Minden/Nevada, aber auch Bismarck/North Dakota oder Humboldt/Nebraska). Die Weltwirtschaftskrise der späten fünfziger Jahre und besonders der amerikanische Bürgerkrieg (1861 – 1865) verlangsamten vorübergehend die Auswanderung in die USA. In diesen Perioden trat erstmals eine andere Wanderungsbewegung in Erscheinung: die Binnenwanderung. Denn die Industrie begann seit den sechziger Jahren langsam den ländlichen ,Bevölkerungsüberschuss‘ zu absorbieren. Hunderttausende wanderten zunächst aus dem Umland, später auch aus weit entfernten Gebieten in die entstehenden Industriezentren.
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Die sozialen Folgen In der Bundesakte des Deutschen Bundes war 1815 die Binnenwanderung in den Einzelstaaten wie die Wanderung über die Landesgrenzen innerhalb des Bundes von allen Beschränkungen befreit worden. Die Wanderungsströme ließen sich deshalb nicht lenken, so dass die Zuwanderungsziele sich häufig mit neuen sozialen Belastungen konfrontiert sahen. Manche Städte reagierten mit Zuzugsbeschränkungen, um Personen von der Ansiedlung abzuhalten, von denen absehbar war, dass sie in kurzer Zeit der kommunalen Armenpflege zur Last fallen würden. Der Gesetzgeber hatte dem städtischen Spielraum in diesem Punkt allerdings enge Grenzen gesetzt. Um die an sich erwünschte Mobilisierung von Arbeitskräften nicht einzuschränken, durften in Preußen bis zur Novellierung des Armenrechts im Jahr 1855 nur schlecht beleumundete und sich im Zustand aktueller Armut befindende Personen von den Städten abgewiesen werden. Im Jahr 1855 wurde der Grundsatz des freien Zuzugs insofern eingeschränkt, als Personen, die innerhalb eines Jahres nach ihrem Zuzug der öffentlichen Armenpflege zur Last fielen, wieder an ihren bisherigen „Unterstützungswohnsitz“ zurückgeschickt werden konnten. Die Pflicht der Gemeinden zur Unterstützung eines Armen begann von nun ab erst, wenn die Armut nach einem mindestens einjährigen Aufenthalt im Zuzugsort eingetreten war. Industrialisierung und Zuzug zwangen die großen Gewerbestädte aber über kurz oder lang, sich in die alte Feldmark hinein auszudehnen. Dort entstanden mehrstöckigen Massenwohnhäuser, für die sich dann der Begriff „Mietskasernen“ einbürgerte und die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zur dominierenden Wohnhausform vor allem in den Berliner Vorstädten werden sollten. Die Bauherren waren in der Regel Bau- und Erschließungsgesellschaften („Terraingesellschaften“), die ausschließlich an der Rendite der Objekte interessiert waren. Tatsächlich erlaubten es eine bisher im Wohnungsbau nicht gekannte Zahl von Stockwerken sowie Wohnungen im Vorderhaus, in den Seitenflügeln und in den Hinterhäusern, die Grundstücksfläche optimal auszunutzen. Mietskaserne Als „Mietskasernen“ werden große, mehrgeschossige Mietshäuser für die städtischen Unterschichten bezeichnet. Das Bauprinzip bestand darin, eine möglichst hohe Anzahl von Wohnungen auf dem gegebenen Grundstück unterzubringen. Dabei wurden die Bauvorschriften bis aufs Äußerste ausgereizt oder sogar ignoriert. An das repräsentative Vorderhaus schlossen sich mehrere aneinander gebaute Hinterhäuser an, so dass dazwischen nur noch enge, meist rechteckige Höfe frei blieben, die nur durch Durchfahrten unter den Häusern zugänglich waren. Eine Abfolge von drei bis acht Hinterhofblöcken war keine Seltenheit. Die Vorderhäuser boten für die Bewohner, überwiegend Kleinbürger, recht gute Wohnverhältnisse. Die Wohnungen in den Hinterhäusern waren dagegen schlecht belüftet und laut, nicht selten waren dort auch kleine Gewerbebetriebe untergebracht. Besonders schlecht waren die Wohnungen in den unteren Stockwerken und im Keller. Sie waren feucht und sie erreichte kaum das Tageslicht. Dort lebten die ärmsten Proletarierfamilien.
III. Binnenwanderung
Wohnen in der Großstadt
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
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Zur großstädtischen Entwicklung durch den Bau von Mietskasernen, um 1890 Aus den Lebensberichten deutscher Fabrikarbeiter. Zusammengestellt v. Georg Eckert, Braunschweig 1953. Unser Vorstadtdorf schloss sich so dicht an Chemnitz an, dass man beider Grenzen nicht mehr herausfinden konnte. Beide gingen ineinander über, und auf der anderen Seite des Dorfes bildete eine ganz stundenlange Kette von Dörfern, wie das in dem dicht bevölkerten Sachsen nicht selten vorkommt, seine Fortsetzung. Dieser Zusammenhang bestimmte Aussehen und Anlage unseres Ortes. Es war halb Stadt, halb Dorf: zwischen den alten charakteristischen […] Landhäusern hoben sich die zum Sterben nüchternen städtischen […] Mietskasernen empor. Nur ein kleines Viertel gab es noch, wo der alte Charakter des ehemaligen Dorfes […] ganz rein erhalten war. Aber dicht daneben wuchs mit Riesenschnelle wieder ein rein städtischer Teil empor, zwei breite, mächtige, parallel laufende Straßen, wo in gerader Linie Kaserne an Kaserne stand. […] So gab auch die äußere Gestalt dieses Vorstadtdorfes ein Abbild der wirtschaftlichen Wandlung, die seine Bewohner eben durchmachten: die Entwicklung aus Land- und Ackerbauern in großindustrielle Fabrikarbeiter.
Eine Sonderform der Siedlungsentwicklung stellte das Ruhrgebiet dar. Dort begannen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts verschiedene Großunternehmen damit, für ihre Arbeiter Werkssiedlungen zu bauen. Der Zweck des Werkswohnungsbaus lag anders als beim sonstigen privaten Mietwohnungsbau nicht in erster Linie in der Rendite der Objekte, sondern das vordringliche Ziel war die Heranziehung größerer Arbeiterzahlen und ihre Bindung an das jeweilige Unternehmen. Zunächst zielten die wohnungsbaupolitischen Maßnahmen der größeren Betriebe noch auf ledige junge Männer, für die riesige Schlafhäuser errichtet wurden. Um 1870 soll es im Ruhrgebiet etwa 35 Schlafhäuser für familienlose Arbeiter gegeben haben.
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Werkssiedlungen Der Werkswohnungsbau bildete den zunächst wichtigsten Teil der betrieblichen Sozialpolitik schwerindustrieller Großunternehmen. Um einen gut ausgebildeten Facharbeiterstamm stärker an den Betrieb zu binden, wurden seit den sechziger Jahren und verstärkt nach der Reichsgründung Werkswohnungen erbaut, deren Mietpreise deutlich unter dem marktüblichen Niveau lagen. Der Schwerpunkt dieser Aktivitäten lag in großindustriell geprägten Regionen wie dem Ruhrgebiet. Dabei handelte es sich anfangs um Reihenhäuser, die von mehreren Familien und im Obergeschoss oftmals von Untermietern bewohnt wurden („D-Zug-Siedlung“). Seit den neunziger Jahren wurden die starren Bebauungsformen etwas aufgelockert und Siedlungen mit kleinen Fachwerkhäusern und abgeschlossenen Familienwohnungen errichtet, um die „würdigen“ Arbeiter für ihre Betriebstreue zu belohnen. Charakteristisch für solche Werkssiedlungen waren auch kleine Gärten und jeweils ein kleiner Stall, wodurch ein Teil der Subsistenz der Arbeiterfamilie gesichert werden sollte.
Betrieblicher Wohnungsbau
In den siebziger Jahren, nicht zuletzt ausgelöst durch den Bergarbeiterstreik von 1872, erfuhr der betriebliche Wohnungsbau einen Aufschwung. Ein besonders berühmtes Beispiel ist der von Krupp betriebene Arbeiterwohnungsbau. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass 12 % der Essener
Die sozialen Folgen
III.
Bevölkerung um die Jahrhundertwende in Werkswohnungen wohnten. Die Fluktuation innerhalb der Kruppschen Belegschaft lag nicht zuletzt wegen dieser Werkswohnungen deutlich niedriger als bei anderen Unternehmen der Schwerindustrie ohne vergleichbare sozialpolitische Maßnahmen. Den Vorteilen des betrieblichen Wohnungsbaus standen aber auch erhebliche Nachteile für die Mieter entgegen. Abgesehen von der mit dem Bezug der Wohnung eingegangenen Bindung des Arbeiters an das Unternehmen kam dieser sozialpolitischen Maßnahme auch eine streikhemmende Funktion zu. Denn die Mietverträge der Kruppschen Wohnungen sahen ausdrücklich vor, dass bei „notorischer Unverträglichkeit“ sowie auch „im Geschäftsinteresse“ des Unternehmens jederzeit gekündigt werden konnte. Alfred Krupp über die Funktion des Werkswohnungsbaus, 1877 Ein Wort an die Angehörigen meiner gewerblichen Anlagen, zitiert in: Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich, S. 611.
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Das Politisieren in der Kneipe ist nebenbei sehr theuer, dafür kann man im Hause Besseres haben. Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern. Da sucht Eure Erholung, sinnt über den Haushalt und die Erziehung. Das und Eure Arbeit sei zunächst und vor Allem Eure Politik. Dabei werdet Ihr frohe Stunden haben.
Um die Stadtentwicklung in geordnete Bahnen zu lenken, wurden seit den sechziger Jahren für einzelne Straßenzüge „Fluchtlinienpläne“ erarbeitet. Preußen war zwar nicht der erste deutsche Staat, der dafür eine einheitliche gesetzliche Grundlage schuf, dafür regelte es die Stadtplanung aber besonders gründlich. Das Fluchtliniengesetz von 1875 begründete in Verbindung mit dem Enteignungsgesetz von 1874 die moderne kommunale Stadtplanung aufgrund von Normen, die bis zum Erlass des Bundesbaugesetzes von 1960 ihre Gültigkeit behielten. Die Stadtplanung war aber nur der Beginn einer völlig neuen Aufgabenpalette der städtischen Verwaltungen. Für die wachsenden Einwohnermassen und die ortsansässigen Wirtschaftsbetriebe mussten völlig neuartige Dienstleistungen erbracht werden. In einer Großstadt war der Einzelne nicht mehr in der Lage, sich mit frischem Wasser, Lebensmitteln, Koch-, Heiz-, Leucht- und Antriebsenergie zu versorgen. Die traditionelle Entsorgung von Abwässern, Exkrementen und Abfällen wurde nicht nur zu einer unerträglichen Belästigung, sondern auch zu einem Hort von Krankheiten wie einfachen Durchfallerkrankungen, aber auch epidemischen Krankheiten wie Cholera und Typhus. Nachdem jedoch Bakteriologen das Trinkwasser als Übertragungsweg dieser Krankheiten identifiziert hatten, begannen die Großstädte in Deutschland mit dem Aufbau einer modernen städtischen Infrastruktur aus Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsanlagen. Obwohl sich die hygienischen Verhältnisse dadurch deutlich verbesserten, schloss auch eine Wasserleitung nicht gänzlich aus, dass sich in Einzelfällen über das Trinkwasser, das vielfach aus Flusswasser gewonnen wurde, epidemische Krankheiten verbreiteten. Mit dem Durchbruch der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung hatte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Ordnung der Gesellschaft
Stadtplanung
Klassenbildung
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Fabrikarbeiterschaft
Innere Differenzierung
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fundamental verändert. Die alte, durch ständische Privilegien strukturierte Feudalgesellschaft wurde von der Marktgesellschaft abgelöst, deren strukturierendes Merkmal der Besitz von bzw. die Verfügungsgewalt über Kapitalgüter darstellt – oder aber deren Nichtbesitz. Dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930 – 2002) folgend sollte der Kapitalbegriff dabei allerdings weiter gefasst werden als der klassische Marxsche Begriff der Produktionsmittel. Bourdieus Kapitalbegriff ergänzt das materielle Kapital (Vermögen, Produktionsmittel) durch die Dimension des kulturellen oder Bildungskapitals und die Dimension des sozialen Kapitals, der Einbindung in ein soziales Netzwerk. Auf diese Weise wird erklärlich, weshalb so unterschiedliche Berufsgruppen wie Unternehmer und Universitätsprofessoren derselben sozialen Klasse, dem Bürgertum, angehören. Ihre Berufe setzen eine weit überdurchschnittliche Akkumulation von Kapital voraus, allerdings gänzlich unterschiedlicher Kapitalsorten: der Unternehmer verfügt über materielles, der Universitätsprofessor über kulturelles Kapital. In einer Klassengesellschaft wird die Einbindung in die gesellschaftliche Hierarchie nicht mehr wie in der Ständegesellschaft ein für allemal durch die Geburt festgelegt. In der Theorie ist es durchaus denkbar, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens die soziale Klasse verlässt, in die er hineingeboren wurde. Praktisch war das allerdings sehr schwierig und kam im 19. Jahrhundert entsprechend selten vor. Immerhin, über mehrere Generationen gesehen, war der Aufstieg beispielsweise von einer Pariaexistenz als jüdischer Kleinhändler im sozialen Ghetto zu einem nobilitierten, zum Christentum konvertierten Bankier mit direktem Zugang zum Hof durchaus denkbar. Die Herausbildung von Marktklassen veränderte zwar auch die ständischen Formationen des Adels und des Bürgertums. Das Charakteristikum der Marktgesellschaft des 19. Jahrhunderts war aber das Vordringen der Lohnarbeit und damit die Herausbildung der sozialen Klasse der Fabrikarbeiterschaft. In den vierziger Jahren hatte die Fabrikarbeiterschaft noch eine kleine Gruppe innerhalb der städtischen Unterschichten gebildet. Um 1850 wird es gerade einmal etwa 270.000 Fabrikarbeiter und gut 50.000 Bergarbeiter im Zollvereinsgebiet gegeben haben. Das waren noch nicht einmal 5 % aller Erwerbstätigen. Ihre Zahl wurde zu dieser Zeit also noch von den pauperisierten protoindustriellen Arbeitern, den Landarbeitern und den Handwerksgesellen um ein Vielfaches übertroffen. Der mit weitem Abstand größte Betrieb dieser Zeit, der Maschinen- und Lokomotivbauer Borsig in Berlin, hatte 1847 etwa 1.200 Beschäftigte. Seit den fünfziger Jahren begann die Zahl der Fabrikarbeiter dann deutlich zu wachsen. Bis 1861 hatte sich sowohl ihre Zahl als auch die Zahl der Bergarbeiter fast verdoppelt und während der sechziger und frühen siebziger Jahren dann noch einmal fast verdreifacht. Der Anteil der Fabrikarbeiter lag nun bei etwa 12 % bis 14 % aller Erwerbstätigen. Bei Friedrich Krupp, dem größten deutschen Betrieb in dieser Zeit, arbeiteten schon über 10.000 Menschen. Es wäre eine ganz falsche Sicht, wenn man unterstellen würde, dass die Fabrikarbeiter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich nichts zu verlieren gehabt hätten als ihre Ketten. Denn was ihre soziale Lage betrifft, war auch die industrielle Fabrikarbeiterschaft vielfach in sich geschichtet. An der
Die sozialen Folgen Spitze stand eine „Arbeiteraristokratie“ von handwerklich hoch qualifizierten Facharbeitern (Setzer, Drucker, Lithographen, Goldschmiede, Steinmetze, Buchbinder). Sie wurden nicht nur im Vergleich zu allen anderen Arbeitern recht gut bezahlt, sondern sie verdienten auch mehr als manch selbständiger Handwerksmeister. Auch die breite Masse der Facharbeiter (insbesondere Bergleute und Facharbeiter in der Metallindustrie) hatten noch ihr Auskommen, jedenfalls solange sie gesund blieben. Denn die meisten Facharbeiterberufe waren von den Unternehmern sehr gesucht, von längerer Arbeitslosigkeit waren sie deshalb nicht bedroht. Deutlich schlechter erging es den angelernten und schließlich den ungelernten Arbeiter. Bei den letzteren handelte es sich zum größten Teil um die erste Generation der vom Land zugewanderten Angehörigen der ländlichen Unterschicht. Sie waren selber nur in den seltensten Fällen in der Lage, ihre gedrückte soziale Stellung zu verbessern. Erst ihre Kinder hatten eine reale Chance, in die nächste Stufe der Angelernten aufzusteigen. Der Stundenlohn eines einfachen Handlangers konnte mitunter bei 10 % der Stundenlöhne der Facharbeiterelite liegen. Da qualifizierte Facharbeiter in aller Regel dauerhaft beschäftigt waren, während sich die Hilfsarbeiter ständigem Lohndruck durch Zuwanderungswellen, Kurzarbeit und monatelange Arbeitslosigkeit ausgesetzt sahen, fiel der Vergleich der Jahreseinkommen von Facharbeitern und Hilfsarbeitern noch mehr zuungunsten der Letzteren aus als ein Vergleich der Stundenlöhne. Mit dem Einsetzen der schwerindustriellen Phase der Industrialisierung begannen die Realeinkommen der Arbeiter langsam zu steigen. Charakteristischerweise stiegen aber die Einkommen der Facharbeitern schneller als die der Handlanger, so dass deren Lage weiterhin prekär blieb. Immerhin blieb aber auch den ungelernten Fabrikarbeitern der fünfziger und sechziger Jahre das Schicksal der pauperisierten Unterschichten der Vorgängergeneration erspart. Eine durchgreifende Verbesserung ihrer Lage konnte die gewerbliche Lohnarbeiterschaft weder von den Unternehmern noch vom Staat erwarten. Sie war demzufolge auf Selbsthilfemaßnahmen angewiesen, wenn sie höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen erreichen wollte. Das Spektrum der Maßnahmen reichte vom spontanen, unkoordinierten und häufig gewalttätigen Protest über den geplanten Streik bis zur Gründung gewerkschaftlicher Organisationen und Parteien. Streik Der soziale Protest des frühen 19. Jahrhunderts war noch meist auf defensive Ziele ausgerichtet, etwa althergebrachte Rechte wieder herzustellen und überkommene soziale Strukturen zu bewahren. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist der Handwerkerprotest gegen die Abschaffung bzw. die Reform der Zunftverfassung. Außerdem entstammten die Protestteilnehmer meist nicht einer bestimmten sozialen Schicht (oder Klasse), sondern setzten sich aus verschiedenen sozialen Gruppen zusammen. Der wichtigste Aspekt der sozialen Proteste der Frühindustrialisierungszeit war jedoch ihr spontaner und unorganisierter Charakter. Im Zug der Industrialisierung veränderten sich die Formen des sozialen Protests jedoch: Es entwickelten sich der Streik als Protestform und die Gewerkschaft als Organisationsform. Bei einem Streik handelte es sich im Gegensatz zu früheren
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Arbeiterbewegung
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Die schwerindustrielle Phase (1830 – 1890)
III.
Protestformen um eine befristete kollektive Arbeitsniederlegung von abhängig Beschäftigten zur Durchsetzung geforderter Arbeits- und Einkommensverhältnisse. Die Streikenden wiesen meist eine homogene soziale Trägerschaft auf, die offensiv für klar definierte Ziele (Lohnerhöhungen, verbesserte Arbeitsbedingungen, kürzere Arbeitszeiten) eintrat. Zur Erhöhung ihrer Schlagkraft hatten sie sich in Gewerkschaften organisiert, die im Streikfall auch Unterstützungszahlungen leisten konnten. Die Unternehmer beantworteten den Streik häufig mit Aussperrung, einer befristeten Verweigerung der sonst üblichen oder vertraglichen Arbeitsgelegenheiten. Die Bildung von Organisationen zur kollektiven Abwehr eines Streiks, den Arbeitgeberverbänden als Gegenmodell zu den Gewerkschaften, kam erst vergleichsweise spät zustande. Denn die Staatsmacht stand ohnehin bei Arbeitskämpfen praktisch immer auf der Seite der Unternehmer.
Die ersten gewerkschaftsähnlichen Zusammenschlüsse waren lokal organisiert und wiesen oft einen berufsspezifischen Zusammenhang auf. Bereits 1849 waren aber in den ersten nationalen Zusammenschlüssen, dem „Gutenbergbund der Buchdrucker und Schriftsetzer“ sowie der „Association der Zigarrenarbeiter Deutschlands“, bereits jeweils mehrere tausend Mitglieder organisiert. Nach einer Unterbrechung während der repressiven fünfziger Jahre setzte sich diese Tendenz zur Organisation seit den sechziger Jahren und insbesondere seit der Liberalisierung des Koalitionsrechtes 1869 immer stärker durch. Die Herausbildung der modernen Parteien während der Reichsgründungszeit führte allerdings zu einer organisatorischen Differenzierung. Während die sozialistischen Gewerkschaften verbalradikale, klassenkämpferisch-sozialrevolutionäre Positionen vertraten, verfolgten die linksliberalen (oder „Hirsch Dunckerschen“) Gewerkschaften eher einen sozialreformerischen Kurs. Später entwickelte sich mit den christlichen Gewerkschaften eine dritte und ebenfalls sozialreformerische Gewerkschaftsbewegung heraus, die der katholischen Zentrumspartei nahestand.
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IV. Die Industrialisierungsphase der „neuen“ Industrien (1880–1914) Viele Wirtschaftshistoriker benutzen den Begriff der „Zweiten Industriellen Revolution“ zur Charakterisierung des letzten Innovationsschubs, bevor mit dem Ersten Weltkrieg und seinen katastrophalen wirtschaftlichen Folgen für Sieger wie Verlierer in Europa ein neues Kapitel der Geschichte der Weltwirtschaft eingeläutet wurde. Was jedoch genau unter der „Zweiten Industriellen Revolution“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen ebenso auseinander wie darüber, wann sie denn eingesetzt habe. Sehr grob betrachtet lassen sich zwei grundlegende Positionen in der Wirtschafts- und Technikgeschichtsschreibung über die „Zweite Industrielle Revolution“ ausmachen. Während die angelsächsische, insbesondere die amerikanische Literatur mit der „Zweiten Industriellen Revolution“ den Übergang zur Massenproduktion meint, richtet die deutsche Literatur ihr Augenmerk eher auf die „neuen Industrien“ des späten 19. Jahrhunderts. Diese unterschiedliche Sicht lässt sich recht eindeutig mit der jeweiligen nationalen Wirtschaftsgeschichte erklären. So bildete der Erste Weltkrieg für die Wirtschaft der USA keinen vergleichbaren Einschnitt wie für die europäische, insbesondere die mitteleuropäische Wirtschaft. Gleichzeitig hatte der Eisenbahnbau und die Massenproduktion von Stahl die Wirtschaft der USA erst später umgestaltet als in West- und Mitteleuropa, während andererseits der Massenkonsum in den USA sehr viel früher einsetzte. Der Beginn der Massenproduktion etwa in der Stahlherstellung und der einsetzende Massenkonsum fielen deswegen in den USA zeitlich bei weitem nicht so weit auseinander wie in Europa. Deshalb betrachtet die amerikanische Wirtschaftsgeschichtsschreibung eher die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre als eine Zäsur. In dieser Perspektive bildeten der „Taylorismus“ und die bei Ford kurz vor dem Ersten Weltkrieg erstmals erfolgreich angewendete Fließbandfertigung von Automobilen den Höhepunkt der „Zweiten Industriellen Revolution“. Wissenschaftliche Betriebsführung („Taylorismus“) Der Amerikaner Frederick W. Taylor (1856 – 1915) gilt als der Prophet von Arbeitszerlegung und Dequalifizierung der Arbeit und somit der „wissenschaftlichen Betriebsführung“. Als Maschinist und Ingenieur eines großen Stahlunternehmens hatte er die Beobachtung gemacht, dass die menschliche Arbeitskraft in der Fabrik besser ausgenutzt werden könnte, indem man die bisher allein von Erfahrung und Faustregeln geregelten Arbeitsabläufe wissenschaftlich fundierte. Seit 1882 versuchte er deshalb, Arbeitsabläufe mit Hilfe der Stoppuhr zu messen und zu optimieren. Von 1890 bis 1901 betätigte er sich als selbständiger Rationalisierungsberater und bemühte sich dabei um die Verbreitung seiner Ideen, die er schließlich im Jahr 1911 in seinem Hauptwerk „The Principles of Scientific Management“ zusammenfasste. Darin glaubte er mit der wissenschaftlichen Betriebsführung nicht nur die individuelle Arbeitsleistung und damit die Arbeitsproduktivität erhöhen zu können, sondern er war auch davon überzeugt, den Schlüssel für einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gefunden zu haben. Denn die Arbeiter sollten an den Produktivitätsfortschritten ihrerseits durch Lohnerhöhungen profitieren.
Zweite Industrielle Revolution?
Massenproduktion
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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Frederick Taylor zur Betriebsführung F. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München 1919, S. 150 f. Ich bin der festen Überzeugung, dass man als Mittel zur Herbeiführung größerer Leistungsfähigkeit und besserer Kraftausnutzung der Arbeitgeber und -nehmer und weiter zur Herbeiführung einer gleichmäßigen Verteilung des Gewinns ihrer zu gemeinsamer Arbeit verbundenen Anstrengungen die Verwaltungs- und Arbeitsmethoden auf wissenschaftlicher Grundlage wählen wird; denn ihr einziges Ziel ist die Schaffung von Verhältnissen, die allen Parteien gleiches Recht zu Teil werden lassen auf Grund unparteiischer wissenschaftlicher Untersuchungen aller in Frage kommender Momente. […] Betriebs- und Arbeitsmethoden auf wissenschaftlicher Grundlage verlangen nicht notwendigerweise große Erfindungen oder die Entdeckung von neuen epochemachenden Tatsachen. Sie verlangen jedoch eine Kombination einzelner Momente, wie sie früher nicht existierte, nämlich: altererbtes Wissen so gesammelt, analysiert, gruppiert und in Gesetze und Regeln gebracht, dass eine richtige Wissenschaft daraus wird; dazu ein vollständiger Wechsel in der Auffassung von Pflicht, Arbeit und Verantwortlichkeit bei den Arbeitern sowohl wie bei der Leitung.
Neue Innovationskultur
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In Europa setzten die Massenmotorisierung und der Massenkonsum erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, so dass dort die „Zweite Industrielle Revolution“ auch in der wirtschafts- und technikhistorischen Forschung seltener mit der Massenproduktion in Verbindung gebracht wurde. Dennoch betont der Technikhistoriker Wolfgang König zu Recht, dass eine rationelle Produktion eine notwendige, aber eben noch keine hinreichende Bedingung für den Massenkonsum war. Fertigungsfreundliches Konstruieren, Standardisierung und Automatisierung sowie die Steigerung des Material-, Energie- und Informationsflusses verbilligten die Güter und schufen damit die Voraussetzung für die Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts. Die Rationalisierung der Produktion ist aber das Charakteristikum der Industrialisierung überhaupt und nicht etwa einer „Zweiten Industriellen Revolution“. Insbesondere in Deutschland hat man die Bezeichnung „Zweite Industrielle Revolution“ deswegen lange Zeit für gerechtfertigt gehalten, weil der technische Fortschritt seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr von Empirikern (durch „Tüfteln und Basteln“) getragen worden sei, sondern weil nun erstmals gezielt moderne naturwissenschaftliche Methoden in der industriellen Forschung und Entwicklung eingesetzt wurden. Stellvertretend für diese neue Innovationskultur steht die systematische Forschung, mit der es Thomas Edison (1847 – 1931) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gelang, nicht nur ein funktionsfähiges elektrisches Beleuchtungssystem vom Generator über die Transmission bis zur Glühlampe zu erfinden, sondern auch gegenüber der Gasbeleuchtung konkurrenzfähig zu sein. Die Kritiker der These einer „Zweiten Industriellen Revolution“ betonen aber zu Recht, dass eine solche Bewertung die Erfindungen der ersten Industriellen Revolution unterschätzt. Denn auch schon die Revolutionierung der Stahlproduktion seit Henry Bessemer war das Ergebnis der praktischen Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, und auch bereits die Eisen-
Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren bahn setzte ein System von Erfindungen voraus (von der Stahlschiene über die Lokomotive bis zum Brücken- und Tunnelbau), um als Basisinnovation wirksam zu sein. Auch die Versuche, eine „Zweite Industrielle Revolution“ über die neue Qualität der Produkte zu definieren, sind nicht überzeugend. So soll die Anwendung neuer synthetischer Ressourcen wie Leichtmetall, Plastik und andere Produkte der chemischen Industrie sowie neue Energiequellen (Hydroelektrizität, Erdöl und Atomenergie) eine neue Phase der Industrialisierung geprägt haben. Tatsächlich stellt aber auch schon der Stahl ein synthetisches Produkt dar, dessen Bedeutung der Nationalökonom Werner Sombart (1863 – 1941) für die „klassische“ Industrielle Revolution dadurch adelte, dass er die Verarbeitung der Steinkohle zu Koks, wodurch die Herstellung von Massenstahl erst ermöglicht wurde, noch vor der Dampfmaschine als die wichtigste Errungenschaft der modernen Technik überhaupt ansah. Im Folgenden wird deshalb nicht von einer „Zweiten Industriellen Revolution“ die Rede sein. Allerdings bleibt es richtig, dass der schwerindustrielle Führungssektorkomplex seit den siebziger Jahren seine „Lokomotivfunktion“ im Industrialisierungsprozess in Deutschland einbüßte und nach einer Übergangszeit durch neue Führungssektoren, insbesondere die elektrotechnische Industrie, aber auch die Chemie- und optische Industrie sowie den Fahrzeugbau ersetzt wurde. Diese Führungssektoren werden zusammenfassend als „neue Industrien“ bezeichnet und die Phase der Industrialisierung, der sie ihren Stempel aufdrückten, demnach als die Phase der „neuen Industrien“.
IV.
Erschließung synthetischer Ressourcen
1. Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren Entgegen der älteren Auffassung, wonach die deutsche Wirtschaft seit der Mitte der siebziger Jahre für etwa zwei Jahrzehnte in eine Phase der Stagnation eingetreten sei, ist sich die moderne Forschung weitgehend einig, dass aufgrund einer weiterhin expansiven Tendenz der deutschen Volkswirtschaft von einer „großen Depression“ von der Mitte der siebziger bis zu Beginn der neunziger Jahre keine Rede sein kann. Richtig bleibt aber, dass die klassischen Sektoren der deutschen Industrialisierung ihre Wachstumsdynamik in dieser Zeit weitgehend eingebüßt hatten. Zum ersten Mal seit dem Durchbruch der Industrialisierung in Europa machte man in Deutschland kurz nach der Reichsgründung nun die Erfahrung, dass es trotz der modernen Wirtschaftsstruktur eine dauerhafte Wachstumsschwäche gab. Der Abschwung der ersten (leichtindustriellen) Industrialisierungsphase hatte den Kontinent kaum betroffen, da die nachlassende Wachstumsdynamik der Textilindustrie noch nicht spürbar war, solange es gar keine nennenswerte Textilindustrie auf dem Kontinent gab. In Deutschland und vielen anderen Teilen Kontinentaleuropas war diese Entwicklung insofern kaum relevant, weil die Textilindustrie Großbritanniens in dieser Zeit weiterhin als eine existentielle Bedrohung des heimischen (überwiegend noch nicht industrialisierten) Textilgewerbes angesehen wurde.
„Große Depression“?
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
IV.
Nun hatten die Staaten des Deutschen Zollvereins die zweite Phase der Industrialisierung genutzt, um zur „Werkstatt der Welt“ aufzuschließen, so dass eine überlegene Konkurrenz jetzt nicht mehr in der Weise gefürchtet werden musste wie in den zwanziger bis vierziger Jahren. Insofern stellte der konjunkturelle Abschwung der siebziger Jahre eine neue Erfahrung dar. Zwei weitere Faktoren verschärften die Lage: Erstens waren konjunkturelle Schwankungen kein Problem nationaler Volkswirtschaften mehr, sondern die weltwirtschaftliche Verflechtung war schon so weit ausgeprägt, dass es zu einem Gleichschritt der führenden Industrienationen auf dem Weltmarkt kam. Das bedeutete, dass sich eine sinkende Nachfrage etwa nach Stahl in Deutschland und Überkapazitäten in der deutschen Stahlindustrie nicht durch den Export in andere Länder ausgleichen ließ. Denn bei den wichtigsten Abnehmern im Ausland herrschte ebenfalls eine Absatzflaute, während gleichzeitig die wichtigsten Konkurrenten auf dem internationalen Stahlmarkt ihrerseits versuchten, ihre binnenwirtschaftlichen Probleme durch verstärkten Export zu lösen. Als spezifisches Problem der deutschen Wirtschaft kam zweitens hinzu, dass die Kapazitäten während der Hochkonjunktur der frühen siebziger Jahre („Gründerboom“) in Deutschland in fast allen Branchen besonders stark ausgebaut worden waren.
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Gründerboom Die Wachstumsbedingungen waren für die Volkswirtschaft in Deutschland zu Beginn der siebziger Jahre in verschiedener Hinsicht außergewöhnlich. Gegen Ende der sechziger Jahre hatte bereits ein Aufschwung eingesetzt, der im Jahr 1870 durch den Krieg gegen Frankreich zwischenzeitlich aufgehalten wurde. Nachdem der Krieg gewonnen und das Reich als einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen worden war, konnten sich nicht nur die politisch zurückgehaltenen Wachstumsimpulse Bahn brechen, sondern ein gewaltiger ökonomischer Optimismus, die Ausführung von Projekten in völlig neuen Dimensionen verlieh dem Konjunkturaufschwung seit 1871 einen geradezu gigantomanischen Charakter. Von der monetären Seite wurde der Aufschwung außerdem durch die französische Kriegskontribution in Höhe von 5 Mrd. Franc angeheizt – einer für die damalige Zeit gewaltige Summe. Realwirtschaftlich wurde der „Gründerboom“ in erster Linie durch die Schwerindustrie getragen, wobei die Eisenbahnen letztmalig in der deutschen Geschichte ihre „Lokomotivfunktion“ als Nachfrager wahrnahmen. Kohle, Eisen, Stahl und Maschinenbau konnten trotz einer maximalen Auslastung ihrer Kapazitäten die Nachfrage nicht mehr annähernd befriedigen. Die Preise stiegen, ohne dass die Nachfrage nachließ, die Kapazitäten wurden rasch erweitert, die Gewinne und mehr noch die Gewinnerwartungen stiegen ins unermessliche.
Krise der Stahlindustrie
Obwohl der konjunkturelle Abschwung damit flächendeckend die gesamte Volkswirtschaft traf, waren zwei Branchen, die wirtschaftlich und politisch überaus bedeutend waren, besonders stark betroffen: die Eisen- und Stahlindustrie und die Landwirtschaft. Die nachlassende konjunkturelle Dynamik hatte sofort nach der Krise von 1873 bei den privaten Eisenbahngesellschaften zu einem Umdenken geführt. Hatte die Hochkonjunktur während des „Gründerbooms“ noch erwarten lassen, dass bestimmte, in dieser Zeit neu geplante Strecken Gewinne abwerfen würden, ließ der konjunkturell bedingte Rückgang der Nachfrage im Güterverkehr nun das Gegenteil vermuten. Der Ausbau der Netze wurde deswegen relativ kurzfristig gestoppt. Die
Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren Eisenbahngesellschaften nahmen es lieber in Kauf, dass die Konzessionen für die Neubaustrecken verfielen als absehbar unrentable Strecken zu bauen. Die Stahlindustrie bekam die nachlassende Eisenbahnnachfrage als erste zu spüren und konnte sich aufgrund der langen Vorlaufzeiten des Bahnbaus ausrechnen, dass sich daran auf absehbare Zeit auch nichts ändern würde. Die deutschen Eisenindustriellen waren noch nie überzeugte Freihändler gewesen. Sie waren auch politisch einflussreich genug, um als einzige bedeutende Industrie im Zollverein mit dem Roheisenzoll von 1844 einen Zollschutz für ein Halbfertigprodukt durchzusetzen. Erst zu Beginn der siebziger Jahre waren die letzten deutschen Importzölle auf Roheisen, Rohstahl und (Stahl-)Schiffe abgeschafft worden. Aus der Sicht der Eisen- und Stahlindustrie war die Lösung des Problems deshalb im Wesentlichen eine politische: die Wiedererrichtung von Zollbarrieren zum Schutz des Binnenmarktes. Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung dieser Forderung innerhalb der Unternehmerschaft und gegenüber Reichstag und Reichsregierung war die Organisation unternehmerischer Interessen in Verbänden. Die Handelskammern waren für die Interessenvertretung einer Branche nicht geeignet. Sie repräsentieren die Unternehmerschaft eines bestimmten Bezirks. Ihre Ausrichtung war (und ist bis heute) eine regionale. Auch die bereits existierenden Branchenverbände hatten sich in der Vergangenheit als zu schwach bei der Durchsetzung wirtschaftpolitischer Forderung erwiesen. Wenn die Schutzzollagitation erfolgreich sein sollte, brauchte man einen „Verband der Verbände“, in dem die Schutzzöllner dann die Meinungsführerschaft übernehmen mussten. Ein solcher Verband kam 1876 auf dem Höhepunkt der zollpolitischen Auseinandersetzungen mit dem Centralverband Deutscher Industrieller (CDI) tatsächlich zustande. Die Schutzzöllner und unter ihnen besonders die Schwerindustriellen bekamen den Verband schnell in den Griff und bestimmten dessen Politik. Trotz einer Konkurrenzgründung in den neunziger Jahren war die Hegemonialstellung der Schwerindustrie innerhalb der Unternehmerschaft bis zum Ende des Kaiserreichs zementiert, zumal der CDI über hervorragende Verbindungen zu den Regierungen in Preußen und im Reich verfügte. Der Historiker Hartmut Kaelble charakterisiert den CDI deshalb als ein „privates Ministerium der Industrie“. Rede des Reichstagsabgeordneten und oberschlesischen Schwerindustriellen Franz Graf v. Ballestrem im Reichstag Ende 1875 für die Einführung von Eisenzöllen Deutschlands Zoll- und Handelspolitik 1873 – 1877. Die zoll- und handelspolitischen Debatten im Deutschen Reichstage, Berlin 1879, S. 638 f.
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Organisation von Interessen
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Ich möchte das Wort ergreifen für eine große vaterländische Industrie, die viele Tausende von Arbeitern in verschiedenen Gauen des Reiches beschäftigt. […] Meine Herren, wenn Sie die industriellen Etablissements der Eisenindustrie durchgehen, dann werden Sie finden, dass die meisten bereits mit Verlust arbeiten. […] Man kann nun einwenden, es seien vorübergehende Ursachen, die diese Kalamität hervorgerufen haben. Die Ursachen sind teils vorübergehender Natur, das will ich zugeben. […] Sie sind aber zum Teil dauernder Natur. Von dauernder Natur
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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insofern, als es jetzt feststeht, dass der Bessemerstahl immer den Markt behaupten wird, dass derjenige, der den Bessemerstahl am billigsten herstellen kann, auch diesen Markt beherrschen wird. Wir in Deutschland können gegenwärtig den Bessemerstahl nicht so billig herstellten wie z. B. England. Denn unsere Erze sind nicht dazu geeignet. […] Nun bemühen sich ja unsere Techniker und Chemiker, ein Verfahren zu finden, das unsere Erze auch qualifizieren soll zur Fabrikation dieses Stahls. Lassen sie doch der Industrie Zeit, meine Herren, damit unsere Techniker noch dieses Verfahren finden, wodurch die heimische Industrie wieder konkurrenzfähig wird mit dem Auslande. Krise der Landwirtschaft
„Bündnis von Roggen und Eisen“
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Ganz anders war die Situation in der Landwirtschaft. Wenn die Außenhandelspolitik des Zollvereins bis zur Reichsgründung im europäischen Vergleich eher liberal war, lag das nicht zuletzt an den Interessen der ostelbischen (junkerlichen) Getreidegroßlandwirtschaft, die nicht nur politisch einflussreich war, sondern der es auch gelang, trotz teilweise deutlich abweichender Interessenlagen scheinbar für die gesamte Landwirtschaft zu sprechen, die immer noch ein insgesamt bedeutender Wirtschaftssektor war. Anders als die kleinbäuerlichen Betriebe waren die ostelbischen Getreidelandwirte wesentlich auf den Getreideexport angewiesen und lebten damit lange Zeit sehr gut. Seit der Mitte der siebziger Jahre verloren sie aber nicht nur zunehmend ihre angestammten Exportmärkte, sondern in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre drängte russisches und amerikanisches Getreide sogar auf den deutschen Markt. Durch den Einsatz von Dampfschiffen auf den Europa-Amerika-Routen sanken die Frachtraten soweit ab, dass amerikanischer Weizen westlich der Elbe billiger war als ostdeutscher. Angesichts dieser schwierigen weltwirtschaftlichen Konkurrenzsituation schwenkte schließlich auch die Landwirtschaft in das Lager der Schutzzöllner ein. Ausschlaggebend für den handelspolitischen Kurswechsel waren aber neben der Agitation des politisch mächtigen „Bündnisses von Roggen und Eisen“ auch fiskalische und politische Überlegungen der Reichsregierung. Von den Getreideimporten wurden beträchtliche Zolleinnahmen zugunsten des von den Bundesstaaten finanziell abhängigen Reichs erwartet. Die Eisenzölle waren zwar fiskalisch belanglos. Reichskanzler Bismarck war aber davon überzeugt, dass die anhaltende Depression mit der sie begleitenden Arbeitslosigkeit auf Dauer zu einer staatsgefährdenden Stärkung der Sozialdemokratie führen werde. Nicht zufällig wurde deshalb etwa zeitgleich mit der Zolltarifreform das „Sozialistengesetz“ erlassen. Gegen diese Koalition aus Landwirtschaft, Eisenindustrie und Reichsregierung waren die Liberalen und die Freihändler machtlos. Im Oktober 1878 gewann die Front der agrarischindustriellen Schutzzöllner die Mehrheit im Reichstag, und wenig später wurden Zölle auf Getreide und Eisen in Kraft gesetzt. Trotz der Vorgeschichte wäre es falsch, die Wende in der Handelspolitik lediglich als einen Gehorsamsakt Bismarcks und der Reichsregierung gegenüber der „Koalition“ aus alter (Feudal-)Elite und neuer (schwerindustrieller) Elite zu interpretieren. Für die Reichsregierung war der fiskalische der wesentliche Aspekt der neuen Handelspolitik. Sie trat deshalb um 1875 in diese Koalition ein und wurde nicht, wie oft behauptet, einfach instrumentalisiert.
Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren
IV.
Tabelle 10: Effektive Protektionsraten in ausgewählten Wirtschaftsbranchen Deutschlands
Roheisen-/Stahlwerke Selbständig. Walzwerke Gussstahlwerke Roggen Weizen Schweine(-fleisch)
1883 – 85
1894 – 96
1900 – 02
1911 – 13
12
11
–9 9 7 –1
– 10 45 33 –3
28 –2 – 10 35 28 26
8 –2 –5 44 36 27
Quelle: R. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat, Übers. 14, S. 220.
Da die Getreidezölle anfangs wesentlich fiskalisch motiviert waren, bewirkten sie kaum eine Drosselung der Getreideeinfuhr. Neuere Berechnungen eines wertmäßig gewogenen Durchschnitts der vier wichtigsten Importgetreidesorten sowie von Kartoffeln und Fleisch zeigen, dass sich der Importanteil am Gesamtverbrauch von den frühen siebziger Jahren bis in den späten achtziger Jahre annähernd verdreifacht hatte. Die Agitation für höhere Getreidezölle hielt deswegen auch in den achtziger Jahren an, und zwar mit Erfolg. Bis 1887 verfünffachte die Regierung Bismarck die Getreidezölle, die zu diesem Zeitpunkt bei Weizen etwa ein Viertel und bei Roggen sogar ein Drittel des Weltmarktpreises erreicht hatten. Die von der Regierung Caprivi Anfang der neunziger Jahre abgeschlossenen Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Russland und Rumänien sowie eine moderate Senkung der Getreidezollsätze brachten zwar vorübergehend eine Abschwächung des Agrarprotektionismus. Aber nach der Jahrhundertwende gab die Regierung Bülow dem Druck der Großagrarier erneut nach und erhöhte nach dem Auslaufen der Caprivischen Handelsverträge die Zollsätze wieder um 30 % bis 100 %, die damit außer bei Roggen sogar über den Sätzen von 1887 lagen. Neben den Auswirkungen des Agrarprotektionismus auf die Getreidelandwirtschaft zeigt Tab. 10 auch die Wirkung auf die Viehwirtschaft am Beispiel der Schweinezucht. Zunächst hatte die Viehhaltung nach Einführung der Getreidezölle unter den verteuerten Futtermitteln zu leiden, d. h. die Getreidezölle benachteiligten die deutsche Viehwirtschaft, indem sie die Produktionskosten erhöhten. Dadurch erklärt sich die negative Protektionsrate für Schweine(-fleisch) bis Mitte der neunziger Jahre. Da gleichzeitig die aus Polen eingeführten Schweine das Preisniveau drückten, kam die Viehwirtschaft vor der Jahrhundertwende in ähnlicher Weise unter Druck wie die Getreidewirtschaft ein Vierteljahrhundert zuvor. Nach der Jahrhundertwende profitierten die deutschen Viehzüchter dann jedoch von veterinärmedizinischen Behinderungen der Schweineeinfuhr, die im Ergebnis nicht nur die Wirkungen der Getreidepreisprotektion neutralisierten, sondern sogar für eine Schweinepreisprotektion sorgten, die der für Weizen kaum mehr nachstand. Anfangs besaßen auch die Industriezölle nur ein mäßiges Niveau. Die Protektion entsprach etwa der, die aus Zollvereinszeiten bekannt war. Im Gegensatz zu den Agrarzöllen nahmen sie aber auch später keinen prohibiti-
Getreidezölle
Eisenzölle
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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ven Charakter an. Denn die deutsche Industrie war und blieb international konkurrenzfähig. Trotzdem besaßen auch die Zölle eine erhebliche Bedeutung für die weitere Entwicklung der einzelnen Branchen. Während es den Produzenten von Roheisen und Halbfertigstahl gelang, die Inlandpreise dank eines hohen Kartellierungsgrades hochzuhalten und gleichzeitig die Konkurrenz auf den ausländischen Märkten mit Dumpingpreisen zu unterbieten, sahen sich die eisenverarbeitenden Industrien wegen der hohen Inlandspreise einem gravierenden Konkurrenznachteil gegenüber ausländischen Produzenten ausgesetzt (s. Tab. 10). Im Vergleich zu Großbritannien kam hinzu, dass die durch den Agrarprotektionismus künstlich hochgetriebenen Nahrungsmittelpreise auch den Faktor Arbeit verteuerten, wodurch die Lohnkostenvorteile der deutschen gegenüber der britischen Industrie spürbar reduziert wurden. Dennoch bewertet die neuere Forschung die Wirkung der Zollpolitik auf die deutsche Wirtschaft nach 1878 eher positiv. Die Verbindung von Schutzzöllen und nationalen Industriekartellen in Zeiten schwacher Nachfrage am Binnenmarkt ermöglichte eine systematischere Ausnutzung des Exportgeschäftes zur dauernden Auslastung der Kapazitäten. Dadurch wurden die Risikoerwartung bei Neuinvestitionen deutlich reduziert und die Investitionsbereitschaft gefördert. Insofern führte der Zollschutz in der Regel nicht zu einer Konservierung technologisch veralteter Industrien, sondern die durch stetige Neuinvestionen realisierten Produktivitätsgewinne stellten die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Stahlindustrie dauerhaft sicher.
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Kartell Das Ziel eines Kartells ist die Ausschaltung der scheinbar ruinösen Konkurrenz zwischen Anbietern gleicher oder ähnlicher Produkte durch Absprachen der am Kartell beteiligten Unternehmen. Damit ein Kartell aber wirksam sein kann, muss es einen bestimmten Mindestmarktanteil erreichen. Solange es in Deutschland kein Kartellverbot gab, existierten alle Arten von Kartellen. Denn die Art der Übereinkunft in einer Kartellabsprache konnte sehr unterschiedlich sein. Es gab das reine Preiskartell, das sich auf die Verständigung über die Preisgestaltung beschränkte. Darauf aufbauend einigte sich das Kontingentierungskartell zusätzlich auf bestimmte Produktions- und Absatzquoten. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die Kartellpreise am Markt nicht durchsetzbar waren, weil das Angebot zu hoch war. Schließlich konnte im Syndikat ein ganzer Produktionszweig über ein einzelnes Produkt hinaus den Direktiven eines Kartells unterstellt werden. Als „Kinder der Not“ war die Existenz von Kartellen größtenteils an eine konjunkturelle Abschwungphase gebunden. Die meisten Kartelle lösten sich deshalb bei Besserung der Konjunktur wieder auf. Nicht selten entstanden sie dann aber mit dem nächsten Abschwung aufs Neue.
Der Pionier der wissenschaftlichen Erforschung von Kartellen Friedrich Kleinwächter zu deren Entstehungsbedingungen, 1883 F. Kleinwächter, Die Kartelle, Innsbruck 1883, S. 143. Von mehreren meiner Gewährsmänner wird nämlich übereinstimmend hervorgehoben, dass vielleicht die meisten der in Deutschland und Österreich bestehenden Kartelle, […] Kinder der Not seien. Wohl seien auch einige Eisenkartelle in
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Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren
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Deutschland in den guten Geschäftsjahren 1870 bis 1873 entstanden, deren Zweck dahin ging die günstige Konjunktur für die Eisenwerke auszunutzen, indes sei dies die Minderzahl gewesen. Die Mehrzahl der Kartelle soll seit der Mitte des Jahres 1873 entstanden sein und ihr Zweck war, dem Sinken der Preise, das durch die Überproduktion der vorangegangenen Jahre veranlasst worden war, durch eine teilweise Beschränkung der Produktion Einhalt zu tun. Die Not macht eben die Menschen gefügiger und veranlasst sie sich zu einigen, um mit vereinten Kräften der gemeinsamen Gefahr entgegenzutreten, während in guten Zeiten, wo es sich um das Erringen von Vorteilen handelt, jeder bestrebt ist möglichst viel für sich zu erhaschen.
Allein zwischen 1879 und 1886 dürften rund 90 Kartelle in Deutschland entstanden sein, die meisten davon als Preiskartelle. Einer der Vorreiter dieser Entwicklung war trotz – aber vielleicht auch wegen – der neuen Zollmauern die Eisenindustrie mit 18 Kartellen. Obwohl Rohstoffkartelle in der Regel keine lange Lebensdauer besaßen, betraf das langfristig bedeutsamste Kartell einen Rohstoff: die Steinkohle. Im Februar 1893 entstand das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, das 87 Prozent der Produktion im engeren Ruhrrevier kontingentierte, den Absatz zusammenfasste und die Preise fixierte. Trotz seines relativen Erfolges konnte aber auch das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat den deutschen Markt nicht beherrschen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zerfiel der deutsche Kohlenmarkt vielmehr in „bestrittene“ und „unbestrittene“ Teilmärkte. Das am stärksten „bestrittene“ Absatzgebiet für Steinkohle war der Norden Deutschlands. Hier konkurrierten auf den einzelnen Märkten oberschlesische, niederschlesische, westfälische, sächsische, englische, walisische und schottische Kohlenproduzenten. Lediglich der Westen und der Süden des Reiches gehörten zum „unbestrittenen“ Absatzgebiet. Die Geschäftsleitung des Syndikats konnte im unbestrittenen Gebiet mit einer relativ preisunabhängigen Nachfrage nach Steinkohle rechnen. Auf eine mögliche Substitutionskonkurrenz brauchte sie kaum Rücksicht zu nehmen, da relevante außenstehende Anbieter nicht existierten und die Markteintrittsbarrieren in dieser kapitalintensiven Branche außerordentlich hoch waren. Das Syndikat konnte deshalb den Verkaufspreis der Kohle höher ansetzen, als er sich bei freier Preisbildung vermutlich entwickelt hätte. Die Voraussetzung dafür war allerdings, dass die geförderte und die angebotene Kohlenmenge geringer gehalten wurde, als sie es bei einer direkten Konkurrenz der Zechen gewesen wäre. Die Expansionsmöglichkeiten der einzelnen Unternehmen in Boomphasen waren damit begrenzt. Die Durchsetzung einer derart rigiden Monopolpolitik war in der deutschen Wirtschaft einzigartig. Kein anderes Kartell konnte seine Machtstellung am Markt so rigoros handhaben wie das Kohlensyndikat in den „unbestrittenen“ Teilmärkten. Während die Verkaufspreise des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats ausgerechnet im Krisenjahr 1901 einen Höchststand erreichten, konnten andere deutsche Syndikate den Verfall ihrer Verkaufspreise in diesem Jahr nicht verhindern.
Kartellbildung
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Unternehmenskonzentration
Angestellte
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Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es trotz einiger Ansätze nicht mehr zu einer deutschen Kartellgesetzgebung. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass es fast allen Kartellen nicht gelungen war, sich dauerhaft zu etablieren. Wichtiger war aber vermutlich, dass sich die verschiedenen Interessenverbände gegenseitig blockierten. Denn die Unternehmer waren wirtschaftspolitisch kein monolithischer Block. Im Gegenteil, wegen der unterschiedlichen und nicht selten sogar entgegengesetzten Brancheninteressen fiel ihnen der Aufbau schlagkräftiger Interessenorganisationen lange Zeit sehr schwer. Denn ebenso wenig wie die Verbraucher von Eisen über die Einführung der Eisenzölle erfreut waren, begrüßten die großen Energieverbraucher in den „unbestrittenen“ Teilmärkten die Bildung des Steinkohlensyndikats. Die Lösung dieses Problems lag für manche Großverbraucher von Rohstoffen und Energie darin, sich von der Preisgestaltung der Märkte unabhängig zu machen, indem sie dazu übergingen, neben der Güterproduktion auch die Rohstoffversorgung einerseits und die Weiterverarbeitung sowie den Absatz der produzierten Güter andererseits selbst zu betreiben. Verschiedenartige Funktionen wie die Rohstoffbeschaffung, die Produktion, der Vertrieb, der Transport, die Finanzierung etc., die bislang durch selbständige, funktional spezialisierte und miteinander nach Marktregeln verkehrende Unternehmen wahrgenommen worden waren, wurden durch die vertikale Konzentration von Großunternehmen in einer Hand zusammengeführt. Dadurch wurde die Organisation dieser Funktionen statt über den Markt tendenziell innerhalb einer formalen Organisation vereinigt. Die Unternehmenskonzentration erforderte eine zunehmend ausdifferenzierte Arbeitsteilung innerhalb der Unternehmen. Damit entstand eine neue soziale Gruppe, die ebenso unternehmerische Funktionen übernahm wie dispositive, arbeitsvorbereitende, kontrollierende und beschaffende Tätigkeiten: die Angestellten. Während der Frühindustrialisierung war der Angestellte die „rechte Hand“ des Unternehmers, der die Interna des Betriebes genau kannte und der wichtige unternehmerische Funktionen übertragen bekam. Mit der Differenzierung der Leitungsfunktion innerhalb des Betriebes wurden immer mehr Sekretäre und Buchhalter nötig, deren Funktionen sich nicht nur differenzierten, sondern die sich auch durch ihre relative Nähe zum Unternehmer voneinander unterschieden. Das Vorbild dieser neuen Funktionsgruppe innerhalb der modernen Unternehmen war der Beamte in der Staatsverwaltung. Deshalb wurden die Angehörigen dieser Berufsgruppe bis in das 20. Jahrhundert hinein auch als „Privatbeamte“ bezeichnet. Neben den Büroangestellten vermehrten sich mit der zunehmenden technischen Differenzierung der Produktion und den immer spezialisierteren Maschinen und Anlagen die Zahl der technischen Angestellten: Ingenieure, Konstrukteure, Zeichner und Werkmeister. Mit der Verwissenschaftlichung der Betriebsführung wurden daneben immer mehr Angestellte für Betriebsstatistiken, Marketing, Werbung und Verkauf benötigt. In den Großbetrieben kamen wissenschaftlich ausgebildete Angestellte in den Forschungs- und Rechtsabteilungen sowie beim betriebsärztlichen Dienst hinzu.
Die neue Rolle des Staates Angestellte Der (oder die) „Angestellte“ ist vom Gesetzgeber definitorisch nie befriedigend vom „Arbeiter“ abgegrenzt worden. Vor dem Ersten Weltkrieg war ein „Angestellter“ eine Person, die das Sozialversicherungsgesetz als solchen definierte, und diese Definition beschränkte sich auf eine reine Aufzählung von Angestelltenberufen. Die Zahl der Angestellten stieg gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg mit dem Größenwachstum der Unternehmen stark an, insbesondere in den mittleren und unteren Beschäftigtenkategorien, also etwa bei der einfachen Büroarbeit. Die Zahl der Angestellten betrug 1882 etwa 300.000 Personen. Das entsprach einem Verhältnis zwischen gewerblichen Angestellten und Arbeitern von 1:40. Diese Relation verschob sich bis 1907 auf 1:12. Ein schnell wachsender Anteil der 1,3 Mio. Angestellten des Jahres 1907 waren Frauen. Mit der Differenzierung der Büroarbeit und der Herausbildung reiner Schreibtätigkeiten, insbesondere nach der Verbreitung der Schreibmaschine um die Jahrhundertwende, waren nämlich die ersten Frauen in die Büros gekommen. Stenotypistin und Sekretärin wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg typische „Frauenberufe“. Die Fluktuation war allerdings groß. Denn mit der Heirat schieden viele weibliche Angestellte wieder aus, zumal ein Aufstieg innerhalb der Unternehmenshierarchie in das mittlere Management – geschweige denn in die Leitungsgremien des Unternehmens – für sie im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen praktisch ausgeschlossen war.
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Die Bildung von Großunternehmen führte zwar in einigen Branchen dazu, dass sich ein Großteil der Gesamtproduktion auf wenige Unternehmen verteilte. Von einer Ausschaltung der Konkurrenz durch die Bildung von Monopolen kann weder im Steinkohlenbergbau noch in der Eisen- und Stahlindustrie die Rede sein. Aber auch diese, in manchen Fällen als oligopolistisch zu bezeichnende Struktur der Märkte war keineswegs typisch für die deutsche Volkswirtschaft insgesamt. So lag beispielsweise der Anteil der fünfzig größten Textilbetriebe an der Gesamtproduktion der Branche nur bei etwa 5,5 %.
2. Die neue Rolle des Staates Der Freihandel war das Kernstück des liberalen Programms, das seit der Reformzeit die staatlichen Fesseln einer Entwicklung der marktwirtschaftlichen Dynamik nach und nach zu beseitigen gesucht hatte und damit aufs Ganze gesehen auch sehr erfolgreich war. Die siebziger Jahre markierten aber zugleich Höhepunkt und Endpunkt dieser Entwicklung. Denn die Schutzzollfrage bildete nur die Spitze eines Eisbergs neuer staatlicher Intervention. Auch in der Infrastruktur- und Währungspolitik ließ der Staat spätestens zu Beginn der achtziger Jahre ein völlig neues Verständnis seiner Aufgabe im Wirtschaftsleben erkennen. Dabei ging es nicht darum, die Gewerbewirtschaft wieder wie in früheren Zeiten zu bevormunden. Insofern ist auch der zeitgenössische Kampfbegriff des „Neomerkanitilismus“ irreführend. Das neue Selbstverständnis der öffentlichen Hand bestand vielmehr darin, in Produktion und Distribution der Volkswirtschaft verändernd einzugreifen, ohne die marktwirtschaftliche Verfasstheit der Wirtschaftsordnung im Prinzip zu tangieren.
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IV. Interventionsstaat
Goldwährung
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Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich der Staat bei weitem noch nicht die Mittel beschafft, mit denen der Wohlfahrtsstaat des späten 20. Jahrhunderts umzugehen pflegte. Die Vereinnahmung des Sozialprodukts durch die öffentliche Hand lag bei gerade einmal 5 % bis 7 % und damit weit unter dem Niveau des 20. Jahrhunderts, als die Staatsquote von 15 % bis 20 % während der Weimarer Republik auf zeitweise über 40 % in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts anstieg. Dennoch kann die Diskreditierung des liberalen Prinzips während der dem „Gründerboom“ folgenden Jahre der Wachstumsschwäche als die Geburtsstunde des modernen Interventionsstaates in Deutschland angesehen werden. Denn der Blick allein auf die quantitativen Möglichkeiten staatlicher Intervention würde den Blick für die neue Rolle des Staates in der Wirtschaft verstellen. Die Politikfelder, die durch die Versuche erfasst wurden, die scheinbaren und die tatsächlichen Defizite der liberalkapitalistischen Wirtschaftsentwicklung durch Staatsintervention in den Griff zu bekommen, waren sehr umfangreich und betrafen nicht nur das Reich, in dessen Zuständigkeit neben der Handelspolitik im wesentlichen nur noch die Geld- und Währungspolitik fiel. Für den Staatsinterventionismus des Kaiserreichs waren deswegen mindestens ebenso die Länder, Kreise und Gemeinden verantwortlich. Einer der ersten großen wirtschaftspolitischen Erfolge des neuen Reiches war die Vollendung der währungspolitischen Einheit Deutschlands gewesen. Die neue Mark-Währung war eine Goldwährung wie das britische Pfund. Die wichtigsten Zollvereinsmünzen, der Taler und der Gulden, waren dagegen Silberwährungen gewesen. Die Umstellung von Taler- bzw. Guldenwährung auf Mark-Währung bedeutete, dass nicht nur eine Rechnungseinheit neu geschaffen wurde, sondern die umlaufenden Geldmittel – und das waren anders als heute in erster Linie Münzen – mussten fast komplett ausgetauscht und in einem neuen Währungsmetall ausgegeben werden. Die Mark-Währung Im Oktober 1871 beschloss der Bundesrat des neuen Kaiserreiches ein Münzgesetz, das eine „Reichsgoldmünze“ als Standardmünze einführte. Deren zehnter Teil bildete unter der Bezeichnung „Mark“ die neue Recheneinheit im Reich. Die Unterteilung erfolgte erstmals in Deutschland nach dem Dezimalsystem, in 100 Pfennige. Die Schaffung einer reichseinheitlichen deutschen Goldwährung wurde durch die französische Kriegskontribution von 5 Mrd. Franc ermöglicht. Sie stellte zu einem wesentlichen Teil das Ausgangsmaterial für die Ausprägung der Reichsgoldmünzen. Da dies nicht ausreichte, blieben die alten Taler- und Guldensilbermünzen zunächst noch im Umlauf.
Mit der „Entsilberung“ des Geldumlaufs wurde im Jahr 1874 begonnen. Einen nennenswerten Umfang erreichte sie aber erst 1876. Da Deutschland nicht das einzige Land war, das zu dieser Zeit den Schritt von der Silber- zur Goldwährung vollzog und demzufolge das Silberangebot auf dem Weltmarkt Mitte der siebziger Jahre zu- und das Goldangebot gleichzeitig abnahm, verschob sich das alte Silber/Gold-Wertverhältnis zuungunsten des Silbers. Folglich konnte man zwar den Geldumlauf entsilbern, aber der Verkauf des Silbers war mit einem erheblichen Verlust für die Staatskasse – bzw. für die Reichsbank als Zentralnotenbank – verbunden. Die daraus re-
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Die neue Rolle des Staates sultierende Verringerung der Währungsreserven führten zu einer Kontraktion der Geldmenge mit fatalen Auswirkungen auf das Zinsniveau mitten in der schwersten Depression seit Beginn des Industrialisierungsprozesses. Da der Reichsbank der Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Konjunkturpolitik damals noch nicht bekannt war, reagierte sie auf ihre schrumpfende Währungsreserve quasi automatisch mit der Erhöhung ihres Leitzinses. Die im Mai 1879 verkündete Einstellung der Silberverkäufe verringerte den Druck auf die Edelmetallreserven der Zentralbank und verschaffte der Konjunktur etwas Luft. Allerdings war dieser Sinneswandel nicht konjunkturpolitisch, sondern allein fiskalisch motiviert gewesen. Das Publikum reagierte deshalb sehr misstrauisch. Nicht zu Unrecht sah es einen engen Zusammenhang mit der Schutzzollgesetzgebung. Denn die Goldwährung stand für einen offenen Welthandel und der feste Wechselkurs mit dem britischen Pfund für die Anbindung an den Hort des (wirtschaftlichen) Liberalismus schlechthin. Dies alles schien nach nicht einmal zehn Jahren Goldwährung schon wieder in Frage gestellt. Für die meisten Felder der Wirtschaftspolitik waren im Kaiserreich die Einzelstaaten zuständig. Der Eingriff des Staates in die marktwirtschaftliche Entwicklungsdynamik erfolgte deshalb nicht flächendeckend, sondern regional ungleichzeitig und mit unterschiedlicher Intensität. Preußen als der größte deutsche Einzelstaat besaß in dieser Hinsicht allerdings die Vorreiterfunktion. Wie schon am Beispiel der Abkehr vom Freihandel gezeigt wurde, fiel der Kurswechsel dort besonders leicht, wo die Staatsintervention den konservativen Wirtschafts- und/oder Politikinteressen entgegenkam. Besonders augenfällig war diese Verbindung in der Finanzpolitik. Außerordentlich früh entwickelte Preußen ein finanzpolitisches Instrumentarium zum regionalen Finanzausgleich. Unmittelbarer Anlass war die Übertragung des Staatsstraßennetzes auf die provinzialen bzw. kommunalen Gebietskörperschaften. Eine solche Übertragung war nur möglich, wenn Kreise und Provinzen gleichzeitig finanziell so ausgestattet wurden, dass sie der neuen Aufgabe auch gerecht werden konnten. Die Verteilung der seit 1873 fließenden staatlichen Zuwendungen („Dotationen“) auf die einzelnen Provinzen war außerordentlich umstritten. Während die (reichen) westlichen, politisch eher liberalen Provinzen eine Verteilung der Mittel entsprechend den Aufbringungsquoten verlangten, stellten die (ärmeren) östlichen, aber politisch eher konservativen Provinzen ihre „Bedürftigkeit“ heraus. Das Ergebnis bildete zwar ein Kompromiss, aber dieser Kompromiss kam den Intentionen des Ostens wesentlich näher als den Vorstellungen des Westens. Der Verteilungsmodus nach „Land und Leuten“ sah vor, dass nur die Hälfte der Gesamtsumme nach der Bevölkerungszahl verteilt wurde, die andere Hälfte aber nach der Flächenausdehnung der jeweiligen Provinz. Damit waren die relativ großen, aber nur dünn besiedelten östlichen Provinzen anders als bei alternativ diskutierten Verteilungsschlüsseln deutlich bevorzugt Ähnlich wie im Fall der Eisen- und Getreidezölle sowie im Fall der Eisenbahnverstaatlichung wurde auch die westöstliche Umverteilung vielfach als das Ergebnis einer junkerlichen Einflussnahme interpretiert. Vor dem Hintergrund der während der folgenden Jahrzehnte vom preußischen Staat betriebenen Infrastrukturpolitik ist aber eine solche Interpretation der preußischen
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Einzelstaatliche Zuständigkeit
Regionaler Wohlstandsausgleich
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Verkehrsinfrastrukturpolitik
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Finanzpolitik zu einseitig. Unbestreitbar ist zwar die Tatsache, dass das junkerliche Interesse an einer Förderung der östlichen Provinzen eine wichtige Geburtshelferfunktion gehabt hat, aber gleichzeitig – und nicht nur ex post betrachtet – bildeten die Dotationsgesetze den Beginn einer auf regionale Umverteilung des Wohlstandes abzielende Politik des interregionalen und regionalen Finanzausgleichs. Im Ergebnis wurde immerhin eine Verschärfung des Ost-West-Gefälles im Pro-Kopf-Einkommen verhindert. Wie bereits zeitgenössische Berechnungen gezeigt haben, erfolgte der Chausseeneubau in den östlichen Provinzen – mit Ausnahme Posens – weitgehend im Gleichschritt mit den mittleren und westlichen Provinzen Preußens. Ohne den regionalen Finanzausgleich wäre eine solche Politik kaum denkbar gewesen. Die Dotationspolitik kann demzufolge nicht nur als ein erster Ansatz für einen modernen regionalen Finanzausgleich interpretiert werden, sondern auch als Grundlage einer regionalen staatlichen Infrastrukturpolitik. Während der zweiten Hälfte der siebziger Jahre drehten sich die Debatten in der Verkehrspolitik fast ausschließlich um die Verstaatlichungsfrage. Materiell beschränkte sich die Verkehrsinfrastrukturpolitik deshalb nur auf den vergleichsweise wenig bedeutsamen Straßenbau. Seit den achtziger Jahren bildete sie aber mit der Baupolitik von Nebenbahnen und seit der Mitte der neunziger Jahre mit der Kleinbahnpolitik einen maßgeblichen Faktor der preußischen Staatsfinanzen. Da bis in die siebziger Jahre hinein der Bau von Eisenbahnen in Preußen fast ausschließlich dort erfolgte, wo ein Verkehrsaufkommen erwartet wurde, das aufgrund von Rentabilitätsüberlegungen als ausreichend angesehen wurde, hatte sich auch bei der regionalen Verdichtung des Netzes ein deutliches Ost-West-Gefälle herausgebildet. Obwohl sich der preußische Staat in dieser Hinsicht kaum anders verhalten hatte als die privaten Bahngesellschaften, bildete der Abbau von regionalen Disparitäten durch ein staatliches Eisenbahnmonopol ein wichtiges Argument der Befürworter der Verstaatlichung.
„Sekundär“- oder Nebenbahnen Nur zwei Wochen nach dem ersten Verstaatlichungsgesetz vom Dezember 1879 fasste das preußische Abgeordnetenhaus den Beschluss, das Staatsbahnnetz durch zehn so genannte „Sekundärbahnen“ zu erweitern. Nach der gültigen Bahnordnung war es nämlich zulässig, das Hauptbahnnetz durch deutlich billiger zu bauende „Bahnen untergeordneter Bedeutung“ zu erweitern. Einsparungen bei Bau und Betrieb wurden u. a. durch größere Steigungen und schärfere Kurven erreicht, so dass kostspielige Brücken oder Dammbauten vermieden werden konnten. Die sich daraus ergebenden Betriebseinschränkungen, insbesondere Geschwindigkeitsbeschränkungen, erlaubten ferner eine Einschränkung der Bahnbewachung. Im Unterschied zu den Hauptbahnen wurden die Baukosten auch nicht vollständig vom preußischen Staat aufgebracht, sondern in der Regel mussten die interessierten Kreise und Gemeinden den erforderlichen Grund und Boden unentgeltlich zur Verfügung stellen. Welche Bahnen nun als Haupt- und welche als Nebenbahnen zu bauen seien, ließ der Gesetzgeber offen. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass solche Bahnen als Nebenbahnen gebaut wurden, die nur für den direkten Verkehr zu den Hauptbahnen und nicht für den Durchgangsverkehr in Frage kamen.
Die neue Rolle des Staates Kleinbahnen Unter einer Kleinbahn wird heute in der Regel eine schmalspurige Lokalbahn verstanden. Tatsächlich ist die Kleinbahn aber weder definitorisch noch praktisch mit einer Schmalspurbahn gleichzusetzen. Es handelte sich vielmehr um eine Restkategorie solcher Bahnen, die nicht unter das preußische Eisenbahngesetz von 1838 fielen. Solche Bahnen hatten zwei Vorteile. Erstens konnten sie deutlich billiger gebaut werden als Nebenbahnen (z. B. als Schmalspurbahnen) und zweitens konnten als Bahnbetreiber interessierte private Interessenten, aber auch Kreise und Gemeinden auftreten. Seitdem im Jahr 1895 der Bau von Kleinbahnen durch einen Fonds aus Mitteln des preußischen Staates unterstützt wurde, brach eine kurzlebige Blüte der preußischen Kleinbahn an, die sich aber mancherorts schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegenüber dem Lastkraftwagen nicht mehr behaupten konnte. Nur wenige dieser Bahnen überlebten, bis sich seit den siebziger Jahren verstärkt Museumsvereine der Traditionspflege im Eisenbahnwesen annahmen.
Die regionale Verteilung des Eisenbahnbaus folgte seit der Verstaatlichung dem Beispiel des Straßenbaus. Während das Streckennetz in den westlichen Provinzen um etwa 66 % erweitert wurde, vergrößerte sich das Streckennetz in den nordöstlichen Provinzen um knapp 150 %. Trotz seiner aktiven Baupolitik konnte der preußische Staat aber unmöglich alle von lokalen „Interessenten“ geforderten und von den Bahnverwaltungen als sinnvoll anerkannten Strecken selber bauen. Mitte der neunziger Jahre gelang es deshalb den Interessenvertretern der Landwirtschaft, gegen den Widerstand des preußischen Finanzministers staatliche Beihilfen für Kleinbahnen durchzusetzen. Dadurch wurde in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein wahrer Kleinbahnboom ausgelöst. Auch in diesem Fall profitierten in erster Linie die dünn besiedelten, landwirtschaftlich geprägten und bislang nur schlecht durch Eisenbahnen erschlossenen Provinzen, insbesondere Pommern und Schleswig-Holstein. Die Provinzen Westfalen und Hessen-Nassau rangierte ganz am Ende der Rangliste. Mit Ausnahme Oldenburgs folgten die anderen deutschen Staaten dem preußischen Beispiel nicht. Dafür mag es verschiedene Gründe gegeben haben. Der wichtigste Grund war aber die Tatsache, dass kein deutscher Staat über eine mit Preußen vergleichbar gute Finanzlage verfügte und demzufolge kein vergleichbar dichtes Netz von staatlichen Nebenbahnen gebaut werden konnte. Zuschüsse für nichtstaatliche Bahnprojekte waren unter diesen Umständen politisch kaum durchsetzbar. Lediglich in Bayern und Sachsen hatte man normalspurige „Lokalbahnen“ bzw. schmalspurige Staatsbahnstrecken gebaut, die den preußischen Kleinbahnen funktional recht nahe kamen. Aber eine Verdichtung des Hauptbahnnetzes durch Eisenbahnen von untergeordneter Bedeutung, wie sie etwa in den stark landwirtschaftlich geprägten preußischen Provinzen Pommern oder Schleswig-Holstein gelang, kam dort nicht zustande. Kleinbahnen dienten der Verkehrserschließung auf dem Lande. Sie brachten die Bauern an Markttagen in die Kreisstadt, belieferten die Dörfer mit Kunstdünger und die Zuckerfabriken mit Rüben. Arbeiter aus dem Umland in die Fabriken der Städte zu bringen, war nur in seltenen Fällen ein wichtiger Geschäftszweig einer Kleinbahn. Denn dafür waren bis zum Ersten Weltkrieg die Fahrpreise im Verhältnis zu den Löhnen zu hoch. Ganz anders sah
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Erschließung des „platten Landes“
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Städtische Verkehrsinfrastruktur
Stadthygiene
Industrielle Umweltverschmutzung
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die Situation in den Großstädten aus. Nach der Jahrhundertwende besaß Berlin ohne Vorstädte bereits einen Durchmesser von 15 Kilometern, Hamburg von zehn Kilometern. Ein leistungsfähiges innerstädtisches Transportsystem war unter diesen Bedingungen geradezu die Voraussetzung für das Städtewachstum. Dass die Verkehrsmittel ein wichtiges Instrument der Siedlungspolitik, der Dekonzentration urbaner Zentren und der Stadtentwicklung allgemein waren, hatten die Kommunalpolitiker seit langem erkannt. Aber erst die Unzulänglichkeit privater Verkehrsgesellschaften, die nicht oder nur zögernd bereit waren, Stadtrandgebiete und städtisches Umland zu erschließen, machten den Kommunalverwaltungen deutlich, dass eine von Rentabilitätsüberlegungen freie Verkehrspolitik notwendig war und dass diese besser oder ausschließlich durch den öffentlichen Betrieb erreicht werden konnte. Die Kommunalisierung der Nahverkehrsmittel war allerdings langwierig, zumal anders als bei den Kleinbahnen mit einer finanziellen Förderung durch den preußischen Staat oder die Provinzen in der Regel nicht gerechnet werden konnte. Um die Jahrhundertwende gab es in Preußen insgesamt 26 Bahnen, von denen elf in städtischer Regie geführt wurden. Zwar dehnte sich der kommunale Betrieb weiter aus, aber auch 1913 waren noch gut die Hälfte der Bahnen in privater Hand. Der Nahverkehr war nicht die einzige neuartige Aufgabe, vor der sich die kommunalen Gebietskörperschaften während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gestellt sahen. Für die stetig wachsenden, auf engem Raum zusammenlebenden Einwohnermassen und die ortsansässigen Wirtschaftsbetriebe mussten Leistungen erbracht werden, die man der marktwirtschaftlichen Regulierung sinnvollerweise nicht mehr überlassen konnte. Denn so wie eine allein an einzelwirtschaftlicher Rentabilität orientierte Verkehrserschließung wichtige Bereiche einseitig vernachlässigte, war auch eine flächendeckende Versorgung mit frischem Wasser, Koch-, Heiz-, Leucht- und Antriebsenergie sowie die Entsorgung von Abwässern, Exkrementen und Abfällen auf privatwirtschaftlicher Basis nicht zu erreichen. Die Stadthygiene war ein Bereich, in dem die öffentliche Hand von Anfang an dominierte. Das Problem unhygienischer Verhältnisse war zwar nicht neu, aber der Urbanisierungsprozess ließ die Zustände unerträglich werden. Die Ausbreitung epidemischer Krankheiten wie Typhus und Cholera, aber auch anderer Darm- und Magenkrankheiten erforderten ein schnelles und radikales Vorgehen. Die Erfolge waren auch tatsächlich beeindruckend. Mitte der siebziger Jahre verfügte nur eine Minderheit aller deutschen Städte über 10.000 Einwohnern über eine Wasserversorgung, viele größere Städte hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal mit dem Bau der ersten Leitungen begonnen. Nur ein Vierteljahrhundert später besaßen aber alle 150 größten Städte des Reiches eine moderne Wasserversorgung. Die Frage war nur, ob das Wasser in den Trinkwasserleitungen auch immer Trinkwasserqualität besaß? Die industrielle Umweltverschmutzung hatte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts besonders in den Zentren der Textil- und Schwerindustrie zu einem erheblichen Problem ausgewachsen. Obwohl die Reichsgewerbeordnung im Grundsatz das Verursacherprinzip kannte, indem Betriebe geneh-
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migungspflichtig waren, die „für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen herbeiführen“ konnten, waren die Gewerbeämter weitgehend machtlos. Denn wenn ein Betrieb einmal bestand, war gegen ihn kaum mehr etwas auszurichten, weil alle Maßnahmen der Behörden nun die Wirtschaftlichkeit des Betriebes nicht mehr gefährden durften. Auch vor Gericht hatten Klagen gegen Industriebetriebe kaum eine Chance, selbst wenn eine Schädigung der wirtschaftlichen Interessen des Klägers, also etwa eines Landwirtes, nicht von der Hand zu weisen war. Das Gericht begnügte sich dann mit Erklärungen, dass eine bestimmte Belastung ortsüblich sei, weil es sich schließlich um eine Industrieregion handele. Bei der Luftverschmutzung wurde das Problem für die unmittelbare Nachbarschaft gelegentlich durch die Auflage einer bestimmten Schornsteinhöhe erleichtert. Die Schadstoffe sollten in der Luft so weit verdünnt werden, dass sie nicht mehr spürbar waren. Ähnlich verhielt es sich auch mit den Abwassereinleitungen in die Flüsse. Dabei wurde in Kauf genommen, dass kleinere Flüsse, wie die Emscher im nördlichen Ruhrgebiet, als Vorfluter betrachtet wurde, der die Abwasserfracht zum Rhein transportieren sollte, bevor sie dann spätestens in der Nordsee bis zur Unkenntlichkeit verdünnt werden sollte. In Beantwortung einer Beschwerde von Fischereipächtern am Niederrhein aus dem Jahr 1914 über die Phenolbelastung des Emscherwassers empfahl der zuständige Baurat beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf, „das Emscherwasser bis zur Menge des Mittelwassers in die Mitte des Rheins zu führen. Von hier aus wird am besten für eine ausreichende Verdünnung gesorgt, und hier halten sich auch die Fische nicht auf. Dieses Mittel würde wahrscheinlich mit einem Schlage die ganze Phenolfrage für den Rhein aus der Welt schaffen.“ (Niederschrift über die Prüfung von Entwürfen der Emschergenossenschaft v. 17.6.1914, zit. nach B. Olmer, Wasser. Historisch: Zur Bedeutung und Belastung des Umweltmediums im Ruhrgebiet 1870 – 1930, Frankfurt/Main 1998, S. 437.) Die Gelsenkirchener Typhusepidemie von 1901 mit etwa 500 Toten hatte die Behörden wie ein Schock getroffen. Denn eigentlich hatte man erwartet, durch die Errichtung einer zentralen Wasserversorgung das Problem in den Griff bekommen zu haben. Aber erstens existierten im Einzugsbereich der Emscher um 1900 noch 18.000 Trinkwasserbrunnen. Da zweitens die Trinkwassergewinnung sehr häufig durch Flusswasser erfolgte, konnte die zentrale Wasserversorgung sogar das Problem verschärfen. Denn lange Zeit hielt man Industrieabwässer für weitgehend unschädlich für den Menschen. Ein Hygieniker zu der großen Typhusepidemie in Gelsenkirchen R. Emmerich, Die Ursachen der Gelsenkirchener Typhusepidemie des Jahres 1901, München 1906, S. 168.
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Ich habe die hygienischen Verhältnisse in Neapel, Palermo und Konstantinopel während der […] Choleraepidemien untersucht und dabei […] sehr schlimme sanitäre Zustände gesehen. […] Ich kenne […] die hygienischen Verhältnisse in Lissabon, Oporto und Funchal auf Madeira, ferner in einigen französischen, öster-
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reichischen und deutschen Städten, aber so bedenkliche Zustände in Bezug auf Entwässerung, Abwässer und Fäkalienbeseitigung, […] auf die Schweinewirtschaft und den Grad und die räumliche Ausdehnung der Bodenverunreinigung wie in den vom Typhus ergriffenen Bezirken des Emschertales habe ich nirgends gefunden. Kommunale Trinkwasserversorgung
Gasversorgung
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Trotz vereinzelter durch das Trinkwasser verbreiteter Epidemien auch nach der Errichtung zentraler Wasserversorgungssysteme kann den deutschen Kommunen in toto nicht abgesprochen werden, dem Problem ernsthaft zu Leibe gerückt zu sein. Obwohl auch fiskalische Motive mitunter eine Rolle gespielt hatten, standen gemeinwirtschaftliche Aspekte bei der Kommunalisierung bestehender privater sowie bei der Gründung neuer städtischer Trinkwasserversorgungsanlagen fast ausnahmslos im Vordergrund. Die Erfahrungen mit einer ausschließlich rentabilitätsorientierten privaten Wasserversorgung hatten deutlich gezeigt, dass die dringenden stadthygienischen Probleme auf diesem Weg nicht befriedigend zu lösen waren. Überhöhte (Monopol-)Preise, eine unzureichende Erschließung der Stadtteile oder mangelhafte Wartung der Anlagen waren bei privaten Wasserwerken an der Tagesordnung. Sowohl technisch als auch aus hygienischer Perspektive bestand ein enger Zusammenhang zwischen Wasserversorgung und Kanalisation. Während die Wasserwerke aber meist rentabel betrieben werden konnten, war das bei der Abwasserbeseitigung fast unmöglich. Insofern sprachen auch fiskalische Überlegungen für die öffentliche Versorgung. Denn nur durch den Betrieb öffentlicher Wasserversorgungsanlagen ließ sich die defizitäre Abwasserbeseitigung finanzieren. Darüber hinaus konnte aber auch der Wasserbedarf von Feuerwehr und Straßenreinigung besser und billiger durch eigene Werke gedeckt werden. Diese stadthygienischen und fiskalischen Überlegungen führten schließlich dazu, dass am Vorabend des Ersten Weltkrieges über 90 % der Wasserwerke im kommunalen Besitz waren. Ein deutlich größeres Gewicht besaßen fiskalische Überlegungen bei der Durchsetzung der kommunalen Gasversorgung. Dieser Bereich der Versorgungswirtschaft war weit älter als die Wasserversorgung. Die ersten Gaswerke waren bereits in den zwanziger Jahren entstanden, in größerer Zahl wurden sie aber erst um die Jahrhundertmitte gegründet. Zu dieser Zeit war ein kommunales Engagement noch die Ausnahme. Die Mängel des rentabilitätsorientierten Versorgungssystems (monopolistische Preisgestaltung, mangelhafte Qualität des Gases, unzureichende Erschließung aller Stadtbereiche) wurden zwar schon bald offenkundig, aber zu einer Kommunalisierungsbewegung kam es dennoch zunächst nicht. Einerseits war das Zutrauen in die Regulierungsfähigkeit des Marktes noch nicht in der Weise erschüttert wie nach dem „Gründerboom“ Mitte der siebziger Jahre, und andererseits erschienen die kommunalen Verwaltungsstrukturen der Bewältigung komplexer wirtschaftlicher Aufgaben noch nicht gewachsen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts änderte sich diese Situation allerdings grundlegend. Die Kommunen entdeckten die Gasversorgung als eine wichtige Einnahmequelle, so dass sich die öffentliche Hand in diesem Wirt-
Die neue Rolle des Staates schaftszweig immer mehr ausbreitete. Auslaufende Konzessionsverträge wurden in der Regel nicht mehr verlängert und private Gaswerke fast nur noch in Kleinstädten errichtet, so dass sich im Jahr 1913 67 % der deutschen Gaswerke mit 82 % der gesamten deutschen Gasproduktion im Besitz der Kommunen befanden. Die neue, interventionistische Rolle des Staates erfasste aber nicht nur die klassischen Felder der Wirtschafts-(ordnungs-)politik wie den Außenhandel und die Infrastruktur, sondern auch die „soziale Frage“. Obwohl sich die soziale Situation der Arbeiterfamilien langsam zu bessern begann, stellten Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit nach wie vor eine existentielle Bedrohung dar und konnten eine Arbeiterfamilie bis hart an die Hungergrenze bringen. Insbesondere die Unfallgefahr hatte sich durch die Vermehrung der gewerblichen Arbeiter und den zunehmenden Einsatz von Maschinen stark erhöht. Das Risiko eines Arbeitsunfalls trug aber de facto allein der Arbeitnehmer. Daran hatte auch das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 nichts geändert. Nach diesem Gesetz hatten die in Bergwerken, Fabriken, Steinbrüchen und Gruben beschäftigten Arbeiter nur dann einen Anspruch auf Entschädigung, wenn der Nachweis erbracht werden konnte, dass der Unternehmer oder einer seiner Bevollmächtigten den Unfall verschuldet hatten. Dieser Nachweis war jedoch kaum zu führen, da das Verschulden eines anderen Arbeiters keine Haftpflicht des Unternehmers begründete. Unfallzeugen hielten sich außerdem wegen der Furcht vor möglichen ziviloder strafrechtlichen Folgen bei eigenem Verschulden oder aus Angst vor Entlassung durch den Unternehmer in ihren Aussagen zurück. Hinzu kam, dass bei einem Konkurs des Unternehmens, der als Konsequenz eines großen Unglücks leicht eintreten konnte, die Ansprüche nur realisiert werden konnten, wenn der Unternehmer sich gegen das Haftpflichtrisiko bei einer privaten Gesellschaft versichert hatte. „Soziale Frage“ Mit dem Schlagwort von der „Sozialen Frage“ wurden seit dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts die Notlage der „arbeitenden Klassen“, ihr Elend, ihre Arbeitsund Lebensbedingungen und ihr „moralischer Zustand“ zusammenfassend bezeichnet. Obwohl auch viele Zeitgenossen aus den „gebildeten Schichten“ die „soziale Frage“ als das Hauptproblem der Gegenwart begriffen, wurden lange Zeit wenige konkrete staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der ungezügelten Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ergriffen. Die Eindämmung der Fabrikarbeit von Kindern war lange Zeit das einzige Feld, im dem der Staat regulierend in die freie Gestaltung von Arbeitsverträgen eingriff. Dem stand die Abschaffung von sozialen Sicherungsmaßnahmen gegenüber, wie sie in der vorliberalen Ära bestanden hatten. Zu denken wäre hier etwa an das Freizügigkeitsgesetz im preußischen Bergbau von 1860, mit dem der freie Arbeitsvertrag eingeführt wurde. Damit wurden die an den Grundbedürfnissen der Bergleute orientierten, staatlich reglementierten Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die freie Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien ersetzt, was zunächst de facto auf eine Verschlechterung der sozialen Lage der Bergleute hinauslief.
IV.
Anfänge des „Wohlfahrtstaates“
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Die privaten Versicherungen waren ihrerseits sehr zurückhaltend bei Zahlungen, um die Prämien niedrig halten zu können. Stattdessen ließen sie es
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
IV.
Motivation des Staates
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oft lieber auf einen Prozess ankommen, den die Unfallopfer wegen der damit verbundenen Kosten natürlich fürchteten. Folglich verschärfte das Haftpflichtgesetz sogar die Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Insgesamt sind nach zeitgenössischen Schätzungen weniger als 20 % der gemeldeten Unfälle in den vom Gesetz betroffenen Gewerbezweigen entschädigt worden. Da in der Regel Zahlungen vor Abschluss der Prozesse nicht geleistet wurden, waren zu diesem Zeitpunkt die Unfallopfer oder ihre Hinterbliebenen bereits in tiefstes Elend gefallen. Einen Schutz gegen solche Lebensrisiken gab es für die Arbeiterschaft in der Regel nicht. Obwohl sich die sozialpolitischen Forderungen der organisierten Arbeiterschaft in erster Linie gegen die Unternehmer richteten, wurde auch der Reformdruck auf den Staat durch das Drohpotential gewerkschaftlicher Organisation nachhaltig verstärkt. Kritisch wurde die Situation gegen Ende der siebziger Jahre. Denn mit der Krise begann auch der Aufstieg der Sozialisten als ernstzunehmender politischer Faktor, der die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Existenz im Kern zu bedrohen schien. Am Anfang der modernen Sozialgesetzgebung in Deutschland stand deshalb auch kein Sozialgesetz, sondern ein Sozialistengesetz. Den konservativen Befürwortern eines Verbots sozialistischer Gewerkschaften und Parteien war allerdings vollkommen klar, dass Repression allein auf Dauer keine Lösung sein würde. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich gerade die konservativen Schutzzöllner Ende der siebziger Jahre für sozialpolitische Maßnahmen als Ergänzung der „nationalen Wirtschaftspolitik“ einsetzten.
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Sozialistengesetz Zwei Attentate auf den Kaiser und die von den Konservativen damit geschürte antisozialistische und antiliberale Stimmung führten im Sommer 1878 zu einem erdrutschartigen Sieg der konservativen Parteien bei der Reichstagswahl. Noch im Oktober desselben Jahres wurde das Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verabschiedet. Es sah ein Verbot der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, der sozialistischen Gewerkschaften und auch aller sonstigen „sozialistischen Umsturzbestrebungen“ vor. Obwohl die Organisationsstrukturen der Arbeiterbewegung dadurch empfindlich getroffen wurden, gab es doch genügend Schlupflöcher, um die Arbeit illegal fortführen zu können. Insgesamt brachte das Gesetz deshalb nicht den erhofften Erfolg und wurde im Jahr 1890 aufgehoben. Danach zeigte sich, dass die Arbeiterbewegung trotz der Verbote deutlich gestärkt worden war.
Grenzen der Sozialpolitik
Die Sozialpolitik der Bismarckzeit darf deshalb nicht als Sozialreform im Sinne des Arbeiterschutzes, der Humanisierung der industriellen Arbeitswelt oder gar als eine gesellschaftspolitische Reform missverstanden werden. Maßnahmen, die in erster Linie solchen Zielen hätten dienen können wie die Beseitigung der Sonntagsarbeit, die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit und gesetzlich festgelegte Mindestlöhne sowie ein besserer Schutz von Frauen und Kindern in den Fabriken wurden bis 1890 strikt abgelehnt. Allein (innen-)politische Erwägungen hatten bei der Verbesserung der sozialen Sicherheit der Arbeiter Priorität. Der Historiker Hans Rosenberg spricht deswegen von einer „kollektiven Massenbestechung“ potentiell staatsfeindlicher sozialer Gruppen.
Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“
IV.
Bismarck interessierten allein die am stärksten von der Sozialdemokratie und von den Gewerkschaften erfassten gewerblichen Arbeiter, nicht aber die Landarbeiter, das Gesinde, die Dienstboten oder die Heimarbeiter. Diese Gruppen wurden erst viel später in die Sozialversicherung einbezogen. Dabei war es unerheblich, dass die Not dieser Gruppen meist viel größer und ihre soziale Stellung viel gedrückter war als die der industriellen Facharbeiter. Ausschlaggebend war, dass sie in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert und deshalb auch für die innen- (und nicht sozial-)politisch motivierten konservativen Kreise uninteressant waren. Sozialversicherung Bei den Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzen handelte es sich um die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) und die Alters- und Invalidenversicherung (1889). Die Finanzierung der Versicherungsleistungen erfolgte nicht einheitlich. Die Beiträge zur Rentenversicherung wurde neben einem festen Reichszuschuss je zur Hälfte vom Versicherten und seinem Arbeitgeber aufgebracht. Die Krankensicherung wurde ausschließlich über Beiträge finanziert, wobei ein Drittel der Arbeitgeber und zwei Drittel der Versicherte übernahmen. Die Unfallversicherung finanzierte sich ausschließlich durch eine jährliche Umlage bei den Unternehmern, die dafür von der Haftpflicht freigestellt wurden. Die Leistungen waren ebenfalls unterschiedlich. Während die Leistungen der Alters- und Krankenversicherung, auch an den damaligen Lebensverhältnissen gemessen, geradezu ärmlich ausfielen, waren die Leistungen der Unfallversicherung wesentlich großzügiger. Sie stellte damit die deutlichste Verbesserung der sozialen Sicherheit dar.
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3. Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“ Die so genannten neuen Industrien, allen voran die Elektro- und die Chemieindustrie, bildeten seit den neunziger Jahren nicht zuletzt wegen ihrer vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten einen Führungssektorkomplex von annähernd ähnlich großer Bedeutung wie die Schwerindustrie ein halbes Jahrhundert zuvor. Die neuen Industrien zeichnete insbesondere aus, dass ihre Entwicklung planvoll durch den gezielten Einsatz wissenschaftlicher Forschung vorangetrieben wurde. Der große Erfolg der deutschen Unternehmen dieser Branchen auf dem Weltmarkt wird nicht zuletzt auf die gute technische und wissenschaftlich-technische Ausbildung von Facharbeitern, Ingenieuren und Chemikern zurückgeführt. Zeitgenössische amerikanische Stimme zur Bewertung des Erfolges der neuen Industrien in Deutschland E. D. Howard, The Cause and Extent of the Recent Industrial Progress of Germany, Boston 1907.
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In der elektrotechnischen Industrie hat Deutschland seine größten Fortschritte erzielt. Das ist zweifellos eine direkte Folge seiner ausgezeichneten technischen
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
IV.
Hochschulen. […] In der chemischen Industrie ist Deutschland die führende Nation der Welt. Diese Industrie liefert die beste Erklärung für den jüngsten Fortschritt. […] Sie ist das direkte Produkt der technischen Bildung in Deutschland. […] Die technischen Hochschulen und Universitäten können als das Fundament der industriellen Größe des Landes angesehen werden. […] Ein sehr wichtiger Grund für die derzeitige Prosperität der deutschen Nation ist auch die enge Verbindung, die zwischen Wissenschaft und Praxis existiert. Die Ingenieure in der Industrie und in den Laboratorien entstammen den technischen Hochschulen. Deshalb sind sie in der Lage, die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft in die Praxis umzusetzen. Nachrichtentechnik
Elektrische Beleuchtung
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Am Anfang des 19. Jahrhunderts war die Elektrizität eine wissenschaftliche Kuriosität. Wirtschaftliche Bedeutung erlangte sie zuerst im Nachrichtenwesen. Da die schnelle Übermittlung von Nachrichten für den Staat und insbesondere für das Militär große Bedeutung besaß, erfreuten sich naturwissenschaftlich-technische Versuche, die optischen Telegraphen durch elektrische Impulse zur Nachrichtenübermittlung zu ersetzen, großer staatlicher Unterstützung. Parallel dazu suchten auch die entstehenden Eisenbahngesellschaften ein leistungsfähiges und schnelles Nachrichtenübermittlungssystem, um die Züge sicher über die häufig eingleisigen Strecken zu leiten. Während die Komponenten für die Telegraphenlinien in den vierziger Jahren zunächst aus England importiert werden mussten, gelang es der entstehenden deutschen elektrotechnischen Industrie relativ schnell, die Importe durch eigene hochwertige Produkte zu ersetzen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann eine weitere Nachrichtentechnik den europäischen Kontinent zu erschließen. Auch das in den USA entwickelte Telefon wurde in Deutschland relativ schnell aufgenommen, nachdem Graham Bell (1847 – 1922) im Jahr 1885 mit der American Telephone and Telegraph (AT & T) die erste Telefongesellschaft gegründet hatte. Abgesehen von der werksinternen Kommunikation erfolgte die Verbreitung des Telefons in Deutschland allerdings nicht durch die Gründung privater Telefongesellschaften, sondern durch die Reichspost. Private Anschlüsse gab es zunächst nicht. Sie waren wegen der befürchteten Konkurrenz zur Briefpost von der Reichspost nicht erwünscht. Erst in den achtziger Jahren wurden die ersten Ortsnetze installiert. Die Anschlüsse dienten aber bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges fast ausschließlich dem Geschäftsverkehr. Für Zwecke des privaten Gebrauchs war das Telefon selbst für wohlhabende Bürger noch zu teuer. 1915 kamen in Deutschland gut zwei Telefone auf 100 Einwohner, in den USA waren es im Vergleich dazu schon knapp zehn. Parallel zu den ersten Anwendungsgebieten der Schwachstromtechnik entwickelte sich die Starkstromtechnik. Die elektrische Beleuchtung sollte dabei zunächst das wichtigste Anwendungsgebiet werden. Dabei sah sie sich der Konkurrenz der Gasbeleuchtung gegenüber, die durchaus leistungsfähig war, aber einige entscheidende Nachteile besaß. Die offene Flamme rußte und verbrauchte Sauerstoff. Beim Einsatz in kleineren Räumen konnten Gas- oder Petroleumbeleuchtung deshalb Kopfschmerzen verursachen. Um die Jahrhundertwende wurden dann weitere Anwendungsgebiete in der
Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“ Verkehrstechnik und als Antriebskraft in Industrie und Handwerk sowie schließlich auch in den privaten Haushalten erschlossen. Die Erfindung der Glühlampe war allein wenig wert. Um sie wirtschaftlich nutzbar zu machen, um die Invention in eine Innovation zu verwandeln, musste ein ganzes System entwickelt werden, wobei die Glühlampe nur den Endpunkt dieses Systems darstellte. Ein solch komplexes System zu entwickeln, zu beherrschen und es auch wirtschaftlich nutzbar zu machen, stellte den Unternehmer nicht nur vor technische, sondern auch vor gewaltige kaufmännische und Managementprobleme. Die Glühlampe Die ersten elektrischen Beleuchtungsanlagen entstanden zwar bereits in den fünfziger Jahren (Bogenlampe), aber sie konnten dem Gas- und Petroleumlicht zu dieser Zeit noch keine Konkurrenz machen. Das Licht der Bogenlampe war bei Leistungen von 500 bis 3.000 Watt sehr grell, sie zischte laut und qualmte heftig. Die Erfindung der Kohlefadenlampe Ende der siebziger Jahre war ein erster Durchbruch. Ihr Licht war hell und zugleich mild. Da Kohle erst bei 2.100 Grad schmilzt, konnte ein dünner Faden aus verkohlter Baumwollfaser dem Strom einen hohen Widerstand bieten und glimmen, ohne direkt zu verglühen. Seit 1906 wurde Wolfram als Material für die Glühfäden verwandt, das auch heute noch verwendet wird. Im Jahr 1882 eröffnete ihr Erfinder, Thomas Edison, in New York das erste öffentliche Kraftwerk. Allerdings arbeitete Edisons System mit Gleichstrom. Gleichstrom war aber nicht über weite Strecken zu transportieren. Denn mit der Entfernung wächst auch der Widerstand. Edisons Konkurrent George Westinghouse (1846 – 1914) erkannte diese Schwäche und setzte ganz auf die Wechselstromtechnologie. Ähnlich war die Situation in Europa, wo die Lizenznehmer der Edisonpatente ebenfalls lange Zeit ganz auf die Gleichstromtechnologie setzten, bis ihnen mit dem Siegeszug des Wechselstroms mit Ganz in Ungarn und Helios in Deutschland neue Unternehmen als Konkurrenten erwuchsen. Einen entscheidenden Vorteil erzielte die Wechselstromtechnologie, als es in den neunziger Jahren gelang, gebrauchsfähige Elektromotoren zu entwickeln. Etwa zu derselben Zeit gelang dem Deutschen Oskar von Miller (1855 – 1934), hoch gespannten Wechselstrom über 175 Kilometer von einem Wasserkraftwerk am Neckar nach Frankfurt zu transportieren. Damit war der Weg frei für eine zentralisierte Stromproduktion und die Verteilung in einem größeren Versorgungsgebiet. Dadurch konnte der Strompreis entscheidend gesenkt werden.
IV. Elektrifizierung als „System“
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Der Prototyp eines solchen Erfinderunternehmers war der Amerikaner Thomas Edison. Er entwickelte eine Art Wissenschaftsprogramm, das auf die verschiedenen Bestandteile des Systems abgestellt war. Denn die Lösung der technischen Probleme überforderte die technischen Fähigkeiten eines einzelnen Ingenieurs bei weitem. Darüber hinaus benötigte der neue „wissenschaftliche“ Erfinderunternehmer zusätzliche Fähigkeiten, um sein Programm durchzusetzen. Neben Forschung und Entwicklung musste er sich um die Finanzierung, das Management und um organisatorische Probleme kümmern. Zu diesem Zweck gründete Edison verschiedene Firmen mit sehr speziellen Aufgaben: eine Forschungsgesellschaft, eine Fabrik zur Herstellung der verschiedenen Komponenten seines Systems sowie eine Gesellschaft zur Organisation der Systemeinführung und zur Überwachung. Für die einzelnen Aufgaben holte Edison sich jeweils Fachleute: Mathematiker,
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
IV.
Technologietransfer
Kommunalisierung der Elektrizitätsversorgung
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Physiker, Ingenieure, Facharbeiter für die technische Seite sowie Spezialisten für die kaufmännische Seite. Seine eigene Stärke bestand darin, dass er technische wie finanzielle oder organisatorische Probleme identifizieren konnte und Lösungsstrategien entwickelte. Entscheidend war, so der Technikhistoriker Thomas Hughes, dass er alle Probleme als „econotechnical“ begriff. So reichte es ihm nicht aus, mit Kupfer einen geeigneten Stoff für die Kraftübertragung zu besitzen. Die Kraftübertragung musste so billig sein, dass der elektrische Strom auch gegen das Gas konkurrenzfähig sein konnte. War dies nicht der Fall, musste er die Forschungskapazitäten entweder auf die Beschaffung eines Ersatzmaterials oder auf die Reduktion des Materialaufwandes konzentrieren. Nachdem Edison 1882 die erste Glühlampe in einem New Yorker Bankhaus publikumswirksam hatte erleuchten lassen, war der internationale Erfolg nicht mehr aufzuhalten. In Deutschland gründete Emil Rathenau (1838 – 1915) im Jahr 1883 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität, die sich schnell zu Edisons bedeutendster ausländischer Lizenznehmerin entwickelte. Rathenaus Weg zum Erfolg galt vielen Zeitgenossen als prototypisch für die deutsche Vorreiterrolle der neuen Technologien. Wie seinem amerikanischen Vorbild, aber im Unterschied zu den britischen Interessenten, gelang es Rathenau relativ schnell, Unterstützung von Banken zu erhalten. Im Gegensatz zu den Amerikanern Edison und Westinghouse, deren Konkurrenz sich zu einem wahren „Stromkrieg“ auswuchs, wandte sich Rathenau frühzeitig an den wichtigsten potentiellen Konkurrenten, Siemens & Halske, die sich bereits in den sechziger Jahren mit dem Bau von Dynamomaschinen einen Namen gemacht hatten, und schlug ein Arrangement vor. Während sich Siemens verpflichtete, nicht als Konkurrent zu Rathenaus Elektrifizierungsbemühungen aufzutreten, sagte dieser zu, sämtliche Einrichtungen mit Ausnahme der Glühlampen von Siemens zu beziehen. Die Deutsche Edison-Gesellschaft war mit ihrem ersten, im Jahr 1885 in Berlin in Betrieb genommenen Netz so erfolgreich, dass sie sich bereits 1887 von der amerikanischen Edison-Gesellschaft emanzipierte und in die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) umgewandelt wurde, die dann die Elektrifizierung Berlins weitertrieb. Gleichzeitig emanzipierte sich auch Siemens von der Lizenzproduktion und begann eigene, leistungsfähigere Generatoren zu entwickeln. Damit war der ursprünglichen Vereinbarung der Boden entzogen, woraufhin sich beide Gesellschaften 1887 dahingehend verständigten, dass die AEG die Großkraftwerke bauen und Siemens weiter die Bestandteile dafür liefern würde. Doch auch diese Regelung hatten keinen Bestand. Denn als die Kommunen begannen, eigene Elektrizitätswerke zu gründen, musste sich die AEG neue Märkte suchen und wandte sich nun verstärkt der Wechselstromtechnologie zu. Die Entwicklung der Elektrizitätsversorgung verlief auf den ersten Blick der Entwicklung der älteren Versorgungsbereiche sehr ähnlich. Nach einer privatwirtschaftlichen Anfangsphase bemühten sich viele Städte, auch die Elektrizitätsversorgung in ihre Hand zu bekommen. Der Grund für ihre anfängliche Zurückhaltung war aber ein anderer als bei Gas- und Wasserversorgung. Als die Elektrifizierung einsetzte, waren die Kommunalverwaltun-
Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“ gen technisch und administrativ durchaus in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Viele Kommunen zögerten dennoch, weil die elektrische Energie zunächst ausschließlich für Beleuchtungszwecke verwandt wurde und die Kommunen wenig daran interessiert waren, beim Aufbau einer Konkurrenz zu den überwiegend städtischen Gasanstalten Hilfestellung zu leisten. Ein großes ökonomisches Problem für die Kraftwerksbetreiber war in den neunziger Jahren die stark schwankende Kapazitätsauslastung ihrer Anlagen. Da zu dieser Zeit noch über 90 % der erzeugten elektrischen Energie für Beleuchtungszwecke gebraucht wurde, wurde der Strom in erster Linie während der Abendstunden abgenommen. Tagsüber mussten manche frühen Elektrizitätswerke sogar abgeschaltet werden. Insofern war es naheliegend, für diese Zeit weitere Anwendungsbereiche zu erschließen und neue Kunden zu günstigeren Tarifen zu gewinnen. Insbesondere die Großstädte erkannten die preispolitischen und finanziellen Möglichkeiten eines Verbundsystems zwischen den verschiedenen Betriebssparten relativ schnell. Dabei erwies sich die Elektrifizierung des öffentlichen Personennahverkehrs als ein wichtiger Impuls. Denn eigene Straßenbahnen mit kommunalen Betrieben zu elektrifizieren, versprach eine ausreichende Betriebsgröße bei gleichzeitig gesicherter Grundauslastung der Anlagen, so dass sich die gewaltigen Investitionen rechnen konnten. Der Übergang von der Pferdebahn zur „Elektrischen“ war in vielen Städten seit den neunziger Jahren mit dem Übergang vom privaten zum kommunalen Unternehmen verbunden. Straßenbahn Zur Bewältigung des zunehmenden innerstädtischen Kommunikationsbedürfnisses in der rasch wachsenden Riesenstadt New York wurde im Jahr 1832 erstmals eine von Pferden gezogene Schienenbahn in Betrieb genommen. Im Vergleich zum herkömmlichen (Pferde-)Omnibus konnten auf diese Weise bei gleicher Zugkraft mehr Personen schneller befördert werden. In die deutlich kleineren deutschen Städte kam die Pferdebahn erstmals in den sechziger Jahren (Berlin 1865), verbreitete sich dort in den siebziger Jahren aber sehr schnell. Wenn größere Steigungen zu überwinden waren, wurden seit den achtziger Jahren erstmals auch Dampfstraßenbahnen eingesetzt. Die erste elektrische Straßenbahn der Welt verkehrte seit 1881 in Berlin-Lichterfelde. Allerdings war die von Siemens erbaute Bahn noch zu störungsanfällig, so dass zu dieser Zeit erst wenige neue elektrische Straßenbahnen errichtet wurden. Der Durchbruch erfolgte dann wenig später in den USA durch die Erfindung des Rollenstromabnehmers. Auf dieser Grundlage vollzog sich in den neunziger Jahren auch in Deutschland die schnelle Umstellung von Pferdebahnen auf elektrischen Antrieb. Damit war aber auch zugleich die Grundlage für die Kommunalisierung des öffentlichen Nahverkehrs gelegt. Während die Pferdebahnen noch überwiegend von privaten Eigentümern betrieben wurden, übernahmen die Städte seit den neunziger Jahren die Bahnen und legten sie zusammen, um sie wirtschaftlicher elektrifizieren zu können.
Mit der Entwicklung gebrauchsfähiger Drehstrommotoren begann sich in den neunziger Jahren dank günstiger Tagestarife auch die Industrie und wenig später auch das Handwerk für den elektrischen Strom als Energiequelle zu interessieren. Der Elektromotor besaß gegenüber der Dampfmaschine eine Reihe von Vorteilen. Er lief fast geräuschlos und belästigte den gewerb-
IV.
Auslastungsprobleme
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Elektromotor
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lichen Anwender nicht durch Abgase. Er war schnell betriebsbereit und verringerte die Unfallgefahr, weil er dezentral eingesetzt werden konnte und demzufolge die Transmissionen wegfielen, mit denen sonst die Energie von der Dampfmaschine zu den Arbeitsmaschinen geleitet wurde. Darüber hinaus setzte sich in den Verwaltungen ein geschärftes Bewusstsein für die Entwicklungsmöglichkeiten dieses neuen Energieträgers hinsichtlich Stadtentwicklung und Gewerbeansiedlung durch. Schließlich darf auch – wie bereits früher beim Gas – die Interessenlage in den Stadtverordnetenversammlungen nicht außer acht gelassenwerden. Die aufgrund des Klassenwahlrechts in der Kommunalpolitik tonangebenden Handwerker und Gewerbetreibenden erwarteten von den städtischen Regiebetrieben eine schnellere Erschließung des Stadtgebietes bei gleichzeitig günstigeren Tarifen als von privaten Anbietern.
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Klassenwahlrecht Der Grundgedanke des Klassenwahlrechts zielte auf einen plutokratischen Konservativismus. Formal wurde die Gleichheit der Wähler beibehalten, inhaltlich jedoch die Stimmberechtigung an das Steueraufkommen gebunden, womit die Privilegierung der wenigen Hochbesteuerten und die krasse Diskriminierung der Masse von Niedrigbesteuerten festgeschrieben waren. Im preußischen Dreiklassenwahlrecht stellten die erste, zweite und dritte Klasse indirekt, vermittelt über Wahlmänner, jeweils die gleiche Anzahl von Abgeordneten. Dieses Prinzip, schon im Vormärz bei rheinischen Kommunalwahlen gültiges Wahlrecht, war Anfang 1849 zunächst für ein einheitliches preußisches Kommunalwahlrecht eingeführt worden und wurde von dort für das Landtagswahlrecht übernommen. Dabei hatte man errechnet, dass etwa 5 % der Wähler in der ersten Klasse, etwa gut 25 % in der zweiten Klasse und fast 70 % in der dritten Klasse wählen würden. Eine weitere Benachteiligung der Niedrigbesteuerten stellte zudem die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Wahlverfahrens dar. Auf diese Weise war es den Honoratioren der Städte, den Gutbesitzern auf dem Lande etc. jederzeit möglich, die Wahlentscheidung bei von ihnen in irgendeiner Weise abhängigen Personen zu überprüfen. Hinzu kam, dass die überwiegend zur Arbeiterklasse zu zählenden Urwähler der dritten Klasse praktisch keine Chance besaßen, in die zweite Klasse aufzusteigen, so dass eine Mehrheit gegen die Interessen der Unterschichten jederzeit gewährleistet war. In den meisten anderen deutschen Staaten war die Situation nicht besser. In Sachsen herrschte ebenfalls ein abgestuftes Vielklassenwahlrecht, und in Baden und Bayern wurde die kommunale Wählerschaft durch ein restriktives Bürgerrecht auf eine wohlhabende Minderheit der städtischen Bevölkerung reduziert. In München lag der Anteil der Kommunalwahlberechtigten fast während des gesamten Kaiserreichs zwischen 5 % und 6 % der Einwohnerschaft. In den größeren badischen Städten lag er etwas höher, bei etwa 10 %.
Aufgrund dieser Vorteile entwickelten sich die Anwendungsbereiche der elektrischen Energie so schnell, dass bereits im Jahr 1906 in Deutschland mehr Strom für Motoren verwendet wurde als für Beleuchtungsanlagen. Entsprechend rasant stiegen auch die Kapazitäten der öffentlichen Elektrizitätsversorgung (s. Tab. 11). Die Nachfrage privater Haushalte spielte allerdings anfangs nur eine geringe Rolle. Selbst in Berlin waren im Jahr 1914 nur 5,5 % aller Haushalte an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Bis zum Ersten Weltkrieg war der elektrische Strom für die Mehrheit der Bevölkerung als Be-
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Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“
IV.
leuchtungsenergie noch unerschwinglich. Noch beherrschte das Gas- oder Petroleumlicht die Wohnungen.
Tabelle 11: Entwicklung der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft in Deutschland 1890 – 1913 Jahr
Leistung in 1.000 kW
Einwohner1 in Mio.
Anlagekapital in Mio. Mark
1890 1895 1900 1905 1913
17 60 272 592 2.306
2,9 7,7 15,0 24,2 49,3
1,6 21,2 147,4 668,6 1.839,7
1
Einwohner des Versorgungsgebiets Quelle: H. Ott (Hg.), Historische Statistik von Deutschland, Bd. 1: Öffentliche Elektrizitätsversorgung, St. Katharinen 1986, S. 1
Im Gegensatz zur Verteilung des elektrischen Stroms erfolgte seine Produktion größtenteils auf privatwirtschaftlicher Basis. Schon frühzeitig engagierte sich insbesondere die Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Elektrizitätserzeugung eine zukunftsweisende Diversifizierungsstrategie durch das Ausnutzen von Verbundvorteilen erkannte. Ausschlaggebend für diesen Diversifizierungsschritt waren nicht so sehr die Rentabilitätsaussichten der Kraftwerke selber, sondern die Gewinnmöglichkeiten, die sich durch den Brennstoffbedarf der Werke ergaben. Anfangs hatte noch die Nutzung der Abwärme von Hochöfen eine billige Energiequelle dargestellt. Schon nach kurzer Zeit überstieg aber die Nachfrage das Angebot bisher ungenutzter Abwärme, so dass in schneller Folge im und um das Ruhrrevier große Kohlekraftwerke entstanden, von denen aus die schnell wachsenden Städte beliefert wurden. Obwohl die erzeugte elektrische Energie damit aufhörte, ein Nebenprodukt der Schwerindustrie zu sein, emanzipierte sich die Energieerzeugung nicht von der Schwerindustrie, sondern das Know-how, das das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE) und andere schwerindustriell dominierte Unternehmen erworben hatten, blieb ein wichtiger Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Markteintritt von unabhängigen Unternehmen. Der Staat hielt sich bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend aus der Energieerzeugung heraus. Von den 25 Überlandzentralen, die bis zur Jahrhundertwende entstanden, waren 24 durch Privatkapital gegründet worden, an denen sich bald auch Provinzen und Kreise beteiligten. Die Form der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung war in diesem Bereich seitdem vorherrschend. Die Vision, durch die Elektrifizierung den Stadt-Land-Unterschied einzuebnen, hatte Friedrich Engels (1820 – 1895) bereits im Jahr 1883, bevor das erste Kraftwerk in Deutschland überhaupt gebaut worden war.
Kraftwerke
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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Friedrich Engels zur Elektrifizierung Brief Engels an Eduard Bernstein v. 27. 2. 1883, in: Marx-Engels-Werke Bd. 35, S. 444 f. In der Tat ist die Sache ungeheuer revolutionär. […] Wärme, mechanische Bewegung, Elektrizität, Magnetismus, Licht, eine in die andere und wieder zurück zu verwandeln und industriell auszunutzen. […] Dupriez‘ neueste Entdeckung, dass elektrische Ströme von sehr hoher Spannung in verhältnismäßig geringem Kraftaufwand auf bisher ungekannte Entfernung fortgepflanzt […] werden können, befreit die Industrie definitiv von allen Lokalschranken. […] Und wenn sie auch am Anfang den Städten zugute kommen wird, muss sie schließlich der mächtigste Hebel werden zur Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land.
„Reichselektrizitätsmonopol“
Automobilindustrie
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Anders als in den übrigen Bereichen der Versorgungswirtschaft zeichneten sich wegen des überlokalen Charakters der Elektrizitätswirtschaft aber schon bald ordnungspolitische Probleme ab, die den Eingriff des Staat provozierten. Dabei sollte sich eine Entwicklung wiederholen, die bereits ein knappes halbes Jahrhundert zuvor die ordnungspolitische Auseinandersetzung um die Eisenbahnen geprägt hatte. Um ein Monopol des RWE in Rheinland-Westfalen zu verhindern, hatte sich der preußische Staat über die Zeche Hibernia bereits 1906 an der Gründung der Elektrizitätswerke Westfalen beteiligt. Damit war der Expansion des RWE nach Westfalen zunächst ein Riegel vorgeschoben worden. Im Jahr 1912 entstand dann das Projekt eines Reichselektrizitätsmonopols. Diese Pläne scheiterten jedoch kläglich, obwohl die Notwendigkeit einer übergreifenden Netzplanung nicht bestritten wurde. Denn die Einzelstaaten waren nicht bereit, Kompetenzen an das Reich abzutreten, und auch die Schwerindustrie hatte kein Interesse daran, ihr „Ziehkind“ an den Staat abzugeben. Es wurde vielmehr als ein integraler Bestandteil des eigenen vertikalen Konzentrationsprozesses begriffen, d. h. der Fertigungslinie von der Kohle über die Eisenhütte zum Walzwerk mit der Nebenlinie Elektrizitätsversorgung in einer (privatwirtschaftlichen) Hand. Etwas im Windschatten der elektrotechnischen Industrie vollzog sich auch die Weiterentwicklung des Maschinenbaus. Maschinenbauunternehmen gehörten vielfach nicht nur zu den Pionieren elektrotechnischer Produkte, sondern sie entwickelten ihrerseits zahlreiche neue Produktlinien, die im Gegensatz zum Maschinenbau der schwerindustriellen Phase nun nicht mehr ausschließlich für die Investitionsgüterindustrie produziert wurden. Die Steigerung der Massenkaufkraft und die Kostenreduzierung durch Massenproduktion ermöglichten es vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend auch privaten Haushalten, Konsumgüter der Maschinenbauindustrie wie Nähmaschinen, Schreibmaschinen und Fahrräder zu erwerben. Ein weiteres ,Kind‘ des Maschinenbaus war die Automobilindustrie. Doch bis zum Ersten Weltkrieg ließ sich die spätere Bedeutung des Fahrzeugbaus für die deutsche Wirtschaft noch nicht einmal erahnen. Viele für die Entwicklung der Branche wichtige Erfindungen wurden zwar in Deutschland gemacht, aber der deutsche Markt war einfach zu klein, um größere Stück-
Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“ zahlen produzieren zu können. Das Automobil blieb deshalb lange Zeit ein Luxusgut, das selbst für breite bürgerliche Schichten unerschwinglich war. Der Lastkraftwagen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts technisch noch nicht ausgereift und schaffte es lediglich, mit dem Pferdefuhrwerk im Zubringerverkehr zu den Bahnhöfen zu konkurrieren. Im Ersten Weltkrieg erfuhr der Lastkraftwagenbau zwar einen Entwicklungsschub, aber selbst in den zwanziger Jahren war der LKW für die Eisenbahn im Fernverkehr noch keine Konkurrenz. Ähnlich wie der Maschinenbau vollzog sich der Aufstieg der modernen Chemieindustrie anfangs in erster Linie als eine Folgeentwicklung des Aufstiegs der klassischen Sektoren der Industrialisierung, in erster Linie der Textil- und Papierindustrie mit ihrem Bedarf an Waschmitteln, Appreturen, Farben und Bleichstoffen. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang die industrielle Produktion von Soda, das als Grundstoff für Bleichund Waschmittel diente, aber auch in der Seifen- und Glasindustrie Anwendung fand. Die schnell wachsende Nachfrage insbesondere der Textilindustrie ließ die Sodaproduktion seit etwa 1820 auch in Deutschland stark ansteigen. Sie markiert deshalb den Beginn der anorganischen Großchemie. Soda Soda oder Natriumcarbonat ist das farblose, kristalline Natriumsalz der Kohlensäure. Die Grundlagen für die industrielle Sodaproduktion wurden bereits am Ende des 18. Jahrhunderts durch den Franzosen Nicolaus Leblanc (1742 – 1806) gelegt. Das Grundprinzip bestand auch hier darin, die bei der Produktion von Pottasche verwendete Holzkohle durch Steinkohle zu ersetzen. Dadurch war der massenhafte Einsatz von Soda in der Textilindustrie möglich geworden, wodurch das Bleichen von Stoffen von einigen Monaten auf wenige Stunden verkürzt wurde. Im Jahr 1865 wurde die industrielle Sodaproduktion durch den Belgier Ernest Solvay (1838 – 1922) entscheidend verbessert. Das nach ihm benannte AmmoniakVerfahren benötigte zwar mehr Salz, aber wesentlich weniger Energie. Deshalb wurden Solvay-Fabriken häufig in der Nähe von Salzlagerstätten angesiedelt.
Einen zweiten frühen Entwicklungsimpuls für die Chemieindustrie schuf die Urbanisierung. Das enge Zusammenleben der Menschen stellte völlig neue Anforderungen an die private und öffentliche Hygiene. Dadurch entstand eine große Nachfrage nach Seife und Waschmittel durch die privaten Haushalte. Ebenfalls sehr früh setzte die Kohleveredelung zum Zwecke der Gasgewinnung ein. Einer der Pioniere der Gasbeleuchtung war William Murdoch (1754 – 1839), der nicht nur die Werkstatt des berühmten Dampfmaschinenpioniers Boulton & Watt als eine der ersten industriellen Anlagen beleuchtete, sondern James Watt auch davon überzeugte, in die Produktion von Gasbeleuchtungsanlagen einzusteigen. Gasbeleuchtung im öffentlichen Raum kam aber erst deutlich später zum Einsatz: in England seit 1814, und in Deutschland wurde die erste Gasanstalt in Hannover 1824 von einer englischen Gesellschaft gegründet. Die Kohlechemie bildete auch die Grundlage für diejenigen Anwendungsbereiche der chemischen Industrie, denen die deutschen Unternehmen ihre Weltmarktführerschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert ver-
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Chemieindustrie
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Kohlechemie
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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dankten: synthetische Farbstoffe und Pharmazeutika. In Kokereien und bei den Kokskohlehochöfen fiel eine große Menge Teer als Nebenprodukt an, für das es lange Zeit keine richtige Verwendung gab. Nachdem die chemische Zusammensetzung des Teers im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts im Prinzip erforscht war, war der Weg zur Isolierung des Farbstoffs Anilin und von Phenol nicht mehr weit.
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Anilin Bei Anilin handelt es sich um eine aromatische Verbindung, die erstmals 1826 durch Kalkdestillation aus Indigo hergestellt wurde. Durch Oxidation wurde daraus wenig später Anilinschwarz gewonnen. 1856 entdeckte der Engländer Henry Perkin (1838 – 1907) bei der Oxidation von verunreinigtem Anilin einen purpurvioletten Farbstoff. Wenig später gründete Perkin die erste Fabrik für synthetische Farbstoffe. Der kommerzielle Erfolg von Perkins Erfindung löste eine intensive Suche nach weiteren Teerfarbstoffen aus. Die größte Bedeutung dürften dabei die Alizarinsynthese zur Herstellung eines roten Farbstoffs Ende der sechziger Jahre und die Indigosynthese zur Herstellung eines blauen Farbstoffs Ende der neunziger Jahre besessen haben. Beide Farbstoffe wurden in Deutschland (bzw. der Schweiz) entwickelt.
Synthetische Farbstoffe
Die industrielle Herstellung synthetischer Farbstoffe begann in den späten sechziger Jahren etwa zeitgleich in England, Frankreich und Deutschland. Sie expandierte rasch, nachdem die Preise für Naturfarbstoffe seit den siebziger Jahren unterboten werden konnten. Während die englischen und französischen Unternehmen technologisch aber bald den Anschluss verloren, erlebte die deutsche Farbstoffindustrie einen steilen Aufstieg. Bereits zu Beginn der achtziger Jahre hatten die Badische Anilin- und Soda Fabrik (BASF), die Farbwerke Höchst, die Farbenfabrik Bayer, die Berliner Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (Agfa) und die anderen deutschen Chemieproduzenten einen Anteil von 50 % am Weltmarkt erobert, den sie um 1900 auf 90 % steigerten. Am Beispiel der Farbenproduktion lässt sich auch die für Deutschland typische Verbindung zwischen wissenschaftlicher und industrieller Forschung demonstrieren. Denn an der Entwicklung synthetischer Farbstoffe waren zunächst Forschungslaboratorien an Hochschulen und Gewerbeinstituten beteiligt, die dann Verträge mit Unternehmen abschlossen, um die neuen Produkte marktgängig machen zu können. Alle großen deutschen Farbenproduzenten profitierten von dieser Verbindung, am meisten wahrscheinlich die BASF. Auch als die Farbenfabriken nach der Verabschiedung des ersten deutschen Patentgesetzes im Jahr 1877 verstärkt in die eigene Forschung investierten, profitierten sie weiterhin von den weltweit führenden deutschen Universitäten und technischen Hochschulen. Denn diese lieferten das hoch qualifizierte Personal für die Forschungsabteilungen. Die Unternehmen sicherten sich durch deren Verbindung mit der universitären Forschung wiederum die enge Anbindung an den wissenschaftlichen Fortschritt. Ein geradezu klassischer Fall der Zusammenarbeit zwischen universitärer und industrieller Forschung war die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zur Herstellung von Ammoniak, das kurz vor und während des Ersten Weltkrieges die Herstellung von Stickstoffdünger und Sprengstoffen revolutionierte. Während dem Karlsruher Chemieprofessor Fritz Haber (1868 –
Universitärindustrielle Forschung
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Der Führungssektorkomplex der „neuen Industrien“
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1934) mit finanzieller Unterstützung der BASF im Jahr 1909 die AmmoniakSynthese im Labor gelungen war, entwickelte Carl Bosch (1874 – 1940) in den folgenden Jahren diese Laborlösung bei der BASF zur industriellen Anwendungsreife weiter. Kunstdünger Zwischen 1880 und 1914 stieg der landwirtschaftliche Verbrauch an Düngemitteln auf das Zehn- bis Zwanzigfache. Dabei handelte es sich überwiegend um die Einbringung von Nährstoffen in den Boden, insbesondere von Stickstoff, Phosphor und Kalium, die durch den landwirtschaftlichen Betrieb selber nicht gewonnen werden konnten, sondern industriell hergestellt wurden. Durch die künstliche Düngung war es möglich geworden, die Hektarerträge deutlich zu steigern und Böden in die landwirtschaftliche Produktion zu nehmen, die bisher nicht lohnend zu bewirtschaften gewesen waren. Anfangs spielte ein organischer Stickstoffdünger, das aus Peru importierte Guano, die Hauptrolle. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gewann dann das kaliumsalzhaltige Kali rasch an Bedeutung, das in Mitteldeutschland und später auch in Elsass-Lothringen und im Raum Hannover abgebaut wurde. Phosphatdünger wurde zunächst als Knochenmehl und später auch als fein gemahlene ThomasSchlacke, einem Nebenprodukt der Eisen- und Stahlindustrie, gewonnen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Stickstoffdüngung dann durch zwei Verfahren der chemischen Industrie revolutioniert und die deutsche Stickstoffdüngerversorgung damit von Importen unabhängig gemacht: das Frank-Caro-Verfahren zur Herstellung von Calciumcyanamid aus Carbid und flüssigem Stickstoff und das Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Ammoniak aus Wasserstoff und Stickstoff.
Ein zweiter wichtiger Faktor für den Erfolg der deutschen Chemieindustrie auf den Weltmärkten war die vertikale Integration der Produktion von den Grundstoffen bis zum Farbstoff und die Weiterentwicklung in andere Produktgruppen. Die wissenschaftlichen Prinzipien, die sich hinter den künstlichen Farbstoffen verbargen, bildeten die Voraussetzungen für weitere Anwendungen. Zur wichtigsten Verwandten der Farbenindustrie wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts die pharmazeutische Industrie. Die therapeutischen Wirkungen mancher synthetischer Farben war schon länger bekannt. Mit der Produktion von Antiseptika hatte man bereits in den sechziger Jahren begonnen, nachdem die desinfizierende Wirkung von Phenolen entdeckt worden war. Zu einer eigenen Produktlinie der großen Farbenfabriken entwickelten sich die Pharmazeutika aber erst, als die Teerfarbenindustrie in den achtziger Jahren unter Absatzstockungen litt und sich einzelne Farbenproduzenten wie Hoechst und Bayer systematisch der pharmazeutischen Forschung zuwandten. Durch eine derart diversifizierte Produktpalette ließen sich nicht nur konjunkturelle Schwankungen besser ausgleichen, sondern nicht selten bildeten die Abfallstoffe des einen Produktionszweiges zugleich den Grundstoff für einen anderen. Ähnlich wie in der Elektroindustrie, in der vor dem Ersten Weltkrieg fast alles auf zwei Großkonzerne (AEG und Siemens) hinauslief, war auch die Chemieindustrie hochgradig konzentriert. Entscheidend war hierfür die Gründung einer Interessengemeinschaft von BASF, Bayer und Agfa im Jahr 1904. Im Jahr 1916 schloss sich dieser IG auch das führende Unternehmen
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Pharmazeutika
IG Farben
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der Elektrochemie, die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron an. Lediglich die erst später zur IG Farben stoßenden Farbwerke Höchst blieben bis zum Ende des Kaiserreichs noch abseits. Beide Branchen, die Chemie und die Elektroindustrie, erfüllten die oben aufgeführten Kriterien für einen industriellen Führungssektor. Sie verzeichneten ein überdurchschnittliches Wachstum und steigerten ihr gesamtwirtschaftliches Gewicht kontinuierlich. Nach einer Berechnung von Richard Tilly überstieg das Wachstumstempo von Chemie- und Elektroindustrie zwischen 1880 und 1913 das Wachstum der „alten Industrien“ Steinkohlenbergbau und Textilindustrie bei weitem. Auch die Nachfragewirkungen auf vorgelagerte Branchen (etwa auf die Metallindustrie und den Maschinenbau im Falle der Elektroindustrie und auf den Braunkohlenbergbau im Falle der Chemieindustrie) sowie die Vorleistungen für nachgelagerte Branchen (der elektrische Strom als Antriebsenergie für die kleingewerbliche Nutzung oder die Kunstdüngerherstellung als Modernisierungsimpuls für die Landwirtschaft) waren mit denen des schwerindustriellen Führungssektorkomplexes während des industriellen Take-off durchaus vergleichbar.
4. Die regionale Verbreitung der Industrialisierung Geringere Standortabhängigkeit
Mitteldeutschland
Rhein-Main-Region
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Die neuen Industrien waren wesentlich weniger standortgebunden als die Industrien des schwerindustriellen Führungssektorkomplexes, die sich mit Ausnahme des Maschinenbaus ausschließlich in der Nähe von Steinkohlevorkommen angesiedelt hatten. Für die Chemieindustrie entwickelte sich lediglich die Lage an einem großen Fluss zu einem wichtigen Standortfaktor. Der Fluss diente als Transportweg, Wasserreservoir für den Produktionsprozess und als Abwasserkanal. Wegen dieser Vorteile siedelten die ursprünglich in Elberfeld ansässigen Farbenfabriken Bayer seit 1891 an den Rhein nach Leverkusen. Trotz der geringen Standortvoraussetzungen entstanden auch mit der Entwicklung von Chemie- und Elektroindustrie einige neue industriell geprägte Regionen, und auch einige ältere industrielle Inseln entwickelten sich zu Industrieregionen weiter. Die durch die neuen Industrien geprägten Regionen besaßen aber keinen Reviercharakter wie etwa das Ruhrgebiet. Die beiden wichtigsten dieser neuen Industrieregionen waren die bereits erwähnte mitteldeutsche Industrieregion zwischen Magdeburg im Norden und Halle bzw. Leipzig im Süden und das Rhein-Main-Gebiet zwischen Frankfurt/Offenbach im Nordosten und Mannheim/Ludwigshafen im Südwesten. In Mitteldeutschland bildeten die Braunkohlevorkommen im Süden eine wichtige Voraussetzung für die Ansiedlung von chemischen Fabriken, die neben die schon ältere größte deutsche private Gasversorgungsgesellschaft, die Deutsche Continentale Gasgesellschaft (Dessau), traten. Die Chemieindustrie prägte auch die Rhein-Main-Region. Dort hatten sich mit den Farbwerken Hoechst, den Chemischen Werken GriesheimElektron und der BASF drei der erfolgreichsten Unternehmen der Branche
Die regionale Verbreitung der Industrialisierung angesiedelt. In Mannheim war mit dem Landmaschinenproduzenten Heinrich Lanz sowie mit dem Motoren- und Fahrzeugbauer Benz & Cie. eine zukunftsfähige Maschinenbauindustrie sowie mit Brown, Boveri & Cie. ein führendes Unternehmen der Elektrotechnik beheimatet. Die Stadt Frankfurt, die lange Zeit jede Industrieansiedlung aktiv verhindert hatte, entwickelte sich ebenfalls zu einem wichtigen Standort der elektrotechnischen Industrie. Dabei dürfte die Internationale Elektrotechnische Ausstellung im Jahr 1891, die in Frankfurt ausgerichtet wurde, einen wichtigen Impuls dargestellt haben. Auch der Großraum Berlin entwickelte sich in Fortsetzung der Maschinenbautradition der Stadt zu einem wichtigen Standort der neuen Industrien, insbesondere der elektrotechnischen Industrie. Das von Werner Siemens (1816 – 1892) 1847 gegründete Unternehmen Siemens & Halske hatte ebenso Berliner Wurzeln wie die ein knappes halbes Jahrhundert später gegründete AEG. Die Verbindung von Maschinenbau und Elektrotechnik zeichnete insbesondere Ludwig Loewe & Co. aus. Dieses 1869 gegründete Unternehmen produzierte zunächst Werkzeugmaschinen, Nähmaschinen und Gewehre, um sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kooperation mit der AEG verstärkt der Elektrotechnik zuzuwenden. In der Chemischen Industrie sind in erster Linie die Agfa und das von dem Apotheker Ernst Schering (1824 – 1889) gegründete gleichnamige Pharmaunternehmen zu nennen. Darüber hinaus löste Berlin die ehemalige, aber 1866 von Preußen annektierte Freie Reichsstadt Frankfurt am Main als deutsches Finanzzentrum ab. Die Berliner Börse hatte bereits vor der Reichsgründung in ihrer Bedeutung die Frankfurter Börse überflügelt. Das bedeutete, dass nach der Reichsgründung fast alle bedeutenden Banken des Reiches ihre Zentralen nach Berlin verlegten (Dresdner Bank, Darmstädter Bank für Handel und Industrie, Commerz- und Discontobank, Mitteldeutsche Creditbank), sofern sie nicht wie die Berliner Handelsgesellschaft, die Disconto-Gesellschaft und die Deutsche Bank ohnehin schon in Berlin gegründet worden waren. Die überragende Bedeutung des Finanzplatzes Berlin für viele Unternehmen kapitalintensiver Industrien führte seit der Jahrhundertwende dazu, dass zahlreiche Großunternehmen ihren Firmensitz nach Berlin verlegten. Die gestiegene Bedeutung des Staates für die Wirtschaft schien es darüber hinaus aber auch sinnvoll erscheinen, die Nähe der Entscheidungsträger zu suchen. Berlin war somit neben seiner traditionellen Funktion als Residenzstadt wegen seiner guten Verkehrsverbindungen durch Eisenbahn und Binnenschifffahrt und nicht zuletzt als Hauptstadt des Reiches zu einer der bedeutendsten Industriestädte des Reiches aufgestiegen. Mindestens ebenso bedeutsam wie die Herausbildung neuer Industrieregionen durch die Konzentration von Unternehmen der neuen Industrien war die industrielle Eroberung des „platten Landes“ und damit der Beginn einer flächendeckenden industriellen Erschließung. Für diese nur selten beachtete Entwicklung waren aber nicht die Führungssektoren der drei Industrialisierungsphasen verantwortlich, sondern die in der Geschichtsschreibung über die Industrialisierung sträflich vernachlässigte Nahrungs- und Genussmittelindustrie und die damit eng verbundene Modernisierung der Landwirtschaft. Diese Entwicklung war bereits von dem Pionier der modernen Standortlehre, dem mecklenburgischen Gutsbesitzer Johann Heinrich von Thünen
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Berlin
„Thünensche Ringe“
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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(1783 – 1850), im Jahr 1826 vorhergesagt worden. Dabei hatte Thünen zwar noch nicht die spätere Nahrungs- und Genussmittelindustrie im Blick, aber er hatte erkannt, dass sich um größere Agglomerationszentren herum unterschiedliche Produktionszonen zur Versorgung der dortigen Bevölkerung herausbilden würden.
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Johann Heinrich v. Thünen, Zur Entstehung unterschiedlicher landwirtschaftlicher Produktionszonen J. H. von Thünen, Der isolierte Staat in Bezug auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, Darmstadt 1966 (1. Auflage 1842), S. 1 f. Man denke sich eine sehr große Stadt in der Mitte einer fruchtbaren Ebene gelegen. […] Es entsteht nun die Frage: wie wird sich […] der Ackerbau gestalten, und wie wird die größere und geringere Entfernung von der Stadt auf den Landbau einwirken, wenn dieser mit der höchsten Konsequenz betrieben wird. Es ist im Allgemeinen klar, dass in der Nähe der Stadt solche Produkte gebaut werden müssen, die im Verhältnis zu ihrem Wert ein großes Gewicht haben […] und deren Transportkosten nach der Stadt so bedeutend sind, dass sie aus entfernten Gegenden nicht mehr geliefert werden können; so wie auch solche Produkte, die dem Verderben leicht unterworfen sind und frisch verbraucht werden müssen. Mit der größeren Entfernung von der Stadt wird aber das Land immer mehr und mehr auf die Erzeugung derjenigen Produkte verwiesen, die im Verhältnis zu ihrem Wert mindere Kosten erfordern. Aus diesem Grunde allein werden sich um die Stadt ziemlich scharf geschiedene konzentrische Kreise bilden, in welchen diese oder jene Gewächse das Haupterzeugnis ausmachen. Mit dem Anbau eines anderen Gewächses, als Hauptzweck betrachtet, ändert sich aber die ganze Form der Wirtschaft, und wir werden in den verschiedenen Kreisen ganz verschiedene Wirtschaftssysteme erblicken.
Nachholende Industrialisierung des ländlichen Raums
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Grundsätzlich galt, dass der regional und sektoral extrem ungleichgewichtige industrielle Modernisierungs- und Wachstumsprozess solche Regionen, die abseits der industriellen Führungsregionen lagen, während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht einbezog. Eine „nachholende Industrialisierung“ war im ländlichen Raum nur möglich, wenn die Ressourcenausstattung eine solche Steigerung der Produktivität im Verhältnis zu den Arbeitskosten gestattete, dass sich diese Branchen in der sich intensivierenden interregionalen Arbeitsteilung behaupten konnten. Eine solcher Konstellation war in der Regel nicht bei den „Führungssektoren“ der Industrialisierung zu erwarten. Vielmehr erfasste der Modernisierungsprozess auf dem Land meist solche Industrien, die entweder in früheren Jahrzehnten noch vom ländlichen Handwerk und Kleingewerbe dominiert waren (Holzverarbeitung, Baustoffindustrie) oder neuartige Industrien, die eng mit der Landwirtschaft verbunden waren (Zuckerfabriken, Brennereien, Stärke- und Nahrungsmittelwerke). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die großen Agglomerationen wie das Ruhrgebiet, Berlin und Hamburg nicht mehr in der Lage, den alltäglichen Bedarf der Bevölkerung aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu decken. Die in der Zeit des Kaiserreichs langsam steigende Massenkaufkraft tat ein übriges, um die bisher eindeutig im Schatten der Produktionsgüterindus-
Die regionale Verbreitung der Industrialisierung trie stehende Konsumgüterindustrie zu stimulieren. Dabei war die Herausbildung einer großen Nahrungsmittelindustrie innerhalb eines Ballungszentrums – wie die Brauwirtschaft in Dortmund – eher die Ausnahme. Da die Rohstoffe meist durch die heimische Landwirtschaft geliefert wurden, war es naheliegend, wenn sich die Produzenten auch abseits der Agglomerationen ansiedelten. Außerdem standen dort meist billige Arbeitskräfte in ausreichender Zahl zur Verfügung. Einschränkend ist aber zu berücksichtigen, dass eine leistungsfähige Verkehrsverbindung mit der Konsumentenregion eine notwendige Voraussetzung für die landwirtschaftsnahe Industrialisierung in der Fläche war. Ein frühes Beispiel für die Umstrukturierung einer ländlichen Region war die Zigarrenindustrie in Minden-Ravensberg. In den vierziger Jahren war die dort hoch entwickelte heimgewerbliche Leinenproduktion zusammengebrochen. Da die sich nun in Bielefeld konzentrierende Textilindustrie die ehemaligen Leineweber und Spinner nur in geringer Zahl aufnehmen konnte, verließ ein Großteil der ländlichen Bevölkerung die Region. Der Industrialisierung Bielefelds folgte demzufolge die Deindustrialisierung der Region. Für die Tabakverarbeitung besaß die Region aber drei entscheidende Vorzüge. Erstens waren billige Arbeitskräfte in großer Zahl vorhanden. Das war besonders wichtig, weil die Zigarrenproduktion wenig kapitalintensiv war und die Arbeitskosten demzufolge für die Standortwahl von größerer Bedeutung waren als bei den Führungssektoren der Industrialisierung. Zweitens ließ sich der Rohstoff günstig von Bremen über die Weser in die Region bringen, und drittens war das östliche Westfalen schon früh durch die Köln-Mindener Eisenbahn mit Ruhrgebiet und Rheinland im Westen und Hannover, Magdeburg und Berlin im Osten verbunden. Schließlich erlaubten die vergleichsweise niedrigen Kapitalaufwändungen die Gründung von Unternehmen, ohne auf einen leistungsfähigen (und in der Region nicht vorhandenen) Kapital- und Kreditmarkt angewiesen zu sein. Die Zigarrenindustrie in Minden-Ravensberg war kein Einzelfall. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stimulierte die Konsumgüternachfrage das kleinstädtische Handwerk und die Landwirtschaft so sehr, dass immer mehr Produzenten zur industriellen Produktion übergingen. Schnapsbrennereien, Margarine-, Süßwaren- und Wurstfabriken waren im ländlichen Westfalen ebenso auf das Ruhrgebiet ausgerichtet wie die lippische Möbelindustrie, die einen Großteil des „Gelsenkirchener Barock“ lieferte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfasste die Industrialisierung auch die landwirtschaftliche Produktion. Ganz im Sinne der Thünenschen Theorie griffen die Produktionszonen immer weiter aus. Dank der Nähe zu Hamburg und der guten verkehrlichen Erschließung war die Modernisierung der Landwirtschaft in Schleswig-Holstein besonders erfolgreich. Hier korrespondiert die überdurchschnittlich gute Ausstattung der Provinz mit Neben- und Kleinbahnen in auffälliger Weise mit deutlich überdurchschnittlichen Wachstumsraten des Volkseinkommens pro Kopf. Denn der Regierungsbezirk Schleswig besaß zwischen 1883 und 1907 die vierthöchste Wachstumsrate aller preußischen Regierungsbezirke. Die aus der Eisenbahnverkehrsstatistik gewonnene Struktur des interregionalen Güteraustausches (hohe Exportüberschüsse von Schweinen und Rindern sowie hohe Importüberschüs-
IV.
Minden-Ravensberg
Schleswig-Holstein
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
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Oldenburg
Marktferne Regionen
136
se von Düngemitteln) verdeutlicht in Verbindung mit einer rasanten Entwicklung der Arbeitsproduktivität (insbesondere bei der Schweinezucht) und einer im Vergleich mit anderen landwirtschaftlich geprägten Regionen hohen Kapitalintensität ein sehr „modernes“ Profil der Landwirtschaft in Schleswig-Holstein. Bei der Rinderzucht wird die Verbindung von Eisenbahnentwicklung und exportorientierter Modernisierung der Landwirtschaft besonders deutlich. Die Rinderausfuhr über den Seeweg nach England kam zwar im Jahr 1888 aufgrund von Einfuhrbeschränkungen in Großbritannien ins Stocken, aber wegen der rasant steigenden Nachfrage aus Hamburg entwickelte sich die schleswig-holsteinische Marsch dennoch zu dem größten Weidemastgebiet Deutschlands. Eine ähnlich positive Entwicklung machten die ebenfalls fast ausschließlich landwirtschaftlich strukturierten Bezirke Lüneburg und Stade in der Provinz Hannover sowie das Großherzogtum Oldenburg durch, dessen ProKopf-Einkommen (allerdings ausgehend von sehr niedrigem Niveau) zwischen 1882 und 1907 sogar noch schneller wuchs als das des Regierungsbezirks Schleswig. Noch in den siebziger Jahren war die oldenburgische Landwirtschaft weitgehend auf den Eigenbedarf eingerichtet. Selbst die Nachfrage aus den Städten des Landes war nur gering, weil die meisten Städter ihren Bedarf an Fleisch und Eiern selber erzeugten und das Brotgetreide aus dem direkten Umland bezogen werden konnte. Lediglich Bremen stellte einen größeren Markt für Butter und Milch aus den nördlichen Landesteilen dar, während der Süden wegen der landwirtschaftlich kaum nutzbaren Geestlandschaft eines der „Armenhäuser“ des Reiches war. Seit der Mitte der neunziger Jahre durchlebte insbesondere die südoldenburgische Landwirtschaft bis zum Ersten Weltkrieg einen fast einzigartigen Entwicklungsschub. Der Strukturwandel zeigt sich zum einen darin, dass sich die Zahl der in Südoldenburg gehaltenen Schweine zwischen 1892 und 1912 fast verfünffachte, während sich zum anderen anhand der Verkehrsstatistik nicht nur ein rascher Anstieg des Schweineexports, sondern auch von Düngemittel- und Futtermittelimporten nachweisen lässt. Auch wenn der Effekt statistisch nicht messbar ist, kann wohl davon ausgegangen werden, dass das Wohlstandsgefälle zwischen den rein industriell geprägten Regionen und den ländlichen Räumen zumindest in Nordwestund Mitteldeutschland durch den Aufschwung der Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie durch die Modernisierung der Landwirtschaft im Gefolge der wachsenden Nachfrage aus den industriellen Ballungsräumen merklich verringert worden ist. Anders sah die Situation in Nordostdeutschland aus, wo sich der Übergang zur Veredelungslandwirtschaft wegen der Marktferne nicht anbot und sich die Getreidelandwirtschaft nur durch den Zollschutz retten zu können glaubte. Auch weite Teile Süddeutschlands schafften den Anschluss vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht. Die Industrialisierung Süddeutschlands war in wesentlich größerem Maße als in Westund Mitteldeutschland eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts, teilweise sogar erst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei in den peripheren Regionen der Tourismus eine besondere Rolle spielen sollte.
Die sozialen Folgen
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5. Die sozialen Folgen Das Bevölkerungswachstum hielt bis zum Ersten Weltkrieg fast unvermindert an. Obwohl die durchschnittliche Fertilität langsam zurückzugehen begann, machten sich seit den achtziger Jahren die verbesserte Hygiene und die Fortschritte in der medizinischen Versorgung in einem deutlichen Rückgang der Mortalität, insbesondere der Säuglingssterblichkeit, bemerkbar. Dadurch stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern von 35,6 Jahren (1871) auf 44,8 Jahre (1910) und bei Frauen von 38,5 Jahren (1871) auf 48,3 Jahre (1910) an. Die Reichsbevölkerung wuchs im gleichen Zeitraum von etwa 41 Mio. Menschen auf gut 58 Mio. Menschen an. Seit den fünfziger Jahren war die Industrie mehr und mehr in der Lage, die zusätzlich auf den Arbeitsmarkt strömenden Menschen aufzunehmen. Dennoch begann die Auswanderung nach der Beendigung des amerikanischen Bürgerkriegs noch einmal zuzunehmen. In den achtziger Jahren erreichte die Amerikaauswanderung dann ihren absoluten Höhepunkt, als bis 1893 noch einmal etwa 1,8 Mio. Menschen Deutschland verließen, die meisten nun aus Nordostdeutschland. In den neunziger Jahren brach die Auswanderung dann plötzlich ab. Im Jahr 1893 erschütterte die amerikanische Wirtschaft eine schwere Krise, während gleichzeitig die bäuerliche Landnahme auf Bundesland an ihr Ende kam. Die Zukunft der Einwanderer lag damit in der Fabrik statt auf der eigenen Scholle. Das Ruhrgebiet und andere Industrieregionen in Deutschland boten da aber die gleichen, wenn nicht bessere Chancen. Der Wanderungsdruck in den ländlichen „Überschuss“-Gebieten hatte nach dem Ende der Amerikaauswanderung nicht nachgelassen. Vielmehr schwenkte die Überseewanderung nun in eine deutsche Ost-West-Wanderung um, die sich als nationales Teilstück in den großen Halbkreis der europäischen Ost-West-Wanderung einfügte. Von nun ab trugen die nordostdeutschen Zuwanderer entscheidend zum Wachstum der Arbeiterschaft Berlins, Sachsens und auch des Ruhrgebietes bei. Dadurch wurde der verhinderte Pauperismus Nordostdeutschlands letztlich in die soziale Problematik der mittel- und westdeutschen Industriegroßstadt überführt. Bis zum Jahr 1907 hatten knapp 2 Mio. Menschen Ostdeutschland im Zuge der Binnenwanderung verlassen, davon waren jeweils knapp 400.000 nach Großberlin und in das Ruhrgebiet eingewandert. Ein Großteil der Ruhrgebietseinwanderer waren masurisch oder polnisch sprechende deutsche Staatsbürger, so genannte „Ruhrpolen“. Daneben wanderten nun aber auch verstärkt ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland ein, mehrheitlich aus dem Habsburger und dem Zarenreich, aber auch schon aus Italien. Die Zahl der Ausländer im Deutschen Reich versechsfachte sich zwischen 1871 und 1910 von gut 200.000 auf rund 1,25 Mio. Vor der Jahrhundertwende war Deutschland damit innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland geworden.
Ost-WestWanderung
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„Ruhrpolen“ Die ersten polnischen Zuwanderer in das Ruhrgebiet wurden in den sechziger Jahren in Oberschlesien für Bottroper Zechen gewonnen. Während diese Zuwanderung noch in der Tradition der Anwerbung von Fachkräften stand, waren die polnisch sprechenden Zuwanderer seit den achtziger Jahren Landarbeiter aus den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen ohne jegliche fabrikindustrielle Erfahrung. Entsprechend wurden sie in der Regel auf Hilfsarbeiterpositionen eingesetzt, vornehmlich im Steinkohlenbergbau. Ähnlich wie in den preußischen Ostprovinzen betrieben die Behörden auch im Ruhrgebiet gegenüber den Polen eine harte Germanisierungspolitik. So machte die Bergpolizeiordnung von 1899 den beruflichen Aufstieg im Bergwerk von der Kenntnis der deutschen Sprache „in Schrift und Druck“ abhängig. Vereinsrecht und Schulpolitik dienten als Instrumente, um Gebrauch und Weitergabe der polnischen Sprache zu unterdrücken. Im Ergebnis stärkte diese Politik aber nur den polnischen Selbstbehauptungswillen und erschwerte damit die Eingliederung in die Gesellschaft der Ruhrgebietsstädte. Es entstanden polnische Vereine, Gewerkschaften und Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge der Schaffung eines selbständigen polnischen Staates wanderte deshalb etwa die Hälfte aller Ruhrpolen wieder zurück – allerdings nicht in die Heimatregion der Vätergeneration, sondern nach Polnisch-Oberschlesien, wo nach der Abwanderung der deutschen Arbeitskräfte schnell wieder Arbeit zu finden war.
Tabelle 12: Index der Löhne und Lebenshaltung im Deutschen Reich (1895 = 100) Jahr
Nominallöhne
Lebenshaltung
Reallöhne
1871 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1913
70 98 82 87 98 100 118 128 147 163
106 113 104 99 102 100 106 112 124 130
66 87 79 88 96 100 111 114 119 125
Quelle: A. V. Desai, Real Wages in Germany, 1871 – 1913, Oxford 1968, S. 36.
Reallohnentwicklung
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Diese Zuwanderungstendenz deutet bereits an, dass die Zeit des Kaiserreichs eine Periode der Vollbeschäftigung, ja zeitweise sogar der Arbeitskräfteknappheit war. Aus diesem Grund stiegen in Deutschland auch die Löhne im internationalen Vergleich vergleichsweise schnell an (s. Tab. 12). Allerdings wurde die Steigerung der realen Kaufkraft durch Preissteigerungswellen immer wieder deutlich reduziert. Zum einen stiegen die Mieten angesichts des rasant wachsenden Zuzugs von neuen Arbeitskräften in die Städte und angesichts eines weitgehend unregulierten Wohnungsmarkts immer wieder in kräftigen Schüben. Zweitens wurden die Lebensmittel seit den achtziger Jahren durch die Getreidezölle und andere Nahrungsmittelimporte erschwerende Maßnahmen deutlich teurer, so dass die deutschen Arbeiter
Die sozialen Folgen im Gegensatz etwa zu ihren britischen Klassengenossen nicht von den sinkenden Weltmarktpreisen profitierten. Dennoch ist im Durchschnitt eine deutliche Reallohnsteigerung bei einer gleichzeitig deutlich reduzierten täglichen Arbeitszeit während des Kaiserreichs feststellbar. Allerdings muss dabei differenziert werden. Denn das deutliche Lohngefälle zwischen Facharbeitern, Angelernten und Ungelernten blieb bis 1914 kaum verändert bestehen. So erreichte eine ungelernte Arbeitskraft im Bergbau nicht einmal die Hälfte des Stundenverdienstes eines erfahrenen Hauers. In den meisten anderen Industrien waren die Unterschiede zwar nicht ganz so groß, aber im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass das Lohngefälle zu den Angelernten und Ungelernten stieg, je qualifizierter und damit besser bezahlt die Facharbeiterschaft war. Die ansteigenden Reallöhne erlaubten der Mehrzahl der Arbeiterfamilien eine Verbesserung ihrer sozialen Lage. Insbesondere die Qualität der Lebensmittel erfuhr eine deutliche Steigerung. Der ehemals sehr eintönige Speiseplan von Getreideprodukten und Kartoffeln wurde zunehmend ergänzt durch tierische Fette, Fleisch und Zucker. Dennoch waren Unterernährung durch Eiweiß- und Vitaminmangel bis nach der Jahrhundertwende an der Tagesordnung. Eine deutliche Erhöhung der Ausgaben für Bekleidung, die mitunter in bürgerlichen Kreisen als „Kleiderluxus“ der Arbeiter abqualifiziert wurde, gab es dagegen auch in den besser verdienenden Arbeiterkreisen nicht. Auch die Wohnverhältnisse verbesserten sich kaum, da insbesondere in den industriellen Ballungszonen Wohnraum weiter knapp blieb. Die wichtigste Errungenschaft der Industrialisierung, die auch die Lebenschancen der Unterschichten nachhaltig beeinflusste, war die dauerhafte Abwesenheit von Hunger. Zu katastrophalen Erschütterungen der proletarischen Haushaltslagen durch Missernten und Viehseuchen, die früher in Hungerkatastrophen kulminiert waren, kam es in der Zeit nach der Reichsgründung nicht mehr. Trotz dieser deutlichen Verbesserungen erreichten aber auch die qualifizierten Facharbeiter niemals ein Wohlstandsniveau, das eine gewisse soziale Sicherheit versprach. Rund 80 % des Einkommens einer Arbeiterfamilie musste für Nahrung, Wohnung und Kleidung aufgebracht werden. Für medizinische Versorgung oder gar die Unterstützung arbeitsunfähiger Angehöriger blieb deshalb kaum etwas. Das unterschied die soziale Situation der Arbeiter (aber auch der Kleinbürger) von der der Bürger. Auch die Bildungschancen und damit die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs waren höchst ungleich verteilt. Die Gesellschaft des Kaiserreichs war und blieb eine Klassengesellschaft, deren Klassenschranken sich als ziemlich undurchlässig erwiesen. Außerdem brachten Arbeitsplatzverlust, Krankheit und besonders das Alter für alle Arbeiter existentielle Unsicherheiten mit sich. Denn eine im Durchschnitt geringe Arbeitslosenquote konnte in einzelnen Segmenten des Arbeitsmarktes durchaus verheerend wirken. Das galt insbesondere für ältere Arbeitskräfte über 50 Jahre, die, vielfach körperlich bereits verbraucht, keine neue Arbeitsstelle mehr fanden und angesichts einer fehlenden sozialen Absicherung immer öfter an den Rand des Existenzminimums gerieten. Denn die Versicherungsrente wurde erst ab dem 70. Lebensjahr gezahlt. Die wenigen Arbeiter, die dieses Alter erreichten, konnten von dieser Rente ohne
IV.
Konsumniveau von Arbeiterhaushalten
Hohe soziale Unsicherheit
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Die Phase der „neuen“ Industrien (1880 – 1914)
IV.
weitere Unterstützung seitens der Angehörigen kaum leben. Das gleiche galt auch für Arbeiterwitwen. Insofern war durch die Sozialversicherung die frühindustrielle Altersverarmung zwar abgeschwächt worden, sie bildete aber weiterhin eines der größten Lebensrisiken einer Arbeiterfamilie. Im Gegensatz zur Situation der Kinder hatte sich der Arbeitsschutz für Frauen bis in die neunziger Jahre hinein nicht verbessert. Erst nach Bismarcks Sturz wurden Frauen vor überlanger, nächtlicher und gesundheitsgefährdender Arbeit geschützt. Das galt insbesondere für hochschwangere Frauen und in den ersten Wochen nach der Geburt. Auch männliche Arbeiter wurden nun wirksamer gegen Gesundheitsrisiken geschützt. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang der Ausbau der Gewerbeaufsicht, die nun auch für das Heimgewerbe zuständig wurde, was vermutlich endlich auch die Kinderarbeit im Haus beschränkte.
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V. Schlussbetrachtung Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Deutschland zu den führenden Industrienationen der Welt aufgeschlossen, in mancherlei Hinsicht war die deutsche Wirtschaft den beiden wichtigsten Konkurrenten, Großbritannien und den USA, sogar überlegen. Besonders erfolgreich waren die Deutschen in den „neuen Industrien“, der Chemie- und pharmazeutischen Industrie, der elektrotechnischen Industrie, dem Maschinenbau und der – quantitativ allerdings noch recht unbedeutenden – optischen Industrie. In allen diesen Industrien war die deutsche Wirtschaft der britischen überlegen und mit der US-amerikanischen etwa gleichauf. Lediglich im Fahrzeugbau, einer der Schlüsselindustrien des 20. Jahrhunderts, war Deutschland nicht nur gegenüber den USA, sondern auch gegenüber Großbritannien im Rückstand. Die außerordentlichen Fortschritte der deutschen Wirtschaft während des „langen“ 19. Jahrhunderts zwischen 1803, der Auflösung des Alten Reiches, und 1914, dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, lassen sich gerade auch im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten besonders gut mit der deutschen Außenhandelsstatistik illustrieren: zunächst lässt eine regionale Differenzierung der deutschen Außenhandelsstruktur die Unterentwicklung der deutschen Wirtschaft nach dem Ende der Napoleonischen Kriege deutlich hervortreten. Während nach Großbritannien in erster Linie Rohstoffe und Agrarprodukte exportiert wurden, konzentrierte sich der Fertigwarenexport nicht auf die westeuropäischen Nachbarn, sondern eher auf Nord- und Südamerika. Auch noch zu Beginn des Eisenbahnzeitalters belegt die Außenhandelsstruktur die Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft im Vergleich zu den westeuropäischen Nachbarn. Denn in den vierziger Jahren schlug die dank der Getreideexporte positive Handelsbilanz um und wurde passiv. Ursächlich hierfür war in erster Linie der Eisenbahnbau. Denn die dafür benötigten Schienen und Maschinen mussten zunächst noch fast ausnahmslos importiert werden. Ohne diese Einfuhren wäre der rasante Aufbau des deutschen Eisenbahnnetzes nicht möglich gewesen, aber ohne das Tempo des Eisenbahnbaus hätte es auch keinen vergleichbaren Impuls zur Substitution von Fertigwarenimporten gegeben. Die erfolgreiche Importsubstitution insbesondere von Schienen und Lokomotiven führte schließlich mittelfristig auch zu einer „Industrialisierung“ der deutschen Außenhandelsstruktur. Um 1860 hatte sich der Exportanteil der Fertigwaren mit gut 50 % gegenüber den dreißiger Jahren mehr als verdoppelt. Trotz der hohen Rohstoffimportabhängigkeit der Zollvereinsstaaten konnte dadurch langfristig eine ausgeglichene oder gar aktive Handelsbilanz gesichert werden. Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhundert war Deutschland damit zu einem wichtigen Faktor in der Weltwirtschaft geworden. In den achtziger Jahren lag der deutsche Anteil an der Weltproduktion von Industriewaren bei etwa 14 %, der britische Anteil mit 27 % aber noch fast doppelt so hoch. Doch während Deutschland seinen Anteil bis zum Ersten Weltkrieg gegenüber den aufsteigenden USA und anderen Konkurrenten behaupten konnte,
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Schlussbetrachtung
V.
sank Großbritannien auf den deutschen Wert von 14 % ab. Ähnlich war die Situation beim Fertigwarenexport. Der deutsche Anteil lag in den achtziger Jahren schon bei beachtlichen 18 %, steigerte sich aber bis 1913 noch einmal auf 22 %, während Großbritannien auch hier eine deutlich rückläufige Tendenz zeigte und 1913 mit 27 % nicht mehr allzu weit vor Deutschland lag. Diese Entwicklung ist insbesondere deswegen erstaunlich, weil Preußen nur gut ein Jahrhundert zuvor, nach der Schlacht von Jena und Auerstedt, militärisch und politisch am Ende war und die Existenz als souveräner Staat am seidenen Faden hing. Es drohte Preußen das Schicksal der anderen deutschen Staaten, die mit Ausnahme Österreichs bereits als Satelliten Frankreichs neu gestaltet worden waren. Die Reformen, denen der wirtschaftliche Aufstieg der folgenden Jahrzehnte nicht unwesentlich zu verdanken war, waren wohl nur in dieser außergewöhnlichen Situation durchsetzbar gewesen. Der wirtschaftliche Aufstieg Preußen-Deutschlands war demzufolge von Anfang an eng mit dem militärischen (Wieder-)Aufstieg verbunden gewesen. Das galt auch für die spätere Zeit. So war den Zeitgenossen durchaus bewusst, dass der Krieg Preußens gegen Österreich und dessen deutsche Verbündete nicht so sehr wegen der überlegenen preußischen „Kriegskunst“ gewonnen wurde, sondern wegen der überlegenen Waffentechnik und der größeren Mobilität von Truppen und Nachschub – also wegen der Errungenschaften der Industrialisierung. Durch die Kriege der sechziger Jahre und besonders durch den Sieg über Frankreich 1871 erfuhr der deutsche Adel, der den Kern des Führungskorps der Armee bildete, eine ungeheure Aufwertung. Der Adel, insbesondere die preußischen Junker, konnte demzufolge auch weiterhin eine soziale Klasse bilden, deren politisch gewachsener Einfluss in einem krassen Gegensatz zu ihrer schwindenden ökonomischen Bedeutung stand. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen war typisch für das Deutschland des späten Kaiserreichs. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler bezeichnete es deshalb vor knapp 20 Jahren als „Schauplatz des klassischen Modernisierungsdilemmas: Der rasanten ökonomischen Revolution stand die Behauptungskraft gesellschaftlicher und politischer Traditionsmächte gegenüber“. Seitdem ist viel darüber diskutiert worden, was denn unter „modern“ zu verstehen sei. Unbestreitbar ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass die Reformen des frühen 19. Jahrhunderts nur durchsetzbar gewesen waren, weil sie das Ziel hatten, den Staat und seine Ordnung zu retten. Bei allen nicht zu leugnenden Veränderungen wurde dieses Ziel im Grundsatz erreicht. Zu einer umfassenden politischen und Gesellschaftsreform schien am Ende des 19. Jahrhunderts kein Anlass zu bestehen. Die sozialen Spannungen, welche die Beharrungskraft der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse auslösten, wurden abzulenken versucht. Die Überhöhung des Nationalen und der aufkommende Antisemitismus seien hier nur am Rande erwähnt. Auch der lächerliche Versuch, seit den achtziger Jahren als Nachzügler noch schnell ein Kolonialreich aufzubauen, spielte in dieser Beziehung ebenfalls eine Rolle. Wirtschaftlich war der deutsche Kolonialismus nur für die betroffenen Regionen in Afrika und im Pazifik bedeutsam, nicht aber für die deutsche Wirtschaft. Die wirtschaftlichen „Blütenträume“, die manche
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Schlussbetrachtung
V.
mit der kolonialen Expansion verbunden hatten, erfüllten sich nicht. Die Kolonien wurden weder zu einer neuen Rohstoffbasis durch Bergbau und Plantagenwirtschaft – Bismarck selber hoffte insbesondere auf Eisenerz und Baumwolle – noch zu einem Abnehmer für deutsche Fertigwaren. Vor dem Ersten Weltkrieg gingen nur etwa 2 % der deutschen Exporte nach Afrika und gerade einmal 1 % nach Australien und Polynesien. Außenpolitisch wirkte sich diese Form der Außenhandelspolitik verheerend aus. Insbesondere die Briten waren ohnehin besorgt über die anhaltenden deutschen Erfolge im internationalen Handel. Die imperialen Ambitionen, die Forderungen nach dem „Platz an der Sonne“, mussten dort als eine Provokation aufgefasst werden. Die britischen Befürchtungen wurden noch verstärkt, als das Reich seit den neunziger Jahren versuchte, den Briten durch ein gigantisches Marinerüstungsprogramm auf den Weltmeeren Paroli zu bieten, während gleichzeitig Frankreich durch das Heer davon abgehalten werden sollte, sich die 1871 verlorenen Gebiete gewaltsam zurückzuholen. Verschärfungen der internationalen Krise bis an den Rand kriegerischer Konflikte zwischen den Großmächten nach der Jahrhundertwende führten nicht dazu, dass das Reich zurücksteckte. Man fühlte sich stark genug, in einem militärischen Konflikt zu bestehen – dank der im 19. Jahrhundert gelegten industriellen Basis.
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Orts- und Sachregister Orts- und Sachregister
Aachen 10, 48, 58, 64, 77, 85, 93 Agrarreformen 18, 20 – 24, 27 Aktiengesellschaft 27, 28, 58, 68, 69, 82, 92 Allmende 21, 22, 24, 25, 42, 44 Arbeitsschutz (Arbeiterschutz) 48, 120, 140 Armenrecht 95 Auswanderung 44, 93, 94, 137, 138 Außenhandel 26, 30, 106, 119, 141, 143 Automobilindustrie s. Fahrzeugindustrie Baden, Ghz. 18, 30 – 32, 48, 63, 69, 77, 126 Banken 6, 29, 79 – 83, 124, 134 Barmen 37, 38 Baumwollspinnerei 3, 7, 11, 38 – 40, 52, 79 Bayern, Kgr. 18, 30 – 32, 41, 48, 57, 58, 60 – 63, 69, 78, 115, 126 Berg, Ghz. 18, 30, 32 Bergarbeiter 67, 86, 96, 98, 99, 120 Bergisches Land 14, 36, 37, 91 Bergrecht 64 – 67, 70 Berlin 30, 45, 56, 58, 78, 81, 82, 90 – 92, 95, 98, 116, 124 – 127, 133, 135, 137 Bevölkerung(-swachstum) 5, 7, 16, 21, 23, 33, 35 – 38, 41 – 44, 47, 89, 93, 97, 126, 127, 134, 135, 137 Binnenschifffahrt 56, 87, 133 Binnenwanderung 94, 95, 137 Bochum 67, 88, 89 Börse 29, 133 Brachland, Brache 22, 25 Bremen 33, 56, 135, 136 Breslau 80, 91 – 93 Centralverband Deutscher Industrieller 105 Chausseen 30, 56, 57, 82, 114 Chemieindustrie 103, 121, 129, 131 – 133, 141 Chemnitz 36, 40, 96 „Code Napoléon“ 18, 37 Corn Laws 23, 24 Dampfmaschine 1 – 4, 37, 38, 66, 70, 86, 93, 103, 126, 129 Dessau 79, 133 Deutscher Bund 29, 31, 33, 34, 41, 56, 95 Deutscher Zollverein 8, 9, 11, 14, 24, 26, 32 – 34, 40, 51 – 56, 59, 69, 70, 73, 74, 80, 85 – 88, 98, 104 – 106, 108, 141 Donau 57 Dortmund 88, 89, 135 Dortmund-Ems-Kanal 89 Dreifelderwirtschaft 21, 25 Düsseldorf 36, 47, 117 Eifel 9, 39, 72
Eigentum 16, 18, 20 – 22, 25, 29, 65, 67, 68, 73, 92 Eisen- und Stahlindustrie 14, 51 – 53, 71 – 73, 77, 79, 82, 86 – 90, 92, 104, 105, 108, 109, 111, 131 Eisenbahn 4, 6, 7, 11, 14, 26, 35, 51 – 63, 70, 71, 73, 77, 80 – 82, 84, 87 – 92, 101, 102, 104, 114, 115, 128, 129, 133, 135, 141 Eisenerz 10, 36, 71, 72, 76, 86, 87, 89, 106, 143 Eisenhütte 6, 71, 72, 74, 77, 82, 86 – 88, 91, 92, 128 Eisenzoll 75, 85, 105, 106, 110 Elbe 19, 30, 56, 57, 106 Elberfeld 36 – 38, 40, 58, 80, 132 Elektrifizierung 11, 124, 125, 128 Elektrizitätsversorgung 125 – 128 Elektromotor 1, 123, 126 Elektrotechnische Industrie 10, 12, 103, 121, 122, 128, 132, 133, 141 Elsass-Lothringen 131 Emscher 88 – 90, 93, 117, 118 Essen 66, 67, 88, 89, 96 Fabrik 2 – 4, 6, 7, 35, 38 – 40, 46 – 49, 101, 116, 119, 121, 124, 130, 137 Fabrikarbeiter 8, 23, 24, 37, 46, 47, 49, 50, 86, 96, 98, 99 Fabrikdisziplin 46, 47 Facharbeiter 46, 77, 78, 90, 96, 99, 121, 124, 139 Fahrzeugindustrie 101, 103, 129, 133, 141 Farben 37, 129 – 131 Forschung 102, 121, 123, 124, 130, 131 Forstwirtschaft 7, 23, 54 Frachttarife 53, 54, 70, 90, 91 Frankfurt/Main 29, 32, 56, 58, 80, 123, 132, 133 Frauen(-arbeit) 7, 44, 47 – 49, 111, 121, 137, 140 Führungssektor 11, 12, 51 – 55, 78, 85, 103, 121, 132 – 134 Fürth 57, 58 Gasversorgung 73, 118, 119, 125, 129, 133 Gelsenkirchen 88, 89, 117, 118, 135 Getreide 13, 19, 22, 24 – 26, 106, 107, 136, 141 Getreidezoll 24, 106, 107, 114, 139 Gewerbefreiheit, Gewerbereformen 16, 27, 28, 37, 66 Gewerkschaft 99, 100, 120, 121, 138 Gewerkschaft (bergrechtlich) 65 – 69 Gleiwitz 64, 72, 91 – 93 Goldwährung 112, 113 Grenzzoll 30, 31 „Gründerboom“ 61, 104, 112, 119 Grundherrschaft 18 – 22 Gutsherrschaft 19, 20, 23 Halle/Saale 79, 132 Hamburg 33, 45, 80, 116, 135, 136 Handwerk, Handwerker 7, 8, 27, 28, 39, 44, 46, 49, 86, 99, 123, 126, 134, 135
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Orts- und Sachregister Hannover, Kgr. 24, 29, 32, 33, 56, 78, 90 Hannover, Stadt 90, 130, 131, 135 Heimarbeiter 8, 35, 45, 121 Herne 88, 89 Hessen, Ghz. 31 Hessen, Kfm. 29, 32, 56, 78 Hessen-Nassau 115 Holzkohle 36, 72 – 75, 85, 87, 129
Pharmazeutika 130, 131, 133, 141 Pommern 25, 33, 93, 115 Preußen, Kgr. 10, 11, 13, 14, 17, 20 – 24, 27 – 33, 45, 48, 49, 56 – 60, 62 – 67, 69, 70, 78, 81, 83, 88, 91, 95, 97, 105, 113 – 116, 133, 142 Produktivität 2, 11, 52, 53, 63, 69, 71, 75, 101, 108, 134, 136 Protoindustrie 5, 7, 14, 35, 86, 98 Puddelverfahren 1, 73, 76, 77, 87
Innovation 5, 8, 11, 17, 29, 70, 101 – 103, 123 Kanal 4, 6, 56, 57, 80, 81, 91 Kapitalbildung 6, 7, 9, 91 Kapitalmarkt 6, 58, 67, 79, 80, 83, 135 Kartell 108 – 110 Kartoffel 24 – 26, 44, 107, 139 Kinderarbeit 43, 48 – 50, 119, 121, 140 Klassengesellschaft 98, 139 Kleinbahn 114 – 116, 135 Klodnitz-Kanal 91, 92 Koks 1, 72, 73, 75, 77, 85, 88, 92, 103, 130 Köln 56, 58, 80, 91 Kommunalisierung 116, 118, 125 Königsberg 19 Königshütte 91, 93 Kontinentalsperre 10, 13 – 15, 19, 37, 40 Köthen 79 Landwirtschaft 7 – 9, 16, 19, 22 – 26, 35 – 37, 41, 43, 48, 49, 64, 104, 106, 107, 115, 131, 132, 134 – 136 Leipzig 58, 80, 132 Leverkusen 132 Liverpool 2, 4, Lokomotive 1, 2, 4, 40, 52, 54, 55, 77, 78, 103, 141 London 31, 56 Magdeburg 58, 78, 79, 90, 132, 135 Magnat 92 Main 57, 63, 132 Mainz 56 Manchester 2, 4, 32, 36 Mannheim 132, 133 Maschinenbau 37, 39, 40, 52, 54, 77 – 79, 82, 86, 89, 92, 93, 104, 128, 129, 132, 133, 141 Mecklenburg-Schwerin, Ghz. 9, 20, 33, 93 Mietskaserne 95 Minden 36, 56, 58, 135 Mülheim/Ruhr 87, 89, 91 Münzwesen s. Währung Nahrungsmittelindustrie 134, 135 Notenbank 81, 83, 84, 113 Nürnberg 57, 58, 84 Oberschlesien 11, 44, 63 – 65, 70 – 72, 74, 77, 85, 87, 90 – 93, 138 Oder 69, 74, 91, 92 Oldenburg, Ghz. 115, 136 Pauperismus 42, 43, 45, 47, 137 Pflanzenbau 24 – 26
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Rhein 11, 36, 57, 87 – 89, 91, 117, 132, 133 Rhein-Herne-Kanal 89, 92 Rheinbund 17, 30, 56 Rheinland, Provinz 9, 29, 33, 35, 36, 44, 58, 88, 135 Ruhr 64, 66, 69, 70, 73 – 75, 87 – 91 Ruhrgebiet 10, 61, 64, 66, 70, 71, 73 – 79, 85 – 93, 96, 109, 117, 127, 132, 135, 137, 138 „Ruhrpolen“ 137, 138 Saarrevier 10, 64 – 65, 69 – 71, 73 – 74, 77, 85, 87 Sachsen, Kgr. 9, 28, 32, 39, 40, 45, 48, 58, 61 – 63, 71, 78, 85, 96, 115, 126, 137 Sachsen, Provinz 33, 79 Schlesien, Provinz 35, 43, 64, 71, 93 Schleswig-Holstein 115, 135, 136 Schutzzoll 30, 75, 105 – 108, 111, 113, 120, 136 Siegerland 36, 72, 74, 85 Sozialdemokratie 106, 120, 121 Sozialgesetzgebung 111, 120, 121, 140 Stadthygiene 97, 116, 118, 129 Stahl 1, 51, 55, 71 – 76, 101 – 106, 108 Steinkohle 2, 4, 9, 10, 14, 40, 51 – 54, 61, 63 – 73, 75, 78, 86 – 93, 103, 109, 129, 132 Steuern 18, 21, 30, 31, 126 Streik 96, 97, 99 Tarnowitz 66, 91, 93 Textilindustrie 2, 6, 15, 36, 38, 40, 47, 50, 51, 85, 90, 103, 129, 132, 135 Trinkwasser s. Wasserversorgung Universalbank s. Banken Urbanisierung 87, 116, 129 Volkseinkommen 5, 9, 114, 136 Währung 30, 32 – 34, 81, 83, 111 – 113, 132 Wasserkraft 3, 4, 36, 39, 40, 72, 123 Wasserversorgung 38, 97, 116 – 118, 125 Werkswohnungen 96, 97 Weser 57, 135 Westfalen, Kgr. 18 Westfalen, Provinz 29, 35, 43, 88, 115, 128, 135 Wupper 36 – 38 Württemberg 30, 32, 62, 63, 78 Zabrze 91, 93 Zucker(-fabrik) 21, 31, 78, 116, 134, 139 Zunft(-verfassung) 27 – 29, 34, 35, 99 Zwickau 36, 85