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German Pages [201] Year 2017
Peter Bukowski
Theologie in Kontakt Reden von Gott in der Welt
1. Auflage 2017
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3238–7 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn
Für Volker Hampel
Vorwort
In den vergangenen Jahren stand ich in unterschiedlichen Zusammenhängen und Kontexten vor der Aufgabe, von Gott in der Welt zu reden: Als Redner auf Konferenzen und Kirchentagen und als Prediger ging es mir darum, die Angesprochenen teilhaben zu lassen an der tröstlichen und orientierenden Kraft der biblischen Botschaft heute. Als Lehrer im Seminar für pastorale Ausbildung hatte ich aber auch über Bedingungen nachzudenken, die solche Teilhabe ermöglichen oder, bescheidener gesagt, sie nicht unnötig erschweren. Daher werden hier neben eigenen »Werkstücken« auch Reflexionen pastoraler Praxis veröffentlicht. Die Erörterungen »Gerechtigkeit predigen«, »Gericht predigen«, »Gottes Hilfe predigen« und »Emotional predigen« sollen einige Aspekte der Predigtaufgabe vertiefen. Der Titel »Theologie in Kontakt« weist daher zunächst auf den schlichten Tatbestand hin, dass es mir in allen hier vorgelegten Texten darum ging, meine theologischen Gedanken im Kontakt zu den jeweils Angesprochenen und ihrer konkreten Situation oder Fragestellung zu entwickeln. Er will aber auch programmatisch verstanden werden. Wer – in welcher Funktion auch immer – Theologie treibt, lässt sich ein auf ein beziehungsreiches Unterfangen. Er oder sie hat dem Glauben nachdenkend auf den Grund zu gehen. Denn nach reformatorischem Verständnis hat der Glaube sein Fundament außerhalb seiner selbst. Er ist nicht nur ein religiös ergriffenes »munkelndes Ahnen« (Iwand), sondern »eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht« (Hebr 11,1). Theologie treiben bedeutet in diesem Sinne: in Kontakt treten zu dem Grund des Glaubens, wie er in der Erwählung Israels und in Jesus Christus Gestalt gewinnt und von dem die Bibel zeugt. Eine andere Kontaktnahme ist aber unerlässlich: Zwar erschließt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens zu jeder Zeit nur im Hören auf die biblische Botschaft, aber weil uns Gott in seiner Lebendigkeit begegnet, kann seine Wahrheit keine zeitlose sein. Sie ist »alle Morgen neu« (Klgl 3,23). Deshalb erschöpft sich Theologie niemals lediglich im getreuen und unveränderten Wiederholen einmal bzw. einstmals gefundener Antworten. Sie bewährt die Lebendigkeit der Güte Gottes, indem sie in Kontakt tritt mit der
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Vorwort
heutigen Situation und den Partnerwissenschaften, die zum Verständnis und zur Bewältigung von Problemlagen beitragen. Eine Kirche, die rückwärts gewendet das »Heute« verpasst, droht zu erstarren, sie verliert ihre Lebendigkeit. Aber ebenso: Eine Kirche, die in ihrem Streben nach Zeit- und Situationsbezug ihre biblische Grundierung vernachlässigt oder gar preisgibt, droht sich als christliche Kirche zu verflüchtigen; sie verliert ihr Leben. In zwei Beiträgen zu Aufgabe und Funktion der Theologie werden Konturen einer kontaktvollen Theologie anschaulich.1 So kennzeichnet »Theologie in Kontakt« die Bewegung, in der das biblische Zeugnis in seinem Bezug zu gegenwärtigen Herausforderungen in Kirche und Gesellschaft wahrgenommen und ausgelotet wird. Dass Leserinnen und Leser sich in diese Bewegung mit hineinnehmen lassen, ist der Wunsch, den ich mit dieser Veröffentlichung verbinde. Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder vom Kontakt zu Menschen profitiert, die meine theologischen und pastoralen Bemühungen freundschaftlich und (was dazu gehört!) kritisch begleitet haben. Herzlich danke ich Geschwistern im Reformierten Bund und den Kolleg_innen im Seminar für pastorale Ausbildung in Wuppertal für Einsichten, Anregungen und Korrekturen. Zwingli soll einmal gesagt haben: »Es braucht mehrere, um intelligent zu sein!« – da hat er recht! Besonders wertvoll war und ist mir das Gespräch mit meiner Frau Sylvia, die auch diese Texte in ihrem Entstehen begleitet und gefördert hat. Schließlich möchte ich Herrn Dr. Volker Hampel vom Neukirchener Verlag danken: Seit mehr als einem Vierteljahrhundert hat er mich zum Schreiben ermutigt, hat meine Texte liebevoll und mit der ihm eigenen Akribie lektoriert und – weit über Technisches hinaus – in Form gebracht. Diesem überaus kundigen und humorvollen Menschen zu begegnen war und ist mir immer ein besonderes Geschenk. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Wuppertal, Pfingsten 2017
Peter Bukowski
1 Siehe die Beiträge »Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist« (S. 49–58) und »Wie richtige Theologie falsch wird« (S. 59–69).
Inhalt
Vorwort .............................................................................
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Wer ist Jesus Christus für uns heute? ...................................
11
Erklären und verwirklichen Die Arbeit des Reformierten Bundes im Licht der Leuenberger Konkordie ...................................................................
27
Politik als Wohltat – der Auftrag der Kirche .....................
38
»Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« Rückfragen an die erste theologische Ausbildungsphase ....
49
Wie richtige Theologie falsch wird ....................................
59
Gerechtigkeit predigen Zur Frage einer homiletischen Umsetzung der Erklärung von Accra ..........................................................................
70
Gericht predigen ...............................................................
82
Gottes Hilfe predigen .......................................................
98
Emotional predigen – ein Impuls ......................................
116
Damit ihr Hoffnung habt Bibelarbeit über Genesis 9,8–17 ........................................
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Gemeinschaftsgerechtes Abendmahl – abendmahlsgemäße Gemeinde Bibelarbeit über 1. Korinther 11,17–34 ............................
133
Bring Leben ins Leben Bibelarbeit über Jakobus 4,13–15 (16 – 5,6) ....................
151
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Inhalt
»Schmecket und sehet«: Ist unser Essen gebetskonform? Eine biblische Betrachtung zu dem, was auf den Tisch kommt ..............................................................................
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Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Predigt über Frage 1 des Heidelberger Katechismus ..........
170
Heilsame Begegnung Predigt über Johannes 20,11–18 .......................................
176
»Lass dich nicht vom Bösen überwinden« Predigt über Römer 12,21 zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ........................................................
181
Adventliche Empathie Predigt über Jesaja 40,1 .....................................................
188
»Er zog aber seine Straße fröhlich« Lesepredigt über Apostelgeschichte 8,26–40 anlässlich der Einführung der neuen Lutherbibel am 30.10.2016 ............
193
Bücher von Sylvia und Peter Bukowski im Neukirchener Verlag ....................................................
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Wer ist Jesus Christus für uns heute?1
I.
Einleitung
Einem Außenstehenden könnte die Themenstellung seltsam, um nicht zu sagen: verdächtig vorkommen. Wieso fragen Christen nach Christus? Was, wenn nicht diese Frage, sollte unter denen geklärt sein, die sich nach ihm benennen und sich auf seinen Namen berufen. Und in der Tat: Wir tun ja so als ob. Wir sind Christinnen und Christen. Wir sind Mitglieder einer christlichen Kirche, feiern Gottesdienste in seinem Namen, nennen den Sonntag »Tag des Herrn«. Und in unseren Bekenntnissen wissen wir viel über ihn zu sagen. Wie aber steht es um unseren Lebensvollzug? Ich habe in der letzten Zeit im Rahmen der Ausbildung wieder Dutzende von Gesprächsprotokollen gelesen. Die gute Nachricht: Die Vikar_innen bemühen sich durchaus, ihren Glauben als Ressource zu nutzen. Sie bringen die Bibel ins Gespräch. Aber schaut man genauer hin, so spielt Jesus Christus dabei kaum eine Rolle: Gott, der Schöpfer und Bewahrer, wird thematisiert. Zu ihm wendet man sich, etwa indem man sich Worte der Psalmen leiht. Sein Segen wird zugesprochen. Wie gesagt, das ist alles nicht falsch. Aber wo bleibt Jesus Christus – außer dass mit den Gesprächspartnern gebetet wird, »wie Jesus es uns gelehrt hat«? Und auch in den Predigten überwiegen der 1. und der 3. Artikel unseres Glaubensbekenntnisses. Wenn Jesus zur Sprache kommt, dann eher als Vorbild, als Ratgeber, als Mutmacher denn als gegenwärtiger Herr. Fast will es scheinen, als gebe der liberale Theologe Adolf von Harnack den Trend vor. Er konnte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in seinem »Wesen des Christentums« schreiben: »In dem Gefüge: Gott der Vater, die Vorsehung, die Kindschaft, der unendliche Wert der Menschenseele spricht sich das ganze Evangelium aus.«2 Die praktische Christusverschwiegenheit hat mich umso nachdenklicher werden lassen, als ich in anderen Weltgegenden durchaus anderes erlebe. Beispiel: die Presbyterianische Kirche von Ruanda, an deren 1 Vortrag auf der Hauptversammlung der Reformierten Bundes in Villigst, 24 April 2015. 2 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums [1900], Stuttgart 1950, 42.
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Wer ist Jesus Christus für uns heute?
»Institute for social science« ich zu Beginn dieses Jahres zum zweiten Mal unterrichtet habe. Das am häufigsten gesungene Lied in den morgendlichen Andachten ist: »What a friend we have in Jesus« – deutsch: »Welch ein Freund ist unser Jesus«. In diesem in der gesamten Ökumene weit verbreiteten und höchst beliebten Lied wird Jesus besungen: als der gegenwärtige Herr und Helfer, als verlässlicher Freund, der an unserer Seite steht gegen alles, was uns bedrängen und in Angst versetzen will, als der, der uns vor Gott vertritt und uns aus den Fängen der Sünde und des Todes befreit. Und dieses Lied ist Programm: So wird gepredigt und gebetet. In der Gegenwart des Auferstandenen wird um Heilung gebetet, werden in manchen Kirchen böse Geister ausgetrieben, erhofft man sich von seiner versöhnenden Gegenwart Versöhnung und bittet um Heilung der Gesellschaft, die auch nach 20 Jahren zutiefst traumatisiert ist von einem millionenfachen Völkermord, dessen Nachbeben bis zum heutigen Tag Opfer fordert. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich will die unmittelbare und unverstellte Jesusfrömmigkeit, wie ich sie in vielen Gegenden des »Global South« erlebt habe, nicht idealisieren oder romantisieren. Auch an sie lassen sich kritische Rückfragen stellen: Oftmals kommt sie sehr individualistisch daher, setzt eher auf den Trost des Einzelnen als auf gesellschaftliche Befreiung (insofern ist ja gerade Ruanda auch ein abschreckendes Beispiel, denn die innige Jesusfrömmigkeit hatte dem Völkermord aufs Ganze gesehen nichts entgegenzusetzen). Und auch der oftmals vorkritische Bibelgebrauch (samt seinen Folgen etwa in Fragen der sexuellen Orientierung) bleibt mir fremd und jedenfalls nicht erstrebenswert. Und doch habe ich aus den ökumenischen Begegnungen die Frage mitgebracht: Wie sind in unseren christlichen Lebensvollzügen die Gewichte verteilt? Wir haben keinen Mangel an christologischer Reflexion. Die Frage nach Person und Werk Jesu Christi nimmt im Studium breiten Raum ein – und das ist gut so. Auch unsere Bekenntnistexte leiden an christologischer Breite und Tiefe keinen Mangel, ebensowenig unsere Gesangbuchlieder. Aber die Lebensvollzüge in Seelsorge und Predigt und – vor allem – die Haftpunkte unserer Frömmigkeit – wie steht es dort um die Frage, die sich in der Themenstellung niederschlägt? Ich werde zunächst der Frage nachgehen, was wir eigentlich sagen, wenn wir uns zu Jesus als dem Christus bekennen. Dies scheint mir angesichts weit verbreiteter Unsicherheiten gegenwärtig besonders geboten (Abschnitte II–III). Danach wende ich mich der Frage nach dem »für uns heute« zu (Abschnitte IV–VI).
Wer ist Jesus Christus für uns heute?
II.
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Was sagen wir, wenn wir uns zu Jesus als dem Christus bekennen?
Die in ihrer Weisheit von Reformierten bisweilen unterschätzte Perikopenordnung erinnert daran, dass die Kirche gut beraten ist, die Frage nach Christus, also nach ihrem Grund, wachzuhalten. Und so ist einer der Predigttexte für das Pfingstfest (das ja gemeinhin als »Fest der Kirche« verstanden wird und den 3. Glaubensartikel im Fokus hat) Mt 16,13–17 (parr Mk 8,27–30; Lk 9,18–21): »Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei? Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten. Er fragte sie: Wer sagt denn ihr, dass ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.«
Dieses in Varianten von allen Synoptikern aufbewahrte Gespräch ist von höchstem theologischen Belang. Es besagt im Kern: Der Mensch Jesus gehört in unüberbietbarer Weise auf die Seite Gottes: »Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn« (Mk 8,30: »Du bist der Christus«; Lk 9,21: »Du bist der Christus Gottes«). Und: Dieses Lebensgeheimnis, das sich am Ende des Evangeliums im Wunder seiner Auferweckung erschließen wird, ist nicht das Ergebnis menschlichen Nachsinnens, erschließt sich nicht aus achtsamem Wahrnehmen dessen, was er sagt und tut, sondern ist die Wahrheit über sein Leben, die nur Gott selbst kundtun kann. Deshalb: »Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (V. 17b). Wohlgemerkt: Auch die Menschen zurzeit Jesu sind prinzipiell nicht besser dran als wir. Wenn sie sich auf das, was sie von ihm hören oder (gar) mit ihm erleben, einen Reim zu machen versuchen, landen sie im besten Fall bei einer Aktualisierung und Steigerung dessen, woran sie schon immer geglaubt haben: »Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten« (V. 14). Wie sollten wir die Leute, die hier zu Wort kommen, wegen ihrer »Ansichten« (Bonhoeffer) kritisieren. Immerhin verorten sie den Juden Jesus in dem ihm angemessenen Kontext ihres Glaubenslebens: Er ist eine herausragende Gestalt in der Verheißungsgeschichte Israels. Ohne diesen Kontext, das hat die Kirche viel zu spät wieder gelernt, ist er gar nicht zu verstehen. Und sowohl der Hinweis auf den Bußprediger Johannes als auch auf den messianischen Vorläufer Elias oder einen der Propheten trifft jeweils etwas Richtiges
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Wer ist Jesus Christus für uns heute?
an ihm und beleuchtet, ja vertieft eine Facette seines Handelns. Je mehr sich in späteren Zeiten die ›Jesusbilder‹ aus seinem Lebenskontext lösten, sich also aus dem »Wahrheitsraum« (Crüsemann) der Hebräischen Bibel entfernten, desto problematischer wurden sie; sie sagten mehr über den ›Maler‹ als über den Dargestellten aus – das belegt die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung aufs Eindrücklichste. Aber auch auf den hier avisierten besten Fall biblisch verorteter Jesusbilder ließe sich keine Kirche bauen. Keine der hier Genannten, auch in höchster Steigerung nicht, kann Trost im Leben und im Sterben sein. Das kann nur der, den Petrus, von Gott selbst inspiriert, als Sohn des lebendigen Gottes bekennt. Von dem es dann in einem urchristlichen Hymnus heißen wird: »In ihm wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig« (Kol 2,9). In Jesu Zuwendung zu den Seinen, in seinen heilsamen und heilenden Worten und Taten, in seiner Parteinahme für die Armen und Marginalisierten, in seinem Erbarmen mit den in ihrer Sünde Verstrickten, in seiner Lebenshingabe bis zum Tod am Kreuz, in ihm und in allen seinen Werken wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig – so wahr der Auferstandene lebt. Deshalb ist ihm »gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden« und vertrauen die Seinen auf das Versprechen: »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Mt 28,20). Das folgende Zitat aus der Ausarbeitung des Theologischen Ausschusses der UEK zur Personalität Gottes (2011) bündelt diese für das Verständnis Jesu Christi zentrale biblische Erkenntnis: »In Jesus begegnet uns ein Mensch, mit dem sich Gott auf seine unsichtbare göttliche Weise unlöslich verbunden hat. Diese Verbundenheit ist vor der Welt verborgen. Man bekommt Gott im Menschen Jesus darum nicht ›zu fassen‹. Zu seiner Anwesenheit in diesem Menschen gehört, dass er ihn in seiner Menschlichkeit frei gibt. Gott wird vorsichtig Mensch, indem er diesen Menschen nicht mit seinem göttlichen Glanze verschlingt. Aber er wird tatsächlich Mensch, indem er sich mit ihm selbst und mit allen seinen Wegen bis zum Tode am Kreuz verbindet.«3
Diese Aussage hat eine doppelte, für unseren Glauben wesentliche Pointe: Weil Gott »tatsächlich Mensch« wird, gewinnt er in diesem Menschen verlässlich Gestalt. Unser Gottesglaube ist deshalb etwas anderes als ein »munkelndes Ahnen« (Iwand). Etwas anderes als die vage Hoffnung, dass es »da oben überm Sternenzelt« wohl noch etwas ge3 Michael Beintker / Martin Heimbucher (Hg.), Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD, Neukirchen-Vluyn 2011, 118.
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ben muss: ein höheres Wesen, eine Macht, einen Urgrund. Von Gott kann man mehr sagen, als dass er das »Woher unseres schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls« (Schleiermacher) sei – wobei sich dann viel über dieses Gefühl, aber wenig und jedenfalls nichts Verlässliches über jenes »Woher« sagen ließe. Wenn wir unsere Hoffnung auf Gott als unseren Helfer, Befreier, Versöhner und Retter richten, dann eben nicht grundlos, sondern weil er uns als dieser Gott im Menschen Jesus erschienen ist. Denn, so noch einmal der Kolosserbrief: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15). Und anders herum: Weil Gott sich mit diesem Menschen unlöslich verbunden hat, darum gilt alles, was der Mensch Jesus gesagt und getan hat – bis hin zu seiner Liebeshingabe am Kreuz –, nicht nur in der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit des damals Geschehenen, sondern es gilt zu aller Zeit und an jedem Ort: Jesus, von dem die Evangelien erzählen und den die Apostel bezeugen, ist unser Immanuel – »alle Tage bis an der Welt Ende«. Lassen Sie mich diesen Gedanken an einer Predigt konkretisieren, die Karl Barth am Altjahresabend 1960 in der Strafanstalt Basel über Ps 31,16 gehalten hat: »Meine Zeit steht in Deinen Händen«. Barth hat den tröstlichen, den erbaulichen Sinn dieser Gebetszeile breit entfaltet – das kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Worauf es mir jetzt ankommt: Am Ende dieser sehr seelsorglichen Entfaltung, wo man eigentlich schon das ›Amen‹ erwartet, fällt Barth sich noch einmal selbst ins Wort: »Ja, fragt ihr mich, hat Gott denn Hände? Jawohl, Gott hat Hände, und zwar ganz andere, viel bessere, viel geschicktere, viel stärkere Hände als diese unsere Klauen. Was heißt das: Gottes Hände? Lasst es mich zuerst so sagen: Gottes Hände sind seine Taten, seine Werke, seine Worte, die uns alle, ob wir es wissen und wollen oder nicht, von allen Seiten umgeben und umfassen, tragen und erhalten. Aber das könnte immer noch bloss bildhaft, symbolisch gesagt und verstanden sein. Es gibt einen Punkt, da hört das Bildhafte und Symbolische auf, da wird die Sache mit den Händen Gottes ganz wörtlich ernst … ›Deine Hände‹ – das sind die Hände unseres Heilandes Jesus Christus. Sie sind die Hände, die er weit ausgebreitet hat, als er rief: ›Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig uns beladen seid, ich will euch erquicken‹ (Mt 11,28). Sie sind seine Hände, mit denen er die Kinder gesegnet hat. Sie sind seine Hände, mit denen er die Kranken angerührt und geheilt hat. Sie sind die Hände, mit denen er das Brot brach und austeilte an die Fünftausend in der Wüste und dann noch einmal an seine Jünger vor seinem Sterben. Sie sind endlich und vor allem seine für unsere Versöhnung mit Gott ans Kreuz genagelten Hände. Meine Schwestern und Brüder, das, das sind die Hände Gottes: die starken Vaterhände, die guten, weichen, zarten Mutterhände, die treuen, helfenden Freundeshände, die
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gnädigen Gotteshände, in denen unsere Zeit steht, in denen wir selbst stehen. (…) In deinen Händen – in den Händen deines lieben Sohnes – da steht meine Zeit, da steht mein Leben, da darf ich stehen. Er, dein lieber Sohn, hat ja gesagt: ›Niemand wird sie aus meiner Hand reißen‹ (Joh 10, 28). Hört ihr’s: Niemand, kein Mensch und kein Engel und kein Teufel, meine Sünde nicht und mein Tod auch nicht! Niemand kann und wird sie aus meiner Hand reißen.«4
III.
Notger Slenczkas Einspruch
»Es gibt einen Punkt, da hört alles Bildhafte und Symbolische auf« – haben wir in Barths Predigt gehört. Kann man, darf man das so sagen? An dieser Stelle erhebt sich heute massiver Einspruch, auf den ich eingehen muss, weil er alles bisher Ausgeführte einer grundsätzlichen Kritik unterzieht. Die Entscheidungen, die hier fallen, haben weitreichende Auswirkungen – bis hin zu den eingangs erwähnten Glaubens- und Frömmigkeitsvollzügen. Notger Slenczka, einer der besonders profilierten Vertreter dieses Einspruchs, hat 2013 in »Zeitzeichen« die Lage der gegenwärtigen deutschsprachigen Systematischen Theologie diagnostiziert5. Er beobachtet, sie bestehe in der Mehrzahl aus liberalen Theologen im Gefolge Schleiermachers, welche die These ablehnen, Theologie habe es »mit dem zu tun, was dem Glauben vorausgeht, ihn begründet, von ihm unabhängiger Ursprung ist« (45). Entsprechend sei theologische und religiöse Rede »nicht (…) Beschreibung der gegenständlichen Voraussetzung des Glaubens – des Handelns Gottes in Christus oder der Qualitäten der Heiligen Schrift oder des Wesens und Seins Gottes –, sie ist vielmehr religiöser Ausdruck gläubigen Selbstverständnisses« (47). Deshalb ziele die von der Mehrzahl vertretene Systematische Theologie auf eine »Entsubstantialisierung der Aussagen des frommen Subjekts« (47). Mir scheint, Slenczkas Lagebeschreibung der deutschsprachigen Theologie trifft zu. Tatsächlich nicht nur in der Systematischen, sondern auch in der Praktischen Theologie wirkt dieser Ansatz schulbildend (ich nenne nur Werk und Wirkung von Wilhelm Gräb). Die Folgen sind in der Vikariatsausbildung deutlich wahrnehmbar. Was nun verbirgt sich hinter dem Wortungetüm einer Entsubstiantialisierung? 4 Karl Barth Gesamtausgabe, Bd. 12, I. Predigten 1954–1967, hg. von Hinrich Stoevesandt, Zürich 1979, 183f . 5 Notger Slenczka, Flucht aus den dogmatischen Loci. Das Erbe des 20. Jahrhunderts. Neue Strömungen in der Theologie, in: Zeitzeichen 14 (2013), 45–50.
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Für Slenczka gilt im Blick auf Christus, »dass sich religiöse Rede nicht in der wie immer feststellbaren Übereinstimmung ihrer gegenständlichen Aussagen mit den entsprechenden Sachverhalten bewahrheitet, sondern in der Angemessenheit und Nachvollziehbarkeit der Selbstdeutung, in der der religiös Bewegte reflektiert, was er von diesen Gegenständen her empfangen haben will.«6 Wahr bedeutet hier also »authentische Selbstaussprache« (222), wahr bedeutet nicht, dass Aussagen »über die isolierte Person Jesu von Nazareth (…) zutreffend sind« (222). Nun entgeht Slenczka natürlich nicht, dass der Glaube im Vollzug seines Selbstausspruchs anders ›funktioniert‹: Aussagen über Christus weisen über den Sprecher hinaus und nehmen »in Anspruch, die Wahrheit dieser Person auszusagen« (222). Aber, und hier schließt sich der Kreis, dieser Überschuss, den der Glaube in Worte fasst, ist nicht etwa der Reflex einer auf den Glauben von außen zukommenden Wirklichkeit, sondern Ergebnis dessen eigener Produktivität. Der Glaube macht gegenständliche Aussagen über Gott und Christus, um auszudrücken, dass religiöse Erfahrung immer unverfügbar bleibt, also etwas ist, das einem widerfährt. Wenn man so will, sind also materiale Aussagen über Gott oder Christus uneigentliche Rede: Sie meinen nicht, was sie sagen, sondern bringen religiöses Ergriffensein zum Ausdruck und, um dessen Unverfügbarkeit zu markieren, ›schaffen‹ sie Aussagen, die über sich hinausweisen. »Entsubstiantialisierung«, das »christliche Selbstbewusstsein« als Dreh- und Angelpunkt theologischer Wahrheitsfindung – diesen Ansatz hat Slenczka in letzter Zeit noch in eine Richtung verfolgt, die ich hier nur eben andeute, weil sie uns auf dieser Hauptversammlung an anderer Stelle beschäftigen wird. Ich sprach oben von der Hebräischen Bibel als Wahrheitsraum, als Glaubenskontext sowohl Jesu als auch der neutestamentlichen Zeugen. Slenczka hingegen hat sich in einer Abhandlung über »Die Kirche und das Alte Testament«7 dafür ausgesprochen, dem Alten Testament den kanonischen Rang abzuerkennen und ihm nur noch einen minderen Wert für die kirchliche Praxis beizumessen. Es gebe ein deutliches »›fremdeln‹ des [auf Universalität hin ausgelegten; P.B.] frommen Selbstbewusstseins« (119) gegenüber dem »Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularem Anspruch« (94; so im Gefolge Harnacks). 6 Notger Slenczka, Die Christologie als Reflex des frommen Selbstbewusstseins. »… darumb wirt die gottheyt Ihesu Christi … damit bekant, das wir yhn … glauben« (Luther, WA 7, 215,15), in: Jens Schröter (Hg.), Jesus Christus, Tübingen 2014, 182–241, hier 221. 7 In: Elisabeth Gräb-Schmidt / Reiner Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie (Marburger theologische Studien 119), Leipzig 2013, 83–119.
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Bei den Reformatoren und einer an ihnen orientierten Theologie verhält es sich genau anders herum: Das ›fromme Selbstbewusstsein‹ hat sich immer neu von der Heiligen Schrift, und zwar von der ganzen Heiligen Schrift, her inspirieren und befragen zu lassen. Dem entspricht auch die reformierte Frömmigkeitspraxis der letzten 400 Jahre mit ihrer Wertschätzung gerade des Alten Testaments und dessen extensiver und intensiver Auslegung in Predigt und Unterricht. Ganz zu schweigen davon, dass in der weltweiten Ökumene christliches Selbstbewusstsein gerade in den Geschichten von Gottes ersterwähltem Volk in besonderer Weise Heimat findet8. Ich vermag deshalb das ›Christliche‹ an Slenczkas Selbstbewusstsein nicht zu erkennen. Wohl aber bescheinige ich ihm ein überaus ausgeprägtes Selbstbewusstsein, sonst könnte er es nicht letztlich über Schrift, Bekenntnis und kirchliche Glaubenspraxis stellen. Zurück zur Frage nach Christus. Gerne zähle ich mich zu der von Slenczka gewähnten »Minderheit«, die seinen hier nachgezeichneten Weg nicht mitgehen kann. Ich möchte stattdessen an eine Unterscheidung von Hans-Georg Geyer erinnern, die auf den ersten Blick ähnlich scheint, aber im Entscheidenden die Gewichte genau anders verteilt. Geyer hat in einem Aufsatz über die Auferstehung Jesu Christi9 die Frage aufgeworfen, ob dem Satz: »Jesus ist von den Toten auferweckt worden« das Gewicht »einer Realitätsaussage« zukommt. Dass diese Frage nicht mit einem einfachen Ja beantwortet werden kann, liegt auf der Hand, denn als »reine Tat Gottes« (Barth) sprengt sie den Rahmen des unserer Erkenntnis zugänglichen historischen Geschehens: Sie ist kein objektiv erhebbares Faktum wie andere Begebenheiten der Weltgeschichte (so weit besteht Übereinstimmung mit Slenczka). Dennoch bezeugt die Schrift in allen Auferstehungspassagen, dass die Auferstehung in einem (gegenständlichen) raum-zeitlichen Geschehen den entsprechenden Glauben der Jünger allererst hervorbringt und also begründet. Wir müssen also die Auferweckung als Glaubensgrund strikt vom Glauben der Jünger unterscheiden. Zwar erschließt sich dieser Grund nur dem Glauben (weshalb die Auferstehungsbotschaft von Anfang an auch auf Zweifel stieß), ist jedoch – und darauf kommt alles an – als Grund nicht vom Glauben abhängig oder gar erst von diesem ›produziert‹. In der spröden Sprache Geyers: 8 Man lese nur einmal: Philip Jenkins, The New Faces of Christianity. Believing the Bible in the Global South, Oxford 2006, passim. 9 Hans-Georg Geyer, Die Auferstehung Christi. Ein Überblick über die Diskussion in der gegenwärtigen Theologie, in: Fritz Viering (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus, Gütersloh 51967, 91–117.
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»In der Gegenständlichkeit des Glaubensgrundes liegt also ein spezifischer Doppelsinn beschlossen: Sie bedeutet auf der einen Seite die reale Independenz des Grundes vom Glauben, … seine nicht Angewiesenheit auf den Glauben, … und sie bedeutet auf der anderen Seite seine Evidenz für und nur für den Glauben« (105).
Auf eine Formel gebracht: Wir haben Grund zum Glauben. Nur der Grund bietet dem Glauben Halt. Und nur als in Gottes Selbsterschließung gegründet ist der Glaube »eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht« (Hebr 11,1). Zur Illustration wieder ein Predigtausschnitt, diesmal aus der eigenen Werkstatt. Ich zitiere den Anfang einer Osterpredigt über Joh 20, 11–18: »Liebe Gemeinde, in die Mitte dieser Geschichte hat der Erzähler eine Notiz eingebaut, die das ganze Geheimnis des Ostertages in einem kleinen Halbsatz bündelt: ›… und sie sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist‹ (V. 14). Wie wichtig dem Evangelisten dieser Hinweis ist, wird schon daran deutlich, dass er ihn im nächsten Kapitel in einer anderen Erscheinungsgeschichte gleich noch einmal gibt. In Joh 21,4 heißt es: ›Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war‹. Noch einmal: Dieser Hinweis enthält das ganze Geheimnis des Ostertages: Der gekreuzigte Jesus ist den Mächten des Todes entronnen, er lebt und begegnet den Seinen als der Auferstandene. Aber zugleich bringen die wenigen Worte unsere Not auf den Punkt. Das Geheimnis bleibt unzugänglich: Der Auferstandene steht da, und die Seinen erkennen ihn nicht. Wie sollten sie, wie sollten wir in der Lage sein, etwas zu erkennen, was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat!? Der Theologe Ernst Lange hat einmal gesagt: ›Der Glaube wird mundtot gemacht durch die Sprache der Tatsachen‹. Mir ist dieser Satz bei mancher Beerdigung in den Sinn gekommen. Da soll ich vom Glauben reden als dem ›Sieg, der die Welt überwunden hat‹, aber viel lauter als auch die schönsten und frommsten Worte reden die Tatsachen: Hier wird ein geliebter Mensch zu Grabe getragen wird, dessen Leben unwiederbringlich zu Ende ist – trotz allem Hoffen und Mühen derer, die ihm nahestanden. Nun sitzen die, denen eine Welt zusammengebrochen ist, vor mir, erschüttert von der Tatsache des Todes – da wollen mir die Sätze des Glaubens kaum über die Lippen. Liebe Gemeinde, darum ist mir der Hinweis in unserem Text so wichtig, weil er beides zusammenhält: unsere Not, unser Leiden und VerstricktSein in die Welt der Tatsachen, und das Wunder von Gottes neuer Welt, von der Gegenwart des Lebendigen, der dem Tod die Macht genommen hat. Maria von Magdala ›sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist‹.
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Gleichzeitig finde ich diesen Satz ungeheuer tröstlich, denn er sagt mir: Dass du ›nicht weißt‹, dass dir die Augen gehalten sind, und du keinen Zugang findest zum auferstandenen Jesus Christus, das macht dessen Lebendigkeit nicht zunichte. Sie ist nicht abhängig von deinem Glauben. Wo du noch wie gebannt auf die Gräber starrst, ist er schon längst an deiner Seite und wartet darauf, dir zu begegnen. Mit den Worten eines Gesangbuchliedes: »Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht« (EG 376,3). Diese Führung wurde Maria am Ostermorgen zuteil. Davon erzählt unsere Geschichte, um auch uns aus der Welt der Tatsachen mitzunehmen in das Wunder seiner Gegenwart.«10
IV.
Wer ist Jesus Christus für uns heute? Das Bekenntnis von Belhar
Ich habe mich hier ziemlich lange mit der Grundsatzfrage beschäftigt, wie das biblische Bekenntnis zu Jesus als dem Christus geglaubt und wie dieser Glaube verstanden werden kann. Ich hoffe, es wurde deutlich: Dies geschah nicht, um vor Konkretionen, die das »heute« der Themenfrage ja in Aussicht stellt, zu kneifen, sondern deshalb, weil »heute« eben die Grundsatzfrage auf – wie ich finde – dramatische Weise zur Disposition steht und deshalb allererst einer Klärung zuzuführen ist. Deshalb nun noch einmal die Frage: Wer ist Jesus Christus für uns heute? Beide Näherbestimmungen sind im Blick zu halten: das »für uns« und das »heute«. Das »für uns« stellt die Frage nach Christus in den Horizont der weltweiten Ökumene Das ist wichtig, damit die reformatorische Frage, wie ich einen gerechten Gott kriege, was mein Trost im Leben und im Sterben sei, nicht – gegen die ursprüngliche Intention – in eine individualistische und/oder provinzielle Engführung gerät. Deshalb setze ich ein mit einem herausragenden Beispiel aus der reformierten Ökumene, dem Bekenntnis von Belhar. Der Hintergrund dürfte in unserem Kreis bekannt sein: Die Generalsynode der farbigen südafrikanischen Nederduitse Gereformeerde Sendingskerk (NGSK) verabschiedete 1986 das Belhar-Bekenntnis. Ablehnung und Überwindung der Apartheid wurden zur Bekenntnisfrage – acht Jahre vor der formellen staatlichen Überwindung der Apartheid 1994. Ich wähle gerade dieses Bekenntnis, weil es über den konkreten Anlass hinaus bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat, vielmehr, 10
Die ganze Predigt findet sich unten S. 176–180.
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wie sich zeigen wird, für unsere Frage richtungsweisend und erhellend ist. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Belhar, darin Barmen folgend, durch seine christologische Konzentration besticht11. »Wir glauben, dass das Versöhnungswerk Christi in der Kirche sichtbare Gestalt annimmt als Glaubensgemeinschaft derer, die mit Gott und untereinander versöhnt sind …« (Belhar Art. 2). Und zu Beginn des 3. Artikels: »Wir glauben, dass Gott seiner Kirche die Botschaft von der Versöhnung in und durch Christus anvertraut hat«.
Bevor ich zeige, wie dieses Christuszeugnis aus Sicht der Bekennenden »für uns heute« konkret wird, muss ich noch einen Augenblick beim Stichwort Versöhnungswerk bleiben. Es spielt auf die reformierte, vor allem von Calvin ausgearbeitete Lehre vom dreifachen Amt Christi an 12. Für Calvin ist die ganze Geschichte und Wirkung Christi im dreifachen Amt zusammengefasst – und somit eingebettet in die Verheißungsgeschichte des Volkes Israels. Er ist vom Vater zum König, Priester und Propheten gesalbt. Als König, sitzend zur Rechten Gottes, regiert er die Welt; er weist weltliche Herrschaftsansprüche von Menschen über Menschen in ihre Schranken, steht den Seinen in allen Krisen bei und hilft ihnen im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Als Priester ist er der Mittler, der vor Gott für die in ihrer Sünde gefangenen Menschen eintritt und sie mit Gott versöhnt. Als Prophet ist er der Lehrer der Seinen, der ihnen Gottes Wesen und Willen erschließt und sie »zu vertrauten Schülern Gottes« (Plasger) macht. Es geht in dieser Lehre nicht um trennscharfe Abgrenzung der drei Ämter – sie werden ja von ein und derselben göttlichen Person wahrgenommen –, sondern darum, den Blick für die Wirkungsvielfalt und den Beziehungsreichtum des gegenwärtigen Christus zu öffnen. Und genau dies geschieht im Bekenntnis von Belhar in einem bezeichnenden Dreischritt13. Wahrnehmung: Im Lichte der in Christus geschenkten Gemeinschaft »derer, die mit Gott und untereinander versöhnt sind«, können 11 Ich zitiere das Bekenntnis nach: Reformierte Liturgie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, hg. von Peter Bukowski u.a., Wuppertal/ Neukirchen-Vluyn 1999, 198–201. 12 Vgl. zum Folgenden Georg Plasger, Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008, vor allem 59–68. 13 Beim Folgenden handelt es sich um meine Rekonstruktion der inneren Struktur des Bekenntnisses – der »Dreischritt« findet sich im Text nicht expressis verbis.
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die unversöhnten kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Realitäten, namentlich das System der Apartheid, als das wahrgenommen werden, was sie sind: gottwidrige und Menschen verachtende Zustände und Mächte, die der Herrschaft Christi und seiner priesterlichen Selbsthingabe Hohn sprechen. Dabei bleibt solche Wahrnehmung nicht bei den Phänomenen stehen, sie nimmt auch das eigene Glaubensleben und die Theologie in den Blick und zeigt auf, dass und wie innerhalb der Kirche dem Christuswidrigen zugearbeitet wurde: etwa indem die Apartheid pseudo-theologisch begründet wurde. Vergewisserung und Ermutigung: Solch ungeschminkter Wahrnehmung kann nur standhalten, wer sich nicht auf verlorenem Posten sieht und deshalb nicht gezwungen ist, entweder die Augen zu verschließen oder sich in die Isolation individueller Erlösung zu flüchten. Folglich nimmt die Ermutigung breiten Raum ein: Kraft der Gegenwart Christi ist eben das, was ist, nicht alles! Er lässt die Seinen nicht im Stich. »Gott hat durch sein lebenschaffendes Wort und seinen lebenschaffenden Geist die Macht der Sünde und des Todes (…) überwunden«. So wird der bis heute ihr Unwesen treibenden Göttin ›TINA‹ (there is no alternative) radikal und konsequent der Tribut verweigert. Alternativen sind möglich! Gott hat sein Volk »befähigt, in neuem Gehorsam zu leben und dadurch neue Lebensmöglichkeiten für das Zusammenleben in der ganzen Welt zu eröffnen«. In der Gegenwart des lebendigen Christus sind Kirche und Welt veränderbar. Wegweisung: Deshalb werden die Christenmenschen eingewiesen, besser: sollen sie sich in die Spur des prophetischen Amtes Christi einweisen lassen, der »den Unterdrückten Recht schafft und den Hung rigen Brot gibt«, der »die Bedrängten unterstützt«, »die Fremden beschützt«, »den Waisen und Witwen hilft und den Weg der Gottlosen versperrt«. Auf diese hier nur anzudeutende Weise ist Jesus für die, die in Belhar das Wort gewagt haben, der »Christus für uns heute«. Dieses Wort hat in Südafrika und weit darüber hinaus real verändernd gewirkt! Und: Das Bekenntnis von Belhar vermittelt uns auch theologische Einsicht in die Arbeit der später ins Leben gerufenen Wahrheitskommissionen, die – bei allen Schwierigkeiten – einen wesentlichen Beitrag zur Heilung der durch die Apartheid geschlagenen Wunden geleistet haben. Um versöhnt zusammenleben zu können, bedarf es der Ermutigung und Vergewisserung, dass ungerechte Verhältnisse und schuldhafte Verstrickungen kein unabänderliches Schicksal darstellen, dem man sich nur eben hinzugeben hätte. Heilung ist aber nicht möglich ohne die ungeschminkte Wahrnehmung dessen, was an Schuld begangen und an Schaden zugefügt wurde: Schuld muss ausge-
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sprochen und bekannt werden. Erst so wird der Weg frei zu versöhntem Neuanfang, der dann aber auch in Schritten konkreter Umkehr und Erneuerung begangen sein will. Im Reformierten Weltbund hat das Bekenntnis von Belhar uns inspiriert, als wir auf der Generalversammlung in Debrecen 1997 einen »Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit« schlossen und uns in einen »Prozess des Bekennens« begaben. Und es hat das Bekenntnis von Accra (2004) wesentlich mitbeeinflusst. In Klammern sei vermerkt: Es ließe sich leicht zeigen, dass der Dreischritt von Wahrnehmung, Vergewisserung/Ermutigung und Wegweisung auch diesem Text eingeprägt ist. Bei genauerer Analyse würde man allerdings feststellen müssen, dass, aufs Ganze gesehen, die das Belhar-Bekenntnis tragende christologische Konzentration in den Hintergrund tritt. In Accra wird eher unspezifischer vom 1. Artikel her argumentiert. Jesus ist vor allem Vorbild und Inspirator. In der theologischen Nacharbeit konnte (und musste) dieser Mangel – vor allem in der christologische Reflexion des umstrittenen Begriffs empire – behoben werden.
V.
Unser aktuelles Christuszeugnis
Ich möchte im Licht des Belhar-Bekenntnisses für die Frage nach unserem aktuellen Christuszeugnis folgende Merkposten festhalten: 1. Mein Christus ist zugleich der Herr der Welt, das Haupt seiner weltweiten Kirche. Und darum ist die Frage nach seiner Relevanz nicht ohne den Blick auf die Schwestern und Brüder zu beantworten. Nicht ohne den Blick auf die Herausforderungen, vor die sie gestellt sind und die wir gemeinsam zu bewältigen haben. Dorothee Sölle, die in ihrer »Einführung in die Theologie«14 das Christologiekapitel ebenfalls mit unserer Themenfrage überschreibt, führt aus: »Eine der katastrophalen Folgen des Kapitalismus besteht in dem, was er den reichen Menschen im Herzen dieses wirtschaftlichen Systems antut an Reduktion des Menschseins auf das einzelne Individuum. In der amerikanischen Werbung ist zu beobachten, wie alle Gegenstände ›ganz persönlich für dich‹ da sein sollen, auch wenn sie millionenfach existieren. Deine Initialen, deine Anfangsbuchstaben, müssen auf deinem T-Shirt sein, auf deinem Kugelschreiber, auf deiner Tasse – und auf deinem Jesus! Auch er ist ganz persönlich für dich da. In dieser Religion lebt kein anderer Geist als 14 Dorothee Sölle, Gott denken. Einführung in die Theologie [1990], München/Zürich 2002.
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in der Verkaufskultur: Jesus ist für den massenwirksamen Fundamentalismus ›mein ganz persönlicher Heiland‹, und darüber hinaus ist eigentlich nichts zu sagen. In dem Bekenntnis zu ›Jesus Christ – my personal saviour‹ steckt keine Hoffnung für diejenigen, die unser System zum Hungertod verurteilt. Es ist ein frommer Satz voller Gleichgültigkeit für die Armen und voller Hoffnungslosigkeit für uns alle. Im Lichte dieser individualistischen Verkürzung müssen wir die Frage der Christologie ökumenisch stellen und nach Jesus Christus ›für uns heute‹ in unserem Lebensraum und in unserer Lebenszeit fragen.« (138)
2. Ebenso wichtig: das »heute«! Es kann nicht angehen, einmal gefundene Antworten nur noch einmal laut und deutlich zu wiederholen. Denn weil Gottes Güte »alle Morgen neu« ist, darf sein Wort nicht zur zeitlosen Wahrheit werden. Das »Herr, Herr« immer noch einmal kontextlos zu wiederholen oder auch zu beteuern bedeutete Verrat an der Zeitgenossenschaft und Solidarität dessen, der zu jeder Zeit nicht ohne die Seinen sein will. Und deshalb: »Es werden nicht alle, die zu mir sagen: ›Herr, Herr!‹, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.« (Mt 7,21) 3. Damit ist ein weiterer Merkposten in Erinnerung gerufen. Gerade in Vorbereitung auf das Jahr 2017 wird – fast schon etwas gebetsmühlenartig – die Rechtfertigungslehre als das Zentrum der reformatorischen Erkenntnis in den Vordergrund gestellt. Das ist zu 100 % halb richtig. Denn wo gäbe es in der Begegnung mit dem lebendigen Christus Rechtfertigung ohne Heiligung. »Dir sind deine Sünden vergeben, sündige hinfort nicht mehr« lautet Jesu Botschaft immer wieder. So macht er, »der für alle meine Sünden vollkommen bezahlt«, eben auch »von Herzen willig und bereit, ihm fortan zu leben« (Heidelberger Katechismus, Frage 1). So ist »der Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden« »mit gleichem Ernst (…) Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen« (Barmen II). Diese Hälfte bleibt in der programmatischen Ausarbeitung der EKD zu 2017 »Rechtfertigung und Freiheit« leider unterbelichtet (worauf verschiedene Autoren im letzten Heft der »Jungen Kirche« im Ton zwar etwas ruppig, in der Sache jedoch zu Recht hingewiesen haben15). Aber was zu 100 % halb richtig ist, droht ganz falsch zu werden, wenn es gegenüber den eigenen Ausblendungen immunisiert. Immer wieder lese und höre ich in Predigten – gleichsam als evangelische Schlüsselaussage vorgetragen – den Satz: »Gott nimmt dich an, wie du bist«. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn »so und mit 15
Siehe die Beiträge in: Junge Kirche 76 (2015).
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gleichem Ernst« (Barmen II) dann auch davon geredet würde, dass Gott mich nicht lässt, wie ich bin, sondern mich zur Umkehr bewegt und mich einweist auf den Weg der Nachfolge. Fehlt diese zweite Hälfte aber, bedient die erste lediglich meinen Narzissmus. Das verstand Bonhoeffer unter »billiger Gnade«. Um es noch einmal anders zu sagen: Es könnte sein, dass wir Jesus Christus heute verpassen, wenn wir in die falsche Richtung blicken; wenn wir ihn da suchen, wo er jetzt gerade nicht zu finden ist. Das Geheimnis der Ausstrahlung und Überzeugungskraft von Papst Franziskus I. liegt im Kern doch darin, dass er in die richtige Richtung blickt, indem er Christus dort (auf)sucht, wo er sich heute zeigt: in den Slums von Manila, auf den lebensgefährlichen Flüchtlingsbooten und an all den anderen Orten, wo Christus ihm in den geringsten Brüdern und Schwestern begegnet. VI.
Schluss
Wer ist Jesus Christus für uns heute? Der an Belhar verdeutlichte Dreischritt mag auch uns den Takt vorgeben, in dem wir dem lebendigen und gegenwärtigen Christus heute begegnen: – indem wir wahrnehmen, was sich in uns und unserer Welt seiner Herrschaft widersetzt, – indem wir uns stärken und ermutigen lassen von den vielen Zeichen seiner versöhnenden Gegenwart und indem wir uns senden lassen als achtsame Schülerinnen und Schüler dessen, der uns Gottes Wesen und Willen kundtut. Das alles setzt aber voraus, dass wir in seiner Nähe leben. Will sagen: dass wir in Kontakt treten zu dem, der uns als König, Priester und Prophet zugewandt ist und an uns arbeitet, indem er und tröstet und zurechtbringt. Solche Kontaktnahme geschieht auch über Einsicht, auch über theologische Reflexion. Sie vollzieht sich aber zuerst und vor allem in gelebter Frömmigkeit. Noch einmal zurück nach Ruanda – zwanzig Jahre nach dem Genozid. Christen haben sich aufgemacht, die tiefen Grenzen der Feindschaft zu überwinden. »Anisi hat überlebt. Sie ist die einzige aus ihrer Familie und aus ihrem Dorf. Sie war nicht zu Hause, als die Schlächter kamen und alle erschlugen,
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die in der Kirche Schutz gesucht hatten. Nun kehrt Anisi einmal im Jahr zurück in das Nachbardorf. Sie fragt die Kinder: ›Warum wohne ich nicht mehr hier?‹ ›Weil du hier niemanden mehr hast‹ antworten sie. ›Und warum kehre ich zurück?‹ Die Kinder schweigen. ›Wegen der Liebe, die den Hass überwindet. Sie ist der Schlüssel zu unserer gemeinsamen Zukunft‹. Die Kinder lachen.«16
Die Kraft zu diesem Weg wächst Anisi zu aus gelebter Frömmigkeit. Sie begegnet ihrem Versöhner im Gottesdienst der Gemeinde: In Bibelarbeiten und Predigten, in Gebeten und Liedern ist ihr der lebendige Jesus Christus gegenwärtig, als Fürsprecher und Tröster, als verlässlicher Freund, als der überlegene Herr und der weitsichtige Lehrer. Und dann singen wir in ihrer Gemeinde die 2. Strophe des eingangs genannten Liedes: »Have we trials and temptations? Is there trouble anywhere? We should never be discouraged, take it to the Lord in prayer. Can we find a friend so faithful, who will all our sorrows share? Jesus knows our every weakness: take it to the Lord in prayer.«
Und indem wir so singen, wird auf einmal alles wahr.
16 Der Text entstammt den »Ruandaskizzen« von Sylvia Bukowski (http://www.refor miert-info.de/12752-0-12-14.html [abgerufen am 15.06.2017)]).
Erklären und verwirklichen Die Arbeit des Reformierten Bundes im Licht der Leuenberger Konkordie1
I Berühmt gewordene Predigten haben die Gemeinde angerührt und Anstoß erregt. Das war schon zu biblischen Zeiten so. Besonders aufschlussreich ist die Reaktion der Hörerinnen und Hörer auf die Bergpredigt Jesu, wie sie Matthäus im 5.–7. Kapitel seines Evangeliums berichtet. Die Leute haben (selbst für reformierte Maßstäbe) lange zugehört. Und sie haben geduldig zugehört, obwohl Jesus ihnen vieles, auch Anstößiges, zugemutet hat: Wer seinem Bruder sagt: Du Narr, der ist des himmlischen Feuers schuldig – Liebet eure Feinde – Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel – Sorget nicht – Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon – Richtet nicht.
Diese und viele andere Zumutungen sind uns bekannt. Die Leute damals haben sich all das sagen, es sich erklären lassen, ohne Jesus zu unterbrechen. Unruhe kommt genau an dem Punkt auf, an dem Jesus dazu auffordert, das Gehörte nun auch zu tun. Am Tun entscheidet sich, ob das Gehörte heilsam ist und in den Zumutungen des Lebens und des Glaubens Halt zu bieten vermag. Wer beim Hören und dann auch beim Darüber-Reden (vgl. Mt 7,21) stehenbleibt, »der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf den Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein und sein Fall war groß.« (Mt 7,26f)
An exakt dieser Stelle ist Schluss mit lustig: »Und es begab sich …, dass sich das Volk entsetzte über seine Lehre.« (V. 28) Im Grunde zeigen sie damit, dass sie Jesus verstanden haben. Seine Worte sind eben mehr als ein interessanter Diskussionsbeitrag. Mehr auch als ein je nach Ge1 Überarbeitete Fassung meines Berichts zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes am 6.–8. Juni 2013 in Heidelberg. Zuerst veröffentlicht in: Marco Hofheinz / Georg Plasger / Annegretz Schilling (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. Festschrift für Michael Weinrich zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2015, 263–274.
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schmack anstößiges oder erbauliches Statement. Sie sind vollmächtige Wegweisung zum Leben. Und da reicht es eben nicht, die Weisung zur Kenntnis zu nehmen, auch nicht, sie womöglich lange und innig zu meditieren oder zu interpretieren. Man muss den Weg, den Jesus weist und auf dem er selbst vorangeht, beschreiten, sonst droht man sein Leben in den Sand zu setzen. Dabei weist uns das Bildwort Jesu auf die besondere Gefährdung gerade derer hin, die mit dem Wort umzugehen haben. Die, welche im Hören verbleiben, tun ja nicht nichts. Im Gegenteil. Wenn sie Jesus folgen, bringen auch sie auf den ersten Blick etwas zustande: Auch sie bauen ein Haus. Das mag ein durchaus imposantes Gebäude sein, entstanden aus Hören, Nachdenken und Darüber-Reden: ein Lehrgebäude vielleicht oder ein Bekenntnis oder zumindest eine Erklärung oder Stellungnahme (neudeutsch: Statement). Wie viel davon haben wir schon produziert und hatten dabei das nicht unberechtigte Gefühl, etwas Anstrengendes, Anspruchsvolles und Wichtiges zu tun. Wir haben andere eingeladen, in diesem »Haus« einzukehren, sich bei uns einzurichten. Calvin sagt zur Stelle: »Wahre Frömmigkeit lässt sich von der Falschen nicht unterscheiden, bis sie auf die Probe gestellt wird.«2 Und die Probe auf die Standfestigkeit jenes Hauses, die Bewährungsprobe, ist der tätige Gehorsam. Noch einmal: Damit soll uns die Freude am Wort und an den Wörtern weder getrübt noch gar genommen werden. Um ein weitverbreitetes Missverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen, sei unterstrichen: Es geht hier nicht um den Gegensatz von Hören und Tun im Sinne eines Gegensatzes von Theorie und Praxis; auch das Tun speist sich ja gerade aus dem Hören! Aber das Ende der Predigt Jesu will unter uns die Frage wachhalten: Wie steht es bei uns mit der Entsprechung von Hören/Reden und Tun? Und: Wo wird womöglich das kirchliche Reden zum Krisenmanagement, um Stagnation und Ungehorsam nicht spüren zu müssen?
II Ich möchte diese Frage aus gegebenem Anlass auf das Thema Kirchengemeinschaft zuspitzen. Dabei werde ich zunächst einen ausführlichen Blick auf die Leuenberger Konkordie werfen, deren 40-jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr feiern. In ihr nimmt die Dialektik von »Erklären und Verwirklichen« von Kirchengemeinschaft einen zentralen Rang 2 J. Calvin, Auslegung der Evangelien-Harmonie, 1. Teil, Neukirchen-Vluyn 1966, 243.
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ein. Und ich erhoffe mir von einer Besinnung auf Leuenberg Klärungshilfe für Entscheidungen, die im Reformierten Bund und in der EKD heute anstehen. Zur Erinnerung: Am 16. März 1973 wurde in der Tagungsstädte Leuenberg bei Basel von 41 Delegierten aus ganz Europa die Leuenberger Konkordie verabschiedet: »Die dieser Konkordie zustimmenden lutherischen, reformierten und aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen sowie die ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder stellen aufgrund ihrer Lehrgespräche unter sich das gemeinsame Verständnis des Evangeliums fest, wie es nachstehend ausgeführt wird. Dieses ermöglicht ihnen, Kirchengemeinschaft zu erklären und zu verwirklichen.« (Art. 1)
Inzwischen haben mehr als 100 Kirchen die Konkordie unterzeichnet (seit 1994 auch die Methodisten); gemeinsam bilden sie die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).͒Den Jüngeren ist kaum noch nachvollziehbar, um welch ein Wunder ökumenischen Fortschritts es sich bei diesem Ereignis handelte. Eine mehr als 400 Jahre währende Trennung wurde überwunden. Statt vieler historischer Erinnerungen nur dies: Im frommen protestantisch-bikonfessionellen Wuppertal hatte noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein reformierter junger Mann es tunlichst zu unterlassen, seinen Eltern ein lutherisches Mädchen als Braut vorzustellen – eine solche ›Mischehe‹ war anstößiger als eine protestantisch/römisch-katholische. Nun jedoch wurde zwischen den ehemals Geschiedenen Kirchengemeinschaft erklärt: »Die dieser Gemeinschaft seit dem 16. Jahrhundert entgegenstehenden Trennungen sind aufgehoben. Die beteiligten Kirchen sind der Überzeugung, dass sie gemeinsam an der einen Kirche Jesu Christi teilhaben.« (Art. 34)
Man gewährt einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Das schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration ein (Art. 33).͒Wie wurde diese Einigung, der ein intensiver Beratungsprozess von mehr als 20 Jahren vorausgegangen war, möglich? Ich beschränke mich auf zwei Punkte, die unser heutiges Fragen nach Kirchengemeinschaft bleibend inspirieren. Was den Entdeckungszusammenhang betrifft, so spielten – wie schon beim Zustandekommen der Barmer theologischen Erklärung – die Erfahrung von Verfolgung der Kirchen und die Inhaftierung von Chris-
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tinnen und Christen eine nicht von der Hand zu weisende Rolle (vgl. Art. 5): In Zeiten der Not und äußerster Bedrängnis lernten Christenmenschen über alle konfessionellen Grenzen hinweg gemeinsam bei dem Halt zu suchen, der allein seine Kirche »versammelt, schützt und erhält« (Heidelberger Katechismus, Frage 54). Man las die Schrift gemeinsam, man betete füreinander, man teilte miteinander Brot und Wein am Tisch des Herrn. Aus der Erfahrung gemeinsamen, gehorsamen Tuns erwuchs der Impuls, nun auch neu zu hören und zu verstehen. Neu, weil der Blick fortan auf das Gemeinsame gerichtet war, anstatt sich wie zuvor auf das Trennende zu fixieren: Die vormaligen Verwerfungen (Abendmahl, Christologie und Prädestination betreffend) bilden im Licht der neu formulierten Übereinstimmungen »kein Hindernis mehr für die Kirchengemeinschaft« (Art. 28). Man wird diese Entwicklung, die zu einem, wenn nicht zu dem tragfähigen und zukunftsweisenden Ökumenemodell geführt hat, nur dankbar bejahen können. Zugleich stellt sich aber die Frage: Muss das so sein? Muss es auch heute noch so sein, dass der liebe Gott seine zerstrittenen Geschwister gleichsam mit Gewalt zueinander prügelt? Könnte die leidenschaftliche Suche nach dem Verbindenden nicht auch ohne Außendruck aus der gemeinsamen Erfahrung der Gegenwart dessen erwachsen, der von Beginn an zusammenhält, was Menschen zerteilt haben? Diese Frage stellt sich mir im Blick auf verbleibende innerprotestantische »Problemzonen« (dazu gleich mehr) ebenso wie auf die darüber hinausreichenden ökumenischen Konfliktfelder. Dass es keine Einigung unter Ausklammerung der Wahrheitsfrage gibt, ist geschenkt – »Leuenberg« ist die Frucht von Lehrgesprächen. Wie aber verhält sich die Erfahrung gelebter Gemeinschaft zur theologischen Konsensbildung? Muss Letztere zwingend vorausgehen? Vorlaufende Erfahrungen wie gemeinsame Mahlfeiern werden dann entweder als allenfalls zu tolerierender »Notfall« akzeptiert oder, wenn keine Not herrscht, als ökumenischer Ungehorsam diskreditiert. Aber setzt im gemeinsamen Tun gemachte Geisterfahrung nicht auch Wahrheit frei, der in der Folge positiv nachzudenken wäre? Bei der Entstehungsgeschichte der Leuenberger Konkordie war das so. Der Theologie hat das nicht geschadet. Was der Ökumene aber schadet, ist die Angst vor theologischem Kontrollverlust. Wenn es darum geht, kirchliche Spaltungen zu überwinden und zu neuer Gemeinschaft zu finden, kann der Weg über Lehrgespräche auch zur Falle werden. Und zwar dann, wenn der Anfangsimpuls nicht klar ist, welcher lauten muss: Aufgrund gemeinsamer Erfahrung der einigenden Kraft des Geistes haben wir uns entschieden, dass am Ende des Weges die Einigung stehen muss. Ohne diese anfängliche Klarheit, die für mich eine Frage des Gehorsams gegen den Herrn der Kirche ist,
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sieht die Grundhaltung so aus: Wir gehen in das Gespräch, achten darauf, dass das Eigene keinen Schaden nimmt, und versuchen zu ermitteln, ob (die Betonung liegt auf dem »ob«) und wie sich Wege der Verständigung ausmachen lassen. Am Ende hat man dann vielleicht an einem Punkt zu mehr Gemeinsamkeit gefunden, um aber sogleich festzustellen, dass ein neues Paket von Ungeklärtem und Strittigem des weiteren Aushandelns harrt. Die Geschichte der Lehrgesprächsökumene ist auch eine Geschichte nach dem Motto: Mehr desselben Unentschiedenen. Als Therapeut weiß ich: »Miteinander reden« kann auch Vermeidungsstrategie sein. Was nun den Begründungszusammenhang betrifft, so steht und fällt die getroffene Vereinbarung mit dem in der Confessio Augustana (CA) Art. 7 festgehaltenen Einheitsverständnis: Es »genügt zur wahren Einheit der Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.« Es genügt – lat.: satis est. Da es den beteiligten Kirchen gelang, das gemeinsame Verständnis des Evangeliums (Art. 6–12) sowie der Sakramente (Art. 13–22) zu formulieren, war die notwendige und hinreichende Bedingung zur Erklärung der Kirchengemeinschaft erfüllt. Dabei verbleiben viele Unterschiede: Die Kirchen bleiben ja ihren je eigenen Bekenntnisgrundlagen verpflichtet, pflegen unterschiedliche gottesdienstliche Traditionen, auch herrscht eine Vielfalt in der Ausgestaltung der Ämter sowie der Leitungsstrukturen. Aber nichts von alldem kann fortan als kirchentrennender Faktor angesehen werden. Mit einem Wort: Die der Leuenberger Konkordie zustimmenden Kirchen bilden eine Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit. Im Horizont des satis est (also dessen, was zur Einheit genügt) versteht dieses Ökumenemodell Vielfalt deshalb nicht als möglichst zu überwindendes Übel, sondern als Bereicherung. Vielfalt gehört zur Lebendigkeit der Kirchengemeinschaft, wenn und solange sie zum Nutzen des Ganzen fruchtbar gemacht wird. Deshalb sei gegen ein nicht auszurottendes Missverständnis der Leuenberger Konkordie noch einmal ausdrücklich unterstrichen: Sosehr die Konkordie einem selbstgenügsamen, sich über das Trennende definierenden Konfessionalismus den Boden entzieht, sowenig ist ihr Ziel eine Vereinheitlichung, die gewachsene Prägekräfte über Bord wirft. Vielmehr: Leuenberg ist die Bedingung der Möglichkeit einer sich gegenseitig bereichernden konfessionellen Vielfalt. In diesem Sinne bemühen wir uns, unsere reformierte Tradition mit Leben zu füllen und sie als Gabe in das größere Ganze einzubringen. Wir schämen uns ihrer nicht und sind zugleich dankbar für und neugierig auf das Anders-Sein der anderen.
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Dieser Hinweis will rechtliche Zusammenschlüsse von konfessionsverschiedenen Gemeinden bzw. Kirchen (sprich: Unionen) nicht schlechtreden. Im Gegenteil: Diese konnten und können notwendig werden, wenn und sofern sie eine Hilfe zur besseren gemeinsamen Ausrichtung des uns aufgetragenen Zeugnisses und Dienstes darstellen. Aber auch solche Zusammenschlüsse werden den Geist von Leuenberg atmen und die Vielfalt lebendigzuhalten haben (vgl. Art. 42–45). Ich halte die jüngsten kirchlichen Vereinigungen in Mitteldeutschland und im Norden für ermutigende Schritte in diese Richtung. Einheit in versöhnter Verschiedenheit ist ein dynamisches Ökumenemodell. Es beschreibt einen fortlaufenden Prozess. Dies drückt die Konkordie durch das Begriffspaar erklären (Art. 30–34) und verwirklichen (Art. 35–42) aus. Es reicht eben nicht aus, die ehemalige Trennung als überwunden zu erklären. Die neu gewonnene Gemeinschaft will nun auch mit Leben gefüllt, verwirklicht werden. Im O-Ton: »Die Kirchengemeinschaft verwirklicht sich im Leben der Kirchen und Gemeinden. Im Glauben an die einigende Kraft des Heiligen Geistes richten sie ihr Zeugnis und ihren Dienst gemeinsam aus und bemühen sich um die Stärkung und Vertiefung der gewonnenen Gemeinschaft.« (Art. 35)
Es ist hier nicht der Ort, den bisherigen »Verwirklichungsweg« der Leuenberger Kirchengemeinschaft im Einzelnen nachzuzeichnen. Nur ein Hinweis sei gestattet: In den ersten 20 Jahren war der Pol »Verwirklichung« eher schwach besetzt. Die LKG vertiefte das in der Konkordie Erklärte in einer Reihe von Lehrgesprächen, aber als neue Gemeinschaft trat sie eher wenig in Erscheinung. Sie hatte so gut wie keine eigene Infrastruktur, auch war sie kein eigenes Rechtssubjekt; jemand hat sie ein ekklesiales Gebilde genannt. Dies änderte sich nach dem Fall der Mauer. Die Öffnung der Grenzen und der Prozess eines zusammenwachsenden Europas ließ die Notwendigkeit der »Verwirklichung« in gemeinsamem Zeugnis und Dienst deutlicher ins Bewusstsein treten. Anhebend mit der Vollversammlung in Wien (1994) und spätestens seit der Umbenennung in »GEKE« (2003; seit 2006 mit eigenem Statut) ist diese Gemeinschaft deutlich mehr als ein lockerer Zusammenschluss einander anerkennender Kirchen: Sie hat eine personell gut ausgestattete Geschäftsstelle, neben der stetig fortgeführten theologischen Arbeit versteht sie sich als verbindliche und verbindende Gottesdienstgemeinschaft, findet an unterschiedlichen Orten zu gemeinsamen Aktionen, bearbeitet grenzüberschreitende theologische Fragen gemeinsam und tritt mit profilierten Stellungnahmen zu europa- und gesellschaftspolitischen Fragen an die Öffentlichkeit. Die jüngste Vollver-
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sammlung in Florenz 2012 belegt in eindrucksvoller Weise: Die GEKE bildet die »Evangelische Stimme in Europa«. Ich verweise nur auf die Stellungnahme der Vollversammlung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Europa. Hier wird – höchst aktuell und treffsicher – vor Krisenbewältigungskonzepten gewarnt, welche die desasterösen sozialen Folgen nicht genügend in den Blick nehmen. »Es gibt eine Ideologie der Alternativlosigkeit, die das Gegenteil von Wahrheit und Freiheit ist. Sie birgt die Gefahr, die Freiheit für die Zukunft zu verspielen.«
Es lohnt sich, dieses Votum noch einmal im Ganzen zu lesen. Hier nur einige Stichworte: Demokratie stärken – Die sozialen Folgen beachten – Die Steuerpolitik gerecht ausrichten – Den Finanzmarkt regulieren – Unser Wirtschaftsmodell überprüfen. Die GEKE hilft uns, darauf zu achten, dass aus der je eigenen Perspektive kein Tunnelblick wird. Europa wird nicht an unserem Wesen genesen. Vielmehr ist es angewiesen auf Empathie für unterschiedliche Problemlagen und daraus erwachsende Kreativität differenzierter Lösungswege. Lebendige grenzüberschreitende Beziehungen sind das beste Mittel gegen das brandgefährliche Sich-Festsetzen von Ressentiments, gegenseitige Verdächtigungen und Abwertungen. Gemeinschaft verwirklichen heißt in diesem Zusammenhang: für ein solidarisches Europa einzutreten und ein europäisches Wir-Gefühl bewusst zu pflegen, um jedem Rückfall in selbstbezogenen Nationalismus zu wehren.
III Gemeinschaft verwirklichen in gemeinsamem Zeugnis und Dienst – dieser Leuenberger Imperativ sei im Folgenden der Suchpfad für einige uns im Reformierten Bund beschäftigende kirchliche Fragen. Beginnen wir mit der EKD. Sie ist, wie ihre Grundordnung feststellt, »die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen. Sie versteht sich als Teil der einen Kirche Jesu Christi«. Diese Formulierung lässt die Frage ungeklärt: Ist diese EKD eine Kirche? Seit ihrer Gründung gab es Bestrebungen, dies klar und deutlich festzustellen – und ebenso großen Widerstand dagegen. Vor allem für manche lutherischen Geschwister gehört zum Kirche-Sein eine gemeinsame Bekenntnisgrundlage. Daher wurde der Vorschlag gemacht, die Confessio Augustana zum bekenntnismäßigen Referenztext der EKD zu erklären – für Reformierte könne dann eine »Reformierte Classis« eingerichtet werden. Dieser breit diskutierte und von verschiedenen (nicht nur re-
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formierten) Seiten zu Recht problematisierte Vorschlag ist nicht zukunftsfähig. Das gilt auch für die – man könnte sagen – entgegengesetzte Variante, die Leuenberger Erklärung selbst zum verbindenden Bekenntnistext zu erklären. Dem steht zunächst der Text der Konkordie selbst entgegen, weil explizit darauf hingewiesen wird, hier handele es sich nicht um ein neues Bekenntnis (Art. 37). Und selbst wenn man die Konkordie an dieser Stelle besser verstehen wollte, als sie sich selbst versteht (wofür es gute Gründe gibt), wird sie doch als Grundbekenntnis allein deshalb nicht ausreichen, weil zu viele zentrale Fragen christlicher Lehre gar nicht behandelt werden. Ich halte eine Lösung für erstrebenswert und möglich, welche die unterschiedlichen Anliegen aufnimmt und kreativ aufeinander bezieht. Die Eckpunkte müssten sein: Die Summe der in den Gliedkirchlichen geltenden Bekenntnisschriften gilt als Referenztext für die EKD; ein Verweis auf Leuenberg als Bekenntnishermeneutik stellt fest, dass diese Vielfalt der Einheit nicht im Wege steht, weshalb in aller Form festgehalten werden soll: Die EKD als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen ist Kirche3. Diese gewiss nicht sehr eingängigen Überlegungen sind keineswegs ein Glasperlenspiel, geht es doch um die theologische Basis für die Frage, wie sich die EKD als gemeinsame Kirche auch praktisch und faktisch fortentwickeln soll. Denn das im bisherigen Verbindungsmodell erreichte Zusammenspiel von EKD, VELKD und UEK wird von Synodalen aller »Lager« als unbefriedigend empfunden. Als Reformierte werden wir eine Weiterentwicklung zu mehr Gemeinsamkeit und Verbindlichkeit nach Kräften unterstützen. Es muss doch nicht immer erst der Außendruck sein, der uns zum Handeln nötigt. Gleichzeitig gilt – und da spreche ich gewiss auch für die Lutheraner: Nur eine solche EKD kann »unsere« Kirche sein, die konfessionelle Prägungen als Ressource begreift und verlässliche Strukturen und Lebensorte ihrer Pflege und Weiterentwicklung bereithält. Nur so bleiben wir auch für unsere ökumenischen Partner und die konfessionellen Weltbünde eine berechenbare Größe. Insofern wäre eine ersatzlose Auflösung von VELKD und UEK für mich kein erstrebenswertes Ziel. Diese Überlegungen haben Auswirkungen auf unseren reformierten Part im Konzert der EKD. Dazu ein kurzer Rückblick: Zu Beginn 3 Anmerkung aus aktuellem Anlass: Auf ihrer Synode 2014 hat die EKD ihr KircheSein in der Grundordnung festgestellt. Zwar konnte man sich nicht dazu verstehen, die Summe der in den Gliedkirchlichen geltenden Bekenntnisschriften zum Referenztext für die EKD zu erklären, wohl aber spielt der Bezug auf Leuenberg für diese Neuausrichtung eine tragende Rolle.
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meiner Amtszeit erlebte ich den Reformierten Bund und seine Hauptversammlungen als die etwas andere Kirche. Salopp gesagt: als ein Gemisch von Kirchentagsbewegung und EKD-APO. Keine Frage: Auch in dieser Phase leisteten wir dem größeren Ganzen wichtige Dienste; man denke nur an unsere Impulse in der Friedensfrage, im Kampf gegen die Apartheid, im Ringen um wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit, in der Neubestimmung des Verhältnisses Kirche – Israel. Ich kann nicht sehen, dass unser Engagement in diesen Fragen nachgelassen hätte. Was sich aber verändert hat, ist unsere Selbstverortung: Nicht im Gegenüber zur EKD bringen wir unsere Fragen, Positionen und Impulse ein, sondern als Teil derselben. Eine Parallelentwicklung kam hinzu: Schien bis vor einigen Jahren konfessionelle Theologie überholt zu sein und unter dem Generalverdacht eines eigentlich schon überlebten Konfessionalismus zu stehen, so ergibt sich heute ein anderes, für manche überraschendes Bild: Das Interesse an konfessionell verorteter Theologie hat spürbar zugenommen. Spätestens seit den Vorbereitungen zum Calvinjahr 2009 ist klar: Wir im Reformierten Bund sind die gefragte, anerkannte und allgemein gewollte »Agentur für reformiert-reformatorische Theologie und Frömmigkeit« (so die treffende Formulierung unseres Generalsekretärs). Wir haben gerade eben im Zusammenhang mit dem »Heidelberger-Jubiläum« verlässliche Kooperation erfahren; anders hätte dieses groß angelegte Projekt gar nicht gestemmt werden können. Hier zeigt sich, was Verwirklichung von Gemeinschaft im gelungenen Fall bedeuten kann, und auf diesem Weg sollten wir voranschreiten – dankbar für neu eröffnete Möglichkeiten und ohne Angst vor Identitätsverlust! Dazu noch ein Fallbeispiel: Zu den besonders erfreulichen Früchten einer vertieften Zusammenarbeit von VELKD und UEK (deren Teil wir sind) gehört die gemeinsame liturgische Arbeit. Jüngst erschien die gemeinsame Agende »Berufung – Einführung – Verabschiedung«. Nach ausführlicher Diskussion haben wir uns im Moderamen einstimmig dafür entschieden, diese unseren Mitgliedskirchen und -gemeinden zum Gebrauch zu empfehlen. Wer sich bei Ordinations- und Einführungshandlungen weiter an die »Reformierte Liturgie« hält, soll auf jeden Fall die neuen (amtlichen) Formulare für Vorhalt und Verpflichtung übernehmen, die wir deshalb auf unsere Liturgieseite eingestellt haben. Gleichzeitig – und das ist kein Gegensatz – sind wir auf einer Tagung der Liturgischen Konferenz von lutherischer und unierter Seite dringend gebeten worden, zur gegebenen Zeit eine Neubearbeitung unserer »Reformierten Liturgie« ins Auge zu fassen. Sie habe in der Vergangenheit nachweislich manchen nicht-reformierten Kirchen als Quelle der Inspiration gedient und werde deshalb auch in Zukunft als ein bereicherndes Element betrachtet. Das ist gelebte Einheit in versöhnter Verschiedenheit!
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In diesem Zusammenhang werden wir auf der Hauptversammlung einen wichtigen Punkt organisatorischer Weiterentwicklung zu beraten haben. Es wird ins Auge gefasst, einen »Reformierten Bund in der Evangelischen Kirche in Deutschland« als Körperschaft öffentlichen Rechts zu etablieren. Er soll in engster Verzahnung mit dem Verein »Reformierter Bund« vor allem dazu dienen, dem entstandenen Miteinander in der EKD eine adäquate, für alle nachvollziehbare und verlässliche Rechtsstruktur zu geben. Ich möchte mit Nachdruck für dieses Vorhaben werben, mit dem sichergestellt wäre, dass wir unserer neuen, größer gewordenen Verantwortung in Gemeinschaft mit anderen noch besser gerecht werden können. Auch hier geht es im Kern um die uns aufgetragene Verwirklichung von Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit. Dass weitere und zwar gewaltige Herausforderungen auf uns zukommen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen beschlossen hat, ihre Geschäftsstelle vom Ökumenischen Zentrum in Genf nach Hannover zu verlegen. Der Wegzug aus Genf wurde auf der Sitzung des Exekutivausschusses im letzten Sommer beschlossen, weil nach reiflicher Prüfung feststand, dass der Standort Genf finanziell nicht länger aufrechtzuerhalten war. Dass die Entscheidung, Genf (!) zu verlassen, gerade für Reformierte besonders schmerzlich war, muss nicht eigens betont werden.͒Ein Kriterienkatalog für die Suche des neuen Standortes wurde erstellt; alle Mitgliedskirchen waren eingeladen, sich zu bewerben. Von 13 eingegangenen Bewerbungen blieben nach ausführlicher Vorprüfung übrig: Johannesburg, Utrecht und Hannover. Diese Städte wurden ausführlich jeweils vor Ort evaluiert. Im Vorfeld hatten viele sich gewünscht, es möge ein angemessener Ort im »global south« auszumachen sein. Immerhin lebt die Mehrzahl der Mitglieder der reformierten Weltgemeinschaft in diesem Teil der Erde. Außerdem hat das wichtige Thema der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gerechtigkeit dort seinen besonderen »Sitz im Leben«. Dass die Entscheidung am Ende mit überwältigender Mehrheit (mehr als ¾ der Stimmen) für Hannover getroffen wurde, hing neben den günstigen finanziellen Bedingungen, der guten Erreichbarkeit sowie der Aussicht auf eine verlässliche Zusammenarbeit mit den Kirchen vor Ort vor allem damit zusammen, dass hier staatlicherseits verlässliche, vertraglich abgesicherte Rahmenbedingungen für diese international tätige und international besetzte Organisation gewährleistet werden. Die Weltgemeinschaft hat ihre Arbeit in Hannover am 1. Januar 2014 aufgenommen. Das nimmt uns in Pflicht: Neben der allfälligen logistischen Starthilfe müssen verlässliche Kontaktschienen zum Reformierten Bund, zur UEK und zur EKD hin geschaffen werden. Vor al-
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lem aber werden wir alles dafür tun müssen, um sicherzustellen, dass ein Verbleiben der Geschäftsstelle im Norden weder theologisch noch im Blick auf tätige Solidarität eine Verengung der Perspektive nach sich zieht. Hören und tun: Als reformierte Christenmenschen wissen wir um die Notwendigkeit weltweiter Geschwisterschaft, gegenseitiger Ermutigung und gemeinsamen Handelns.
IV Hören und tun – erklären und verwirklichen. Die bei uns ihre kirchliche und gemeindliche Heimat gefunden haben, sind darauf angewiesen, dass wir keine törichten Bauleute sind. Lasst uns also die Kirche nicht in den Sand setzen, sondern auf festen Grund bauen. Lasst uns zusammenhalten, was nach Jesu Worten zusammengehört: unser Hören und unser Gehorchen, unser Erklären und unser Verwirklichen. Dabei bleibt uns bewusst, dass uns dies auch bei ehrlichem Bemühen immer nur anfänglich, bruchstückhaft gelingt. Die Einheit von Wort und Tat bleibt dem Herrn der Kirche selbst vorbehalten. Er sagt, was er tut, und tut, was er sagt. Deshalb wollen wir in aller Schwachheit seinem zu Recht bringenden, schützenden und erhaltenden Geist vertrauen. Und so mag für den Reformierten Bund gelten, was einst Hermann Friedrich Kohlbrügge antwortete, als er nach dem Zustand seiner Gemeinde befragt, mit dem Pflücken einer Rosenblüte antwortete. Er hielt sie gegen das Sonnenlicht und sagte: »Sehen Sie, voller Läuse, aber sie blüht«.
Politik als Wohltat – der Auftrag der Kirche1
Fürchtet Gott, ehret den König (1.Petr 2,17) Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden. (Barmer Theologische Erklärung, These V)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, »Politik als Wohltat – der Auftrag der Kirche«. Diese Überschrift ist missverständlich, deshalb erlauben Sie mir vorab eine Klarstellung. Gemeint ist nicht, wohltätige Politik sei der Auftrag der Kirche. Manche hätten das gerne, wollen das Wohltätige auf die Kirche (und andere »Wohlfahrtsverbände«) abschieben, wollen eine Kirche, die sich als Kitt in den Rissen unserer Gesellschaft für das Wohltätige zuständig weiß, nichts verändernd, nicht heilend, sondern allenfalls helfend, den brü1 Vortrag im Wuppertaler Rathaus anlässlich des Barmen-Jubiläums 2004. Ich halte die hier ausgezogenen theologischen Linien auch heute (2016) für bedenkenswert. An wenigen Stellen habe ich Einschübe vorgenommen, die Problemfelder andeuten, auf denen sich die in Barmen getroffenen Entscheidungen heute zu bewähren haben. In seiner ursprünglichen Fassung ist der Vortrag erschienen in: Martin Böttcher / Arno Schillberg / Andreas-Christian Tübler (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. Gerrit Noltensmeier gewidmet, Wuppertal 2005, 47–56.
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chigen Status quo zu erhalten. Bisweilen hat die Kirche sich selbst allzu sehr auf diese Rolle reduzieren lassen, und das tat weder ihr noch der Politik gut, hat ihr vielmehr die berechtigte Rückfrage eingehandelt, ob sie nicht letztlich »Opium des Volkes« sei. Es kann aber auch innerhalb der Kirche zu dem Missverständnis kommen, als habe Kirche, wo es um Politik geht, das Wohltätige (jetzt ganz allgemein als das verstanden, was den Menschen gut tut) für sich gepachtet. Leider gibt es auch dies: Sich und ihre Rolle überschätzende Christenmenschen, die denken, sie – vor allem sie! – wüssten, wo es politisch langgeht, weshalb sie das auch laut und deutlich äußern; in der fröhlichen Unbekümmertheit solcher, die für ihr Reden keine Verantwortung übernehmen müssen. Dies geht oft einher mit einer populistischen Abwertung der Politiker, wie man sie sonst allenfalls an Stammtischen erlebt. Ist in der Kirche, was das erste Missverständnis betrifft, Wachsamkeit, so ist im Blick auf das zweite Nüchternheit und Bescheidenheit angesagt. Allerdings: Auch der Staat und die in ihm politisch Handelnden sind nicht schon für sich und als solche eine Wohltat – daran werden wir öfter erinnert, als uns lieb ist. Eine Wohltat ist aus christlicher Sicht die göttliche Anordnung, die dem Staat seine Aufgabe zuweist: »Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat …« – zur Wohltat wird die Politik, wenn sie für ein gelingendes menschliches Zusammenleben im menschlichen Maß sorgt. Darum geht es in These V der Barmer Theologischen Erklärung. Sie bietet politischem Handeln einen Orientierungsrahmen, der weit über den damaligen Anlass hinaus aktuell und hilfreich ist. Ich werde die Aktualität von Barmen V in zwei Schritten entfalten: Zunächst frage ich nach der Aufgabe des Staates, was die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche, von Christengemeinde und Bürgergemeinde mit einschließt. Sodann frage ich, welchen Auftrag die 5. These der Kirche im Bereich des Politischen zuweist.
I.
Die Aufgabe des Staates aus christlicher Sicht
Eine Vorbemerkung: Ich werde mich im Folgenden nicht mit dem aufhalten, was in Barmen V nicht gesagt worden ist. Vor allem die Tatsache, dass hier, wo es um den Bereich des Politischen geht, nur vom Staat die Rede ist und nicht von der Gesellschaft und ihren wichtigsten Funktionsbereichen, ist immer wieder als Problem angemerkt worden. Das ist richtig, aber zum einen war die Fokussierung auf den Staat da-
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mals (1934) berechtigt, außerdem kommt das, was wir heute Gesellschaft nennen, durchaus mit in den Blick, insofern von der Verantwortung der Regierten ausdrücklich die Rede ist. Ich werde mich also auf das in Barmen Gesagte konzentrieren und damit – wie Sie sehen werden – mehr als genug zu tun haben. 1. Wie in allen Thesen wird die Position auf der Folie einer Negation entworfen. Das Negative, das nur eben Verwerfliche, ist mit dem totalitären und totalen nationalsozialistischen Hitler-Staat gegeben, namentlich mit dessen Versuch, auch die Kirche dem staatlichen Machtapparat einzugliedern. Dagegen heißt es in Barmen: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.«
Obwohl die Väter der Barmer Theologischen Erklärung in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht generell regierungskritisch eingestellt waren – die meisten waren ja nicht einmal Demokraten (darauf ist im Zusammenhang mit Barmen V immer wieder hingewiesen worden. Meines Erachtens gibt es für das Verständnis des damaligen politischen Klimas kein instruktiveres Buch als Sebastian Haffners »Geschichte eines Deutschen«) – obwohl sich hier also keine Regierungskritiker zu Wort meldeten, sind den Synodalen mit diesen Sätzen kritische Abgrenzungen gelungen, die bis heute Geltung beanspruchen können. Gewarnt wird vor der Vergöttlichung eines sich total setzenden Staates und ebenso vor einer zum staatlichen Organ pervertierten Kirche. Theologisch gesprochen rufen uns die Negationen der 5. These das Wahrheitsmoment der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre in Erinnerung, der gemäß Kirche und Staat – oder sagen wir allgemeiner: der Bereich des Politischen und der des Religiösen – zwar nicht voneinander getrennt werden können (beide haben sich vor Gott zu verantworten, und beide betreffen denselben Raum und dieselben Menschen), wohl aber deutlich voneinander unterschieden werden müssen: Der Staat ist nicht göttlich. Er kann nicht erlösen, er darf das nicht einmal wollen, so wie andererseits die Kirche nicht zum Herrschaftsinstrument werden darf, die weltliche Macht ausübt. In unserem Grundgesetz ist festgehalten, dass der Staat von Werten lebt, die er selbst nicht schaffen kann, die hervorzubringen er nicht einmal versuchen darf. Und wenn sich die
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Kirchen im Blick auf die europäische Verfassung für einen expliziten Gottesbezug eingesetzt haben, dann geschah das um eben jener lebenswichtigen Unterscheidung willen, die den Staat gerade davor schützen soll, das zu werden, was er niemals werden darf: Gottesstaat. Gerade die Verantwortung vor Gott erinnert den Staat daran, dass er selbst weltlich und nichts als weltlich ist. Wir ahnen, wie wohltuend es wäre, wenn allein diese Negativabgrenzung der 5. Barmer These in der Staatengemeinschaft Allgemeingut wäre und wenn sie von denen, die sich theoretisch für einen säkularen Staat aussprechen, auch in der politischen Praxis befolgt würde. Es ist ja nicht nur muslimisches Gotteskriegertum, demgegenüber wir unser säkulares Staatsverständnis stark zu machen haben. Mit gleichem und noch größerem Ernst müssen wir uns in der »christlichen Welt« gegen jede religiöse Überhöhung politischen Handelns wehren. Nicht nur in so offensichtlichen Fällen wie vormals dem Nordirlandkonflikt, sondern auch im Blick auf religiöse Begründungsmuster, wie sie bei der Terrorismusbekämpfung namentlich von amerikanischer Seite in Anschlag gebracht wurden. Und wo immer in Europa die Selbstabschottung gegenüber dem Flüchtlingszuzug mit der Verteidigung christlicher Werte begründet wird, betreibt man eine gefährliche und unheilvolle religiöse Verklärung der eigenen Interessen. Noch einmal: Eine wohlverstandene christliche Ethik des Politischen praktiziert ihren Gehorsam gegen Gott gerade darin, dass sie Politik als durch und durch weltlich versteht und als menschliche Aufgabe angeht. So sagt es auch das der 5. These vorangestellte Bibelwort: »Fürchtet Gott, ehret den König«. 2. Damit sind wir bei der Position der 5. Barmer These. Sie bestimmt die Aufgabe des Staates in formaler und in materialer Hinsicht. Formal wird eingeschärft, dass die Politik kein schmutziges, wohl aber ein weltliches Geschäft ist: »Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens … zu handeln.«
Zur Weltlichkeit der Politik, ich könnte auch sagen: zu ihrem Realismus, gehört zum einen die Einsicht, dass sie nicht im Himmel, sondern jenseits von Eden »in der noch nicht erlösten Welt« stattfindet – in einer Welt also, in der auch mit der Macht und den Mächten des Bösen zu rechnen ist, in welcher Gestalt auch immer, sei es als individuelle
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Niedertracht oder Versagen, sei es als strukturelle Gewalt oder Ungerechtigkeit. Damit ist beileibe nicht gemeint, dass alles so bleiben müsste, wie es ist – darüber werden wir gleich mehr hören. Wohl aber nötigt diese Einsicht zu einem doppelten Realismus: Weder darf das real existierende Böse in optimistischer Überschätzung der menschlichen Situation ausgeblendet werden (wohin ein naives Vertrauen auf die positiven Selbstregulierungskräfte des Marktes geführt hat, erfahren wir gerade schmerzlich), noch dürfen politische Visionen zu der Illusion verleiten, man könne den Himmel auf Erden schaffen. Wo Politik dies in der Vergangenheit versuchte, machte sie den Menschen das Leben zur Hölle. Politik soll an einer besseren Welt arbeiten, aber eben nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens. Nicht mehr! Allerdings auch nicht weniger: Sie soll sich auf der Höhe menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens bewegen, die nach biblischem Verständnis auch in der noch nicht erlösten Welt beträchtlich sind. Strukturen sind veränderbar. Auch Megastrukturen wie die Globalisierung können und sollen gestaltet werden. Wer so tut, als handele es sich hier um gleichsam vorgegebene, von uns nicht beeinflussbare Naturgesetze, der betreibt im Wortsinne niveaulose Politik, weil er hinter dem menschlichen Maß zurückbleibt. Unter dem menschlichen Maß bleibt politisches Handeln auch dann zurück, wenn es meint, Einsicht und Vermögen der Regierten zu niedrig einschätzen zu müssen. Dies beginnt oft schon bei der Sprache. Wenn Politiker an Wahlabenden sagen: »Es ist uns nicht gelungen, unsere Politik den Wähler_innen verständlich zu machen«, so kommt dieser Satz zwar selbstkritisch daher, aber natürlich besagt er auch das andere: Die Leute haben nicht kapiert, wie gut gerade wir es mit ihnen meinen. Und ich frage, was ist dies eigentlich für eine Einschätzung von Wähler_innen?! Könnte es nicht auch sein, dass sie so wählen wie sie wählen, weil sie etwas kapieren? Ich füge aber hinzu: Auch in einer Demokratie steht Mehrheit nicht ipso facto für Wahrheit. Denn gerade im sogenannten »postfaktischen Zeitalter«, befördert durch die Möglichkeiten, die das Netz populistischen Hetzern und Wahrheitsverdrehern bietet, erleben wir das massenhafte Wiedererwachen von Bewegungen, deren Motive und Inhalte wir für überwunden glaubten. Hier gilt es, wachsam zu sein und sich von der schieren Masse nicht überbeeindrucken zu lassen. Denen, die mit populistischen Parolen auf Menschenfang gehen, gilt es die Stirn zu bieten und ihre Lügen nach Kräften zu entlarven. Mit den Verführten müssen wir das Gespräch suchen. Wir müssen verstehen wollen, was sie treibt bzw. zieht. Nur wenn wir ihre Ängste ernst nehmen, werden wir aufzeigen können, dass sie sich Lösungen von den Falschen erhoffen.
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Und deshalb: Politik nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens darf niemals verlogene Politik sein. Ich erinnere nur daran, dass der Irakkrieg mit einer schier unfassbaren öffentlich inszenierten Lüge begann. Da wurde ein ganzer UN-Sicherheitsrat und mit ihm die Weltgemeinschaft in einer Dreistigkeit belogen und betrogen, die zum Himmel schreit. Tausende und Abertausende Menschen sind in einem Krieg zu Tode gekommen, dessen damals erklärte Ziele sich in nichts aufgelöst haben. Ich habe folgende Begegnung nie vergessen: Anfang der 80er Jahre besuchte ich unsere Partnergemeinde in der DDR. Bei einem Gespräch mit dem Superintendenten wurde diesem von einem Mitglied unserer Delegation die Frage gestellt, was er sich von seiner Regierung wünsche. Er dachte lange nach, schließlich antwortet er: »Eigentlich würde es reichen, wenn weniger gelogen würde.« Noch jede Reform, die auf eine menschlichere Politik zielte, war zuerst und vor allem eine Wahrheitsbewegung. Und das wird so bleiben.
3. Inhaltlich wird dem Staat in Barmen V die Aufgabe zugewiesen, für »Recht und Frieden« zu sorgen. Auch bei dieser Bestimmung möchte ich mich nicht bei dem aufhalten, was man hier vermissen mag. So hat etwa Karl Barth, der Verfasser dieser These, später des Öfteren darauf hingewiesen, wie sehr ihm an dieser Stelle der Begriff der Freiheit fehlt. Aber wie gesagt, das, was dasteht, ist doch sprechend genug: Für das Recht hat der Staat zu sorgen. Damit ist nicht nur eine funktionierende Gewaltenteilung gemeint, es geht zugleich um die Qualität des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen, in dem jedem auf legitime Weise das Seine zukommt. Dabei ist »das Seine« nicht nur das, was dem Einzelnen gehört, sondern auch das, was er zu einem menschenwürdigen Dasein braucht. Darauf verweist die Zusammenstellung von Recht und Frieden. Beide Begriffe interpretieren sich gegenseitig und zielen auf ein geordnetes, verträgliches Zusammenleben einer Gemeinschaft. Das bedeutet nach innen: Ein am Frieden orientiertes Recht muss die Gerechtigkeit fördern. Und Maßstab der Gerechtigkeit sind die Schwachen einer Gesellschaft. Nur wenn sie ein menschenwürdiges Leben zu führen in der Lage sind, geht es wahrhaft rechtens zu. Anders gesagt: Der Staat, oder sagen wir allgemeiner: die politisch Verantwortlichen, haben nicht schon dann genug getan, wenn alles legal zugeht. In Abwandlung eines Brecht-Wortes könnte man sagen: Es gibt so viele Weisen, Unrecht zu tun, leider sind so wenige verboten. Damit soll das hohe Gut von Rechtsstaatlichkeit nicht in Frage gestellt werden. Aber damit fängt die Aufgabe der politisch Agierenden erst an, nämlich das Zusammenleben am Maßstab der Gerechtigkeit zu gestalten.
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Auch im Blick auf die Außenpolitik ist der Zusammenhang von Recht und Frieden unabdingbar, wenn das Zusammenleben von Völkern und Staaten gelingen soll. Die vielen Kriege, die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes geführt wurden, haben uns schmerzlich in Erinnerung gerufen, wie aktuell für die Völkergemeinschaft die Aufgabe ist, an einer Stärkung des Rechts zu arbeiten, anstatt auf das Recht des Stärkeren zu vertrauen. Wir brauchen eine verbindliche internationale Rechtsordnung. Und außerdem: Es wird auf unserer Welt keinen dauerhaften Frieden geben, solange ganze Kontinente unter Verhältnissen leben, die von dem, was ich eben zur Gerechtigkeit ausführte, meilenweit entfernt sind. Insofern sind alle Bemühungen, die darauf zielen, Globalisierung gerecht zu gestalten, friedensfördernde Maßnahmen par excellence. Allerdings – ich kehre noch einmal zum Anfang dieses Teils zurück – finden all diese Bemühungen in der noch nicht erlösten Welt statt. Deshalb hält die 5. These fest, dass die Sorge für Recht und Frieden unter Androhung und Ausübung von Gewalt geschieht. Meines Erachtens kann auch eine christliche Ethik des Politischen auf diesen Hinweis nicht verzichten. Es wäre illusionär zu glauben, staatliches Handeln könne nach innen oder nach außen im Konfliktfall auf gewaltsame Sanktionen verzichten. Vielmehr geht es darum, mit der notwendigen Gewalt verantwortungsvoll umzugehen. Und auch dazu gibt Barmen V wichtige Hinweise: »unter« Androhung und Ausübung von Gewalt heißt es, nicht: »durch«. Gewalt ist also nur ein, und beileibe nicht das erste und wichtigste Mittel staatlichen Handelns. Sie ist eine notwendige Form, nicht der Inhalt staatlichen Tuns. Gewalt kann also immer nur als letztes (und strikt zu begrenzendes) Mittel zum Einsatz kommen. Und Kriterium der Gewaltausübung bleiben Recht und Frieden. Staatliche Gewalt muss sich stets fragen, ob sie der Sorge für Recht und Frieden dient und – zurzeit besonders aktuell: Staatliche Gewalt ist ihrerseits kein rechtsfreier Raum, im Gegenteil. Mehr als irgend sonst sind hier die denkbar strengsten Rechtsmaßstäbe anzulegen. Wenn politisches Handeln nüchtern und im menschlichen Maß nach Recht und Frieden strebt, dann ist das gut so. Dann wird die Wohltat dessen, was nach christlichem Verständnis Gott den politisch Verantwortlichen als Aufgabe zugedacht hat, anschaulich.
II.
Der Auftrag der Kirche im Bereich des Politischen »Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot
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und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.«
Welchen Auftrag Barmen V der Kirche im Bereich des Politischen zuweist, möchte ich entfalten, indem ich an den Verben entlanggehe: Die Kirche erkennt, die Kirche erinnert, die Kirche vertraut und gehorcht. 1. »Die Kirche erkennt in Dank und Erfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung«. Dieser Satz, zumal wenn man ihn mit dem vorangestellten Bibelzitat zusammenhört, hat eine doppelte Pointe. Zum einen: Die Kirche fürchtet Gott. Ihm allein gebühren Dank und Ehrfurcht, nicht dem Staat. Was für die Politik gesagt wurde, gilt auch für das Verhältnis der Kirche zum Bereich des Politischen: Es ist von sachlicher Nüchternheit gekennzeichnet und entbehrt jeder religiösen Aufladung. Als Menschen, die Gott allein fürchten, sollte es unter Christenmenschen kein Duckmäusertum geben, keinen devoten Untertanengeist. Allerdings, und dies ist die andere Seite: Indem die Kirche die Wohltat der göttlichen Anordnung bezüglich des Staates erkennt, ist sie gehalten, den Staat und seine Institutionen zu achten und sich als loyaler und engagierter Partner zu betätigen. Was dies inhaltlich meint, werden wir noch sehen. Zunächst sei grundsätzlich festgehalten: Christen, die die Weisung von Barmen V ernst nehmen, werden sich von einer wohlfeilen Politik- und Politikerverdrossenheit nicht mitreißen lassen. Sie werden nicht in das Horn populistischer Politikerschelte tuten. Gerade weil sie wissen, dass auch die politisch Handelnden Teil der noch nicht erlösten Welt sind, werden sie sich jeder Häme enthalten und Einspruch erheben, wenn das Wächteramt, zu dem gerade auch unsere Presse gerufen ist, umschlägt in verantwortungslosen Enthüllungsjournalismus. Investigativer Journalismus, der Missstände aufdeckt und öffentlich macht: Ja! Vorverurteilung, persönliche Verunglimpfung und Personen beschädigender Skandaljournalismus: Nein! Zur Achtung des politischen Bereiches gehört es schließlich auch, der Versuchung einer Exilsmentalität zu widerstehen: Eine Flucht in die fromme Nische, den vertrauten Zirkel oder in eine wie auch immer geartete ›verantwortungsfreie Zone‹ darf es für Christenmenschen und für die christliche Kirche als Ganze nicht geben. Angesagt sind hingegen Interesse und, nach Maßgabe der eigenen Kräfte und Möglichkeiten, engagierte Mitarbeit. 2. Dabei besteht die christliche Form politischer Mitarbeit laut Barmen in einer bestimmten Weise der Erinnerungsarbeit:
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»Die Kirche … erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.«
Im Horizont von Gottes Gebot mischt die Kirche sich ein, fragt nach und tut selbst nach Kräften mit. Weil die Kirche den Gott verkündet, der sich aller Welt in Gnaden annimmt, übt sie sich also ihrerseits in einer Kultur des Erbarmens und wendet ihre Aufmerksamkeit vor allem denen zu, die sonst durchs Rost der Wahrnehmung und der Fürsorge zu fallen drohen. Deshalb gilt ihre besondere Anwaltschaft den Schwachen, den Marginalisierten, den Menschen, die sich zu uns flüchten, denen, die keine Stimme haben, wozu gerade auch die gehören, die noch nicht oder nicht mehr für sich selbst sprechen können, sowie die nachkommenden Generationen. Ich möchte die politisch Verantwortlichen unter uns herzlich bitten und dringlich ermahnen: Sie müssen diesen Dienst christlicher Gemeinden und Kirchen wollen und stützen. Auch dann, wenn er lästig oder einseitig oder auch einmal in überzogener Weise daher kommt. Bitte nehmen Sie es als Erinnerungsarbeit wahr und ernst. Hören Sie zu, statt sich und Ihr Handeln zu schnell zu rechtfertigen. Nutzen Sie die Chance auf blinde Flecken, wie sie jeder von uns kennt, der in Sachzwängen steckt, aufmerksam gemacht zu werden. Lassen Sie sich vom kreativen Potential bürgerschaftlicher Empörung anrühren, anstatt die, die Ihnen ins Gewissen reden, als spinnerte Gutmenschen abzutun. Vielleicht haben die Kritiker in manchem nicht Recht, sehen nicht die größeren Zusammenhänge, bedenken nicht die Folgen ihrer Forderung. Und doch scheint es mir weiser, nach dem Wahrheitsmoment der Kritik zu fragen anstatt es wegzurationalisieren. Als Wuppertaler kann ich viele Beispiele nennen, wo dies bei uns geschehen ist, wo in Politik und Verwaltung Verantwortliche sich anrühren ließen von bürgerschaftlicher Störung – ich stehe nicht an, an dieser Stelle dafür zu danken! Den engagierten Christen unter uns sei gesagt: An Gottes Reich, an sein Gebot und seine Gerechtigkeit zu erinnern bedeutet im Bereich des Politischen, allgemein verständlich und rational zu argumentieren. Politisches Handeln richtet sich nun einmal – wie oben ausgeführt – nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens. Zwar lassen wir uns auch im Bereich des Politischen von Gottes Weisung leiten, aber wir müssen uns denen verständlich machen können, die unsere Prämisse, den christlichen Glauben, nicht teilen oder ihn ablehnen. Im Bereich des Politischen redet ein ›guter Christ‹ nicht fromm daher, sondern ist gut informiert und setzt auf die Kraft des besseren Arguments.
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Vor allem aber: Er weiß, dass sein Engagement nur dann überzeugend wirkt, wenn er jede Mahnung, die er an andere richtet, zugleich als Selbstverpflichtung ernst nimmt. Nicht umsonst hieß es eben, die Kirche erinnere an die Verantwortung der Regierenden UND Regierten. Die Leute werden mit Recht sauer, wenn sie feststellen müssen, dass bei uns Reden und Tun auseinanderklaffen. Es gibt eine Weise, für den Frieden zu streiten, die das eigene Ziel konterkariert. Und der Einsatz für die Hungernden und Notleidenden wirkt wenig überzeugend bei solchen, die selbst gefangen sind im Bannkreis von Geiz und Gier. Wer gerechte Arbeits- und Besoldungsstrukturen fordert, muss sie im eigenen Verantwortungsbereich herstellen. Entsprechendes gilt im Blick auf ökologische Nachhaltigkeit und einen toleranten Umgang mit Menschen anderer Herkunft und Religion. Bevor wir unseren Beitrag dazu leisten, dass die Politik die Wohltat der göttlichen Anordnung zum Leuchten bringt, sollten wir uns als Christen die schlichte Kontrollfrage stellen, ob wir als Einzelne, als Gemeinde und Kirche für die Menschen, die zu uns kommen, und für unsere Umgebung eine Wohltat sind. Fühlt man sich in unserer Mitte geborgen oder einsam? Wahrgenommen oder übersehen? Wertgeschätzt oder missachtet? Aufrechter oder geduckter? Sind wir für unsere Umgebung ein Grund zum Dank oder Anlass, genervt die Augen zu verdrehen? Oder sind wir als Christen, als Gemeinde und Kirche so unsichtbar, dass man uns gar nicht wahrnimmt? 3.
Damit bin ich bei der dritten Bestimmung: »Die Kirche vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.«
Dies ist alles andere als eine fromme Schlussgirlande. Vielmehr wird die Pointe der 5. Barmer These nun noch einmal aus Sicht der Kirche formuliert. So wie der Staat um Gottes Willen ganz nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen handeln soll, so soll die Kirche ganz und gar dem Wort vertrauen und gehorchen, durch das Gott alle Dinge trägt. Auf eine Formel gebracht: Die Kirche unterstützt den Staat bei seiner Aufgabe gerade dadurch, dass sie bei der ihrigen bleibt. Als Kirche müssen wir erkennbar bei unserem Thema bleiben, bei Gottes Wort, dem wir zu vertrauen und zu gehorchen und das wir an andere weiterzugeben haben. Damit soll das, was vorher zur politischen Erinnerungsarbeit gesagt wurde, nicht abgeschwächt oder gar zurückgenommen werden. Aber es ist vor der falschen Alternative zu warnen zwischen einer politisch engagierten und einer frommen Kir-
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che. Wer dem Wort Gottes vertraut, kann gar nicht anders, als auch im Bereich der Politik nach seinem Willen zu fragen. Und wer sich als Christ politisch einmischt, schöpft seine Kraft aus dem Vertrauen an den Gott, der die ganze Welt in seiner Hand hält. Gerade weil das eine vom anderen nicht zu trennen ist, ist von der Kirche als Erstes und als Letztes Gottvertrauen gefordert. Als Christen glauben wir, dass alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt (und unseres Landes) von Gott gewollt, bei ihm behütet sind und von ihm ihre unveräußerliche Würde haben. Die anderen müssen das nicht glauben. Wir glauben es für sie mit. Wir werden unseren Glauben im politischen Engagement nicht ausposaunen, aber wir werden ihn im kirchlichen Handeln nicht verstecken. Wir werden für die Stadt beten und Gott um Hilfe bitten, dass unter uns Recht und Friede wachse und dass wir nicht träge werden in dem gemeinsamen Engagement für eine Politik nach menschlichem Maß.
»Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« Rückfragen an die erste theologische Ausbildungsphase1
I.
Ausbildung und Praxis – Konflikt oder Ergänzung?
Ich wurde gebeten, aus der Sicht eines Dozenten am Predigerseminar zu berichten – ich zitiere aus dem Anschreiben der Fachschaft: »… inwieweit universitäre (theoretische) Ausbildung und Praxiserfahrungen der Vikar_innen in Konflikt geraten bzw. sich sinnvoll ergänzen«. Diese Frage klingt plausibel und stimmig. Erst als ich versuchte, meine Erfahrungen dem einen oder anderen Pol zuzuordnen – hier Konflikt, da sinnvolle Ergänzung –, wurde mir klar, dass die Fragestellung in sich ein Problem birgt: Sie schönt die Situation, weil im Grunde beide Pole zu positiver Assoziation einladen. Für den Pol ›sinnvolle Ergänzung‹ versteht sich das von selbst. So ist die Zuordnung der Ausbildungsphasen ja gedacht: In der ersten erlangt der/die Auszubildende theologische Kompetenz, und darauf aufbauend in der zweiten (und dritten) pastorale Handlungs- und Persönlichkeitskompetenz. Aber auch der ›Konfliktpol‹ ist insofern positiv besetzt, als er ein Kontaktgeschehen beschreibt. Ein auf der Universität als Frucht gründlicher Forschung herangereiftes theologisches Urteil etwa gerät in Spannung zur pastoralen Alltagserfahrung: Da hat einer eine solide ekklesiologische Position entwickelt und stellt verdutzt fest, dass die real-existierende Kirche ›anders‹ ist. Ein solcher Konflikt, wenn er denn wirklich ausgetragen wird, mag schmerzhaft sein, er mag einen an Abgründe führen, aber er birgt allemal die Chance von Wachstum in sich: sei es, dass ich meine theologische Theorie einer neuen Überprüfung unterziehe, indem ich die Gemeindeerfahrung in den Reflexionsprozess einbeziehe, sei es, dass ich meine Wirklichkeitswahrnehmung noch einmal überprüfe, denn vielleicht habe ich ja etwas übersehen; womöglich habe ich mich aber auch von der Normativität des Faktischen zu sehr einfangen lassen und entdecke in der Widerständigkeit meiner Theologie einen Impuls zum Neuaufbruch. Keine Frage, solche Konflikterfahrungen gab und gibt es. Gott sei Dank, möchte 1 Vorgetragen im Rahmen des Studientages »Wissenschaft und Praxis, Theologie und Glaube« der Fachschaft Evangelische Theologie an der Rheinischen-FriedrichWilhelms-Universität Bonn am 17.6.1998. Der Vortrag erschien (jeweils leicht verändert) in: RKZ 139 (1998), 352–356 und PTh 89 (2000), 474–482.
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man sagen, denn gerade ihnen verdanken Theologie und Kirche die kleinen und großen Reformationen. Allein, die vorrangige Erfahrung, die mir zu ihrer Fragestellung in den Sinn kam, ist von anderer Art: Sie ist weder konflikthaft noch positiv aufbauend, sie ist irgendwie – ich sage bewusst: »irgendwie« – nichts Halbes und nichts Ganzes. Sie ist banal, wie eine Beziehung, in der man sich weder bekämpft noch ergänzt, sondern schlicht auseinandergelebt hat – und jetzt nebeneinanderher lebt und doch zusammenbleibt, weil einem immer wieder beteuert wird (und man glaubt es gern), man brauche einander. Ich rede von »vorrangiger Erfahrung«, denn Gott sei Dank gibt es auch und immer wieder die Erfahrung von Konflikt und positiver Ergänzung. Im Folgenden werde ich mich aber auf jene Erfahrung von mangelndem Kontakt der Ausbildungsphasen zueinander konzentrieren, denn hier sehe ich das größte Problem.
II.
Eine typische Fallgeschichte
Seelsorgekurs. Ein Vikar stellt ein Gesprächsprotokoll vor. Es dokumentiert ein Beerdigungsgespräch, welches er mit einer Mutter geführt hat, deren 21-jähriger Sohn Erwin auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Das Protokoll zeigt, wie der Vikar einfühlsam auf die Trauer der Mutter eingeht und taktvoll die Modalitäten des bevorstehenden Bestattungsgottesdienstes bespricht. Gegen Ende des Gespräches fragt die Mutter unvermittelt: »Sagen Sie mal, was wird denn eigentlich aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« Selbst beim Lesen meint man noch zu spüren, wie diese Frage den Vikar innerlich aus der Bahn wirft. Auf seine Rückfrage, was sie damit meine, antwortet die Mutter, neulich habe jemand im Fernsehen behauptet, die Toten würden »in einer anderen Frequenz oder so weiterbestehen«, aber da könne man sich ja nichts drunter vorstellen. Jetzt will sie halt vom Vikar wissen, was er meint. Seine Antwort: »Ich bin Vertreter der Ganztottheorie« – das wird zunächst gar nicht verstanden – ruft dann nur neue Bestürzung (und Tränen) hervor, die auch durch die einigermaßen hölzern nachgelegten Hinweise auf das »Gedenken Gottes«, in dem Erwin jetzt aufgehoben sei, nicht aufgefangen werden kann. In der Besprechungsrunde herrscht viel Sympathie für den Kollegen, den es quasi kalt von der Seite erwischt hat; aber auch Ratlosigkeit, als deutlich wird, dass selbst jetzt, wo genügend Zeit zum Nachdenken vorhanden ist, kaum jemandem ein theologisch verantwortetes und zugleich plausibles Element einer Antwort einfallen will. Beson-
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ders betreten reagieren die, die im Studium durchaus exegetisch oder systematisch zur Frage von Tod und Auferstehung gearbeitet haben: Hätte die Frau doch gefragt, worin sich die systematisch-theologischen Entwürfe von Jüngel und Moltmann in dieser Frage unterscheiden und wer die besseren Argumente habe. Aber was aus Erwin wird, jetzt, wo er tot ist – auf diese Frage fühlen sich auch die, die mit Fleiß studiert haben, schlecht vorbereitet. In solchen Augenblicken meldet sich in einer Ausbildungsgruppe Trauer über die vielen Jahre Studium, auch Frustration und Zorn. Niemand sage, dies sei eine untypisch-schwere pastorale Extremsituation. Das ist sie nicht. Nur die Umstände sind extrem, nicht aber die gestellte Anforderung. Im Gegenteil, sie ist alltäglich. Denn wenn ich als Pastor in Glaubensdingen gefragt bin, dann ist es in der Regel so, dass ich unvorbereitet befriedigende Auskunft auf eine gewichtige Frage geben soll (dazu gleich noch mehr). Wenn man schon gewichten wollte, so müsste man sagen, dass es sich im Beispiel eher um den leichteren Fall handelt. Denn immerhin: Der Vikar wurde nach seiner Meinung gefragt, ist also der viel schwierigeren Aufgabe enthoben, selbst entscheiden zu müssen, ob er den Glauben ins Gespräch bringen soll. Auch bedarf es nicht des analytischen Scharfsinns, in einer vermeintlich praktischen Frage die theologische Tiefendimension zu erkennen und situationsgerecht in den Entscheidungsprozess einzubeziehen (»Wem vermieten wir unsere Gemeinderäume zu welchen Bedingungen?«). In all diesen ›schwereren‹ Fällen wird die (bei manchen) bis zur Beziehungslosigkeit reichende Distanz zu dem auf der Universität Gelernten noch häufiger beklagt.
III.
Zum Anforderungsprofil pastoraler Praxis
Lassen Sie mich anhand des Fallbeispiels etwas zum Anforderungsprofil pastoraler Praxis sagen – ich beschränke mich der Kürze halber auf den Sektor der theologischen Kompetenz (und auch hier kann ich nur das Wichtigste nennen). »Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« – Diese Frage verlangt nach einer theologisch verantworteten Antwort. Was heißt das? Der/die Vikar_in braucht theologisches Wissen. Dieses Wissen muss interdisziplinär angelegt sein, denn eine theologische Frage lässt sich selten aus der Perspektive einer Teildisziplin beantworten. Der/die Vikar_in muss in der Lage sein, Lebensprobleme und Lebenskontexte heutiger Menschen zu verstehen (im Beispiel etwa: die konkrete Situation der Mutter, aber ebenso die vagen Hoffnungsbilder, die sie
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aus dem Fernsehen geliefert bekommen hatte), um die theologische Tradition sinnvoll damit in Beziehung zu bringen. Er muss zu einem eigenständigen Urteil gelangen und dieses situationsgerecht (in unserem Fall heißt das: einfühlsam, elementar und plausibel) kommunizieren können. Auf Predigt und Unterricht kann er/sie sich im Blick auf diese Anforderungen zumindest vorbereiten; die Seelsorge verlangt jedoch darüber hinaus, sie ›aus dem Stand‹ zu erbringen. Das setzt einen reichen Fundus an spontan abrufbarem theologischen Hintergrund voraus, aber auch eigene Lebenserfahrung sowie ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz. Beim bisher Genannten handelt es sich vorrangig um Elemente von Handlungskompetenz. Dazu kommen aber noch weitere Anforderungen an die Persönlichkeitskompetenz. Ich deute nur an: Wie verhält sich das gewonnene Urteil, wie es sich in einer Antwort niederschlägt, zum eigenen Glauben (Authentizität)? Wie geht der/die Vikar_in mit Widerstand oder Ablehnung um? Wie erträgt er/sie Ambivalenzen? Wie bewältigt er/sie die eigenen Ohnmachts- und Allmachtsphantasien? Ist er/sie sich ihrer überhaupt bewusst? Diese ganz wenigen Andeutungen sollen nur anzeigen, wie vielfältig die Anforderungen sind, die in jedem pastoralen Einzelfall in je neuer Gewichtung abgerufen werden. Zusammengefasst: Jede pastorale Handlung ist eine höchst komplexe Integrationsleistung. Das macht unseren Beruf so schwer. Um es vorweg zu sagen: Angesichts dieses Anforderungsprofils lautet meine Kritik an der ersten Ausbildungsphase nicht, hier werde zu viel (theoretische) Theologie getrieben, sondern: Hier wird in einem spezifischen Sinne zu einfach Theologie getrieben; höchst ausdifferenziert zwar, aber doch zu sehr im Binnenraum einer Disziplin, einer Fragestellung, eines Sprachspiels bleibend. Jeder Grundschullehrer weiß, dass gerade die Transfer- und Integrationsleistungen die intellektuell besonders anspruchsvollen sind, weshalb sie der besonderen Förderung bedürfen. Auch in der Theolog_innenausbildung geht es nicht an, diese Leistungen zum Spezifikum der zweiten Ausbildungsphase zu erklären. Deshalb erlaube ich mir in bewusster Einseitigkeit, aus meiner Perspektive jetzt einige kritische Rückfragen (verbunden mit Wünschen) an die erste Ausbildungsphase zu richten.
IV.
Rückfragen an die erste Ausbildungsphase
Die Frage nach der Zukunft der Verstorbenen begegnet im pastoralen Alltag immer wieder. Ausgesprochen oder unausgesprochen ist sie bei
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jedem Beerdigungsgespräch im Raum. Es gibt einige solcher elementaren Fragen. Etwa: »Muss man das mit der Rippe oder mit der Auferstehung eigentlich glauben?« – »Was sollen die verschiedenen Religionen, haben wir denn nicht alle denselben Herrgott?« – »Was soll am christlichen Glauben schon dran sein bei allem, was die Kirche angerichtet hat?« – »Warum kann Gott nicht auch so vergeben, warum musste er dafür extra seinen Sohn opfern?« – »Woher kommt das Böse?« – »Wie kann Gott das zulassen?« – »Hilft beten wirklich?« – Oder ganz einfach: »Warum soll ich an Gott glauben? Warum glauben Sie denn dran?« Ich setze Ihr Einverständnis voraus, wenn ich sage: Die Gemeinde hat ein Recht darauf, dass diese Fragen in Predigt und Unterweisung aufgegriffen werden, ebenso darauf, dass der Pastor bzw. die Pastorin zu diesen Fragen im Gespräch etwas Hilfreiches und Orientierendes zu sagen weiß. Ein ›empathisches‹ »Ich bin auch nur ein Fragender« reicht auf Dauer nicht aus. Erstes Stichwort: Curriculum Von daher richtet sich meine erste kritische Rückfrage an das Curriculum der Universitätsausbildung: Wird der Beantwortung dieser (und anderer) Grundfragen des Glaubens eigentlich genug zugearbeitet? Nehmen die entsprechenden Themen genügend Raum ein und: Ist ihr Studium verbindlich? Diese Frage zielt zum einen auf die Gewichtung der Studieninhalte. Beispiel: Vieles, was der Gemeinde fraglich ist, ist dogmatisch beim Topos der Vorsehungslehre anzusiedeln. Man kann sich aber durchaus zum ersten Examen melden, ohne diesem Topos je begegnet zu sein, außer vielleicht in einem Examensreader. Daran schließt sich ein Problem ganz grundsätzlicher Art an: Wo schlägt die Freiheit der Studiengestaltung in Beliebigkeit und Unübersichtlichkeit um, die letztlich zu Lasten der Studierenden geht? Die Frage zielt zum anderen auf die Weise der Erarbeitung der Studieninhalte. Gewiss, alles, was in den Fragen anklingt (und noch viel mehr), kommt irgendwie irgendwo vor. Aber doch so, dass der/die Studierende sich das Gemeinderelevante in, mit und unter dem in der jeweiligen Einzeldisziplin erarbeiteten Spezialwissen zusammensuchen und eigenständig zusammensetzen muss. Interdisziplinarität, der Regelfall des Pfarramtes, ist der Sonderfall des Studiums! Das heißt: Die Integrationsleistung, von der ich bereits sprach, wird im Studium zu selten erbracht bzw. eingeübt; sie wird auf später verschoben. Die Problematik dieser Gewichtung tritt in der zum ersten Examen anzufer-
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tigenden Predigt zutage, die über weite Strecken eine Fehlleistung ist. Wohlgemerkt: Dies ist nicht den Kandidat_innen anzulasten, sondern einer Prüfungsordnung, die der ersten Ausbildungsphase eine Lehrleistung zuerkennt, die sie, wenn überhaupt, nur sehr unvollkommen erbringt. Um es noch einmal zu unterstreichen: Die Reflexionsgestalt einer Reflexionsgestalt des Glaubens zu reflektieren – also etwa die Frage, welche Lutherdeutung angemessen ist –, ist zur Schulung des theologischen Denkens und zur Orientierung im theologischen Feld notwendig, aber sie ist die leichtere Übung. Die theologisch sachgemäße und situationsbezogene Beantwortung der Frage, was aus Erwin wird, ob und wie Gott hilft, ist, wie ich schon angedeutet habe, ungleich viel schwieriger! Die zu erbringende Leistung ist hochkomplex und darf nicht als schlichter Übersetzungsvorgang (»Wie sag ich’s meiner Gemeinde«) kleingeredet werden. Sie bedarf der gezielten Schulung. Ich wünsche mir deshalb mehr interdisziplinäre Seminare zu den genannten Themen. Theologie für die Gemeinde auf höchstem Niveau zu entwickeln, gereicht einer Theologischen Fakultät zur Ehre. Das meint aber mehr, als in kirchlichen Streitfragen gutachterlich tätig zu werden. Wie wäre es mit einem ekklesiologischen Oberseminar, das sich die Themen von der Presbyteriumstagesordnung einer konkreten Ortsgemeinde vorgeben lässt? »Was das Hänschen nicht gelernt hat, lernt der Hans nicht mehr« – diese pädagogische Volksweisheit trifft leider auch in unserem Fall zu. Es gibt bedrückende Belege dafür, dass die im Studium angelegte Desintegration von Theologie und pastoraler Praxis – also das Unverhältnis von erster und zweiter/dritter Ausbildungsphase – ein ganzes Berufsleben durchzieht. Die große und großartige Untersuchung von Manfred Josuttis etwa über »Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart« hat gezeigt, dass eine große Zahl der rheinischen Pfarrer_innenschaft faktisch gesetzlich predigt, obwohl viele von ihnen theologischkonzeptionell das Gegenteil vertreten würden2. Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich erlebe, wie gerade theologisch engagierte Pfarrer_innen fast so etwas wie eine innere Zwei-Reiche-Lehre betreiben, dergestalt, dass sich das, wofür auf der Theologieebene ihr Herz schlägt, etwa die Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen oder der konziliare Prozess, in anderen Sektoren der Gemeindearbeit nicht sichtbar prägend niederschlägt. 2 Manfred Josuttis, Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, München 2 1969; neu abgedruckt und immer noch aktuell 1995 in: ders., Homiletische Studien, Bd. 2: Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit, München 1995, 94–181.
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Zweites Stichwort: Lehre Die pastorale Praxis erfordert ein aktives Einbringen theologischer Kompetenz. Neben theologischem Wissen und Urteilsfähigkeit ist dazu ein hohes Maß an kommunikativer und kybernetischer Kompetenz gefragt. Diese erlangt man nicht allein durch Rezeption, sondern durch angeleitetes und kritisch-begleitetes Üben. Auch damit kann nicht erst in der zweiten Ausbildungsphase begonnen werden, sondern erfordert vom ersten Tag des Studiums an viel und guten Unterricht. Mir scheint – und das ist meine zweite kritische Rückfrage –, dass aufs Ganze gesehen in Deutschland der hohe Standard der theologischen Forschung in keinem guten Verhältnis zur theologischen Lehre steht. Und die Meinung, wer das eine gewährleiste, der sei auch für das andere geschaffen, bewegt sich nicht einmal auf dem Niveau eines pädagogischen Biedermeiers. Diese Bemerkung richtet sich nicht gegen einzelne Hochschullehrer, sondern zuerst gegen ein universitäres System, welches den Qualifikationsstrang Forschung einseitig überbetont. Qualifizierte Lehre fällt bei Berufungsverhandlungen weithin weniger ins Gewicht als eine beeindruckende Veröffentlichungsliste; und der Beruf des Hochschullehrers ist meines Wissens der einzige pädagogische Beruf, den auch solche ergreifen können, die nie pädagogisch geschult worden sind! Zur systembedingten Problematik gehört auch die Tatsache, dass den Lehrstuhlinhaber_innen Lehrleistungen abverlangt werden, die ein dafür eigens geschulter und eingestellter Mittelbau effektiver und effizienter erbringen könnte. Immer wieder berichten mir Vikar_innen, dass für sie das erste theologische Examen der erste Ort war, an dem sie unter der Kontrolle eines Hochschullehrers Theologie artikulierten. Vorher haben sie sich nur in Tutorien oder in der Examensgruppe getraut, den Mund aufzumachen! Dabei ist nicht einmal gewährleistet, dass die Tutoren neben der inhaltlichen Qualifikation auch nur die elementarste pädagogische Zurüstung erfahren haben, also etwa gelernt haben, wie man eine Gruppe leitet, wie man ein Gespräch führt, einen Lernprozess initiiert, welche Methoden welchem Lernschritt zuzuordnen sind usw. Dass es immer wieder Naturtalente gibt, dass Menschen auch unter schlechten pädagogischen Voraussetzungen viel lernen können, all das ist nicht zu bestreiten, aber beruhigen sollte es auch nicht. Gott sei Dank nimmt die Zahl derer zu, die erkannt haben, dass es neben den beiden klassischen Organisationsformen »Vorlesung« und »Seminar« eine ausdifferenzierte Palette pädagogischer settings gibt, die zum Erlangen theologischer Kompetenz genutzt werden sollten.
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Des Weiteren muss nach Wegen gesucht werden, auch in der ersten Ausbildungsphase, personales Lernen zu unterstützen (Integration von Handlungs- und Persönlichkeitskompetenz). Es darf nicht geschehen, dass die Person des/der Studierenden gleichsam auf Eis gelegt wird, um sich der »Sache« zu widmen, mit dem Effekt, dass der/ die Vikar_in, was die Glaubensbiographie betrifft, den im Jugendkreis liegengebliebenen Faden wieder aufnimmt und mit dem zwischenzeitlich Erlernten zusammenzubringen versucht. Handlungskompetenz und erst recht Persönlichkeitskompetenz gewinnt man unter anderem durch Vorbilder. Ob in Nachahmung oder kritischer Abgrenzung ist jetzt zweitrangig. Die Unterrichtenden müssen aber wissen, dass sie eine Vorbildfunktion haben. Sie sind, ob sie das wollen oder nicht, lebendige Beispiele theologischer Existenz heute. Dietrich Ritschl gibt in der Schlussbemerkung seiner »Logik der Theologie« zu bedenken: »Ich möchte nichts Kränkendes sagen, aber ich traue letztlich keinem theologischen Lehrer – außer vielleicht einem Fachmann in Exegese und Historie –, der nicht lange Pfarrer gewesen ist, Alte und Kranke besucht hat, Kinder und Jugendliche beerdigen und sich jeden Sonntag, auch wenn ihm nichts Neues einfiel, vor der Gemeinde hören lassen mußte.«3
Drittes Stichwort: ›Proportionen‹ Zuletzt sei nur noch angedeutet, dass nach allem Gesagten auch die sachlichen und zeitlichen Proportionen der theologischen Ausbildung einer kritischen Revision bedürfen (vgl. auch dazu Ritschl im eben zitierten Buch). Muss man in Abwägung der verschiedenen ›Güter‹ für alle Pfarrer_innen auf den drei alten Sprachen beharren? Wäre nicht zumindest eine profunde Lateinkenntnis verzichtbar? (Viele Geschwisterkirchen sehen das so.) Andererseits: Wie lange können wir es uns noch leisten, Medienethik (um nur diese zu nennen), dem persönlichen Interesse anheimzustellen. Und was die Zeiten betrifft: Das Studium dauert zu lange. Auch hier lohnt sich ein Blick auf – der Vergleichbarkeit wegen – europäische Geschwisterkirchen. Drei bis fünf Jahre dauert das Studium in den meisten anderen Kirchen, und zum Teil ist unsere zweite Ausbildungsphase in diesen Zeitraum integriert! Was uns (also die zweite Ausbildungsphase) betrifft: Solange die erste Ausbildungsphase bleibt, wie sie ist, ist die zweite viel zu kurz, um all das zu leisten, was in ihr geleistet werden müsste, denn die Frage nach 3 Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 22 1988, 347.
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Erwin und die anderen Fragen waren ja wirklich nur ein Segment dessen, was zur pastoralen Fertigkeit gehört! Aber womöglich setzt hier mein eigener Berufsegoismus (gepaart mit Betriebsblindheit) an. Deshalb breche ich meine Überlegungen ab und schließe mit drei Bemerkungen.
V.
Schluss
Ich habe aus der Perspektive des Predigerseminarsdozenten gefragt. Sie ist einseitig und bedarf deshalb der Ergänzung. Soviel sei aber jetzt schon zugestanden: Der Praxisvergessenheit der ersten Ausbildungsphase korrespondierte über weite Strecken eine Theologievergessenheit der zweiten Ausbildungsphase. Beides ist gleich verhängnisvoll, denn die Summierung von Auf- bzw. Abspaltungen führt nicht zur Ganzheit. Mit meinen Bemerkungen wollte ich nicht Ihre Freude an der wissenschaftlichen Theologie dämpfen. Im Gegenteil: Es gibt eine populistische Missachtung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, die jeden denkenden Zeitgenossen nur erschaudern lassen muss. Wohl aber wollte ich den kirchlichen Bezugspunkt theologischer Wissenschaft starkmachen. Wer sich den Fragen der Gemeinde aussetzt, gelangt nicht, wie es bisweilen heißen konnte, in die »Niederungen« der Theologie, sondern er bewegt sich auf deren Höhen. Er/sie müht sich dann an dem Ort, an dem sich ein Paulus und ein Johannes, ein Luther und ein Calvin abgemüht haben. Wir brauchen so etwas wie ›Paarberatung‹ mit dem Ziel, Kontaktstörungen zwischen der ersten und zweiten Ausbildungsphase zu überwinden. Zuletzt: Sollte jemand gehofft haben, auf die Frage von Erwins Mutter eine Antwort zu bekommen, so wurde er/sie enttäuscht. Im vorgegebenen Rahmen war es mir wichtiger, um Respekt vor der Größe der mit der Frage gestellten Aufgabe zu werben. Um Sie aber nicht leer ausgehen zu lassen, verweise ich auf die Antwort des Apostels Paulus. Was er in 1Thess 4,13–18 den Angehörigen der »Entschlafenen« zu sagen wusste, lohnt sich bis heute nachzubuchstabieren.
VI.
Nachbemerkung (2016)
Seit ich diesen Vortrag hielt, haben sich die Studienbedingungen auch in der Theologie aufgrund des Bolognaprozesses einschneidend geändert. Dennoch scheinen mir die damals aufgeworfenen Fragen dadurch nicht erledigt zu sein. Dies haben mir auch die Vikar_innen in der
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Folgezeit immer wieder bestätigt. Für bleibend aktuell halte ich auch das in Teil III und IV entwickelte Anforderungsprofil an das Studium der Theologie im Blick auf die pastorale Praxis. Ausdrücklich möchte ich aber darauf hinweisen, dass ich in den letzten Jahren immer wieder mit erfreulichen und hoffnungsvollen Modellen bekanntgemacht wurde, die sich aufseiten der ersten Ausbildungsphase der Forderung nach einer bezogenen Theologie stellen. So werden an manchen Studienorten die im pastoralen Alltag auftretenden Fragen im systematisch-theologischen Seminar gründlich erörtert. Ebenso wird theologische Auskunftsfähigkeit eingeübt. Und auch das interdisziplinäre Durchdringen theologischer Grundsatzfragen scheint auf dem Vormarsch zu sein. Dafür ist den betreffenden Hochschullehrenden umso mehr zu danken, als sie einem stetig ansteigenden Druck ausgesetzt sind. Schließlich sei auf eine Frucht der durch meinen Impuls ausgelösten Debatte besonders hingewiesen: Die Evangelische Kirche im Rheinland hat nach ausführlicher Diskussion für das zweite theologische Examen ein neues Prüfungsfach installiert: das »Theologische Alltagsgespräch«. In einer 20-minütigen Prüfung müssen die Kandidat_innen, ausgehend von einer der »Erwin-Fragen«, ihre »dogmatische Alltagskompetenz« (Michael Meyer-Blanck) unter Beweis stellen. Dies hat dazu geführt, dass die Vikar_innen sich in dieser Kompetenz schulen. Durch eigene Lektüre, in Arbeitsgruppen und Rollenspielen werden die einschlägigen Fragen systematisch- und biblisch-theologisch durchbuchstabiert, zudem werden verständliche Argumentationsfiguren, gelungene Elementarisierungen, ansprechende Bilder und Beispiele gesucht, die helfen, den entsprechenden Sachverhalt einem »normalen Gemeindeglied« gesprächsweise nahezubringen. Da diese Fähigkeit gerade angesichts zunehmender Konfessionslosigkeit, aber ebenso im Blick auf den interreligiösen Dialog heute von besonderer Dringlichkeit ist, nehmen Vikar_innen den durch die Prüfungsordnung zugespielten Ball gern auf.
Wie richtige Theologie falsch wird1
I.
Der Anlass
Anlass für meine Überlegungen ist der in unserer Kirche immer wieder zu beobachtende problematische Gebrauch von in sich richtigen theologischen Aussagen bzw. Gedanken. Er findet sich verstärkt, seit die Kirche in Deutschland auf Grund knapper werdender finanzieller Mittel, gepaart mit sinkenden Mitgliederzahlen, gezwungen ist, über Reformen nachzudenken. Ich nenne drei Beispiele: »Wir sind es doch nicht, die die Kirche bauen« – diese Aussage ist gut reformatorisch, sie kann sich auf Confessio Augustana VII berufen und auf Frage 54 des Heidelberger Katechismus. Sie wird aber bisweilen herangezogen, um notwendig gewordene gemeindliche Um- oder auch Abbaumaßnahmen (Fusionen etc.) oder Bemühungen um Gemeindeaufbau zu blockieren. »Keine Gemeinde soll über eine andere herrschen« oder auch: »Theologie des Dienstes« (wieder in sich wohlbegründet) – diese Aussagen können Überlegungen zu angemessenen Entscheidungs- und Leitungsstrukturen verhindern. Dazu gehört oft, dass Macht in der Kirche in jeder Form unter Generalverdacht gestellt wird. »Der Geist wirkt wo und wie er will« – deshalb gehöre die Frage nach der Qualität pastoraler Arbeit in den Bereich des Unverfügbaren. Zum theologischen Widerstand gegen Formen von Qualitätsmanagement werden noch weitere Topoi in Anschlag gebracht: rechtfertigungstheologische oder auch ideologiekritische: »Eine an Barmen VI orientierte Kirche kann sich doch nicht auf kapitalistisch grundierte Managementmethoden einlassen …« – »Die Kirche Jesu Christi ist doch kein Betrieb …«
Es geht jetzt nicht darum, die eine oder andere Streitfrage inhaltlich differenziert zu klären – vielleicht haben Sie hier ja ganz andere Probleme. Es geht mir um die grundsätzliche Frage des theologischen Verfahrens. Bisweilen merkt man spontan, dass etwas nicht stimmt; dass Theologie (unbeschadet ihrer ›internen Richtigkeit‹) falsch ist, weil sie miss1 Gastvortrag zur Eröffnung des Sommersemesters der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 12. April 2016. In veränderter Form vorgetragen im Nov. 2015 an der Reformierten Theologischen Universität Debrecen anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde.
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Wie richtige Theologie falsch wird
braucht wird als Rationalisierungsinstrument zur Aufrechterhaltung der eigenen Widerstände – und das findet sich auch in anderen Feldern kirchlichen Handelns! Deshalb möchte ich im Folgenden zeigen, wie sich in den angedeuteten Fällen Strukturen eines falschen Theologiegebrauchs aufdecken lassen. Vor allem unter Rückgriff auf Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV,3 werde ich versuchen, solche Strukturen theologisch einsichtig zu machen, in der Hoffnung, dass sich dann missverständliche oder verfahrene Gesprächssituationen besser klären lassen, aber auch im Sinne einer theologischen Prophylaxe.
II.
Ein Fallbeispiel: Zur Einstimmung
Zur vertiefenden Einstimmung in die Problematik nun ein ausführlicheres Beispiel aus meiner Arbeit im Predigerseminar. Im Rahmen der Seelsorgeausbildung müssen die Vikare und Vikarinnen Protokolle über ihre Gespräche anfertigen. Ein solches (authentisches) Protokoll möchte ich Ihnen jetzt vorstellen. Die Situation: Ein Seelsorger (S) besucht ein Gemeindeglied, nennen wir es Herrn Werner (HW), im Krankenhaus. Das Gespräch läuft freundlich hin und her. Für den Seelsorger ist es ein, wie man so sagt, »leichtes Gespräch«; es tun sich keine Untiefen auf, und außerdem ist Herr Werner auf dem Wege der Besserung. Bevor wir uns jetzt in die Schlussphase dieses Besuchs einschalten, muss ich noch erwähnen, dass sich zwei weitere Personen im Zimmer befinden: die Frau von Herrn Werner (FW) sowie der Bettnachbar (HK), den wir gleich näher kennenlernen werden. S
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Herr Werner, ich habe Ihnen ein Faltblatt mitgebracht, auf dem der Predigttext für den kommenden Sonntag, eine kurze Predigt und ein Gebet stehen. Ist es Ihnen recht, wenn ich jetzt noch etwas lese? Ich habe ein Lied ausgesucht, in dem von der Hilfe Gottes die Rede ist. Da bin ich nicht so für, aber das Blättchen nehme ich gerne. Das lese ich dann, wenn ich Zeit habe. Gott hilft? (Er beugt sich in seinem Bett nach vorn) Glauben Sie das? Gott hilft nicht, sonst wäre ich ja nicht hier. Gott gibt einem immer nur aufs Haupt (HK lehnt sich zurück). Ich glaube schon, dass Gott hilft. Ohne diesen Glauben könnte ich hier gar keine Besuche machen. Gott gibt andauernd einen aufs Haupt, aber entschuldigen Sie, dass ich mich einmische. Ist das Ihre Erfahrung, dass Gott Sie bestraft?
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Ja, sehen Sie mal, da arbeitet man immer, damit man auf die Beine kommt. Und wenn man dann über den Berg ist, mit der Familie, Einrichtung und so – bums, da liegt man auf einmal hier im Krankenhaus. Gott haut einen drüber (HW sympathisiert durch Kopfnicken mit HK). Ja, das ist Ihr Eindruck von Gott. Andere Menschen haben mit Gott andere Erlebnisse gehabt. Die haben erlebt, dass Gott hilft. Sie haben das so erlebt, andere so. Nein, das kenne ich wirklich nicht. Gott schlägt einen nieder. Er interessiert sich nicht für uns. In einer kirchlichen Arbeitsgruppe, wo ich mitarbeite, habe ich gehört, dass Gott durch Jesus selbst in der Welt gelitten hat. So haben sie es da gesagt. Ja das stimmt! Gott leidet mit an der Welt. Darum ist Jesus am Kreuz gestorben (es folgt eine längere Ausführung über das Mitleiden Gottes). Er hätte die Welt besser zugeschüttet. Meinen Sie das? (Pause – S weist auf ein Poster an der Wand, es zeigt ein Frühlingsmotiv: Ein blumenumsäumter Teich, darauf eine Ente mit ihren Küken. Dann sagt S:) Es ist doch gerade die Zeit, wo die Natur erwacht und die jungen Vögel ausfliegen. Die Vögel fehlen uns gerade noch. Die fangen gerade dann an zu zwitschern, wenn wir morgens um 4.00 Uhr zum Schlafen kommen. Und um 6.00 Uhr kommen schon die Schwestern. Den Schnabel sollte man den Vögeln verstopfen. (pflichtet bei:) Ja so ist das. In aller Herrgottsfrüh’ fangen die an zu zwitschern. Und die hindern uns dann beim Schlafen. Unser Hahn kräht auch immer um 5.00 Uhr. Das stört mich schon gar nicht mehr.
Ich breche hier ab. Die Gesprächspartner bleiben noch etwas beim Thema Ruhestörung, kurz darauf verabschiedet sich unser Seelsorger.
Es ist offensichtlich, dass das Gespräch problematisch verläuft, obwohl – oder müsste man sagen: weil – der Vikar sich theologisch redlich bemüht. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil alle theologischen Antworten, die der Vikar versucht, für sich und als solche nicht falsch sind: weder das persönliche Bekenntnis (»Ich glaube schon …«) noch der Hinweis auf positive Erfahrungen anderer (Wolke der Zeugen: »Sie haben das so erlebt, andere so«) noch erst recht der Hinweis auf das Mitleiden Gottes oder das Schöpfungsmotiv, welches, nimmt man die kitschige Einfärbung einmal weg, sich durchaus auf biblische Vorbilder berufen kann (vom Schluss des Hiobbuches bis hin zur Bergpredigt Jesu).
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Mir geht es im Folgenden weniger darum zu fragen, was hier seelsorgerlich falsch läuft, sondern was hier (wie in den eingangs angedeuteten Beispielen) theologisch-grundsätzlich geschieht, wobei sich zeigen wird, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist. Weil mich unser Vikar in seinen gut gemeinten, aber seelsorgerlich kontraproduktiven Versuchen an die Freunde Hiobs erinnerte, las ich noch einmal die Analyse des Hiobbuches in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths und stieß auf ein faszinierendes Kapitel Barthscher Theologie, das weit über das Seelsorgebeispiel hinaus für unsere gesamte Fragestellung erhellend ist: KD IV,3, wo Barth in seiner Sündenlehre (§ 70) eine Analyse des falschen Umgangs mit Theologie liefert um dann im entsprechenden Ekklesiologieparagraphen (§ 72) grundsätzliche, Orientierung bietende Unterscheidungen zu treffen, die helfen können, die hier zur Sprache stehenden Verirrungen zu verstehen und wenn möglich zu vermeiden.
III.
Theologische Impulse aus Kirchliche Dogmatik IV,3 2
Im 3. und letzten Teil seiner Versöhnungslehre handelt Barth vom prophetischen Amt Jesu Christi: Er selbst, der lebendige Auferstandene, bezeugt kraft des Heiligen Geistes die in ihm erschienene Wahrheit (vgl. Barmen I: »Jesus Christus … ist das eine Wort Gottes …«). Nach der Entfaltung der christologischen Position geht es in der Sündenlehre (§ 70) um die »spezifisch christliche Gestalt der Sünde« (432), nämlich um die Frage, was geschieht, wenn Christen mit dem wahren Wort der Prophetie des Auferstandenen in Berührung kommen. Statt Christus als lebendigen Zuspruch und Anspruch gelten zu lassen, lehnt der von ihm Angesprochene ihn nicht etwa ab, aber er versucht, ihm gleichsam elegant auszuweichen (502ff), indem er »den wahrhaftigen Zeugen dadurch zum Schweigen bringt, dass er ihn patronisierend, interpretierend, domestizierend, akklimatisierend …, leise aber bestimmt und folgenreich korrigierend in seine Mitte nimmt …« (504). Deshalb ist die christliche »Lüge« auf den ersten Blick so schwer zu entlarven: »Die richtige, saftige Lüge duftet immer nach Wahrheit« (504). Man könnte auch sagen: Im sündigen Umgang mit der Wahrheit geht es um die Aufhebung der Grenze zwischen Gott und Mensch, es geht um menschliche Selbstermächtigung in theologischem Gewand. 2 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV,3, 1. Hälfte, Zollikon-Zürich 1959; die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Band.
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Die biblischen Protagonisten für diese Gestalt der Sünde sind für Karl Barth die Freunde Hiobs. Diese haben Unrecht »in ihrer eigentümlichen Art, Recht zu haben« (523). Auf dreifache Weise gehen sie theologisch in die Irre: 1. Sie nehmen den Ort Gottes ein. Wie der Vikar in unserem Beispiel verbleiben sie nicht an der Seite des von Gott Angefochtenen, sondern verteidigen ihm gegenüber Gott und vergrößern so dessen Verzweiflung. Dazu Barth: »Wer vom Standpunkt Gottes denken und reden zu können meint, der hat, indem er Recht hat … schwerstes Unrecht« (526). 2. Sie machen aus dem lebendigen Gotteswort eine »zeitlose Wahrheit« (526). Was bei Hiob (wie bei Herrn K) schmerzliche Begegnung mit Gott ist, also geschichtliche Erfahrung, gerinnt bei ihnen zur »Lehrsaaltheologie«: »Sie reden … von Wahrheiten, die nichts kosten und darum auch nichts wert sind« (527). Im Beispiel bringt der Vikar (anknüpfend an eine Aussage von Frau W) das »Mitleiden Gottes« ins Spiel und erhält als Reaktion: »Er hätte die Welt besser zugeschüttet.« Mit Ulrich Eibach gesprochen verwechselt er ein Lebensproblem mit einem Denkproblem3. Wenn ich theoretisch über die Theodizee nachdenke, mag die theologische Figur vom Mitleiden Gottes hilfreich sein, hält sie doch fest, dass Gott alles andere ist als der gefühllose Allverursacher; dass er sich vielmehr in das Leiden der Welt hineinbegibt, anstatt sich das Geschick seiner Menschenkinder von der Bühne aus in Zuschauerpose anzusehen. Als Antwort an den vom Leid akut Betroffenen ist diese Antwort in der Regel aber kontraproduktiv. Nicht nur, weil bei vielen Betroffenen »die Vorstellung von der Allmacht Gottes so stark und tief verwurzelt ist und sich auch mit dem Wunsch nach Heilung verbindet« (Eibach, 52), sondern auch, weil die Auskunft, der, den ich als Verursacher meines Leids ansehe, leide mit, nachgerade zynisch klingen kann, nach dem Motto: »Der Vater leidet am meisten darunter, dass er dich verprügeln muss«. Es ist im Blick auf alle Bereiche pastoralen Handelns ein wichtiger Zugewinn an theologischer Kompetenz, wenn Vikare lernen, dass die exegetische und dogmatische Richtigkeit einer theologischen Aussage nur erst notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ihrer Angemessenheit ist. Mehr noch: Je nach Kontext wird die (›an sich‹) richtige Aussage zur falschen.
3. Mit (2.) zusammenhängend: Die Freunde argumentieren in abstrakten Systemen, in bekannten Formeln, in »heiligen Clichés« (KD IV,3, 528) und untergraben in ihrer Verkennung der Situation die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen. 3 Vgl. Ulrich Eibach, Der leidende Mensch vor Gott. Theologie in Seelsorge, Beratung und Diakonie, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1991, 13–65.
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Diese Ausführungen machen deutlich, welches die theologische Tiefenproblematik des oben wiedergegebenen Gespräches ist; zugleich wird einsichtig, warum diese Weise, theologisch zu agieren, nicht nur die Lebendigkeit Gottes verkennt, sondern im Blick auf den Angesprochenen schädlich ist. Im Seminar habe ich die im Gespräch entstehende Konstellation als Figur aufgestellt: Ein Vikar sitzt mir als seinem Seelsorger gegenüber und stellt sich vor, eine andere Person (die seitlich von uns beiden sitzt) habe auf eine schreckliche Weise sein Leben zerstört. Nun zeigt er auf diese Person und sagt zu mir: »Der hat mein Leben zerstört!« Ich erhebe mich, trete an die Seite des Angeklagten, lege meinen Arm um seine Schulter und antworte dem leidenden Vikar: »Dieser Mensch hat aber auch gute Seiten.« Oder: »Ich habe den auch schon anders kennengelernt.« Oder: »Das tut dem selbst am meisten leid.« Schlagartig wird das Unmögliche, das Ungehörige solchen Redens evident. Man mag vorher hin und her diskutiert haben (»Man muss doch falsche Vorstellungen auch mal korrigieren dürfen!«), in diesem Moment ist alles klar – und das kommt auch der Theologie zugute!
Einige Stichworte weisen schon über das betreffende Beispiel hinaus auf andere Bereiche eines problematischen Theologiegebrauchs – ich nenne nur: »Situationsvergessenheit«, »zeitlose Wahrheit«, reden in »heiligen Clichés«. Wir vertiefen dies, indem wir mit Barth fragen, was denn die Aufgabe der christlichen Gemeinde im Umgang mit ihrem Auftrag wäre, »die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmen VI). Dazu einige Anmerkungen, die Barths Erwägungen in § 72 (vor allem 72,3: »Der Auftrag der Gemeinde«4) aufnehmen. Es geht in der Wahrnehmung des Auftrags der Kirche darum, zwei sich komplementär zueinander verhaltende Gefahren zu meiden: Auf der einen Seite gilt es, die Lebendigkeit des Evangeliums nicht zu verkennen. »Die Güte des Herrn ist alle Morgen neu« (Klgl 3,23). Und weil das Evangelium das Wort des lebendigen Auferstandenen ist, darf es nie zur situationslosen, zur situationsunabhängigen »zeitlosen Wahrheit« verkommen. Es ist lebendiges, konkret bezogenes Wort im hic et nunc oder falsches Wort. Zeitloses theologisches Reden, welches meint, die Situation der Angesprochenen vernachlässigen zu können, wird schnell zur Indoktrination. Im Grunde funktionieren so die Fundamentalismen in allen Religionen, an denen wir zu Zeit zu leiden haben. 4 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV,3, 2. Hälfte, Zollikon-Zürich 1959, 910– 950.
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Die Kehrseite dieser Gefahr ist nach Barth die Verkennung der Konstanz des Evangeliums. In diese Richtung drohen Theologie und Kirche ihrer Sache verlustig zu gehen: »… nun soll das Evangelium nämlich in dem Sinn zeit- und situationsgemäß werden, dass es sich statt an die Zeit nach der Zeit richtet, dass es aus einem in die Situation hineingesprochenen zu einem aus den Anliegen, Bedürfnissen und Bestrebungen der Situation heraus geformten Wort wird. Es wird dann in der Weise … auf die gegenwärtige Lage zugespitzt, dass es von den ihm fremden Voraussetzungen der Lage aus interpretiert wird und damit seiner Einheit und Konstanz verlustig geht.« Kurz: Die Gemeinde verliert »den ihr lebensnotwendigen unmittelbaren Kontakt mit ihrem lebendigen Herrn« (943). Situationsvergessenheit (zeitlose Wahrheit) und Situationsbesessenheit (verratene Wahrheit) sind die beiden Gefahren, die das (Wort- und Tat-)Zeugnis der Kirche zu vermeiden hat. Die Ausgangsfrage bringt es mit sich, dass ich mich in meinen Ausführungen auf die situationsvergessene Fehlgestalt konzentriere, denn sie ist diejenige, in deren Folge es zum falschen Gebrauch richtiger Theologie kommt. Ich will aber wenigstens anmerken, dass Situationsbesessenheit, in der am Ende Theologie schlicht keine prägende Rolle mehr spielt, nicht minder schlimm ist; auch sie ist heute zu finden – aber das wäre ein eigenes Thema. Im Grunde lassen auch alle eingangs angedeuteten Beispiele einen hinreichenden Situationsbezug vermissen. Nehmen wir nur noch einmal das ganz zu Anfang Genannte: Dass nicht wir es sind, welche die Kirche bauen, ist theologisch völlig richtig. Aber es wäre ja sofort zurückzufragen: Stellt eine Gemeinde, eine Kirche, die aufgrund zurückgehender Mitgliederzahlen schmerzliche Einschnitte vornimmt bzw. fragt, wie sie ihren Mitgliederbestand erweitern oder zumindest halten kann, diese theologische Wahrheit durch ihr Planen und Tun infrage? In der Gegenprobe müsste plausibel gemacht werden, dass und inwiefern die theologische Aussage die Ausgangsproblematik zu lösen vermag, ohne schmerzliche Veränderungen vorzunehmen. Oder man müsste so weit gehen, theologisch zu begründen, inwiefern hier gar kein Problem vorliegt! So oder so: Theologie wird erst dann richtig, wenn sie bezogene Theologie, Theologie in Kontakt ist. Ich ahne immer Böses, wenn bei der Frage nach gemeindlichen Veränderungsprozessen konkreten Zahlen mit theologischen Statements begegnet wird (Entsprechendes ließe sich auch bei den anderen Beispielen aufzeigen). Halten wir noch einmal fest: Richtige Theologie muss bezogene Theologie sein. Sie bedarf der möglichst genauen Wahrnehmung und Analyse der Situation – sonst wird sie falsch.
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Dabei ist zu beachten: Ein situationsvergessenes Theologisieren schlägt sich häufig schon in der Form nieder. Wer die christliche Botschaft als zeitlose Wahrheit missversteht, neigt dazu, das Zitat in den Rang eines Argumentes zu erheben, nach dem Motto: »Es steht geschrieben«. Dabei ist es gleich, ob ein theologischer Topos zitiert wird (»Rechtfertigung«) oder ein Bibelwort (»Der Geist weht, wo er will«). Dieses Vorgehen ist daher besonders problematisch, weil hier nicht nur der aktuelle Situationsbezug fehlt, sondern zugleich die ursprüngliche Lebendigkeit, sprich: die Geschichtlichkeit und also Bezogenheit der im Zitat ausgedrückten Wahrheit selbst auf der Strecke bleibt. So aber werden aus lebendigen, Leben schaffenden Worten tötende Buchstaben. Es ist deshalb nicht von ungefähr, dass der Streit um die theologische Bewertung sexueller Orientierung, der zur Zeit nicht nur einzelne Kirchen, sondern die weltweite Ökumene belastet, sich vor allem an der Frage des Schriftgebrauchs festmacht. Biblizismus und Domatismus bilden die besonders gefährlichen Auswüchse einer sich als Gralshüter (Wächter) zeitloser Wahrheiten missverstehenden Theologie. Dabei ließe sich aus der Bibel selbst lernen, dass mit richtigem Zitieren Falsches gesagt bzw. angerichtet werden kann. Ein besonders sprechendes Beispiel ist die Geschichte von der Versuchung Jesu (Mt 4,1–11), in der man dem Teufel alles vorwerfen kann, nur keine mangelnde Bibelkenntnis. Interessant ist auch die Geschichte von der Magd mit dem Wahrsagegeist (Apg 16,16–22): Was sie immer und immer wieder sagt, ist theologisch völlig korrekt: »Diese Menschen sind Knechte des allerhöchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkündigen« (V. 17). Trotzdem treibt Paulus diesen theologisch Richtiges redenden Geist aus. Warum? Hier nur soviel: Wirklich richtige Theologie geschieht in Freiheit und nicht aus Besessenheit. Deshalb vermeidet sie auch das permanente Selbstzitat. Sie hat nicht nur einen Bezug zur Situation, sondern auch ein Gespür für den rechten kairos. Und: Sie sollte nicht auf die Nerven gehen (V. 18: »Paulus war darüber so aufgebracht …«).
Ich schließe den Gedankengang mit zwei weiteren Hinweisen: 1. Richtige Theologie droht falsch zu werden, wenn sie eingespannt wird in das Schema einer Ja-nein-Logik. Gerade im Eifer des Gefechtes geschieht das schnell, und man vergisst, dass dieses Schema der Vielfalt und dem Reichtum des Lebens oft nicht gerecht wird. Es gibt eben auch ein »Sowohl-als-auch«! Es gibt Abstufungen: »Zwischen Alles und Nichts ist Etwas« (Blaise Pascal), und es gibt – nicht zu vergessen – Komplementarität, wo nur miteinander logisch nicht zu vereinbarende Aussagen das Ganze in den Blick zu nehmen vermögen;
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z.B. Sünde als Verhängnis – Sünde als Schuld; Predigt als Wort Gottes – Predigt als menschlicher Verständigungsversuch. Ein wichtiges Prinzip jüdischer Schriftauslegung lautet: Dieser Satz ist nur richtig, weil der andere – der das genaue Gegenteil beinhaltet – auch richtig ist. Der richtige Gebrauch von richtiger Theologie zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass er erkennt, welche Logik im Einzelfall die angemessene ist. Schon in der Reformationszeit wurde darum gerungen, welche Streitfragen das Zentrum des Evangeliums so grundsätzlich tangieren, dass eine klare Entscheidung gefordert ist (status confessionis) und bei welchen eine Mehrzahl von Entscheidungen möglich ist (adiaphora). Auch dazu gibt es lehrreiche biblische Beispiele. Man vergleiche nur Gal 2, wo für Paulus um der Reinheit des Evangeliums willen nur eben »Widerstand« (V. 11) angesagt ist, mit 1Kor 8. Auch im zweiten Fall ist für Paulus klar, wer theologisch richtig liegt, nämlich zweifellos die »Starken«. Dies wird auch festgehalten, aber dennoch rät Paulus, das Verhalten um der Liebe und also um des Gemeindeaufbaus willen an den »Schwachen« zu orientieren. Es gibt also auch dies: einen theologisch wohlbegründeten Verzicht auf das theologische RechtBehalten.
Zumindest bei uns in Deutschland findet sich gerade im reformierten Bereich (in dem ich mich einigermaßen auskenne) eine gewisse Neigung, den Geltungsbereich der Ja-nein-Logik (bzw. der Entwederoder-Logik) eher auszuweiten: Es gehe schließlich um »mutiges Bekennen«, um »klare Position«. Dagegen wird das Sowohl-als-auch oder ein Denken in Abstufungen als Laxheit oder Profillosigkeit verdächtigt – schade! 2. Schließlich muss noch einmal auf die Fundamentalunterscheidung und rechte Zuordnung hingewiesen werden, mit der jede sachgerechte Theologie steht und fällt: die Unterscheidung von Gott und Mensch. Fällt diese Unterscheidung, wird alles falsch: sei es, weil Gott dann heillos ›verkleinert‹ oder der Mensch gefährlich ›vergrößert‹ wird. Alle anderen für die Theologie wesentlichen Unterscheidungen sind im Grunde ein Derivat dieser grundsätzlichen. Dies gilt nun auch im Blick auf die Kirche und ihr Handeln: Sie ist, noch einmal mit KD IV,3 gesprochen, »ganz abhängig von ihrer Umgebung und ganz frei ihr gegenüber« (840). Sie ist ganz Menschenwerk und steht als Ganzes unter der Verheißung, dass in ihr der Heilige Geist wirkt, wann und wo er will. Beschränkt man sich nun lediglich auf eine Hälfte dieser komplexen Wahrheit, so mag diese Hälfte, zumal wenn sie die göttliche Seite der Kirche betont, ganz fromm und rechtgläubig
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daherkommen. Aber weil entsprechende Aussagen eben zu 100 % halb richtig sind, werden sie ganz falsch. Dies ist der entscheidende Grund dafür, dass beim Nachdenken über die Kirche und die pastoralen Dienste deren empirische Seite nicht vernachlässigt oder gar zugunsten ihrer geglaubten Wahrheit ausgeblendet werden darf. Dass nicht wir es sind, die die Kirche erhalten, bleibt unaufgebbare Wahrheit – aber gerecht werden wir ihr nur, wenn wir im Licht dieser Wahrheit alles Menschenmögliche unternehmen, um dem Wirken Gottes nicht im Weg zu stehen. In diesem Sinne gilt es, alles zu prüfen und das Gute zu behalten.
IV.
Ausblick
Es sollte deutlich geworden sein, dass Theologie eine notwendige, zugleich aber eine in besonderer Weise gefährliche und gefährdete Funktion kirchlichen Lebens darstellt; auch wenn sie sich in subjektiv ehrlicher und verantwortungsvoller Weise bemüht, dem überlieferten Glauben nachzudenken und dieses Denken für die Kirche fruchtbar werden zu lassen. Barths Ausführungen über die »fromme Lüge« haben gezeigt, dass die Theologie für sich und als solche alles andere als eine »Teufelswaffen-freie-Zone« darstellt – im Gegenteil. Dieser Sachverhalt hat sich mir auf besonders eindrückliche Weise beim Besuch einer Reformierten Kirche in Südafrika erschlossen. Der einzige Blickfang in dem ansonsten nüchtern gestalteten Raum ist ein Kanzeltuch, auf dem in großen Lettern das Wort steht: »Freund, wozu bist du gekommen?« Nach Mt 26,50 richtet Jesus diese Frage an Judas, als dieser ihm den verräterischen Kuss gegeben hat, um ihn den Häschern zu überantworten. Eigentlich schockierend: Das Kanzeltuch befragt die versammelte Gemeinde, ob ihr Gottesdienst und damit auch ihre Theologie ein Judasdienst sei! Damit greift es den eigentümlichen Tatbestand auf, dass im Neuen Testament die Weitergabe des Glaubens mit dem gleichen Wort bezeichnet wird wie die Auslieferung Jesu an seine Feinde, die wir gemeinhin mit »verraten« übersetzen: paradounai ! Mit dem Stichwort »Tradition« (paradosis) ist also nicht nur ein Lebensmittel, sondern auch eine Lebensgefahr der Kirche aufgerufen. Denn wo immer die biblische Wahrheit laut wird, geschieht der Struktur nach das Gleiche, was der Apostel Judas in Gethsemane getan hat: Göttliches wird den Menschen überliefert. Und wie damals stehen Austeilende wie Empfangende in der Gefahr, schuldig zu werden; sei es, dass sie die Überlieferung für ihre selbst gewählten Zwecke einspannen, sei es, dass sie
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sich deren Wahrheit vom Hals halten wollen, sie kreuzigen. Wir haben gesehen: Auch und gerade ein expliziter Bezug auf die biblische Offenbarung ist kein Garant gegen Sünde und menschliches Versagen, sondern deren beliebteste Tarnkappe. Es gab und gibt nicht nur eine unselige Traditionsvergessenheit, sondern auch eine berechtigte heilige Scheu, allzu selbstverständlich mit Gottes Wort umzugehen! Dies soll uns freilich nicht lähmen oder verstummen lassen, aber achtsam sollen wir sein und selbstkritisch, gerade wenn wir uns anschicken, von Gott in der Welt zu reden. Unser theologisches Bemühen steht unter der Zusage, dass der im Wort Weitergegebene seine Wahrheit selbst ans Licht zu bringen vermag und in seiner Kirche heilsam wirkt. In diesem Sinne wünsche ich allen ein gesegnetes und erfolgreiches Semester.
Gerechtigkeit predigen Zur Frage einer homiletischen Umsetzung der Erklärung von Accra1
Bekennen und predigen sind aufeinander bezogen: Das in einer bestimmten Situation als Wahrheit des Glaubens Erkannte und Bekannte drängt danach, anderen Menschen weitergegeben zu werden, umgekehrt hat sich das Zeugnis der Kirche an ihrem Bekenntnis zu orientieren. Man könnte sogar noch weitergehen und sagen: Bekenntnis und Predigt sind miteinander verschränkt, weil jedes Bekenntnis ein Element der Verkündigung enthält und jede Predigt einen Akt des Bekennens darstellt. Gleichwohl gilt es festzuhalten: Bekenntnis und Predigt sind in aller Bezogenheit klar voneinander zu unterscheidende Sprechhandlungen. Dies macht schon der äußerliche Sachverhalt deutlich, dass es in einer Kirche eine überschaubare Anzahl von Bekenntnissen, aber eine schier unübersehbare Anzahl unterschiedlicher Predigten gibt. Das kann auch gar nicht anders sein, denn beim Bekenntnis handelt es sich – wenn es den Namen verdient – um das Ergebnis eines geistlichen Klärungsprozesses, um ein Konzentrat wesentlicher und verbindlicher Glaubenswahrheiten, die bei aller inhaltlichen Klarheit doch so allgemein und grundsätzlich formuliert sind, dass möglichst viele einstimmen können. Die Predigt ist Anrede an eine bestimmte Gemeinde zur bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Ihr geht es in der Regel nicht darum, einen geistlichen Prozess zu bilanzieren, sondern anzustoßen. Sie will nicht möglichst alle Christenmenschen, sondern gerade diese Gemeinde ansprechen; daher ist sie nicht darum bemüht, möglichst viel in allgemeinen Grund-Sätzen zu bündeln, sondern einen Aspekt des Evangeliums so ausführlich und konkret zum Leuchten zu bringen, dass er die Angesprochenen als sie betreffend zu erreichen vermag. 1 Zuerst veröffentlicht in: Martina Wasserloos-Strunk (Hg.), Ich bin gekommen, dass sie alle Leben in Fülle haben. Denken und Handeln für Gerechtigkeit, Hannover 2011, 17–27. Auf der 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra, Ghana, vom 30. Juli bis 13. August 2004 wurde ein »Bekenntnis des Glaubens im Angesicht von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung« beschlossen. Als »Accra Confession« hat es in der Reformierten Kirchenfamilie weltweit große Beachtung gefunden und wird seitdem auch von den anderen ökumenischen Weltbünden intensiv diskutiert. Der Wortlaut ist leicht zugänglich auf der Webseite des Reformierten Bundes: reformiert-info.de.
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In ihrem Zeugendienst muss die Kirche diese Unterscheidung beachten, sonst droht die Gefahr, durch ein allzu orts- und zeitgebundenes, allzu konkretes, also: »predigendes« Bekenntnis Menschen auszuschließen bzw. sie durch eine allzu orts- und zeitübergreifende, allzu grundsätzliche, also: »confessorische« Predigt schlicht nicht zu erreichen. Diese Unterscheidung will gerade dann beachtet sein, wenn, wie in Accra geschehen, eine Gemeinschaft von Christenmenschen, die von Kirchen aus aller Welt entsandt waren, zu einem neuen Bekenntnis gefunden hat. Gerade weil ein Bekenntnis möglichst viele erreichen und mitnehmen will, reicht es nicht aus, es nur möglichst breit bekanntzumachen, es überall laut und deutlich zu zitieren oder gar zu rezitieren, womöglich mit dem Hinweis, wie wichtig es sei. Ein Bekenntnis ist ja nicht das Ziel, sondern eine Etappe auf dem Zeugnisweg der christlichen Gemeinde bzw. Kirche. Zweifellos eine wichtige, weil hier im Hören auf die Heilige Schrift und im Wahrnehmen der Herausforderungen der Zeit verbindliche Orientierung gegeben wird. Ihre Relevanz erweist eine Orientierung aber erst dadurch, dass ihr die Gemeinde nun auch folgt, also ihren Weg des Zeugnisses und Dienstes in der angegebenen Richtung fortsetzt2. Dies hat die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra klar erkannt. Deshalb hat sie nicht nur den »Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit« geschlossen, dessen Herzstück das »Bekenntnis des Glaubens angesichts von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung« ist (im Folgenden nach dem englischen »Accra Confession« AC abgekürzt), sondern auch einen »Aktionsplan«, der Empfehlungen ausspricht, was aufgrund des Bekenntnisses in Zukunft zu tun ist. An erster Stelle steht die Empfehlung an die Gemeinden, sich durch »Gebete, Predigt, Unterricht und konkrete Solidaritätspakte am Protest der Menschen … zu beteiligen.« Dass der Aktionsplan mit der Verkündigung beginnt, entspricht unserem Verständnis von Kirche als creatura verbi divini. Deshalb wird die Verkündigung schon in der Erklärung selbst ausdrücklich genannt: »Die Generalversammlung ruft die Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbundes auf der Grundlage der Bundespartnerscheft auf, die nicht ganz einfache, prophetische Aufgabe zu übernehmen, ihren Ortsgemeinden den Sinn dieses Bekenntnisses zu vermitteln und zu interpretieren« (AC 39) 3. 2 Wir werden in Teil III sehen, dass es leider auch anders geht: Man kann mit der richtigen Wegbeschreibung in der Hand auf dem falschen Weg bleiben. 3 Der Wortlaut ist unglücklich, hat er doch etwas von unfreiwilliger Komik: Es spricht nicht eben für die Klarheit eines Textes, wenn es zu seiner Interpretation der Prophetie bedarf. Ein heute verfasster Text muss für sich selbst sprechen, oder er taugt nicht viel; er wäre dann gleich einem Witz, nach dessen Erzählung niemand
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Ich verstehe das so, dass die Kirchen ihre Verkündigung vor Ort an dem neu gewonnenen Bekenntnis ausrichten und insofern prophetisch predigen sollen. Das Ziel prophetischer Predigt besteht darin, zur Umkehr auf den Weg der Gerechtigkeit zu rufen (vgl. Mk 1,15) und zum Beschreiten dieses Weges anzuleiten. Worauf dabei zu achten ist, soll im Folgenden erörtert werden. I Gerechtigkeit predigen, das bedeutet indikativisch von Gott zu reden. Vor dem Anspruch, den Gottes Gebot an uns richtet, gilt es, die »Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmen VI). Denn Gerechtigkeit ist in der Bibel zuerst und vor allem eine zusammenfassende Umschreibung der guten Taten Gottes. In den Psalmen heißt es: »Was Gott tut, das ist herrlich und prächtig, und seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich« (Ps 111,2f). Darum werden die »Himmel seine Gerechtigkeit verkündigen« (Ps 97,6), »und Kinder und Kindeskinder sollen seine Gerechtigkeit rühmen« (Ps 145,7). Gottes Gerechtigkeit – das ist seine tätige Sorge für seine Schöpfung, das ist die achtsame Begleitung seines Volkes, das sind seine rettenden Taten und seine guten Weisungen. Gerechtigkeit, das ist sein offenes Ohr für die Schreie der Notleidenden, sein starker Arm, der die Gefangenen freimacht, und in all dem ist es Gottes leidenschaftliche Liebe zu den Seinen, die schrecklich zürnen kann über ihre Bosheit und Torheit und die doch nicht anders kann, als »barmherzig und gnädig« zu sein, »geduldig und von großer Güte« (Ps 103,8). Wo die überparteiliche, ein Rechtsprinzip verwaltende Justitia blind ist, ja geradezu blind sein muss, um sich vom Einzelfall nicht blenden zu lassen, da heißt es vom Gott Israels: Er sieht hin, er hört zu und er erhört – er betätigt die Freiheit seiner Liebe darin, jedem seiner Geschöpfe in seiner je besonderen Lage auf lebensförderliche Weise gerecht zu werden. Gerechtigkeit – das ist der Weg unseres Gottes durch die Zeit und den Raum seiner Schöpfung, auf dem er Israel und durch Israel der ganzen Welt Bund und Treue hält ewiglich und niemals loslässt das Werk seiner Hände. Und darum: »Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben« (Spr 12,28a). In der AC ist dieses prae der Gerechtigkeit Gottes vor allem menschlichen Bemühen im Blick. Deshalb sind den Ablehnungen wirtschaftlacht, woraufhin der Erzähler zu erklären versucht, warum er selbst beim Hören lachen musste – das macht die Sache nicht besser. Ich hoffe, mit meinem Verständnis des Absatzes 39 das im Text Gemeinte aufzugreifen.
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licher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung Glaubenssätze vorangestellt, die das Bekenntnis zum biblisch bezeugten Bundesgott entfalten. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, den Bekenntnischarakter der AC ausdrücklich zu würdigen. Denn er entspricht in besonderer Weise der Tatsache, dass für uns Christ_innen das Eintreten für Gerechtigkeit keine politische Meinungssache ist, sondern Antwort auf Gottes eigenes Wort und Werk, aus dem wir leben und zu dem wir uns im Glauben bekennen. Um dies deutlich zu machen, wird die Predigt das Lob der Gerechtigkeit Gottes allerdings viel klarer und ausführlicher zum Klingen bringen müssen, als dies im Bekenntnis von Accra geschehen ist bzw. geschehen konnte. Ich erinnere an das eingangs zum Unterschied von Bekenntnis und Predigt Gesagte. Wo in der AC in recht dürren theologischen Sätzen an Gottes Handeln erinnert wird, wird die Predigt, angeleitet durch die Geschichten der Bibel, so vom Heilshandeln Gottes erzählen, dass deutlich wird: Das damals Geschehene ist auch heute wahr, die Geschichte Gottes mit seinem Volk schließt meine Welt und meine Geschichte mit ein. Gott vermag meine Welt und mein eigenes Leben zu verwandeln, und er wird’s tun! Deshalb sollte die Predigt sich hüten, »gesetzlich« vom Evangelium zu reden (Manfred Josuttis). Dies geschieht immer dann, wenn der Eindruck entsteht, menschliches Tun könnte oder sollte Gottes Handeln ersetzen nach dem Motto: »Ostern geschieht, wenn wir gegen den Tod aufstehen …« Solche Predigt ist trostlos, denn sie lässt die Hörer_innen gerade an der Stelle mit sich allein, wo sie dringend auf Gottes heilvolles Handeln angewiesen wären. Wenn ich in dieser Hinsicht noch einmal auf die Generalversammlung zurückblicke, bleibt ein doppelter Eindruck: Das spirituelle Leben mit den vielen Gottesdiensten, Bibelgruppen und Gebeten legte ein glaubwürdiges Zeugnis vom Vorrang des Handelns Gottes ab. In manchen der theologischen Vorträge und Dokumente war das anders, da blieben die indikativischen theologischen Aussagen bisweilen so etwas wie »Pflichtübungen«, um schnell zum eigentlich Wichtigen, sprich: zur Ethik übergehen zu können. Deshalb finde ich es übrigens auch schade, dass bei genauem Hinsehen nur etwas mehr als die Hälfte der in der AC mit »ich glaube« beginnenden Bekenntnissätze im engeren Sinne vom Heilshandeln Gottes reden (17.18.20.24.30), wohingegen die anderen schon wieder bei unserem Tun sind, indem sie festhalten, wozu wir »aufgerufen« sind (so AC 22.26.28.32). Man ist geneigt zu warnen: Pelagius ante portas! Denn wenn schon Ethik in einem Bekenntnis, dann müsste zumin-
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dest deutlicher als in der AC gezeigt werden, wie der Gott, der uns aufruft, uns auch befähigt, seinem Ruf zu folgen. Dabei geht es hier beileibe nicht nur um dogmatische ›correctness‹ (sosehr unseren Texten theologische Genauigkeit gut tut!), sondern um eine zutiefst seelsorgerliche Frage: Was lässt Menschen auf ihrem falschen Weg verharren, und was hilft, sie zur Umkehr zu bewegen? Die Antwort finden wir in Jesu eigener Verkündigung. Jesus warnt immer wieder vor der Leben zerstörenden Macht des Mammon (vgl. Mt 6,24). Aber zugleich weiß er, dass Mahnungen ein schwaches Instrument sind, um Menschen zur Umkehr zu bewegen. Darum geht er in der Bergpredigt therapeutisch vor. Er diagnostiziert die Sorge als den Nährboden, in dem der Mammonismus allererst gedeiht. Der Grund für unsere Habsucht besteht nämlich darin, dass wir unbewusst alle in die Falle eines Mangelmodells laufen. Wir sind getrieben von der verrückten, aber gleichwohl realen Angst, es gäbe nicht für alle genug. »Was werden wir essen, was werden wir Trinken?« Diese sorgenvollen Fragen versteht Jesus als Symptom der uns ständig begleitenden Angst, nicht genug zu kriegen. Solange ich mich im Mangelmodell definiere, werde ich den Hals natürlich nie vollkriegen, ganz gleich, wie es um meine reale Einkommenslage bestellt ist, denn wer weiß, was noch kommt? Also muss ich über das Maß hinaus klammern und horten – wie schon die Kinder Israel in der Wüste, die es mit dem täglichen Manna nicht genug sein lassen konnten. Heilung kann nur aus dem Zuspruch erwachsen: »Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht« (V. 32). Deshalb weg vom Mangelmodell, weg auch von ethischen Appellen hin zu neuem Gottvertrauen: Entdeckt, wie reich ihr beschenkt seid! Um dieses Vertrauen wirbt Jesus mit seinen Hinweisen auf die Wunder der Schöpfung: Seht die Vögel unter dem Himmel, wie fürsorglich Gott sie nährt; bewundert die Lilien auf dem Felde, wie herrlich sie bekleidet sind – um wie viel mehr wird sich der Vater im Himmel euer annehmen. Und je mehr ihr dessen gewahr werdet, wie reich ihr gesegnet seid, desto mehr werdet ihr entdecken, dass ihr nicht aus dem Mangel, sondern aus der Fülle heraus lebt. Mit seiner Verkündigung nimmt Jesus die Seelsorge der Psalmen auf, die ja auch zum Gottvertrauen ermutigen durch das Erinnern der Güte Gottes: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat« (Ps 103). Ein besonders ansprechendes Beispiel solcher heilenden Seelsorge findet sich in der jüdischen Passahliturgie. Eines der Lieder, die im Verlauf der Feier gesungen werden, zählt all das Gute auf, das Gott seinem Volk hat zukommen lassen, und nach jeder einzelnen Tat lautet der Refrain: »Es wäre genug gewesen«. Also: Hätte Gott uns nur aus Ägypten herausgeführt,
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es wäre genug gewesen. Und so geht es dann weiter: Hätte er nur die Ägypter besiegt, es wäre genug gewesen. Und hätte er nur das Meer geteilt, es wäre genug gewesen. Uns durchs Meer geführt, genug. Uns in der Wüste versorgt, genug – und so weiter. Jede einzelne Tat der Befreiungsgeschichte wird als Geschenk Gottes eigens gewürdigt, wobei das »es wäre genug gewesen«, im Hebräischen »dajjenu«, stets mehrfach wiederholt wird: Es wäre genug gewesen, es wäre genug gewesen, es wäre genug, genug, genug gewesen. Nach Accra besteht unsere grundlegende Predigtaufgabe und zugleich unser unverwechselbarer christlicher Beitrag darin, in immer neuen Anläufen von Gottes Gerechtigkeit zu erzählen und sie unseren Hörer_innen so als freie Gnade zuzusprechen, dass sie trotz aller Angst und Not ihres Reichtums, trotz aller Schwäche ihrer gottgegebenen Stärke gewahr (vgl. 2Kor 6,3ff; 12,9) und so fähig und bereit werden, der Ungerechtigkeit zu widerstehen.
II Im Licht der Gerechtigkeit Gottes werden die »Werke der Finsternis« (Eph 5,11ff) offenbar. Deshalb bedeutet Gerechtigkeit predigen auch, die Ungerechtigkeit aufzudecken und beim Namen zu nennen. In der Perspektive der AC geht es dabei vor allem um die wirtschaftliche und ökologische Ungerechtigkeit, die in den Abschnitten 5 bis 14 als Folge der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung beschrieben wird und der im Bekenntnisteil im Licht der Glaubenssätze eine entschiedene Absage erteilt wird 4. Die Predigt wird die Kritik und die klare Ablehnung der menschen- und naturfeindlichen Wirtschaftsweise aufzunehmen haben. Aber auch hier gilt: Sie muss im je eigenen Kontext konkretisiert und weitergeführt werden. Vor allem muss sie so elementarisiert werden, dass sie verstanden und angenommen werden kann. Denn schließlich besteht das Ziel dieses Predigtteils darin, die Gemeinde von einem Irrweg abzuhalten bzw. sie ihrer Sünde (d.h. ihres Wandelns auf dem Irrweg) zu überführen. Dazu nun einige Hinweise: 1. Martin Luther übersetzt Klgl 3,29: »Was murren denn die Leute im Leben, ein jeder murre wider seine Sünde«. Man mag darüber 4 In der Folgezeit hat sich die Reformierte Kirchenfamilie im Gefälle der AC auch neuen Themen zugewandt; ich nenne für den europäischen Bereich nur die Flüchtlingsfrage.
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streiten, ob diese Übersetzung exegetisch haltbar ist5; zweifellos ist sie gesamtbiblisch stimmig und trifft auch die Intention des Textabschnittes, denn schon der nächste Vers betont: »Lasst uns erforschen und prüfen unseren Wandel und uns zum Herrn bekehren«. Wider die eigene Sünde murren, den eigenen Wandel prüfen – diese Ermahnung müssen die Prediger_innen unbedingt beachten. Denn wenn nur die Sünde der anderen aufgedeckt und angeklagt wird, dient dies der Gemeinde zur Selbstrechtfertigung – solche Gerichtspredigt ist jedoch nicht heilsam, im Gegenteil: Sie betäubt und führt ins Unheil. Damit will ich keinesfalls ausschließen, dass im Sinne der Parteinahme und Anwaltschaft für die, die keine Stimme haben, auch fremde Schuld angeklagt werden muss, nur darf das eine nicht auf Kosten des anderen geschehen. Mir scheint, die AC (wie die meisten Texte und Stellungnahmen der Generalversammlung von Accra) ist in dieser Hinsicht sehr europa- und amerika-›freundlich‹, denn sie bietet uns reichlich Material und Hilfestellung für unsere Aufgabe, das Sündhafte des eigenen Wandels zu erforschen. Das ist insofern sachgerecht, als die neoliberale Wirtschaftsordnung nun einmal von uns ausgeht. Gleichwohl stehen auch die Kirchen und Gemeinden des Südens vor der Aufgabe, ohne die ›Imperiumskritik‹ abzuschwächen nun auch die eigene Sünde in den Blick zu nehmen. Das hervorragende Afrikaforum während der Generalversammlung hat eindrucksvoll belegt, dass dies geschieht. Gerade deshalb fällt auf, dass die Hilfen, die die Texte von Accra dazu bieten, sehr blass, allgemein oder indirekt bleiben (vgl. etwa AC 34 oder die entsprechenden Passagen aus dem Aktionsplan). Hätten neben der Korruption nicht viel entschlossener auch die Kollaboration mit dem ungerechten Wirtschaftssystem angesprochen werden können? Hätte nicht bei der häufigen Erwähnung der HIV-Problematik auch die ›hausgemachte‹ Schuld deutlicher beim Namen genannt werden können? Man denke nur an die skandalöse Weise, in der sich ein Präsident Mbeki jahrelang in dieser Sache geäußert hat! Und wird nicht bisweilen der Eindruck von Monokausalität erzeugt, wo in Wirklichkeit mehrere Faktoren im Spiel sind (vgl. AC 5–13; trotz 11)? Das ›Imperium‹ ist gewiss ein sehr gewichtiger, aber eben nicht der alleinige Grund dafür, dass in Afrika grausame Kriege geführt werden oder dass ein Land wie Zimbabwe je länger je mehr zugrunde gerichtet wird. Ich will mit diesen Äußerungen in keiner Weise von unserer ›westlichen‹ Schuld ablenken oder gar Schuld gegeneinander aufrech5 Die Revised English Bible übersetzt anders, allerdings ist der hebräische Textbestand dieses Verses äußerst schwierig.
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nen. Aber wenn es um die Aufgabe geht, in den Gemeinden und Kirchen vor Ort Gerechtigkeit zu predigen, darf die Mahnung, den je eigenen Wandel zu prüfen, die je eigene Sünde (mit) in den Blick zu nehmen, nicht unbeachtet bleiben; andernfalls betrügen wir die uns Anbefohlenen um die Möglichkeit der eigenen Umkehr. Ich erinnere noch einmal an Jes 58, den Leittext der Generalversammlung von Debrecen. Historisch wissen wir, dass die wirtschaftliche Ungerechtigkeit, die der Prophet hier anklagt, von einem externen Faktor ausgelöst wurde: Die vom Perserkönig Darius I. (nach 521) durchgeführte Steuerreform erlaubt Abgaben nur noch in Münzform. Daran gehen die kleinbäuerlichen Betriebe, die nicht auf Überschussproduktion eingestellt sind (also nichts zu verkaufen haben), kaputt. Sie geraten in die Schuldenfalle und werden am Ende von den Großgrundbesitzern geschluckt. Diese innerisraelitische ›Verarbeitung‹ des von außen auferlegten Unrechts ist es, die der Prophet zum Brennpunkt seiner Sündenpredigt macht, eben weil ihm an der Heilung seines Volkes liegt. 2. Gerade für den die Sünde aufdeckenden Teil der Predigt gilt: Was hier gesagt wird, muss stimmen. Das klingt so selbstverständlich, ist es aber nicht. Immer wieder lässt sich in ethisch orientierten Predigten feststellen, dass Aussagen nur halb oder dreiviertel wahr sind, dass schlampig recherchiert wurde oder zu pauschal geredet wird. Das ist in unserem Zusammenhang deshalb besonders schlimm, weil sachliche Fehler es den Verstockten allzu leicht machen, sich auch die berechtigten Teile der Kritik vom Hals zu halten. Auf eine Falle sei (in Aufnahme von AC 11) besonders hingewiesen: Menschliches Zusammenleben ist nur in Ausnahmen und Grenzfällen mit dem Instrumentarium der Ja-nein-Logik (bzw. Entwederoder-Logik) zu erfassen. Das System der Apartheid war, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind solche Fälle, wo unser Entweder-oder gefordert ist. Öfter verhält es sich aber so, dass widerstreitende Werte in Balance zu bringen sind, anstatt sich für den einen und gegen den anderen zu entscheiden; so geht es in der Wirtschaft etwa um die Balance der Pole Gemeinwohl und Eigennutz und nicht um einen prinzipiellen Gegensatz. Ein anderes Beispiel betrifft den Gebrauch des »wir« in Äußerungen zum Thema Gerechtigkeit. Ich selbst bin je nach Zusammenhang Täter, Opfer, Mitbeteiligter, Mitleidender, Mitverursacher, Mitgeschädigter usw. Aber ich bin nicht immer alles gleichzeitig, und darum ist es wichtig, von Fall zu Fall genau zu fragen und genau zu reden; ein undifferenziertes »wir« verführt mich und meine Hörer_innen, sich auf die angenehme Seite zu retten.
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Zum genauen Reden gehört auch der Mut, im gebotenen Augenblick mit Petrus zu bekennen: »Ich bin ein sündiger Mensch« (Lk 5,8) oder mit Nathan zu sagen: »Du bist der Mann« (2Sam 12,7). 3. Schließlich: In dem die Sünde aufdeckenden Teil der Predigt wird es immer wieder darum gehen, auf die Not der besonders Benachteiligten aufmerksam zu machen und für ihr Leiden zu sensibilisieren. Dies gelingt nicht allein durch Statistiken, und seien sie noch so schrecklich. Sie sind zur Information der Gemeinde unerlässlich, aber vieltausendfache Opferzahlen lassen sich nicht fühlen. Anrühren lasse ich mich eher vom exemplarischen Einzelschicksal. In ihm wird das Unvorstellbare anschaulich, und der Anspruch an mich unabweisbar.
III Die Predigt der Gerechtigkeit erschöpft sich nicht darin, Ungerechtigkeit beim Namen zu nennen; ihr Ziel besteht vielmehr darin, die Gemeinde auf den Weg der Gerechtigkeit mitzunehmen bzw. sie zu ermutigen, auf diesem Weg zu bleiben. Dazu eine Vorüberlegung: Gerechtigkeit muss getan, der Weg der Gerechtigkeit muss beschritten werden. Jes 58 fordert nicht: »erkennt« oder: »benennt« oder auch: »bekennt«, sondern: »sprengt« die Ketten der Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit zielt auf Befreiungspraxis. Das macht kirchliche Worte, Stellungnahmen und Bekenntnisse zum Thema Gerechtigkeit nicht überflüssig, und doch ist hier auf eine latente Gefahr hinzuweisen, welche unsere Erklärungen gleichsam als ihr Schatten begleitet. Zum einen fördern Erklärungen – zumal wenn sie von hochrangigen oder repräsentativen Gremien beschlossen werden – die Illusion von Wirkung: als sei (nur) damit, dass das Richtige gesagt ist, das Recht schon aufgerichtet (vgl. die 11. Feuerbach-These von Karl Marx). Es hängt m.E. mit dieser Überschätzung der Worte zusammen, dass um einzelne Wörter oft so verbissen gekämpft wird. Salopp gesagt: Wir sollten mehr Energie ins Kochen stecken statt in die Redaktionsarbeit am Rezept. Und das andere: Erklärungen zur Gerechtigkeit bergen die Gefahr, die eigene Schuldverflochtenheit auszublenden: Redend hat man sich ja schon auf die ›richtige‹ Seite begeben. Ich bin immer wieder erstaunt, wie perfekt gerade wir engagierten Christ_innen eigene Geiz- und Gierstrukturen auszublenden vermögen 6. 6 Der Psychotherapeut Alfred Adler hat einmal sinngemäß gesagt: Schlechtes Gewissen, das sind die guten Absichten, die man nicht hat. Damit meint er, dass das
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Deshalb darf auch die Predigt nicht dabei stehen bleiben, die richtigen Einsichten zu vermitteln (so wichtig das ist7), sondern sie muss für die Gemeinde gangbare Wege aufzeigen, d.h. Hilfen zum Handeln bieten. Dabei ist zweierlei unbedingt zu beachten: 1. Ethische Anweisungen müssen erfüllbar sein. Nehmen wir den Satz: »Wir müssen alle dafür sorgen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht immer weiter auseinendergeht«. Ist dieser Satz erfüllbar? Theoretisch schon. Aber seine Erfüllbarkeit wird vielen Menschen nicht plausibel erscheinen: Wie soll eine Familie, die gerade genug hat, um über die Runden zu kommen, diese Mahnung umsetzen, und wie erst eine Sozialhilfeempfängerin? Und wie die vielen, die das Gefühl haben, ›die da oben‹ würden doch machen, was sie wollen. Ich glaube, in der Tat haben alle die Möglichkeit, etwas zu tun. Aber nur dann, wenn der/die Prediger_in es nicht beim pauschalen Appell belässt, sondern diesen ›erdet‹ und sich konkrete Gedanken darüber macht, wie die Mahnung von den Gemeindegliedern konkret befolgt werden kann: angefangen von der Frage, wofür sie eigentlich beten, über die Frage, an welchem politischen Programm sie sich orientieren, bis hin zu der Frage, ob ›Teilen-Lernen‹ eine Maxime ihrer Kindererziehung ist. Dazu noch ein Hinweis: Wir sollten uns hüten, die unterschiedlichen Handlungsebenen gegeneinander auszuspielen: Kampf gegen Kontemplation, politische Arbeit gegen Hilfe im Nahbereich, missionarischer Einsatz gegen soziales Engagement. Stattdessen sollten wir, belehrt durch die neutestamentliche Charismenlehre, unsere Gemeindeglieder dazu ermutigen, die je eigenen Gaben und Möglichkeiten zu entdecken und auf den Weg der Gerechtigkeit einzubringen. 2. Wer seine Gemeinde ermahnt, sollte sich über die Konsequenzen Gedanken machen. Ich habe folgende Begebenheit nie vergessen: Als junger Pfarrer forderte ich meine Gemeinde voller Überzeugung und mit flammenden Worten dazu auf, keine Waren der Apartheid zu schlechte Gewissen oft gerade das Maß an Selbstbestrafung darstellt, welches es mir ermöglicht, das ungeliebte Verhalten fortzusetzen; das schlechte Gewissen hilft dem Raucher – weiterzurauchen. In Abwandlung dieses Wortes ließe sich überspitzt formulieren: Gerechtigkeitserklärungen drohen die Wege zu kennzeichnen, die man selbst nicht beschreitet. 7 Besonders anspruchsvoll ist diese Aufgabe, wenn man sich bemüht, nicht nur die Negation, sondern auch die Position zu formulieren. Richtung und Linie versucht der der AC beigefügte Aktionsplan zu kennzeichnen; hier bleibt aber noch viel zu tun.
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kaufen. Unter anderem ging es dabei um silberne Krügerrandmünzen, die in einigen unserer Banken angeboten wurden. Eine Kindergottesdiensthelferin rief mich daraufhin an und fragte: »Nach fünfzig Bewerbungen habe ich nun endlich eine Stelle bei der Deutschen Bank in Aussicht, darf ich die annehmen? Dann muss ich aber diese Münzen verkaufen, von denen du in der Kirche gesprochen hast.« Diese Szene hat mich nachdenklich gemacht und auch beschämt. Es kann nicht darum gehen, dass wir unseren Mahnungen die gebotene Deutlichkeit oder Radikalität nehmen. Aber als Prediger_innen sollen wir wissen, was wir unseren Gemeindegliedern zumuten. Wer sich als Theologe für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit einsetzt, den kostet das (jedenfalls im deutschen Kontext) nicht viel. Im Gegenteil, wenn er sich nur genug engagiert, bekommt er vielleicht sogar eine kirchliche Beauftragung und kann sich mit interessanten Leuten rund um den Globus treffen. Bei unseren Gemeindegliedern geht es bei gleichem Engagement womöglich um Sein oder Nichtsein. Das müssen wir wissen, und der Respekt vor deren Schwierigkeiten muss auch unserer Verkündigung abzuspüren sein. Das Wichtigste zuletzt: Auch wo es um das gehorsame Tun des Menschen geht, darf die Predigt nicht aufhören, von Gott zu reden. Denn nach biblischem und reformatorischem Verständnis ist nicht nur unsere Rechtfertigung, sondern auch unsere Heiligung Gottes eigenes Werk (vgl. 1Kor 1,30; 1Petr 1,2). Gewiss geschieht die Heiligung nicht ohne uns, Gott hat uns ja zu seinen Bundespartnern erwählt, er will unsere Kooperation und darin unser freies, selbstverantwortetes Tun. Und doch ist er es, der das Wollen und Vollbringen in uns wirkt (Phil 2,13) 8. Die Predigt der Umkehr schöpft ihre Kraft nicht aus der Lautstärke der ethischen Appelle, sondern aus der Ermutigung, dass Gott uns viel zutraut (Mt 28,20), aus der Entdeckung der uns von Gott gegebenen Möglichkeiten (Röm 12), aus dem Gewahrwerden der Kraft des Geistes, mit der Gott uns im Kampf gegen die Mächte des Bösen ausstattet (Mk 16,17f; Eph 6,10–17). Ob der/die Prediger_in mit der Kraft des Geistes rechnet, wird sich nicht zuletzt daran zeigen, ob er/sie in der Lage ist, dessen Spuren im Leben der Gemeinde zu entdecken. Die Briefe des Apostels Paulus sind voll von dankbarem Wahrnehmen, Anerkennen und Aussprechen dessen, was in der Gemeinde an Gutem geschieht. Bei ihm sollten gerade die reformierten Prediger_innen in die Lehre gehen. Denn in dieser Hinsicht fand ich viele Vorträge und Dokumente der Gene8 So auch Barmen II: Unser Dienst an Gottes Geschöpfen entspringt seiner Befreiungstat.
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ralversammlung schlichtweg mangelhaft. Ein Außenstehender hätte den Eindruck gewinnen können, es würde über Gemeinden und Kirchen gesprochen, die sich ausschließlich auf dem Weg der Ungerechtigkeit verrannt haben und deshalb aufgerufen werden müssen, allererste Schritte in eine neue Richtung zu gehen. Es gibt unter uns eine Weise, sich in Kritik zu üben, die nichts mit Bescheidenheit oder gar Demut zu tun hat, sondern eine Missachtung der ermutigenden Taten der Gerechtigkeit ist, die auch in unseren Kirchen reichlich zu finden sind. Eine Predigt, welche die Früchte des Geistes nicht wahrzunehmen vermag, ist trostlos. Zur Predigt der Gerechtigkeit gehört auch die Kunst zu loben! Tun wir es Paulus nach, der schreibt: »Wir danken Gott alle Zeit für euch alle … und denken ohne Unterlass vor Gott, unserem Vater, an euer Werk im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus« (1Thess 1,2f).
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I.
Hinführung
Die Rede vom Gericht Gottes hat in der evangelischen Kirche nicht eben Konjunktur. Typische Szene aus dem Predigerseminar beim morgendlichen Bibelgespräch über einen einschlägigen Text: »Damit kann ich nichts anfangen«. Oder: »Das ist nicht mein Gottesbild«. Gesagt wird das mit einem Unterton, bei dem ein trotzig-selbstbewusstes »… und das ist gut so« mitschwingt. Damit liegen die Vikar_innen durchaus im Trend, viele ihrer Mentor_innen würden sich ähnlich äußern. Ein von Manfred Josuttis schon 1985 diagnostizierter Trend erweist sich als erstaunlich stabil: »Heute ist das Idol des Glaubens dadurch charakterisiert, dass Gott halbiert wird, aufgespalten und deglorifiziert. Er ist gut und nicht auch böse, klein und nicht auch groß, nah und nicht auch fern.«1 Gepredigt wird der Gott, »der dich annimmt, wie du bist« – wobei oftmals ausgeblendet bleibt, dass Gott dich nicht lässt, wie du bist, seine Annahme vielmehr auf Buße und Umkehr zielt. Der hier nur mit wenigen Strichen angedeutete Trend will jedoch in seiner Ambivalenz wahrgenommen werden. Positiv festzuhalten ist die Abkehr von einer kirchlichen Verkündigung/Unterweisung, die Menschen geängstigt und mit der Androhung ewigen Verderbens in Schrecken versetzt hat. Die Älteren erinnern sich vielleicht an das Bild vom breiten und schmalen Weg. Zwar fand man (wenn man ehrlich war), den breiten Weg mit Abstand lustiger und spannender, aber an seinem Ende erwartete einen das (detailreich ausgemalte) schiere Grauen. Und dieses Grauen würde ewig dauern. Wie lange »ewig« war, wurde uns so erklärt: »Stell dir vor, der Mount Everest wäre ein Diamant. Alle tausend Jahre kommt einmal ein Vogel geflogen, um dort seinen Schnabel zu wetzen. Und wenn einmal der ganze Berg abgetragen sein wird, dann ist – eine Sekunde der Ewigkeit vorüber«. Oft ging solche Unterweisung mit religiös unterfütterter schwarzer Pädagogik einher. 1 Manfred Josuttis, Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit. Homiletische Studien, München 1985, 165. Vgl. auch Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn, 8 2016, 142ff.
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Aber auch der Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung birgt Gefahren. Denn jetzt wird Gott tendenziell zu einem harmlosen, uns Menschen narzisstisch bestätigenden Kuschelgott degradiert, der nur eben »lieb« ist und gegenüber der Macht des Bösen wirkungslos. Jürgen Ebach hat in diesem Zusammenhang des Öfteren an den besänftigenden Ausspruch von Hundebesitzern erinnert: »Keine Angst, der ist lieb, der tut nichts.« Dieser Trend ist auch und vor allem deshalb problematisch, weil er quer zur biblischen Botschaft steht. Die Bibel redet in beiden Teilen nicht nur vom Erbarmen Gottes sondern auch von seinem richtenden Handeln. Dem haben die Predigenden sich zu stellen, sonst müssten sie eine kaum übersehbare Fülle von Texten und von Glaubenszusammenhängen unterschlagen – bis hin zu dem Credosatz: »zu richten die Lebenden und die Toten«. Noch eine Notiz aufgrund ökumenischer Erfahrungen: Ich spreche hier von einem Trend in unseren Breiten. In vielen Teilen der Welt verhält es sich anders. Die Gerichtspredigt bildet in evangelikal-charismatischen und in pfingstlerisch geprägten Gemeinden und Kirchen eine unverzichtbare Säule der Verkündigung (»I once was lost, but now I’am found«); dies gilt, wenn auch mit eher gesellschaftspolitischen Konnotationen, für manche Spielart der Befreiungstheologie! Das legt die Vermutung nahe, dass die Frage nach dem richtenden Handeln Gottes (marxistisch ausgedrückt) auch etwas mit dem »Klassenstandpunkt« zu tun hat. Christen, die nichts zu verlieren haben als ihre Fesseln, sehnen sich in anderer Weise nach Gott als solche, die sich vor Einschränkungen und Verlusterfahrungen fürchten2. Ich werde mich zunächst der besonders vernachlässigten Frage nach dem zeitlichen Richten Gottes zuwenden (II), sodann der Frage nach Gottes Endgericht (III).
II.
Zur Predigt des zeitlichen Richtens Gottes
1.
Theologische Erinnerung
Folgt man dem biblischen Zeugnis, so erscheint Gottes richtendes Reden und Handeln als das notwendige Pendant zu seinem segnenden, rettenden und Orientierung gebenden. Ich nenne Beispiele: 2 Einen hervorragenden Überblick über theologische Strömungen des »global south« bietet Philip Jenkins, The New Faces of Christianity. Believing the Bible in the Global South, Oxford 2006.
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Die Geschichte vom »Goldenen Kalb« (Ex 32,1–35) erzählt, wie das Volk den Gott, der es aus der Sklaverei führte, verlassen hat und ihn eintauscht gegen einen selbstgemachten Götzen. Darauf sagt Gott zu Mose: »Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge …« (32,9). Damit ist die Geschichte allerdings nicht zu Ende. Wohl wird das Volk erfahren müssen, was es bedeutet, wenn Gott sich entzieht, auch wird es von Gott »geschlagen« (32,35), aber am Ende eines Prozesses der Fürbitte und der Umkehr kann Mose bekennen: »Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretungen und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand«. Deuterojesaja versteht das babylonische Exil als Vollzug des richtenden Handelns Gottes: »Wer hat Jakob der Plünderung preisgegeben und Israel den Räubern? Hat es nicht der Herr getan, an dem wir gesündigt haben?« (Jes 42,24) Auch schwere Verfehlungen Einzelner und Gruppen werden durch Gottes richtendes Handeln geahndet (Num 12,9; Dtn 29,18 u.ö.), und die Gerichtsprophetie wird nicht müde werden, vor Gottes Strafe zu warnen. Ein Beispiel: »Hört dies Wort, ihr fetten Kühe auf dem Berge Samarias, die ihr den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht zu euren Herren: Bringt her, lasst uns saufen! Gott der Herr hat geschworen bei seiner Heiligkeit: Siehe, es kommt die Zeit über euch, dass man euch herausziehen wird mit Angeln und, was von euch übrig bleibt, mit Fischhaken« (Am 4,1f; vgl. Zef 1,10–17). Dabei lässt sich die Botschaft von Gottes richtendem Handeln nicht auf das Alte Testament reduzieren, auf dessen Negativfolie der »neutestamentliche Gott der Liebe« nur umso strahlender ans Licht träte. Auch das Neue Testament erinnert an Gottes richtendes Eingreifen. Man denke nur an Jesu Weherufe: »Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn Ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn Ihr werdet weinen und klagen« (Lk 6,24f; vgl. Mt 19,23; 11,20– 24). Paulus warnt die Gemeinde in Korinth anlässlich ihrer ›asozialen‹ Abendmahlsfeiern: »Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich zum Gericht. Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen« (1Kor 11,29f). Die Mahnung zu geschwisterlichem Umgang bekräftigt Paulus mit dem Wort: »Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten« (Gal 6,7). Jakobus schließlich kann denen, die Arme missachten sagen: »Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat« (Jak 2,13). Und den Reichen ruft er zu:
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»Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer.« (Jak 5,1–3)
Gottes Richten steht nicht im Widerspruch zu seiner Liebe, sondern ist die Gestalt, die seine Liebe annimmt, um die Mächte des Bösen, der Sünde und des Todes einzudämmen und zu bekämpfen. Nur in diesem Sinne kann man vom Gericht als der »Kehrseite« der Liebe Gottes reden. Gott ist also nicht in sich uneins, so als würde er zwischen Liebe und Zorn wahllos hin und her geschüttelt. Vielmehr ist es der liebende Eifer um die Seinen, der seine Gerichte bestimmt. Sie dienen auf ihre Weise der Durchsetzung seines guten Willens. Gottes Zorn ist enttäuschte Liebe angesichts menschlicher Selbstabschließung und Schuld und findet seine Grenze in Gottes Mitleid3. Die Dialektik von Richten und Retten im Handeln Gottes wird im Eingangsteil eines jeden Gottesdienstes nachgezeichnet, besonders sinnfällig in der Abfolge von Schuldbekenntnis und Gnadenzuspruch4. »Böses« und »Falsches« muss weggenommen bzw. überwunden werden, damit Lebensdienliches gedeihen kann. Und dies wiederum entspricht dem Weg Jesu Christi, des eigentlichen Erkenntnisgrundes auch des Gerichtes Gottes, der vom Kreuz zur Auferstehung führt. Christian Link und Walter Dietrich haben in ihrem Werk »Die dunklen Seiten Gottes« darauf hingewiesen, dass man die Metapher vom Richter dahingehend ernst nehmen soll, dass der Richter urteilt und nicht vollstreckt: »Lenkt Gott die Geschichte? … Setzt er die Kette von Ereignissen in Gang …? Es ist gut, hier zu unterscheiden: Richter ist nicht der, der das schmerzhafte Aufräumen und Niederreißen in die Hand nimmt, sondern der, der den Schuldzusammenhang aufdeckt und dann wohl, wie im Altertum den Perserkönig Kyros (Jes 45,1.5), so im Dritten Reich die alliierten Truppen als sein Werkzeug führt und braucht.«5 »Gottes Urteil über die Welt, sein Gericht, ist, so verstanden, seine ›kritische Einwirkung‹ auf die Geschichte, nicht aber ein Determinismus, der 3 Vgl. dazu die schöne biblische Zusammenstellung bei Volker A. Lehnert, Wenn der liebe Gott böse wird – Überlegungen zum Zorn Gottes im Neuen Testament, ZNT 9 (2002), 15–25. 4 Vgl. Matthias Zeindler, Gott der Richter. Zu einem unverzichtbaren Aspekt christlichen Glaubens, Zürich 2 2005, 27–31. Der Autor zeigt, dass sich eine entsprechende Dynamik auch bei Taufe und Abendmahl findet. 5 Walter Dietrich / Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 5 2009, 180.
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mit kausaler Zwangsläufigkeit Unheil und Verderben über die Menschen bringt.«6
Die Bibel weiß gerade im Zusammenhang von Sünde und Ungerechtigkeit auch um die Eigenverantwortung des Menschen, weshalb das Gericht oftmals Nemesischarakter hat: Menschen, die die Zurechtweisung Gottes verschmähen, sollen »essen von den Früchten ihres Wandels und satt werden an ihren Ratschlägen« (Spr 1,31). Sie fallen in die von ihnen selbst gegrabene Grube (vgl. Pred 10,8; Spr 26,27). Oder mit dem eben erwähnten Pauluswort: »Was der Mensch sät, wird er ernten« (Gal 6,7). Wo davon erzählt wird, wie Gott selbst das Strafgericht vollzieht, wird stets deutlich, dass Gott nie etwa aus Willkür oder gar »Spaß an der Freude« auf seine Menschenkinder einschlägt: »Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen« (Klgl 3,33). Laut einer Haggada zu Ex 15 weigert Gott sich, in den Jubel der Miriam einzustimmen: »Wie soll ich tanzen und mich freuen, wenn meine Menschenkinder untergegangen sind?« Ich fasse zusammen: Gottes Gericht dient dem Schutz der »Guten«, der Befreiung der ungerecht Unterdrückten und der Aufrichtung von Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Eigenverantwortlichkeit, die er seinen Menschenkindern verliehen hat. Ohne Gottes so verstandenes Richten würde die Welt entweder dem Bösen überlassen, oder das Böse müsste dadurch verhindert werden, dass aus freien Geschöpfen willenlose Marionetten des »guten Gottes« würden. Gerade weil das Gericht nach den Werken den Menschen in seiner Eigenverantwortung ernst nimmt, impliziert es die Ermutigung zum selbsttätigen Handeln und bedeutet daher eine entschiedene Absage an alles Resignative nach dem Motto: »Da kann man ja doch nichts machen«. 2.
Homiletische Merkposten
Im Unterschied zu den biblischen Propheten, die aus einem direkten Vernehmen des Anspruchs Gottes heraus das Wort zu wagen hatten, bedeutet Gerichtspredigt für uns zunächst schlicht, dass wir uns den entsprechenden Bibeltexten stellen, ihren Härten nicht ausweichen oder sie mit Verweis auf die Liebe Gottes einebnen. Luthers hermeneutische Anweisung, die »dunklen« Stellen der Bibel von den »hellen« her zu beleuchten, darf, so beachtenswert sie ist, 6 Ebd., 181.
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im Blick auf Gerichtstexte nicht zu vorschnellen Ausweichmanövern und Einebnungen führen. Statt eines Predigtzitates eine verstörende, leider nicht untypische Erfahrung: Debrecen 1996, Generalversammlung des Reformierten Weltbundes. Ihr Motto: »Sprengt die Ketten der Ungerechtigkeit« (Jes 58,6). An einem Morgen wird der Kontext, dem das Motto entnommen ist (Jes 58,1–12), in Gruppen diskutiert. Mehrere Teilnehmer aus Europa und den USA weisen nachdrücklich darauf hin, dass man diesen Text als Christ (!) so nicht stehen lassen könne. Die Kritik macht sich an der Bedingungsstruktur fest: »Wenn du in deiner Mitte niemanden unterjochst …, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen« (V. 9f u.ö.). Wenn – dann. Die entscheidenden Einwände lauten, hier werde einer unevangelischen Werkgerechtigkeit das Wort geredet, der Text sei also »gesetzlich«; außerdem lasse sich die Freiheit des göttlichen Tuns nicht in den starren Automatismus eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs pressen. Dem möchte ich entgegenhalten: Wenn die Erwartung, dass Gott den Menschen ihr Tun segnend oder richtend vergilt, Werkgerechtigkeit ist, dann propagiert auch das Neue Testament von der Bergpredigt des Matthäus bis zu den Sendschreiben der Offenbarung Werkgerechtigkeit. Denn immer wieder wird bekräftigt, dass Gott auf unser Tun reagiert, sei es segnend, sei es richtend (vgl. Jes 59,18ff). Ich verweise neben dem oben erwähnten Galaterwort nur auf Mt 25; 1Kor 3,12–14; 2Kor 5,10; 1Joh 2,17; Hebr 10,28ff). Dass solche Aussagen das Handeln Gottes nicht erschöpfend umschreiben, weiß nicht erst das Neue Testament, sondern auch das Alte. So bezeugen nicht nur der zweite und dritte Jesaja, dass die großen Taten der Barmherzigkeit Gottes allem menschlichen Tun voraus sind (Jes 40,1– 8; 60,1f). Dadurch wird aber ein Zusammenhang von unserem Tun und Ergehen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. An ihm wird festgehalten, nicht im Sinne eines berechenbaren Automatismus, wohl aber im Sinne vertrauenswürdiger Verlässlichkeit. Zwar berichtet die Bibel, dass dieses Vertrauen bisweilen auf eine harte Probe gestellt werden kann – gerade im Blick auf einzelne Lebensschicksale (Hiobbuch; aber auch Ps 73) –, aber aufgegeben wurde der Gedanke an eine Korrespondenz von »Saat« und »Ernte« nie.
Eine Predigt, die sich den »Zumutungen« eines Gerichtstextes stellt und sie mit der heutigen Situation »verspricht« (Ernst Lange), ist Gerichtspredigt – auch wenn sie darauf verzichtet, ein heutiges Strafgericht Gottes anzusagen oder geschichtliche Entwicklungen als Strafe Gottes zu deuten. Bisweilen kann es geboten sein, konkret zu werden. Als ich Innenstadtpfarrer an der Alten Reformierten Kirche zu Elberfeld war, erließ unsere Stadt eine neue Straßenordnung, die den Genuss von Alkohol und das Betteln auf den Straßen und Plätzen der Innenstadt unter Strafe stellte. In der Folge wurden bettelnde Obdachlose auch im Winter als Sofortmaßnahme vor die Tore der Stadt gefahren und am Stadtrand abgesetzt. Bußgelder wurden ih-
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nen auferlegt, die im Wiederholungsfall und bei Zahlungsunfähigkeit in Gefängnisstrafen verwandelt werden konnten. Dies führte zu öffentlichen Auseinandersetzungen, in denen unser Presbyterium Partei für die an den Rand Gedrängten ergriff.
Dazu eine Passage aus einer Predigt zu Erntedank: »Viele von euch beten mit ihren Kindern vor dem Essen: ›Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.‹ Gut, möchte man sagen. Aber heute sage ich denen, die die neue Straßenordnung bejahen: ›Lasst das lieber sein! Hört auf, so zu beten, oder wisst Ihr nicht, dass, wer betet, damit rechnen sollte, dass Gott sein Gebet erhört?! Ihr wollt doch gar nicht, dass Jesus kommt. Denn wenn er uns begegnet, dann so, wie wir es in der Lesung (Mt 25,31–46) gehört haben. Er kommt hungrig, durstig, als Fremder, in Lumpen. Er kommt als Obdachloser, als Penner, als lästiger Bettler. Er kommt in Gestalt derer, die ihr aus unseren Straßen verbannen wollt … Ist euch eigentlich klar, was ihr aufs Spiel setzt? Auf einer Stadt, die ihre Bettler nicht erträgt, ruht kein Segen‹«.
Weitere Aspekte habe ich in dem Aufsatz »Gerechtigkeit predigen« (s. in diesem Band oben S. 70–81) entfaltet. Die Stichworte lauten: Nötig sind gründliche Recherche (das Gesagte muss stimmen) und Achtsamkeit für unterschiedliche Lebenssituationen der Angesprochenen (was verlangt meine Predigt von mir, was mute ich den Hörenden zu?). Im jetzigen Zusammenhang bleibt hinzuzufügen: Wenn die Predigt eine heutige Situation in den Horizont des richtenden Handelns Gottes stellt, muss sie sich ihrer Grenzen bewusst sein: Auch das richtende Handeln steht wie alles göttliche Handeln unter dem Vorzeichen seiner Verborgenheit. Es ist in der jeweiligen Gegenwart nicht als solches evident, »und auch eine noch so gewissenhafte Urteilsfindung bringt es nicht mit abschließender Sicherheit ans Licht«7. Insofern bleibt jede Gerichtspredigt aufseiten des Predigers ein Wagnis, welches als solches aber gewagt sein will. Im in diesem Band ebenfalls abgedruckten Aufsatz »Gottes Hilfe Predigen« (s. unten S. 98–115) habe ich unter anderem dem Umstand nachgedacht, dass Gott bisweilen in Gestalt von Not hilft, und darauf hingewiesen, dass sich ein Betroffener zu solcher Erkenntnis durchringen kann, sie ihm aber nicht von außen zugemutet werden darf. Entsprechendes muss auch im Zusammenhang mit der Gerichtspredigt beachtet werden. Hans-Joachim Iwand konnte seinerzeit die Abtrennung der deutschen Ostgebiete deshalb glaubwürdig als Gericht Got7 Zeindler, Gott der Richter (s. oben Anm. 4), 48f.
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tes deuten und sich für Aussöhnung mit dem »Osten« einsetzen, weil es dabei um den Verlust seiner geliebten Heimat ging. Problematisch wäre es aber, wenn ich als Europäer die Sturmkatastrophen in der Karibik als Gericht Gottes angesichts »unseres« maßlosen Umgangs mit der Schöpfung deutete. Aus meiner Perspektive wäre es angemessener, von unserer Schuld zu reden und zur Umkehr und zur Solidarität mit den Opfern aufzurufen. Zuletzt: Auch die Gerichtspredigt verfolgt eine positive Intention. In ihr muss deutlich werden, dass hier nicht jemand aus Spaß am Krawall vom Leder zieht, sondern dass er um das Wohl der ihm Anvertrauten ringt.
III. 1.
Zur Predigt des Jüngsten Gerichtes Theologische Erinnerung
Die Apokalyptik sowie das Neue Testament reden von einem endgültigen Beurteilungsgericht. Erinnert sei nur an die Endzeitreden des Matthäusevangeliums, die in der Rede vom Weltenrichter kulminieren (Mt 25,1–46; vgl. auch Mk 16,16; Hebr 10,28) sowie die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31). Nach dem bisher Gesagten sollte die Vorstellung, dass mit dem Anbrechen des Reiches Gottes ein abschließendes und endgültiges Gericht stattfindet, einsichtig sein. Wenn man nämlich das Reich Gottes als »das universale Offenbarwerden der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung« versteht8 , wenn also Gottes Wahrheit umfassend zur Geltung kommt, dann muss auch ein endgültiges und umfassendes Aufdecken der Unwahrheit geschehen. Nur so kann das Geschaffene in ein Neues transformiert werden – sonst würden ja das Unwahre und Ungerechte verewigt. Gleichwohl macht der Gerichtsgedanke Predigenden zu schaffen, weil er mit der Vorstellung eines doppelten Ausgangs – hier ewige Seligkeit und dort ewige Verdammnis – einhergeht. Zwar findet sich im Neuen Testament auch eine gegenläufige Tendenz: Gott »will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (1Tim 2,4; vgl. auch Röm 5,9; 8,1) oder die Tatsache, dass in 1Kor 15 oder 1Thess 4 der Gerichtsgedanke fehlt, sowie Kol 1,22f; Kol 1,28; Eph 4,30 9 . Diese Stellen nehmen 8 Zeindler, Gott der Richter (s. oben Anm. 4), 69. 9 Diese Tendenz hat überzeugend herausgearbeitet Ulrich Luz, Neutestamentliche Lichtblicke auf die dunklen Seiten Gottes. Überlegungen zu den Gerichtsaussagen
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den vorher genannten aber nichts von ihrer Härte. Hinzu kommt, dass die meisten Reformatoren (und nicht nur Calvin) sowie die Bekenntnisschriften, auf die Predigende ordiniert werden, ganz selbstverständlich an einem doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts festhalten (Confessio Augustana 17; Heidelberger Katechismus Frage 52). In diesem Zusammenhang gilt die Prädestinationslehre als ein besonderer Stein des Anstoßes, besagt sie doch, Gott selbst habe in seinem ewigen Ratschluss die einen zum Heil, die anderen zur Verdammnis vorherbestimmt10. Bevor wir dieses Lehrstück vorschnell der Kritik unterziehen oder es als grausam und mit der offenbaren Liebe Gottes nicht vereinbar abtun, sollten wir uns zunächst seine positive Intention vor Augen halten. Im Blick auf die Erwählten wird sichergestellt, dass Gott das Wollen und Vollbringen schafft. Weil das Heil des Menschen also nicht aus eigenem Verdienst resultiert, muss er an seiner bleibenden Schwäche und Unvollkommenheit nicht verzweifeln. Georg Plasger kann im Blick auf Calvins Erwählungslehre festhalten: Ihre entscheidende Funktion ist die »Vergewisserung. Nicht der menschliche Glaube verbürgt das den Menschen zugedachte Heil, sondern das dem Glauben des Menschen vorausgehende Handeln Gottes.«11 Diese positive Funktion wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen halten, wer der Adressat dieser Lehre – gerade bei Calvin – ist. Sie hat »ihren primären lebensgeschichtlichen Ort in der verfolgten, kämpfenden Gemeinde, die wissen soll, dass sie Gottes Eigentum ist.«12 Diesen Grundton vernehmen wir auch in Frage 52 des Heidelberger Katechismus, die bezeichnenderweise den Trostaspekt in den Vordergrund stellt: »Was tröstet dich die Wiederkunft Christi, ›zu richten die Lebenden und die Toten‹? In aller Trübsal und Verfolgung darf ich mit erhobenem Haupt aus dem Himmel eben den Richter erwarten, der Paulustradition, in: Magdalene L. Frettlöh / Hans P. Lichtenberger (Hg.), Gott wahr nehmen. Festschrift für Christian Link, Neukirchen-Vluyn 2003, 257–275. 10 Vgl. J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Bd. 1 (NBST 23/1), Neukirchen-Vluyn 2000. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Erwählungslehre Calvins. 11 Georg Plasger, Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung, Göttingen 2008, 69. 12 Christian Link, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, NeukirchenVluyn 2009, 60.
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der sich zuvor für mich dem Gericht Gottes gestellt und alle Verurteilung von mir genommen hat. Er wird … mich aber mit allen Auserwählten zu sich in die himmlische Freude und Herrlichkeit nehmen.«
Also auch hier: Wenn die Gemeinde von außen bedroht ist oder wenn ich selbst verzagen möchte, weil mich mein Gewissen anklagt, darf ich getrost sein: Niemand kann mich trennen von der Liebe Gottes, Christus selbst wird die Auserwählten zu sich nehmen (vgl. Röm 8,28–39). Trotz dieser positiven Grundintention beinhaltet diese Lehre nun im Gegenzug die Vorstellung von einer schlechterdings unverständlichen und unzugänglichen dunklen Seite Gottes, die mit seiner hellen nicht in Einklang zu bringen ist. Denn der soeben ausgesparte Teil der Antwort in Frage 52 lautet: »Er wird alle seine Feinde, die darum auch meine (!) Feinde sind, in die ewige Verdammnis werfen.«
Wie sollte das mit dem im Christusereignis offenbaren universalen Heilswillen Gottes in Einklang zu bringen sein? Und so lässt sich nicht von ungefähr durch die Kirchengeschichte – von Origenes bis Barth – eine Linie des Protestes gegen die Vorstellung der endgültigen Verwerfung eines Teils der Menschheit nachzeichnen 13. Übrigens hat Christian Link aufzeigen können, dass schon bei Calvin selbst die Dinge nicht so klar liegen, wie oftmals angenommen wird. Denn es findet sich bei ihm eine auf Heilsgewissheit zielende christologische Fundierung der Erwäh-lungslehre und eine eher spekulative, die in der Vorsehungslehre verortete ist (»Gottes ewige Anordnung, durch die er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte«, Inst. III, 21,5); das Problem besteht bei Calvin in dem nicht befriedigend geklärten Nebeneinander beider Argumentationsstränge14. Was aber folgt, wenn wir uns an der tröstlichen Intention der Vorsehungslehre orientieren aber dem Gedanken der endgültigen Verwerfung eines Teils der Menschheit nicht folgen wollen? Ich sage es zunächst 13 Vgl. Janowski, Allerlösung, Bd. 1 (s. oben Anm. 10), 18–138. 14 Link, Prädestination und Erwählung (s. oben Anm. 12), 55–74; vgl. auch Matthias Zeindler, Erwählung. Gottes Weg in die Welt, Zürich 2009.
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negativ: Nicht aufgegeben werden darf die Erwartung der endgültigen Entlarvung menschlicher Sünde und Bosheit sowie die Hoffnung einer universalen Durchsetzung von Gottes Wahrheit. Gut und Böse dürfen also nicht »am Ende« verwischt, und erst recht darf das Unrecht nicht verewigt werden. Daraus folgt: An dem Bekenntnis, dass er kommen wird, »zu richten die Lebenden und die Toten«, muss festgehalten werden. J. Christine Jannowski erzählt15 von einer Begebenheit, die diesen Punkt eindrucksvoll in Erinnerung bringt: Als sie nach jahrelangen Forschungen zum Thema Allerlösung in eine Krise gerät, besucht sie in Tübingen ihren alten Lehrer Ernst Käsemann. Er sagt ihr frank und frei, ihr Thema sei »schlecht«. Janowski: »Was haben Sie denn eigentlich gegen das Thema?« Darauf Käsemann »mit dem ihm eigenen Feuer, dazu in einem mir unvergesslichen Ton und mit verzerrtem Angesicht: ›Ich will die ganzen Ekel nicht mehr wiedersehen.‹« Ihm mögen dabei die Nazis vor Augen gestanden haben, deren Gräueltaten er als junger Theologe miterleben musste. Vielleicht auch die Folterknechte aus der Zeit der argentinischen Diktatur, die seine Tochter ermordet haben. Deutlich wird in jedem Fall: Aus der Opferperspektive wäre ein Aussetzen des Jüngsten Gerichts eine undenkbare Verletzung.
Freilich kann und darf es keine Sicherheit in die andere Richtung geben; allzu viele meinen genau zu wissen, wer zu den Verdammten gehört (hier liegt das Problem der menschlich nur allzu verständlichen Reaktion Käsemanns). Dies lässt sich gerade an der Rede vom Weltgericht in Mt 25,31–46 deutlich machen. Halten wir uns vor Augen: Alle sind überrascht: »Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen …« (V. 37 und 44). Sodann lässt sich bei aller Konkretheit des als Bewertungsmaßstab beschriebenen Verhaltens gerade nichts »ausrechnen«. Was heißt denn: »Ich bin hungrig gewesen … und ihr habt mir zu essen gegeben …«? Gehöre ich zu den Geretteten, wenn ich einmal einen Hungrigen gespeist habe? Oder muss dies mein durchgängiges Verhalten gewesen sein? Und werde ich umgekehrt verdammt, wenn ich einen Bedürftigen übersehen habe? Oder erst, wenn ich anderen nie half? Oder gibt es irgendwo zwischen den Extremen eine kritische Grenze – ebenfalls ein schwer vorstellbarer Gedanke. Schließlich gibt zu denken, dass in dieser Rede, anders als etwa in Mk 16,16 (»… wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden«), der Glaube gerade keine Rolle spielt: Hier geht »Orthopraxie« vor 15 J. Christine Janowski, Warum sollte Gott nicht alle erlösen? Antworten auf einige Einwände gegen eine Allerlösungslehre, in: Festschrift Link (s. oben Anm. 9), 298.
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»Orthodoxie« – was bedeutet das im Blick auf die Nicht-Gläubigen, gar im Blick auf bewusste Leugner des christlichen Glaubens? Reicht es, wenn sie im Sinne von Mt 25 gute Werke vollbracht haben? Aus der prinzipiellen Nicht-Vorhersagbarkeit des Gerichtsausgangs folgt noch eine weitere wichtige Einsicht: Das Endgericht relativiert unser zeitliches Richten! »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet« (Mt 7,1) hat Jesus in der Bergpredigt gemahnt. Und in der Offenbarung wird jedem Endgültigkeitsanspruch menschlichen Richtens der Boden entzogen: »Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen« (Offb 5,2f). Denn nur »das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke« (V. 12). Wer dies nicht beherzigt, begeht die schlimmste Sünde, die die Bibel kennt: Er setzt sich an die Stelle Gottes und wird gerade so zum Teufel. Die Einsicht in die Relativität alles menschlichen Richtens eröffnet Freiheitsgrade, von denen Paulus eindrucksvoll zu reden weiß: »So soll man uns ansehen als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes. Im Übrigen verlangt man von Verwaltern nur, dass einer treu erfunden wird. Mir aber ist es völlig gleichgültig, ob ich von euch oder von irgendeinem menschlichen Tribunal beurteilt werde, ja ich beurteile mich nicht einmal selbst. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber dadurch bin ich nicht gerecht gesprochen. Vielmehr ist es der Herr, der über mich urteilt. Darum fällt euer Urteil nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das in Finsternis Verborgene ans Licht bringen und die Pläne der Herzen offenbar machen wird. Und dann wird einem jeden von Gott Lob zuteil werden.« (1Kor 4,1–5)
Paulus redet hier keiner Kaltschnäuzigkeit das Wort, die einfach nichts an sich herankommen lässt. Er denkt ja durchaus nach über sich und das, was er tut. Die Briefe, die er seinen Gemeinden geschrieben hat, belegen: Er hört hin und nimmt sich zu Herzen, was andere ihm zu sagen haben; so wie er selbst nicht nur Lob, sondern auch Kritik auszuteilen weiß. Es geht also nicht um die Haltung: »Mir ist alles egal, ihr könnt mich mal«, sondern um die Frage: Wie kann ich mit all den Beurteilungen und Urteilen leben, ohne völlig abhängig davon zu werden? Dazu sagt Paulus: »Ich gestehe keinem Menschen, keiner Instanz, ich gestehe nicht einmal mir selbst zu, mich zu richten, d.h. ein abschließendes Urteil über mich zu sprechen.« Das gibt ihm die Kraft, sich von Kritik, vor allem von unberechtigter, nicht fertigmachen und unterkriegen zu lassen. Das gibt ihm auch den Mut, Menschen, mit denen er zu tun hat, unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu sagen,
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anstatt aus Angst, nicht mehr gemocht zu werden, alles Kritische zurückzuhalten. Paulus geht an seinen eigenen Mängeln und Fehlern nicht zugrunde, und er bleibt angesichts der eigenen Stärken doch auf dem Teppich. Es kann daher keine Erlösung auf Kosten einer universalen Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit geben. Und zugleich: Es ist keine endgültige Aufrichtung göttlichen Rechts denkbar, an der sein in Christus geoffenbarter Heilswille für alle, sprich: seine Liebe Schaden nähme. Um jedes Missverständnis einer Verharmlosung auszuschließen, spricht man deshalb besser von Allerlösung als von Allversöhnung! Die Allerlösungslehre muss als konsequente »Entfaltung der universalen Liebe Gottes« (Zeindler) verstanden werden. Dann gehört aber der Gedanke eines göttlichen Gerichtes als integriertes Element in diese Lehre mit hinein. Allerlösung durch das Gericht hindurch bedeutet, dass Erlösung gerade durch Offenlegen der Wahrheit erfolgt. Es gibt keinen endgültigen doppelten Ausgang, wohl aber ein differenziertes doppeltes Gericht, in dem sich Täter schonungslos und ohne die Möglichkeit von Rückzug oder Rationalisierung ihren Untaten stellen müssen und mit ihren Opfern konfrontiert werden. Und die Opfer werden in ihrem Leiden anerkannt, gewürdigt und getröstet werden. Schuld und Leid jedes Einzelnen und der Völker werden dann öffentlich gemacht und dadurch Beziehungen geheilt. Dabei geht es bei Tätern und Opfern nicht um trennscharf voneinander abzugrenzende Gruppen, sondern um Aspekte: Jeder Mensch wird auf seine – im Einzelnen höchst unterschiedlich gewichtete – Täter- und Opferseite angesprochen werden! Dazu Matthias Zeindler: »Die Erlösung des Geschehenen besteht letztlich darin, dass das Geschehene seine Macht verliert, in der eschatologischen Gemeinschaft destruktiv wirksam zu bleiben. Dazu gehört zum einen, dass das Geschehene mitsamt seinem Unrecht ewig präsent bleibt – die Herrlichkeit, auf die Paulus aus ist, meint nicht eine gnädige Amnesie, die nichts anderes als eine Bagatellisierung von Leiden wäre. Zur Erlösung des Geschehenen gehört aber ebenso die erneute ›Bearbeitung‹ des Vergangenen durch Gott: seine Offenlegung mit allen Vergehen und Verletzungen; die Ermöglichung der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen durch Täter und Opfer; und schließlich die Eröffnung eines neuen Verhältnisses von Tätern und Opfern. Die so vielfältig und so gewalttätig zerbrochenen Beziehungen in der Schöpfung erfahren auf diese Weise ihre Heilung.«16
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Zeindler, Gott der Richter (s. oben Anm. 4), 92.
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2.
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Homiletische Merkposten
Ich erinnere zunächst noch einmal an das zu Mt 25,31–46 Ausgeführte: Bei der Predigt einschlägiger Texte ist dringend davor zu warnen, vorschnelle Einteilungen vorzunehmen und sie in die Ewigkeit zu extrapolieren. Alle Menschen bedürfen des heilsamen, zurechtbringenden Gerichtes Gottes. Dies gilt auch im Blick auf solche, die nach allgemeinem Urteil zu den »Guten« zählen. Dazu folgende Beobachtung: In meiner Funktion als Moderator des Reformierten Bundes gehörte ich öfter zu einer Trauergemeinde, die einen wichtigen und »hochverdienten« Kirchenmann zu Grabe zu tragen hatte. Dass man über Tote nur gut zu reden hat, versteht sich von selbst. Aber bei manchen Predigten entstand der Eindruck, im Leben des Verstorbenen sei das Erbsündendogma schon außer Kraft gesetzt gewesen. Dankbarkeit kippte hier in eine mich seltsam anmutende Rechtfertigung nach den (durchweg als gut beschriebenen) Werken. Bei einer der Nachfeiern saß ich einer (mir bekannten) Tochter des Verstorbenen gegenüber, aus der es unter Tränen herausbrach: »Ich hätte meinen Vater gerne auch so erlebt, wie ihn der Prediger eben geschildert hat …!« Und dann erzählte sie von der Kehrseite, von dem hohen und bisweilen unerträglichen Preis, den die Familie, gerade auch die Kinder unfreiwillig für das großartige Engagement des Vaters zu zahlen hatten.
Es wird in einer Predigt nicht darum gehen können, aufzurechnen, gar Schattenseiten eines Verstorbenen zu enthüllen und ihn öffentlich vorzuführen. Keineswegs. Wohl aber sollte bei aller Dankbarkeit für Gelungenes durchscheinen, dass auch dieser Mensch der Gnade Gottes anzubefehlen ist, weil in unserer Weltzeit auch die breiteste Segensspur nicht ohne Schatten und also ohne Zumutungen für andere ist. Hilfreich finde ich im Blick auf die Bestattung die Worte, die die Reformierte Liturgie im Zusammenhang mit der Grablegung vorschlägt: »Nachdem … am … im Alter von … Jahren gestorben ist, sind wir nun hier, um ihn/sie zu begraben. So nehmen wir Abschied. Haben wir ihn/sie geliebt, wollen wir ihm/ihr unsere Liebe über den Tod hinaus bewahren. Hat er/sie uns geliebt und uns im Leben etwas bedeutet, wollen wir Gott dem Herrn dafür dankbar sein. Haben wir (einmal) zu wenig geliebt, oder ihm/ihr Unrecht getan, bitten wir Gott um Vergebung unserer Schuld
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(und wollen es in Zukunft – wo es möglich ist – besser machen). Ist er/sie jemandem unter uns etwas schuldig geblieben (hat er/sie Unrecht getan), so wollen wir es ihm/ihr nun von Herzen verzeihen. So nehmen wir nun als Christen Abschied in Frieden und legen seinen/ihren Leib in Gottes Acker …« (480).
Andererseits bleibt festzuhalten: Allen Menschen, auch den augenscheinlich »Bösen«, gilt der Zuspruch, dass Gott in seinem Gericht Möglichkeiten bereithält, die uns verwehrt blieben, dass er die Macht hat, alle im Gericht heilsam zurechtzubringen und zu sich zu ziehen (vgl. 1Kor 15,28; Phil 2,10; 1Tim 2,4). Eine Predigt, die beide Seiten beherzigt und so der Hoffnung auf Allerlösung Ausdruck verleiht, kann darauf verzichten, sich auf jene ›Doppellösung‹ zurückzuziehen, die da sagt: Auf Allversöhnung hoffen: ja; sie predigen oder gar lehren: nein. Denn dies ist eine Scheinlösung, die sich am Ende im Unklaren verliert17. Ich schließe mit Zitaten aus einer (unveröffentlichten) Totensonntagspredigt von Sylvia Bukowski über 2Kor 4,10: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. Zu Beginn hat die Predigerin von der Ambivalenz des Totengedenkens geredet: Wie reden über das Gute und Liebenswerte der Verstorbenen, auch über ihre Macken und Schrullen. »Aber was ist mit dem, was wirklich furchtbar und zerstörerisch war in der Lebensgeschichte der Toten, womit sie uns und andere verletzt oder auf Dauer geschädigt haben? Wohin sollen wir mit der Last der Kränkungen, wohin mit der unüberwundenen Wut und dem Wissen um die – nach außen vielleicht perfekt verborgenen – Abgründe unserer Beziehung?« »Und wie können wir zur Ruhe kommen angesichts dessen, was wir selbst den Verstorbenen angetan haben oder schuldig geblieben sind?« Fragen, die uns umso härter zusetzen, als der Tod ja allem einen endgültigen Stempel aufgedrückt hat. Jetzt lässt sich nichts mehr klären, nichts mehr ändern.
Auf dem Hintergrund dieser Fragen wird in einem späteren Teil der Predigt die Hoffnung auf das gnädige Richten des Auferstandenen entfaltet: »Das Schlimme, das war und unser Leben gezeichnet hat, wird er nicht einfach überdecken oder wegwischen. Alles, was zu unserem Leben gehört hat, 17 Vgl. Janowski, Warum sollte Gott nicht alle erlösen? (s. oben Anm. 15), 316– 320. Im altschwäbischen Pietismus lautete der Satz: Wer die Allversöhnung »nicht glaubt, ist ein Ochse, wer sie lehrt, ein Esel«.
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wird in Wahrheit offenbar werden, wenn wir vor dem Richtstuhl Christi erscheinen. Das gilt für die Schuld, die wir vielleicht jetzt noch verbergen, verdrängen, verharmlosen oder auf andere schieben und deren wahres Ausmaß wir meist noch nicht wahrhaben wollen. Das gilt aber auch für die Verwundungen, die wir an uns tragen: die Tränen, die niemand beachtet hat, die Klagen, die an der Gleichgültigkeit und Kälte anderer abgeprallt sind. Alles wird ans Licht kommen, keine Lüge wird mehr Böses als gut oder Unrecht als Recht hinstellen können. Das Endgericht wird uns auf unserer Verantwortung für unser Leben behaften, und es wird schmerzhaft sein, wenn wir die Augen nicht mehr verschließen können vor dem, was wir bei anderen angerichtet haben, wenn wir der Wahrheit über uns und unser Tun nicht mehr ausweichen können. Unsere Schuld wird uns dann im wahrsten Sinne des Wortes leidtun, es wird, wie Jesus angekündigt hat, tatsächlich Heulen und Zähneklappen unter uns sein, und für die großen Verbrecher der Menschheitsgeschichte wird es wirklich die Hölle sein, ihren Opfern gegenüberstehen zu müssen, wahrhaben zu müssen, was sie jedem von ihnen angetan haben. Aber gleichzeitig beginnt mit dem Schmerz über das wahre Ausmaß aller Schuld und alles Leidens auch schon die Heilung. Denn wir werden Gott Recht geben müssen in seiner Sicht unseres Lebens, wir werden den Maßstab der Liebe, an dem er unser Leben misst, endlich als gerechten Maßstab anerkennen, und keiner wird mehr etwas dagegensetzen. Und das bedeutet: Keiner wird mehr in Aufruhr bleiben gegen Gott, keiner wird mehr versuchen, sich selbst zu rechtfertigen vor ihm und voreinander. Jedes menschliche Nein zu Gott wird zu einem Ja werden, und unsere Sünde wird zu einer Vergangenheit, die keine Macht mehr hat über Gegenwart und Zukunft. ›Die Wahrheit wird euch freimachen‹ hat Jesus angekündigt. Das erleben wir bisweilen schon jetzt. Und diese Verheißung wird am Ende umfassend Wirklichkeit werden: In Anerkenntnis der Wahrheit über unser Leben werden wir frei für eine ganz neue, ungebrochene Gemeinschaft mit Gott frei auch für ein von Grund auf neues Leben miteinander – ohne Tränen, ohne Leid, ohne Hassgeschrei. Wir werden frei für Gottes Schalom, für seinen Frieden.«
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I »Gott hilft« – das ist eine der grundlegenden Aussagen unseres Glaubens. Sie findet sich in unserer Bibel in nahezu allen Büchern und Schichten. Von erfahrener Hilfe Gottes wird wieder und wieder erzählt – im Blick auf Ereignisse, die das ganze Volk Gottes betreffen ebenso wie im Zusammenhang individueller Lebensgeschichten. Die Hilfe Gottes wird für die Zukunft erhofft und in Notlagen herbeigefleht. Ihr Ausbleibend wird beklagt, ihr Eintreten gibt Anlass für Dank und Lob. Es ist nicht von ungefähr, dass der gesandte Gottessohn dieses Bekenntnis in seinem Namen trägt: Jesus, Jeschua, das heißt: Gott hilft. »Gott hilft« zieht sich folglich wie ein roter Faden durch jeden Gottesdienst: Einer der ersten Sätze, die gesprochen werden, ist das sogenannte Adjutorium, eine Zusammenstellung mehrerer Psalmzitate: Unser Anfang und unsere Hilfe stehen im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat; der Bund und Treue hält ewiglich und der niemals loslässt das Werk seiner Hände (Ps 124,8; 146,6; 138,8b).
Diese Glaubensaussage wird in Lesungen, in Liedern, vielleicht auch in der Predigt bekräftigt, und am Ende wird die Gemeinde im Fürbittgebet Gott erneut um Hilfe anrufen angesichts eigener und fremder Notlagen. Umso mehr drängt sich die Frage auf: Ist die Glaubensaussage »Gott hilft« auch wahr? Genauer gefragt: Inwiefern und wie ist sie wahr? Es ist für die pastoralen Vollzüge von enormer Wichtigkeit, hier zu Antworten gefunden zu haben. Denn zum einen wird diese Glaubensaussage von vielen Menschen (noch) geglaubt. Auch solche, die von sich behaupten, dass sie an Gott nicht glauben, können gestehen, dass sie sich in Notlagen »irgendwie« Hilfe »von da oben« erwarten und beten. Wie sehr bei unseren Zeitgenossen das Gebt in Not noch vorausgesetzt werden kann, deutet die Kondolenzanzeige der Lufthansa anlässlich der durch Suizid des Copiloten zum Absturz gebrachten German-Wings-Maschine an: Mit großer Selbstverständlichkeit wird
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den Trauernden versichert, man sei an ihrer Seite auch »mit unseren Gebeten«. Auf der anderen Seite wird gerade die Aussage von der Hilfe Gottes heftig bezweifelt. Nicht nur theoretisch, weil der Glaube an ein übernatürliches Eingreifen Gottes in den Weltenlauf »voraufklärerisch« sei und man sich das nicht vorstellen könne; mehr noch existentiell, wenn die Hoffnung auf ein helfendes Eingreifen Gottes enttäuscht wurde und die Betroffenen mit Zweifeln und in Anfechtung zurückbleiben. Wenn sie dann nachfragen, werden sie bisweilen erleben, dass die, von denen sie jetzt Antworten erwarten, ins Stammeln geraten oder mit formelhaftem Bekennen dagegenhalten und die Suchenden so oder so alleinlassen. Da können auch sogenannte gestandene Pfarrer zu hilflosen Helfern werden. Die folgenden Überlegungen wollen zur Klärung der hier aufgeworfenen Fragen beitragen. Dabei sollen Überlegungen zur Predigt des Glaubenssatzes von der Hilfe Gottes im Vordergrund stehen 1. In einem kurzen ersten Teil werde ich einige dogmatische Koordinaten zur Themenfrage in Erinnerung rufen (II), um dann im ausführlicheren zweiten – und für mein Vorhaben wichtigeren – Teil biblische und homiletische Erwägungen zum Thema anzustellen (III). II Dogmatisch bewegen wir uns mit der Aussage von Gottes Hilfe im Bereich der Vorsehungslehre: De providentia dei. Dieser Topos behandelt die Frage, wie das Handeln Gottes zwischen Schöpfung und Erlösung gedacht und geglaubt werden kann. Wie eingangs schon angedeutet, ist es gerade im Blick auf die pastorale Praxis unerlässlich, sich den hier aufgeworfenen Fragen zu stellen, denn gerade auf diesem Feld treten Fehleinstellungen, aber auch Erwartungen und Zweifel unserer Gemeindeglieder besonders deutlich zutage. Umso problematischer erscheint der Umstand, dass man sein erstes theologisches Examen mit Bravour bestehen kann, obwohl man diesen Topos vielleicht nur eben in einer Examensgruppe gestreift hat – etwa indem man sich das entsprechende Kapitel aus einer der gängigen Dogmatiken ›reingezogen‹ hat. Ich werfe dies nicht den Kandidat_innen vor, wohl aber frage ich, 1 Die Frage, wie entsprechende Inhalte in einer seelsorgerlichen Situation gesprächs- und situationsgerecht eingebracht werden können, ist ein gesondert zu behandelndes Thema, zu dem ich mich an anderer Stelle geäußert habe. Vgl. Peter Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 10 2016.
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ob im Blick auf den späteren Beruf im Universitätsstudium die Gewichte richtig verteilt sind 2. Wenn Michael Beintker einmal von einem auch heute weit verbreiteten »Providenzbedürfnis« der Menschen reden konnte3, so bleibt ernüchtert festzustellen, dass diesem Bedürfnis aufseiten kirchlicher Amtsträger keine übergroße Klarheit entspricht. Dies mag sachlich allerdings auch damit zusammenhängen, dass gerade dieses Lehrstück christlichen Glaubens leicht in Aporien führt. Es ist von der Tradition her in besonderer Weise belastet. Man nehme nur eine Spitzenaussage wie: Deus operatur omnia in omnibus. Wie soll Gottes Handeln unter der Prämisse seiner Allwirksamkeit sinnvoll gedacht werden können? Wie unter der Erfahrung einer Zuverlässigkeit und Konstanz der Naturgesetze, die Gott zur Welterklärung nicht mehr benötigt? Wie gar angesichts des Einbruchs übermächtiger Übel und von abgründigem Bösen in unser Leben und unsere Welt? Muss unter dieser Prämisse nicht gerade der Fromme verzweifeln, wenn er sieht, dass es den Gottlosen und Übeltätern so gut geht (vgl. Ps 73,3–5)? Zwar haben die Reformatoren und, mehr noch, die altprotestantische Orthodoxie versucht, sich solchen Fragen mit hilfreichen Differenzierungsleistungen zu stellen4. Sie unterschieden conservatio (Erhaltung), concursus (Mitwirkung) und gubernatio (Hinführung auf ein gutes Ziel); und im Blick auf das Böse permissio (Zulassung), impeditio (Entgegenwirkung), directio (Indienstnahme) und determinatio (Grenzsetzung). Unter der Prämisse der Allwirksamkeit Gottes lässt die Klärung einer Frage an anderer Stelle allerdings sogleich ein neues Problem entstehen. Das dogmatische Problem der Vorsehungslehre kann hier nicht aufgearbeitet werden. Wohl aber versuche ich angesichts der problematischen Prämisse einige Eckpunkte unseres Redens vom Handeln Gottes zu kennzeichnen. 1. Einerseits: Weil Gott als Person auch in seinem Handeln unerforschlich bleibt (vgl. Jes 55,8; Röm 11,33–36), kann kein Geschehen mit seinem Wirken im Sinne einer Satzwahrheit identifiziert werden (»Dies hat Gott gewirkt«). Sowohl im Guten wie im Unglück verbietet 2 Vgl. dazu »Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?« oben S. 49–58. 3 Michael Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben, ZThK 87 (1990), 446. 4 Ausführlich referiert von Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition (HST 7/1), Gütersloh 1991, 27–172. Vgl. Reinhold Bernhardt, Was heißt ›Handeln Gottes‹? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999, 59–156. Einen knappen Überblick bieten Wilfried Joest / Johannes von Lüpke, Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes, Göttingen 5 2010, 124–127.
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sich ein »geschichtstheologischer Lauschangriff«5 auf Gottes verborgenes Wirken. Ich erlebe Tendenzen zu einem allzu einlinigen, mechanistischen Verständnis der Hilfe Gottes bei meinen Lehraufenthalten in Ruanda. Die Schattenseite einer mich anrührenden, ehrlich empfundenen Frömmigkeit ist ihr tendenzieller Fundamentalismus: »Ich habe gebetet, und Gott hat meine Bitte erfüllt.« Deshalb: »Wenn du betest, wird Gott dich auch bewahren.« Und wenn nicht? Dann wird das Problem den Beterinnen und Betern zugeschoben: Sie haben halt nicht genug geglaubt. Oder Gott straft sie (für was, werden sie schon herausfinden, wenn sie gründlich und ehrlich genug in sich gehen).
2. Andererseits wird der christliche Glaube nicht darauf verzichten können, den Gottesbezug in der Geschichte und für jeden Einzelnen zu reklamieren. Bliebe Gott nicht auch nach seinem Schöpfungshandeln auf seine Schöpfung und deren Geschick bezogen, wäre – um nur dies zu nennen – unser Bittgebet sinnlos bzw. wäre uneigentliche Rede: Sie äußerte sich zwar als an Gott gerichtete Anrede, wäre aber zu verstehen als Selbstartikulation bzw. Selbstprüfung vor einer letztgültigen (nicht personal) zu verstehenden Instanz6. Auch die Fülle der biblischen Belege, die von der bittenden Hinwendung der Menschen zu Gott zeugen und dazu ermutigen – angefangen von der Befreiungserfahrung des Volkes Gottes (vgl. Ex 2,24f) bis hin zu Jesu Aufforderung zum Gebet (vgl. Joh 15,7) – wären in diesem Sinne umzudeuten. 3. Was aber bedeutet die Bezogenheit Gottes auf seine Schöpfung, wenn man das unter Punkt 1 genannte Missverständnis eines Allverursachers vermeiden will? Sagen wir es zunächst negativ: Wenn Gott sich im gekreuzigten Jesus von Nazareth finden lässt, kann er nicht als pandirigistischer Gubernator gedacht werden. Letzterem widerspräche auch, dass Gott seine Schöpfung und zumal seine Menschenkinder als freies Gegenüber will und nicht als Marionetten, die lediglich auf das Ziehen der in Gottes Hand befindlichen Fäden reagieren. Gottes Allmacht zeichnet sich gerade durch seine Macht über die Macht, also durch seine Fähigkeit zur Selbstzurücknahme aus. Gottes Allmacht ist die Macht seiner in Christus geoffenbarten Liebe! In die gleiche Richtung weist Wolf Krötges Formulierung: »Gottes Fürsorge geschieht vorsichtig«. Dazu führt er aus: 5 Beintker, Frage (s. oben Anm. 3), 446. 6 So zuletzt Ulrich Barth, Buch mit sieben Siegeln. Warum wir im 21. Jahrhundert nicht mehr einfach so beten können, zeitzeichen 17, Heft 11 (2016), 33–35.
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»Schon in seiner Offenbarung, in der Gott in eschatologischer Gültigkeit handelt, geht er die Welt ja nicht so an, dass er sie mit seiner Göttlichkeit sozusagen überrennt und verbrennt. Sein Kommen zur Welt ist vielmehr dadurch charakterisiert, dass er vor der Welt zugleich einen Schritt zurücktritt und ihr so Raum und Zeit gewährt, als Welt da zu sein. Dieses Tun Gottes lehrt verstehen, warum er in seiner Sorge für die Welt nicht so gegenwärtig ist, dass seine Göttlichkeit die Welt vor den Augen der Menschen ausfüllt. Gott ist in der Welt weltlich verborgen gegenwärtig. Er sorgt in dieser Weise für sie, um sie sein Gegenüber sein zu lassen.«7
In diesem Sinne verstehe ich Gottes Führung als die Geschichte seiner erbarmenden Zuwendung. Will sagen: Der Glaube vertraut darauf, dass Gott seine Schöpfung trotz aller Schuld und in allen Rätselhaftigkeiten erhält und einmal zurechtbringen wird. Eine so verstandene Providenzlehre ist daher eschatologisch statt schöpfungstheologisch zu orientieren8. Die jetzt noch gequälte und seufzende Schöpfung wird einmal in Gottes Herrlichkeit ankommen (Röm 8), und die noch ausstehende Herrlichkeit leuchtet schon im Hier und Jetzt auf. Deshalb zielt der Glaube an Gottes Vorsehung nicht auf Welterklärung sondern auf Gewissheit. Man achte auf Frage 28 des Heidelberger Katechismus: »Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung und der Vorsehung Gottes? Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, in Glückseligkeit dankbar und auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sind, dass uns nichts von seiner Liebe scheiden wird …«
Im Lichte seines Adventus wird es möglich, Gottes Mit-Sein zu jeder Zeit und Stunde zu denken, im Glauben zu bekennen und im Leben und Sterben darauf zu vertrauen 9. 7 Wolf Krötke, Gottes Fürsorge für die Welt. Überlegungen zur Bedeutung der Vorsehungslehre, in: ders., Die Universalität des offenbaren Gottes, München 1985, 90. 8 Das verbindet die Entwürfe der hier Zitierten: Beintker, Link und Krötke; vgl. auch den sehr instruktiven Aufsatz von Wilhelm Hüffmeier, Deus providebit? Eine Zwischenbilanz zur Kritik an der Lehre von Gottes Vorsehung, in: Ingolf U. Dalferth / Johannes Fischer / Hans-Peter Großhans (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 237–285, bes. 253ff. 9 Link, Schöpfung (s. oben Anm. 4), 451 schreibt: »Gott als Quellort der sich entrollenden Zeit zu verstehen heißt ja, damit zu rechnen, dass er unserer Welt in jedem
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4. Daraus aber folgt: Kontakt zum helfenden Gott bekommen wir nicht im Betrachten und Analysieren der Phänomene und Begebenheiten als solcher, sondern im Gebet als der Kontaktnahme mit dem, für dessen Handeln wir uns öffnen wollen. Dem entspricht, dass die Bibel keine Dogmatik, keine Lehre von Gottes Providenz entwirft, sondern von seinem Handeln je konkret lobend, bittend und klagend redet. Der im Gebet sich erschließende Gottesbezug hilft, die Welt neu zu verstehen und auszulegen. Dies möchte ich im folgenden Teil entfalten, indem ich biblische Glaubenszeugnisse danach befrage, wie sie die Aussage »Gott hilft« verstehen. Dabei werden wir auf unterschiedliche Facetten einer Antwort stoßen, die je für sich wahrgenommen werden wollen, zugleich aber aufeinander verweisen und sich gegenseitig ergänzen.
III 1.
Gott bewahrt vor Not
Die erste hier zu nennende Facette gerät beim Fragen nach Gottes Hilfe oft in Vergessenheit. Die Rede ist von Gottes segnendem Handeln. Wir erleben nicht nur Not und Elend, sondern Gott sei Dank auch Momente und Phasen von gelingendem Leben, von Wachstum und Gedeihen, von Erfolg, von beglückenden Begegnungen und verlässlichen Beziehungen. Aber bringen wir diese auch mit Gott in Verbindung? Unsere Gesangbuchlieder tun das. Als Beispiel für viele steht die 4. Strophe des Liedes »Die güldne Sonne« (EG 449,4): »Abend und Morgen sind seine Sorgen; segnen und mehren, Unglück verwehren sind seine Werke und Taten allein. Wenn wir uns legen, so ist er zugegen; wenn wir aufstehen, so läßt er aufgehen über uns seiner Barmherzigkeit Schein.«
Dass uns der Glaube an Gottes Hilfe Probleme bereitet, hängt nicht nur aber auch mit einer spezifischen Vergesslichkeit zusammen: Wir versäumen es, Gott mit dem – fälschlicherweise so genannten – Normalfall in Verbindung. Tatsächlich scheint diese Vergesslichkeit schon Augenblick ihres zeitlichen Daseins nahe kommt, indem er unserer Zeit seine Zeit als Grund ihrer weltlichen Zukunft gewährt«. Vgl. zuletzt ders., Theodizee. Eine theologische Herausforderung, Neukirchen-Vluyn 2016.
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in biblischen Zeiten an der Tagesordnung gewesen zu sein. Liest man die Psalmen, so fällt auf, dass zum Loben bzw. Danken eigens aufgefordert werden muss: »Danket dem Herrn …« (Ps 118,1.29) wird der Gemeinde ein ums andere Mal zugerufen; »Lobe den Herrn …« kann einer auch zu sich selbst sagen: »Lobe den Herrn meine Seele …« (Ps 103,1f) – fast ist es so, als müsse man sich einen Ruck geben. Andere Weisen des Betens gehen einem offenbar leichter über die Lippen. Die Klage eines in Not Geratenen etwa braucht keinen ermahnenden Vorlauf, da geht es gleich zur Sache: »Gott höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen« (Ps 55,2). Der Angefochtene bittet: »Sei mir gnädig Gott, sei mir gnädig« (Ps 57,2), und wessen Leben von Feinden bedroht ist, der bedarf keiner Extraeinladung, sondern schreit los: »Errette mich Gott von meinen Feinden und schütze mich vor meinen Widersachern …« (Ps 59,2f). Diese Spontanität geht dem von Gott Beschenkten gerade ab; auch dem Frommen, für den das Beten selbst kein Problem darstellt. Auch er leidet offensichtlich unter einem mangelnden Sensorium für Gottes Wohltaten, gepaart mit jener spezifischen Vergesslichkeit. Und darum: »Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen!« Und gleich noch einmal: »Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.« – Tu das, liebe Seele, weil du dir selbst einen Gefallen tust und Gott auch, wenn du dich seiner Güte erinnerst und konkret benennst, was du von ihm empfangen hast. Dabei ist es dem Psalmisten nicht um das Einbimsen einer Höflichkeitskonvention zu tun. Für ihn steht mit der Aufforderung zum Lob die Frage nach der Grundeinstellung zu Gott und damit auch zum Le ben auf dem Spiel. Dieser Zusammenhang hat sich mir auf dem Umweg über eine japanische Form der Psychotherapie neu erschlossen. Die Rede ist von Naikan, einer Form der Selbsterforschung, die ich durch einen amerikanischen Freund, der lange in Japan studiert hat, kennengelernt habe10. Das Wort Naikan bedeutet soviel wie »konzentrierte Innenschau«, und im Grunde besteht die ganze Therapie aus nicht viel mehr als einem bestimmten Setting. Wer sich auf Naikan einlässt, meditiert unter der Anleitung eines Lehrers mehrere Tage lang die verschiedenen Etappen seines Lebens unter drei Leitfragen: 1. Was hat meine Mutter Gutes für mich getan? 2. Was habe ich ihr Gutes zurückgegeben? 3. Welche Schwierigkeiten habe ich ihr bereitet? 10 Vgl. David K. Reynolds, The Quiet Therapies. Japanese Pathways to Personal Growth, Hawaii 1982, 46–65.
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Natürlich bleiben die Fragen nicht auf die Mutterbeziehung beschränkt. Zwar beginnt die Meditation mit der Mutter bzw. mit der ersten Bezugsperson, doch danach folgen in je individueller Gewichtung die anderen Personen, die auf meinem Lebensweg prägend waren: Familienmitglieder, Freunde, Kollegen; und nicht nur Personen, auch Gruppen und Institutionen können in den Blick genommen werden oder der Ort, an dem ich wohne, oder mein eigener Körper oder Gott. Worauf die Aufmerksamkeit auch immer gerichtet sein mag, wichtig ist, dass die Abfolge jener drei Fragen streng eingehalten wird: »Was hat mir N.N. Gutes getan?« – »Was habe ich N.N. Gutes zurückgegeben?« – »Welche Schwierigkeiten habe ich N.N. bereitet?« Dabei sollte man bei der dritten Frage am längsten verweilen! Als ich mit Naikan – zunächst theoretisch – in Berührung kam, stellte ich natürlich sofort die kritische Rückfrage, die sich jedem aufdrängt, der dieser Therapie zum ersten Mal begegnet: »Wo bleibt denn Frage Nr. 4?« Also die Frage, die in den meisten unserer westlichen Formen von Psychotherapie einen großen Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht? Im Schema von Naikan: Wo bleibt die Frage nach dem, was meine Mutter – und dann auch all die anderen – mir an Schwierigkeiten bereitet hat/haben? Mit einem Wort: Wo bleibt die Frage nach den mir zugefügten Traumata? Nun ist es nicht so, als würden die Vertreter von Naikan leugnen, dass es Verletzungen gibt, die oftmals ein ganzes Leben negativ prägen können. Dennoch klammern sie Frage Nr. 4 bewusst methodisch aus. Ihr Argument: In der Beschäftigung mit dieser Frage sind die meisten Menschen ziemlich gut. Das ist auch gar nicht falsch, nur reicht es eben nicht aus, um psychisch zu gesunden bzw. zu wachsen. Denn das andere ist eben auch wahr: Wir machen uns unser Leben dadurch schwer, dass wir verdrängen und vergessen, wie viel wir anderen verdanken, wie sehr wir in einem Netzwerk von Fürsorge gehalten sind, wie sehr wir immer schon von Vergebung leben, weil wir willentlich oder unwillentlich anderen zur Last fallen. Die Pointe von Naikan liegt gerade in der Einseitigkeit des Blickwinkels, wie er sich in der Beschränkung auf jene drei Fragen manifestiert. Gerade die Fokussierung hilft, Neues zu entdecken. »Was hat meine Mutter Gutes für getan?« Wer diese Frage zum ersten Mal meditiert, der wird zunächst feststellen, wie schwer es ist, wirklich bei der Frage zu bleiben und nicht sofort wieder über das tückische Wörtchen »aber« zur nun einmal ausgeklammerten Frage Nr. 4 zu wechseln. »Zwar war meine Mutter sehr fürsorglich, aber …« womit im Zweifelsfall das, was vor dem »aber« steht, sofort wieder relativiert wäre und ich einmal mehr beim aufmerksamen Betrachten des mir zugefügten Kummers landete. Außerdem ist man zu Beginn der Meditation mit Frage 1
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ziemlich schnell fertig, was unter anderem damit zusammenhängt, dass man gerade beim Erinnern von Gutem zum Verallgemeinern neigt. Aber es ist eben eines festzustellen, dass meine Mutter fürsorglich war, ein anderes, mir einmal vor Augen zu halten, dass sie mir – ganz gleich, wie sie gelaunt war und ob es ihr nun gut ging oder schlecht – bis zum Abitur ca. 18000 Mahlzeiten auf den Tisch gebracht hat. In Worten: achtzehntausend! »Was habe ich ihr Gutes zurückgegeben?« Wer sich für diese Frage Zeit nimmt, wird feststellen, dass sein Dank oft Gesinnungssache blieb – wenn man nicht überhaupt viel zu viel als selbstverständlich hingenommen hat. Gefragt ist aber nach dem, was du zurückgegeben hast. Hattest du wenigstens gute und achtsame Worte übrig für das, was dir an Gutem getan wurde? Wie warst du für andere Menschen eine Wohltat? Und diese Frage spitzt sich noch einmal zu, wenn man sich auf die dritte Frage einlässt: »Welche Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet?« Wo war ich angewiesen darauf, dass meine Umgebung mich trug, mich ertrug, mir Fehler nachsah, mir Schuld vergab?
Ohne Naikan selbst praktiziert zu haben kann man sich kaum vorstellen, wie viele und tiefe Gefühle diese Meditation in einem Menschen auszulösen vermag. Jeder erlebt sie anders. Aber was am Ende bei vielen überwiegt, ist ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, in allem und trotz allem gehalten zu sein von einem lebendigen Beziehungsgeflecht, von einem Netzwerk des Lebens. Das setzt – und hier passt die etwas abgenutzte Floskel tatsächlich – positive Energie frei, übrigens auch die Fähigkeit, das Kreisen um sich selbst je und dann zu unterbrechen. »Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.« Der Ansatz von Naikan hat mir geholfen, die Weisheit unseres Psalms neu zu entdecken. Denn in der Tat: Es ist vergeudete Energie, die Güte Gottes zu vergessen. Was lade ich mir nicht alles auf, was muss ich nicht notgedrungen mir und anderen aufbürden, wenn ich absehe von dem, was Gott für mich tut!? Sünde vergeben, Gebrechen heilen, aus Gefahr erretten, aber auch: dafür sorgen, dass ich wieder lachen kann und zu neuen Kräften komme. Gerade jüdische Beter wissen, dass das Lob Gottes, soll es denn seine tröstliche und kräftigende Wirkung entfalteten, der konkreten Erinnerung bedarf. Der sehr konkreten! Ein jüdisches Morgengebet lautet: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der den Menschen gebildet mit Weisheit und an ihm erschaffen viele Öffnungen, viele Höhlungen. Offenbar ist vor dem Throne deiner Herrlichkeit, dass, wenn eine von ihnen offen oder eine von ihnen verschlossen bliebe, es nicht möglich wäre zu bestehen und vor dich hinzutreten.«
Oft wird uns erst dann, wenn das, wovon hier geredet wird, nicht so ›klappt‹ wie es soll, schmerzlich bewusst, dass all die Verrichtungen,
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die wir in der Regel für selbstverständlich und ›normal‹ ansehen, pure Gnade sind, für die man nicht dankbar genug sein kann. Aber wer erst einmal verlernt hat, Gottes Güte mit seinem Alltag zusammenzubringen und daraus Kraft zu schöpfen, der soll sich nicht wundern, dass ihm in Zeiten der Krise Gott ganz aus dem Blick gerät. Und deshalb: »Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.« Du brauchst das, liebe Seele, es tut dir gut, und es erfreut Gott. Würden wir unser Reden von Gottes Hilfe auf diesen ersten Aspekt beschränken, würde es jedoch oberflächlich und könnte den Härten unseres Lebens mit all seinen Abgründen und Enttäuschungen nicht standhalten. Ein happy-clappy-evangelium ist in Wahrheit nicht so fromm, wie es bisweilen daherkommt, und lebensdienlich ist es auch nicht. Nur: Ausblenden dürfen wir diese Seite nicht, denn sie gibt uns Wegzehrung für die Durststrecken unseres Lebens. Daher sollten Predigt und Gottesdienst auch sein: Erinnerungs- und Wahrnehmungshilfe für das segnende und bewahrende Handeln Gottes. 2.
Gott hilft aus Not heraus
Unter dieser Überschrift wenden wir uns dem rettenden Handeln Gottes zu. Die Befreiung des Volkes Gottes aus der Knechtschaft in Ägypten, die vielen Rettungstaten auf der langen Wanderschaft durch die Wüste, die Rettung vor feindlichen Angriffen im neuen Land, die Rückführung aus dem babylonischen Exil, aber ebenso die Heilungswunder Jesu und später die Rettung eines Petrus oder Paulus aus allerlei lebensbedrohlichen Notlagen – all diese und viele andere Geschichten, die hier nicht aufgeführt werden, können bezeugen: Gott hilft aus Not heraus. Dabei bleibt festzuhalten: Jede dieser Geschichten ist ein Glaubenszeugnis. Mit Gerhard von Rad gesprochen: ein »geschichtliches Credo«. Keine kann für sich und als solche als Beweis für die rettende Kraft Gottes gelten. Denn man kann bzw. könnte jede Geschichte auch ohne Gott erklären: als Ergebnis einer besonderen historischen Konstellation, als Zufall, als den glücklichen Umständen geschuldet. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ernüchtert ich war, als ich im alttestamentlichen Proseminar lernte, dass es für die beiden Wüstenwunder, die mich seit Kindergottesdiensttagen besonders beeindruckten, die Wolken- und Feuersäule sowie das Manna in der Wüste, naturwissenschaftliche Erklärungen gibt: Ersteres als vulkanisches Phänomen (ähnlich wie beim Ätna), Manna als die Fruchtkügelchen der Tamariske. Dabei zeigt das doch nur: In vielen, um nicht zu sagen:
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in den meisten Fällen hilft Gott auch in den biblischen Rettungsgeschichten auf »natürliche« Weise, jedenfalls ohne Außer-Kraft-Setzung der uns bekannten Naturgesetze. Dadurch kommt sein Handeln unserer Erfahrungswelt nahe – und macht es zugleich verwechselbar. Aber der Glaube der biblischen Zeugen sieht in diesen Ereignissen Gott am Werk, versteht sie als Ergebnis seiner helfenden Zuwendung. Deshalb werden sie für erfahrene Rettung danken und um erhoffte bitten. Deshalb bewahren sie die Geschichten von Gottes rettender Hilfe auf: den Nachkommen zum Trost und zur Ermutigung. Die Bibel erzählt auch, dass Gott bisweilen auf eine Weise hilft, die unsere Möglichkeiten des Verstehens sprengt. Dann reden wir von Wundern. Denken wir nur an die Heilungsgeschichten, die in beiden Teilen der Bibel bezeugt werden, vor allem aber im Wirken Jesu einen großen Raum einnehmen. In diesen Geschichten geschieht das helfende Handeln Gottes besonders sinnfällig – zugleich aber erscheinen sie uns besonders rätselhaft und manchen unglaubwürdig. Folgendes sollten wir im Blick auf die Predigt im Auge behalten: a) Auch in der Bibel sind Wunder nicht der Normalfall göttlicher Hilfe, vielmehr bilden sie die Ausnahme. Das gilt ebenso für das Wirken Jesu: Er heilte viele, aber beileibe nicht alle. Hinzu kommt: Ein Wunder macht das Geschehene nicht »gottvoller«. Menschen kommen im Wunder mit Bereichen in Berührung, die ihr Verstehenden transzendieren, sie verweisen auf eine uns verborgene Seite der Wirklichkeit, aber diese verborgene Seite ist Teil der Schöpfung und nicht (biblisch gesprochen:) des ›Himmels‹. Im Alten Testament wird ausdrücklich betont, dass sich wundersames Walten auch außerhalb des Volkes Gottes findet: Die Priester des Pharao, die mit ihrem Stab Gleiches vollbringen können wie Mose, die Hexe von Endor, die einen Totengeist heraufbeschwören kann, sodass er zu einem Lebenden redet; von Wunderheilungen ganz zu schweigen. b) Andererseits sehe ich auch für uns als aufgeklärte Zeitgenossen keine zwingende Notwendigkeit, solche Geschichten aufgrund ihres wundersamen Charakters prinzipiell in Frage zu stellen. Dass etwas nicht passiert sein kann, weil es sich unserem naturwissenschaftlichen Begreifen (noch) entzieht, ist ein Glaubenssatz, den heute auch viele Naturwissenschaftler hinterfragen würden. Da ist seit Rudolf Bultmanns programmatischem Entmythologisierungsaufsatz von 1946 gerade auch außerhalb der Theologie noch einmal viel in Bewegung geraten – man denke nur an die Chaosforschung, die uns das Staunen gelehrt hat darüber, wie in dynamischen Prozessen aus bekannten Ausgangsbedin-
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gungen Unvorhersehbares entstehen kann (»Emergenz«). Dabei geht es nicht darum, etwas zu beweisen (nach dem Motto: »Und die Bibel hat doch recht«), sondern sich offenzuhalten für die Erkenntnis, dass die Natur stets eine rätselhafte Seite behalten wird. Je öfter ich auf ökumenischen Reisen in andere Kulturen eintauchen konnte, wurde ich Zeuge von Erfahrungen, die ich weder wegrationalisieren kann noch theologisch befrachten möchte. c) Wir sollten die wundersamen Heilungsphänomene in unseren Predigten also weder als besonders ›göttlich‹ hinstellen noch ihnen ausweichen oder sie grundsätzlich symbolisch umdeuten nach dem Motto: »Es geht um den klaren Durchblick« – oder: »Das eigentliche Wunder ist der aufrechte Gang …« Für viele Gemeindeglieder wird das nach ›Pfusch‹ klingen, nach einem Sich-um-das-Rätselhafte-herumdrücken. Wir sollten Wundergeschichten als das nehmen, was sie sind: Glaubenszeugnisse von Menschen, die Gottes helfende Zuwendung auf nun eben rätselhaftem Wege erfahren haben und sie weitergeben als Zeichen seiner Güte, anderen zur Ermutigung und zum Trost. d) Ich betone noch einmal: Es geht um Glaubens- und nicht um Beweisgeschichten. Wir dürfen deshalb auch nie den Eindruck erwecken, sie seien so etwas wie der Normalfall göttlicher Hilfe. »Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod …« (EG 303,5). Dies ist in Predigten anzusprechen, denn wir werden mit Hörerinnen und Hörern zu rechnen haben, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass in ihrem Leben das einträte, wovon die biblische Geschichte erzählt; die womöglich lange und inständig darum gebetet haben – ohne die erhoffte Wende zu erfahren. Das kann sie in Abgründe führen, die durch eine allzu vollmundige und einseitige Betonung dieser Weise von Gottes Hilfe nur noch tiefer würden. Und noch schlimmer wäre es, wenn eine solche Predigt in den Enttäuschten Selbstzweifel entfachen würde: Liegt es vielleicht an mir? Womit habe ich verschuldet, dass mir die Rettung aus meiner Not vorenthalten bleibt? Einmal besuchte ich eine an MS erkrankte Dame. In ihrer Jugend und noch als junge Frau war sie eine begeisterte und sehr erfolgreiche Turnerin gewesen. Allseits beliebt wegen ihrer Fröhlichkeit und ihrem natürlichen Witz. Aber schon sehr bald war sie an MS erkrankt. Ihr Zustand verschlechterte sich rasch, und früher als manch andere Leidensgenossin war sie an den Rollstuhl gefesselt. Sie öffnet mir die Tür, sieht mich so von unten herauf an und sagt als ersten Satz: »Herr Pastor, noch ein Jahr, dann hab’ ich ihn ein.« Ich verstand zunächst gar nicht, was sie meinte, und fragte zurück: »Entschuldigen Sie, aber was meinen Sie mit ›hab ich ihn ein?‹« »Na, Sie wissen doch, der Kranke da am Teich –
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wie hieß der noch? Irgendwas mit Bet … Also der Typ, der da 38 Jahre lag [vgl. Joh 5,1–9]. Noch ein Jahr, dann hab ich ihn eingeholt, ich sitze nämlich schon 37 Jahre in dem Ding hier. Da woll’n wir doch mal sehen, ob Ihr Herr Jesus mich nächstes Jahr auch gesund macht.« Ich wusste nichts zu antworten. Und was ich verlegen gestammelt habe, weiß ich heute nicht mehr. Aber mir wurde schlagartig klar: Heilungsgeschichten bergen die latente Gefahr, dass sie Menschen enttäuscht und traurig zurücklassen, weil sie sich vom Glück des Geheilten ausgeschlossen fühlen.
Nie wurde meiner Gemeinde die Geschichte von der Heilung des Bartimäus (Mk 10,46–52) eindringlicher ausgelegt als von unserem kreiskirchlichen Blindenbeauftragten. Zuerst las er sie aus seiner Blindenbibel vor, und dann redete er davon, wie ihn, der nach menschlichem Ermessen nie wieder wird sehen können, diese Geschichte in Anfechtung führt, aber auch Trost und Ermutigung bereithält. So konnte er dankbar davon erzählen, wie er sich in der Gemeinde aufgehoben fühlte. Und wie er – nach einer schmerzhaft langen Phase des Haderns und des Rückzugs – lernte, sich die Welt mit seinen anderen Sinnen zu erschließen. Obwohl ihm Heilung versagt blieb, ließ das biblische Zeugnis ihn doch nicht heillos zurück. Das führt zu dem nächsten Aspekt: Gott hilft in Not. Die MS-kranke Dame blieb auch im 38. Jahr ihrer Krankheit auf ihren Rollstuhl angewiesen. Und doch hat sich im Verlauf meiner Besuche etwas verändert. Mir fiel bald auf, dass sie nicht nur an ihren Rollstuhl gefesselt war, sondern mit ihrem Rollstuhl. Obwohl sie ein so geselliges Naturell hatte, pflegte sie kaum Kontakt zu anderen Leuten, weil sie sich ihrer Krankheit schämte: »Was sollen die Leute denken, was werden sie sich das Maul zerreißen, wenn ich mich durch die Gegend rollen lasse?« Zudem: »Ich will ja auch niemandem zur Last fallen«. Wir haben viel geredet, und gebetet haben wir auch. Schließlich war sie bereit, sich (zunächst »nur mal so zur Probe«) in den Frauenkreis der Gemeinde bringen zu lassen. Sie blieb dabei. Bald ließ sie sich auch zu anderen Veranstaltungen fahren, auch in den Gottesdienst. Das allererste Mal werde ich nie vergessen. Ich hatte den Frauenkreis auf ihr Kommen vorbereitet. Eine Stuhllücke bot Platz für ihren Rollstuhl. Als sie in den Raum gerollt kam, applaudierten die Damen – und sie strahlte.
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Die Bibel schätzt unsere Lage realistisch ein. Jenseits von Eden eilt der Mensch, auch der fromme und gottesfürchtige Mensch, nicht von Höhepunkt zu Höhepunkt, sondern sein Leben ist »Müh und Arbeit«. Sein Weg führt ihn nicht nur in luftige Höhen, sondern auch durch tiefe Täler, die unendlich lang sein können. Dem großen Men-
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schenkenner Siegmund Freud wird ein Diktum zugeschrieben, das auch wir Theolog_innen beherzigen sollten: »Am Ende einer gelungenen Therapie entlassen wir den Patienten aus seinem neurotischen Leiden in sein alltägliches Elend.« Und nicht nur der Mensch, auch die »Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit … Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstigt« (Röm 8,20a.22). Diesen Realismus müssen wir gegenüber allen Versuchungen eines allzu vollmundigen amerikanischen Happy-clappy-Evangeliums, wie es sich gerade in der Zweidrittelwelt immer weiter ausbreitet (und uns in charismatisch geprägten Gemeinden längst erreicht hat), in Erinnerung bringen. Sosehr man sich seines Glücks freuen und Gott dafür dankbar sein soll (vgl. Abschnitt 1), sosehr gilt auch: Gnade ist nicht gleich Glück. Anders gesagt: Unglück muss kein gnadenloser Raum sein, nicht das Ende der Hilfe Gottes. Denn Gottes Hilfe hat nicht nur die Gestalt von Rettung aus Not, sondern auch von Begleitung in der Not. Mit Ps 23 gesagt: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück«, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.« Auch auf finstersten Wegstrecken haben Menschen Gottes Hilfe als Begleitung, Trost und Quelle von Kraft erfahren. Davon zeugt, was Paulus aus dem Gefängnis heraus an die Philipper schrieb, ebenso die Gefängnisbriefe Dietrich Bonhoeffers: »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag …« (EG 65 und 652). Wir alle kennen solche kraftvollen Glaubenszeugnisse – und: Manchem von uns scheinen sie weit weg. Deshalb hat es mich immer angesprochen, wenn mir Gottes tröstender Beistand von sogenannten »normalen« Gemeindegliedern bezeugt und nahegebracht wurde. Hausbesuch bei Herrn Löhr. Ich machte mich reichlich befangen und ängstlich auf den Weg, denn ich war vorgewarnt worden: Es gehe ihm ganz schlecht – Magenkrebs im Endstadium. Wie sollte ich – gesund, noch relativ jung und unerfahren – ihn trösten. In der Tat erwartete mich ein Bild des Jammers: Da lag ein vom Tod gezeichneter Mann, an Schläuche angeschlossen; ernährt wurde er durch die Nase. Über seinem Krankenbett hingen Bilder von der Familie, aber eben auch eine Urkunde vom CVJM, in dem er zeitlebens aktiv war, und der Konfirmationsspruch mit Frage 1 des Heidelberger Katechismus. Nach der Begrüßung und einigen reichlich ungeschickten Sätzen meinerseits zeigte er mit seiner ausgemergelten Hand nach oben und sagte: »Herr Pastor, ohne den da oben könnte ich das hier nicht aushalten«. Am Ende des Besuches fühlte ich mich getröstet, Herr Löhr hatte mir von seinem Trost weitergegeben11. 11 Vgl. meine Predigt über Frage 1 des Heidelberger Katechismus unten S. 170– 176.
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Auch diese Weise der Hilfe Gottes haben wir in der Predigt eher tastend, jedenfalls nie vollmundig weiterzusagen. Die bohrenden Fragen sind ja nicht einfach verstummt: »Warum trifft es gerade mich?« »Warum bleibt bei mir Heilung aus?« Auch Herr Löhr hat so gefragt. Und doch machte es für ihn einen Unterschied, sich in seinem Elend und mit seinen Fragen an Gott wenden zu können, sich von ihm begleitet zu fühlen und Kraft zum Aushalten zu bekommen. Ja, es gibt unheilbare Krankheiten – aber keine hoffnungslosen Fälle! Nun hat der jetzt behandelte Aspekt noch eine Facette, die, so heikel sie ist, nicht unterschlagen werden darf: Bisweilen hilft Gott in Gestalt von Not. So kann einer beten: »Der Herr züchtigt mich schwer; aber er gibt mich dem Tode nicht preis« (Ps 118,18). Oder denken wir an den Propheten Jona: Nachdem ihn sein bisheriges Leben in einen Abgrund geführt hat, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, findet er im Walfischbauch zu den Worten: »Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben« (Jon 2,4). Oder denken wir an Paulus, der in 2Kor 12 über seine schwere Krankheit redet, die ihn quält, wobei er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als von ihr geheilt zu werden: »Dreimal« hat er zu Gott gefleht, dass dieses teuflische Leiden von ihm genommen werde (V. 8); wobei das Dreimal« eine Anspielung auf Jesu Gebet in Gethsemane ist. Gemeint ist also: fortwährend. Aber nichts ist geschehen, jedenfalls keine Heilung. Stattdessen hat er ein Gotteswort bekommen – vielleicht dürften wir heute sagen: Hat er sein Losungsbüchlein aufgeschlagen und etwas gelesen, was seine Seele erreicht: »Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (V. 9). Dieses Wort setzt bei ihm 12 einen Verstehens- und Bewältigungsprozess in Gang, der ihn zu der Erkenntnis führt: Mein »Pfahl im Fleisch« (V. 7) ist eine Weise, in der Gott an mir arbeitet. Deshalb kann Paulus seine Krankheit akzeptieren. Mehr noch: Er erlebt sie als besonderer Quelle von Kraft: »… denn wenn ich schwach bin, bin ich stark« (V. 10). Mir erscheint die Erfahrung des Paulus besonders aussagekräftig, denn er bezeugt durch sein Wirken, dass es um viel mehr geht als um ein frommes Paradox. Die Erfahrung eigener Schwachheit macht ihn sensibel und achtsam für Schwache. Einen seiner Briefe hat er nur deshalb geschrieben, um Fürsprache für einen entlaufenen Sklaven zu nehmen (Philemonbrief). In Gemeindekonflikte zwischen »Starken« und »Schwachen« mischt er sich ein, wirbt um Verständnis und Akzeptanz der »Schwachen«, und das, obwohl die »Starken« theologisch im Recht sind (vgl. 1Kor 8). Und auch in Fragen der Gottesdienstgestaltung ist sein wichtigstes Kriterium eben dies, dass die an den Rand Gedrängten und benachteilig12
Vgl. die Bibelarbeit über 1Kor 11,17–34 unten S. 133–150.
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ten Menschen zu ihrem Recht kommen. Wenn sie nicht integriert werden, sondern ausgegrenzt, wenn also der liturgische Ablauf zur Widerspiegelung bestehender gesellschaftlicher Schieflagen verkommt, verliert der Gottesdienst nach Paulus seine Würde. Dann essen und trinken sich die Begüterten im Abendmahl das Gericht Gottes an den Hals (vgl. 1Kor 11,27–29). Und auch das Bild von der Gemeinde als Leib (1Kor 12,12–27) zielt darauf, den Schwachen Gewicht zu geben, für deren besondere Würde zu werben und zur Achtsamkeit zu animieren.
»Wenn ich schwach bin, bin ich stark« – das hat Paulus nicht nur gesagt, sondern in Ausübung seines Apostolats konsequent gelebt. Er sieht sich in der Nachfolge und in engster Verbundenheit mit Christus. Die aus seiner Schwachheit resultierende Kraft ist die »Kraft Christi« (2Kor 12,9). Denn Christi Hingabe am Kreuz ist der Weg, auf dem Gott ihn und die Seinen zum Leben führt. Allerdings bleibt zu beachten: Zu der Erkenntnis, dass Gott auch in Gestalt von Not hilft, kann nur der Betroffene selber finden. Bei Paulus erfuhren wir, dass diese Glaubenseinsicht Frucht eines langen Gebetsringens war. Wir können sie also weder in der Predigt noch in der Seelsorge von außen an andere herantragen, ihnen gar andienen. Tun wir das, wird die ›in sich‹ richtige Aussage – und sei sie christologisch noch so abgesichert – falsch. Noch einmal zu Jona: Es ist eines, dass er, von Finsternis umgeben, betend bekennt: »Du warfst mich in die Tiefe des Meeres« (2,4). Aber wie zynisch wäre es, wenn der Seemann, der ihn über Bord warf, ihm mit auf den Weg gegeben hätte: »Wer weiß, was Gott jetzt mit dir vorhat«. Wir sollen fremde Not und fremdes Leid nach Kräften lindern, womöglich bekämpfen, nicht aber theologisch erklären. Als Zeugnis von Betroffenen jedoch bleibt die Aussage gültig: Gott hilft bisweilen in Gestalt von Not. Und so mag diese Einsicht auch andere ermutigen, noch einmal einen neuen Blick auf ihr eigenes Elend zu wagen. 4.
Gott hilft jenseits aller Not
Trotz allem bisher Erörterten bleibt ein nicht einzuholender Rest. Wobei schon das Wort Rest wie eine unangemessene Verharmlosung anmutet. Denn was ist mit all den unbegreiflichen Absurditäten, mit den nicht verstummenden Schreien der Gequälten, mit dem Meer ungetrockneter Tränen? Jede morgendliche Zeitungslektüre konfrontiert mit dieser Frage. Aber bisweilen ist es ein Einzelschicksal, durch das sie einen unweigerlich anspringt. So ging es mir und vielen Kolleginnen und Kollegen am Ende der Generalversammlung der Reformierten Weltgemeinschaft 2010 in Grand Rapids (USA).
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Wir waren während der Tagung wie verzaubert von Kristin. Diese junge, lebenslustige und anmutige Kirchenmusikerin aus Indonesien war die musikalische Leiterin des Gottesdienstteams. Wir genossen ihr Spiel und ihren natürlichen Charme; und nach jedem Gottesdienst standen einige bei ihr Schlange – etwa mit der Frage nach einem Notensatz oder einem Liedtext – um noch etwas mit ihr zu reden zu können. Am letzten Abend der Vollversammlung lud die indonesische Delegation ihren »Star« als Dank für den unermüdlichen Einsatz zum Essen in ein Restaurant außerhalb des Collegegeländes ein. Der nächtliche Rückweg führte im »Gänsemarsch« eine kaum befahrene Straße entlang. Als die Gruppe ein Grundstück mit Rasen passiert, setzt plötzlich die Sprinkleranlage ein. Kristin sagt »ups«, macht, um nicht nass zu werden, einen Schritt auf die Straße, wird von einem vorbeifahrenden Auto erfasst und ist tot. Als die Todesnachricht am nächsten Morgen die Runde macht, sind wir alle sprachlos, empört und zornig auf Gott. Am Vormittag dann ein Gottesdienst. Er begann mit dem Taizégesang »Bless the Lord my soul«, »Lobe den Herrn meine Seele« – jetzt? In dieser Situation? Ich zitiere aus einer Predigt von Helmut Gollwitzer. Predigttext ist Ps 118, dessen erster und letzter Satz lauten: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich« (Ps 118,1.29). Gollwitzer erinnert zunächst an den Beginn des Berichtes von der Gefangennahme Jesu, wo er heißt: »Nachdem sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus auf den Ölberg« (Mt 26,30). Das große Hallel, das zum Passahfest gesungen wurde, besteht aus den Psalmen 113–118. Mit dem letzten Satz aus Ps 118 bricht Jesus also auf zu seinem Weg nach Gethsemane und Golgatha. Wörtlich fährt Gollwitzer fort: »Jesus sagt damit auf dem Weg zum Kreuz: Das wird sich herausstellen, darauf geht alles zu. Alles, was dir jetzt angetan wird und was dir den Schrei der Verlassenheit auspressen wird, wird dies nicht widerlegen, wird nicht verhindern können, das dies herauskommt: ›Deine Güte ist ewig!‹ Das nennen die Theologen ein eschatologisches Bekenntnis, d.h. ein Bekenntnis gegen das jetzige im Namen einer noch verborgenen Zukunft, der Zukunft der Verheißung, die jetzt und hier ergriffen wird. Die Nacht wird nicht ewig dauern. Es wird nicht finster bleiben; die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht, werden nicht die letzten Tage sein. Wir schauen durch sie hindurch vorwärts auf das Licht, zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht loslassen wird … So widersprüchlich das zu sein scheint, der Lobgesang und der Todesweg, so ist das doch das Geheimnis des Evangeliums. Das ganze Evangelium will uns rüsten mit Lobgesängen.«13 13 Helmut Gollwitzer, Wendung zum Leben. Predigten 1970–1980, München 1980, 38f.
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Dies meint die Überschrift: »Gott hilft jenseits aller Not«. So wie der Gekreuzigte nicht in den Fängen des Todes blieb, so werden einmal auch von uns und unserer seufzenden Welt die Todesschatten weichen. Dann wird Gott abwischen alle Tränen. Leid, Schmerz, Geschrei, ja der Tod wird nicht mehr sein. Dann werden wir nichts mehr zu fragen haben. »Gott hilft« – das ist ohne diese auf Erlösung gerichtete Hoffnungsperspektive nicht zu denken und nicht zu glauben. Die Auferweckung Jesu von den Toten ist der Grund für unsere Hoffnung. Dieser lichtvollen Zukunft – der »Ewigkeit« – vertrauen wir alle die an, deren Zeit mit unbegreiflichem, ungewendetem, unverstandenem und unverstehbarem Leid gefüllt war. Nach dieser Zukunft strecken wir uns aus, wenn der Glaube an die Hilfe Gottes verzagen will: Gott kann nicht und er wird nicht preisgeben das Werk seiner Hände. Denn unsere Bewahrung vor Not, unsere Rettung aus Not, unser Beistand in Not und unsere Hoffnung jenseits aller Not stehen im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Bund und Treue hält ewiglich und der nicht loslässt das Werk seiner Hände. Niemals.
Emotional predigen – ein Impuls 1
Predigen, damit die Gemeinde klug wird? 2 Immerhin besser, als sie dumm zu halten oder gar für dumm zu verkaufen. Aber klug werden – reicht das als Predigtziel? Es würde reichen, wenn man »klug« im biblisch gefüllten Sinne des Wortes versteht, der ja weit mehr umfasst als die Weitergabe von Information und Belehrung. Aber oft geschieht nur eben dies in Predigten, und dann bleiben sie abständig, vermögen nicht zu berühren, sind im besten Fall: gelehrte, aber kalte Pracht. Auch die reformierte Definition des Predigtauftrages könnte in diese missverständliche Richtung weisen. Im Heidelberger Katechismus, Frage 103, wo es um das Sonntagsgebot geht, heißt es, man solle fleißig zur Gemeinde Gottes kommen. Wozu? Zitat: »Um Gottes Wort zu lernen«. Zu lernen! Und wieder: Dass Lernen auch eine emotionale und pragmatische Dimension hat, erfährt man schon im pädagogischen Proseminar. Aber assoziieren wird man mit »lernen« doch zunächst die Weitergabe von Wissensbeständen: der Gottesdienst als Klassenraum bzw. als Hörsaal? So erlebe ich viele Predigten, und die Sache wird nicht schon dadurch besser, dass aus dem Klassenraum die KiTa-Stube wird, in der mir allerlei Geschichten oder Geschichtchen angeboten werden von den drei Freunden, der kleinen Raupe Nimmersatt oder wie die Bilderbuchhelden gerade heißen mögen. Es gibt sie wirklich, die abständige, mich nicht bewegende und mich erst recht nicht anrührende Kanzelrede. Organisierte Belanglosigkeit. Der bekannteste Prediger des 19. Jahrhunderts, Charles Haddon Spurgeon hat einmal gesagt – und das darf man nur zitieren, weil es von einem wahrhaft frommen und zutiefst friedlichen und menschenfreundlichen Mann stammt; er hat einmal gesagt, protestantische Prediger gäben gute Märtyrer ab; die sind auf der Kanzel so trocken, dass sie gut brennen würden. Dass unsere Redekultur auch in anderen Bereichen öffentlichen Lebens oft ziemlich arm daherkommt, führt zu dem seltsamen Effekt, 1 Dieses Impulsreferat wurde gehalten im Zentrum Gottesdienst auf dem 35. Kirchentag in Stuttgart vom 3.–7. Juni 2015. 2 Die Eingangsfrage spielt auf das Motto des Kirchentages an: »… damit wir klug werden« (Ps 90,12).
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dass etwa in Talkshows Zuhörer einen emotional vorgebrachten Beitrag mit dankbarem Applaus honorieren, selbst wenn es sich inhaltlich um eine Banalität oder schlicht um Quatsch handelt. Wer etwa bei Jauch mit erhobener Stimme und großer Geste einwirft: »Man wird in dieser Runde ja wohl noch einmal sagen dürfen, dass 1 und 1 nicht 3, auch nicht 1,5, sondern präzise 2 ergibt« – der kann sich des Applaus’ ziemlich sicher sein.3 Also: Emotional predigen! Aber was heißt das? Heißt das, dass ich Gefühle zeige, weil ich von dem rede, was mich bewegt? Heißt das, dass ich meine Hörerschaft innerlich anrühren will, indem ich ihnen nicht nur etwas zu denken, sondern auch etwas zu fühlen, zu erleben gebe? Wohl doch beides: Nur mit dem, was mich selbst bewegt, kann ich andere bewegen – leicht gesagt, aber wie kann das gelingen? Bevor ich diese Frage noch etwas weiter verfolge, sei vorangestellt: Emotional bewegende Rede – das ist nicht schon für sich und als solches ein Qualitätsmerkmal. Denn auch hier lauern Gefahren. Dass gerade nach dem Zweiten Weltkrieg Gefühlvolles im evangelischen Gottesdienst und übrigens auch im Kirchenlied eher unter Verdacht stand, ist nach den Erfahrungen mit faschistischer Indoktrination, welche die Klaviatur emotionaler Agitation meisterhaft beherrschte, nur allzu verständlich. Und auch heute erleben wir Formen religiöser Agitation, die uns mit Recht erschaudern lassen. Deshalb muss von vornherein klar sein: Die Frage nach emotionaler Predigt darf nie abgekoppelt sein von dem inhaltlichen Kriterium, an welchem jede Predigt zu messen ist: Sie muss biblisch verantwortet von Gott in der Welt reden. Anders gesagt: Sie muss gottesfürchtig und deshalb menschenfreundlich sein, frohe Botschaft eben. Das Ziel froher Botschaft kann nie sein: Unterwerfung, blinder Gehorsam oder lediglich rationale Einsicht (weil der Prediger die besseren Argumente hat). Sondern: »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit«. Das unterscheidet die sanfte Macht einer schönen Melodie, die mich einstimmen und mitsummen lässt vom Marsch, der mich in seinen Rhythmus zwingt. Die Evidenz einer Erzählung ist von anderer Art als eine noch so zwingende Fakten- oder Argumentationskette. Was aber heißt es dann, emotional von Gott in der Welt zu reden. Ich frage absichtlich, was es heißt, nicht, wie man das macht. Denn 3 Ich kann hier (2016) nur eben andeuten, dass unser Thema im Zeitalter des »Postfaktischen« und damit einer sich von Tatsachen abkoppelnden Emotionalität, wie sie etwa im »Brexit« oder der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA zutage getreten ist, eine gesellschaftliche und politische Brisanz bekommen hat, die es auch homiletisch neu auszuloten gilt. Dem wird sich eine künftige Arbeit zuwenden.
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Gefühle oder auch gefühlvolles Reden machen zu wollen, das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Wie überhaupt das Prädikat »gemacht« in der Predigt ein Schimpfwort ist. Deshalb nenne ich im Folgenden drei Suchpfade. 1. Bin ich von dem, was ich der Gemeinde als Botschaft weitergeben möchte, selbst bewegt? Finde ich es für mich wichtig und drängt es mich, dieses Wichtige anderen mitzuteilen? Wenn ja, wird sich dies schon in der Art meines Vortrags, also leiblich und stimmlich, niederschlagen. Von dem, was mich selbst angeht und mir etwas bedeutet, werde ich anders reden als bei der Weitergabe von Sachinformationen. Und inhaltlich werde ich je und dann auch explizit deutlich machen, was der jeweilige Aspekt des Glaubens für mich bedeutet, bei mir auslöst, wo er mich tröstet oder verstört. Dies ist freilich ein heikles Unterfangen, denn man kann des Guten auch zu viel tun. Eine persönliche Predigt darf die Hörenden und vor allem die Tatsache, dass es sich hier um eine öffentliche Rede handelt, nicht aus dem Blick verlieren, sonst missrät die Selbstoffenbarung am Ende zum geistlichen Exhibitionismus, der abstoßend statt einladend wirkt. In der Seelsorge reden wir von selektiver Authentizität. Will meinen: Was ich sage, muss echt sein. Aber nicht alles, was im Augenblick »in echt« in mir vorgeht, gehört den anderen mitgeteilt. Ich kenne Formen des persönlichen Zeugnis-Gebens, die mich gerade nicht einladen und mitnehmen, sondern auf Distanz bringen oder mir gar ein schlechtes Gewissen machen, weil ich die persönlichen Erfahrungen des Predigenden nicht mitvollziehen kann. Es gibt in der Glaubensbeziehung zu Gott eine Intimität, die (unbeschadet ihrer subjektiven Wahrhaftigkeit) in der Predigt genausowenig veröffentlicht gehört wie persönliche Details einer Zweierbeziehung! 2. Wenn ich andere emotional berühren will, muss ich zuallererst in Kontakt zu ihnen treten. Und das bedeutet: Meine Rede muss für die Hörenden erkennbar absichtsvoll sein. Sie müssen spüren, was ich von ihnen bzw. für sie will, kurz: welche Intention ich verfolge. Will ich sie erbauen oder trösten, will ich sie ermutigen oder animieren sich auf den Weg der Nachfolge einzulassen? Will ich sie erfreuen oder – auf heilsame Weise! – verunsichern? Je mehr mir meine jeweilige Redeabsicht bewusst ist, desto eher werde ich Mittel finden, diese angemessen umzusetzen, und desto größer wird die Chance, dass meine Hörer sich angesprochen fühlen. »Wer etwas können will, muss etwas wollen können« – das gilt für die emotionale Predigt in besonderer Weise.
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3. Gefühle sind im Unterschied zu rein kognitiven Einsichten Sensationen, die unseren ganzen Körper betreffen – von Gefühlen werden wir ergriffen und bewegt: Liebe oder Hass, Freude oder Trauer, Empörung oder Mitleid. Und ausgelöst werden Gefühle durch Ereignisse oder Erlebnisse, die uns betreffen, bzw. durch Geschichten oder Bilder, an die wir selbst Erlebtes andocken können. Deshalb lautet mein dritter Suchpfad: Vermag das Angesprochene anzurühren? Nehmen wir den Satz: »Auch in unserem reichen Land findet sich bittere Armut«. Dieser Satz, so zutreffend er ist, berührt mich nicht wirklich. Ich mag ihn inhaltlich bejahen, aber er wird kaum dazu angetan sein, in mir Mitgefühl oder gar Empörung auszulösen. Man vergleiche diesen ›richtigen‹ Satz mit dem folgenden Beispiel: Im General-Anzeiger war am letzten Montag zu lesen, dass seit diesem Winter Sozialhilfeempfängern 4 kein Zahlungsaufschub für ihre Stromrechnung gewährt werden muss. Das bedeutet praktisch, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit der Strom abgesperrt werden kann. Das einzige, was den Betreffenden für die Dauer der Stromabsperrung dann noch zusteht, ist ein Butangaskocher. Im städtischen Übergangsheim, das im Raum unserer Gemeinde liegt, wird diese Regelung auf eine Familie bereits angewandt. Ich habe sie besucht. Gott sei Dank stehen dort noch alte Kohleöfen, sodass sie wenigstens heizen können. Aber sie können das Licht nicht mehr anschalten, von Radio und Fernsehen sind sie abgeschnitten. Das Bad wurde bisher mit einer elektrischen Heizspirale geheizt, im Augenblick muss sich die Familie in einem eiskalten Raum waschen. Zur Beleuchtung dienen eine Petroleumlampe und Kerzen. Als ich sie darauf anspreche, sagt die Mutter: »Ich habe nur Angst, dass mal ein Unglück mit den Kerzen passiert, Kinder passen ja oft nicht auf.« Und dann erzählt sie mir noch, wie das ist, wenn ihr Mann nach Einbruch der Dunkelheit auf die Toilette muss. Weil er behindert ist, ist er auf seine Krücken angewiesen. Er war immer stolz darauf, dass er sich trotzdem noch so gut alleine helfen kann. Aber jetzt muss ihn immer jemand aus der Familie zur Toilette begleiten und für ihn die Kerze halten.«
Noch ein Hinweis auf ein Ereignis aus dem letzten Jahr: 5 Eigentlich können einen die Flüchtlingszahlen und erst recht die Zahl derer, die auf der Flucht über das Mittelmeer umkommen, nicht kalt lassen. Aber Zahlen, wie sie sich in jeder Elendsstatistik finden, bleiben Zahlen. Sie mögen uns zu denken geben, aber sie lassen sich kaum fühlen und haben es deshalb schwer, unser Inneres zu erreichen. Ganz anders das exemplarische Einzelschicksal. Die Fakten sind alle bekannt, aber als das Bild des in Bodrum an Land gespülten drei4 Das Beispiel stammt aus der Zeit vor Einführung von Harz IV. 5 Das hier erwähnte tragische Ereignis geschah nach dem Kirchentag. Ich habe es in das ursprüngliche Manuskript eingefügt.
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jährigen Aylan Kurdi um die Welt ging und dazu seine tragische Geschichte bekannt wurde, geschah etwas anderes: Die Menschen waren angerührt. Das längst Bekannte war plötzlich unabweisbar präsent und ging ans Herz. Bis hin zu der Tatsache, dass in der Folge politische Beschlüsse gefasst wurden, die vorher nicht möglich erschienen; so zeigte die britische Regierung angesichts der Bilder Bereitschaft, mehr Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Das ist bei erfreulichen Ereignissen nicht anders. Es macht einen Unterschied, ob ich Erleichterung, Freude oder Überraschung behaupte oder sie in einer exemplarischen Szene erlebbar werden lasse bzw. in einem ansprechenden Bild vor Augen male. In einer Predigt über 1Joh 5,1–5 erzählte der Prediger zu V. 3b (»… und seine Gebote sind nicht schwer«) folgende Begebenheit: »Neulich wurde der 16-jährige Sohn einer Kollegin, Bent ist sein Name, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Er musste sich einer Chemotherapie unterziehen, in deren Folge er alle Haare verlor. Das ist für den 16-jährigen Jungen, einen bildhübschen Bengel, der in einer Band spielt und zum ersten Mal eine ›richtige‹ Freundin hat, besonders schlimm. Und im Zeitalter von Facebook und Cybermobbing ist der Eingriff für den Jugendlichen auch bedrohlich. Vorletzte Woche nun kamen Kumpels aus der Gemeinde und der Band, um ihn zu besuchen. Sie saßen im Pfarrgarten. Dort packten sie als Überraschung zwei Scherapparate aus, und gegenseitig rasierten sie sich alle den Kopf blank. Am Ende sagt einer: ›So, Bent, jetzt bist du mit deiner Glatze jedenfalls nicht allein.‹«
Weil Jesus (wie schon die Propheten der Hebräischen Bibel) seine Hörer_innen in der Tiefe erreichen und berühren wollte, redete er in Gleichnissen, Geschichten und Bildworten, die Gefühle freisetzen, weil die Botschaft in ihnen lebendig wird. Hier sollten Predigende in die Schule gehen. Jesu eigene Predigten sind im Blick auf unser Thema eine Quelle der Inspiration.
Damit ihr Hoffnung habt Bibelarbeit über Genesis 9,8–17 1
I Liebe Schwestern und Brüder, meiner Bibelarbeit liegt das Ende der Sintflutgeschichte zugrunde. Und sollte ich ihr eine Überschrift geben, fällt mir keine bessere ein als das Motto unseres Kirchentages: »Damit Ihr Hoffnung habt«. Denn der Verfasser unseres Abschnitts wendet sich an erschrockene, orientierungslos gewordene Zeitgenossen, die er aufrichten, denen er neuen Halt und Perspektive geben will. Er erzählt seine Geschichte dem ins babylonische Exil geführten Teil des Volkes Israel, Opfer der damaligen Weltmacht Babylon. Tatsächlich wie eine nicht enden wollende Flut war dieses global sich ausbreitende Imperium über sie weggerauscht. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen – alles ist platt gemacht. Die Überlebenden finden sich in der Fremde wieder. »An den Wassern von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten« hat einer gedichtet. Und so können sie sich in der Sintflutgeschichte wiederfinden, können sich identifizieren mit denen, die der Katastrophe jener urzeitlichen Flut noch einmal entronnen sind, mit Noah und seinen Leuten. Mit dem Leben davongekommen sind sie. Aber auch sie werden irgendwo angeschwemmt und müssen noch einmal ganz von vorn beginnen. Menschen, die durch Katastrophen hindurch mussten, Überlebende, bleiben gezeichnete Wesen. Insofern müssen wir eine biblische Notiz ganz ernst nehmen, die gleichsam als Nachtrag unmittelbar auf unseren Abschnitt folgt. Dort wird uns mitgeteilt, dass Noah, nachdem er sich erfolgreich eine neue Existenz aufgebaut hat, also scheinbar alles wieder im Lot ist, dass Noah sich sinnlos besäuft und damit Verwicklungen und Unheil über seine Familie bringt, die noch über Generationen nachwirken werden. Die Bibel weiß: Eine Katastrophe zu überleben ist nie nur »Happy End«, sondern ebenso »Heavy Burden«. 1 Diese Bibelarbeit wurde gehalten auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in München vom 12.–16. Mai 2010.
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Es mag sein, dass sich einige unter uns von diesen wenigen Andeutungen zu den Überlebenden unmittelbar angesprochen, gleichsam mit gemeint fühlen. Aber es wird wohl niemanden geben, bei dem das in der Sintflutgeschichte Erzählte nicht eigene Assoziationen freisetzt und damit die Frage wachruft, was uns Hoffnung gibt. Erzählt wird ja von einer ökologischen Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Da steht uns Heutigen die Bedrohtheit unserer Erde als bewohnbarer Lebensraum viel drängender vor Augen als noch den Generationen vor uns. Ich nenne zweitens die biblischen Hinweise auf den inneren Zustand der Welt, namentlich ihrer menschlichen Bewohner, der im unlösbaren Zusammenhang mit der ökologischen Katastrophe gesehen wird. Wir erfahren nämlich (vor der Flutgeschichte), dass schon, bevor die Natur aus den Fugen gerät, die Welt stöhnt unter der zunehmenden Bosheit der Menschen. Von Frevel und Gewalttat ist die Rede – sehr allgemeine Formulierungen, die aber sofort anschaulich werden, wenn wir uns an die Geschichte vom Brudermord erinnern. Offensichtlich ist die grundsätzliche Einsicht vom Wert und von der Würde der Geschöpfe abhanden gekommen; ich könnte auch sagen: die Gottesfurcht und damit einhergehend die Ehrfurcht vor dem Leben. Und so werden die Bewohner der Erde, die Menschen untereinander, aber auch Mensch und Tier, zu unerbittlichen Feinden: Nicht nach ihrer Würde, sondern nach ihrem Nutzwert taxieren Menschen ihre Mitgeschöpfe; Gier gebiert zügellose Gewalt – eine nicht enden wollende Spirale. Und das besonders Deprimierende: Die große Flut hat nicht wie ein reinigendes Gewitter gewirkt, an dessen Ende die Übriggebliebenen geläutert, gleichsam zu Besserem erzogen, neu anfangen können. Bedrückend realistisch ist die göttliche Diagnose, die nach der Flut mit den gleichen Worten wie zuvor feststellen muss: »Das Dichten und Trachten des Menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« (8,21) Diese biblische Nüchternheit ist in ihrem Realitätssinn hilfreich. Denn sie schützt gerade solche, die Katastrophen erleiden mussten, vor überspannten Erwartungen. Ich denke etwa an Stimmen, die Israels Härte gegenüber den Palästinensern mit dem Vorwurf kommentieren: »Gerade von denen, die selbst den Holocaust hinter sich haben, wäre doch anderes zu erwarten!« Das mag plausibel klingen, ist aber im Grunde infam, denn damit werden Exzesse von Unrecht und Gewalt unter der Hand in Schulen der Menschlichkeit umgedeutet und die Opfer durch überhöhte Ansprüche einmal mehr demontiert. Schließlich: Wenn die Verhältnisse so sind, wie sie die Bibel realistisch beschreibt, was nutzt da der Glaube? Wo ist Gott in all den Katastrophen der Geschichte? Lässt er einfach alles laufen, hat sich also
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letztlich abgemeldet? Wenn von ihm nichts mehr zu erwarten wäre, blieben im Grunde nur zwei Auswege, die aber beide in neue Sackgassen führen: (1) die Flucht vor der Realität; in der Notiz über Noahs Trunkenheit wurde davon etwas anschaulich. Und eine scharfsichtige Gesellschaftsanalyse spricht von unserer Gegenwart als vom »Zeitalter der Sucht« (Anne Wilson-Schaef). Oder (2), statt Flucht, das Arrangement mit der Realität: Wenn sich am Ende doch alles um Fressen und Gefressen-Werden dreht, dann mache ich mit, solange es gut geht, versuche mir meinen Teil vom Kuchen zu sichern: Nach mir die Sintflut! Gegen solch trübe Aussichten setzt unser Abschnitt die Botschaft von einer großen Hoffnung, die nicht wieder aus der Welt zu schaffen ist, die vielmehr neuen Halt und neue Perspektive zu geben vermag. Ich lese Gen 9,8–17 nach der Einheitsübersetzung »8 Dann sprach Gott zu Noach und seinen Söhnen, die bei ihm waren: 9 Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch und mit euren Nachkommen 10 und mit allen Lebewesen bei euch, mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind. 11 Ich habe meinen Bund mit euch geschlossen: Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben. 12 Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für alle kommenden Generationen: 13 Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. 14 Balle ich Wolken über der Erde zusammen und erscheint der Bogen in den Wolken, 15 dann gedenke ich des Bundes, der besteht zwischen mir und euch und allen Lebewesen, allen Wesen aus Fleisch, und das Wasser wird nie wieder zur Flut werden, die alle Wesen aus Fleisch vernichtet. 16 Steht der Bogen in den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde. 17 Und Gott sprach zu Noach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich zwischen mir und allen Wesen aus Fleisch auf der Erde geschlossen habe.«
II Haben Sie es bemerkt? Es ist mit diesen Worten so, wie wenn der zuvor in sich gekehrte Blick eines Niedergeschlagenen sich hebt und etwas gewahr wird, was ihn gleichsam mit sich nach vorn zieht, weg von den eigenen trüben Aussichten. Denn wenn Menschen verzagt sind, an den Verhältnissen zu zerbrechen drohen, und erst Recht, wenn sie
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an den Punkt gekommen sind, sich selbst nicht mehr über den Weg zu trauen, dann brauchen sie einen Außenimpuls. Etwas, besser: jemanden, der sie von sich und dem, worum die Gedanken kreisen, wegholt und die Situation in ein neues Licht rückt. Darum ist es ganz wichtig, dass Noah und mit ihm all die anderen, denen ihr Leben und ihre Welt fraglich geworden ist, jetzt erst einmal gar nichts weiter tun müssen, als nur zuhören und zulassen, dass sie etwas Neues erfahren. »Dann sprach Gott zu Noah«. Im Grunde liegt in dieser Einleitung schon die ganze Botschaft beschlossen: Noah, ich habe dich nicht vergessen. Ich weiß, was hinter dir liegt und was du vor dir hast. Darum komme ich neu auf dich zu, um dir Halt und Hoffnung zu geben. »Und Gott sprach« – so entscheidend ist dieser Neueinsatz, dass er gleichsam eingehämmert wird, indem jeder Abschnitt auf die gleiche Weise eingeleitet wird: »Dann sprach Gott zu Noah« – »Und Gott sprach« – »Und Gott sprach zu Noah«. Was hier den Text gliedert zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Heilige Schrift. Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt: Gottvertrauen erwächst aus neuem Hören (Röm 10,4). Darum musst du im Grunde gar nichts Großes tun. Nur eben hinhören. Denn im Hinhören wirst du dessen gewahr, dass du keinem stummen Götzen ausgeliefert bist. Im Hören kommst du in Kontakt mit dem lebendigen Gott, der dir zu Herzen redet und dir die Augen öffnet für ungeahnte Perspektiven. Der Inhalt der Gottesrede ist das Geschenk des Bundes und das Zeichen des Bogens.
III »Hiermit schließe ich meinen Bund mit euch«. Bund bedeutet: Ich, Gott, stelle unser Verhältnis noch einmal auf eine neue unverbrüchliche Basis. Unverbrüchlich? Hier könnte uns die Vorstellung vom Bund auf Abwege führen, verstehen wir darunter normalerweise doch eine Verpflichtung auf Gegenseitigkeit, deren Sinn gerade darin besteht, dass jede Seite für ihren Teil die Verantwortung übernimmt, und nur die Verlässlichkeit aller gewährleistet den Bestand des Bundes. Aber könnten wir für unseren Part garantieren? Ganz anders hier: Der dem Noah zusagte Bund ist eine ganz und gar einseitige Selbstverpflichtung Gottes. Er ist an keine Bedingung geknüpft. Nichts, aber auch gar nichts muss die andere Seite tun, um den Bestand des Bundes ihrerseits zu sichern. Noah wird nicht einmal gefragt, ob er denn auch bereit sei, die göttliche Zusage anzuneh-
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men. Dieser Bund gilt. Viel sicherer als das Amen in der Kirche. Er hat Bestand, so gewiss den Menschen je und je der Bogen leuchten wird, von dem nachher zu reden ist. Die völlige Bedingungslosigkeit des göttlichen Bundes wird nicht zuletzt an seiner atemberaubenden Reichweite deutlich. Denn er gilt ja nicht nur der jetzt konkret angesprochenen Noahsippe, sondern all deren Nachkommen, also der gesamten Menschheit, die noch werden soll. Er ist, wie in V. 16 ausdrücklich betont wird: ein ewiger Bund. Und ein denkbar universaler dazu, umschließt er doch auch all die anderen Lebewesen. Es ist ein Bund »mit den Vögeln, dem Vieh und allen Tieren des Feldes, mit allen Tieren der Erde, die mit euch aus der Arche gekommen sind«. Ihnen allen gilt das unverbrüchliche Friedensversprechen Gottes. Gott sagt: »Nie wieder!« Nie wieder soll alles Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben. »Nie wieder!« Positiv ausgedrückt: Gott steht für den Bestand seiner Schöpfung ein. Seine Gnade wird immer größer sein als sein Gericht. Unverbrüchlich wird Gott die Treue halten. Liebe Schwestern und Brüder, es ist wichtig, dass wir genau im Ohr behalten, was Gott zugesagt hat und was nicht: Nicht versprochen ist, dass ab jetzt auf der Erde ungetrübter Friede anbricht. Gott selbst hatte ja festgestellt, dass auch nach der Flut das menschliche Herz böse und das menschliche Streben maßlos ist. Und so werden Menschen weiterhin Unheil über sich und ihre Mitwelt bringen, wird das Seufzen der Kreatur, das Paulus so eindringlich beschreibt, nicht aufhören. Und auch dies wird es weiterhin geben, dass je und dann die Natur sich gegen uns richtet. Oft, weil wir selbst es verschulden, dann auch wieder aus Gründen, die für uns im Dunkel liegen. Wir bleiben weiterhin gefährdete Wesen, und unsere Welt ist bis zum jüngsten Tag dem Schmerz der Vergänglichkeit ausgesetzt sein. Und noch einmal: Gottes Bund besagt nicht, damit wäre jetzt Schluss. Aber gerade weil wir dem vielen Furchtbaren ausgesetzt bleiben und selbst viel Fürchterliches anrichten, ist die Botschaft des Bundes so wichtig. Gott hält uns die Treue. Er bleibt verlässlich an unserer Seite, gerade dann, wenn wir nicht ein noch aus wissen, wenn die Hoffnung zu zerbrechen droht: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir …« (Ps 23,4). Ein Kollege flog unmittelbar nach dem Tsunami im Dezember 2004 nach Sri Lanka, um in einer besonders schlimm betroffenen Region die Partnerkirche zu besuchen und die ökumenischen Hilfeleistungen zu koordinieren. Was ihn am meisten verwunderte war, wie die Christen, gerade auch solche, die in der eigenen Familie Opfer zu
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beklagen hatten, davon erzählten, wie sie in ihrem Glauben Trost finden. Sie stellten gerade nicht die Frage, die mein Kollege erwartet hatte: Wie kann Gott das zulassen? Oder: Warum hat er uns das angetan? Sondern im Gegenteil: Angesichts des Nicht-Erträglichen suchten sie bei dem Zuflucht, der der Welt und seinen Menschenkindern Halt versprochen hat. Ihn baten sie um Kraft zum Weiterleben und zum Neuanfang. Und ihm, der einen ewigen Bund geschlossen hat, vertrauten sie ihre Toten an. »Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf« – an diese Worte klammern sich Menschen gerade in Zeiten der Gefahr. Damit wir Halt dort suchen, wo er zu finden ist, wird die Bibel nicht müde, uns die Zusage Gottes immer neu in Erinnerung zu rufen. Es ist kein Zufall, dass allein in unserem kurzen Abschnitt der von Gott versprochene Bund sieben Mal ausdrücklich genannt wird. Sieben Mal, das könnte einen auf die gute Idee kommen lassen, sich einmal pro Tag an dieses Versprechen Gottes zu erinnern. Zumindest jeder Sonntagsgottesdienst dient der Erinnerung an Gottes tröstlichen Beistand. Im reformierten Gottesdienst lautet das Eingangswort: »Unser Anfang und unsere Hilfe stehen im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Bund und Treue hält ewiglich und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände.« IV Aber so verlässlich Gottes Wort ist, weil es sagt, was es tut und weil es tut, was es sagt, so tröstlich ist es doch, dass Gott es nicht beim Reden belässt. Er bekräftigt sein Wort in einem sichtbaren Zeichen: »Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und den lebendigen Wesen bei euch für alle kommenden Generationen: Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde.«
Wir denken sofort an den Regenbogen. Nur ist der leider inzwischen zu einem Allerweltssymbol geworden und hat viel von seiner Aussagekraft eingebüßt. Darum mag zunächst die Beobachtung hilfreich sein, dass der Regenbogen im Text ausdrücklich gar nicht genannt wird. »Meinen Bogen setze ich in die Wolken« – heißt es. Dass dies nicht zwangsläufig an den Regenbogen denken lässt, wird im Hebräischen deutlicher, denn dort steht qäschät, was ursprünglich den Kriegsbogen bezeichnet. Deshalb ist in der Forschung viel darüber gerätselt worden, worauf die Formulierung »mein Bogen« eigentlich anspielt.
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Eine Deutung lautet so: Hier wird ein sehr altertümliches Bild benutzt. Der Himmelsbogen ist ursprünglich Werkzeug des Pfeile schießenden Gottes, also Symbol seines auf die Menschen gerichteten Zorns. Wenn Gott nun verspricht, diesen Bogen in die Wolken zu hängen, also abzulegen, dann will er damit bekräftigen, dass sein Zorn ein Ende hat und er die Welt nicht noch einmal mit einer alles vernichtenden Katastrophe heimsuchen wird. Eine zweite Deutung setzt auch beim Kriegsbogen an, aber anders. Im geistigen Umfeld des alten Israel kann Gott mit einem mächtigen Kriegsbogen in der Hand dargestellt werden, als Zeichen göttlicher Königsmacht. Uns sind Bilder überliefert, die darstellen, wie die Gottheit ihren Bogen gegen die die Menschen bedrohenden Chaos- und Flutmächte richtet, um sie vor ihnen zu schützen. Diese Vorstellung sieht man in unserem Text aufgegriffen. Es würde dann nicht Gottes Ablassen von seinem Zorn symbolisiert, sondern das sehr aktive Wahrnehmen seiner Königsherrschaft: Machtvoll (dafür steht sein Bogen) stellt Gott sich den Kräften und Mächten in den Weg, die seine Schöpfung bedrohen. Einer dritten Deutung scheinen die beiden Erstgenannten trotz der hebräischen Vokabel für Kriegsbogen zu weit hergeholt. Sie erinnern an den Zusammenhang und meinen, dass, obwohl nicht ausdrücklich gesagt, Gott auf den Regenbogen anspielt als Symbol dafür, dass durch das bedrohliche Dunkel der sich auftürmenden Wolken hindurch das Licht seiner Gnade aufleuchtet. Ich halte die Frage, welche dieser Deutungen Recht hat, für nicht entscheidend. Denn jede hat etwas Wichtiges beizutragen: Die erste Deutung, der an die Seite gelegte Kriegsbogen: In ihr wird offenkundig, dass unser Bundesgott ein Gott der Liebe ist, nicht des Zorns. Jedenfalls hat er den Zorn hinter sich gelassen. Fortan ist er verlässliche Zuflucht vor allem, was Menschen Furcht und Schrecken einjagen will. Ein wichtiger Aspekt unseres Glaubens – so wichtig, dass ihn die Bibel wieder und wieder in Erinnerung ruft. Einhundert Mal findet sich der Satz, mit dem auch die Engelsbotschaft zur Weihnacht beginnt: »Fürchtet euch nicht« bzw.: »Fürchte dich nicht«. Allerdings, wenn man diese Deutung verabsolutiert, könnte sie auch auf Abwege führen. So ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Deutung im Zeitalter der ökologischen Lebensgefahr zu falscher Sicherheit verführen kann. Wir hören aus dem fundamentalistischen Lager bisweilen folgende Töne: Von wegen ökologische Krise! Was sollen wir uns von den ewig Kritisierenden nervös machen lassen?! Der liebe Gott selbst wird für den Bestand seiner Schöpfung sorgen. Das hat er doch versprochen – und da sollen wir uns verunsichern lassen?
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Da bietet die zweite Deutung ein heilsames Gegengewicht. Das Zeichen des Bundes ist der Bogen, der Gottes Herrschaft und damit seinen Kampf gegen die Mächte des Bösen symbolisiert. Hier findet sich nichts mehr von einer gefährlichen Verharmlosung Gottes, der im schlimmsten Fall dazu missbraucht werden kann, gutmütiger Garant dessen zu sein, was der Fall ist. Hier bleibt festgehalten, dass der liebende Gott zugleich der gerechte ist, der sich dem Bösen und allem Unrecht entgegenstellt, der machtvoll eingreift und die Welt auch durch gerechte Gerichte rettet; der Gott also, der sich einmischt in unsere Kämpfe, der Partei ergreift. Unter dem Zeichen dieses Bogens ist seine Bundestreue immer wieder eine höchst aktive Angelegenheit. Die ausbeuterischen Ägypter hätten gut daran getan, sein Eingreifen zu fürchten, und die in die Freiheit fliehenden Sklaven taten gut daran, auf ihn zu vertrauen. Dieser zum Schutz seiner Schöpfung aktive Gott ist der Trost aller Bedrückten und Unrecht Leidenden. In aktueller Zuspitzung: Nur ein parteilicher Gott, nur eine Kirche, die in seiner Nachfolge steht, kann den Opfern von Missbrauch eine Zuflucht sein. Viel zu lange wurden die an ihnen begangenen Verbrechen mit dem »Mantel der Liebe« zugedeckt, der den Tätern Schutz bot und nicht den Opfern. Vergebung wurde gepredigt, wo zuallererst für Recht gesorgt werden musste. Nebel wurde verbreitet statt Klarheit geschaffen. Daher flehen in den Psalmen die Geschundenen: »Du Gott des Rechts, erscheine!« Was in diesem sehr kraftvollen Bild allerdings nicht recht deutlich wird, ist die Tatsache, dass Gotte (siehe erste Deutung) mit der Macht seiner Liebe eingreift, also so richtet und rettet, dass er sich dabei selbst verletzlich macht. Deshalb ist seine vornehmliche »Waffe« sein mahnendes, werbendes und zurechtweisendes Wort. Deshalb wird Jesus den Sieg über Sünde und Tod nicht mit dem Schwert, sondern am Kreuz erringen. Beide sich einander ergänzenden und gegenseitig korrigierenden Deutungen haben noch eine Dimension, auf die ausdrücklich hingewiesen werden muss: Gott setzt seinen Bogen – wozu eigentlich? Wem dient diese Handlung? Die überraschende Antwort des Textes: Sie dient Gott selbst. Zur eigenen Erinnerung richtet er dieses Zeichen auf: Erscheint der Bogen, so gedenke ich des Bundes, sagt Gott. Steht er in den Wolken, so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken. Es sind also Zeiten zu erwarten, da muss Gott sich selbst an seinen Bund erinnern. Wird hier nicht allzu menschlich von Gott geredet? Wie passt es mit der Vorstellung vom »Allmächtigen, dem Schöpfer Himmels und der Erden« zusammen, dass dieser sich gleichsam einen Knoten ins Taschentuch machen muss, um sich an das zu erinnern, was er einmal
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zugesagt hat? Aber Vorsicht! Erinnert werden muss man nicht nur aufgrund von Vergesslichkeit. Erinnert werden muss man auch, wenn die augenblickliche Situation dem einmal gegebenen Versprechen allzu sehr widerspricht. Es geht dann nicht darum, dass man etwas vergisst, sondern dass man sich vergisst. So führt uns diese Aussage in das Geheimnis der Lebendigkeit Gottes. Der Bundesgott ist nicht immer einfach nur »da« – unbewegt von dem, was auf Erden geschieht. Er nimmt es wahr. Er nimmt Anteil. Und gerade weil er als Liebender Anteil nimmt, wird er nie frei sein von Gefühlen und Regungen, ohne die lebendige Liebe gar nicht zu denken ist. Und so erzählt uns die Bibel von Gottes Zorn über die Torheit seiner Menschenkinder, von seiner Enttäuschung über ihre Untreue, von inneren Anwandlungen, in seiner Leidenschaft für das Recht die Liebe zurückzustellen. Dieser lebendige und nur deshalb verlässliche Gott ist mit uns im Bunde. Darum wird es ihn immer wieder viel kosten, uns die Treue zu halten. Und darum schafft er sich selbst mit seinem Bogen ein Erinnerungszeichen, mit dem er sich gleichsam zwingt, gegen allen Widerstand an seiner Liebe festzuhalten. Ungeheuerlich und tröstlich zugleich: Gott schafft sich eine Hilfe, immer neu zu uns zurückzufinden. Eine andere Hilfe sind ihm unsere Gebete: Gott wartet darauf, von uns an seine Treue erinnert zu werden. »Bittet, so wird euch gegeben«. So sehr ist er uns zugetan, dass er sich tatsächlich von uns bewegen lässt. Der Bogen als Erinnerungszeichen Gottes. Nur wenn wir dies in seinem ganzen Gewicht gelten lassen, gilt auch das Zweite: Der Bogen ist ein Bundeszeichen für uns Menschen. Er malt uns auf sinnfällige Weise die Zusage Gottes vor Augen: So wahr der Bogen in den Wolken erscheint, so gewiss ist auf das Versprechen unseres Gottes Verlass. Es muss also nicht beim Hinhören bleiben. Angeleitet durch das Wort bekommen wir auch etwas zu sehen. Dies ist die besondere Stärke der dritten Deutung. Denn was uns Menschen anschaulich wird, ist eben der Regenbogen, der sich je und dann am Himmel zeigt. Er besticht zunächst einfach durch seine wundersame Schönheit, Welches Zeichen könnte besser geeignet sein, uns als Hinweis auf die Bundestreue Gottes zu dienen. Mit einer Formulierung von Benno Jacob: »Der Regenbogen ist Zeichen der Liebe und Treue Gottes … Als Widerschein der Sonne in den Regenwolken spiegelt er die Gnade nach dem Gericht, er ist der durch Wolken und Himmelstränen hindurchschimmernde Abglanz aus dem Hintergrund des göttlichen Wesens, … unter dunklen Brauen sein Gnadenblick … Der Regenbogen ist die Vollendung der Schöpfung und ihr abschließendes Sigel, der letzte zarte farbige Pinselstrich.«2 2 Benno Jacob, Das erste Buch der Tora, Berlin 1934, 257.
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Gerade weil der Zustand unserer Welt die Güte Gottes immer wieder fraglich erscheinen lässt, brauchen wir solche sichtbaren Zeichen, die uns im Glauben bestärken. Dass Gott mit uns im Bunde bleibt – sieben Mal wird uns das im Textabschnitt zugesagt, und es ist sicher nicht von ungefähr, dass sich im Regenbogen sieben Farben ausmachen lassen. Es gehört zur Menschenfreundlichkeit unseres Gottes, dass er uns seine Güte anschaulich werden lässt. Deshalb dankt ein gläubiger Jude Gott, wenn er einen Regenbogen sieht: »Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott; du regierst die Welt. Du erinnerst dich an den Bund und bleibst ihm treu. Du stehst zu deinem Wort.« Auch im Weiteren erzählt die Bibel, dass Gott Zeichen schenkt, die helfen, seinem Wort zu glauben: der brennende Busch, Wolkensäule und Feuersäule – am Ende erscheint die ganze Welt als Bilderbuch Gottes, wenn wir sie nur richtig ›lesen‹! Jesu Predigt ist eine solche Leseanleitung: »Sehet die Lilien auf dem Feld«. »Seht die Vögel unter dem Himmel«. »Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht«. Und: »Er sorgt für euch«. Und dann, im Blick auf seinen eigenen Weg, nimmt Jesus das Brot und sagt: »Das ist mein Leib für euch«. Und er reicht den Kelch: »Dies ist der neue Bund in meinem Blut«. Darum heißt es bei der Einladung zum Abendmahl nicht: »glaubt!«, sondern: »Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist.«
V Noch einmal zurück zum Regenbogen, dem Zeichen des ewigen Bundes. Er hilft uns, unser Leben an der Hoffnung auf Gott auszurichten. Ich will dem, was wir dazu heute und in den nächsten Tagen in den Foren erarbeiten, nicht vorgreifen. Aber zwei Hinweise sollten wir mitnehmen. 1. Leben unter dem Bogen des Bundes ist ökologisch verantwortetes Leben Erinnern wir uns noch einmal: Gott hat seinen Bund nicht nur mit den Menschen, sondern mit allem Lebendigen geschlossen. In der Sprache der Bibel: mit allem Fleisch. Wie wichtig diese weite Perspektive ist, wird wiederum an einer Zahl deutlich: 12-mal kommt diese Formulierung in der Noahgeschichte vor – 12 ist die heilige Zahl der Stämme Israels und die Zahl der Monate eines Jahres –, in unserem Abschnitt 5-mal, wie die Finger einer Hand, mit denen das Kind zählen lernt. Also lasst euch erinnern, buchstabiert es durch, dass ihr nur
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in Gemeinschaft mit allem Lebendigen unter dem Bogen des Bundes Zukunft habt. In dem Textabschnitt vorher (9,1–7) werden Noah und seinen Nachkommen einige elementare Regeln für solches Zusammenleben gegeben. Sie halten in Erinnerung, dass vor Gott alles Leben heilig ist. Daher steht jedes menschliche Leben unter seinem unbedingten Schutz, und deshalb hat der Mensch auf die Lebewesen, von denen er sich ernährt, nur einen eng begrenzten und von Ehrfurcht geprägten Zugriff. Deshalb sage ich im Blick auf die heutige Gefährdung unserer Lebenswelt: Zweifelt nicht an Gott, sondern zweifelt an denen, die euch einreden wollen, das müsste alles so sein. Glaubt denen nicht, die die Welt zu Markte tragen und dabei in Kauf nehmen, dass Arten sterben, Grünflächen veröden und Inseln im Meer versinken. Glaubt daran, dass mit Gottes Hilfe die Welt verbesserbar ist und dass auch die kleinen Schritte, die uns zu tun möglich sind, wichtig und verheißungsvoll sind. Es ist also durchaus kein Missverständnis der Noahgeschichte, wenn die Umweltorganisation Greenpeace eines ihrer Schiffe »Rainbow Warrior« (Regenbogenkämpfer) genannt hat. Auf dem Schutz des Lebens ruht Gottes Segen. Ökologisch verantwortlichem Leben ist Bestand und Nachhaltigkeit verheißen. 2.
Leben unter dem Bogen des Bundes ist ökumenisches Leben
Die Gnade Gottes ist bunt. Das wird im Regenbogen augenfällig. Er ist Widerschein der Güte Gottes. Sie bricht sich in unterschiedlichen Farben und Schattierungen. Gerade diese Vielfalt zeugt vom Reichtum seiner Güte. Ökumenisches Leben lässt sich von der Verschiedenheit und Vielfalt nicht in die Defensive treiben. Es freut sich vielmehr an der Andersartigkeit und sucht zugleich nach dem Verbindenden. Dass den Kirchen in ihrer Vielfalt die Einheit immer schon vorgegeben ist, weil sie in Gott gründet – diese Einsicht steht am Anfang der ökumenischen Bewegung, und wir wären nicht zum Ökumenischen Kirchentag versammelt, wenn wir nicht von dieser Erkenntnis geleitet wären. Aber der Bogen des Bundes, der Himmel und Erde verbindet, weitet diese Perspektive auf atemberaubende Weise. Denn die Zusage Gottes umgreift eben nicht nur sein Volk aus Juden und Christen, sondern alle Menschen und Völker und damit auch deren Lebensweisen und ihre unterschiedlichen Wege, Gott zu suchen. Dies lehrt uns das Zeichen des Bundes – unbeschadet dessen, wie andere das sehen. Damit ist nicht gesagt, dass wir im Grunde alle an denselben Herrgott glauben. Ganz im Gegenteil. Unsere Glaubensweisen sind sehr unterschiedlich, und viele Glaubensinhalte und Glaubens-
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praktiken schließen sich gegenseitig aus. Und wir würden unsere besondere »Farbe« geradezu verraten, wenn wir nicht immer neu nach dem Gott fragen, der sich uns in der Heiligen Schrift zeigt und den wir im Glauben bekennen. Und doch gehört zu unserem Glauben das Vertrauen darauf, dass der Gott des Bundes der Gott aller ist. Dass er also größer ist und dass seine Gnade weiter reicht, als wir es wissen und verstehen. Das bedeutet für unseren Umgang mit anderen Religionen: Wir halten nichts von Abschottung und ebensowenig von Vereinnahmung. Und überhaupt gar nichts von Verboten. Wir sind an Begegnung interessiert und suchen den ehrlichen Dialog. Wir meinen nicht immer schon zu wissen, was die anderen denken, sondern bleiben neugierig. Anstatt die eigenen Ressentiments zu pflegen, lassen wir den anderen die Chance, uns zu überraschen. Unter dem Bogen des Bundes halten wir zusammen, was zusammengehört: die Freude an der Vielfalt, zu der die Pflege des Eigenen gehört, und die Leidenschaft für eine Gemeinschaft, die der Bundestreue Gottes nicht im Wege steht. So lasst uns in diese Tage gehen: voller Achtsamkeit für die bunte Gnade Gottes, die auch in den »anderen« aufleuchtet! Nun steht heute Morgen kein Regenbogen am Himmel. Darum mag uns am Ende ein anderes Symbol aus der Noahgeschichte auf solche Achtsamkeit einstimmen: die Zahl 8. Acht Menschen sind es, die in der Arche gerettet wurden, mit acht Menschen beginnt Gott seinen Neuanfang. Diese Zahl wird am anderen Ende der Bibel der 1. Petrusbrief aufgreifen. Er vergleicht die Sintflut mit der Taufe: So wie die acht Geretteten für Auferstehung und neues Leben stehen, so machen uns Glaube und Taufe zu erneuerten Menschen. Später hat man daher Taufbecken gerne achteckig gebaut, ebenso Taufkapellen. Sollte es ein Zufall sein, dass der gekreuzigte Christus am achten (= dem ersten) Tag zu neuem Leben ersteht? Und was für das Auge der Regenbogen ist, ist für das Ohr die Oktave, die denselben Ton zu neuem Leben aufstehen lässt. Und so stimmen wir uns in die Acht-Samkeit ein, indem wir die Oktave singen mit dem acht(!)-stimmigen Kanon: »Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn«.
Gemeinschaftsgerechtes Abendmahl – abendmahlsgemäße Gemeinde Bibelarbeit über 1. Korinther 11,17–34 1
I »17 Dies aber muss ich befehlen: Ich kann’s nicht loben, dass ihr nicht zu eurem Nutzen, sondern zu eurem Schaden zusammenkommt.«
Der Apostel Paulus erteilt der Gemeinde in Korinth eine herbe Abfuhr: Eure Gemeindeversammlungen – sprich: eure Gottesdienste – taugen nicht. Mehr noch: Sie sind schädlich. Noch bevor ich mit der Auslegung richtig beginne, möchte ich ein erstes Mal innehalten. Denn Paulus wirft mit seiner Kritik eine Frage auf, die wir an unsere Gemeindearbeit und erst recht an unsere Gottesdienste kaum noch stellen. Konfrontiert mit dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirchen, verunsichert von den Austritten, frustriert von nachlassender Beteiligung und in Ängsten ob der knapper werdenden Finanzmittel, fragen wir in der Regel zunächst einmal nach Quantitäten: Kommen welche? Wie viele sind es? Werden sie wiederkommen und vielleicht noch welche mitbringen? Alles keine falschen Fragen und erst recht keine verbotenen. Aber vielleicht doch zu harmlose, weil sie nämlich unausgesprochen der Devise folgen »Dabeisein ist alles«. Paulus fragt nach der Qualität gemeindlichen Lebens. Er mutet den Korinthern die Erkenntnis zu, dass Dabeisein noch längst nicht alles ist. Es gibt – und hier spricht kein Religionskritiker, sondern der heilige Apostel – schädliche Gottesdienste. Mein Lehrer am Predigerseminar, Helmut Tacke, war Zeit seines Lebens von dieser Paulusfrage umgetrieben. Und er hat sie uns in einer provozierenden Weise eingeschärft, die ich nie mehr vergessen habe. Er sagte: »Ich scheue mich, kirchenferne Menschen, die zu mir in die Seelsorge kommen, zum Gottesdienst einzuladen, weil die Gefahr zu groß ist – dass sie kommen.« Wir reden von »einladender Gemeinde«, von »Gemeindewachstum«, von »Brücken bauen«; alles gut 1 Diese Bibelarbeit wurde auf dem 28. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart (1999) gehalten und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Zuerst veröffentlicht in: Magdalene L. Frettlöh / Hans P. Lichtenberger (Hg.), Gott wahr nehmen. Festschrift für Christian Link, Neukirchen-Vluyn 2003, 441–458.
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und wichtig; wir sollen uns nicht verstecken, wir sollen als Gemeinde und Kirche mehr werden wollen. Aber wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ja müssen sie uns stellen, ob wir es denn auch verantworten können, dass Menschen unserer Einladung folgen und kommen: Sind wir nützliche oder schädliche Gemeinde? Im vorgegebenen Bibelabschnitt wird der Fall der Gemeinde zu Korinth aufgerollt. Ihm nachzugehen schärft unseren Blick für die eigene Situation, wir bekommen Kriterien genannt, mehr noch: Paulus weist uns ein in die heilsame Perspektive einer abendmahlsgemäßen Gemeindepraxis. II »18 Zum Ersten höre ich: Wenn ihr in der Gemeinde zusammenkommt, sind Spaltungen unter euch; zum Teil glaube ich’s. 19 Denn es müssen ja Spaltungen unter euch sein, damit die Rechtschaffenen unter euch offenbar werden. 20 Wenn ihr nun zusammenkommt, hält man da nicht das Abendmahl des Herrn. 21 Denn ein jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg, und der eine ist hungrig, der andere ist betrunken. 22 Habt ihr denn nicht Häuser, wo ihr essen und trinken könnt? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und beschämt die, die nichts haben? Was soll ich euch sagen? Soll ich euch loben? Hierin lobe ich euch nicht.«
Was Paulus hier aufs Schärfste kritisiert, ist das asoziale Verhalten, welches ein Teil der Gemeinde bei den gottesdienstlichen Mahlfeiern an den Tag legt. Er redet von Spaltungen. Das griechische Wort schisma kennen wir als Fremdwort, und wir benutzen es in der Regel bei Trennungen aufgrund von theologischen bzw. dogmatischen Lehrstreitigkeiten. Paulus hingegen kritisiert an unserer Stelle nicht falsche Lehre, sondern falsches Leben, falsche Praxis. Wir werden auf diesen wichtigen Tatbestand noch öfter zurückkommen: Wo es um das Gedeihen der Gemeinde geht, sind Fragen des Umgangs miteinander nichts gegenüber der Lehre Zweitrangiges, nichts, wo man im Zweifelsfall ein Auge zudrücken kann nach dem Motto: »In der Kirche menschelt es halt auch«. Ganz im Gegenteil: Unachtsamkeit gegenüber dem Nächsten macht die heiligen Handlungen zunichte. V. 20 kann man auch so übersetzen: »In der Art und Weise, wie ihr zusammenkommt, ist das gar nicht das Christusmahl«. In letzter Konsequenz ist Unachtsamkeit Gotteslästerung (vgl. V. 27f)! Um uns die korinthischen Zustände konkret vorstellen zu können, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Abendmahl damals noch aus zwei Akten bestand: zum einen aus einem wirklichen Sättigungsmahl, zu dem jeder, der konnte, etwas beisteuerte, zum anderen aus
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der sakramentalen Handlung, die wir als Abendmahl kennen und die ab V. 23 beschrieben wird. Strittig ist unter den Ausleger_innen die Abfolge. Ich kann das an den unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten erläutern. Luther übersetzt V. 21: »Jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg«. Dementsprechend wird später in V. 33 dazu ermahnt, mit dem Essen aufeinander zu warten. Wenn man den Text so versteht, ergibt sich folgendes Bild: Die korinthischen Christen treffen sich – wahrscheinlich täglich – in den frühen Abendstunden in einem dafür geeigneten Raum zur Gemeindeversammlung. Die Wohlhabenderen, also die, die sich früher freimachen können, treffen früher ein. Sie haben Proviant für das gemeinsame Mahl mitgebracht, der unter allen geteilt werden soll. Ein Gemeindebuffet wird aufgebaut. Und appetitlich, wie die Speisen da nun einmal stehen, fängt man auch sogleich an, zuzulangen und sich gütlich zu tun. Später treffen dann die armen Gemeindeglieder ein, Sklaven und Lohnarbeiter, die den Haushalt ihres Herrn oder ihre Arbeitsstätte nicht eher verlassen dürfen. Sie finden Gemeindeglieder vor, die schon reichlich gegessen und getrunken haben, und ein geplündertes Buffet. Was übriggelassen wurde, reicht für sie nicht, um satt zu werden. Dass sie selbst wenig oder gar nichts zum Essen beisteuern können, fügt dem Hunger noch die Peinlichkeit hinzu. Sicher, den sakramentalen Teil feiern dann alle gemeinsam. Aber, so wendet Paulus ein, soll man das noch Gemeinschaft nennen, wenn manche hungern und andere betrunken sind? Folgen wir der (sprachlich ebenfalls möglichen) Kirchentagsübersetzung, stellen sich die Dinge ein wenig anders dar: Alle nehmen beim Essen ihre eigene Mahlzeit ein, heißt es in V. 21, und die Mahnung in V. 33 lautet entsprechend: beim Essen einander anzunehmen. Demgemäß bildet wie beim traditionellen jüdischen Festmahl die sakramentale Handlung den Rahmen für das Sättigungsmahl. Zunächst wird das Brot gereicht, dann wird gemeinsam zu Abend gegessen, dann folgt der Becher nachdem die Mahlzeit beendet war (V. 25). Das Problem besteht dann darin, dass beim Sättigungsmahl jede und jeder sein eigenes Mitgebrachtes verspeist: die einen schwelgen, die anderen mümmeln ihr kärgliches Brot und kommen sich in Gegenwart der Gutbetuchten umso mickriger vor. So oder so, der Skandal ist der gleiche: Die Clique der Wohlhabenden bleibt im Grunde unter sich, Gemeinschaft mit denen »aus den billigen Vierteln« findet nicht statt. Im Gegenteil: Die Gemeinde Gottes wird, wie Paulus es ausdrückt, verachtet, denn die Armen werden beschämt (vgl. V. 22). Wenn man die Verhältnisse so von außen rekonstruiert und beschreibt, liegt der Schaden der korinthischen Gemeinde offen zutage.
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Von innen betrachtet, vor allem aus dem Blickwinkel derer, die Paulus hier kritisiert, wird das anders ausgesehen haben. Es ist ja auffallend, dass Paulus gleich zweimal betont, er könne die Korinther nicht loben (V. 17 und 22). Das macht nur Sinn, wenn es dort Leute gab, die die Zustände in der Gemeinde nicht nur nicht schlimm, sondern geradezu vorbildlich fanden. Das ist ja das Vertrackte und zugleich Abgründige, dass die, die Schädliches anrichten, es in den seltensten Fällen frivol und aus offener Bosheit heraus tun, sondern viel eher aus Nachlässigkeit, aus Unachtsamkeit, oder einfach, weil sie keinen rechten Blick haben für das, was sie anrichten. So könnte ein wohlhabendes Gemeindeglied einem Freund von seinen Gemeindeerfahrungen mit bestem Gewissen dies erzählt haben: »Also, ich geh ja seit einiger Zeit zu den Versammlungen der Christen – ich muss schon sagen: Doll, was die so auf die Beine stellen. Jeden Tag treffen wir uns, mal bei dem, mal bei dem, reihum halt. Natürlich nur bei denen, die genug Platz haben, denn wir werden ja immer mehr. Und es kann auch jeder kommen – jeder. Also, manche sind schon arg gewöhnungsbedürftig. Typen sind dabei, denen möchtest du nicht im Dunkeln begegnen. Aber ausgeschlossen wird keiner, nein, tun wir nicht, und bei uns verhalten sie sich auch ganz friedlich. Und wie gesagt, da wird nicht nur fromm geredet, da geht’s richtig zur Sache. Mit gut essen und trinken und so. Dass so etwas möglich ist, hätte ich mir früher gar nicht träumen lassen. Jeder bringt was mit; der Apostel sagt immer, jeder soll eine Kleinigkeit mitbringen – von wegen Kleinigkeit: Unsere Frauen übertreffen sich da gegenseitig. Was da manchmal aufgefahren wird – aber hallo, das kriegst du im Lokal nicht besser. Na ja, jeder halt so, wie er kann. Was sich da manche von den Hafenarbeitern reintun, also, wenn die wirklich nicht mehr zu beißen haben als sie mitbringen – kein Wunder, dass schon die Kinder schlechte Zähne haben. Aber immer gut gelaunt und zufrieden. Ich sag manches Mal zu meinen Blagen: Ihr mit eurer ewigen Quengelei, nehmt euch mal ein Beispiel an denen! Wir sind da übrigens eine total nette Clique, wir hocken immer zusammen. Da will man anderen nicht zumuten, sich dazwischenzuquetschen; das wäre denen doch nur peinlich. Man soll schließlich keinen verunsichern. Aber wir sorgen immer dafür, dass noch ein Tisch da ist für die, die erst später kommen können – ausschließen will man ja keinen. Und was ich großartig finde: Beim Entscheidenden sind wir alle gleich. Jeder bekommt einen heiligen Bissen und einen Schluck aus dem gesegneten Kelch. Der Apostel sagt immer: Vor Gott gibt es keine Unterschiede, da sind wir wie ein Leib mit vielen Gliedern. Ein schönes Bild, findest du nicht? Obwohl, ich bin schon froh, dass ich bei dem Leib nicht der … – na ja, du weißt schon – bin. Um noch mal auf das gemeinsame Essen zurückzukommen: Wenn wir da so richtig zulangen – also ich find’s toll, macht die Sache doch auch attraktiv. Ich habe letztens zwei Geschäftsfreunde mitgenommen, die waren ganz angetan, überlegen sich jetzt, noch mal mit ihren Frauen wiederzukommen.
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Aber, wie gesagt, wenn wir da so richtig zulangen, manchmal hat man schon so ein Gefühl, als könnte man den einen oder anderen Blick im Nacken spüren – von wegen Neid und so. Meine Frau sagt, ich bilde mir das ein. Außerdem: Wenn wir jetzt zum Beispiel sagen würden: Wir setzen uns kunterbunt durcheinander, dann fühlt sich am Ende keiner mehr wohl. Dann wird’s eher unpersönlich, und damit ist ja auch niemandem geholfen. So geht’s jedenfalls aufwärts, uns gelingt es wenigstens, die Besserverdienenden bei der Stange zu halten; ohne die könnte die Gemeinde ja gar nicht leben. Tatsache ist: Wir Korinther wachsen, und das soll uns erst mal einer nachmachen.«
Als ich diese kleine Phantasierede eines wohlhabenden Korinthers aufgeschrieben hatte, war ich erschrocken. Denn mir fiel auf, dass wir es hier nicht nur mit dem Problem des verengten Blickwinkels zu tun haben, mit Unachtsamkeit für das, was jemand anderen antut, sondern auch damit, dass die Wirklichkeit in aller Regel eben nicht aus schwarz oder weiß besteht, sondern aus einer Palette von Grautönen. Ohne Bild gesprochen: Einiges von dem, was ich dem korinthischen Christen in den Mund gelegt habe, ist eben nicht nur als Selbstbezogenheit oder als Rationalisierung des eigenen Fehlverhaltens abzutun. Seine Rede enthält auch Wahrheitselemente. Jeder, der in einer Gemeinde mitarbeitet, weiß z.B., dass Cliquen tatsächlich eine ambivalente Sache sind: Sie tragen in sich die Tendenz zur Abschottung, und sie sind zugleich oft die Basis bzw. der Motor wichtiger Gemeindeaktivitäten. Und wenn sich eine Gruppe in der Gemeinde sichtlich wohlfühlt, so hat das nicht nur etwas Abstoßendes, sondern auch etwas positiv Ausstrahlendes. Und dass die Gemeinde im Ganzen etwas verlöre, wenn sie Besserverdienende nicht halten könnte, wird niemand ernsthaft leugnen. Auf diesem Hintergrund finde ich die Mahnung des Paulus nun allerdings besonders hilfreich. Was er den Korinthern sagt, ist klar, aber nicht platt. Was die Klarheit betrifft: Es bleibt dabei: Was sich bei den Gemeindeversammlungen abspielt, muss getadelt werden. Es ist ohne Wenn und Aber schädlich, wenn Menschen notorisch ausgegrenzt werden. Und wenn Ausgrenzung gar einhergeht mit Beschämung, wenn also im Ausgegrenzten ein Gefühl der Peinlichkeit und Minderwertigkeit erzeugt wird, dann, so sagt Paulus, macht ihr mit eurem Verhalten zunichte, wovon eure Gottesdienste reden. Zu euch – ich erinnere an das Wort von Helmut Tacke – kann man nicht jeden mit gutem Gewissen einladen. Es gibt Menschen, denen wäre zu wünschen, dass sie den Weg zu euch nicht finden, damit ihnen Schädliches erspart bleibt. Mit seiner klaren Kritik tappt Paulus gleichwohl nicht in die Allesoder-nichts-Falle. Ich deute nur an: Er vermeidet pauschale Aburtei-
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lungen: Nicht jede Art gemeindlicher Gruppendynamik, zu der immer auch Cliquenbildung gehört, wird kritisiert, sondern das konkrete Verhalten einer konkreten Gruppe. Folglich wird der Gemeinde auch nicht zugemutet, ab jetzt gefälligst alles mal ganz anders zu machen. Pauschalkritik tut in der Regel nur den Kritikern gut. Paulus hingegen macht, wie wir noch sehen werden, konkrete Vorschläge der Verbesserung. (Ähnliches lässt sich übrigens an allen Konflikten studieren, in denen Paulus sich zum Anwalt der Ausgegrenzten macht; man denke nur an 1Kor 8; 1Kor 14 oder an den Philemonbrief.) Und: Bei diesen Vorschlägen handelt es sich um erste Schritte. Anders gesagt: Paulus stellt realistische Forderungen auf: »Habt ihr denn nicht Häuser, wo ihr essen und trinken könnt?« (V. 22; vgl. V. 34) Paulus weiß, dass sich das Problem sozialer Ungleichheit auch für die christliche Gemeinde nicht im Handstreich aus der Welt schaffen lässt. Und darum tut er auch nicht so. Aber Gemeinde soll der Ort sein, wo Schritte in eine neue Gemeinschaft gewagt werden. Wo Menschen mitten in einer Welt der Ausgrenzungen an einer Kultur der Achtsamkeit und der Integration arbeiten. Dies allerdings muss geschehen. Dafür kämpft Paulus mit aller Leidenschaft. Denn eine Gemeinde, die sich dem Schema der Welt anpasst, die nichts anderes darstellt als die religiöse Doppelung und damit die Sanktionierung herrschender Unrechtsund Ausgrenzungsstrukturen – eine solche Gemeinde wird an den Menschen und an Gott selbst schuldig. Sie ist schädliche, dem Gericht Gottes anheimgestellte Gemeinde. Sie verliert den Boden unter den Füßen, weil sie Verrat übt an dem, der sie sammelt, schützt und erhält. Deshalb bedarf die Gemeinde vor aller weiteren Ermahnung der Erinnerung an eben den Grund, den sie offensichtlich aus dem Blick verloren hat. Um ihres Lebens willen bedarf die Gemeinde der Lehre. Keine Erneuerung der Sozialität ohne Vertiefung der Spiritualität. Wer hier in falschen Alternativen denkt, wer Leben und Lehre, Verhalten und Verkündigung, Glaube und Kirchenverfassung meint voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen zu können (was in beide Richtungen möglich ist!), der treibt die schädlichste aller Abspaltungen. Da erstarrt lebendiger Glaube zum Verwalten toter Richtigkeiten, da verkommt christliche Gemeinde zum schädlichen Religionsbetrieb.
III Mit den letzten Bemerkungen habe ich das erste Wort des nächsten Abschnitts ausgelegt. Es lautet: Denn.
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»Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe« (V. 23).
An diesem »Denn« hängt unheimlich viel. Es bildet die Klammer zwischen der Gemeindekritik und der Abendmahlsüberlieferung. Das von Jesus eingesetzte und überlieferte Abendmahl macht die Radikalität der Kritik sowie die Richtung des von Paulus ins Auge gefassten Neuanfangs allererst verständlich; so wie andererseits der konkrete Anlass hilft, Charakter und Funktion der Abendmahlsworte richtig einzuschätzen: Sie kennzeichnen ein Geschehen, sie sind »Glaubenshilfe als Lebenshilfe« (Tacke), sie sind jedoch kein kontext- und also zeitloses dogmatisches Regel- und Begriffsarsenal, mit dem sich im freien Raum spekulativ hantieren ließe. Manche Schwierigkeit und manches Missverständnis im Blick auf das Abendmahl, an dem wir bis heute schwer herumtragen, hätte vermieden werden können, wenn die entscheidenden Worte nicht aus dem Kontext der biblischen Geschichte herauspräpariert worden wären. »23 Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, 24 dankte und brach’s und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. 25 Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mund und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis. 26 Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.«
Paulus erinnert die Korinther an das, was in ihrer Abendmahlsfeier geschieht. Dazu genügt es, die entscheidenden Sätze der Überlieferung zu wiederholen (V. 23–25) und mit einem kurzen Kommentar zu versehen (V.26). Wir werden an dieser Stelle etwas länger verweilen müssen. Machen wir uns zunächst Folgendes klar: Was wir heute als Einsetzungsworte kennen und feierlich rezitieren, ist für Paulus der Hinweis auf eine bestimmte Praxis, die in die allerersten Anfänge der christlichen Gemeinde zurückreicht und auf Jesus selbst zurückgeführt wurde. Jesus starb wahrscheinlich im Jahr 33. Der 1. Korintherbrief wurde um 55 geschrieben. Wenn Paulus mit seinem Bericht auf etwas verweist, was auch er schon »empfangen« hat, dann zeigt das, dass offensichtlich schon unmittelbar nach Jesu Tod das Abendmahl der identitätsstiftende Akt der entstehenden Gemeinden war. Gemeinde ist wesentlich Mahlgemeinschaft. Denn in diesem Mahl bündelt sich, was die Gemeinde dem gekreuzigten und von Gott auferweckten Jesus ver-
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dankt und was sie mit ihm verbindet. Es spricht übrigens für die Lebendigkeit und Vielfalt der Mahlpraxis, dass uns die Abendmahlsüberlieferung in unterschiedlichen Fassungen erhalten ist (vgl. Mt 26, 26–29; Mk 14,22–25; Lk 22,15–20). Was dem Neuen Testament recht ist, sollte uns billig sein; die Mehrstimmigkeit ist angemessener als der Versuch, das Abendmahlsverständnis in ein starres Schema zeitlos gültiger Lehrformeln zu pressen.2 Der Ritus selbst ist im Wesentlichen identisch mit dem Ritus jüdischer Gemeinschaftsmahle und nur von dorther zu verstehen. Das Segenswort über das Brot und damit über alle Nahrungsmittel der Mahlzeit hat nach jüdischer Tradition häufig folgenden Wortlaut: »Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde«. Nach der Mahlzeit folgt ein Dankgebet über dem Becher des Segens, das von Paulus ebenfalls als bekannt vorausgesetzt wird. Beide Segensgebete sind in der jüdischen Tradition mit rituellen Handlungen verbunden: Das Brot wird vom Gastgeber in die Hände genommen und nach dem Segen an die Tischgemeinschaft verteilt. Der Segensbecher wird in die Hände genommen und während des Gebetes ein Stück über dem Tisch hochgehalten. Die junge Christenheit versteht das Abendmahl also als neue Tischgemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus. Es steht in der Tradition der Mahlgemeinschaften Jesu, in denen Menschen Anteil bekommen an der Lebenskraft Gottes, an seiner barmherzigen Nähe, an der Vergebung der Sünden. Gerade die Menschen hat Jesus einbezogen, die aus politischen, kultischen oder moralischen Gründen an den Rand gedrängt und ausgegrenzt lebten: die Zöllner und Sünder, die Kranken und die Habenichtse, schwere Jungs und leichte Mädchen. Seine spezifische Bedeutung erhält das Abendmahl aber erst dadurch, dass die Gemeinde Anteil gewinnt an dem, was Jesus in seinem Leiden und Sterben erwirkt hat. Die Einleitung bindet das Mahl an Jesu Passion: »In der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot« (V. 24). Das Abendmahl feiert die Gemeinschaft derer, für die Jesus sein Leben gelassen hat, für die er gehorsam war bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Dabei erinnert der Hinweis auf den Verrat daran, dass die Sünde und das Böse, dem Jesus sich ausgesetzt hat, in seinen engsten Jüngerkreis hineinreicht. Die in Gethsemane schlafenden Jün2 Reformierte verlesen in der Abendmahlsliturgie den paulinischen O-Ton, andere evangelische Kirchen einen von Luther in seiner »Deutschen Messe« aus den vier Fassungen gebildeten Mischtext; ich halte beides für möglich, allerdings sollte schon aus Gründen der ökumenischen Verbundenheit am biblischen Wortlaut unbedingt festgehalten werden.
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ger, Petrus, der Verleugner, Judas, der Verräter – sie sind Gäste jenes letzten Mahles. Bis heute ist das Abendmahl die Tischgemeinschaft derer, die ihrem Herrn das Leben schwer machen und die dennoch, ja gerade deshalb an seinen Tisch geladen werden. »Welche Menschen sollen zum Tisch des Herrn kommen?« fragt der Heidelberger Katechismus in Frage 81. Antwort: »Alle, die sich selbst um ihrer Sünde willen missfallen und doch vertrauen, dass Gott ihnen vergeben hat.« Dass Jesu Leiden und Streben den Seinen zugute kommt, wird durch die mit den Segenssprüchen verbundenen Deuteworten unterstrichen, die wohl von allem Anfang an bei der Austeilung rezitiert wurden: »Das ist mein Leib für euch« – »Dieser Becher ist der neue Bund durch mein Blut«. Was wurde über jenes »das ist« nicht alles gerätselt und gestritten! Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein waren Lutheraner und Reformierte über der Frage zertrennt, wie die Gegenwart von Leib und Blut Christi in den Elementen Brot und Wein zu denken und zu bestimmen sei. Dabei hätte allein schon das Kelchwort in der Paulusfassung zu denken geben sollen, denn hier ist ja gar nicht vom Wein, sondern vom Kelch die Rede. Im Grunde führte der ganze Streit auf eine falsche Fährte, denn es geht nicht um die Frage, was im Abendmahl mit den Substanzen geschieht, wie das eine im anderen materiell da sein kann, sondern es geht um die Verlässlichkeit der Zusage, die Jesus an die Handlung des Abendmahls gebunden hat. Jesus reicht das Brot und sagt: Das bin ich für euch. Da das Wort Leib (soma) im Griechischen öfter den Menschen bezeichnet, der das Sterben erleidet, und da beim Becherwort vom Blut die Rede ist, bedeutet dies: Das bin ich, dessen Leiden und Sterben euch zugute kommt. Ihr, die ihr vom Brot esst und aus dem Kelch trinkt, habt Anteil an meiner Hingabe. Euch sind eure Sünden vergeben, ihr seid hineingenommen in den durch meinen Tod aufgerichteten neuen Bund. Als Hineingenommene stehen wir – dies sei ausdrücklich betont – an der Seite Israels, wir treten nicht an seine Stelle. Denn der im Abendmahl Jesu aufgerichtete Neue Bund ist die positive Bestätigung der Bundesschlüsse Israels und nicht deren Ersatz. »Solches tut zu meinem Gedächtnis« – zur Erinnerung an mich. Erinnerung bezieht sich zwar auf Geschehenes, aber für hebräisches Denken wird das Gewesene im Erinnern neu gegenwärtig. Wie im Passahfest im Erinnern der Befreiung diese als gegenwärtige Wirklichkeit proklamiert wird, so gibt sich der am Kreuz gestorbene und von Gott auferweckte Jesus Christus in jedem Abendmahl neu. Menschen halten das Mahl, aber in ihrem Essen und Trinken, im Loben und
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Verkündigen geschieht es, dass Jesus Christus den Seinen gegenwärtig wird als Geber (»nehmt, esst«) und als Gabe (»das ist mein Leib«) 3. Die am Mahl Teilnehmenden erhalten die Gewissheit: Er für uns. Sein Festhalten an den Weisungen Gottes, seine Kraft, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, seine Liebe, in der er sich nicht geschont hat, seine Selbsthingabe, sein neues Leben – alles für uns. Und so wahr das gilt: er für uns, so wahr sind wir mit Gott im Bund. Im Bund, also nicht außen vor, nicht nur so am Rand, sondern wirklich und wahrhaftig mit dabei. Im Abendmahl erhalten wir auf sinnfällige Weise, was uns auch in der Predigt des Evangeliums zugesagt ist, aber vielleicht ist es beim Abendmahl leichter, das Zusagte auf sich zu beziehen. Denn indem wir erleben, dass wir uns am Tisch des Herrn einfinden, dass wir zu essen und zu trinken bekommen, merken wir, dass die Zusage Ich für euch nicht an uns vorbeigeht, sondern uns erreicht, uns meint, uns gehört. Weil Jesus als Geber und Gabe im Abendmahl gegenwärtig ist, verbindet uns dieses Mahl mit allen, die je zu seinem Tisch gekommen sind, und mit denen, die noch kommen werden. Mit unserer sonntäglichen Abendmahlsgemeinde sind wir ein Ausschnitt der einen großen Gemeinschaft der Gemeinde des auferstandenen Christus, sind wir verbunden mit der Kirche an allen Orten und zu allen Zeiten, ja wir feiern im Grunde schon das Festmahl, das uns alle einmal im Reich Gottes erwartet. Den Hoffnungsaspekt unterstreicht Paulus in seinem Kommentar zum Abendmahlsgeschehen (V. 26). Mit dem Abendmahl »verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt«. Das Abendmahl ist alles andere als eine schöne Illusion oder eine Flucht vor den grausamen Realitäten dieser Welt. Die Verkündigung des Todes Jesu erinnert ja an all das Grauen, an Unrecht und Gewalt, von denen unsere Welt gezeichnet ist. Jesus hat standgehalten, und mit seiner Auferweckung ist eine Hoffnung aufgerichtet, die keine Macht mehr aus der Welt schaffen kann. Aber »bis er kommt«, bis Himmel und Erde neu sein werden, warten wir. Wir müssen nichts schönreden, wir dürfen die Augen vor all den Widerwärtigkeiten nicht verschließen. Im Gegenteil: Weil wir mit einer starken Hoffnung beschenkte Menschen sind, werden wir genau hinsehen und nach unseren Kräften bekämpfen, was der Hoffnung im Weg steht. Wir sind Wartende, aber keine untätig 3 So die Formel auf der Bekenntnissynode in Halle 1937, die den lutherisch-reformierten Einigungsprozess über das Verständnis des Abendmahls einläutete, der 1973 mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie zum Abschluss gekommen ist.
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Wartenden; und vor allem: keine trostlos Wartenden. Das Abendmahl ist unsere Wegzehrung. »So gewiss« wir Brot und Kelch empfangen, »so gewiss« gehen wir seiner Zukunft entgegen (Heidelberger Katechismus, Frage 75). Diese Gewissheit hat Paulus im Römerbrief so ausgedrückt: »Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.« (Röm 8,38f)
IV Die Auslegung der Einsetzungsworte hat gezeigt: Die Gültigkeit und Verlässlichkeit des im Abendmahl Zugesagten steht und fällt damit, dass Jesus selbst gegenwärtig handelt und den Seinen Anteil gibt an dem, was er für sie getan hat: »Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird«. Nun ist heute ausgerechnet dieses »für euch« vielen Christenmenschen ein Stein des Anstoßes. Deshalb seien einige der kritischen Rückfragen aufgegriffen. Erste Frage: Warum muss ein unschuldiger Mensch leiden und sterben, damit Gott uns unsere Sünden vergibt und seinen Bund mit uns erneuert? Oder kürzer: Braucht Gott Opfer? Ich glaube: nein. Gott braucht keine Opfer. Aber wir brauchen es, dass Gott uns und unsere Welt, die noch und noch Opfer produziert, nicht aufgibt. Wir brauchen es, dass Gott mit seiner vergebenden und heilenden Kraft seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen gnädig zugewandt bleibt. Wie die Erwählung Israels ist die Sendung Jesu die Geschichte dieser gnädigen Zuwendung Gottes. Und wenn uns im für euch des Abendmahls nun versprochen wird, dass Gott uns die Hingabe dieses leidenden Gerechten zurechnet, dann besagt das nicht: Ein böser, despotischer Gott wurde durch dieses Opfer gnädig gestimmt, sondern im Gegenteil: Der gnädige Gott lässt es mit dem Tod dieses Einen für alle gut sein. Zum Zeichen dafür hat er ihm neues, unvergängliches Leben gegeben. Für euch bedeutet: Gott sieht euch an wie ihn. Ihr seid mit Gott im Bund. Ihr, die ihr doch sündige Menschen seid, seid Gott recht. Jesu Tod ist euer Leben, Jesu Auferweckung eure Zukunft.
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Zweite Frage: Ist die Rede vom Sühnopfer Jesu dann aber nicht sehr missverständlich? Antwort: Das stimmt, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Eine klang mit der Abwehr der Vorstellung vom verstimmten göttlichen Despoten schon an. Darüber hinaus haben feministische Theologinnen zu Recht auf die unheilvolle Wirkungsgeschichte der Rede vom Sühnopfer hingewiesen. Eine falsche Opfertheologie hat vor allem Frauen genötigt die ihnen auferlegte Opferrolle anzunehmen, sich damit abzufinden, sie womöglich religiös zu verklären. Unglücklicherweise unterstützt unsere deutsche Sprache diesen Irrtum zusätzlich dadurch, dass sie keinen Unterschied zwischen sacrifice und victim macht. Und es ist bedrückend, ja für uns Männer wirklich zum Schämen, erfahren zu müssen, wie entsprechende theologische Sätze in der Seelsorge eingesetzt wurden, um etwa Missbrauchsopfer ruhigzustellen, zu besänftigen, womöglich zum Tragen ihres Jochs anzuhalten. Deshalb ist Magdalene L. Frettlöh nur zuzustimmen, wenn sie schreibt: »Auf das Opfer Jesu darf sich keiner berufen, der immer noch Opfer im Namen Gottes fordert, macht er damit doch die Auferweckung des Gekreuzigten zunichte. Und zugleich: Auf das Opfer Jesu darf sich jede berufen, die nach Gottes Eintreten für das Recht derer schreit, die … in die Opferrolle geraten sind … In der Auferweckung gibt Gott Jesus Recht. Und er setzt die ins Recht, die wie Jesus ihr Leben riskieren, damit niemand mehr zum Opfer wird.«4
Dritte Frage: Auch wenn man das Sühnopfer einmal beiseite lässt, wird die Sache kaum einfacher. Jesu Leben für unseres, einer für die anderen – wie soll man sich das vorstellen? In gewisser Weise kennen wir den Sachverhalt, um den es hier geht, alle. Nur ist er uns so vertraut, dass wir ihn kaum noch wahrnehmen. Komplexe Formen von Leben sind nur möglich, weil ständig Akte von Stellvertretung stattfinden. Das gilt für das Zusammenspiel unserer (und aller Lebewesen) Organe, das gilt für die Lebewesen in ihrem Zusammenleben: Nur weil nicht jeder alles machen muss, kann sich überhaupt Vielfalt entwickeln. Die Arbeit des einen schafft dem anderen Entlastung und Raum für eigene Entfaltung. Auch Paulus’ Bild vom Leib mit den vielen Gliedern beschreibt das An-seinem-Ort-für4 Margarete L. Frettlöh, Braucht Gott Opfer?, in: F. Crüsemann / U. Therissmann (Hg.), Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im Glaubensbekenntnis fehlt, Gütersloh 1998, 49–54, hier 52.
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andere-Einstehen als eine Grundbedingung für gelingende Gemeinschaft. Nun erklärt das organismische Bild noch nicht alles. Dass Jesu Tod Barrabas zugute kommt, leuchtet ein, da gibt es eine direkte Verbindung. Aber wie soll sein Tod Menschen betreffen, die über Räume und Zeiten von ihm getrennt sind. Was heißt da: für euch ? Mir hat sich das für euch in einem zugegebenermaßen reichlich banalen Zusammenhang erschlossen. Ich fuhr im Zug an dem Tag, als Schalke 04 UEFA-Pokalsieger geworden war. Ich war umgeben von glücklichen, ja von im Freudentaumel feiernden Menschen, die z.T. von weither anreisten, um, wie sie sich ausdrückten, an »unserer Siegesfeier« teilzunehmen. Der Sieg auf Schalke war wirklich und wahrhaftig für sie errungen. Und da sage keiner, das sei nur ideell, ohne Auswirkungen in der Realität. Von der philosophischen Problematik, die sich hinter dem »nur ideell« meldet, einmal abgesehen, stimmt der Einwand faktisch nicht. Vereinswechsel: Als Neapel in den 80ern erstmalig italienischer Meister wurde, da vermeldete die Polizeistatistik über Wochen einen gewaltigen Rückgang der Kriminaldelikte. Mann, Frau, alle feierten »ihren« Sieg, den Sieg des verachteten Südens über den stolzen Norden. Auf der Innenseite einer Friedhofsmauer hatte jemand am Tag nach dem Spiel den Toten die Parole hingesprüht: »Ihr wisst nicht, was ihr verpasst habt.« Ich wähle noch ein völlig anderes Beispiel aus einem sehr ernsten Zusammenhang: Als Willi Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos auf die Knie sank und Buße tat, da tat er das für uns. Seine Tat kam unserem Volk zugute und war ein nachhaltig wirkender Meilenstein auf den Weg der Aussöhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk. Stellvertretung über Räume und Zeiten hinweg – auch dieser Gedanke ist uns also nicht fremd 5. Denkbar ist er. Ob das »für uns« Jesu allerdings glaubhaft ist, hängt freilich daran, ob wir ihn als einen von uns anerkennen und annehmen können. Die biblische Bezeichnung Menschensohn soll uns dabei helfen. Weil in ihm Gott uns als wahrer und wirklicher Mensch begegnet, als einer von uns eben, haben wir Anteil an seinem Geschick, kommen sein Tod und seine Auferstehung 5 Hans-Martin Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 2 2001 hat an zahlreichen Beispielen aufgewiesen, dass sich das Motiv »Einer für alle« durch die gesamte Popkultur zieht. Das lässt die Armut der Theologen, die von sich behaupten, mit diesem Motiv nichts mehr anfangen zu können (und dies nicht weiter schlimm finden, weil es heutigen Zeitgenossen ohnehin nicht zuzumuten sei), nur umso bedrückender erscheinen!
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uns zugute. Durch die Zeiten hindurch haben Menschen darin ihren Halt und Trost gefunden. Ihre gesprochenen und gesungenen Glaubenszeugnisse führen oft weiter als dogmatische Setzungen. So fasst etwa Paul Gerhardt in düsteren Zeiten seine Glaubensgewissheit in das Bild von der Geburt: »Ich hang und bleib auch hangen an Christus als ein Glied; wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit. Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell.« (EG 112,6)
Halten wir fest: Als »Christi Gesellen« feiern wir im Abendmahl die Gemeinschaft derer, denen ihre Sünde vergeben ist, die sich mit Gott im Bund wissen dürfen und seiner Zukunft hoffnungsvoll entgegengehen. V Nachdem Paulus der Gemeinde in Erinnerung gerufen hat, was sie eigentlich tut, indem sie das Abendmahl feiert, nimmt er den Faden der Kritik an der gemeinschaftsschädigenden Praxis noch einmal auf. Denn erst jetzt ist vollends deutlich, was auf den Spiel steht. »27 Wer nun unwürdig von dem Brot isst oder aus dem Kelch des Herrn trinkt, der wird schuldig am Leib und Blut des Herrn. 28Der Mensch prüfe aber sich selbst, und so esse er von diesem Brot und trinke aus diesem Kelch. 29 Denn wer so isst und trinkt, dass er den Leib des Herrn nicht achtet, der isst und trinkt sich selbst zum Gericht. 30 Darum sind auch viele Schwache und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen. 31 Wenn wir uns selbst richteten, so würden wir nicht gerichtet werden. 32 Wenn wir aber von dem Herrn gerichtet werden, so werden wir gezüchtigt, damit wir nicht samt der Welt verdammt werden. 33 Darum, meine lieben Brüder, wenn ihr zusammenkommt, um zu essen, so wartet aufeinander. 34. Hat jemand Hunger, so esse er daheim, damit ihr nicht zum Gericht zusammenkommt.«
Das also ist die eigentliche Schuld der Korinther: Ihr Gemeindeleben widerspricht dem, was sie im Abendmahl feiern. Sie sind verwickelt in einen Selbstwiderspruch, und ihre Versammlungen sind geradezu die Inszenierung dieses Selbstwiderspruchs. Denn ihre Sozialität spricht
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ihrer Sakramentalität Hohn. Damit, so spitzt Paulus seine Kritik zu, werden die Korinther aber nicht nur den Menschen nicht gerecht, damit Versündigen sie sich zugleich an der heiligen Handlung. Und das tut man nicht ungestraft. Seine Warnung: Wenn euer Verhalten der Vergebung, der Annahme und der Gemeinschaft, die ihr im heiligen Mahl feiert, zuwiderläuft, dann zieht ihr euch Gottes Gericht zu. Da bedarf es gar nicht der Vorstellung eines von oben herab zürnenden und richtenden Gottes – die im Selbstwiderspruch Verwickelten besorgen das selbst. Sie essen und trinken sich gleichsam um Kopf und Kragen. Gerade im Zusammenhang mit dem Abendmahl scheint mir der Hinweis angebracht, dass man sich auch selbst zum Gericht beten kann. Unser bekanntestes Tischgebet nimmt eines der ältesten Stücke der Abendmahlsliturgie auf, den Ruf maranatha, »Unser Herr, komm!«: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Wer so betet, geht das Risiko ein, dass sein Gebet erhört wird. Und wenn Jesus dann kommt, so, wie er es im Gleichnis vom Weltgericht ankündigt (vgl. Mt 25,31–46): als Hungriger und Durstiger, als Zerlumpter, als auf Bewährung Entlassener und – peinlich genug – als Fremder, als Asylant, wenn er also in gnädiger Erfüllung unseres Gebetes kommt und dann unsere Herzen und Hände, unsere Türen und unsere Grenzen verschlossen findet – wie soll er dann anders reagieren als zu sagen: »Ich kenne euch nicht!«? Im Abendmahl heißt es: »Mein Leib für euch«. Der Gekreuzigte und Auferstandene schenkt sich den Seinen und verbindet sie zu dem einen Leib seiner Gemeinde. Im Kapitel vorher hat Paulus ausdrücklich gesagt: »Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.« (1Kor 10,16f) Teile dieses Leibes abzuspalten, ihn gar auseinanderzureißen, das ist Selbstverstümmelung, da steht die Gemeinde in Gefahr, als Gemeinde Selbstmord zu begehen. Jedenfalls muss sie wissen, dass es ihr ergeht wie dem menschlichen Körper: Schäden, gegen die man nichts tut, haben die Tendenz zur Verschlimmerung, sie breiten sich aus. Paulus versteht manches, was einzelne Gemeindeglieder durchzumachen haben, als Folge des Schadens, der im Inneren der Gemeinde aufgebrochen ist. Wir neigen dazu, solche Verknüpfungen theologisch zu hinterfragen. Aber Vorsicht! Wir täten besser daran, uns erinnern zu lassen, dass Kirche tatsächlich krank machen, Menschen physisch und psychisch kaputtmachen kann. Für die Opfer von Kirche gibt es Therapie; das ist gut so. Aber die Kirche darf sich ihrerseits nicht gegen geistliche Therapie immunisieren, und zu der gehört immer auch der ungeschminkte Blick auf den Ernst der eigenen Lage.
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Deshalb fordert Paulus die Gemeinde zur Selbstprüfung auf. Dieser Aufruf zusammen mit der Warnung vor, wie Luther übersetzt hat, »unwürdigem« Essen und Trinken ist der wohl meist missverstandene Teil des gesamten Textes. Denn er wurde – vor allem seit dem 18. Jahrhundert – aus dem Kontext herausgelöst und individualisiert. Aus der sozialen Frage des Paulus nach der Qualität des Zusammenlebens wurde die individuelle Frage nach der je eigenen inneren Würdigkeit. Das trieb Menschen in selbstquälerische Innenschau: »Bringe ich die rechten Zugangsbedingungen mit? Bin ich moralisch in Ordnung? Bin ich geläutert genug? Bin ich gläubig genug?« Auf diese Weise wurde das Mahl der Lebenserneuerung, der Vergebung und der Hoffnung seines befreienden Charakters beraubt. Die Folge war eine vor allem unter Reformierten weitverbreitete unselige Abendmahlsscheu. Gerade im Protestantismus verkümmerte das Abendmahl immer mehr zur Nische, düster, abgetrennt vom restlichen Leben, ein ziemlich entvölkerter, fremd gewordener Ort. Bis heute lastet eine gewisse Tristesse und Bangigkeit auf vielen unserer Mahlfeiern. Wenn diese Fehlentwicklung in den letzten Jahrzehnten erkannt und an einer Erneuerung des Abendmahls gearbeitet wurde, dann ist das nicht zuletzt eine Frucht der ökumenischen Begegnung mit solchen Kirchen, in deren Leben das Abendmahl, die Eucharistie, einen gewichtigeren Platz behalten hat als bei uns. Das Lima-Dokument etwa spiegelt die Rückbesinnung auf die soziale Dimension des Abendmahls: »Die Eucharistie umgreift alle Aspekte des Lebens … Alle Arten von Ungerechtigkeit, Rassismus, Trennung und Mangel an Freiheit werden radikal herausgefordert, wenn wir miteinander am Leib und Blut Christi teilhaben.«
Auch der Deutsche Evangelische Kirchentag hat sich darum verdient gemacht, im Blick auf das Abendmahl wieder zusammenzudenken und zusammenzubringen, was zusammengehört: Lehre und Leben, Mahl und Agape, Feier und Alltag, Spiritualität und Sozialität, Eucharistie und Diakonie. Gerade Letzteres können Reformierte nur begrüßen, denn von jeher verstanden wir das Abendmahl als die »Quelle der Diakonie« (Alfred Rauhaus). Die Frage nach der abendmahlsgemäßen Gemeinde und Kirche muss zu jeder Zeit neu ausgelotet werden. Die Gemeinde in Korinth ist gespalten aufgrund ihrer sozialen Schieflage; folglich ermahnt Paulus sie, einander anzunehmen, das heißt: aufeinander achtzuhaben und miteinander zu teilen. Die Mahnung des Apostels für heute konkret zu füllen, sprengt den Rahmen einer Bibelarbeit. Immerhin sollte das Zitat aus dem Lima-Dokument den weiten Horizont kennzeichnen, in
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dem wir heute zu fragen haben. Wenn die Weltgesellschaft am »korinthischen Syndrom« leidet, dann bedarf es weltweiter Antworten. So verstehe ich den processus confessionis des Reformierten Weltbundes im Blick auf gerechtes Wirtschaften, so auch die Erlassjahrkampagne, so auch unser reformiertes Anti-Mammon-Programm. Ich möchte für unser heutiges Fragen jetzt nur noch einen Impuls aus unserem Text weitergeben: Wir dürfen auf dem Weg zu einer abendmahlsgemäßen Kirche die konkrete Frage nach der versammelten Gemeinde, die Paulus umgetrieben hat, nicht aus dem Blick verlieren oder irgendwie überspringen wollen. Ich könnte auch sagen: Wir müssen mit dem Anfang anfangen! Noch vor der Suche nach der abendmahlsgemäßen Kirche stellt sich uns die Frage nach der Angemessenheit unserer Abendmahlsfeier. Bringt sie ihre eigene Botschaft zur Darstellung? Atmet sie etwas von der herrlichen Freiheit der vom Gesetz der Sünde und des Todes befreiten, zu einem Leib zusammengefügten und mit Hoffnung ausgestatteten Kinder Gottes? Wenn ja, dann wird die Gemeinde dieses Mahl oft feiern wollen, mindestens einmal im Monat. Und »Kinder Gottes« ist dann nicht nur ein theologischer Fachterminus für Kirchentreue über 60, sondern meint auch echte Kinder, die an diesem Mahl gerne teilnehmen, weil sie dort willkommen sind. Überhaupt sind alle willkommen, die das für euch zugesprochen bekommen möchten. Unterschiedlicher als die verschiedenen Abendmahlsverständnisse innerhalb des neuen Testaments können die Lehrunterschiede, die heute noch als Kirchen trennend behauptet werden, gar nicht sein. Wir, die wir glauben, dass der auferstandene Christus selbst Gastgeber ist (und nicht die jeweilige Kirche oder gar der Pfarrer), laden auch die ein, die einer anderen Kirche zugehören, so wie wir auch an einem Abendmahl in einer Kirche teilnehmen können, deren Lehrbestand wir nicht in Gänze teilen. Weiter: Gibt es bei unseren Mahlfeiern und, allgemeiner gesprochen, in unseren Gottesdiensten offene oder verborgene Strukturen von Ausgrenzung? Wenn ja, wenn schon unser sonntägliches Tun unter Ausgrenzungen leidet, wie sollten wir von dort Prägekraft für den Gottesdienst im Alltag der Welt erwarten können!? Wo also herrschen bei uns »schädliche Zustände«, sodass die eingangs zitierte Warnung von Helmut Tacke virulent wird, wonach man manchen nicht wünschen kann, in den Gottesdienst zu kommen. Man darf hier nicht zu schnell von »Äußerlichkeiten« oder von »Kleinigkeiten« reden. Wenn in vielen Gemeinden 100 % des kirchenmusikalischen Etats dafür ausgegeben werden, den musikalischen Geschmack der ca. 5 %igen Minderheit zu bedienen, die zu den Klassik-Programm-Hörern zu rechnen sind – ist
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das eine Kleinigkeit? Wenn unser Sprachverhalten immer noch überwiegend am Bildungsbürgertum orientiert ist – ist das eine Kleinigkeit? Dass wir erst im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts damit begonnen haben, in unserer Verkündigungs- und Gebetssprache der Tatsache gerecht zu werden, dass die Mehrzahl unserer Gottesdienstbesucher_innen Frauen sind – ist das eine Kleinigkeit? Und wo bieten unsere Gottesdienste denen (nicht nur Raum, sondern) Heimat, die ›anders‹ sind, anders hinsichtlich ihrer Lebensform, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer körperlichen oder geistigen Begabungen. Hier geht es nicht um Kleinigkeiten, eher um die Spitze eines Eisbergs. Und in all dem geht es um die Frage, ob wir das, was wir im Abendmahl feiern, »würdig« feiern. Wir planten eine ökumenische Versammlung mit fünf Konferenzsprachen. Aufgrund der verschiedenen Übersetzungskombinationen braucht man pro Sprache mindestens zwei Dolmetscher, das ist viel Aufwand, der mit entsprechenden Kosten verbunden ist. Als wir die Teilnehmendenliste durchgingen, schlug einer vor, man könne einsparen, da eine Sprache nur von einem einzigen Teilnehmer angekreuzt sei. Darauf der Konferenzleiter: »Einer ist so viel wie hundert!« Diesen Satz habe ich mir gemerkt. Ein Ausgegrenzter ist keine Kleinigkeit. Aber ein Ausgegrenzter, der integriert wird, das ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Gemeinschaft des Leibes Christi. »Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.«
Bring Leben ins Leben Bibelarbeit über Jakobus 4,13–15 (16 – 5,6) 1
I Liebe Schwestern und Brüder, mit den Mottos von Kirchentagen ist das so eine Sache. Aussagekräftig sollen sie sein und programmatisch! Aber eben auch kurz und knackig. Neugier sollen sie wecken und gleichzeitig eine erste Richtungsanzeige bieten. Und Lust sollen sie machen, sich auf die im Motto anklingende Thematik einzulassen. »Bring Leben ins Leben« – ich muss gestehen, anfangs habe ich mit diesem Motto ein wenig gefremdelt. Erste Reaktion: Da klingt so etwas typisch Protestantisch-Anstrengendes und Angestrengtes mit. Leben ist mal wieder nicht genug, da muss noch was hinzukommen. Und als hätte man nicht schon genug um die Ohren, soll man zum Leben direkt noch das Größtmögliche beisteuern: Bring Leben ins Leben. Erinnerungen an elterliche Mahnungen stiegen in mir hoch: »Junge, mach was Sinnvolles!« »Vergeude deine Zeit nicht!« »Es gibt wichtigeres als Spaß an der Freude!« »Vergiss das ›Eigentliche‹ nicht!« Oder – um es gleich mit Goethe zu sagen: »Mensch werde wesentlich!« Andererseits, wenn wir als Jugendliche unsere gemeinsame Zeit mal wieder so verbrachten, wie es den Ermahnungen stracks zuwiderlief, fanden wir, dass dann so richtig Leben in der Bude war. »Bring Leben in die Bude« schöpft den Bedeutungsgehalt unseres Mottos wohl nicht in Gänze aus. Was aber ist gemeint? Dass hier sehr Unterschiedliches assoziiert werden kann, hat mich die Internetrecherche gelehrt. Man glaubt es ja kaum, wer alles beansprucht (mit eben dieser Formulierung), Leben ins Leben zu bringen. »Sauna World« bringt Leben ins Leben, aber auch der »2004er Eros ›Kairos‹-Cuvee« vom Weingut Anton Schöffmann aus dem Vorarlberg. Leben ins Leben bringt natürlich das »Geburtsspital Materniteé« aus Bern, aber eben auch die »Costa Blanca Propertys«. Dass ein Flirt Leben ins Leben bringt, hat mancher schon immer geahnt, »flirt-aca1 Diese Bibelarbeit wurde auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in Lippe im Mai 2008 gehalten. Das Thema war vorgegeben.
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demy.de« bietet dazu reichlich Gelegenheit. Dass eine gewisse Plutokonstellation ebenfalls Leben ins Leben bringt, war mir persönlich neu, wird in »www.esoterikforum.de« aber ausführlich begründet. Genug der Beispiele. Und höchste Zeit zu fragen, wie sich unser Motto als christlicher Satz, also theologisch verstehen lässt. Dazu wollen wir heute die Bibel befragen. Ich habe einen Abschnitt aus dem Jakobusbrief ausgewählt, der sich wie eine Meditation des Mottos liest. »Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen – und wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen sollt ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies und das tun.« (Jak 4,13–15)
Am Ende dieses Abschnitts findet sich eine berühmte Redewendung. In der uns geläufigen Fassung lautet sie: »So Gott will und wir leben …« Die Älteren unter uns werden sich erinnern, dass es früher unter frommen Christenmenschen gang und gäbe war, Vorhaben oder Verabredungen mit dieser Formel einzuleiten: So Gott will und wir leben, werden wir … Und die Gebildeten leiteten in Briefen entsprechende Sätze mit der Abkürzung »s.c.J.« ein: »sub conditione jakobaea« (unter der Bedingung / dem Vorbehalt des Jakobus). Wörtlich übersetzt lautet der Satz: »Wenn der Herr will, werden wir leben und dies und das tun.« (V. 15) Dabei handelt es sich um weit mehr als um eine fromme Floskel. Hier drückt sich eine Haltung aus, die getragen ist von Gottvertrauen und tiefer Lebensweisheit. Wer so lebt, der gewinnt Lebendigkeit und hilft, das Leben anderer zu erhalten und zu fördern. Mit einem Wort: Er bringt Leben ins Leben! Für den Autor des Jakobusbriefes (ich nenne ihn im Folgenden der Einfachheit halber Jakobus) ist diese Redewendung aber auch eine Kampfansage, energischer Einspruch gegen eine Einstellung und eine Praxis, die Leben und Zusammenleben aufs höchste gefährdet. Es geht hier um einen scharfen Kontrast und Jakobus ringt darum, seine Leserinnen und Leser auf die richtige, auf die dem Leben zugewandte Seite zu holen. Um dies deutlich zu machen, möchte ich zunächst die Haltung nachzeichnen, gegen die sich der Einspruch des Jakobus richtet. II Sie wird uns zu Beginn des Abschnitts in holzschnittartiger Klarheit vor Augen geführt:
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»Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen« (V. 13).
Was sofort auffällt: Die Leute, die Jakobus hier zitiert, sind sich ihrer Zukunft verdammt sicher. Sie wissen genau, wo sie hinwollen; der zeitliche Rahmen ist fest abgesteckt; klar ist auch die Art der Tätigkeit – wobei das Wort »Handel treiben« im Grunde zu harmlos ist; im griechischen Wort klingt das raffgierige An-sich-Reißen mit. Und sogar das Ergebnis wissen sie schon im Voraus: Sie werden am Ende Gewinn gemacht haben. So reden Menschen, die alles im Griff haben. Auch das wird im Griechischen noch deutlicher, denn es heißt dort nicht: »wir wollen«, sondern: »wir werden«. Hier wird Zukunft geschmiedet. Was diese Menschen beabsichtigen, werden sie knallhart durchziehen. Und man fragt sich bang, was wohl geschehen mag, wenn sich denen, die so vorgehen, etwas in den Weg stellt. Zumal ihre Selbstsicherheit ja einhergeht mit einer abschreckenden Kaltschnäuzigkeit: Die Orte und mit ihnen die Menschen, die dort wohnen – sie werden schlicht mitverplant. So etwas wie nachfragen, Mitsprache der Betroffenen gar, scheint denen, die hier ans Werk gehen, fremd zu sein. Und ihr ganzes Vorhaben dient einem einzigen Ziel, das sie fest im Blick haben: dem Gewinn. Sie werden sich selbst, ihre Tätigkeit, aber auch die, denen sie begegnen auf dieses eine Ziel hin trimmen: Die Profitmaximierung wird das Gesetz ihres Handelns sein. Liebe Schwestern und Brüder, was Jakobus hier in prophetischer Klarsicht beschreibt, ist das Leben unter dem Diktat des Mammon: festgezurrt, durchgeplant, alles diesem Diktat unterwerfend. Die Orte und die Menschen – degradiert zur Manövriermasse im Streben nach Profit. Zwischenfrage: Überzeichne ich die wenigen Hinweise des Textes, lege ich da womöglich zu viel, vor allem zu viel Politisches hinein? Es gibt in der Tat Auslegungen, die den Schwerpunkt anders setzen und meinen, hier werde mehr allgemein eine geistige Haltung kritisiert, die sich zu sehr auf das eigene Plänemachen verlässt und die eigene Begrenztheit und damit letztlich auch Gott aus den Augen verliert. Aber sollte die Tatsache, dass uns hier das Verhalten von Kaufleuten, und zwar von in weiten Horizonten agierenden Großunternehmern vor Augen geführt wird, tatsächlich Zufall sein? Nein, anders herum wird ein Schuh daraus: Die geistigen und geistlichen Defizite (sie werden uns noch näher beschäftigen) wurzeln eben in der einseitigen und alles andere ausblendenden Fixierung auf das Profitmachen. Für diese
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Deutung spricht, dass der Jakobusbrief schon ganz zu Beginn die Gier als den eigentlichen Wurzelgrund von Sünde und Tod gebrandmarkt hat: »Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. … Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.« (1,13a.14f)
Auch im weiteren Verlauf des Briefes ist es die Reichtumsproblematik und nur sie, an der die Gefährdungen der Begierde in immer neuen Anläufen konkretisiert werden. Als Beispiel verweise ich nur auf Jak 5,1–6, also den Abschnitt, der unserem unmittelbar folgt. Dort führt Jakobus aus: Die am Profit orientierten Reichen schädigen zuallererst die ihnen Anvertrauten: Sie enthalten ihren Arbeitern den gerechten Lohn vor, heißt es in V. 5. Zudem verhöhnen sie die Betrogenen durch ihren eigenen Lebensstil: »Ihr habt geschlemmt … und geprasst und eure Herzen gemästet« (5,5). Wer sich ihnen gegenüber behaupten wollte, hatte keine Chance, denn: »Ihr habt den Gerechten verurteilt und getötet« (5,6). Aber eben dies alles, was sie sich zuschulden kommen lassen, bleibt bei Gott nicht unbemerkt: Der ungerechte Lohn, »der schreit«, und am Ende wird das angerichtete Elend die Reichen selbst einholen: »Und nun, ihr Reichen: Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer.« (5,1–3a)
Weshalb es schon im 1. Kapitel hieß: »Die Blume fällt ab, und ihre schöne Gestalt verdirbt: So wird auch der Reiche dahinwelken in dem, was er unternimmt.« (1,9–11)
Liebe Schwestern und Brüder, kommt uns das nicht alles sehr bekannt vor? Nicht nur im Weltmaßstab, auch in unserem eigenen Land wird die Kluft zwischen denen, die Gewinn machen, und denen, deren Lohn unverschämt und unverantwortlich niedrig ist, immer größer. Es ist nur eben obszön zu nennen, wenn Managergehälter das Mehrhundertfache eines Arbeiterlohnes betragen. Und wer jetzt stirnrunzelnd vor einer Neiddebatte meinte warnen zu müssen, der weiß nicht, worum es hier geht. Es geht um himmelschreiendes Unrecht.
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Inzwischen ist es allgemein bekannt (und durch solide Recherchen belegt), wie gering hierzulande tatsächlich Löhne ausfallen können, etwa in manchen Discounterketten, wo um die 5 Euro Stundenlohn gezahlt wird 2. Einige Unternehmen hatten sogar die Stirn, ihre Angestellten unterschreiben zu lassen, dass mit diesem (an sich schon lumpigen) Gehalt die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall mit abgegolten sei. Auf deutsch: Wenn du arbeitest, kriegst du zu wenig, macht die Schinderei dich krank, gibt’s gleich gar nichts mehr. Eine Personalchefin wurde im Interview gefragt, ob das nicht ungerecht sei. Antwort: »So können sie nicht fragen, man muss das betriebswirtschaftlich sehen.« Das sind besonders schlimme Auswüchse, von denen immerhin Tausende und Abertausende betroffen sind. Und im etwas höher einzustufenden, aber ebenfalls allzu kärglichen Niedriglohnsektor sind inzwischen zwanzig Prozent aller Arbeitsverhältnisse anzusiedeln. Wer dankt eigentlich dem Heer der Schlechtgestellten, dass sie tapfer versuchen, ihren Alltag zu meistern und durchzukommen, anstatt aufzugeben oder auszurasten, wenn sie doch täglich mitkriegen, wie – mit Jakobus zu sprechen – am anderen Ende der Skala »geschlemmt und geprasst und die Herzen gemästet werden« – das Wort »Lustreisen« würde sich in diese Reihe nahtlos einfügen. Gerade angesichts solch kritischer Bemerkungen muss die Frage geklärt werden: Wer ist jetzt eigentlich angesprochen? Schon für Jakobus selbst ist diese Frage nicht ganz leicht zu beantworten. Einigermaßen klar ist nur, um welche Art von Reichen es sich damals handelt: Bei unserem Ausgangstext sind Großkaufleute im Blick (sie reisen, um Profit zu machen), beim zuletzt zitierten Text aus Kap. 5 Großgrundbesitzer. Auseinander gehen die Meinungen aber bei der Frage, ob solche »Großkopferten« überhaupt Mitglieder der Gemeinde sind oder ob sie zu dem Umfeld gehören, mit dem sich die Christen auseinenderzusetzen haben. Mir leuchtet eine mittlere Position am meisten ein, der zufolge wir uns in einer Zeit des Übergangs befinden, in der Reiche begonnen haben, Mitglieder der Gemeinde zu werden, womöglich bisweilen die Rolle des Geld-Gebenden Patrons übernehmen, dann allerdings auch die Gemeinde mit ihrem Lebensstil und ihren Wertmaßstäben zu prägen versuchen. Es gilt also festzuhalten: Selbst wenn die Mehrzahl der Gemeindeglieder nicht zu den kritisierten »Schlimmen« gehört, predigt Jakobus nicht zum Fenster hinaus. Der gesamten Gemeinde müssen die unseligen Mechanismen einer giergesteuerten Lebensweise vor Augen gestellt werden, um zu mahnen und 2 Der inzwischen eingeführte Mindestlohn stellt eine Verbesserung dar, ist aber noch weit davon entfernt, die hier angesprochene Problemlage zu beheben.
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zu warnen, weil (wie wir noch sehen werden) diese Lebensweise ansteckend wirkt und weil jeder an seinem Ort von der versucherischen Kraft der Begierde betroffen ist – und in ihrer Folge auch dem Irrglauben verfällt, er hätte alles im Griff, und die Zukunft stünde zur freien Verfügung. Genau so wollen diese Worte auch von uns gehört werden. Wir sollen uns der Einsicht stellen, dass wir unter dem Diktat des Gewinnstrebens verplante und verplanende Menschen sind. Sie merken, ich drücke mich hier vorsichtiger aus, als Jakobus es getan hat. Er kann noch klar unterscheiden zwischen denen, die Profit planen, und denen, die verplant werden. Einfacher gesagt: Bei ihm gibt es noch klar benennbare Täter. Da werden wir zurückhaltender sein müssen, nicht aus Ängstlichkeit, sondern aus Ehrlichkeit. Gewiss kann man tendenziell – denken wir nur an die Nahrungsmittelkrise – sagen, dass im reichen Norden die Planer und Abschöpfer und im armen Süden die Verplanten und Geschröpften sitzen; hier die Täter, dort die Opfer. Aber bei näherem Hinsehen verkompliziert sich das Bild gewaltig. Sind die eben erwähnten Menschen, die bei uns für Billiglohn arbeiten, Täter? Wenn, dann allenfalls gezwungenermaßen, weil sie gar nicht anders können, als sich mit dem Kauf ungerecht produzierten Waren über Wasser zu halten. Wir, die hier Versammelten, sind gewiss beides: Wir machen mit beim Streben nach Gewinn, profitieren auch mehr oder weniger an seiner Abschöpfung und sind doch zugleich Mitverplante, dem Diktat der Profitsucht mal mehr, mal weniger Ausgelieferte. Gerade darin zeigt sich heute die unheimliche Macht des Mammon, dass es ihm gelingt, aus der Anonymität heraus zu agieren, solche für sich einzuspannen, die es vielleicht nicht einmal wissen (besonders bedrückend: die Abhängigkeit schon unserer Kinder von »Markenklamotten«). Mehr noch, er geriert sich als ein natürliches Lebensgesetz, an das wir uns gewöhnen sollen. Darum brauchen wir den heilsamen Einspruch des Jakobus, der uns mit dem, was ist, neu konfrontiert: Der Mammon ist kein natürliches Lebensgesetz, sondern lebensbedrohliche Gewaltherrschaft.
III An das geschlossene System einer profitorientierten Zukunftsplanung stellt Jakobus nun zunächst die schlichte Rückfrage: »Was ist euer Leben?« Erinnern wir uns noch einmal, wie die Angesprochenen geredet hatten: »Wir werden da und da hingehen und ein Jahr bleiben und
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Handel treiben und Gewinn machen.« Wir werden, wir werden, wir werden. Gegenüber diesem selbstsicheren, aufgeblähten Machertum wirkt diese knappe Rückfrage wie eine Nadel, die den Ballon anpiekst, sodass die Luft entweicht: Was ist euer Leben? Leben – dieses Wort war im Konzept der Planer nicht vorgekommen, obwohl sie doch lebendige Wesen sind und obwohl sie auf das Leben anderer Menschen Einfluss nehmen. Aber in ihrer Welt wird Leben irgendwie vorausgesetzt. Es ist Teil der einzuplanenden Manövriermasse, aber es ist als solches keiner gesonderten Beachtung wert. Diese Unachtsamkeit gegenüber dem Leben verrät sich uns heute oft an einer Sprache, die alles auf seine Funktion reduziert: Menschen verkümmern zum Wählerpotential oder zum Käuferpotential, Regionen zu Märkten, Tiere zu Fleisch, Bäume zu Bauholz, Lebendiges zur Biomasse. Wo Leben nur noch als Mittel zum Zweck des Gewinns in den Blick kommt, ist die schlichte Rückfrage »Was ist euer Leben?« von revolutionärer Sprengkraft. Nicht umsonst hat Jesus selbst »Gewinn« und »Leben« gegeneinandergestellt: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch schaden an seiner Seele?« (Einheitsübersetzung: »an seinem Leben«; Mt 16,26). »Was ist euer Leben?« Liebe Schwestern und Brüder, es müsste nicht sein, aber es verhält sich oft so, dass sich uns der Wert des Lebens erst von seiner Begrenztheit her erschließt. Deshalb erinnert uns Jakobus daran, dass wir allzu selbstverständlich mit etwas rechnen, was wir in Wahrheit nicht in der Hand haben. Er sagt: »Ihr wisst nicht, was morgen sein wird … Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet.« (V. 14) Im Urtext steht ein noch markanteres Wort, das im ganzen Neuen Testament nur an dieser Stelle vorkommt: »Dampf« seid ihr, heiße Luft, die sich alsbald auflöst. So flüchtig ist unser Leben, so vergänglich – aber gerade deshalb: so kostbar. Wir können es verlieren, zerstören, aber nicht einfangen und festhalten. Wer das vergisst, wer das Leben betrachtet wie einen konservierbaren und kalkulierbaren Lagerbestand, der sehe zu, dass er am Ende nicht zur Witzfigur wird wie der reiche Kornbauer, der sich sagen lassen muss: »Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?« (Lk 12,20) Wir dürfen diese Weisheit nicht unterschätzen. Sie ist nicht spezifisch biblisch, sie ist geradezu eine Allerweltsweisheit, aber sie wird uns aus gutem Grund in der Bibel immer wieder in Erinnerung gerufen: Betrachtet euer Leben als Geschenk, als ein gerade in seiner Begrenztheit kostbares Gut, über das ihr nicht verfügen, dem ihr aus eigener Kraft keinen einzigen Tag hinzufügen könnt. Deshalb steht in Ps 90
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die Bitte: »Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.« (V. 12) Wir dürfen diese Weisheit aber auch nicht überschätzen. Denn die Einsicht in die Begrenztheit des Lebens kann auch zynisch und verantwortungslos machen. Die Bibel kennt auch Leute, die sagen: »Lasst uns essen und trinken, denn wir sterben doch morgen!« (Jes 22,13; vgl. 1Kor 15,32) IV Deshalb führt uns Jakobus noch einen entscheidenden Schritt weiter. In V. 15 hören wir: »So sollt ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies und das tun.« Unter dem Diktat des Mammon wird Leben dem Gewinn untergeordnet. Unter dem gnädigen Willen Gottes soll alles dem Leben dienen: »Wenn der Herr will, werden wir leben«. Dieses Wort soll in uns die Dankbarkeit für und die Ehrfurcht vor dem Leben wecken: Nicht erst der Profit, nicht das, was wir haben, macht unser Leben reich und sinnvoll. Solange unser Leben währt, besteht sein Sinn darin – zu leben: in Gemeinschaft mit Gott und als »wir«, also in Gemeinschaft miteinander. Gott will, dass wir leben. Dies ist nun alles andere als eine Allerweltsweisheit. Dies ist das gute Evangelium, von dem die ganze Bibel redet, auch der Jakobusbrief. Früher hat man Jakobus gern Theologievergessenheit vorgeworfen. Da klang das harsche Urteil Martin Luthers von der »strohernen Epistel« nach. Wir haben gelernt, genauer hinzuschauen, und erkannt, dass auch bei Jakobus alle Ausführungen zum Lebenswandel in der Gewissheit des Heilshandelns Gottes gründen. Die Botschaft vom guten Lebenswillen Gottes für seine Menschenkinder ist Jakobus’ zentrale Aussage. »Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts … Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erstlinge seiner Geschöpfe seien.« (1,17a.18)
Der Schöpfer allen Lebens hat unser Leben beschlossen. Gott will, dass du lebst. Diese Wahrheit fasst Jakobus in ein wunderschönes, zartes Bild. Gottes Wort, dieses kräftige Wort, das sagt, was es tut, und tut, was es sagt – Gottes Wort ist dein eigentliches Lebensgeheimnis: »Es ist in euch hineingepflanzt und hat Kraft, eure Seelen selig zu machen.« (1,21) Bring Leben ins Leben, das heißt nach Jakobus: Vertrau dich der Kraft dieses Wortes an. Lass das gute und gütige Wort in dir aufgehen und in dir Gestalt gewinnen. Wie? Ich nenne fünf Schritte.
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Lauf nicht als Zweiseeler durchs Leben!
Es gibt im Jakobusbrief eine böse Bezeichnung: »Dipsychos« (vgl. 1,8; 4,8). Nicht wahr, das klingt schon nicht gut: »di-psy-chos«! Und das ist auch ganz und gar nicht gut, denn der Dipsychos ist der Zweiseeler. Ein in sich gespaltener Mensch. Die grundsätzliche und zugleich gefährlichste Aufspaltung ist die zwischen Glauben und Tun. Vor ihr warnt Jakobus wieder und wieder: »Seit Täter des Wortes und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst!« (1,22) Leider geht das ja, und wer von uns kennt das nicht, dass man dem guten Wort Gottes Glauben schenkt, es vielleicht sogar selbst an andere weitergibt, sich aber in der Gestaltung des eigenen Lebens nicht daran hält. Das ist so, als würde man die Packungsbeilage lesen, aber das rettende Medikament nicht einnehmen, als würde man Antirauchfibeln auswendig lernen und weiterhin rauchen. Genau darin liegt die Gefährlichkeit des Selbstbetrugs. Die »fromme« eine Hälfte suggeriert einem, man täte doch immerhin schon etwas, aber dadurch übersieht man, dass es zum Entscheidenden, nämlich zur rettenden Tat nicht kommt. Das ist hochgefährliche Zweiseelerei, und sie als solche zu erkennen und sich nicht damit abzufinden, ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung Leben. Schade, dass man diese wichtige Wahrheit des Jakobus lange nicht recht gewürdigt hat, weil man ihn in Opposition zu Paulus verstand und meinte, er wolle die Rechtfertigungslehre aushebeln. Dabei geht es ihm gar nicht um die Alternative Glaube oder Werk, sondern um die Alternative von Glaube ohne Werke (= wirkungsloser Glaube) und Glaube, der im Handeln Gestalt gewinnt (= wirkender Glaube; vgl. 1,22–27; 2,14–26). Hier setzt Jakobus einen deutlichen Akzent und er steht damit wahrlich nicht alleine da. Überall im Neuen Testament wird deutlich gesagt, dass der Glaube nicht folgenlos bleiben darf. Was aber heißt dieses Grundsätzliche nun konkret im Blick auf die in unserem Text angesprochene Thematik? 2.
Schaff Klarheit!
Es gibt Fragen, da muss man sich entscheiden: entweder-oder. Entweder Gott oder Gier. Entweder du orientierst dich an dem in Gottes Weisung gründenden Gesetz der Freiheit (1,25) oder am Gesetz der Profitmaximierung (4,13). O-Ton Jakobus: »So seid nun Gott untertan. Widersteht dem Teufel … Naht euch zu Gott, so naht er sich zu euch. Reinigt die Hände, ihr Sünder, und heiligt eure Herzen, ihr Zweiseeler.« (4,7a.8)
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Da ist das Wort wieder: Dipsychos. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Manches geht eben nicht zusammen. Wer, wie die am Anfang Zitierten, sein Leben und seinen Lebensweg auf Teufel komm raus allein am Profit ausrichtet und Gott in seinen Planungen vergisst, der betreibt praktischen Atheismus, der leugnet mit seinem Verhalten Gott, und würde er ihn noch so oft und noch so fromm im Mund führen. 3.
Heilsame Unruhe: die Entdeckung des alltäglichen Wahnsinns
In wessen Leben Gottes Wort Gestalt gewinnt, der wird aus seiner Ruhe aufgeschreckt. Denn er wird das alltägliche Treiben um sich herum und auch das eigene Treiben mit geschärftem Blick wahrnehmen und erschrocken feststellen, wie vieles mit dem Lebenswillen Gottes und mit seiner Gerechtigkeit nicht zusammenzubringen ist; wie vieles dem Gebot Gottes stracks zuwiderläuft. Das wird ihm oder ihr keine Ruhe mehr lassen. Liebe Schwestern und Brüder, machen wir uns bitte bewusst: Prophetie, also das Fragen nach dem Willen Gottes angesichts der real existierenden Verhältnisse, war nie, auch nicht zu biblischen Zeiten, selbstverständlich oder gar selbstevident. Auch zur Zeit des Jakobus konnte man das, was er aufdeckt und anklagt, auch anders sehen: als notwendige wirtschaftliche Prozesse, in denen es wie zu allen Zeiten also auch jetzt Gewinner und Verlierer gibt; zumal das Ganze doch auch irgendwie sein Gutes hat: die Ausweitung des Handels durch die Erschließung neuer Verkehrswege, die Internationalisierung des Marktes unter der großen Klammer des imperium romanum, aber auch die Konzentration landwirtschaftlicher Einheiten zu effizient arbeitenden Großunternehmen usw., usw. – »Sie müssen das betriebswirtschaftlich sehen, Herr Jakobus!« Aber Jakobus sieht um der Barmherzigkeit Gottes willen eben die Kehrseite. Er betrachtet die Entwicklung aus der Perspektive der Opfer, und dann kann und dann will er sich nicht beruhigen. Dann bleiben die Hungerlöhne der einen und die Völlerei der anderen ein Skandal. Und dass Reichtum ins Uferlose aufgehäuft und gleichzeitig das Recht gebeugt wird, das empört ihn um Gottes Willen. Ich habe es an anderer Stelle schon einmal gesagt: Wir dürfen solche prophetische Empörung nicht als Gutmenschentum verunglimpfen. Nicht nur deshalb nicht, weil dieses gerade von seriösen Zeitungen gerne benutzte Wort ein Lieblingsausdruck von Goebbels war, sondern deshalb nicht, weil die Welt verloren wäre ohne die heilsame Kraft der Empörung, die im vermeintlich Normalen den Wahnsinn – ich könnte auch sagen: die Sünde – entdeckt und die nicht bereit ist,
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das einfach hinzunehmen. Es kann um des von Gott gewollten Lebens willen nicht sein, dass uns heute die Nahrungsmittelkrise in Ruhe lässt. Da gilt es nach Ursachen zu fragen, von der Rolle der Welthandelsorganisation über den Zusammenhang von Biosprit und Nahrungsmittelverknappung bis hin zu meinem eigenen Lebensstil. Da gilt es aber auch zunächst einmal schlicht den Wahnsinn beim Namen zu nennen: dass 5 Millionen Kinder jährlich an Hunger sterben und allein in Deutschland mehr als eine halbe Million Menschen an sich kostspielige Schönheitsoperationen vornehmen lassen – das ist einfach verrückt, so verrückt wie Golfplätze in der Wüste und Erdbeeren im Winter. Aber wenn ich versuche, genau hinzusehen, und wenn ich kein Zweiseeler sein möchte, wie soll ich das denn anstellen, ohne sogleich in Resignation zu verfallen – vor all dem Bösen in der Welt und vor all dem Bösen in mir selbst? 4.
Besinnung auf die Kraft des Wortes
Wenn wir Jakobus fragen könnten, wie er das aushält, dem Blick auf das Gottwidrige und Lebensfeindliche standzuhalten und dennoch nicht aufzugeben, so würde er wahrscheinlich als erstes ganz schlicht antworten: »Mag das Böse auch noch so stark sein, Gott ist stärker.« Wohlgemerkt: Gott, nicht ich. Darum versuche ich auch gar nicht erst, mir mehr Kraft abzuverlangen, als in mir ist, aber ich versuche, Kontakt zu halten zu dieser Kraftquelle. Ich bete um die Kraft zum Widerstehen (vgl. 1,6) und warte auf Gottes Beistand. Jakobus nennt das: Geduld (1,3ff). Ich tue mich mit anderen zusammen, die sich mit mir im langen Atem üben (vgl. 5,13ff), ja es tröstet mich zu wissen, dass wir füreinander beten, denn ein ernstes »Gebet vermag viel« (5,16b). Und dann frage ich (fragen wir uns), was uns in der christlichen Gemeinde und was jedem Einzelnen zu tun möglich ist. Denn: »Wer in der Lage ist, Gutes zu tun und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.« (4,17) Ich kann nur noch andeuten, was wir dem Jakobusbrief an Konkretem entnehmen können: Eines wurde schon angesprochen, ich will es aber noch einmal betonen: sich um die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse überhaupt zu kümmern statt den Blick nur bei sich selbst zu belassen – sich kümmern und informieren und das Wahrgenommene am Lebenswillen Gottes prüfen; schon das ist eine wichtige Tat. Denn wer nicht weiß, was los ist, der kann die Welt auch nicht richtig ins Gebet nehmen – und damit ließe er seine größte Kraft brachliegen!
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Sodann können und sollen wir uns für die unter die Räder Gekommenen einsetzen. Nicht für alle und nicht pauschal, sondern für die, die uns am Weg begegnen. Denn wenn wir nicht die Lobby der Verlierer sind, wer dann? Das geschieht aber nur glaubwürdig und wirkungsvoll, wenn wir uns als christliche Gemeinde davor hüten, die Gesetzmäßigkeiten und den Lebensstil der Geiz- und Giergesellschaft in unseren Bereich zu übernehmen. Auf diesen Punkt legt Jakobus einen besonderen Ton (vgl. Kap. 2,1–11; 4,1–12; 5,7–12). Wollte man seine Mahnungen zusammenfassen, könnte man sagen: »Lasst euch nicht anstecken!« Es darf nicht sein, dass ihr in der Gemeinde die gesellschaftlichen Schieflagen noch einmal doppelt: dass also auch bei euch die Bedeutenden hofiert und die kleinen Leute marginalisiert werden. Hingegen: Das sollt und das könnt ihr sein: eine Schule der Nächstenliebe (2,8), wo ihr einander mit Ehrerbietung und Achtsamkeit begegnet, euch gegenseitig aufhelft, Solidarität übt und praktische Hilfe leistet. Das könnt ihr sein: eine Gemeinschaft, die ihrem Namen alle Ehre macht, sodass, wie Jesus es einmal ausdrückt, die Leute »eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.« (Mt 5,16) Liebe Schwestern und Brüder, jeder dieser Hinweise gehört natürlich weiter ausgeführt und konkretisiert. Gerne würde ich auch noch einmal unterstreichen, dass Jakobus nicht weltfremd ist. Er weiß, dass menschliches Leben nicht auf jegliche Planung verzichten kann, und gewiss würde er auch einräumen, dass Handel und Wirtschaft ohne Gewinn nicht zu denken sind. Darum hört unser Text auch nicht mit V. 14 auf, vielmehr hat Jakobus in V. 15 die von Gott gesetzten Bedingungen und Grenzen menschlichen Planens in Erinnerung gerufen und auch den Maßstab wirtschaftlichen Gewinnmachens: das »Leben« (an anderen Stellen konkretisiert als Frage nach der Gerechtigkeit und nach dem Wohlergehen der Schwachen). Da weitere Ausführungen den Rahmen dieser Bibelarbeit sprengen würden, schließe ich mit einem Rat, den ich unserer Textstelle entnehme. 5.
»So sollt ihr sagen …«
Ich habe in meiner Psychotherapieausbildung gelernt, dass es einen großen Unterschied macht, ob man sich etwas still überlegt oder ob man es laut ausspricht. Ich mag hin- und herüberlegen, wie es mir gerade geht oder wie ich etwas finde. Wenn ich aber der Aufforderung folge, es einmal laut auszusprechen (also etwa laut sage: »Mir geht es gut« oder auch: »Dem kann ich nicht zustimmen«), dann merke ich unmittelbar, ob der Satz so stehenbleiben kann, oder ob ich ihn nach-
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bessern muss und, wenn ja, wie. Ob Jakobus diese therapeutische Intervention schon kannte? Jedenfalls wendet er sie an. Wie lautete noch der Zentralsatz unseres Textes? »So sollt ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies und das tun.« Nehmt diese Aufforderung einmal ganz wörtlich und sprecht das Wort tatsächlich laut aus (so wie es die Alten getan haben): »Wenn der Herr will, werden wir leben und …« Ihr werdet sehen, dass diese Einleitung, laut ausgesprochen, eine ganz eigene Dynamik freisetzt. Sie lässt sich nämlich nicht auf jede Weise fortführen. Laut sprechend merken wir: Manches geht einfach nicht, anderes hingegen bietet sich an. »So Gott will, werden wir leben und …« Lasst uns bei unseren Vorhaben lernen, auf Gott zu trauen und uns nach seiner Weisung auszurichten, dann werden wir Leben ins Leben bringen!
»Schmecket und sehet«: Ist unser Essen gebetskonform? Eine biblische Betrachtung zu dem, was auf den Tisch kommt1
»Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist« – mit diesem Wort aus Ps 34,9 wird die Gemeinde zum Abendmahl eingeladen. Im Zentrum des christlichen Gottesdienstes findet ein heiliges Essen statt. Gewiss hat Martin Luther theologisch Recht, wenn er sagt: »Essen und trinken tut’s freilich nicht …« – und doch kann es kein Zufall sein, dass wir das sichtbare Zeichen der Güte Gottes als Mahl, also essend und trinkend empfangen. Denn im menschlichen Leben dreht sich nun einmal vieles ums Essen. Genauer gesagt: In guten Zeiten dreht sich vieles ums Essen, in schlechten Zeiten alles.
I Essen ist die elementare Grundlage der Lebenserhaltung: Der Mensch nimmt Teile seiner Umwelt als Nahrung in sich auf – tut er das nicht oder wird ihm die Nahrung verwehrt, geht er unweigerlich zu Grunde. Das gilt auch für das Atmen, nur geschieht Atmen in der Regel reflexhaft, weitgehend unbewusst, denn die Luft – solange menschlicher Wahn sich nicht weiter an ihr vergreift und sie vergiftet – ist da. Des Menschen Nahrung hingegen ist nicht einfach da. Sie muss aus der natürlichen und sozialen Umwelt beschafft bzw. bereitgestellt werden. Man muss sie sich holen; darum geschieht Essen ab einem sehr frühen Stadium bewusst. Mehr noch: Der heranwachsende Mensch erschließt sich seine Welt zuallererst über die Aufnahme der Nahrung. Später wird er lernen, dass es ihn und seine Umwelt etwas kostet, den Hunger zu stillen, und dass das gar nicht selbstverständlich ist. Er wird lernen, dass Hunger nicht nur eine Angelegenheit des Magens, sondern auch der Seele ist. Neben dem elementaren physischen Verlangen wird er den Hunger nach Wärme, nach Liebe, nach Anerkennung verspüren. Wohl ihm, wenn er bekommt, was er braucht. Wehe ihm, wenn er auf Dauer Hunger leiden muss, sei es, weil ihm Nahrung des Leibes und der Seele vorenthalten wird, sei es, weil er an seiner eigenen Unersättlichkeit leidet. Summa: Essen ist Leben. Deshalb 1 Zuerst veröffentlicht in: Zeitzeichen 8 (2007), 20–22.
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essen wir in Zeiten gesteigerter Lebensfreude besonders gern und besonders gut; wenn aber das Leben schwer wird, wenn uns die Traurigkeit überkommt, verlieren wir mit der Lust am Leben auch den Appetit. Essen ist Leben – das bedeutet aber auch: Leben ist bedürftiges Leben; angewiesen auf Speise. Angewiesen auf alles, was zu des »Leibes Nahrung und Notdurft« gehört, angewiesen auf andere. Bedürftiges Leben ist in elementarer Weise bedrohtes, ist verletzliches Leben.
II Da spricht es einmal mehr für die Lebensnähe und für die seelsorgerliche Kraft der Bibel, dass sie diese elementare Bedürftigkeit im Blick hat. Ihre Botschaft lautet: Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht. Und: »Er sorgt für euch« (vgl. Mt 6,32). Oder mit Ps 34,4: »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.« Und damit wir das wahrnehmen, erzählt die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite die Geschichte von der Freundlichkeit des nährenden Gottes: Nachdem Gott den Menschen geschaffen hat, begibt er sich nicht sogleich zur Sabbatruhe; zuvor muss er seinen Werken noch ein Weiteres hinzufügen: Er bestimmt jedem Lebewesen sein Essen: »Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so.« (Gen 1,29f)
Und erst, nachdem für alle der Tisch gedeckt ist, sah Gott an »alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.« Der zweiten Schöpfungserzählung entnehmen wir, dass die paradiesische Hausordnung ganz wesentlich eine Speiseordnung ist: »Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen.« (Gen 2,16f)
Ordnung und Begrenzung sind dem Menschen gegeben, damit er gut leben kann. So sehr liegt Gott unser Leben am Herzen, dass diese Ordnung nach der Sintflut im Noahbund wiederholt und fortgeschrieben wird (wobei jetzt auch Fleisch auf den Speiseplan tritt; vgl. Gen 9,3ff). Freundlich nährt uns Gott von Anfang an. Und einmal, am Ende der Zeit, wird er alle Völker versammeln auf dem heiligen Berg.
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»Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist.« (Jes 25,6)
Was Wunder, dass Jesus bei seinem Abschied von den Jüngern diesem Mahl entgegensieht (Mk 14,25). Und wie im Paradies, so wird Gott einmal im neuen, im himmlischen Jerusalem die Nahrung zu seiner Angelegenheit machen: »Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall … mitten auf dem Platz, und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker. Und es wird nichts Verfluchtes mehr sein.« (Offb 22,1ff)
Am Anfang seines Weges aus der Sklaverei in die Freiheit feiert das Volk Gottes das Pessach, das Mahl des Auszugs aus Ägypten (Ex 12). Am Ende seines Weges durch Leiden, Kreuz und Tod wird der Auferstandene die Seinen zum Mahl laden als kräftigen Erweis seiner Lebendigkeit, der der Tod nichts mehr anzuhaben vermag (Joh 21,1– 14). Und zwischen Anfang und Ende, zwischen Exodus und Auferweckung immer wieder Essen und Trinken als Zeichen – was heißt: als Zeichen? Als Werk des die Seinen freundlich umsorgenden Gottes: Manna und Wachteln dem murrenden Volk. Frische Brötchen dem müden Gottesmann Elia (»Steh auf und iss«, sagt der Engel Gottes). Wein den Hochzeitsgästen und Brot und Fisch den 4000 und dann wieder den 5000 aus der gütigen Hand des Sohnes Gottes. Wieder und wieder sehen wir Jesus zu Tisch sitzen und essen mit allen nur möglichen und vor allem unmöglichen Leuten. Es schert ihn überhaupt nicht, dass man ihn als »Fresser und Weinsäufer« beschimpft. Er isst, er lädt ein, er teilt aus: freundlich, üppig auch, Gemeinschaft stiftend. Zuletzt wird er sich selbst geben in Brot und Wein: Nimm hin – ich für dich. Das stärke und bewahre dich. III Und so ist jede Mahlzeit eine Erinnerung und eine Bestätigung, dass Gott uns freundlich gesinnt ist, dass er weiß, was wir brauchen, und uns reichlich gibt. Von Anfang an bis in alle Ewigkeit. Im Grunde birgt jeder Bissen Brot und jeder Schluck Wasser ein Geheimnis: Er ist Sakrament der Güte Gottes – er ist heilig.
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Das Verrückte ist: Man kann essen und trinken, sogar die leckersten Speisen, den besten Trank, und doch ohne Sinn und Geschmack bleiben für dieses Geheimnis – für die Botschaft, die sie bergen. Darum (in immer neuen Wendungen) die Aufforderung: »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.« Das heißt: »Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat …« (Ps 103,2). Erinnere dich, dass das, was du jetzt isst, dir zukommt von seiner gütigen Hand. Die beste und wichtigste Erinnerungshilfe ist das Gebet. Wenn mein Vater einen Laib Brot neu anschnitt, ritzte er zuerst ein Kreuzzeichen auf die Rückseite. Als Kind fand ich das komisch. Und dass wir vor jeder, aber auch jeder Mahlzeit beteten, fand ich nervig, zumal, wenn’s mein Leibgericht gab. Als ich begann, Theologie zu studieren, war das Tischgebet ganz out. Wir beteten nicht, sondern diskutierten darüber: dass es doch sinnlos sei, etwas nur formelhaft zu vollziehen, als bloß äußerliches Ritual. Und außerdem sei das Tischgebet auch in ethischer Hinsicht zweifelhaft. Unser Wohlstand sei doch im letzten Raub an der Zweidrittelwelt. Und für Gestohlenes auch noch zu danken sei nun wirklich das Letzte. Für mich bedurfte es der Begegnung mit Christen aus jener Zweidrittelwelt, und es bedurfte der Begegnung mit dem Judentum, um zu erkennen, dass diese Diskussion, und wurde sie auch noch so klug vorgetragen, ein geistloser und bigotter Unsinn war. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade betend lassen wir uns daran erinnern, dass wir unsere Nahrung nicht verdient haben. Dass sie ein Geschenk der Freundlichkeit Gottes ist. Recht haben die Rabbinen, wenn sie uns einschärfen: »Es ist dem Menschen verboten, von dieser Welt ohne Segensspruch zu genießen; wer ohne Segensspruch genießt, begeht eine Veruntreuung« (bBer 35a). Nur betend, also Gott anerkennend (wörtlich: Gott segnend), dürfen wir seine Gaben als die unsrigen betrachten und in Gebrauch nehmen. Das Gebet hilft uns, in, mit und unter der Nahrung die Freundlichkeit Gottes zu schmecken. Mit jedem Bissen werden wir seiner Güte ein Stück gewisser. Recht verstanden und praktiziert ist jede Mahlzeit Glaubenshilfe.
IV Das Tischgebet hilft uns auch, die rechten Maßstäbe zu finden: Können wir für das, was wir da zu uns nehmen, überhaupt danken? Dabei darf aber gerade nicht das Gebet in Frage stehen, zu prüfen ist vielmehr, ob unser Essen gebetskonform ist. Ob, was wir uns da herausnehmen, vor Gott in Ordnung ist. Ist es, um nur ein aktuelles Beispiel zu
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nennen, vor Gott in Ordnung, dass auch in kirchlichen Tagungshäusern täglich Fleisch auf dem Speiseplan steht – in der Regel morgens, mittags und abends? Ist unser Essen gebetskonform? – Diese Frage ist notwendig, und sie ist von großem Ernst. Schließlich kann man die biblische Geschichte vom Essen auch ganz anders erzählen. Als eine Geschichte menschlicher Schuld. Der Sündenfall, das ist die Gier nach der verbotenen Frucht, das Missachten der von Gott aufgerichteten heilsamen Grenze. Und die Folge: Menschen missbrauchen Essen und Trinken, um zu manipulieren und zu betrügen – so schon der Stammvater Jakob; Menschen leben auf Kosten ihresgleichen, wo die einen schier alles haben und doch den anderen ihr Weniges neiden – so wieder und wieder geschehen und beklagt von den Propheten Alten und Neuen Testamentes. Und es liegt auf dieser Linie, dass gemeinsames Essen – für Jesus der Ausdruck von Versöhnung und neuer Gemeinschaft – in den jungen christlichen Gemeinden alsbald auch dies wurde: Ort des theologischen Streites, der sozialen Ausgrenzung, der Spaltung. Wir leiden bis heute daran. Und gerade deshalb: Betend, also zu Gott hin gewandt, werden wir erkennen, was wir zu tun und zu lassen haben. Oder was wir zwar nicht vermeiden können, woraus uns aber Verpflichtungen erwachsen. Nachdem der Zöllner Zachäus sein Brot in der Gegenwart Jesu gegessen hat, kann sein Leben nicht weitergehen wie zuvor. Er hat die Freundlichkeit des Herrn geschmeckt – fortan wird er denen freundlich begegnen, die zuvor unter ihm zu leiden hatten. In der Bergpredigt warnt Jesus eindringlich davor, immer zuviel zu wollen und die Habe zu vergöttern (vgl. Mt 6,24ff). Er warnt vor dem Mammon als dem Inbegriff fehlgeleiteten Verlangens. Interessant ist, wie er das tut: nämlich nicht mit Vorhaltungen oder moralischen Appellen. Er erkennt, dass unsere Gier von der zwar verrückten, aber tief eingewurzelten Angst bestimmt ist, nicht genug zu kriegen: Was sollen wir essen, was sollen wir trinken, womit sollen wir uns kleiden? – so fragt sich und plagt sich unsere aufgescheuchte Seele. Ihr ist nur mit dem Evangelium beizukommen. Deshalb lautet Jesu Antwort: »Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht.« (V. 32) Täglich gibt er euch euer täglich Brot. Gegen die zerstörerische Gier hilft nur Gottvertrauen. Im Schmecken seiner Freundlichkeit lernen wir, die Finger von dem zu lassen, was uns nicht zusteht, die Hände zum Teilen zu öffnen und die Ärmel hochzukrempeln, um mitzuarbeiten an einer gerechteren Welt. »Sorget nicht um euer Leben!« (V. 25) Jesus können wir diesen Satz abnehmen, denn er fand im Vertrauen auf Gott die Freiheit, das
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eigene Leben zu geben, um uns der Güte Gottes gewisszumachen. Im Abendmahl versichert er uns in Brot und Wein: ich für dich, im Leben und im Sterben und über den Tod hinaus. Und darum: »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Wohl dem, der sich auf ihn verlässt.«
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Predigt über Frage 1 des Heidelberger Katechismus
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm fortan zu dienen.
Liebe Gemeinde, in vielen Reformierten Gemeinden zierte Frage 1 des HK über Zeiten hinweg die Konfirmationsurkunde. So auch in der Reformierten Gemeinde zu Elberfeld, in der ich 1978 mein erstes Pfarramt antrat. Bei Hausbesuchen zeigten mir ältere Gemeindeglieder bisweilen mit gewissem Stolz ihre Urkunde – oft war dies aber auch gar nicht nötig, denn sie zierte hübsch gerahmt das Wohnzimmer; bisweilen hing sie auch im Elternschlafzimmer, dort, wo bei ›Lutherischen‹ der Herr Jesus als guter Hirte mit dem Lämmchen auf der Schulter seinen Platz hatte. Ob Frage 1, die selbstverständlich auswendig zu lernen war, damaligen Konfirmand_innen mehr sagte als meiner Generation, kann man fragen. Aber ob im Einzelnen verständlich oder nicht, die Botschaft war klar: Über deinem Leben soll der Trost stehen. Das ist für dich das Wichtigste und das Beste, was deine Gemeinde dir für deinen weiteren Weg mitgeben kann. Denn in der Tat: Jeder Mensch bedarf des Trostes; trostlos leben zu müssen – das ist etwas Furchtbares.
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
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Der große reformierte Prediger Rudolf Bohren hat einmal geschrieben: »Ein Mensch braucht Trost. Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört. An jedem Lebenstag zwischen Geburt und Tod ist Trost vonnöten, ob einem dies bewusst wird oder nicht.« In diesen Worten klingt noch etwas Wichtiges an: Trost meint mehr als Vertröstung. Trost ist Ermutigung, mich tröstet, was mir Halt und Beistand bietet, mir Hilfe, Schutz und Zuversicht gewährt. Der Wikipedia-Artikel »Trost« illustriert das mit einem ergreifenden Foto. Es zeigt einen Soldaten und eine Frau in der zerstörten Landschaft, die der Hurrican »Ike« im September 2008 hinterlassen hatte. Der Mann hat die Frau in seinen Armen regelrecht aufgefangen und gibt ihr nun Halt, während sie in ihrer Verzweiflung das Gesicht an seiner Schulter verbirgt – eine Geste, die wir vielleicht aus unseren Kindertagen in Erinnerung haben, wenn uns etwas Schlimmes zugestoßen war und wir uns dann in die Arme der Mutter oder des Vaters flüchteten. Allerdings: So sehr für mich, seit ich denken kann, die Lebensnotwendigkeit von Trost nie in Zweifel stand, so fraglich war mir an verschiedenen Stellen die Antwort, die der Katechismus auf Frage 1 bietet. Ich kam erst mit der Zeit durch genaueres Hinhören und – vor allem – belehrt von Erfahrungen, die ich in der Gemeinde machte, zu größerer Klarheit. Von drei meiner Fragen und davon, wie es damit weiterging, will ich jetzt erzählen.
I Die Frage, die sich mir schon sehr früh stellte, machte sich an dem Wort »einziger« fest. Jesus Christus – der einzige Trost. Ich war ein durchaus frommer Jugendlicher, fest eingebunden in der evangelischen Jugend; aber, wenn ich ehrlich war: Ich erlebte das anders. Es gab viele unterschiedliche, durchaus wirksame Weisen von Trost. Wenn ich krank war, tröstete mich die Fürsorge der Eltern. Als ich in der 7. Klasse sitzen blieb, half mir am meisten die Tatsache, dass mich die neue Klasse freundlich aufnahm und ich schnell Anschluss fand. Als meine erste große Liebe mit mir Schluss gemacht hatte, trösteten mich die Kumpels in meiner Band – und dann die Erfahrung, dass es auch noch andere Mädchen gab, für die ich bisher nur keinen Blick gehabt hatte. Als ich dann anfing, über meinen Glauben nachzudenken, machte mich dieses »einzige« regelrecht sauer, denn es schlug in eine Kerbe, die
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mit einer besonderen Frömmigkeitsprägung in meiner Familie zu tun hatte. Wenn ich es kritisch auf den Punkt bringe: Bei uns wurde bisweilen – sicher in bester Absicht! – im Blick auf Gefühle und Erfahrungen fromm gelogen. »Du musst doch merken, dass das Essen nicht schmeckt, wenn du vorher nicht gebetet hast!« – hielt meine Großmutter mir vor. Aber ich schmeckte beim besten Willen keinen Unterschied – war ich also glaubensmäßig nicht in Ordnung? »Jesus ist doch hoffentlich dein bester Freund!« – aber ehrlich, den Michael, der mit mir jahrelang durch dick und dünn ging, hatte ich lieber. War das nicht ok? Und war es bei denen, die solches von mir verlangten, wirklich anders? Befreiend war für mich dann die Entdeckung, dass ich Frage 1 offensichtlich nicht bis zum Ende bedacht hatte. Sie fragt ja nicht: Was ist dein einziger Trost? Sondern: »… dein einziger Trost im Leben und im Sterben?« Eben erst in der Gemeinde eingeführt, schickte mich die Gemeindeschwester zu Herrn Löhr. Ich machte mich reichlich befangen und ängstlich auf den Weg, denn ich war vorgewarnt worden: Es gehe ihm ganz schlecht – Magenkrebs im Endstadium. Wie sollte ich – gesund, jung und unerfahren – ihn trösten. In der Tat erwartete mich ein Bild des Jammers: Da lag ein vom Tod gezeichneter Mann, an viele Schläuchen angeschlossen; ernährt wurde er durch die Nase. Über seinem Krankenbett hingen Bilder von der Familie, aber eben auch eine Urkunde vom CVJM, in dem er zeitlebens aktiv war, und der Konfirmationsspruch mit Frage 1. Nach der Begrüßung und einigen reichlich ungeschickten Sätzen meinerseits zeigte er mit seiner ausgemergelten Hand nach oben und sagte: Herr Pastor, ohne den da oben könnte ich das hier nicht aushalten. Am Ende des Besuches fühlte ich mich getröstet; Herr Löhr hatte mir von seinem Trost weitergegeben. Ich begriff: Von dem Trost redet der Heidelberger, der mir nicht nur in den Widerwärtigkeiten des Lebens Halt gibt, sondern auch dem Tod etwas entgegenzusetzen hat; der auch im Sterben Halt bietet. Es ist der Trost des Auferstandenen, der sagt: »Ich lebe, und ihr sollt auch leben«. Der Trost dessen, der am Ende unserer Lebenszeit mit seiner Ewigkeit auf uns wartet. Und der deshalb Halt bietet, wenn der Tod mit seinen Vorboten in das Leben eindringt. Das können die anderen Tröstungen eben nicht. Sie alle mögen ein Stück weit Halt bieten, aber vor dem letzten Ernstfall versagen sie. Deshalb müssen sie aber gerade nicht abgewertet oder für uneigentlich erklärt werden. Wir sollen uns ihrer als Geschenke des einen Trösters freuen. Es sind Segnungen, die ihre eigene Würde haben, die allerdings von dem einen Tröster auch heilsam begrenzt werden. Seien es Freundschaften oder Erfahrungen
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von Glück, Gesundheit oder ein gutes Auskommen, wir werden das alles umso mehr genießen können, als uns nichts davon Trost im Leben und im Sterben sein muss. Nur so bewahren wir uns und andere vor heilloser Überforderung und Enttäuschung. Übrigens wurde mir in der Begegnung mit Herrn Löhr auch deutlich, wie die sehr steilen Aussagen über die Bewahrung (»… dass ohne den Willen meines Vaters …«) verstanden werden können. Nicht im mechanistischen Sinne, als sei alles Schlimme von Gott geschickt. Dass es ihm so elend ging, blieb Herrn Löhr ein kaum zu ertragendes Rätsel. Aber doch hielt er sich an die Aussage: Nichts von all dem vermag mich aus Gottes Hand zu reißen, der an meiner Seite bleibt und mir Seligkeit verspricht. II Eine zweite Irritation löste bei mir – und da bin ich gewiss nicht allein – die Aussage aus: »dass ich nicht mir, sondern Jesus Christus gehöre«. Ich gehöre nicht mir? – Das klingt wie ein Angriff auf eigene Mündigkeit. Habe ich denn nicht ein Recht auf Selbstverantwortung, auf Autonomie? Und ist es nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel, »ein eigener Mensch (zu) werden«? – so der Titel eines einst viel gelesenen Buches von Elisabeth Moltmann-Wendel? Ich hatte einen längeren seelsorgerlichen Kontakt mit einer Dame, der es nach vielen vergeblichen Anläufen endlich gelungen war, ihren Alkoholismus zu überwinden. Was ihr schließlich geholfen hatte, war das Konzept der Anonymen Alkoholiker – es gilt weltweit als das erfolgversprechendste Therapiekonzept zur Heilung von Sucht (nicht nur Alkohol). Einmal durfte ich an einem Treffen ihrer AA-Gruppe teilnehmen. Zu Beginn der Zusammenkunft werden jeweils die zwölf Schritte verlesen, die den Weg aus der Sucht markieren. Die ersten, alles entscheidenden Schritte lauten: 1. Schritt Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten. 2. Schritt Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann. 3. Schritt Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstanden – anzuvertrauen.
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Der Bezug auf das, was größer ist als ich, ist hier bewusst vage formuliert, denn es sollen nicht nur Christenmenschen einstimmen können. Andererseits kann ein Christ oder eine Christin unschwer die allgemeine Aussage mit dem eigenen Glaubensinhalt füllen. Was mir hier eindrücklich klar wurde und sich mir in meiner eigenen Therapieausbildung immer wieder bestätigt hat: Ich komme gerade nicht dann zu mir, wenn ich nur mir gehöre und damit letztendlich auf mich allein gestellt bleibe. Ich finde gerade dann zu mir, wenn ich mich an den Halten kann, der es gut mit mir meint und der, wenn ich es gar nicht gut mit mir meine, in mir für mich eintritt – als heilsame Stimme gegen all die bösen Einflüsterungen, die mich klein und krank machen. Als innere Kraftquelle gegen alles, was mich niederdrückt. »Ich gehöre« – das will also verstanden sein, wie Liebende sich versprechen, einander zu gehören. Will meinen: Es hat sich der mit mir verbunden, der mir treu ist, auch und gerade dann, wenn ich mir untreu werde. Es hat sich der mit mir verbunden, der mein Heil und meine Heilung will, auch und gerade dann, wenn es in mir zerrissen und heillos aussieht. So hat es jene Dame aus meiner Gemeinde erlebt: Sich in ihrer Sucht an den zu halten, der größer ist als sie und stärker als alles, was sie in sich gefangen hält, führte aus der Abhängigkeit in die Freiheit. Paulus würde sagen: in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
III Das führt zur dritten Frage, die mir als 68er (der in Berlin bei Helmut Gollwitzer, Friedel Marquard und anderen für die politische, ja revolutionäre Dimension des Evangeliums sensibilisiert wurde) besonders wichtig war: Setzt die Frage 1, die nach »meinem« Trost fragt, nicht allzu individualistisch an. Bleibt’s hier im besten Falle nicht im privat-seelsorgerlichen Klein-Klein? Eine machtvolle Gegenerfahrung war die Abschlusskundgebung des Reformierten Weltbundes in Debrecen 1997. Hier verpflichteten wir uns in unmissverständlicher Weise auf unser Eintreten für politische, wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit weltweit. Debrecen war ein Meilenstein auf dem Weg, der später zum Bekenntnis von Accra geführt hat. Jeder Abschnitt der Kundgebung wurde mit einem Satz eingeleitet, den die ganze Weltgemeinschaft mitsprach: »We are not our own – wir gehören nicht uns selbst.« Da ist er wieder, jener Satz, den wir eben schon einmal bedachten, nun aber in einer anderen Zuspit-
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zung: Dass wir nicht uns, sondern Christus gehören, hat in Frage 1 ja die bisher noch nicht bedachte Pointe: Wir gehören dem, der uns in seiner Lebenshingabe aus aller Gewalt des Teufels erlöst. Weil wir mit ihm im Bunde sind, brauchen wir vor den Mächten der Gewalt und der Gier, der Ausbeutung und der Zerstörung, und was es sonst an Teufeleien gibt, nicht die Waffen zu strecken. Die Welt ist veränderbar – so wahr der Tod am Ostermorgen das Nachsehen hatte. Noch einmal Gemeindebesuch – bei einer 80-Jährigen. Auch bei ihr hängt der Konfirmationsspruch mit Frage 1. Ihr Name: Ida Schade. Fräulein (darauf legte sie Wert!) Schade war als junge Frau die erste Sekretärin der von der Bekennenden Kirche gegründeten Kirchlichen Hochschule zu Wuppertal. Diese wurde gleich am Tag ihrer Gründung von den Nazis verboten. Die Vorlesungen fanden geheim in Wohnzimmern von Presbytern statt. Fräulein Schades Aufgabe war es unter anderem, den Studierenden heimlich die ständig wechselnden Treffpunkte mitzuteilen, Akten zu verstecken – alles höchst gefährliche Arbeiten. Ständig war ihr die Gestapo im Nacken. Einmal wäre sie fast aufgeflogen: Sie hatte die Liste mit den Treffpunkten der kommenden Woche in ihrer Handtasche und sah einen bekannten Gestapomann ihr entgegenkommen. Rasch öffnete sie die Handtasche, tat, als müsse sie sich die Nase putzen, zog aber mit dem Taschentuch den gefährlichen Zettel mit heraus, steckte ihn zusammengeknüllt in den Mund und schluckte ihn hinunter. »Das hat schrecklich geschmeckt«, bemerkte sie trocken. »Aber hatten sie denn keine Angst?«, frage ich zurück. Sie: »Doch, aber der liebe Gott war doch stärker als die.« Liebe Schwestern und Brüder. Wo immer auf der Welt Christenmenschen dem Unrecht etwas entgegensetzen, als mutiges Zeugnis, als solidarische Tat, als Eintreten für andere, da leben sie von dieser ermutigenden Hoffnung: Man kann etwas machen, denn unser Herr ist stärker als die Herren und Mächte dieser Welt. Denen gehören wir nicht, weil ihre Macht – und mögen sie es auch nicht glauben – begrenzt ist. Aber der, zu dem wir gehören, traut uns zu, ihnen etwas entgegenzusetzen. In der Sprache des HK: Er macht uns willig und bereit, ihm forthin zu leben. Zu diesem Schlusssatz hat bei unserer Feier zum Heidelberger Jubiläum Gerd Theißen ein eindrucksvolles Bild gezeichnet: Bei Lutheranern werden die 10 Gebote in der Diele aufgehängt: als Spiegel unserer Verfehlungen, in den wir blicken müssen, bevor wir näher hinzutreten dürfen. Bei Reformierten hängen sie in der guten Stube: wie ein Meisterbrief, der festhält, wozu wir befähigt sind. Der einzige Trost im Leben und im Sterben – das ist die Hoffnung für unsere geschundene Welt. Amen.
Heilsame Begegnung Predigt über Johannes 20,11–18 1
»11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein 13 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. 15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. 16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! 17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: ›Ich habe den Herrn gesehen‹, und was er zu ihr gesagt habe.«
Liebe Gemeinde, in die Mitte dieser Geschichte hat der Erzähler eine Notiz eingebaut, die das ganze Geheimnis des Ostertages in einem kleinen Halbsatz bündelt: »... und [sie] sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist« (V. 14). Wie wichtig dem Evangelisten dieser Hinweis ist, wird schon daran deutlich, dass er ihn im nächsten Kapitel in einer anderen Erscheinungsgeschichte gleich noch einmal gibt. In Joh 21,4 heißt es: »Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war«. Noch einmal: Dieser Hinweis enthält das ganze Geheimnis des Ostertages: Der gekreuzigte Jesus ist den Mächten des Todes entronnen, er lebt und begegnet den Seinen als der Auferstandene. Aber zugleich bringen die wenigen Worte unsere Not auf den Punkt. Das Geheimnis bleibt unzugänglich: Der Auferstandene steht da, und die Seinen erkennen ihn nicht. 1 Die Predigt wurde Ostern 2013 in der Niederländisch-reformierten Gemeinde zu Wuppertal gehalten und zuerst veröffentlicht in: ZGP 31 (2013/1), 51–53.
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Wie sollten sie, wie sollten wir in der Lage sein, etwas zu erkennen, was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat!? Der Theologe Ernst Lange hat einmal gesagt: »Der Glaube wird mundtot gemacht durch die Sprache der Tatsachen«. Mir ist dieser Satz bei mancher Beerdigung in den Sinn gekommen. Da soll ich vom Glauben reden als dem »Sieg, der die Welt überwunden hat«, aber viel lauter als die schönsten und frommsten Worte reden die Tatsachen: Hier wird ein geliebter Menschen zu Grabe getragen, dessen Leben unwiederbringlich zu Ende ist – trotz allem Hoffen und Mühen derer, die ihm nahestanden. Und nun sitzen die, denen eine Welt zusammengebrochen ist, vor mir, erschüttert von der Tatsache des Todes – da wollen mir die Sätze des Glaubens kaum über die Lippen. Liebe Gemeinde, darum ist mir der Hinweis in unserem Text so wichtig, weil er beides zusammenhält: unsere Not, unser Leiden und Verstrickt-Sein in die Welt der Tatsachen, und das Wunder von Gottes neuer Welt, von der Gegenwart des Lebendigen, der dem Tod die Macht genommen hat. Maria von Magdala »sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist«. Gleichzeitig finde ich diesen Satz ungeheuer tröstlich, denn er sagt mir: Dass du »nicht weißt«, dass dir die Augen gehalten sind, und du keinen Zugang findest zum auferstandenen Jesus Christus, das macht dessen Lebendigkeit nicht zunichte. Sie ist nicht abhängig von deinem Glauben. Wo du noch wie gebannt auf die Gräber starrst, ist er schon längst an deiner Seite und wartet darauf, dir zu begegnen. Mit den Worten eines Gesangbuchliedes: »Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht« (EG 376,3). Diese Führung wurde Maria am Ostermorgen zuteil. Davon erzählt unsere Geschichte, um auch uns aus der Welt der Tatsachen mitzunehmen in das Wunder seiner Gegenwart. »Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte« (V. 11). Zu Beginn der Geschichte ist Maria am Ende, wie ein Mensch nur am Ende sein kann. Mit der grausamen Hinrichtung Jesu wurde ihr alles genommen. Genommen wurde ihr der Mensch, den sie so sehr liebte und auf den sie ihr ganzes Leben ausgerichtet hatte, indem sie ihm wie die anderen Jünger nachfolgte. Jedes seiner Worte und Gesten hatte sie in sich aufgesogen. Sie taten ihrer Seele gut, richteten sie auf, gaben ihr Lebensmut. Und bestätigten ihr immer aufs Neue, was sie am eigenen Leibe erfahren hatte. Denn wie Lukas uns berichtet, hatte ihr gemeinsamer Weg mit Jesus begonnen, als er sie, die seelisch aufs Schwerste Erkrankte, von dem, was sie quälte, befreit und sie heil gemacht hatte. Kein Zweifel, er war der Heiland, der vollmächtige
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Künder und Bringer der neuen Welt Gottes mitten in der Welt des Schmerzes und des Todes. Und nun hatte Jesus dieses schreckliche Ende genommen. Der Bote der Liebe, mehr noch, die Liebe in Person, wehrlos ausgeliefert der Niedertracht und dem Hass derer, die seine Botschaft nicht ertrugen! Im Stich gelassen hat Maria ihn nicht. An Flucht kein Gedanke. Sie zählt zu den wenigen, die bis zu seinem Tod an seiner Seite ausgehalten haben und schließlich miterleben musste, wie er am Kreuz unter Qualen verstarb. Und so ist ihr am Ende nichts geblieben als ihre verzweifelte Trauer und ihre Tränen. Die Zukunft ist ihr, dieser Schwester aller Traurigen, genommen. Darum klammert sie sich wie die vielen vor ihr und nach ihr an die Vergangenheit. Wenn sie den Geliebten nicht am Leben halten konnte, möchte sie wenigstens dem Verstorbenen nahe sein. So geht sie zum Friedhof. Zum Ort der Trauer und des traurigen Gedenkens. Nur am Rande: Der Evangelist weiß, dass Menschen auf einen so schweren Verlust durchaus unterschiedlich reagieren. So hören wir von den Jüngern, wie sie sich im Haus einschließen. Geschockt und verängstigt lassen sie nichts und niemanden mehr an sich heran, sie machen dicht. Und später werden sie sich in Arbeit stürzen, vermutlich in der Hoffnung, die alltägliche Routine möge ihnen helfen zu vergessen. »Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte« (V. 11). Gefangen in ihren Tränen vermag Maria es nicht, Zeichen der Hoffnung wahrzunehmen, jedenfalls nicht, sie zu deuten oder gar anzunehmen: das leere Grab und jene zwei Gestalten, von denen ein geheimnisvolles Licht ausgeht. Die Bibel nennt sie Engel, jedenfalls verhalten sie sich wie gute Seelsorger. Keine lauten Töne, erst recht keine vollmundigen frommen Sätze oder theologische Richtigkeiten. Stattdessen nur die einfühlsamvorsichtige Hinwendung zur Trauernden und die Frage: »Frau, was weinst du?« Aber es gibt einen Abgrund von Trauer, den auch bestverstandene Seelsorge nicht zu überbrücken vermag. Noch muss Maria alles, was ihr begegnet und widerfährt, übersetzen in die »Sprache der Tatsachen«, die ihre Welt so radikal hat zerbrechen lassen. Und so ist ihr das leere Grab kein Zeichen der Hoffnung, sondern Anlass zu neuer Verzweiflung. Es muss sich anfühlen als hätte sie den Geliebten ein zweites Mal verloren, weil sie nicht einmal mehr einen Ort für ihre Trauer hat. Wörtlich: »Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben« (V. 13). Spricht’s, wendet sich ab und lässt die himmlischen Helfer hilflos zurück.
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Damit nähert sich die Geschichte der heilsamen Wende. Sie wird eingeleitet mit der Notiz, auf die ich eingangs hinwies: »Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist« (V. 14). Liebe Gemeinde, eine Wahrheit, die all unser Verstehen und Begreifen übersteigt, muss als Geheimnis erzählt werden, weil sie nur wie ein Wunder erlebt werden kann. Und doch gibt uns die Geschichte Hinweise, die uns helfen sollen, uns dem Unfassbaren zu nähern. Zunächst wird noch einmal eindrücklich deutlich gemacht, wie unüberbrückbar von Maria aus gesehen die Kluft zwischen ihrer Trauer und der Erscheinung des Auferstandenen ist. Sie sieht eine Gestalt – und erkennt sie nicht. So wie die Jünger, die ich eingangs erwähnte; sie sehen Jesus am Ufer stehen und erkennen ihn nicht. Diese Geschichten haben eine, man könnte sagen: »natürliche« Seite: Die Betreffenden haben nicht genau hingesehen. Es war zu diesig (See), oder die Morgensonne hat geblendet (Maria auf dem Friedhof). Sie haben gewiss auch eine psychologische Seite: Wie soll man einen Blick für etwas haben, von dem man keine Vorstellung hat, was also nicht sein kann und deshalb nicht im Horizont des Erwartbaren liegt. Und wo man sich deshalb tunlichst schützt, etwas zu sehen, was sich am Ende als Täuschung entpuppen wird und die Enttäuschung nur größer macht. Noch wichtiger aber ist die theologische Einsicht: Die Kluft zwischen unserer Welt der Tatsachen und Gottes neuer Welt zu überbrücken, ist kein uns Menschen möglicher Akt. Wie begrenzt unsere menschlichen Möglichkeiten sind, zeigt unsere Geschichte in aller Deutlichkeit. Es kommt ja zu einer bizarren Verwechslung: Nicht nur, dass Maria Jesus nicht erkennt, sie hält ihn für den Gärtner, von dem sie vermutet, er habe ihren geliebten Jesus weggetragen (V. 15). Mit den Worten eines Auslegers: Sie erklärt das Opfer zum Täter! Wäre die Geschichte hier zu Ende, bliebe es bei der Kluft zwischen unserer Welt der Tatsachen und der uns unzugänglichen neuen Welt Gottes. Aber der auferstandene Jesus wendet sich der Verzweifelten noch einmal zu und erreicht ihr Herz. »Spricht Jesus zu ihr: Maria. Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!« Was für ein Augenblick! Dieses Gespräch besteht ja nur aus zwei Worten: Maria – Rabbuni. Aber diese Worte, nein, dieses eine Wort des Auferstandenen verändert alles: Maria. In dieser liebevollen Anrede erkennt sie den wieder, der sie damals angeredet hatte. Der sie nicht mied, wie all die anderen, die mit ihrer Krankheit nicht umzugehen wussten. Der sie aber auch nicht als Fall zum Objekt seiner Hilfeleis-
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tung degradierte. Sondern der sie mit seiner Liebe erreicht hatte, mit ihr als Person so in Beziehung trat, dass die bösen Geister weichen mussten und sie zu neuer Lebendigkeit kam. Und als sie diese Anrede wieder hört, die ihr Herz erreicht, ihr niedergeschlagenes Gemüt aufrichtet, ihr gleichsam neues Leben einhaucht, da erkennt sie: Ihr Jesus ist nicht mehr unter den Toten. Er lebt. Was Maria jetzt noch lernen muss ist, dass Jesu Leben wirklich neues Leben ist. Ein Leben, das den Tod ein für alle Mal hinter sich gelassen hat und uns vorausgeht in Gottes neue Welt. Deshalb Jesu Befehl: »Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott« (V. 17). Liebe Gemeinde, ohne dieses Verbot bliebe alles missverständlich und deshalb trügerisch. Ein Jesus, ganz so, wie er vorher war, den Maria hätte umarmen und also im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen können, wäre einer, der wie der auferweckte Lazarus dem Tod auf wundersame Weise noch einmal entronnen ist, dem also noch einmal eine neue Lebensfrist geschenkt ist, um letztendlich doch zu sterben. Die Zukunft des be-greifbaren Jesus wäre der Tod. Maria aber begegnet dem Auferstandenen, der nie mehr fallen wird, für den der Tod ein für alle Mal Vergangenheit ist und dessen Zukunft ewiges Leben heißt. Ihn kann sie nicht begreifen und nicht festhalten. Sie darf das nicht einmal wollen. Aber von ihm darf sie sich anreden und neu ins Leben holen lassen. Und von ihm muss sie erzählen: Dass er auf immer zu Gott gehört. Und dass er den Seinen an Gottes Zukunft Anteil gibt. Denn in dieser alles entscheidenden Begegnung mit Maria verbindet er sich auf ewig mit uns: »Geh aber hin zu meinen Brüdern [und Schwestern] und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater.« So bekommen wir mitten in der Welt des Todes Anteil an seinem Leben. Hoffnung, die nicht zuschanden wird. Und ob wir es nun schon glauben oder uns noch fühlen wie Maria und die Jünger bevor ihnen ein Licht aufgeht – der auferstandene Jesus kommt uns nahe und lässt uns nicht zuschanden werden. Amen.
»Lass dich nicht vom Bösen überwinden« Predigt über Römer 12,21 zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Liebe Gemeinde, meiner Predigt liegt ein Wort aus dem Römerbrief zugrunde: »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.« (Röm 12,21)
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von 100 Jahren haben sich die Völker vom Bösen überwinden lassen. In einem bis dahin unvorstellbaren Maße. Man hat diesen Krieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts genannt. Zahlen vermögen sein Grauen nicht einzufangen, doch geben sie Hinweise auf das Ausmaß des unvorstellbar Schrecklichen: 10 Millionen Tote und 20 Millionen Verwundete unter den Soldaten; weitere 7 Millionen zivile Opfer – totaler Krieg. Es ist hier weder die Zeit noch der Ort, um das Geschehene historisch zu analysieren. Lassen Sie mich aber mit Ihnen teilen, was mich an diesem mörderischen Siegeszug des Bösen vor 100 Jahren heute besonders erschrickt.
I Da ist die anfängliche Begeisterung, mit der die Völker Europas gegeneinander zu Felde zogen, und zugleich die Grausamkeit, mit der die Generalitäten den Gegner mit rohester Gewalt überzogen und die eigenen jungen Männer als Kanonenfutter verheizten. Es wurde schon in den ersten Wochen des Krieges an der Westfront deutlich, dass die damalige moderne, industrialisierte Kriegstechnik, namentlich das MG und der Flammenwerfer, die Strategie herkömmlicher Kriegsführung obsolet machte. Aber man hielt an ihr fest. Immer wieder wurden die jungen Soldaten gegen die andere Seite in die vergebliche Schlacht getrieben – und so belief sich die Zahl der Toten und Verletzten an der Westfront nach 2 Monaten schon auf 3,5 Millionen. Da mochte General Helmuth von Moltke einen Nervenzusammenbruch erleiden, ein schlechtes Gewissen hatte er nicht, denn man kämpf-
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te ja für die gerechte Sache. Alle kämpften sie für die gerechte Sache, alle in der Gewissheit, dass der andere der Böse sei. Nicht wahrhabend, dass sie selbst vom Bösen überwunden waren und bis zum bitteren Ende immer mehr desselben Bösen taten. In der letzten Zeit wurde unter Historikern neu über die Frage der Kriegsschuld diskutiert. Wahr bleibt, dass der Erste Weltkrieg nicht wie eine Naturkatastrophe »ausgebrochen« ist, er wurde vielmehr begonnen mit der Kriegserklärung Deutschlands an Russland am 1. August und dann an Frankreich am 3. August. Wie groß die Schuldanteile der anderen sind – abgeneigt waren sie der kriegerischen Auseinandersetzung ja nicht –, muss uns jetzt nicht interessieren. Es hilft auch nicht weiter, darauf hinzuweisen, dass die anderen auch nicht besser waren. Im Gegenteil: Das ist ja das Erschreckende, dass die sich für Kulturträger haltenden Nationen Europas in den Strudel dieses nie dagewesenen Gewaltfurors gerieten.
II Kultur! Die Ausstellung zum Ersten Weltkrieg hier im Von der HeydtMuseum hat anschaulich gemacht, wie sehr gerade die, die man für die besonderen Träger kultureller Werte ansehen möchte – Kunst und Wissenschaft –, auf breitester Linie versagt haben. Sie haben sich in einer für uns Heutige unerträglichen Weise dem Bösen in Dienst gestellt und mit ihren besten Kräften dem Ungeist von Nationalismus und Militarismus zugearbeitet. Ich beschränke mich auf die Wissenschaft. Im Oktober 1914 haben sich zuerst 93 der bekanntesten Hochschullehrer und 3 Wochen später 3000 Professoren mit öffentlichen Aufrufen an die »Kulturwelt« gewandt, den Krieg verteidigt und schöngeredet. Da wird deutscher Völkerrechtsbruch (der Einmarsch in das neutrale Belgien) verharmlost und werden deutsche Kriegsverbrechen geleugnet. Der Gegner wird verbal niedergemacht. O-Ton: »Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.«
Diesen Satz haben als Teil der 93 auch die bedeutendsten Theologen ihrer Zeit unterschrieben, was den jungen Karl Barth schier zur Verzweiflung trieb. Und das Finale des Aufrufes der 3000 Professoren lautet:
»Lass dich nicht vom Bösen überwinden«
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»Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ›Militarismus‹ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.«
Und die Wissenschaft in der Praxis? In der Museumsausstellung war folgendes Zitat eines der besten Köpfe unter den damaligen Chemiker zu lesen: »Meiner Meinung nach sollte man … auch die T-Hexa-Granaten an der Front ausprobieren. … Das Wichtigste dabei ist aber dann die feste HexaSubstanz, die als feines Pulver zerstäubt und, mit Pyridin infiziert, langsam, während sie sich in die Schützengräben hineinsenkt, in Phosgen umgewandelt wird. Dieses Chlorkohlenoxyd ist das gemeinste Zeug, das ich kenne. … Die einzig richtige Stelle aber ist die Front, an der man so etwas heute probieren kann und auch für die Zukunft nicht sobald wieder Gelegenheit hat, so etwas auszuprobieren. … Ich kann deshalb nur noch einmal dringend empfehlen, die Gelegenheit dieses Krieges nicht vorübergehen zu lassen, ohne auch die Hexa-Granate zu prüfen.«
Der Autor dieser Zeilen, der außerdem einer der »Erfinder« des Einsatzes von Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter in der Kriegsindustrie war, ist der Wuppertaler Carl Duisberg – Direktor der Bayer-Werke, später Vorstandsvorsitzender von IG-Farbenindustrie. Nach ihm ist unser CDG (Carl Duisberg Gymnasium) benannt. Das Gymnasium hat sich mit dieser düsteren Seite seines Namensgebers gründlich und redlich auseinandergesetzt. Ob es weise ist, ihn als Namenspatron einer Ausbildungsstätte junger Leute zu belassen, bleibt umstritten. Wichtiger ist die aktuelle Diskussion über deutsche Rüstungsexporte. In allen Krisen- und Konfliktgebieten unserer Welt wird mit deutschen Waffen gekämpft. Als Sigmar Gabriel dies jüngst thematisierte und strengere Ausfuhrbestimmungen forderte, wurde er aus Bayern zurückgepfiffen: Dann stagniere ja unsere Rüstungsproduktion und damit auch die Fortentwicklung von Waffentechnik! Und was das an Arbeitsplätzen koste! Also: Export von Todesmaschinen in die Hände von Verbrechern als ABM-Maßnahme? – »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.«
III Das Pauluswort wäre gründlich missverstanden, wenn man meinte, das Gute sei das Christentum, und seine Anhänger sollten sich vor dem Bösen wappnen, das von außen auf sie einstürmt.
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Ganz im Gegenteil: Für mich als Christ gehört es mit Blick auf den Ersten Weltkrieg zum besonders Erschreckenden, wie sehr sich die Christen selbst und die christlichen Kirchen vom Bösen haben anstecken lassen, wie christliche Religion zur besonders wirksamen Waffe des Bösen wurde. »Gott mit uns« – so stand es auf jedem Koppelschloss eingeprägt. Entsprechend wurde gepredigt und die Botschaft von Güte, Gerechtigkeit und Frieden in den Schmutz gezogen. Auch hier wenige, aber typische O-Töne. Am Tag nach der Generalmobilmachung, also am 2. August, einem Sonntag, predigt der Hofprediger Döhring vor dem Reichstag zu Berlin. »… wenn wir nicht das Recht und das gute Gewissen auf unserer Seite hätten, wenn wir nicht – ich möchte fast sagen handgreiflich – die Nähe Gottes empfänden, der unsere Fahnen entrollt und unserem Kaiser das Schwert zum Kreuzzug, zum heiligen Krieg in die Hand drückt, dann müßten wir zittern und zagen. Nun aber geben wir die trutzig kühne Antwort, die deutscheste von allen deutschen: ›Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!‹«
So predigten und schrieben sie landauf, landab. Dabei besonders abgründig, wie selbst der gekreuzigte Christus argumentativ für die fromme Kriegstreiberei benutzt wurde. Ein Pfarrer aus Kurhessen schrieb 1915 an die Frontsoldaten seiner Gemeinde: »Hoffentlich habt auch Ihr draußen den festen Glauben behalten, wie ich den Konfirmanden als Mahnung mitgegeben: Kämpfe den guten Kampf des Glaubens und ergreife das ewige Leben. Stehet auch Ihr fest im Glauben, seid männlich und seid stark! Wie unser Heiland am Kreuz aushielt, bis er sagen durfte, es ist vollbracht, so wollen wir seine Nachfolger werden.«
Und noch zwei Liedstrophen eines damals neu gedichteten geistlichen Liedes: »Heilig Vaterland in Gefahren Deine Söhne stehn, dich zu wahren. Von Gefahr umringt, Heilig Vaterland, Schau, von Waffen blinkt jede Hand. Heilig Vaterland, heb zur Stunde Kühn dein Angesicht in die Runde. Sieh uns all entbrannt, Sohn bei Söhnen stehn: Du sollst bleiben, Land! Wir vergehn.«
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›Verbrochen‹ hat diese Zeilen Rudolf Alexander Schröder, von dem wir bis heute wunderschöne Lieder in unserem Gesangbuch haben – aber damals konnte er eben auch dies schreiben, angesteckt von dem bösen Ungeist nationalistischer Kriegstreiberei – und ihn selbst weiter anfachend. Merken Sie eigentlich, liebe Gemeinde, dass dieser Missbrauch von Religion von vergleichbarem Kaliber ist mit dem, was wir heute aus dem Mund islamistischer Hassprediger hören können? Im Wissen darum, in welche Abgründe christliche Hassprediger ihre Gläubigen geführt haben, besteht für uns heute aller Grund zur Wachsamkeit und zum Gespräch mit den Muslimen, die den Missbrauch ihrer Religion durchschauen – und das sind bei uns Gott sei Dank nicht wenige. Grund zur Überheblichkeit besteht für Christen weiß Gott nicht. Eher zur Demut. Und zur Dankbarkeit dafür, dass die Selbstauslieferung an das Böse nicht das einzige ist, wozu christliche Religion geführt hat. IV Was aber ist denn »das Gute«, das wir dem Bösen entgegenzusetzen haben? Lassen Sie es mich ganz schlicht so sagen: Das Gute ist der Glaube an den Gott, der uns und allen Menschenkindern seine Barmherzigkeit zukommen lässt. Wir leben ja tagaus tagein davon, dass Gott selbst sich an unser Predigtwort hält: Er lässt sich von unserer Bosheit nicht anstecken, zahlt nicht mit gleicher Münze heim, sondern begegnet uns alle Morgen neu mit Güte, schätzt uns wert, gibt uns lebensdienliche Weisung, schenkt uns die Möglichkeit zu Umkehr und Neuanfang. Noch einmal: Uns und allen Menschen. Entsprechend umschreibt Paulus einige Verse vorher das Gute so: »Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.« (V. 17f)
Wäre diese Botschaft damals in die Herzen gedrungen – man hätte nicht »den« Franzosen als Unmenschen und »den« Russen als Untermenschen ansehen und entsprechend behandeln können. Gegenprobe: Hätte ein damaliger Feldprediger es gewagt, diese eine Wahrheit zu sagen: »Wir ziehen in die Schlacht gegen geliebte Ebenbilder Gottes, gegen Menschen, mit denen Gott genauso im Bunde ist wie mit uns« – er wäre wohl als »vaterlandsloser Geselle« bestraft worden. Tatsächlich fanden sich schon während des großen Krieges Christen, die ihre Stimme in diesem Sinne erhoben haben. Und es gab noch
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zu Kriegszeiten gegenseitige Hilfe über Feindesgrenzen hinweg. Aber erst nach dem noch furchtbareren Zweiten Weltkrieg hat die Weltchristenheit auf der 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (1948) gemeinsam zu dem Satz gefunden: »Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein«. Und inzwischen hat sich bei vielen Christen die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch in Konfliktfällen die Rede vom »gerechten Krieg« in eine Falle führt. Verheißungsvoll kann nur ein »gerechter Friede« sein. Statt des Rechts des Stärkeren plädieren Christen für eine Stärkung des Rechts. Auch diese Maxime kann in Gewissenskonflikte führen: Sind Auslandseinsätze in Krisengebieten als »letztes Mittel« nicht notwendig, ja sogar geboten, um schlimmeres Unrecht zu verhüten und Gewalt einzudämmen? Es gibt Situationen, da hätte die internationale Staatengemeinschaft nicht zusehen dürfen – etwa beim Völkermord in Ruanda. Aber es gab eben auch Beispiele, die gezeigt haben, wie wenig geeignet der Krieg ist, um Gerechtigkeit herzustellen – man denke nur an Afghanistan, den Irak oder Libyen. Hier muss in jedem Einzelfall ent– schieden werden, aber die Grundrichtung muss klar sein: Gewaltfreien Mitteln, dazu gehört auch die Diplomatie, ist der Vorrang zu geben. Und alles ist zu unterlassen, was Konflikte verschärft und in die Spirale der gegenseitigen Ansteckung mit dem Bösen führt. »Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.« Heute, hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, tritt bei mir neben das Erschrecken die Dankbarkeit: Ich bin dankbar für ein geeintes Europa. Ehemalige Erzfeinde bilden heute eine Staatengemeinschaft, die seit Jahrzehnten im Frieden miteinander lebt. Dieses hohe Gut ist viel wichtiger als manches, was einen je und dann an der EU oder an »denen« in Brüssel und Straßburg ärgern mag. Europa ist verbesserungswürdig und – man denke nur an die Haltung gegenüber Flüchtlingen – verbesserungsbedürftig. Aber Europamüdigkeit tritt das Geschenk gewachsenen Friedens mit Füßen. Ich bin dankbar für das Ende des Kalten Krieges und den Frieden mit Russland. Auch angesichts des Konfliktes um die Ukraine dürfen wir uns nicht anstecken lassen, sondern müssen die Kräfte unterstützen, die einem Frieden in Gerechtigkeit dienen. Ich bin dankbar für die weltweite Ökumene, denn in ihr wird erfahrbar, dass wir Glieder eines Leibes sind. Notleidende und erst recht verfolgte Christen müssen sich darauf verlassen können, dass sie in uns verlässliche Geschwister haben. Oder mit Paulus: »Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.« (V. 13) Schließlich bin ich dankbar für jede Verständigung mit anderen Religionen, denn sie hilft, Vorurteile abzubauen, und sie ist der beste
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Schutz dagegen, dass Religion zur Waffe wird, die der Durchsetzung eigener Interessen gegen den anderen dient. Dazu zum Schluss eine Mutmachgeschichte aus Wuppertal. Als am vergangenen Montag ein Brandanschlag auf unsere Synagoge verübt wurde, schrieb Herr Samir Bouaissa im Namen der Interessenvertretung Wuppertaler Moscheen aus seinem Urlaub (!) einen Brief an den Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde: »Sehr geehrter Herr Goldberg, Ich weiß gar nicht, wie ich das, was ich fühle, in Worte fassen soll … Voller Abscheu hören und sehen wir Berichte über die Zerstörung von Gotteshäusern im Ausland, erst recht, wenn diese von vermeintlich gläubigen Muslimen begangen werden … Dass aber in unserem Wuppertal auf ein Gotteshaus ein Anschlag verübt wird, war für uns bis heute Morgen unvorstellbar. Wir verurteilen diese verabscheuenswürdige Tat aufs schärfste. Jedes Gotteshaus, ob Synagoge, Kirche oder Moschee, ist unantastbar und mit allen Mitteln zu schützen … Die Wuppertaler Moscheen stehen in diesem Fall fest an Ihrer Seite.«
Lasst uns in diesem Geist auch von unserer Seite das friedliche Zusammenleben der Religionen in unserer Stadt fördern. Amen.
Adventliche Empathie Predigt über Jesaja 40,1 1
Liebe Gemeinde, I Anfänge sind prägend. Daher muss ich bei der Vorbereitung von Adventspredigten oft an meine ersten Adventserfahrungen als gewählter Gemeindepfarrer denken. Lang, lang ist’s her. Eingeführt wurde ich, zusammen mit meiner Frau Sylvia, im Advent 1978. Unser Predigttext damals war Jes 40,1–8. Anfängliche Adventerfahrungen. Sylvias Gemeinde war die Thomaskirche. Diese verstand sich damals als Speerspitze der Kirchenreform. Als Presbyter gewahr wurden, dass meine Frau beabsichtigte, zu Heiligabend »O du fröhliche« singen zu lassen, beriefen sie eine Krisensitzung ein: Jetzt hielte ja wohl die kirchliche Reaktion wieder Einzug. Wie man denn ein so traditionelles und dazu irgendwie kitschiges und jedenfalls so gar nicht auf Weltverantwortung zielendes Lied wiederbeleben könne – das eben gesungene2 Lied hätten sie gewiss völlig unmöglich gefunden. Sie vielleicht auch? Ortswechsel. Alte Reformierte Kirche, also meine Predigtstätte, die sich als Hüterin des authentischen Reformiertentums verstand. Ich fragte, wohl etwas naiv, an, ob es nicht möglich wäre, in der Kirche einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Empörtes Unverständnis. Das Spitzenvotum von Presbyter Helmut Terstegen, Gott hab ihn selig: »Dann können Sie auch gleich noch am Karfreitag einen Osterhasen ans Kreuz nageln.« Es dauerte übrigens Jahre, bis der Baum – allerdings erst einmal ohne Schmuck, nur mit Kerzen – genehmigt war. Das waren zwei Auswüchse eines protestantischen Adventsverständnisses, vielleicht besser: einer Adventskultur, die in verschiedenen Abstu1 Diese Themapredigt wurde am 2. Advent 2016 in der Reformierten Gemeinde Wuppertal-Ronsdorf gehalten. Die Lesungstexte, auf die die Predigt Bezug nimmt, waren Jes 40,1–8 und Röm 8,22–27. 2 »Süßer die Glocken nie klingen«
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fungen kirchlich, jedenfalls kerngemeindlich, weit verbreitet war und in die wir uns – so wir sie nicht ohnehin schon teilten – bitteschön einfinden sollten. Lang, lang ist’s her? Mir scheint, manches von den damaligen Verständnismustern hat sich durchgehalten und lässt sich auch heute bis hinein in Predigten und Andachten finden. Ich nenne einige Facetten, die sich nach dem Schema: »Nicht – sondern« ordnen lassen. Advent soll bitte nicht sein: gefühlig, erst recht nicht kitschig. Also auch nicht allzu volkstümlich. Nicht Geschenk – und das heißt ja: konsum-, und das heißt ja: profitorientiert; weshalb Weihnachtsmärkte (und erst recht die Weise, in der die Geschäfte das Weihnachtsthema aufgreifen) vom guten Protestanten gerne als konsumorientierter Verrat am »Eigentlichen« also an dem, worauf es in Wahrheit ankommt, verunglimpft werden. Denn das, worauf es in Wahrheit ankommt, ist das Kommen Jesu. Ihn sollen wir erwarten, weshalb Adventszeit eigentlich Fastenzeit ist: ernsthafte Vorbereitung auf Christi Geburt und Einweisung in die Nachfolge. Salopp gesagt: Gut-protestantisches Adventsverständnis ist »extra-dry«. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Was ich zuletzt als das »eigentliche« Adventsverständnis genannt habe, ist theologisch ja gar nicht falsch. Aber was ich je länger je mehr problematisch finde, ist, wenn es gekoppelt wird an die etwas Nase-rümpfende Abwertung der Adventskultur, wie sie auf unseren Straßen, in Vereinen und Betrieben, von den WDR 4-Hörern gepflegt wird. Und darüber möchte ich heute einmal etwas ausführlicher nachdenken.
II Dazu zunächst ein seelsorgerlicher und ein theologischer Hinweis. 1. Bei Jesaja hörten wir: »Tröstet, Tröstet, mein Volk! spricht euer Gott«. Nun kann Trost nur die Menschen erreichen, die sich verstanden fühlen, in die der Trostspender sich eingefühlt hat und also versteht, was sie bewegt. Deshalb ist das Bewerten und erst recht das Abwerten des Anderen das genaue Gegenteil von Empathie (Einfühlung). Der gängige Adventstrubel mag ja – von außen betrachtet – konsumgesteuerte oberflächliche Ablenkung sein. Und wer wollte übersehen, dass es gerade, was die Musik betrifft, von Kitsch nur so wimmelt. Aber woher nimmt man eigentlich das Recht, dies kurzerhand abzuwerten. Mir scheint, da vermischt sich Theologie mit bildungsbürgerlicher Kultur. Die 500 Busse, die jeden Samstag zum Düssel-
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dorfer Weihnachtsmarkt rollen – alles uneigentliches, oberflächliches Gedöns? Und wir wissen es besser? Vorsicht! Wer so schnell urteilt, wird den Leuten nicht tröstlich und erst recht nicht, wie es in V. 2 heißt, »freundlich« begegnen können. Und er wird tendenziell blind für die eigenen Verstrickungen. Dass der kapitalistische Markt jeden menschlichen und gesellschaftlichen Anlass als Geschäftsidee aufgreift und mit Waren und Dienstleistungen flutet, ist ja wahr. Da darf einem auch übel werden! Nur: Das gilt für alle Milieus. Die Deutsche Grammophongesellschaft und der klassische Konzertbetrieb, ja sogar die alternative Protestkultur fällt diesen Marktmechanismen ganz genauso anheim wie der Advents- und Weihnachtsbetrieb mit all seinem Tingeltangel! Zur Protestkultur: Verwaschene und abgenutzte Jeans wurden im Gefolge der 68er getragen als Zeichen von Konsumverzicht. Aber dieser Verzicht schuf nur eine neue Marktlücke: Inzwischen sind die auf alt getrimmten oder sogar mit vorgefertigten Rissen versehenen Jeans längst Mode – und teuer sind sie auch! Deshalb: Bei aller berechtigten Marktkritik – unsere Frage im Blick auf das adventliche Treiben sollte lauten: Was steckt dahinter? Was bewegt die Menschen unter der Oberfläche ihrer adventlichen Geschäftigkeit – und triebe sie auch noch so seltsame, bisweilen auch: abstoßende Blüten? 2. Sie merken, ich plädiere für die Haltung einer adventlichen Empathie (Einfühlung). Deren Grund und Urbild ist Gottes eigener Blick auf seine Menschenkinder. Einen Schlüsseltext dazu finde ich im Buch Exodus (16,12a) in einer Geschichte, die sich bei Auszug der Israeliten aus Ägypten zuträgt. Sie erinnern sich: Kaum hat das Volk die ersten Wegstrecken in die Freiheit zurückgelegt, stellen sich Verdruss und Frust ein: Das soll’s nun sein? Der ganze Aufwand des Auszuges aus der Sklaverei für diese Einöde? Wären wir doch in Ägypten geblieben! So murren sie, erzählt die Bibel. Und sie lässt keinen Zweifel daran: Dieses Murren, also dieses rückwärtsgewandte Sich-Beschweren des Volkes, ist ein unmögliches Verhalten, grundfalsch. Aber dann hören wir (Ex 16,11f): »Und Gott sprach zu Mose: Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden.« Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob sie gleich mitbekommen haben, dass die hier verwendeten Worte eigentlich nicht zusammenpassen: »murren« und »erhören«. Gott erhört Gebete, Bitten, Schreie und Klagen. Aber Murren ist ja nun gerade das Gegenteil davon und gehört daher eher abgestraft. Was heißt das? In der Kraft seiner Liebe dringt
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Gott zu den Seinen durch. Statt sich von der hässlichen Oberfläche ihres Rumgenöhles abstoßen zu lassen, erkennt er die darunterliegende Bedürftigkeit und Sehnsucht nach besserem Leben. Und so hört Gott sich ihr Murren zurecht. Will sagen: Er tut so, als hätten sie gar nicht gemurrt, sondern zu ihm gebetet. Und er öffnet ihnen sein Herz. Von diesem liebevollen Einfühlungsvermögen Gottes hat Paulus in unserem heutigen Episteltext so geredet: »Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.« (Röm 8,26) Unser Gebaren mag noch so ungeschickt und bruchstückhaft, noch so oberflächlich oder gar so verkehrt sein wie das Murren des Volkes in der Wüste: In der Kraft seines Geistes dringt Gott zu uns durch und nimmt sich unserer Not an.
III Und eben dazu möchte ich heute animieren: dass wir jenem liebevolleinfühlsamen Blick Gottes vertrauen und uns selbst darin üben; uns einüben in adventliche Empathie. Daher gehe ich noch ein wenig auf Spurensuche. Ich muss tatsächlich offen sein zu suchen. Denn was ich vorfinde auf dem Weihnachtsmarkt und in Kaufhäusern; und wenn ich die Leute beobachte; und wenn ich anhören muss, was mir aus Lautsprechern entgegentönt – da ist auch mir vieles fremd, und manches finde ich nur grässlich. Wenn ich jedoch nun anfange zu suchen, dann frage ich: Was ist die Sehnsucht, die unter dieser Advents- und Weihnachtsfassade verborgen liegt und sich nun einmal nicht anders auszudrücken weiß? Da ist der Wunsch, es möge einmal feierlich sein. Ein wenig Glanz soll ins Leben zurückkehren, und harmonisch soll es auch sein, friedlich. Also: »Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, es ist, als ob Engelein singen wieder von Friede und Freud«. Und auch: »In den Herzen ist’s warm, still schweigt Kummer und Harm«. Mir scheint, darunter liegt die Sehnsucht nach Unterbrechung: Unterbrechung des Alltags mit seinen vielen Zwängen und Routinen. Unterbrechung auch der alltäglichen Tristesse und des alltäglichen und allgegenwärtigen Elends. Deshalb sind viele Menschen in diesen Tagen bereit, Gutes zu tun, zu spenden und zu helfen. Gerade arme Leute spenden für ihre Verhältnisse viel. Auch das könnte man gleich wieder abwerten nach dem Motto: »Das tut ihr nur, um euer Gewissen zu beruhigen, um euch, die ihr in einer besseren Lage seid, freizukaufen.« Mag ja sein. Aber wahr ist auch: Hier versucht die Sehnsucht, sich
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auszudrücken: Ich sehne mich nach einer besseren, friedlicheren Welt, und dafür setze ich jetzt mein kleines Zeichen. Sonst klammere ich, aber heute öffne ich meine Hand und übe mich im Teilen. Ich glaube übrigens, dass es diese Sehnsucht nach heilsamer Unterbrechung ist, die gerade Leute, die es sich eigentlich nicht leisten können, dazu bewegt, ihren Lieben, zumal ihren Kindern, unverschämt große Geschenke zu machen. Wir müssen den Verführern in den Werbeagenturen der Konsumindustrie kein Pardon geben. Aber im Blick auf die Leute – sollen wir sie unvernünftig schelten, wie das früher in meinem Diakoniekreis gang und gäbe war? Oder sollen wir nicht lieber die Sehnsucht wertschätzen, die auch hier Gestalt gewinnt: die Armut zu unterbrechen. Einmal so tun, als ob man trotz Harz IV dazugehörte, und deshalb den Kindern – und sei es auf Pump! – etwas besonders Schönes zu schenken. Für mich hat solche Unvernunft etwas Erhabenes: Wir lassen uns unsere Würde nicht nehmen. Wir stellen uns mit hinein in den Glanz der Weihnacht, die die Hirten und die Flüchtlinge und das Kind in der Krippe umstrahlt. Und wir stellen uns – und sei es nur für heute – ganz nah zu den drei Königen. Und damit erschließt sich noch eine weitere Schicht von Sehnsucht: Es möge sich über unserem Leben der Himmel öffnen. Viele können das so nicht ausdrücken, aber warum kommen sie denn von der Weihnachtsgeschichte nicht los, kaufen Figuren und Figürchen? Und warum haben sie es seit Jahren schon so mit den Engeln. Ich muss zugeben, mir ging der Engelboom am Anfang sehr gegen den Strich. Und manches, was einem da angeboten und zugemutet wird, ist so, dass man geneigt ist, die Freude auf den Himmel zu verlieren. Aber sei’s drum, die sich hier ausdrückende Sehnsucht sagt: Ich möchte, dass mein Leben von guten Mächten wunderbar geborgen ist. Ich möchte nicht, dass diese Welt verloren geht, sondern dass jemand auf sie achthat und ihr Zukunft schenkt; und nicht aufhört, Heil und Leben zu schenken. »Tröstet, tröstet mein Volk« – hörten wir bei Jesaja. Lasst uns darum den Menschen, deren Adventsgebaren uns fremd ist und auch ihren Äußerungsformen mit Respekt begegnen. Ihre Sehnsucht ist der unseren gleich. Und ihnen wie uns gilt der Zuspruch: Gott ist euch freundlich gesinnt. Sein Geist erspürt eure Sehnsucht. Und da mögen sich die einen im gediegenen Gesang des Genfer Psalters aufgehoben fühlen und andere, begeistert von Helene Fischer, singen oder auch nur dudeln: Süßer die Glocken … oder: Leise rieselt … oder: Jingle bells – im Himmel versteht man uns alle richtig. Da hört man, dass wir eigentlich rufen: Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?! Und das rührt Gott ans Herz. Amen.
»Er zog aber seine Straße fröhlich« Lesepredigt über Apostelgeschichte 8,26–40 anlässlich der Einführung der neuen Lutherbibel am 30.10.2016
»26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. 27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! 30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 5,37– 38): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? 35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. 36 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? 38 Und er ließ den Wagen halten, und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. 40 Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam.
»Er zog aber seine Straße fröhlich« – darauf läuft’s für den Kämmerer hinaus. Das ist die Frucht jener Wendung zum Glauben, dass er seinen Weg fröhlich fortsetzt. Etwas Besseres hätte ihm nicht geschehen können. Etwas Besseres kann einem Menschen überhaupt nicht geschehen, als dass es von ihm heißt: Er zieht seine Straße fröhlich. »Fröhlich« meint mehr als ein kurzlebiges Stimmungshoch und greift tiefer als das Gefühl, das wir mit guter Laune bezeichnen. »Fröhlich« nennen wir einen Menschen, der innerlich zur Ruhe gekommen ist, der heitere Gelassenheit ausstrahlt. Am besten umschreibt es
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vielleicht das Wort »zufrieden«: dass also jemand zu seinem Frieden findet. Solche Fröhlichkeit, solche Zufriedenheit bewährt sich gerade in Situationen, in denen zu Freude, zu überschwänglichem Glücksgefühl kein Anlass besteht. Der Apostel Paulus kann gerade in Zeiten äußerster Bedrohung von Fröhlichkeit reden. Aus dem Gefängnis heraus schreibt er den Philippern in jenem Tonfall. Sein Brief ist geradezu ein Plädoyer der Fröhlichkeit. Und wer jemals einem Menschen begegnet ist, der solche Fröhlichkeit, solche innere Zufriedenheit ausstrahlt, der wird erfahren haben: Fröhliche Menschen sind für ihre Umgebung etwas Kostbares. Dass es sich hier tatsächlich um ein ganz besonderes Gut des Menschen handelt, hält die griechische Sprache bis heute fest: Aus dem Wort für »sich freuen« (chairein) ist die gängigste Form der Begrüßung gebildet: »chaire, chairete« – so begrüßt man sich, so prostet man sich auch zu und wünscht sich eben damit das Beste, was Menschen einander wünschen können: Fröhlichkeit, Zufriedenheit. Vom Kämmerer hörten wir nun am Ende: »Er zog aber seine Straße fröhlich«. Fast möchten wir den Mann darum beneiden, denn das gehört ja eben auch zur Fröhlichkeit: Man kann sie nicht machen; vor allem: Man kann sie sich nicht selbst verschaffen. Für Genuss kann man etwas tun. Gute Stimmung kann man erzeugen. Ein paar schöne Stunden kann man sich allenfalls mit Geld erkaufen. Aber Fröhlichkeit, Zufriedenheit? Fast sieht es so aus, als rücke sie immer ferner, je mehr man danach strebt. Das mag uns gerade am Leben des Kämmerers deutlich werden, bevor es jene entscheidende Wendung nimmt: Er hat schon viel gemacht in seinem Leben, ja, wir können sagen: Er hat aus seinem Leben durchaus etwas gemacht. Bis zum Finanzminister der mächtigen Königin von Äthiopien hat er es gebracht. Möglicherweise hat er für diesen enormen gesellschaftlichen Aufstieg allerdings einen (unmenschlich) hohen Preis bezahlt. Im griechischen Text wird er eunuchos genannt. Das kann einfach die Bezeichnung seines Titels sein, kann aber auch wörtlich gemeint sein. Denn bisweilen mussten sich im alten Ägypten und Äthiopien die höchsten Beamten kastrieren lassen, um dem königlichen Hause nicht als Männer gefährlich werden zu können. Wir hätten dann eine besonders krasse Erinnerung daran, welchen Preis Menschen zu zahlen bereit sind, wenn es darum geht, die Spitze der Karriereleiter zu erklimmen. Wie dem auch sei: Je länger, je mehr scheint dem Kämmerer sein Leben als Erfolgsmensch und sein Karrieredasein nicht genügt zu haben. Wir erinnern uns an das Jesuswort: »Was hülfe es dem Men-
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schen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Mt 16,26) Für seine Seele will der Kämmerer etwas tun. Darum wendet er sich – was läge auch näher? – der Religion zu. Dabei scheut er weder Kosten noch Mühen. Er betreibt, wie’s eben seine Art ist, auch diese Sache energisch und im großen Stil. 3000 Kilometer Pilgerfahrt nach Jerusalem legt er zurück. Und doch – da, wo unsere Geschichte einsetzt, sehen wir ihn gleichsam unverrichteter Dinge zurückkehren: Er sitzt auf seinem Reisewagen, er liest in einem Buch der Bibel (wie gesagt, kaufen konnte er sich ja alles); er liest – und versteht doch nichts. Ja, liebe Gemeinde, dass sich einem die Schrift öffnet, dass sie das Herz anrührt, so dass man zum Glauben findet und damit zu eben jener fröhlichen Zufriedenheit, das kann man nicht machen. Da ist selbst unser mächtiger Finanzminister aus dem Kabinett der Kandake am Ende seiner Möglichkeiten. Und doch findet er schließlich, was er gesucht hat. Es wird später von ihm heißen: »Er zog aber seine Straße fröhlich.« Wie es doch noch zu jener Wendung kommt, das erzählt unsere Geschichte. Sie lässt uns teilhaben an den Stationen, die diese Wendung markieren. Und offensichtlich sollen wir sie zur Kenntnis nehmen, weil es keine beliebigen, keine zufälligen, sondern für den Weg zum Glauben notwendige Stationen sind. 1. Da kommt es erstens zu einer Begegnung. Philippus kreuzt seinen Weg und spricht den Kämmerer an: »Verstehst du auch, was du liest?« (V. 30) Der Weg zum Glauben, der lebendige Kontakt zur Bibel sind kein Ein-Mann-Unternehmen. Da bedarf es der Ansprache, da braucht’s den anderen, die Gemeinde. Allein hat sich der Kämmerer lange genug geplagt. Und das hätte noch lange so weitergehen können; aber jetzt tritt jemand an seine Seite, spricht ihn an und sagt: »Hör mal, verstehst du auch, was du liest, oder soll ich dir vielleicht helfen?« Wer weiß, wie viele Menschen sich plagen, sich nutzlos abplagen, nur, weil niemand auf die Idee kommt, sich ihnen zuzuwenden, sie anzusprechen und sich ihnen als Begleitung und Hilfe anzubieten. Wer weiß, vielleicht wartet einer schon die ganze Zeit auf dich? 2. Dazu gehört nun andererseits auch vom Suchenden selbst der Mut, um Hilfe zu bitten. Wir hörten: »Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen« (V. 31). Können wir das? Tun wir das: uns ehrlich eingestehen, dass wir, auf uns alleine gestellt, am Ende sind, und dann den Mut aufzubringen, jemanden um Hilfe zu bitten, zu sagen: »Setz dich mal mit mir zusammen« – selbst auf die Gefahr hin, eine Absage zu bekommen?
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Ich glaube, vielen unter uns fällt das Erste, also das Helfen, noch leichter als das Zweite, das Um-Hilfe-Bitten. Und doch ist es so: Man mag es als Einzelkämpfer vielleicht bis zum Finanzminister bringen, zur Fröhlichkeit des Glaubens bringt man es allein schwerlich. 3. Nun ist es allerdings ganz wichtig zu sehen, dass die Gemeinschaft, die zwischen dem Kämmerer und Philippus entstanden ist, als solche noch nicht die Wendung zum Glauben stiftet. Ich betone das, weil in der Kirche bisweilen andere Stimmen laut werden. Sie sagen: Die Gemeinschaft, also die Hinwendung des einen zum anderen, ist das Entscheidende. Wenn wir uns in unserer Gemeinde nur wohlfühlen und gegenseitig akzeptiert fühlen, wenn in der Seelsorge der Ratsuchende nur genug menschliche Annahme erfährt, dann ist das der notwendigste, weil Not wendende Schritt. Aber wie soll das angehen? Soll der Kämmerer allein durch die Begegnung mit Philippus zur Zufriedenheit, zur inneren Ruhe finden? Würde das die Begegnung nicht maßlos überfordern? Philippus kann doch nicht mit seiner Person dem anderen »Trost im Leben und im Sterben« (Heidelberger Katechismus, Frage 1) sein! Nein, die Gemeinschaft der beiden, so wichtig sie ist – diese Gemeinschaft braucht ihr Thema, unter dem sich beide finden können. Dieses Thema erschließt sich im Gespräch der beiden. Aber es geht nicht darin auf, es bleibt selbständiges Thema, in dem beide ihre Geborgenheit finden. Und dieses Thema, das, was dem Kämmerer schließlich zu Herzen geht und ihn zum Glauben führt, ist die Botschaft von der Zuwendung Gottes, wie sie vom Propheten bezeugt und in Jesus erschienen ist. Wir hörten: Philippus setzt ein mit der Schriftstelle, die der Kämmerer gerade gelesen hat. Sie redet davon, wie Gott sich zu uns auf den Weg gemacht hat, wie er uns gerade dort sucht und findet, wo uns unser Leben unerträglich ist: im Leiden, in Schuldverstrickung, in einem Leben, das ständig überschattet ist von der Macht des Todes. So weit reicht Gottes hingebungsvolle Liebe, dass er gerade dort, wo kein Mensch, am allerwenigsten wir selbst, uns noch helfen können, an unsere Stelle tritt, unsere Not mit uns teilt, um uns aus den Fängen der Schuld und des Todes zu befreien. Mit dieser Botschaft aus der Bibel setzt Philippus ein, aber er geht dann weiter, und zwar so, dass er nicht bei allgemeinen Worten bleibt, sondern dem Kämmerer die gute Botschaft persönlich zuspricht. Es heißt: Er »fing mit diesem Schriftwort an«. Und dann: Er »predigte ihm das Evangelium von Jesus« (V. 35). Wir erfahren nicht mehr den Inhalt dieses weiterführenden Zeugnisses, aber wir mögen erahnen,
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was es für den Kämmerer bedeutet zu hören: »Du bist nicht verloren. Bei Gott brauchst du es nicht so zu machen wie in deinem bisherigen Leben. Da brauchst du nicht immer und immer noch etwas zu machen, nicht angestrengt nach oben zu kraxeln. Bei ihm bist du schon am Ziel, denn er hat sich zu dir hinabgeneigt. Du bist sein geliebtes Kind, auch mit all deinen hässlichen Seiten, mit all deiner Verkehrtheit, mit all deiner Unrast. Du bist, hörst du: Du bist ihm recht, du bist von ihm gewollt. Bei ihm wird deine Seele Ruhe finden. Dein Leben ist nicht der Sinnlosigkeit preisgegeben, nein, es ist geborgen in Gottes gütiger Liebe, mit der er dich, gerade so, wie du jetzt dran bist, meint.« Mag die menschliche Zuwendung des Philippus irgendwann an ihre Grenzen stoßen – und auch die innigste menschliche Beziehung hat solche Grenzen –, Gottes Zuwendung ist grenzenlos. Er hält Bund und Treue ewiglich, und darum ist er »Trost im Leben und im Sterben«. 4. Eine Station ist noch zu nennen, eine letzte, aber eine, die wir besonders gerne vergessen. Der Kämmerer hätte das alles hören können, es hätte ihm im Augenblick des Hörens auch zu Herzen gehen und ihn innerlich beflügeln können – und dann? Was ist morgen? Was ist, wenn die Worte verklungen sind und ihn der Alltag wieder eingeholt hat? Sicher, die Worte bleiben auch dann noch wahr, aber werden sie für den Kämmerer noch lebendig bleiben, wenn der Kontakt mit dieser Botschaft vorüber ist? Der Kämmerer scheint das zu ahnen, darum tut er den letzten Schritt: Er zieht aus dem Gehörten die notwendige Konsequenz: »Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?« (V. 36) Dieser Schritt besagt: Der Kämmerer will fortan den Kontakt zu Gott nicht mehr abreißen lassen. Er will, auch über die Entfernungen hinweg, Glied in der Gemeinschaft derer sein, die sich als Gottes geliebte Kinder glauben. Es genügt ihm nicht, das Evangelium einmal gehört zu haben, er will in Zukunft wieder und wieder hinhören. Er will jetzt in seinem Leben die Wirkung des Evangeliums erproben. Er will, wenn ich es einmal so sagen darf, in seinem weiteren Leben die Probe aufs Exempel machen. Und eben da, wo das Evangelium ihn so angesprochen hat, dass er bereit wird, Konsequenzen zu ziehen und sein Leben darauf einzustellen, da heißt es von ihm: »Er zog aber seine Straße fröhlich«. Gestatten Sie mir noch eine Nachbemerkung: Es könnte jetzt einer denken: »Gut, beim Kämmerer hat das geklappt, aber bei mir nicht. Ich finde nicht zum Glauben, ich komme nicht zur Ruhe, ich ziehe
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meine Straße nicht fröhlich.« Und auf meine Nachfrage hin könnte er vielleicht sogar glaubhaft versichern: »Ja, ich hab’s mit diesen Stationen versucht: Ich habe Menschen um Hilfe ersucht, es haben sich auch welche um mich gekümmert. Ich habe die Botschaft gehört, ich bin auch bereit, Konsequenzen zu ziehen – aber trotzdem: Bei mir will’s und will’s nicht klappen.« Wer jetzt so bei sich fragt, dem möchte ich noch einen Hinweis geben und einen Rat. Der Hinweis steckt in der Geschichte selbst. Die Ausleger haben nämlich darauf hingewiesen, dass es im Grunde genommen eine Wundergeschichte ist. Wunderbar ist sie, weil sie uns Einblick nehmen lässt, wie Gott hier im Hintergrund wirkt: Da unternimmt der Kämmerer diese lange und für ihn zunächst ergebnislose Reise nur, um auf dem Rückweg Philippus zu begegnen. Er wäre in dieser Einsamkeit ganz gewiss niemandem begegnet, schon recht keinem Missionar, wenn nicht ein Bote Gottes Philippus an diese einsame Stelle gewiesen hätte – und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, wo der Kämmerer die entscheidende Stelle aus Jesaja liest, und gerade an der Stelle, wo dann auch das Wasser für die Taufe zu finden ist! Damit zeigt uns die Geschichte: So viel setzt Gott ins Werk, so kunstvoll verknüpft er die Lebensfäden, damit am Ende ein fröhlicher Mensch dabei herauskommt. Und diese Mühe gibt er sich mit jedem von uns, also auch mit dir, der du jetzt so fragst. Und daher mein Rat: Hab noch etwas Geduld. Vielleicht bist du – um’s mit der Geschichte zu sagen – noch auf der Hinreise. Vielleicht braucht’s noch eine Zeit, bis du am richtigen Punkt angelangt bist. Vielleicht hat Gottes guter Geist aber auch schon den auf den Weg geschickt, der sich dir zuwenden und dir in deiner Unruhe zur Seite stehen wird. Versuch’s deshalb nicht zu zwingen! Vor allem: Quäl dich nicht selbst. Fordere keinen Glauben von dir, zwing dich nicht zur Fröhlichkeit. Lass dich in deinem Unglauben, lass dich in deiner unzufriedenen Hast einmal gewähren. Ich weiß, wovon ich rede, ich weiß selbst, wie schwer das ist, aber womöglich ist das für dich der erste Schritt, um zur Ruhe zu finden. Und wir wollen füreinander, also auch für dich, Gott um seinen guten Geist bitten, dass er bei uns einkehrt, in uns Glauben weckt und uns zum Frieden bringt, damit es endlich von jedem unter uns heißen kann: »Er zog aber seine Straße fröhlich«. Amen.
Bücher von Sylvia und Peter Bukowski im Neukirchener Verlag
Peter Bukowski Predigt wahrnehmen Homiletische Perspektiven 1990 – 8. Auflage 2015, 206 Seiten ISBN 978–3–7887–1361–4 Peter Bukowski Die Bibel ins Gespräch bringen Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge 1994 – 10. Auflage 2016, 109 Seiten ISBN 978–3–7887–1498–7 Peter Bukowski Humor in der Seelsorge Eine Animation 2001 – 3. Auflage 2009, 79 Seiten ISBN 978–3–7887–1838–1
Sylvia Bukowski / Peter Bukowski Ein Buch voller Leben Entdeckungen in der Bibel Predigten zu ungepredigten Texten 1992 – 5. Auflage 2003, 184 Seiten ISBN 978–3–7887–1411–6 Sylvia Bukowski / Peter Bukowski Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst? 1998, 204 Seiten ISBN 978–3–7887–1709–4 Sylvia Bukowski / Peter Bukowski Etwas zum Mitnehmen Reden von Gott in der Welt 2008, 184 Seiten ISBN 978–3–7975–0216–2
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Bücher von Sylvia und Peter Bukowski im Neukirchener Verlag
Sylvia Bukowski Lass mich blühen unter deiner Liebe Gebete zu den Wochenpsalmen 2001, 2. Auflage 2003, 151 Seiten ISBN 978–3–7887–1839–8 Sylvia Bukowski Du bist der Gott, den ich suche Gebete für Gottesdienst und Alltag 2014, 2. Auflage 2016, 151 Seiten ISBN 978–3–7615–6125–6
Festschrift für Peter Bukowski Uns zu dem Leben führen Hoffnung predigen Festschrift für Peter Bukowski Herausgegeben von Jörg Schmidt u.a. 2015, 232 Seiten ISBN 978–3–7887–2948–6
© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783788732370 — ISBN E-Book: 9783788732387