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German Pages 431 [432] Year 2007
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Conrad Wiedemann
Band 182
Natalie Binczek
Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-18182-3
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Einband: Laupp & Göbel GmbH, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
ι
I. Z u r Allianz zwischen Sehen und Tasten in der Philosophie der Frühaufklärung 1. Der Taststock und >das Mikroskopische A u g e c Descartes und Locke Lichtbrechung und Repräsentation Geradezu mit den Händen sehen Der Winkelmesser Das mikroskopische A u g e Physiologie des Sehens 2. Die sprachanaloge Ordnung der Sinne: Berkeley
13
13 13 20 24 27 35 44
Suggestionen
44
Körperwahrnehmung
52
Das Mikroskop Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren: E x k u r s zur MikroskopieMetapher in Bodmers Abhandlung über das »Wunderbare«
60 63
Berkeleys »Dialogues«
70
II. Mikroskopie und der Ausschluß des Tastsinns
76
1. Observationen und Deskriptionen: Ch. Wolff Das A u g e in der Naturforschung
76 76
Die Versuchsanordnung Die Sandkörner 2. >Das betrachtende A u g e c Brockes »Der Sand« 3. Ausschnitt und Funktion: Ch. Wolff »Von der Seide« Illustration und Beschreibung
84 90 99 99 113 113 121
V
III. Eine Medientheorie des Tastsinns: Diderot
134
1. Sensorische Differenzierung Technische Kontaktstellen Wahrnehmung und sprachliche Repräsentation Spiegel und figurative Rede 2. Haptisches Wissen Ausdruck, Symmetrie und das Schöne Die Vorstellung
134 134 142 150 158 158 165
IV. Funktionsräume des Gefühls
172
1. Die Ordnung der Sinne: Brockes »Die fünf Sinne« Mechanismen des Sehens Mutter und >Königin< 2. Neurologie des Gefühls: G.Fr. Meier Der innere und der äußere Sinn 3. Nerven und Empfindungen: J. G . Krüger Das Gefühl als Kategorie organischen Lebens Das Phänomen der Reizbarkeit Reizreaktionen und die Wahrnehmung der Sinne
172 172 177 183 186 186 194 194 198 201
V. (Be)Rührungen und Ergreifungen
207
1. Rührungspoetik: Breitinger, Bodmer »Hertzrührende Schreibart« Gegen die grammatische Sprachordnung Bodmers Konzept der »Poetischen Gemähide« 2. Psychologie der Gewebe: Lessings »Laokoon« Empfindungstheorie Mitleidsästhetik im »Laokoon« 3. Sensorische Interaktionen: Lessings »Emilia Galotti« Sehen und Malen Haptik der Anschauung Der Reiz Erstarrung
207 207 214 220 227 227 235 245 245 252 256 260
VI. Interne Organisation
265
1. Entwicklungsphysiologie der Sinne: Rousseau Das Wachstum des Organismus
265 265
VI
2. Ausbildung der Sinne: Bodmer und Buffon Leben als Gegenstand der Naturforschung Mitteilung und Elementarteilchen Selbstempfindung Sensorische Anordnung Buffons »Naturgeschichte des Menschen« Organisation Interaktion Kleider
274 274 279 284 289 293 301 306 312
VII. Systemgrenzen des Tastsinns: Condillac
317
1. Fremdreferenz/Selbstreferenz Die systematische und die natürliche Anordnung Haptische Formen der Körperwahrnehmung Der Taststock Zur Differenz von Sehen und Schauen
317 317 324 331 337
VIII. Auflösung und Rekombination
345
1. Ästhetische Theorie der Sinne: Herders »Viertes Kritisches Wäldchen« mit einem Bezug auf die »Abhandlung über den Ursprung der Sprache« Phylo- und Ontogenese der Empfindungen Genese und Emergenz Unterscheidung der Sinne Innen und Außen »Uber den Ursprung der Sprache« 2. Gewänder als Parergon: Herders »Plastik« Die konjunktivische Wendung des Tastens Die Bewegung des Unterscheidens Plastik und Gewänder Das Parergon
345 345 352 357 364 370 378 378 385 390 399
Literaturverzeichnis
407
Personen- und Sachregister
421
VII
Einleitung
Gegenstandsbereich Die vorliegende Arbeit versucht, das begriffliche und unter ausgewählten Gesichtspunkten auch das metaphorische Feld dessen zu beschreiben, was in der Zeit der europäischen A u f k l ä r u n g unter den Bezeichnungen des Tastsinns, d. h. der Haptik, der Taktilität und des Gefühls figuriert. Sie versteht sich als ein Beitrag zur Theorie, mehr noch zur Geschichte der Sinneswahrnehmung, wobei sie sich auf ein sensorisches Phänomen bezieht, dessen operative und physiologische Bestimmung in Frage steht. D e n n wo dieser Sinn anatomisch zu verorten und wie seine Funktion zu spezifizieren sei, wird sich in Anbetracht der Vielfalt im folgenden diskutierter Ansätze vor allem in seiner Problematik zeigen. Nicht zuletzt dem Aufdecken, Umreißen und Benennen dieser Problematik sind die nachstehenden A u s f ü h r u n g e n gewidmet. Die Schwierigkeiten, welche mit dem Bemühen um E i n g r e n z u n g des Gegenstands- und Begriffsbezugs einhergehen, werden heuristisch genutzt. Zentrales Interesse der Analysen besteht deshalb darin, den historischen Zusammenhang gerade in seiner heterogenen Beschaffenheit ernst zu nehmen und mit Hilfe zum Teil recht minutiöser Textarbeit zu strukturieren. Darin ist zugleich auch der grundlegende methodische Zugriff charakterisiert. Das textuelle Material wird nämlich einer Lektüre unterzogen, die nicht auf Exemplifikation systematischer Begriffe abzielt, sondern umgekehrt: Unter Rekurs auf systematische Begriffe soll die Vielschichtigkeit des Gegenstandes deutlich gemacht werden. Das K o r p u s umfaßt literarische, poetologische, philosophische und naturkundliche Texte. Ungeachtet der Unterschiede ihrer disziplinären Z u o r d nung - diese Grenzen sind in dem hier behandelten Zeitraum ohnehin nicht als undurchlässig anzusehen —, werden sie in gleicher Weise als Angebote zur Formulierung und Konzeptualisierung des Tastsinns genutzt. Als solche dokumentieren sie, welche Relevanz die Wahrnehmungstheorie im 17. und 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Bereichen des Wissens hatte und wie sich diese Wissensbereiche überschnitten bzw. gegenseitig beliehen haben. So ist festzuhalten, daß zur Bestimmung epistemologischer, physiologischer und ästhetischer Prozesse gleichermaßen perzeptive Kategorien ins Feld ge1
fuhrt und daß überdies dieselben Konzepte oder Metaphern wechselseitig zwischen den disziplinaren Bereichen getauscht wurden. Welche Rolle in dem Zusammenhang dem Tastsinn zukommt, wird unter bestimmten Aspekten zu betrachten sein. Den Ausgangspunkt folgender Überlegungen bildet Rene Descartes' Schrift Dioptrique, in welcher zur Erklärung des neuzeitlichen Verständnisses des Sehvorgangs an herausragenden Stellen ein Tastvergleich herangezogen wird. Den Abschluß bildet Johann Gottfried Herders Plastik, mithin eine ästhetische Schrift, welche die Kategorie des Tastsinns bzw. Gefühls in den Zusammenhang autonomer Kunstauffassung einzubinden sucht. Der zwischen diesen beiden Texten gespannte historische Bogen umgreift über hundert Jahre, in deren Verlauf die Distinktion zwischen Sehen und Tasten sich einerseits als diskursiver Bezugspunkt verfestigt, andererseits aber auch unterschiedliche Bestimmungen, Auflösungen und Rekombinationen erfahrt. Deutlich wird dies nicht zuletzt daran, daß aus einem zunächst nur optisch und physiologisch determinierten Phänomen schließlich ein ästhetischer Parameter wird. In beiden Fällen aber, bei Descartes wie Herder, ist die Beschreibung des Tastsinns eminent auf die Kategorie des Sehsinns angewiesen und - wie bereits in der Dioptrique nachweisbar - auch umkehrt. Insgesamt läßt sich daher zwischen beiden Sinnen, unabhängig davon, in welcher Weise sie jeweils im einzelnen zusammengedacht werden, eine enge Allianz beobachten. Diese steht im Fokus der Abhandlung, wenngleich sie nicht ausnahmslos auf alle hier berücksichtigten Positionen zutrifft. Auf jeden Fall schafft sie einen Horizont, vor welchem sich auch andere sensorische Allianzen erkennen lassen und die Differenzierung der Sinne in ein Integrationsschema überfuhrt wird. Die vorliegende Arbeit setzt mit dem Befund ein, daß die den Begriffen Tastsinn, Haptik, Taktilität und Gefühl subsumierte Wahrnehmung trotz ihrer semantischen Nähe und eines vielfach auch unterstellten gemeinsamen semantischen Schnittpunktes keine Konstante ergibt. Darin unterscheidet sie sich von vergleichbaren Projekten, die den Phänomen- und Gegenstandsbezug der Tastwahrnehmung zumeist nicht problematisieren, sondern als ebenso klar umrissen wie definiert voraussetzen: William R. Paulson' bespricht den Tastsinn im Zusammenhang mit der Topik der Blindheit, wodurch er ihn jedoch nur als Nebenschauplatz verhandelt. Die Studie ist motivgeschichtlich angeleitet, so daß sie - anders als die nachstehende Untersuchung - wissenshistorische Überlegungen lediglich als Kontextwissen einbezieht, ohne dieses selbst textanalytisch zu beleuchten. Peter Utz2 the1
William R . Paulson, Enlightenment, Romanticism, and the Blind in France, Princeton, N e w Jersey 1987. 2 Peter Utz, Das A u g e und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990. 2
matisiert den Tastbegriff im Zusammenhang mit einer allgemeinen Taxonomie der Sinne. Auch er geht von der Einheit und Identität der haptischen Wahrnehmung aus, wenngleich sich hier durchaus wichtige Hinweise auf emblematische und semantische Verschiebungen finden. Anders als die vorliegende Arbeit konzentriert sich Utz dabei vor allem auf den Zeitraum der sogenannten Goethezeit. Dabei bleiben seine Ausführungen trotz mehrfacher Bezugnahme auf diskursanalytische Begriffe weitgehend auf die Beschreibung sensorischer Motive in literarischen Texten begrenzt. A u c h in dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung, insofern sie strukturelle Verwandtschaften, Wechselwirkungen und Unterschiede zu erfassen sucht. Joachim Gessinger 5 setzt den Akzent auf das Verhältnis zwischen sensorischer und Sprachausbildung. Die Unterscheidung zwischen Sehen und Tasten sieht er in diesem Zusammenhang historisch ab einem bestimmten Zeitpunkt, namentlich ab Mitte des 18. Jahrhunderts, als überholt an. Im folgenden soll die Relevanz der Fragestellung hingegen auch für Texte nach 1750 nachgewiesen werden. Vor allem aber soll eine analytische Lektürearbeit erbracht werden, welche den Überlegungen Gessingers über weite Strecken fehlt. G e o r g Braungart 4 zeigt die A u f w e r t u n g des Tastsinns als eines Leibsinns bei Herder auf. In zweifacher Hinsicht unterscheidet sich die hier vorliegende Untersuchung von Braungarts Position: Einerseits wird der Tastsinn nicht als die andere Seite des Gesichts aufgefaßt. E r steht daher nicht für eine im emphatischen Sinn verstandene unmittelbare Wahrnehmung, sondern wird, wie die Texte des 18. Jahrhunderts verdeutlichen, auch zu diesem Zeitpunkt schon unter medientechnischen Gesichtspunkten reflektiert. Somit ist er nicht nur der Primär- und Präsenzsinn, sondern selbst in physiologische Transformations- und Ubertragungsprozesse eingebunden. Allenfalls läßt sich beobachten, daß der Tastsinn in einer bestimmten diskursiven Konstellation die Funktion eines Beglaubigungsmediums einnimmt. Unter welchen Voraussetzungen eine solche Funktionszuschreibung möglich ist, muß dabei im einzelnen geklärt werden. 5 Andererseits läßt sich
' J o a c h i m Gessinger, A u g e & Ohr. Studien zur E r f o r s c h u n g der Sprache am Menschen. 1700-1850, Berlin/New Y o r k 1994. 4 G e o r g Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, T ü b i n g e n 1995. 1 Mit Nikolaus Wegmann läßt sich in diesem Zusammenhang allgemein festhalten: »Der Anspruch auf eine unmittelbare E r f a h r u n g ist dabei um so bemerkenswerter, als die Hauptlinie der zivilisatorischen Bewegung der Aufklärung einer ganz anderen Richtung folgt. Ungebremst in der Kritik der Tradition und der A u f l ö s u n g des Gewohnten unterminiert der E r f o l g der A u f k l ä r u n g Geltung und Reichweite einer der Erfahrung Kontinuität und selbstverständlich Evidenz gewährenden L e benswelt. Entschieden beschleunigt wird dieser Modernisierungsprozeß durch den strukturellen Wandel der Gesellschaft. D e r irreversible Geltungsgewinn funktionaler Teilsysteme bringt eine bis dahin unbekannte Expansion und Technifizie3
die von Braungart dargelegte >Aufwertung< nicht erst bei Herder festmachen. Ulrike Zeuch 6 wendet sich in ihrer Studie, wie bereits am Titel ablesbar, ausdrücklich dem Tastbegriff zu und durchmustert diesen im Hinblick auf seine philosophische Definitionsgeschichte. Dabei laufen auch ihre Überlegungen auf Herder zu, dessen Bedeutung ähnlich wie bei Braungart mit Hilfe der Kategorien der unmittelbaren Wahrnehmung und Leiblichkeit fundiert wird. Im Gegensatz dazu wird im folgenden zum einen von der Leiblichkeitsemphase Abstand genommen und zum anderen der historische Zeitraum entschieden enger gesteckt, innerhalb dieses Zeitraumes werden jedoch Texte unterschiedlicher diskursiver und disziplinärer Provenienz berücksichtigt. Die philosophische Deutungshoheit soll auf diese Weise relativiert, mithin philosophische Begriffe als Bestandteil eines umfassenderen semantischen Gefuges behandelt werden. Waltraut Naumann-Beyer 7 legt eine kulturanthropologische Studie zur Geschichte der Sinne seit der Antike bis ins 19. Jahrhundert vor. Darin weist sie anhand exemplarischer Textauszüge sowohl die historische Kontingenz der Anzahl der Sinne, ihrer Fünfstelligkeit also, nach als auch die Ambivalenz des Sinnbegriffs selbst. Besonders im Hinblick auf die historisierende Infragestellung der anthropologisch vermeintlich allgemeingültig-unumstößlichen
sensorischen
Kon-
zepte, wie sie sich in der europäischen Kultur durchgesetzt haben, steht ihr die vorliegende Untersuchung nahe, auch wenn sie allein auf die Beobachtung des Tastsinns und dessen Wechselwirkung mit dem Sehsinn begrenzt ist und einen vergleichsweise engen historischen Zeitraum abdeckt. Alle hier referierten Analysen sind für die folgenden Ausführungen von maßgeblicher Bedeutung. Diese unterscheiden sich jedoch von jenen darin, daß sie den Gegenstandsbezug durch genaue Lektüren des zugrundegelegten Textkorpus diskutieren und vor allem als Frage angehen. A u f diese Weise soll gezeigt werden, daß der Tastbegriff nicht allein je nach Position unterschiedlich konzipiert wird, sondern, was schwerer wiegt, sehr Unterschiedliches meint; daß darüber hinaus bereits die einzelnen Begriffe des Tastsinns von einer Mehrdeutigkeit zeugen, welche nicht erst bei Herder erkennbar ist.
6
7
4
rung von Verkehr und Information und schränkt so den alltagsweltlichen Verstehenskreis immer weiter ein. Z u r Regel wird eine E r f a h r u n g , die sich mehr und mehr vom bis dahin Gewohnten als dem scheinbar Unveränderlichen entfernt.« (Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Z u r Geschichte eines G e f ü h l s in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 94) Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Waltraut Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln/Weimar/Wien 2003.
D i e im Z e n t r u m stehenden Bezeichnungen weichen in bezug auf ihre etymologischen Wurzeln, denotativen Festschreibungen und konnotativen B e züge voneinander ab. Haptik ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet dort >greifentactus< und bedeutet >Tastsinntangereberühren< her gedacht und verweist zudem auf das >contingere< der >Kontingenz< und des >Zufallsberührt werden< impliziert. D a r ü b e r hinaus ist Taktilität nicht auf die manuellen Wahrnehmungen und Aktivitäten beschränkt, sondern betrifft die Wahrnehmungsfähigkeit des gesamten K ö r p e r s . D a s G e f ü h l schließlich, welches im deutschsprachigen R a u m des 18. Jahrhunderts die geläufigste Bezeichnung für den Tastsinn darstellt, ist durch eine semantische Geschichte eigener A r t charakterisiert. E s läßt sich erst im frühen 17. Jahrhundert als Tastsinn belegen, hingegen bedeutet es bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich diesen, sondern entfaltet allmählich auch einen psychologischen Verweisungszusammenhang, welcher mit dem heute üblichen Verständnis als innere E m p f i n d u n g übereinstimmt. Was sich somit an der K o n k u r r e n z der Bezeichnungen, ihrer unterschiedlichen Wurzeln und der historischen Veränderung ihrer Semantik abzeichnet, koinzidiert mit den Schwierigkeiten des Sachbezugs. I m G e g e n s a t z zum Gesicht, G e h ö r , G e s c h m a c k und G e ruch herrscht betreffs der B e s t i m m u n g des Tastorgans sowie der v o n ihm hervorgerufenen Wahrnehmungen gravierende Uneinigkeit. Diese aus den unablässigen U m d e u t u n g e n herauszuarbeiten und als historischen E r k e n n t nisgewinn zu behandeln, gehört zum zentralen Anliegen der vorliegenden Abhandlung. Entsprechend der wort- und semantikgeschichtlichen A b w e i c h u n g e n läßt sich auch an der E m b l e m a t i k im U b e r g a n g v o m 17. zum 18. J a h r h u n d e r t just nachdem sich der G e f u h l s b e g r i f f im deutschsprachigen R a u m zur B e zeichnung des Tastsinn eingebürgert hat - die E r w e i t e r u n g der sensorischen Bestimmung des Tastsinns v o n einem aktiven Wahrnehmungsorgan, wie es die Hand als Instrument des G r e i f e n s , Anfassens oder Berührens repräsentiert, zur passiven Wahrnehmungs(ober) fläche ablesen. D e r Tastsinn bzw. das G e f ü h l verweisen somit auch auf die Entstehung v o n E m p f i n d u n g e n , welche nicht durch eine zielgerichtete Handlung* 8
zustande k o m m e n , son-
Bedenkenswert ist an dieser Stelle auch folgendes: »Das platonische Wort für Handwerk ist cheirurgia, und offenbar gilt das dazu Gesagte für den Arzt ebensosehr wie für den Tischler. Cheirurgia ist ein bereits in den Hippokratischen Schriften verwendeter Begriff für die dort als wichtigster Teil der ärztlichen geltende manuelle Tätigkeit.« (Michael Sonntag, Die Zerlegung des Mikrokosmos. Der Körper in der Anatomie des 16. Jahrhunderts, in: Christoph Wulf und Dietmar Kamper [Hg.], Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie, Berlin 2002, S. 239-266, hier S. 260) 5
dern durch Zufiigung einer Berührung hervorgerufen werden und deshalb ein Erleiden konditionieren. Dabei läßt sich an dieser emblematischen Veränderung ein Verweis auf exakt jene Grenze erkennen, an welcher die Psychologie des 20. Jahrhunderts Haptik von Taktilität terminologisch scheidet.9 Gleichsam asymmetrisch zu einer solchen Differenzierung und Spezifikation der Tastempfindung tendiert das 18. Jahrhundert ebenso zur genetischen Entdifferenzierung der Gesamtstruktur der Sinne. Innerhalb dieses Reflexionszusammenhangs gilt das Gefühl als sensorische Voraussetzung, unter welcher die distinkte Vielfalt der übrigen Wahrnehmungen erst möglich wird. Einerseits bezeichnet es nämlich die erste sinnesphysiologische Entwicklungsstufe, weshalb in dieser Hinsicht alle übrigen Sinne aus dem Gefühlssinn erwachsen. Andererseits haftet den ausdifferenzierten Einzelsinnen die Spur ihrer ursprünglichen Genese stets an, so daß sich die sensorische Vielfalt als eine Art pluralisierende Modifikation des Gefühls auffassen läßt. Beide Bewegungen, die systematisch differenzierende und die genetisch entdifferenzierende, werden im folgenden besondere Berücksichtigung erfahren. Von herausragender Bedeutung sind hierbei diejenigen Positionen, welche innerhalb des Gefühlsbegriffs selbst aufgrund eben dieser doppelten Perspektive eine Grenze ziehen müssen.IO In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lex icon von 1735 findet sich unter dem Lemma »Gefühl« folgende Definition: Einer derer fünff äuserlichen Sinne, der sich über den gantzen Leib ausbreitet. Dieser Sinn befindet sich nicht, wie die übrigen Sinne praecise an einem gewissen Theile des Haupts, sondern wo beugsame fibrae vorkommen, da ist auch der Sitz des Fühlens. Wenn man nun die Humores, als welche gar nicht fibral, und die Beine als gar nicht beugsam ausnimmet, so findet man von dem übrigen nichts, was nicht des Fühlen haben solle, obgleich ein Theil mehr empfindlicher ist als der andere." 9
10
In den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts setzt sich in der Psychologie die begriffliche Unterscheidung zwischen Haptik im Sinne eines aktiven motorischen Systems und Taktilität im Sinne eines passiven sensorischen Systems allmählich durch. Diese Unterscheidung gilt heute noch. Siehe dazu Martin Grunwald, Erkenntnistheoretische und historische Aspekte, in: ders. und Lothar Beyer (Hg.), Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung, Basel/Boston/Berlin 2001, S. 1 - 1 4 , hier S. yf.
Siehe dazu Naumann-Beyer: »Daß speziell der Tastsinn mit der Vielfalt seiner Modalitäten wie Wärme, Kälte, Härte, Vibration, Feuchtigkeit, Trockenheit, Klebrigkeit für mehr als einen Sinn gelten muß - diese Uberzeugung hat sich im Verlauf der Erforschung der funktionellen Differenziertheit der Sinne mehr als bestätigt.« (Neumann-Beyer, Anatomie der Sinne, S. ;) Exakt diese Vervielfältigung wird im folgenden an konkreten Beispielen rekonstruiert. " J o h a n n Heinrich Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissen-
6
Zwar wird das Gefühl dem Register der fünf Sinne zugeordnet, sogleich jedoch als Ausnahme innerhalb dieser Ordnung markiert. Denn zum einen breitet es sich >über den ganzen Leib ausEmpfindlichkeitpräzise< bestimmbarer Wirkungsort. In gewisser Weise wird der gesamte Körper zum Gefühlsorgan erklärt, sofern er aus b e u g samen Fibern< besteht. Der Gefühlssinn setzt daher die Elastizität von Fasern voraus. Ausgeschlossen werden aus seinem Wirkungsbereich Knochen sowie alle Flüssigkeiten. Wenn aber, von den genannten Ausnahmen abgesehen, der gesamte >Leib< als Sitz und Wirkungsort des Gefühls gilt, stellt sich sogleich das Problem, wie seine Grenzen gegenüber den übrigen vier Sinnen zu denken sind. Auch wird nicht deutlich, ob und inwiefern sich das Wahrnehmungsorgan des Gefühls nicht bis in den Körperinnenraum hinein erstreckt. Unter der Oberfläche der Haut liegen nämlich, wie die Medizin der Zeit lehrt, weitere unzählige Oberflächen, welche ebenfalls aus elastischen Fasern - den Nerven etwa - bestehen und daher dem Zusammenhang der Gefühlsreizung zugeordnet werden können. Deshalb werden einige der fortan diskutierten Positionen den Sitz und die W i r k u n g des Tastsinns dementsprechend beschreiben. Der Mechanismus des Gefühls »bestehet aber«, so der Lexikoneintrag weiter, darinne, daß der Spiritus, wenn die Fibrae der Haut, und anderer Theile durch einen Contactum angegriffen werden, nothwendig zugleich mit angegriffen werden müssen, und zwar anders von einem kalten, anders vom warmen, harten, weichen, rauchen, glatten, trocknen, feuchten, χ object.11
Der >Kontakt< kennzeichnet die operative Grundbedingung der Entstehung einer Gefühlsempfindung. Nur wenn ein Reiz die erregbaren Fasern berührt und damit einen unmittelbaren Kontakt zwischen Stimulus und Sinnesorgan herstellt, kann eine solche Empfindung hervorgerufen werden. Die Beschreibung dieser Kontaktherstellung, welche sich ihrerseits nicht allein auf die Erzeugung einer Berührungsempfindung bezieht, sondern selbst auch eine Berührung vollzieht, ist indes derart allgemein angelegt, daß sie - vor allem unter dem neuronalen Paradigma - bei der Entstehung aller Empfindungen wirksam ist. Das bedeutet aber, daß nicht nur das Gefühl - tactus durch einen >Kontakt< entsteht, sondern daß sich sämtliche E m p f i n d u n g e n
12
Schäften und Künste, Bd. 10, Halle/Leipzig 1 7 3 ; , Photomechanischer Nachdruck, Graz 1961, Sp. 2225. Ebd. 7
nach diesem Modell beschreiben und daher letztlich auf eine taktile Grundoperation zurückführen lassen. Auch an dieser Bestimmung wird die generalisierende Tendenz der Taktilität - als Operation und Metapher - deutlich. Sie ist eine Variante des mechanischen Druck-und-Stoß-Modells, mit welchem physikalische Prozesse als Berührungen einzelner Korpuskeln oder Teilchen umschrieben und der Beobachtung prinzipiell jeder Veränderung zugrundegelegt werden. Deutlich wird an obigem Zitat aus Zedlers Universal-Lexicon, daß der Haut zwar eine wichtige Funktion bei der Hervorbringung der Gefühlsempfindung zukommt, gleichwohl aber keine exklusive, wie der Nachsatz >und anderer Teile< betont. Von der Hand oder den Fingerspitzen, d. h. denjenigen Körpergliedern, auf welche sich die meisten Beschreibungen und Darstellungen des Tastsinns in der Aufklärung noch konzentrieren, ist hier hingegen überhaupt keine Rede. Was aber bedeutet Haut in dieser Zeit? Erst an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert wird sie sich als ein autonomes Körperorgan medizinisch etablieren und die Notwendigkeit eines spezialisierten Wissenszweigs mit sich bringen. 13 Bis dahin gilt sie weitgehend als mit Offnungen und Poren übersäter Leibüberzug, welcher Innen und Außen weniger trennt, als verbindet. Allein die Annahme von kleinen Wärzchen - Papillen - , welche auf ihrer Oberfläche als Nervenenden identifiziert werden, weist darauf hin, daß auch die Haut seit dem frühen 18. Jahrhundert bereits an der neuronalen Umstellung partizipiert. Sie ist mithin zweifach determiniert: sowohl ein neuronal aufnehmendes Organ als auch humoraler Durchgang. Im ersten Fall kann sie gemäß der Lexikondefinition Kontakte erzeugen und Gefühlsempfindungen auslösen, im zweiten Fall jedoch wird sie aus dem Wirkungsbereich des Gefühls ausdrücklich ausgeschlossen. Denn Flüssigkeiten können nicht fühlen. Für die im folgenden zu besprechenden Texte ist zudem ausschlaggebend, daß die Benennung der Haut als Tastorgan in der Aufklärung auf Schwierigkeiten anderer Art stößt. Sie spielt in den konkreten Beschreibungen vor allem dort eine Rolle, wo sie durch Kleider oder Gewänder substituiert wird.' 4 Sie wird gewissermaßen ex negativo thematisch, nämlich
'' Siehe dazu Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. E i n Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1991 sowie Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999. 14 Vgl. dazu Anne Hollander, Seeinig through Clothes, N e w Y o r k 1 9 7 ; . Nacktheit und damit die bloßgelegte Haut wird, wie Duden in bezug auf Anne Hollanders Studie festhält, historisch dargestellt: »Das Erlebnis des nackten Körpers hat also eine Geschichte, die durch seine Bekleidung metaphorisch sichtbar wird. In diesen dinglichen - stofflichen - Metaphern verkörpert sich das Selbstbild jeder Epoche.« (Duden, Geschichte unter der Haut, S. 65) 8
dann, wenn sie verhüllt wird. Dieser Ersetzungsbewegung wird in unterschiedlichen Kontexten ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Im Denis Diderot-Kapitel werden Kleider als eine Art Medium zur Regulierung der Empfindung konzipiert. In entwicklungsphysiologischer Hinsicht reflektieren Jean-Jacques Rousseau und Georges-Louis Leclerc Buffon die Bedekkung der Haut und fassen sie, wie schon Diderot, als Behinderungsmoment der taktilen Operation auf. Schließlich zeigt sich an Herders Plastik, welche ästhetischen Abgrenzungsprobleme anhand der Gewänder und Kleider beobachtet werden können. Sie konstituieren nämlich den Grenzfall einer Ästhetik, welche sich dem Gefühl verschreibt und als solche die Substitution der Hautdarstellung durch Kleider zwar zu unterlassen auffordert, gleichwohl aber auf einer anderen Ebene selbst dieser Aufforderung nicht nachzukommen vermag.
Zum Aufbau der Arbeit Die vorliegende Studie setzt im ersten Kapitel mit der Analyse von drei für die philosophische Frühaufklärung einschlägigen Positionen zum Thema ein: Rene Descartes, John Locke und George Berkeley. Anhand von Descartes' Dioptrique wird rekonstruiert, wie hier Sehen physikalisch als ein Vorgang der Lichtbrechung und physiologisch als neuronaler Mechanismus erklärt wird. Vor allem aber wird in diesem Zusammenhang der Metapher des Taststocks und ihrer Bedeutung im Rahmen der Argumentation nachgegangen. Einerseits knüpft Descartes an die antike Tradition an, in welcher Sehen und Tasten gleichsam analog gedacht wurden.' 5 Andererseits jedoch dienen seine Ausführungen gerade der Abgrenzung gegenüber dieser Tradition und ihren optischen Konzepten. Entscheidend ist daher, daß Descartes zwar rhetorisch an der Analogie von Sehen und Tasten festhält, um mit ihr allerdings konzeptuell eine Unterscheidung und einen Unterschied zu der diese Analogie in Anspruch nehmenden antiken Tradition zu markieren. So läßt sich bereits an diesem Text verdeutlichen, wie die für die folgenden Untersuchungen konstitutive Seh-/Tast-Allianz als zentrales Motiv bestätigt und als eine Differenzierungsvorlage etabliert, zugleich jedoch auch in bezug auf die Grenzen ihrer Tragfähigkeit offengelegt wird. Die Aufklärung interessiert sich für die Beschreibung und Untersuchung des Sehsinns nach Maßgabe seiner medientechnischen Aufrüstung, wozu '' Siehe dazu Michel Authier, Die Geschichte der Brechung und Descartes' »vergessene Quellen« in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1994, S. 445-486, hier S. 449.
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bereits D e s c a r t e s ' Taststock zu r e c h n e n ist. D i e E i g e n d e t e r m i n i e r t h e i t sow o h l der visuellen W a h r n e h m u n g als auch der o p t i s c h e n T e c h n i k e n wird auf diese Weise in d e n Blick g e n o m m e n . U m f a s s e n d w i d m e t sich v o r allem das zweite Kapitel diesem P u n k t . E s weist a n h a n d v o n Christian Wolffs mik r o s k o p i s c h e n Versuchsdarstellungen nach, wie sich das Sehen g e g e n ü b e r a n d e r e n Sinnen in der N a t u r f o r s c h u n g ausdifferenziert u n d welche D o m i n a n z bzw. Exklusivität es dabei erlangt. Z u g l e i c h wird es aber systematisch in seiner K o n s t r u k t i v i t ä t u n d T ä u s c h u n g s a n f ä l l i g k e i t beleuchtet. J e d o c h auch hier, w o der W a h r n e h m u n g s b e r e i c h des H a p t i s c h e n u n d Taktilen ausgesperrt zu sein scheint, i n d e m die m i k r o s k o p i s c h e N a t u r f o r s c h u n g eine K o n z e n t r a t i o n auf die L e i s t u n g e n des A u g e s e i n f o r d e r t , lassen sich auf u n terschiedlichen E b e n e n S p u r e n u n d Indizien des Tastbaren e r k e n n e n . B e g r ü n d e t die N a t u r f o r s c h u n g ein Privileg des Sehsinns, so setzt D i d e r o t diesem das Privileg des Tastsinns e n t g e g e n . I m Vergleich zu den z u v o r behandelten Positionen läßt sich im dritten Kapitel an D i d e r o t s Lettre sur les aveugles eine k o n s e q u e n t e A u s d i f f e r e n z i e r u n g der Sehen/Tasten-Unterscheid u n g aufzeigen. I n s o f e r n er diese U n t e r s c h e i d u n g seinen A u s f ü h r u n g e n als zentrale Voraussetzung implementiert, schließt er an die z u v o r e r ö r t e r t e n Positionen - auch im Hinblick auf die m e d i e n t h e o r e t i s c h e Perspektive - an. J e d o c h radikalisiert er sie derart, d a ß er die beiden Seiten schließlich als k a u m ineinander übersetzbar herausstellt. N i c h t ihre Ä h n l i c h k e i t e n , sond e r n ihre bis in die sprachliche S t r u k t u r hinein w i r k s a m e n D i f f e r e n z e n bilden d e n K e r n der Reflexion in D i d e r o t s Text. D e s s e n Zielsetzung aber besteht im Versuch, die E i g e n t ü m l i c h k e i t der T a s t w a h r n e h m u n g d u r c h A u s schlußkriterien, v o r allen g e g e n ü b e r d e m Sehsinn, zu erfassen. D i e im vierten Kapitel diskutierten Ansätze veranschaulichen eine zun e h m e n d e A b k o p p l u n g des Tastbegriffs v o m Sehbegriff. B a r t h o l d Heinrich Brockes setzt in seiner B e s c h r e i b u n g der >fünf Sinne< zwar beide in eine b e s o n d e r e N ä h e zueinander u n d weist sie überdies in der S t r u k t u r des G e dichts auch an p r o m i n e n t e n Stellen aus. J e d o c h f ü h r t er ihre Differenzier u n g n o c h einen entscheidenden Schritt weiter, i n d e m er sie nicht n u r als zwei verschiedene Sinne innerhalb einer O r d n u n g aufeinander bezieht, sondern mit i h n e n zugleich auch zwei unterschiedliche O r d n u n g s p r i n z i p i e n festlegt. D a s G e f ü h l gilt dabei als ein Sinn, welcher die genetische O r d n u n g sowohl b e g r ü n d e t als auch repräsentiert. A n G e o r g Friedrich Meier, der das G e f ü h l s o r g a n ausdrücklich in d e n N e r v e n zu e r k e n n e n meint, u n d J o h a n n G o t t l o b K r ü g e r , der das G e f ü h l am S c h n i t t p u n k t des psycho-physischen I n f l u x u s ansiedelt, wird dargestellt, welche Wechselwirkungen zwischen physischen u n d organischen Prozessen auf der einen u n d d e m G e f ü h l auf der a n d e r e n Seite das 18. J a h r h u n d e r t a n n i m m t . I n d e m es dabei z u m I n d i k a t o r des o r g a n i s c h e n Lebensvollzugs wird, gibt das G e f ü h l eine A n t w o r t auf die zu d e m Z e i t p u n k t virulent io
werdende Frage nach der Beobachtbarkeit und Bestimmbarkeit des Lebens selbst. In diesem Kapitel wird deutlich, daß sich das Gefühl im Zuge der Umstellung von mechanischen auf organische Erklärungsmodelle von seiner Bedeutung als eine bloße Sinneswahrnehmung zu einer übergreifenden genetischen Kategorie wandelt. Das fünfte Kapitel macht einen Schnitt. Es wendet sich dem poetologischen Konzept der Rührung zu, indem es dieses aus der Logik der Berührung heraus liest und erklärt. Dabei zeichnet es nach, wie Johann Jacob Breitinger die Sprache als rührungserzeugendes Kommunikationsmedium konzipiert weshalb auch diesbezüglich die medientheoretische Perspektive fortgesetzt wird - und Gotthold Ephraim Lessing diesen Ansatz in seiner Auffassung des Mitleids weiter entwickelt. An Johann Jacob Bodmers Poetik wird zudem auf einer anderen, die metaphorische Dimension der Ausführungen betreffenden Ebene die Einbeziehung sensorischer Kategorien nachgewiesen. Schließlich wird das grundsätzliche Problem des Verhältnisses zwischen ästhetischen Begriffen und den Sinnen reflektiert und anhand von Lessings Emilia Galotti auch in der kommunikativen Performanz dieses Textes veranschaulicht. Das sechste Kapitel greift in gewisser Weise die Überlegungen des vierten wieder auf. Denn auch dieses bespricht die Wahrnehmungssinne und ihre Operationen in bezug auf den organischen Körper, deren Bestandteil sie sind. Dabei zeichnen sich die hier untersuchten Positionen durch das Interesse an der körperlichen Entwicklung und dem damit zusammenhängenden Problem des Wachstums aus. Die Frage nach der Struktur und Differenz der Sinne stellt sich nun in besonderer Weise: Rousseau, Bodmer und Buffon, die drei zentralen Referenzen dieses Kapitels, beantworten sie jeweils unterschiedlich, gleichwohl aber dahingehend miteinander vergleichbar, daß sie die Entfaltung der Sinnesvermögen in Abhängigkeit zur physischen Entwicklungsfähigkeit der Sinneswerkzeuge sowie als einen Organisationszusammenhang mit internen Wechselwirkungen denken. Im Zuge einer solchen organischen Grundlegung der Wahrnehmungssinne läßt sich des weiteren auch eine allgemeine Umwertung epistemologischer Kriterien konstatieren, welche nicht zuletzt in einer Umdeutung des bis dahin am Sehsinn ausgerichteten Evidenzverständnisses zum Tragen kommt. Das siebte Kapitel ist Etienne Bonnot de Condillac gewidmet. Es macht deutlich, in welchem Maße die interne Organisation der Sinne sowohl in ihrem Aufbau als auch in ihrer Funktionsstruktur differenziert werden kann. In seinem Tratte des sensations faßt Condillac zum einen die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geführten Diskussionen über die Wahrnehmungssinne zusammen und veranschaulicht damit, wie ausdifferenziert das wahrnehmungstheoretische Feld geworden ist, zum anderen weist er 11
nach, welche komplexen Prozesse sich perzeptiv unterhalb der Kognitionsebene ereignen. Entscheidend für die Fragestellung des Tastsinns ist der ihm in dieser Schrift zugewiesene Status eines Fremdreferenzmediums. Im letzten Kapitel dieser Schrift werden drei Texte von Herder in einer detaillierten Lektüre hinsichtlich der Frage nach den Konzepten des Tastsinns analysiert. Nicht nur wird hier der Tast- bzw. Gefühlsbegriff in seiner Ambivalenz und daher als Referent unterschiedlicher thematischer Bezüge reflektiert. Vielmehr ist die perspektivische Ausrichtung der Texte so vielschichtig angelegt, daß zunächst die Theorie der Sinne in einen onto- und phylogenetischen Rahmen eingebunden wird, aus welchem heraus sich ihr anthropologischer Stellenwert dann erst erschließen läßt. Überdies gehen die Texte auf die sensorische Problematik der Sprache sowie der Ästhetik ein. Sie nehmen schließlich die Differenz der Sinne wie auch ihre genetische Dimension, welche hier mit der Kategorie des Gefühls belegt ist, in den Blick. In gewisser Weise wird von Herder die bis dahin im Nebeneinander der einzelnen Positionen vorgeführte Vielfalt der Aspekte und Bezüge in der Beobachtung der Sinne sowohl gebündelt als auch zugespitzt. Vor allem in dieser Hinsicht hat das letzte Kapitel einen resümierenden Charakter. Dabei zeichnet sich Herders Wahrnehmungstheorie gegenüber den zuvor behandelten Positionen dadurch aus, daß sie sich nicht nur thesenhaft, wenn überhaupt, zu lesen gibt, sondern auch als ein textuelles Ereignis entwickelt, durch welches fast alle in Anschlag gebrachten Unterscheidungskategorien stets wieder zurückgenommen und in ihrer Aussage verwandelt, ja sogar umgekehrt werden können. Deutlicher als in den übrigen Texten läßt sich bei Herder deshalb ein - zumal performativ nachvollziehbares - Wissen um die Kontingenz der von ihm gebrauchten sensorischen Unterscheidungswerte nachweisen, auf welche er nichtsdestoweniger nicht zu verzichten vermag; welche er vielmehr sehr forciert an neuralgischen Punkten seiner Argumentation anbringt. Dieser Befund erfordert die Anwendung eines Lektüreverfahrens, das solchen Textbewegungen gerecht werden kann und auf dessen Grundlage erst die theoretische Position zu formulieren ist. Dies in Rechnung gestellt, wird sich erweisen, daß Herder das Gefühl gerade nicht wie in der Forschung verbreitet - als eine primäre, die Erfahrung der Unmittelbarkeit garantierende Empfindung konzipiert. Ganz im Gegenteil führt er die Unmöglichkeit einer solchen Auffassung vor und setzt, wie ich zeigen werde, die in dieser Studie fokussierte medientechnische Perspektive konsequent fort.
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I. Zur Allianz zwischen Sehen und Tasten in der Philosophie der Frühaufklärung
i. Der Taststock und >das mikroskopische Augec Descartes und Locke Lichtbrechung und Repräsentation Den Ausgangspunkt folgender Überlegungen bildet Rene Descartes' 1637 — in der Erstausgabe noch anonym - erschienener Text Dioptrique' und damit die These einer partiellen Übereinstimmung des Seh- mit dem Tastsinn. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang erstens, daß die Beschreibung des Gesichtssinns und seiner Funktionsweise aus einer analogen Vergleichbarkeit mit dem Tastsinn erfolgt, weshalb umgekehrt auch der Tastsinn als Analogon des Sehsinns verstanden wird. Damit wird eine Entscheidung getroffen, welche konzeptuelle Konsequenzen für beide Seiten dieses Duals nach sich zieht. Dargelegt werden soll jedoch auch, daß die Analogie zwischen Sehen und Tasten nur bedingt veranschlagt und in eben dieser Bedingtheit vom Text bedacht wird. Zweitens macht die Abhandlung deutlich, wie problematisch die Theorie der Wahrnehmung im 17. Jahrhundert geworden ist, insofern sie von einfachen Abbildungsprozessen auf komplexe Repräsentationsprozesse umstellt. Das bedeutet, daß Wahrnehmung die wahrgenommenen Gegenstände nicht mehr nur wiedergibt, sondern nach spezifischen physikalisch und physiologisch differenzierten Gesetzen vielmehr konstruiert. Vor dem Hintergrund einer solchen wissenshistorischen Zäsur soll drittens auch die sprachliche Strategie des Textes im Umgang mit dem Repräsentationsproblem der Wahrnehmung untersucht werden. Von Interesse ist dabei, anhand welcher formalen bzw. rhetorischen Mittel er die Mechanismen visueller Wahrnehmung erklärt und welche ihm eigene Repräsentationsstruktur er somit offenlegt. Auch J o h n L o c k e und G e o r g e Berkeley reflektieren die Beziehung zwischen Sehen und Tasten. Beide stellen deren besonderen epistemologischen 1
E r erscheint als dritter Teil des Discours de la methode und bildet zusammen mit der >Meteorologie< und der >Geometrie< Descartes' erstes Hauptwerk. Im folgenden wird der Text nach der separat erschienenen, ins Deutsche übersetzten A u s g a b e zitiert: Rene Descartes, Dioptrik, übers, von Gertrud Leisegang, Meisenheim am Glan 1954.
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Status heraus. Während ersterer sie im Rahmen der sogenannten MolyneuxFrage auf Ubereinstimmungen und Unterschiede hin betrachtet und dabei wie Descartes einen Bereich analoger Wahrnehmungseindrücke registriert, erklärt sich letzterer für ein anderes Modell. Berkeley geht nämlich von der zwischen sprachlichen Zeichen und ihren Bedeutungen bestehenden Arbitrarität aus und wendet sie auf die Beziehung zwischen tastbaren und sichtbaren Eindrücken an. Dies ermöglicht es ihm, auch unter der Prämisse unbedingter Differenz beide Sinneswahrnehmungen dennoch eng miteinander zu verschränken. Nimmt Locke eine zumindest teilweise Analogie zwischen Sehen und Tasten an, so verdeutlicht Berkeley, wie eine Wechselwirkung zwischen beiden Wahrnehmungsformen, deren Erkenntnisse und Erkenntnisbereiche ihm als grundlegend verschieden gelten, konzipiert werden kann. Descartes führt seine Überlegungen zur Dioptrik unter dem didaktischen Vorsatz aus, 2 »jedermann verständlich zu sein und nichts wegzulassen noch vorauszusetzen, was man von den Wissenschaften dazu wissen muss.«' Im Gegensatz zur Katoptrik, der Lehre von der Reflexion, bezeichnet Dioptrik die Lehre von der Refraktion des Lichts. 4 Spiegelung und Brechung, so die Opposition, implizieren aber weit mehr als zwei konträre optische Prinzipien, verweisen sie doch auf eine übergreifende kulturhistorische Ordnung, deren Bestandteil sie sind. Klammert die Katoptrik das alteuropäische, bis in die Renaissance hinein wirksame Wahrnehmungsmodell ein, dessen Prämisse im Abbild gegeben ist, so bricht diese in der Dioptrik förmlich auf. An dieser Bruchstelle koppelt sich der Wahrnehmungsprozeß vom wahrgenommenen Gegenstand ab. Dessen Bild ist kein Abbild mehr,' sondern 2
Das unterscheidet diesen Text etwa von Descartes' Meditationen, die in lateinischer Sprache geschrieben wurden, um eine populäre Verbreitung gerade zu verhindern. ' Descartes, Dioptrik, S. 70. 4 Dieses Verständnis der Dioptrik geht auf Kepler zurück. Kepler hat nicht nur die geradlinig v o m Objekt zum A u g e verlaufenden Strahlen, sondern auch die gebrochenen berücksichtigt und für den Sehvorgang als zentral nachgewiesen. »Wenn man das Strahlendurcheinander im A u g e nicht dadurch beseitigen kann, daß man die meisten Strahlen einfach übergeht, dann kann man es nur dadurch vermeiden, daß man den Strahlungsweg so zeichnet, daß alle von einem Punkt des Gesichtsfeldes ausgehenden Strahlen wieder in einem einzigen Punkt des Auges gebündelt werden.« (David C. Lindberg, A u g e und Licht im Mittelalter. Die E n t wicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt am Main 1987, S. 358) ' »Die Katoptrik, als die Lehre von der Spiegelreflexion, hat ihre modellbildende Wirkung an die Dioptrik abgetreten. Ursprung der pictura ist nicht mehr das narzißtische Spiegelbild, welches die Renaissance-Künstler immer wieder gemalt hatten, sondern das im Wortsinne von revolutio auf den K o p f gestellte Projektionsbild in der Augenhöhle. E b e n dies ist die optische Revolution der Dioptrik.« (Peter Bexte, Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrnehmung in der K u n s t des 17. Jahrhunderts, Amsterdam/Dresden 1999, S. 23) 14
das Produkt eines komplexen perzeptiven Mechanismus, an welchem sich physikalische und physiologische Vorgänge kreuzen. 6 Da sie das Paradigma einer haptischen Funktion der Lichtstrahlen nicht anerkennt, wonach die Wahrnehmungsbilder v o n den wahrzunehmenden Gegenständen einfach abgestreift und als Reflexionen an das Wahrnehmungssubjekt bzw. -organ weitergegeben werden können, behandelt die Dioptrik gerade diese Weiterleitung als ein Problem, das sie als physikalischphysiologische Wissenschaft auf zwei Schnittstellen verteilt: dorthin, w o das Licht auf das A u g e trifft und dorthin, wo die Bilder des A u g e s an das Gehirn weitergegeben werden. In beiden Fällen rückt ein von Unterbrechungen gezeichneter Ubertragungsprozeß ins Zentrum der A u f m e r k s a m keit. Dabei manifestiert sich an der Frage, wie Wahrnehmung erklärt werden kann, wenn sie sich nicht nach dem Schema der Abbildung auf die Gegenstände zurückbezieht, ein übergreifender Umschlag von der - mit Foucault formuliert - Ähnlichkeits- zur Repräsentationsepisteme. 7 A u f dem Spiel steht daher nicht allein eine optische Theorie, sondern mit ihr auch eine zuvor ubiquitär auffindbare Ähnlichkeit, die nicht nur die D i n g e in eine sich gleichmäßig verkettende Beziehung zueinander setzte, sondern ebenso die Dinge und die sie wahrnehmenden Menschen: »Das Ähnliche«, schreibt Foucault, »umhüllt das Ähnliche, das jenes seinerseits umgibt, und vielleicht wird es neuerlich umhüllt durch eine Reduplizierung, die sich bis ins Unendliche fortzusetzen vermag.« 8 Unter der Prämisse der - im vollen Sinn 6
Anthropologiehistorisch ausgedrückt: »Die Sinne erscheinen nun eher als Filter, weniger als Einlaßtore der Realität. Die Basisgröße der neueren Sinnesphysiologie ist die kontingente Sensation, nicht das Bild. Und so pflanzen sich die Informationen der Außenwelt nicht mehr in der Geschlossenheit eidetischer Ganzheiten ins Innere fort, sondern werden in >unteranschauliche< Komponenten zerlegt, die sich erst im imaginativen Prozeß zu Anschauung verbinden.« (Albrecht K o s c h o r ke, Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik, in: Joseph Vogl [Hg.], Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 1 9 - 5 2 , hier S. 34)
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S o auch Roland Borgards: »Descartes Beitrag zur physio- und neurologischen Bestimmung des Sehens läßt sich somit als Teil der historischen Formation beschreiben, die Michel Foucault das >klassische Zeitalter< genannt und als deren verbindliche Figur er die Stellvertretung, die Repräsentation herausgearbeitet hat.« (Roland Borgards, Die Wissenschaft v o m Auge und die Kunst des Sehens. Von Descartes zu Soemmerring, von Lessing zu A. W. Schlegel, in: T h o m a s L a n g e und Harald Neumeyer [Hg.], K u n s t und Wissenschaft um 1800, Würzburg 2000, S. 39-62, hier S. 42) Während Borgards jedoch die Kette der Repräsentation ausdrücklich als einen reibungs- und verlustlosen Prozeß bestimmt, möchte ich hingegen die andere Seite desselben Vorgangs hervorheben, d. h. nicht die Identitäten, sondern die Differenzen innerhalb der Unterscheidung von Identität und Differenz.
" Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers, von Ulrich K o p p e n , Frankfurt am Main 1974, S. 50.
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verstandenen - >Brechung< wird es fortan unmöglich, Sichtbares physikalisch wie physiologisch als Enthüllung v o n Ähnlichkeiten zu denken. A n statt Eingehülltes aufzufalten und freizulegen, verhandelt die dioptrische Theorie des Sehens Identitäten und Unterschiede. 9 Sie erkennt partielle Überschneidungen, wenn sie etwa die Brechung der Lichtstrahlen mit den physiologischen Prozessen im A u g e vergleicht, stets aber grenzt sie den Gegenstand von seinem sowohl im A u g e als auch im Gehirn erzeugten Projektionsbild ab. D a ich hier nun keine andere Veranlassung habe, v o m Lichte zu sprechen, als nur die, zu erklären, wie seine Strahlen in das A u g e eintreten und wie sie durch die verschiedenen Körper, denen sie begegnen, abgelenkt werden, brauche ich nicht auf die wahre Natur des Lichtes einzugehen, und ich glaube, dass es genügt, wenn ich mich zweier oder dreier Vergleiche bediene, die dazu verhelfen, sie so zu verstehen, wie es mir am bequemsten erscheint, um von allen Eigenschaften des Lichtes die zu erklären, die uns das Experiment erkennen lässt. Daraus sollen dann alle die anderen Eigenschaften abgeleitet werden, die nicht so leicht zu beobachten sind.' 0
Die Ablenkung der Lichtstrahlen >durch die verschiedenen Körper, denen sie begegnen/ interessiert hier. Losgelöst von dem Anspruch, >die wahre Natur des Lichts< bestimmen zu wollen, geht es ausschließlich um eine modellhafte Erklärung seiner Funktion als Medium visueller Wahrnehmung. D a f ü r wird es in Strahlen zerlegt und auf seinem Durchgang von den Gegenständen zum A u g e nicht nur wissenschaftlich beschrieben, sondern auch im Modus des Vergleichs dargestellt. E r , Descartes, werde sich >zweier oder dreier Vergleiche bedienen, um von allen Eigenschaften des Lichtes die zu erklären, die uns das Experiment erkennen läßt.< D a die Sprache des Experiments erklärungsbedürftig ist, muß das, was es >uns erkennen läßtwie< immer auch eine, 2umindest partielle, Ähnlichkeit diagnostizieren muß - , kann im Rahmen einer L o g i k der Repräsentation nicht ausschließlich dem Aufdecken von sich unendlich fortpflanzenden Ebenbildern dienen. Sie legt vielmehr auch die Unterschiede fest. Zwischen der Unsichtbarkeit >der L u f t und den anderen durchsichtigen Körpern< einerseits sowie dem Blindenstock andererseits wird in diesem Sinn eine unüberbrückbare Diskrepanz konzediert. Somit aber bestätigt Descartes Keplers Bestimmung des Sehens unter der Prämisse der Dioptrik, welche sich gerade gegen haptische Vorstellungen wendet, wie sie im Bild des Stocks oder der Hand evoziert werden. 18 Die Spezifik der Lichtmaterie - ihre Feinheit und ihre Transparenz läßt den Vergleich mit einem Blindenstock letztlich als ungeeignet erscheinen. Dennoch führt Descartes ihn ein und zitiert mit ihm eine bis in die Antike zurückreichende Tradition an, welche von den Atomisten ausging und Sehvorgänge bzw. sogar alle Wahrnehmungen nach dem Vorbild des Tastens verstand.' 9 Wenn Descartes sich auf diese Tradition bezieht, indem er sie in einen seiner drei Vergleiche aufnimmt, dann schließt er zwar an sie an, zumindest unter bestimmten Gesichtspunkten. Jedoch dient ihm der Einsatz seines Vergleichs dazu, sich von eben dieser Tradition gerade abzusetzen.
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Lindberg referiert Keplers Kritik an solchen Modellen: »Darüber hinaus sei es unannehmbar, das Sehen als eine spezielle F o r m des Tastens aufzufassen; Licht und Farbe sind, da sie >in einem Augenblick ins A u g e dringen, viel zu fein, als daß sie von einer körperlichen Haut durch Berührung empfunden werden könnten.Es ist ihnen sicher schon einmal vorgekommen«. Das blinde Vorwärtstasten markiert keinen Ausnahmezustand, denn es bezieht sich auf keine dauerhafte Störung, sondern auf einen vorübergehenden Vorfall, welcher jedem jederzeit zustoßen kann. Erst in einem zweiten Schritt wird Descartes auf Blindgeborene zu sprechen kommen. Bemerkenswert ist dabei die Verknüpfung dieser alltäglichen nächtlichen Erfahrung mit dem Stock. Als sei ein solcher stets verfügbar und ein Tasten mit bloßen Händen nicht möglich, wird so die von ihm auf Distanz gehaltene »Vermittlung« ins Spiel gebracht. Zur Veranschaulichung der Lichtbrechung bedarf es nämlich eines Mediums, das den unmittelbaren Kontakt zwischen den Sinnesorganen und den Wahrnehmungsobjekten durch Zwischenschaltung eines anderen >Körpersder umfassendste und edelste< Sinn überbietet das Auge die Wahrnehmungsleistungen der Hand jedoch. Sehen gilt als Maßstab aller Wahrnehmungen, so daß im Umkehrschluß Tasten auch eine Art von Sehen ist, wenngleich ohne Augen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, den Ausfall der Augen auszugleichen. Aber funktioniert es auch umgekehrt? Vermag das Auge die Leistungen des Tastsinns ebenfalls mitzubedienen, d. h. die Gegenstände zu berühren? 24 Descartes stellt sich dieser Frage nicht explizit, gleichwohl beantwortet er sie auf der rhetorischen Funktionsebene seines Textes. Schließlich wird dem kurzzeitig Erblindeten, vor allem jedoch dem anschließend thematisierten Blindgeborenen als einer der drei Vergleichsfiguren angetragen, den Mechanismus des Sehens in ein Tasten mit dem Blindenstock zu übersetzen. Er soll veranschaulichen, wie sich Sehen dioptrisch als Tastvorgang beschreiben läßt. In der Rangordnung der Sinne gilt der Tastsinn hingegen lediglich als ein abgeleitetes Sehen, dessen Funktion darin besteht, dieses zu unterstützen. So widersprechen sich in Descartes' Text das anthropologische Argument und die rhetorische Darstellung gegenseitig. Anthropologisch wird das Sehen dem Tasten vorgeordnet. Es ist mit ihm zugleich derart verbunden, daß der Ausfall des Gesichtssinns keinen kompletten Verlust der visuellen Orientierung bedeutet, denn diese wird auch vom Tasten abgedeckt. Rhetorisch aber figuriert das stockgestützte Tasten als Metapher, als Modell des Sehens. Nahtlos an die Erfahrung der temporären Blindheit bei Nacht anschließend, folgt ein Passus über Blindgeborene. So wechselt Descartes' Perspektive von einer kurzzeitigen Sehunfähigkeit, die jeder kennt, zu einem dauerhaften Augenleiden: »Doch beachten Sie einmal Menschen, die von Geburt an blind sind. Sie bedienen sich des Stockes ihr ganzes Leben lang und man kann beobachten wie vollkommen und genau sie, man könnte geradezu 24
Jonathan Crary faßt die Wahrnehmungstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts unter dem Rubrum der Analogiemodelle zusammen, in welchen der Gesichts- und Tastsinn einander entsprechend beschrieben werden: »Von Descartes über Berkeley bis zu Diderot wird das Sehen in Analogie zum Tastsinn verstanden.« (Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996, S. 67) Z w a r besteht in diesem hundertjährigen Zeitraum ein besonderes Interesse an der Beurteilung und Problematisierung der Beziehung beider Sinne, eine Analogie läßt sich dabei allerdings weder bei Berkeley noch bei Diderot nachweisen. Bereits Descartes gibt sie spätestens an dem Punkt auf, w o er die Insuffizienz seines ersten Vergleiches zur Sprache bringt. Des weiteren gilt es zu berücksichtigen, daß das Ergebnis einer solchen Analogie unterschiedlich ausfallen kann, je nachdem, ob das Sehen aus dem Vergleich mit einem Taststock oder der bloßen Hand heraus entfaltet wird. 21
sagen >mit den H ä n d e n sehenGeradezu< ausgedrückten Eingrenzung dieses Ersetzungsverhältnisses interessiert. 27
Mag das Auge auch als der >umfassendste< und >edelste< Sinn bezeichnet werden, so spricht Descartes ihm dennoch Vollkommenheit ab. A b einer bestimmten Distanz zwischen Auge und Wahrnehmungsgegenstand ist das Sehvermögen nämlich auf Unterstützung von technischen Instrumenten angewiesen. »Die Erfindungen, die seine Fähigkeit vergrössern, sind zweifellos die nützlichsten, die es geben kann. Und es dürfte schwer sein, noch eine zu finden, die die Fähigkeiten des Auges mehr verstärkt, als die neuen wunderbaren Fernrohre, die seit kurzem im Gebrauch sind.« (Descartes, Dioptrik, S. 69) 28 Eine Prothese, die auch im Sinne der ihr im Text zugewiesenen rhetorischen Funktion als Vergleichsbeispiel verstanden werden kann: »Wenn es [das Beispiel, Ν. B.] wie auf Rollen geht, dann vielleicht, weil es sonst aufgrund einer inneren Gebrechlichkeit der These, die danach verlangt, durch eine Prothese gestützt zu werden beziehungsweise den Fortgang in der Darlegung nur mit Hilfe eines Rollstuhls oder eines Kinderwagens garantiert, nicht so gut geht.« (Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, übers, von Michael Wetzel, Wien 1992, S. 101)
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a u f g r a d u e l l e U n t e r s c h e i d u n g e n setzt; in w e l c h e r G l e i c h e s u n d U n t e r s c h i e denes zusammenlaufen können. Wie aber funktioniert der Vergleich zwischen d e m Blinden, der
seine
U m g e b u n g mittels eines S t o c k s ertastet, u n d d e m Sehen? Hier wollen wir nun einen Vergleich ziehen. Denken Sie sich, das Licht eines leuchtenden Körpers sei nichts anderes als eine gewisse Bewegung oder eine sehr schnelle und lebhafte R e g u n g , die unser A u g e durch die Vermittlung der L u f t und anderer durchsichtiger K ö r p e r ebenso erreicht, wie Bewegung oder Verharren der K ö r p e r dem Blinden durch die Vermittlung des Stockes bekannt werden. [...] Denn Sie wissen, dass die B e w e g u n g , in die man das eine E n d e des Stockes versetzt, in einem Augenblick auf das andere E n d e übertragen wird, selbst wenn ein so grosser Abstand wie der von der Erde zum Himmel dazwischen ist. [...] Daraus lässt sich schliessen, dass es nicht nötig ist anzunehmen, dass irgendetwas Materielles von den Gegenständen in unser A u g e kommt, um uns Farbe und Licht sehen zu lassen. J a es braucht an den Gegenständen nichts zu geben, was unseren Vorstellungen oder Wahrnehmungen, die wir von ihnen haben, ähnlich ist. E s geht ja auch nichts von den K ö r p e r n aus, die der Blinde mit Hilfe seines Stockes fühlt, und ihr Widerstand und ihre B e w e g u n g , die allein die Ursache der E m p f i n d u n g e n sind, die er von ihnen hat, haben keine Ähnlichkeit mit den Vorstellungen, die er sich von ihnen bildet. 2 ' D a s v o n der L u f t sowie v o n anderen >durchsichtigen Körpern
es n i c h t n ö t i g a n z u n e h m e n ,
d a ß i r g e n d e t w a s M a t e r i e l l e s v o n d e n G e g e n s t ä n d e n in u n s e r A u g e k o m m t < . D i e I n f o r m a t i o n e n d e r I m p u l s e u n d die E i g e n s c h a f t e n des standes m ü s s e n
durch
keine
materielle
Bezugsgegen-
Ähnlichkeitsbeziehung
bestimmt
sein. 19
Descartes, Dioptrik, S. 71. Crary kategorisiert die Schwelle v o m 18. zum 19. Jahrhundert wie folgt: »Wurde das Sehen zuvor - wie etwa in Goethes Farbenlehre - noch als eine E r f a h r u n g von Eigenschaften verstanden, so geht es nun um die E r f a h r u n g von Unterschieden in der Quantität, um die Tatsache, daß Empfindungen stärker oder schwächer sein können. Diese neue Bewertung v o n Wahrnehmung aber, die Vernichtung des Qualitativen in der Sinneswahrnehmung durch die arithmetische Homogenisierung, ist ein zentraler Bestandteil der Moderne.« (Crary, Techniken des Betrachters, S. 150) A b e r bereits bei Descartes werden die Eigenschaften auf Quantitäten der wahrgenommenen Gegenstände über Intensitätsgrade des Drucks und über die Häufigkeit der Stöße zurückgeführt. D i e auf diese Weise entstehenden Vorstellungen restituieren die Eigenschaften der Gegenstände nicht, sie formen vielmehr autonome, d. h. von der Außenwelt abgelöste Wahrnehmungsbilder.
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Jeder einzelne Impuls setzt eine gleichsam atemporale Temporalität voraus, die es ermöglicht, räumliche Distanzen, >selbst wenn ein so grosser Abstand wie der von der Erde zum Himmel dazwischen istVermittlung< und mit ihr die Distanz zwischen dem Wahrnehmungssinn und seinem Bezugsgegenstand, sondern das durch die Durchlässigkeit der aufnehmenden Materien ermöglichte Eindringen des Lichts wird im Bild der Poren dargestellt und dabei in gewisser Weise an die traditionelle Auffassung der Hautfunktion angeschlossen. Im Ball-Beispiel wird indes die Unmittelbarkeit des Aufeinanderstoßens der Lichtstrahlen mit dem Gegenstand thematisiert. Damit aber wird die Tastkategorie in einer anderen Form relevant. Zwar weicht das Vergleichsbild des Blindenstocks nun einem Ball, mithin einer Form, die von der räumlichen Distanz auf ein punktuelles Zusammentreffen umstellt. Jedoch wandert die bereits vom Taststock angezeigte Haptik auch in diese Vergleichsformen wieder ein, nämlich dort, wo der Ball den Gegenstand berührt, von dem er zurückgeworfen wird. Mit der Verweisung auf die Pore in einer Kufe und den geworfenen Ball scheint der Blindenstock fürs erste ausgedient zu haben. Als Vergleich aus dem rhetorischen Textzusammenhang verabschiedet, taucht er jedoch als Illustration in der Dioptrique wieder auf (Abb. i). Im Vergleich zu seiner Darstellung im Text läßt er dabei eine signifikante Modifikation sichtbar werden.' 6 Er ist keine Stütze mehr, mit welcher sich ein Blinder seine Umgebung ertastet, sondern ein Winkelmesser, der aus zwei kurzen Blindenstöcken bzw. aus einem durchgebrochenen zusammengesetzt erscheint. 57 bis zu uns ausbreitet. Dieser feine Stoff kann mit dem Wein in der K u f e verglichen werden, und die grösseren weniger feinen Teile wie die Luft und andere durchsichtige Körper entsprechen den Trauben, die dazwischen liegen. [...] Bedenken Sie nun, dass es nicht so sehr die Bewegung der leuchtenden Körper ist, als vielmehr die Tendenz zur Bewegung, die man als ihr Licht betrachten muss, so können Sie sich denken, dass die Strahlen dieses Lichtes nichts anderes sind, als die Richtung dieser Tendenz. So wie es unendlich viele solche Strahlen gibt, die von allen Punkten der leuchtenden Körper nach den beleuchteten gehen, so können sie sich unendlich viele Gerade vorstellen, die von allen Punkten der Oberfläche des Weines C D E ausgehen und nach Α streben« (ebd., S. 72f.). " »Die Lichtstrahlen werden ebenso wie der Ball abgelenkt, wenn sie die Oberfläche eines durchsichtigen Körpers schräg treffen, durch den sie mehr oder weniger leicht hindurchgehen, als durch den Körper, aus dem sie gerade kommen. Diese Art der Ablenkung bezeichnet man als Brechung.« (Ebd., S. 76) ' 6 Ebd., S. 102. Zur Lektüre dieser Begleitillustration siehe Bexte, Blinde Seher, S. 83ff. 57 »Der Mann trägt [...] zwei Stöcke, in jeder Hand einen. Ihre Länge entspricht etwa 2
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Auf diese Weise wird der von den Händen des Blinden gehaltene Gegenstand nicht einfach ausgetauscht, die Prothese nicht von einem Meßinstrument ersetzt. Die Illustration versucht vielmehr, beide miteinander zu verbinden und somit die unterschiedlichen Argumente des Textes zu komprimieren. Zunächst wird die Kontaktstelle, an der ein Stockende auf einen Gegenstand stößt, mittels Abb. 1 eines zweiten Stocks zu einem Winkel geformt. Als sollte die Transparenz der >Luft und der anderen durchsichtigen Körper< visualisiert werden, gehen von den Winkelkanten zwei gepunktete Linien ab, mit denen der Winkel spiegelverkehrt wieder geöffnet wird. An diesem Kreuzungspunkt 5 8 berühren sich nicht nur die beiden Blindenstöcke, sondern auch ein von der durchgezogenen Linie markierter Winkel mit einem gepunkteten. Ein als Geometer ausgewiesener Blinder trägt dieses Instrument vor sich. So wird der Blindenstock von einer einfachen, sich zwischen der Hand des Blinden und den Oberflächen der ihn umgebenden Gegenstände erstreckenden Geraden über einen Winkel zu einer Kreuzstellung umdefiniert, die keine Fühlung mehr mit dem Boden Nur noch die zwei Taststöcke sowie deren gepunktete Verlängerungen berühren einander. Im Winkelmesser selbst ist eine, gleichsam interne, Kontaktstelle, die die unterschiedlichen Linien, durchgezogene wie gepunktete, einem drittel seiner Körpergröße, so daß sie als Blindenstöcke zur Betastung des Bodens gänzlich ungeeignet wären. [...] Das Gesicht des Mannes ist nicht auf diesen körpernahen Punkt gerichtet, sondern der Ferne zugewandt. Eben diese Diskrepanz der Sinne kennzeichnet ihn als Blinden. Die Stöcke sind demnach als Blindenstöcke zu bezeichnen, denen jedoch aus drei Gründen besondere Bedeutung beizumessen ist. Erstens sind sie - wie bereits bemerkt - zu kurz, um die übliche Funktion eines Blindenstocks zu erfüllen und den Boden zu betasten. Zweitens hat der Illustrator sie über ihre Berührungsstelle hinaus durch gepunktete Linien ins Imaginäre verlängert; hierdurch wird der Berührungspunkt zum Schnittpunkt zweier Geraden. Und drittens sind die wesentlichen Punkte dieser sich schneidenden Geraden mit Buchstaben versehen: Die Linie A D kreuzt die Linie BC im Schnittpunkt E. [...] Der antikisierende Blinde mit Hund und ins Gedachte verlängerten Stöcken wird sich im folgenden als Geometer erweisen.« (Ebd., S. 83f.) 18
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Dieser Chiasmus läßt sich seinerseits als das Projektionsmodell der camera obscura lesen, welche Kepler wählt, um mit ihrer Hilfe das Prinzip der Dioptrik zu erklären.
zusammenhält. Der Taststock-Vergleich wird abstrahiert, insofern hier das materielle Instrument durch eine in der Punktierung symbolisierte immaterielle Beziehung zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung ersetzt wird. Die Lichtstrahlen, mag ihnen in Descartes' Beschreibung das alte Modell der Taststöcke noch zum Teil innewohnen, werden in der Illustration nahezu einer vollständigen Auflösung unterzogen. Der einzige Außenkontakt des Winkelmessers sind nämlich die Hände des blinden Geometers, von denen er gehalten wird. Diese von jeder Bodenhaftung getrennte Winkelkonstruktion kann ihm zwar keine unmittelbare Orientierung im Raum gewähren, sie soll ihm aber die Ausführung von geometrischen Vermessungen und Berechnungen ermöglichen. Ihre Bedeutung erschließt sich aus dem Textverlauf, in welchem sie als Grundlage für den Bau von Ferngläsern eingeführt wird. Diese funktionieren ihrerseits wiederum als eine Art Verlängerung des Taststocks. Sie sorgen allerdings nicht mehr für eine Berührung der unmittelbar umliegenden Gegenstände, sondern schaffen einen visuellen Kontakt zu den makrokosmischen. Eine genaue Bauanleitung dieser »Hilfsmittel [...] zur Vervollkommnung des Sehens«39 findet sich in den letzten vier Kapiteln der Dioptrique. Das mikroskopische Auge Etwa sechzig Jahre nach dem Erscheinen von Descartes' Dioptrique wendet sich auch John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding dem Verhältnis von Sehen und Tasten zu. Insofern Locke beide ausschließlich als Sinneswahrnehmungen behandelt, siedelt er sie auf derselben Funktionsebene seiner Überlegungen an. Dort werden sie nicht wie bei Descartes als Trope und Argument, als Vergleich und Verglichenes aufeinander bezogen; Sehen und Tasten dienen Locke als zwei perzeptive Operationen, die miteinander verglichen, d. h. auf bestehende Identitäten und Differenzen geprüft werden. Zwar bewertet auch Descartes die Leistung beider Sinne unterschiedlich, wenn er das Auge als den >umfassendsten< und >edelsten< auszeichnet; zwar zieht auch er aus dieser Bewertung erkenntnistheoretische Konsequenzen, durch welche der Tast- und der Gesichtssinn als Medien zur Erzeugung unterschiedlicher Wahrnehmungsqualitäten bestimmt werden. Im Hinblick auf die, in einer anderen seiner Hauptschriften formulierte grundsätzliche Einsicht jedoch, »daß ja selbst die Körper nicht eigentlich durch die Sinne oder durch die Einbildungskraft, sondern einzig und allein durch den Verstand erkannt werden, nicht dadurch, daß man sie betastet oder sieht, sondern daß man sie denkt«, 40 erscheint eine sensorische Spezi39 40
Descartes, Dioptrik, S. 109. Rene Descartes, Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grund27
fikation der W a h r n e h m u n g v o n zweitrangiger B e d e u t u n g . S o geht es deshalb auch in der Dioptrique v o r allem u m die physikalische und p h y s i o l o gische S c h i l d e r u n g des S e h v o r g a n g s , nicht j e d o c h u m die gleichsam psyc h o l o g i s c h e B e f r a g u n g seiner R e l e v a n z f ü r die E r k e n n t n i s des Subjekts. H i n g e g e n konstituiert sich das Interesse an sinnlichen W a h r n e h m u n g s p r o zessen in L o c k e s A b h a n d l u n g in einem ungleich dringlicheren
Ausmaß,
f u h r t er d o c h auf der Basis seines empiristischen Ansatzes die B i l d u n g v o n Ideen auf besondere Sinnesleistungen zurück. Sensorische Distinktionen rufen danach intellektuelle D i s t i n k t i o n e n und mit ihnen intellektuelle L e i s t u n g überhaupt h e r v o r . Wenn er im Essay Concerning Human Understanding auf das bald darauf z u m T o p o s g e w o r d e n e M o l y n e u x - P r o b l e m zu sprechen kommt, 4 1 dann geht er die D i f f e r e n z i e r u n g zwischen Sehen und Tasten zunächst einmal h y p o thetisch an. 42 Descartes hat die K o n v e r t i b i l i t ä t des Tastens in die O r d n u n g des Sehens vorausgesetzt, weshalb er das fehlende S e h v e r m ö g e n mittels des Tastens als restituiert denken konnte. L o c k e kehrt dieses Verhältnis im A n -
lagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hg. von Lüder Gäbe, lateinisch-deutsch, Hamburg '1992, S. 59. 41 »Zur Erläuterung des Gesagten möchte ich hier ein Problem des höchst scharfsinnigen und eifrigen Förderers realer Erkenntnis, des gelehrten und vortrefflichen Herrn Molyneux einschalten; er war so gütig, mir dies vor einigen Monaten brieflich mitzuteilen. Es handelt sich um folgendes: Denken wir uns einen Blindgeborenen, der jetzt erwachsen ist und mit dem Tastsinn zwischen einem Würfel und einer Kugel von gleichem Metall und annähernd gleicher Größe hat unterscheiden lernen, so daß er bei Berührung der beiden Gegenstände zu sagen vermag, welches der Würfel und welches die Kugel sei. Nehmen wir weiter an, Würfel und Kugel würden auf einen Tisch gestellt und der Blinde würde sehend, so fragt es sich nun, ob er nur durch den Gesichtssinn, schon vor der Berührung der Gegenstände, Kugel und Würfel unterscheidet und angeben könnte, welches die Kugel und welches der Würfel sei. Der scharfsinnige und einsichtsvolle Fragesteller beantwortet die Frage mit nein.« (John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand [1689], auf C. Wincklers Ubersetzung beruhende Neuausgabe, Hamburg '2000, S. 162) An der Diskussion dieser Frage haben sich u. a. auch Gottfried Wilhelm Leibniz in den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Voltaire in Elements de Philosophie de Newton sowie die in dieser Arbeit behandelten Berkeley, Diderot und Condillac beteiligt. Erwähnt sei auch Jean-Bernhard Merians Sur le probleme de Molyneux, eine Abhandlung, welche in vier Teilen zwischen 1770 und 1774 in den Nouveaux Memoires de l'Academie Royale de Sciences et Belles-Lettres erschienen ist. Noch Hermann von Helmholtz wird in seiner Physiologischen Optik (1856) auf diesen Fall zu sprechen kommen. Siehe dazu Forschungsliteratur vor allem: John W. Davis, The Molyneux Problem, in: Journal of the History of Ideas X X I , 3 (1960), S. 392-408; William R. Paulson, Enlightenment, Romanticism, and the Blind in France, Princeton, New Jersey 1987. 42
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Was hier noch als Spekulation dargestellt wird, kann ab 1728, als dem Chirurgen William Cheselden die Operation des Grauen Stars an einem blindgeborenen vierzehnjährigen Jungen gelingt, faktisch bescheinigt werden.
schluß an die Frage Molyneux' hingegen um, denn er fragt danach, ob sich die Eindrücke des Tastsinns in Wahrnehmungen des Sehsinns übertragen lassen. Dabei spürt er der Ubersetzbarkeit des Sehens in die Ordnung des Tastens überhaupt erst nach. Er setzt seine Überlegungen nicht nur unter ein anderes Vorzeichen als Descartes, sondern problematisiert die Beziehung zwischen Sehen und Tasten auch grundlegender. Ziel ist es, eine Taxonomie abzustecken, in welcher unterschiedliche Sinne spezifiziert und zueinander in Beziehung gebracht werden. So sollen die jeweiligen Grenzen bestimmt, dann aber auch alle möglichen Kombinationen und Koordinationen erforscht werden. Obwohl unterschiedliche Wahrnehmungen gleichermaßen für die Entstehung derselben Vorstellungen Verantwortung tragen können, so daß sich ihre Leistungen an diesem besonderen Punkt überschneiden, gehen sie dennoch nie vollständig ineinander auf. Denn jede Sinneswahrnehmung unterscheidet sich trotz partieller Gemeinsamkeiten von den übrigen erheblich. Die hypothetische Frage Molyneux', ob ein Blindgeborener, dem der Gesichtssinn später gegeben wird, einen Würfel von einer Kugel visuell unterscheiden kann, entgegnet Locke daher prinzipiell bejahend, aber mit nachdrücklicher Einschränkung. Denn das Auge, so seine Uberzeugung, müsse erst lernen, seine Wahrnehmungen mit den Eindrükken des Tastsinns zu verknüpfen. Mit der Lernkategorie wird aber ein Problembezug hergestellt, zu welchem Descartes aufgrund seiner modellhaften Darstellung des Funktionsmechanismus keinen Zugang hatte. Die Sinneswahrnehmungen rücken hier in eine Perspektive, in welcher sie als sich entwickelnde und aufeinander erst abzustimmende Vermögen reflektiert werden. Sehen und Tasten, vor allem aber ihre Wechselwirkung, unterliegen also einem Lernprozeß. Auch ich bin der Meinung, daß der Blinde auf den ersten Blick nicht mit Sicherheit würde sagen können, welches die Kugel, welches der Würfel sei, solange er sie nur sähe, obwohl er sie nach erfolgter Berührung untrüglich namhaft machen und infolge der Verschiedenheit der erfühlten Gestalt mit Sicherheit unterscheiden könnte.4'
Obschon sie einen engen, durch einen gemeinsamen Ideenbereich44 gekennzeichneten sensorischen Verbund bilden, haben Sehen und Tasten darüber hinaus verschiedene Zuständigkeiten. Sie versehen diese gemeinsamen Ideen mit unterschiedlichen (sekundären) Qualitäten, der Tastsinn mit Festigkeit, 4
' Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, S. ι6ζΐ. »Die Ideen, die wir durch mehr als einen Sinn erhalten, sind die des Raumes oder der Ausdehnung, der Gestalt, der Ruhe und der Bewegung-, denn diese machen sowohl auf den Gesichts- als auch den Tastsinn wahrnehmbare Eindrücke; wir können sowohl durch Sehen wie durch Fühlen die Ideen der Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und Ruhe von Körpern gewinnen und unserem Geist zuführen.« (Ebd., S. 137) Berkeley wird eine solche Ideenkongruenz später vehement bestreiten.
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der Gesichtssinn mit Farben etwa. In einer gegenseitigen komplementären Verwiesenheit vervollständigen sie so eine Idee. 4 ' Sie fugen damit einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand zu einer Einheit zusammen, die unter Wahrung ihrer Identität Modifikationen der Wahrnehmung zuläßt. Das Molyneux-Problem zentriert den Vergleich zwischen dem Gesichtsund Tastsinn auf die Wahrnehmung zweier geometrischer Figuren. 46 Mit Würfel und Kugel wird das Spektrum der Eindrücke auf Bestimmungen begrenzt, welche die räumlichen Eigenschaften betreffen und sowohl haptisch als auch visuell zugänglich sind. Weder Farben noch Eigenschaften der Materialbeschaffenheit oder Temperatur wären geeignet, um den Transfer von der Tast- zur Gesichtswahrnehmung zu befragen. Daß der Blindgeborene nach Erlangung seines Sehvermögens mit der Zeit auch mit dem Auge einen Würfel von einer Kugel unterscheiden kann, mehr noch, daß er visuell die zuerst nur haptisch gewonnenen Eindrücke wiedererkennt, liegt an der Voraussetzung eines teilweise vorhandenen gemeinsamen Ideenspektrums beider Sinne. Wie aber stehen die Wahrnehmungsgegenstände grundsätzlich zu den Wahrnehmungsprozessen? Wie Descartes bestätigt auch Locke den Verlust der Ähnlichkeit zwischen einem Bezugsgegenstand und dessen Wahrnehmungseindruck, wenn er zwischen dem Ergebnis der Perzeption in unserer Vorstellung und den primä45
Ζ. B. die Idee der »Gestalt«: »Festgestellt wird sie durch den Tastsinn bei sinnlich wahrnehmbaren Körpern, deren Außenflächen für uns erreichbar sind; das Auge entnimmt sie sowohl den Körpern wie den Farben, deren Umrisse in sein Gesichtsfeld fallen. Es beobachtet dabei, wie die äußeren Flächen endigen, entweder in geraden Linien, die sich in erkennbaren Winkeln schneiden, oder in gekrümmten Linien, bei denen keine Winkel wahrzunehmen sind; betrachtet es ihr gegenseitiges Verhältnis an allen Teilen der Außenfläche eines Körpers oder Raumes, so gewinnt es dadurch die Idee, die wir Gestalt nennen, die dem Geist eine unendliche Mannigfaltigkeit bietet.« (Ebd., S. 192)
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»Das alte Problem von Molineux - die Frage, ob ein von Geburt an Blinder, dem das Augenlicht durch eine Operation geschenkt wird, mit seinem neuerworbenen Sehvermögen einen Würfel und eine Kugel zu erkennen vermag, die er zuvor mit den Fingern durchaus zu unterscheiden verstand - , dieses Problem ist eher eine Frage an die Geometrie der Sehenden als an die Erkenntnistheorie. Warum hat man das Experiment nicht mit einer Nachtigall oder einem Fliederzweig, einem Smaragd oder einem Samtrock durchgeführt, die tatsächlich existieren, statt mit abstrakten Körpern, die es in der Realität gar nicht gibt? [...] Geben Sie einem Blinden eine Eisenkugel und einen Pflasterstein in die Hand; dann wird er die kontinuierlichen Deformationen, die Risse und Singularitäten mit der Hand ertasten, und er wird Sie sehr bald fragen, ob Sie in der Lage sind, den Unterschied zwischen einer Eisenkugel und einem geometrischen Würfel und einem Pflasterstein mit den Augen zu erkennen. Und er wird Ihr Scheitern mit einem Schmunzeln quittieren.« (Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1998, S. 107)
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ren Eigenschaften der Gegenstände eine strikte Uneinholbarkeit konstatiert. D e n n die Vorstellung bzw. Idee, die wir uns von einem Gegenstand machen, ist nur ein Produkt unseres Sinnesapparates, während sich die den wahrgenommenen Gegenständen immanenten Eigenschaften (primäre Qualitäten) ausschließlich in den kleinsten, der menschlichen Wahrnehmung jedoch unzugänglichen Teilchen bzw. Korpuskeln
finden.
Da unsere Sinne nicht ausreichen, um Größe, Textur und Gestalt der kleinsten Teilchen der Körper, worauf ihre tatsächliche Beschaffenheit und Eigenart beruht, zu ermitteln, sind wir genötigt, von ihren sekundären Qualitäten als den charakteristischen Kennzeichen und Merkmalen Gebrauch zu machen, um mit deren Hilfe in unserem Geist Ideen von ihnen zu bilden und sie voneinander zu unterscheiden.47 Menschliche Wahrnehmung, haptische wie visuelle, funktioniert demnach wie eine unendliche Substituierung von Eigenschaften. E s gelingt ihr daher nicht, die tatsächliche Beschaffenheit und Eigenart< der K ö r p e r zu aktualisieren. Sie bringt an ihnen ausschließlich >sekundäre Qualitäten hervor, während ihre > tatsächliche Beschaffenheit
in den >primären
Qualitäten
gleichsam unzugänglich eingekapselt ist. D e r Verlust der Ähnlichkeitsepisteme wird hier in einer besonderen Variante greifbar, heißt es doch: »daß die Ideen der primären Qualitäten der Körper Ebenbilder der letzteren sind und daß ihre Urbilder in den K ö r p e r n selbst real existieren, während die durch die sekundären Qualitäten in uns erzeugten Ideen mit den K ö r p e r n überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen.« 48 D a m i t spricht sich L o c k e gegen eine Wahrnehmung der Ähnlichkeit aus, indem er sie auf die begrenzte Kapazität des menschlichen Wahrnehmungsapparates zurückfuhrt. Mit der Unterteilung in primäre und sekundäre Qualitäten gelingt es ihm jedoch, die Episteme der vergangenen historischen O r d n u n g in gewisser Weise zu konservieren, wenn er die >Ebenbilder< der D i n g e in ihren Korpuskeln verortet. Sie lassen sich allerdings nicht einfach enthüllen, denn sie sind erkenntnistheoretisch schlichtweg uneinholbar. Indes besteht in der technischen Aufrüstung der Sinne eine Möglichkeit, diese Barriere zu überwinden. D e n n mit Hilfe eines Mikroskops wird das Auge in die L a g e versetzt, wenn schon nicht bis auf die Schicht der primären Qualitäten vorzustoßen, so zumindest die Auflösung der sekundären zu beobachten. Was sich uns jetzt als gelbe Farbe des Goldes darstellt, würde verschwinden; statt dessen würden wir eine bewundernswerte Textur von Teilen von bestimmter Größe und Gestalt erblicken. [...] Das Blut erscheint dem bloßen Auge ganz rot; unter einem guten Mikroskop aber, in dem auch seine kleineren Bestandteile sichtbar 47 48
Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, S. 372. Ebd., S. 150. 31
werden, zeigen sich nur einige wenige rote Kügelchen, die in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwimmen; wie diese roten Kügelchen erscheinen würden, wenn wir Gläser hätten, die sie in tausendfacher oder zehntausendfacher Vergrößerung zeigen würden, ist ungewiß.49
Wenn sich bei Locke die Freilegung der primären Qualitäten als Abzug der Farben und als Sichtbarwerdung einer bewundernswerten Textur< - »admirable texture«'0 - konkretisiert, 5 ' dann erteilt er vor allem solchen Ahnlichkeitskonzepten eine Absage, welche auf dem Maßstab strikter Symmetrie aufbauen oder geometrisch fundiert sind. Auch wenn das Blut unter dem Mikroskop rote Kügelchen aufweist, d. h. aus geometrisch beschreibbaren Teilchen besteht, wird diese Wahrnehmung reflexiv sogleich relativiert. >Wie diese roten Kügelchen erscheinen würden, wenn wir Gläser hätten, die sie in tausendfacher oder zehntausendfacher Vergrößerung zeigen würden, ist ungewiß.< Was sich im Zustand der Auflösung der sekundären Qualitäten zu erkennen gibt, reduziert die perzeptive Vielfalt auf abstrakte Strukturen ohne Ähnlichkeit mit jener Erscheinungsform, in welche die Alltagserfahrung sie hüllt. So wird dem Mikroskop eine herausragende epistemologische Relevanz zugeschrieben, wenn er die Rückerstattung der zwischen den Gegenständen und ihren Wahrnehmungen verlorengegangenen Ähnlichkeit zumindest in Aussicht stellt:' z Eine Ähnlichkeit jedoch, die sich schon deswegen von ihrer ursprünglichen Bedeutung gravierend unterscheidet, weil sie sich nicht im Modus eines Wiedererkennens vertrauter Formen ereignet." Das mikroskopisch Freigelegte mag den >Ebenbildern< der Gegen49
Ebd., S. 3 7 4 f . '"John Locke, Essay Concerning Human Understanding, edited by Mary Whiton Calkins, Illinois 1962, S. 202. 11 Dabei handelt es sich bei der Textur - auch in der Verbindung mit dem Attribut >bewundernswert< - um einen »Ausdruck«, wie Lutz Danneberg festhält, »der im 17. Jahrhundert [ä]ußerst beliebt ist, um [...] Struktur-Eigenschaften der Natur zu umschreiben« (Lutz Danneberg, Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers, Berlin/New York 2003, S. 34). Der >Text< löst dabei die Metapher des >Buchs der Natur< ab. 11 Rainer Specht weist darauf hin, daß Locke auf der Grundlage seiner Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften zwei perzeptive Codesysteme entwirft, welche gleichwohl aber ineinander übersetzbar sind. »Er unterscheidet also zwei Sprachen, von denen die eine sekundäre Qualitäten beschreibt, »sofern sie in unserem Geiste sindmikroskopischen Auges< ist aggressiver konnotiert, denn es m u ß die Oberfläche verletzen, u m in die >Grundtextur< einzudringen." Für einen Stock, wie er bei Descartes zuerst als Instrument zur distanzüberbrückenden Vermittlung der Perzeption dient und dann zu einem überkreuz verlängerten Winkelmesser gebrochen bzw. verdoppelt wird, ist zwischen diesem >eindringenden< A u g e und der >Textur< kein Platz. Der Abstand zwischen ihnen scheint nämlich vollständig aufgehoben. Die korpuskulare >Grundtexturbewundernswert< attribuiert wird. Eine solche >Textur< tritt in ein Verhältnis größter Abweichung zur natürlich wahrnehmbaren Welt. 60 Was sie sichtbar macht, ist mit Hilfe der herkömmlichen Beschreibungskategorien nur mühsam zu erfassen. Die roten Kügelchen im Blut figurieren zwar als geometrisch beschreibbare Formationen, bei stärkeren mikroskopischen Linsen - das wurde von Locke zumindest hypothetisch erwogen - könnten auch sie sich auflösen. An diesem Punkt aber wird die Geometrie in der Konsequenz der Überlegung als Leitwissenschaft, als übergreifendes Bezugs- und Ordnungssystem entmachtet. Was das m i k r o skopische Auge< sieht, läßt sich nicht mit Hilfe von Winkeln oder Kugeln und ihren Funktionen bestimmen. Lockes Beschreibung des m i k r o s k o p i schen Auges< läuft weder auf Vermittlung noch auf Vermessung hinaus. Sie " Locke, Essay Concerning Human Understanding, S. 204. » Ebd. 59 Vgl. dazu die Ausführungen von Danneberg, Säkularisierung in den Wissenschaften, S. 27off. Hinzuzufügen ist zudem, daß das Englische >to penetrate< auch die figurative Bedeutung von >ergründen< hat. Sie ist hier in der sensorischen Ausrichtung der >eigentlichen< Bedeutung unbedingt impliziert. 60 Ein solcher Texturbegriff kann daher nicht als Rekurs auf die von Foucault unter der episteme des 16. Jahrhunderts subsumierte Tradition betrachtet werden, in welcher die Welt als ein universeller, bruchlos aufeinander verweisender Text begriffen wurde. (Siehe dazu Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 66ff.) Denn die Mikroskopie stellt gerade den Verlust übergreifender Analogiebeziehungen heraus. 34
unterscheidet nicht Unterschiede und Identitäten, sondern vermischt 61 die Funktion des Sehens mit Eigenschaften der Tasterfahrung. Die Grenzen zwischen beiden Sinneswahrnehmungen werden dabei diffus. Das Mikroskop dient mithin nicht zur Steigerung des Sehvermögens. Es rückt das Sichtbare vielmehr so nahe an das Auge heran, daß beide eine Art unmittelbare Fühlung miteinander aufnehmen. Dem über eine räumliche Distanz erfolgten Empfang von Widerstandssignalen, die bei Descartes von einem zum anderen Stockende, sodann über die Hand zum Gehirn weitergeleitet werden und in dieser Weise auch die Wahrnehmung des Auges mit Hilfe der Lichtstrahlen repräsentieren, stellt das >mikroskopische Auge< eine Verbindung von Technik und menschlicher Sinneswahrnehmung gegenüber, die das gewohnte räumliche Kontinuum auflöst; der - teleskopischen62 - Fernsicht eine mikroskopische Nahsicht. Das Fernrohr verstärkt nach Descartes' Darstellung die Sehkraft lediglich, nach Lockes Darstellung verändert das Mikroskop sie hingegen. 6 ' Hier ist nicht nur die Distanz zwischen dem Wahrnehmungssubjekt und seinem Gegenstand geschwunden, auch die zwischen Technik und Auge. Vom Abtasten kompakter Oberflächen, wie bei Descartes, lenkt Locke auf nicht mehr geometrisch erfaßbare Texturen um, welche sich anders als die Lichtbrechung weder berechnen noch ausmessen lassen. Die von einem Mikroskop ermöglichte Kontiguität zwischen Auge und Gegenstand hat dabei zur Folge, daß sich dieser selbst aufzulösen beginnt. Physiologie des Sehens Zuerst erklärt Descartes den Sehvorgang physikalisch, dann wendet er sich auch den physiologischen Vorgängen im Auge zu. Es soll deutlich werden, wie im Inneren des Körpers die das dioptrische Modell kennzeichnenden Unterbrechungen unter Bezugnahme auf die Nervenstränge ausgeglichen werden. Der Blinde, von dem wir oben sprachen, berührt mit einem Stock die Gegenstände. Dabei ist gewiss, dass die Körper nichts anderes zu ihm senden. Sie bewegen 6
' In diesem Sinn siehe Serres: »Die Mitte, abstrakt, dicht, homogen, nahezu stabil, ist Konzentration; Mischung bedeutet Fluktuation. Die Mitte ist Bestandteil der Geometrie der Körper, wie man das früher einmal nannte; die Mischung begünstigt Verschmelzung, sie zielt auf Verflüssigung ab. Die Mitte trennt, die Mischung mildert ab; die Mitte bringt Klassen hervor, die Mischung Bastarde.« (Serres, Die fünf Sinne, S. 103) Aufgrund des präsumierten räumlichen Kontinuums werden die uns unmittelbar umgebenden Gegenstände nach demselben Schema gesehen und erkannt wie weit entfernte Himmelskörper mit dem Fernrohr. 6j Siehe zu den damit implizierten Medienkonzepten Kap. III. 35
nur seinen Stock, je nach den verschiedenen Eigenschaften, die sie besitzen. Dadurch erregen sie die Nerven seiner Hand und schliesslich die Stelle des Gehirns, von der diese Nerven ausgehen. Das veranlasst die Seele dazu, genauso viele Eigenschaften dieser Körper zu fühlen, wie es verschiedene Bewegungen gibt, die hierdurch im Gehirn hervorgebracht werden.64
Nachdem sich das Beispiel zur Erklärung der Dioptrik als nicht hinreichend erwies, tritt der >Blinde, von dem wir oben sprachen In diesem Sinn hebt Foucault »die gemeinsame Zugehörigkeit der Sachen und der Sprache zur Repräsentation« hervor. »Sie existiert aber als Aufgabe nur insoweit, als die Dinge und die Sprache getrennt sind. Sie wird also jene Distanz reduzieren müssen, um die Sprache dem Blick sehr nahe zu bringen und die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken.« (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 173)
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Um Sehen physiologisch zu erkunden, muß das Auge - Zielort der von außen kommenden Impulse und integrativer Bestandteil des Körperinneren - seziert werden. Der Beobachter muß, dem >mikroskopischen Auge< vergleichbar, in das Innere des Auges eindringen, um so dessen Mechanismus zu ergründen.66 Denn es gilt, >Gewißheit< darüber zu gewinnen, wie die externen Impulse im Auge verarbeitet und weitergereicht werden, um daraus entsprechende Konsequenzen für die Konstruktion von optischen Hilfsmitteln abzuleiten. Daher braucht man, weil die Natur uns nicht die Mittel da2u gegeben hat, sie aus grösserer Nähe als in einem Abstand von einem oder einem halben Fuss zu erkennen, um das durch Kunst erreichbare hinzu zu tun, nur ein Glas dazwischen zu setzen.67
Die Welt besteht aus festen Körpern, deren Oberflächen dem Taststock Widerstand bieten. >Dadurch erregen sie die Nerven der Hand und schließlich die Stelle des Gehirns, von der diese Nerven ausgehend Unter dem zerlegenden Auge des Anatomen manifestiert sich der Körperinnenraum als eine neuronal durchzogene Struktur zur Übertragung mechanischer Impulse. Wahrnehmung vollzieht sich demnach über eine Schnittstelle, an welcher wahrnehmbare Körper, die nach Licht, Farbe, Lage, Abstand, Größe und Form68 unterschieden werden, auf ein wahrnehmendes Subjekt treffen, so daß eine Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Funktionszusammenhängen69 entsteht. Inwiefern aber läßt sich der Übergang von dem physikalischen zum physiologischen Zusammenhang mittels des Stockexempels 66
Das >mikroskopische Auge< und dasjenige des Mediziners sind darin miteinander vergleichbar, daß beide wie ein »Seziermesser« funktionieren: »Bei dieser experimentellen Produktion neuen Wissens über das Leben am toten Körper funktioniert das Auge des Anatomen wie ein zusätzliches Seziermesser, das die Oberflächenstruktur der Haut und Knochen durchtrennt und das Gewebe zurückklappt, um das Unsichtbare ans Licht zu holen, die Prozesse, die das Funktionieren des Lebens ausmachen.« (Inge Baxmann, Der Tod als Schauspiel des Körpers und Szenario des Blicks im 18. Jahrhunderts, in: dies., Michael Franz und Wolfgang Schäffner [Hg.], Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 511-524, hier S. 514)
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Descartes, Dioptrik, S. 1 1 3 . Siehe dazu ebd., S. 99. 65 »Während Descartes' Physik nicht ohne theologische Begründung auskommt, ruht seine Physiologie in sich selbst. In seiner Physik war er darauf angewiesen, daß ein Schöpfungsgott die Materie in Bewegung versetzt. In seiner Physiologie thematisiert er den Zusammenhang von Korpuskeln und einer durch Wärme bestimmten Bewegung einer einmal in Gang gesetzten Körpermaschine, in der die glande, die berühmte Zirbeldrüse, mit Hilfe des Stabs von spiritus animates oder esprits animaux, den Lebensgeistern, regiert, die bis heute nicht gänzlich aus unserem Sprachgebrauch verschwunden sind.« (Käte Meyer-Drawe, Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München 1996, S. 6; f.) 68
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— als Blindenstock und geometrisches Instrument — überbrücken?70 Schließlich geht es hier nicht mehr um Übermittlung eines Reizes zwischen zwei Punkten innerhalb desselben Raums, sondern um einen Transfer zwischen zwei vollkommen verschiedenen Systemen, zwischen Physik und Physiologie, zwischen Lichtbrechung und Nervensträngen. Es geht mithin um die Erklärung einer Schnittstelle, deren Ort das Auge ist. Descartes' anatomische Introspektion fuhrt daher auf die Unterscheidung jener Zonen im Auge hin, welche nach dem neuronalen Modell funktionieren, 7 ' von denjenigen, in denen sich die Lichtbrechung wiederholt. 72 Im Auge selbst also treffen physikalische und physiologische Vorgänge aufeinander. Die physiologische Perspektive des gesamten Körperinnenraums fokussiert die Bewegungs- und Austauschabläufe, Transportmittel und -wege, welche einen von außen kommenden Reiz über die Blut- und Nervenbahnen — sie werden als ein einziger Funktionszusammenhang aufgefaßt - leiten und dem Gehirn zuführen. Eine optimale Versorgung und Vermittlung der Reize ist gewährleistet, da der Innenraum von diesem >neuronalen< System nahezu vollständig umspannt ist. Doch was wie ein einheitliches, alle Glieder und Organe umschließendes Ganzes funktioniert, differenziert sich beim näheren Hinsehen in einzelne Elemente, die sich als Teilfunktionsträger gegenseitig zuarbeiten. Um im einzelnen zu erkennen, wie die Seele, die im Gehirn bleibt, die Eindrücke der äußeren Gegenstände durch Vermittlung der Nerven aufnehmen kann, muss man an den Nerven dreierlei Dinge unterscheiden: Da sind erstens die Häute, die sie einhüllen und ihren Ursprung in den Häuten haben, die das Gehirn umgeben. Sie sind wie lauter kleine Röhrchen, die sich durch alle Glieder ebenso wie die Venen und Arterien ausbreiten. Zweitens befindet sich im Inneren eine Substanz, 7
° Thomas Fuchs sieht eine Analogie zwischen den physiologisch-neuronalen Vorgängen und dem Bild des Blinden, der sich eines Taststocks bedient. »Die Seele empfängt im Gehirn nicht die Bilder oder Formen der Dinge selbst; denn die verschiedenartigen Empfindungen kommen ja alle durch den gleichen Ubertragungsmodus zustande, nämlich (Teilchen-)Bewegungen in den Nerven. Es sind Signale oder Symbole, die der Seele bestimmte, zur Erhaltung des Körpers wichtige Informationen vermitteln, ohne dabei etwas über das Wesen der Dinge auszusagen. Die Seele in ihrem Gehirn ist auf die Nerven angewiesen wie ein Blinder auf den Taststock, der ihm, allein durch seine Bewegungen, doch die verschiedenen Eigenschaften der Objekte mitteilt.« (Thomas Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes - Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs, Frankfurt am Main 1992, S. 118)
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» Z H ist der optische Nerv, der aus einer grossen Anzahl dünner Fäden zusammengesetzt ist, deren Enden sich im ganzen Raum G H I ausbreiten. Diese verbinden sich mit einer Unzahl kleiner Venen und Arterien und setzen sich mit ihnen zu einem besonders zarten und empfindlichen Muskel zusammen.« (Descartes, Dioptrik, S. 85) »Das Experiment zeigt, dass das mittlere L , genannt Glaskörper, fast die gleiche Brechung hervorruft wie Glas oder Kristall.« (Ebd.)
die sich in der Form dünner Fäden in den Röhrchen vom Hirn, von dem sie ausgeht, bis in die Enden sämtlicher Glieder erstreckt, an denen sie sich festsetzt und zwar so, dass man sich vorstellen muss, es befinden sich in jedem Röhrchen mehrere Fäden, die voneinander unabhängig sind. Als Drittes sind da noch die Lebensgeister, die wie die Luft oder ein leichter Wind von den Räumen und Höhlungen des Gehirns ausgehen und durch die Röhrchen in die Muskeln fliessen. Die Anatomen und Mediziner versichern, dass diese drei Dinge in den Nerven existieren. Aber mir scheint, dass noch keiner von ihnen das, wozu sie dienen, richtig voneinander geschieden hat. 7 '
Die Nerven bestehen aus >Häuteneingehüllt< werden, sowie aus einer Substanz, die sich vom Hirn bis zu den Enden sämtlicher Glieder >erstrecktLebensgeisternfließeneinhüllenwie lauter kleine Röhrchen< - , sondern grenzen ihn auch nach Innen und Außen ab. Die fadenförmige Substanz verbindet das Hirn, in dem der Sitz der Seele verortet wird, mit den Körpergliedern, während die >LebensgeisterFädenHäuten< und >Lebensgeistern< werden vielmehr Elemente des neuronalen Ubermittlungssystems benannt. Trotz der unverkennbaren metaphorischen Z ü g e werden sie als medizinische Bezeichnungen gehandhabt, die sich auf eine erkenn- und nachprüfbare Sichtbarkeit beziehen. Mit dem Ubergang von Physik zur Physiologie, von der Erklärung der Lichtbrechung zur E r k l ä r u n g der Nervenfunktion glaubt der Text, auf Hilfestellungen durch bildhafte Beispiele weitegehend verzichten zu können. Im Rückbezug auf Resultate bereits dokumentierter Experimente sichert er sich ab: >Die Anatomen und Mediziner versichern, daß diese drei Dinge in den Nerven existierend Da die Lebensgeister >wie die Luft oder ein leichter W i n d von den Räumen und Höhlungen des Gehirns ausgehen und durch die Röhrchen in die Muskeln fließenLebensgeisterGeister< nenne, sind nur Körper, und sie haben keine andere Eigentümlichkeit, als daß sie sehr kleine Körper sind, die sich sehr schnell bewegen, so wie die Teile der Flamme, die einer Fackel entsprühen.« (Rene Descartes, Die Leidenschaften der Seele, übers, und hg. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996, S. 19) Die französische Bezeichnung der Lebensgeister als esprits animaux beinhaltet in der Verknüpfung des Animalischen mit dem Spirituellen exakt das, was die Lebensgeister leisten, nämlich den Körper/Geist-Dualismus zu überbrücken. 39
lung von etwaigen geometrischen Vorgaben, wenn sie sich etwa auf einen Faden bezieht, um einen Nervenstrang zu beschreiben. Denn in einem Faden ist nicht nur eine die Form betreffende Eigenschaft impliziert, sondern ebenso eine Angabe über die Elastizität des Materials enthalten. Er muß sich anspannen lassen und in seiner Spannung auch wieder nachgeben können. Zwar gibt sich die Beschreibung der Nerven teilweise als Vergleich zu erkennen, wenn es von den Häuten etwa heißt, daß sie >me lauter kleine Röhrchen< sind. Jedoch suggeriert sie einen nahezu unmittelbaren Bezug zur Ordnung der Sichtbarkeit. Keine narrative Szenerie, sondern eine rhetorisch knappe Ergänzung, mit welcher nur ein besonderer Aspekt des Sichtbaren verdeutlicht werden soll. Immer wieder werden solche Vergleiche herangezogen. Der Duktus dieses Teils des Textes dient jedoch tendenziell der Erzeugung sprachlicher Eigentlichkeit und Eindeutigkeit. Zunächst sind die Bestandteile des neuronalen Mechanismus noch >wie< etwas anderes, sie zeigen sich bald aber schon >in der Form dünner Fädenumfassendste< bezeichnet werden kann.
die Annahme von Fernkräften verzichten; die Wechselwirkungen zwischen Festkörpern ließen sich ausnahmslos als Stöße konzipieren.« (Caroline Torra-Mattenklott, Metaphorologie
der Rührung.
Ästhetische
Theorie und
Mechanik
im
18. Jahrhundert, München 2002, S. 102) 84
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Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, S. 148. (Dieser Passus findet sich
allerdings nur in den ersten drei Auflagen.) ' Daraus folgt aber eine Umwertung der Sinnesordnung, wie mit Werner Kutschmann bestimmbar: » F ü r Descartes ist der Tastsinn der paradigmatische und zentrale Sinn, auf dessen Wirkungsprinzip alle anderen Sinne reduziert werden können.« (Werner Kutschmann, D e r Naturwissenschafder und sein Körper. D i e Rolle der >inneren Natur< in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1986, S. 168) Siehe dazu auch Torra-Mattenklott: »Jede Sinneswahrnehmung ist Resultat eines Zusammenpralls; aus der A r t der Bewegung, die das anstoßende Materieteilchen den Teilchen der Nervenfasern mitteilt, erklären sich sämtliche haptischen, olfaktorischen, akustischen und visuellen Qualitäten.« (Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 232)
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2. Die sprachanaloge Ordnung der Sinne: Berkeley Suggestionen Seit dem 17. J a h r h u n d e r t zeigt die A u f k l ä r u n g großes Interesse an der U n terscheidung der Wahrnehmungssinne sowie der B e s t i m m u n g ihrer jeweilig e n F u n k t i o n s g r e n z e n , auch w e n n sie sich dabei v o r n e h m l i c h dem A u g e , mithin allein der Spitze der sensorischen R a n g o r d n u n g widmet. D a s D e n ken der Sinne g r ü n d e t demnach a u f einer Hierarchie, welche bereits seit der A n t i k e überliefert ist, in der A u f k l ä r u n g jedoch e n d g ü l t i g festgeschrieben wird. 8 6 Entscheidend ist, daß der Gesichts- und der Tastsinn an diametral entgegengesetzten P u n k t e n der R a n g o r d n u n g stehen, insofern jener als der edelste, dieser aber als der niedrigste Wahrnehmungssinn gilt.® 7 I m R a h m e n eines solchen B e w e r t u n g s s c h e m a s bilden sie die g r ö ß t m ö g l i c h e
Distanz.
D e m g e g e n ü b e r läßt sich in der A u f k l ä r u n g zugleich eine U m o r i e n t i e r u n g konstatieren, w i r d doch v o n jetzt an der A k z e n t zunehmend auch auf die B e z i e h u n g beider Sinne gesetzt, 88 w o d u r c h sie näher aneinanderrücken, w i e sich schon Descartes' metaphorischer V e r k n ü p f u n g und L o c k e s erkenntnistheoretischer G e g e n ü b e r s t e l l u n g entnehmen läßt. E i n e A n a l y s e des visuellen führt n o t w e n d i g auf den haptischen Sinn u n d n u r durch A u s l o t u n g der zwischen beiden herrschenden Unterschiede und Identitäten kann sie hin-
Siehe zu diesem Komplex etwa Georg Braungart: »Generell wird in der abendländischen Philosophie der Seh-Sinn als der höchstrangige der Sinne betrachtet, der vor allem für >objektive< wissenschaftliche Erkenntnis entscheidend sei.« (Georg Braungart, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 199;, S. 64) Dabei relativiert er im Anschluß diese These, indem er bereits bei Aristoteles eine Anlage erkennt, welche die Sinneshierarchie in eine andere Richtung zu lenken zwingt. Denn hier wird »der Tastsinn in der Weise als fundamental aufgefaßt, daß er die Voraussetzung für die >höheren< Sinne wie Gesicht und Gehör ist, die ohne ihn nicht bestehen können.« (Ebd.) Die in epistemologischer Hinsicht proklamierte Hierarchie wird somit in funktionaler Hinsicht umgewertet. 87
Auch bei Descartes und Locke konnten Aussagen festgestellt werden, welche eine solche Hierarchie bestätigen. 88 Joachim Gessinger sieht eine thematische »Verschiebung« innerhalb des 18. Jahrhunderts. »Der Blinde als Projektion eines seines zentralen kognitiven >Organs< beraubten Wesens wurde ersetzt durch den Taubstummen.« Diese beiden Ausrichtungen »teilen also in überraschender Symmetrie das 18. Jahrhundert in eine erste Hälfte, in der die kognitiven Aspekte des Sehens bearbeitet werden, und in eine zweite, in der der Zusammenhang von Denken und Gedächtnis, Empfinden und Sprechen zum Thema wurde.« (Joachim Gessinger, Auge & Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen. 1700-1850, Berlin/New York 1994, S. X V I I ) Demgegenüber wird in den folgenden Ausführungen auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Zusammenhang der Haptik und Taktilität - und zwar im Sinne eines für diesen Zeitraum durchaus relevanten Untersuchungsgegenstandes — nachzugehen sein.
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reichend geleistet werden. Haptische wie visuelle bzw. optische Wahrnehmungen werden auf diese Weise weder als analog89 noch als grundlegend verschieden oder inkompatibel aufgefaßt. Sie machen vielmehr eine differentielle Einheit aus, innerhalb welcher sie sich jeweils einzeln und in bezug auf ihre Wechselwirkung erklären lassen. Die Komplexität dieser Beziehung - und darauf kommt es im folgenden an - wird von der Wahrnehmungstheorie der Aufklärung reflektiert. Z u m Tragen kommt sie etwa dort, wo der dioptrische Sehvorgang in das Exemplum des Blindenstocks transponiert und ab einem bestimmten Punkt als inadäquates Vergleichsbild verworfen wird; wo in der >Penetration< des >mikroskopischen Auges< ein haptisches Moment erkennbar oder im mechanischen Erklärungsschema eine ubiquitäre Berührung vorausgesetzt wird. Eine Perspektive, welche den Sinnen spezifische Qualitäten und Kompetenzen zuzurechnen versucht, um sie sodann entweder hierarchisch oder arbeitsteilig90 zu organisieren, trifft lediglich einen Teilaspekt dieses vielschichtig beschaffenen Zusammenhangs. Er nötigt vielmehr dazu, über den anthropologischen Horizont hinaus auch medientechnische und -theoretische Beobachtungen mitzuberücksichtigen ebenso wie die sprachlichen Strukturen der Darstellung und die impliziten wissenshistorischen Bedin-
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' Mit Koschorke läßt sich ihre Beziehung im historischen Verlauf als zunehmende Arbitrarität beschreiben: »Wenn man eine Entwicklungslinie in bezug auf das Verhältnis zwischen Tasten und Sehen von der Antike bis zur Philosophie der Aufklärung zieht, dann ist als deren Tendenz eine fortschreitende Arbitrarisierung erkennbar. Die Antike dachte nach dem Modell des vom Auge abgeschickten Sehstrahls das Sehen als unmittelbaren Kontakt mit den Emanationen des Objekts oder der von ihm herrührenden Mittlerbewegung. Sehen war in einem durchaus unmetaphorischen Sinn taktil. Das ändert sich mit der Durchsetzung der auf dem Begriff des Lichtstrahls fußenden Optik der frühen Neuzeit, aber auch hier blieb die Einheit des sichtbaren und des tastbaren Objekts und damit die Affinität zwischen den verschiedenen Sinnestätigkeiten erhalten. Erst der Sensualismus des 18. Jahrhunderts macht mit der Auflösung noch dieser Ahnlichkeitsvorstellung ernst. Uber Berkeley hinaus wird schließlich Hume die Dingwahrnehmung philosophisch so weit destruieren, daß nur noch Reihen kontingenter Impressionen bestehen bleiben, deren Resubstantialisierung durch das Subjekt sich als eine zwar alltagsnotwendige, doch rein fiktionale Aktivität erweist.« (Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. j62f.) Dies hält Foucault im Zusammenhang mit der episteme der sprachlichen Repräsentation fest: »Die Sachen und die Wörter werden sich trennen. Das Auge wird zum Sehen und nur zum Sehen bestimmt sein; das Ohr lediglich zum Hören.« (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 76) - Vgl. zur Sinnesdifferenzierung auch die Eingangsthese von Peter Utz: »Wenn die Sinne einzeln auf ihre Leistung befragt werden, kann ihre Einheit höchstens noch nach dem Modell der Arbeitsteilung gedacht werden.« (Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 19) 45
gungen. Um die Beziehung zwischen dem Gesichts- und dem Tastsinn zu befragen, genügt es deshalb nicht, das Terrain der Anthropologie und Erkenntnistheorie im Hinblick auf die explizit ausformulierten Argumente und Theoreme auszuwerten. Gefordert ist auch eine Untersuchung der textuellen und kommunikativen Verfahren, mit deren Hilfe die wahrnehmungstheoretischen Aussagen gemacht werden. Unmittelbar an Descartes, vor allem aber an Locke anschließend, zugleich jedoch nachdrücklich auch gegen beide gerichtet, beschreibt George Berkeley in seinem 1709 zuerst erschienenen Essay Towards a New Theory of Vision die Beziehung zwischen Sehen und Tasten nach dem Modell der Sprache. E r erklärt darin das Sichtbare zu einer Art Zeichengefüige, welches in seiner räumlichen Dimension auf Tastqualitäten verweist, indem es diese »suggeriert«. 9 ' Vorausgesetzt wird die These, das Feld visueller Wahrnehmung sei ausschließlich auf Färb- und Lichteindrücke begrenzt, während alle räum- und körperbezogenen Wahrnehmungen, die der Bewegung, Ausdehnung und Konsistenz eingeschlossen, als Leistungen des Tastsinns aufzufassen sind. Analytisch legt Berkeley auf diese Weise zwar eine Differenz beider Wahrnehmungsmodi zugrunde; indem er seine Beobachtungen empirisch stützt, ist er jedoch stets mit ihrer Koexistenz, ja ihrer unauflösbaren Verschränkung konfrontiert. 92 Diese Spannung bildet ein zentrales Moment seines Textes. Wie ein sprachliches Zeichen mit seiner Bedeutung verknüpft Berkeley auch ein visuelles Perzept mit (s)einer haptischen Eigenschaft und rekonstruiert so die Normalfunktion des alltäglichen Wahrnehmungszusammen91
»Ich behaupte: Weder Entfernung noch Dinge, die sich in einer Entfernung befinden, werden wirklich durch den Gesichtssinn wahrgenommen, auch nicht ihre Vorstellungen. Davon bin ich, was mich angeht, überzeugt, und ich glaube, jeder, der genau in seine eigenen Gedanken blickt und prüft, was er mit den Worten meint, er sehe dieses oder jenes Ding in seiner Entfernung, wird mit mir übereinkommen, daß das, was er sieht, seinem Verstand nur suggeriert, nach dem Durchlaufen einer gewissen Entfernung, die durch die mit dem Tastsinn wahrnehmbare Bewegung seines Körpers zu messen ist, werde er zur Wahrnehmung der und der tastbaren Vorstellung gelangen, die gewöhnlich mit den und den sichtbaren Vorstellungen verknüpft waren.« (George Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens und Theorie des Sehens oder der visuellen Sprache...verteidigt und erklärt, übers, und hg. von Wolfgang Breidert, unter Mitwirkung von Horst Zehe, Hamburg 1987, § 45, S. 52) Diese Suggestion setzt also eine Verknüpfung beider Sinne voraus, die dem Begriff der Assoziation entspricht, wie Locke ihn in der 1700 erschienenen vierten Auflage seines Essay Concerning Human Understanding gebraucht.
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Sein theoretisches Interesse gilt daher weniger der Reinheit der Einzelsinne als ihrer Verknüpfung, welche ihrerseits, wie das Modell der Sprache deutlich macht, als eine funktionale Einheit aufgefaßt wird.
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hangs. Die Einbindung in das linguistische Schema determiniert das Programm der New Theory of Vision als einen Definitionsversuch der visuellen Sprachedie eben nicht von einer haptischen Sprache im Sinne eines konkurrierenden Zeichensystems zu unterscheiden ist. Als >Suggestion< sichtbarer Erscheinungen ist der Tastsinn in der visuellen Sprache vielmehr schon enthalten: Er nimmt darin die Position des Referenten ein. Sichtbare Gestalten sind Zeichen der tastbaren Gestalten und aus § 59 ist klar, daß sie selbst wenig betrachtet werden, es sei denn wegen ihrer Verknüpfung mit tastbaren Gestalten, die sie von Natur aus zu bezeichnen bestimmt sind.94
Den (visuellen) Zeichen selbst läßt Berkeley nur geringe Beachtung zukommen. Als bedeutsam weist er dagegen das, was sie >sichtbar< machen, aus. Ausschließlich ihre Inhaltsseite bzw. ihr semiotisch-semantischer Wert interessiert ihn. Die Aufgabe dieser Zeichen besteht aber in der imaginären Evokation tastbarer >Gestaltensuggeriert< werden, da >von Natur aus< bestimmte haptische mit bestimmten visuellen Vorstellungen verkoppelt sind; eine Tatsache, welche sich empirisch verifizieren läßt. Dafür, daß eine Vorstellung dem Geist eine andere suggerieren kann, genügt es, beobachtet zu haben, daß sie zusammengehören, ohne irgendeinen Beweis der Notwendigkeit ihrer Koexistenz und ohne auch nur zu wissen, was es ist, das bewirkt, daß sie so koexistieren. Davon gibt es unzählige Beispiele, die keinem unbekannt sein können.9'
Die Forderung nach einem Beispiel, gar nach den mnzähligen Beispielen, die keinem unbekannt sein könnenohne irgendeinen Beweis der Notwendigkeit ereignet. Berkeley verspricht nicht, mit einem Beispiel ein ganzes System belegen zu können. Auch geht er von keinem den bloßen empirischen Befund transzendierenden Axiom aus. Aus einem bzw. mehreren Beispielen heraus will er vielmehr eine allgemeine Aussage erst deduzieren; eine Aussage, wie man hinzufugen muß, welche deshalb von eben diesen Beispielen getragen und durch sie überhaupt erst legitimiert wird. Dennoch verfährt der Text im Anschluß an diesen Passus zunächst anders. Die Deduktion wird aufgeschoben, um zuvor die Tradition optischer Theorien zumindest in einigen Punkten zu rekapitulieren. Anstatt ein Beispiel anzu9J
In der 1733 erschienenen, überarbeiteten und ergänzten Auflage dieses Textes wird der Titel entsprechend modifiziert: The Theory of Vision, or Visual Language. Shewing The Immediate Presence and Providence of a Deity, Vindicated and Explained. 94 Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, § 140, S. ηwenig betrachtet^ weil sie nicht unmittelbar lebensnotwendig sind. 9 > Ebd., § 25, S. 19. 47
fuhren, faßt Berkeley einige dioptrische Geset2e und die daraus abzuleitenden Folgerungen zusammen, womit er zugleich sein eigenes Unternehmen sowohl innerhalb als auch außerhalb dieser Traditionsgrenzen situiert. Letzteres belegt er vor allem mit dem abschließend vorgebrachten Desiderat, »ein Phänomen zu erklären, das den Autoren von Schriften über Optik bisher merkwürdiges Kopfzerbrechen bereitet hat«.96 A n dieser Stelle, also ein paar Seiten nach seiner Ankündigung, führt er endlich ein Beispiel an. Darin hält er fest, daß ein völlig kurzsichtiger Mensch (das heißt einer, der ein Objekt nur dann deutlich sehen kann, wenn es sich dicht vor seinem Auge befindet) nicht dasselbe Urteil fällen würde, wie es andere in dem oben erwähnten Falle täten. Weil für ihn nämlich größere Verschwommenheiten stets größere Entfernungen suggerieren, muß er, wenn er sich von der Linse entfernt und das Objekt verschwommener wird, urteilen, daß es in einer größeren Entfernung sei, im Gegensatz zu dem, was jene tun, für die sich Wahrnehmung von Objekten, die verschwommener werden, mit der Vorstellung von Annäherung verknüpft hat.97 Neben das Beispiel des Blinden, der bei Descartes mit Hilfe eines Taststocks die Lichtbrechung im Sehakt veranschaulicht 9 ® und bei Locke in der Erörterung des Molyneux-Problems auf die Frage nach der Ubersetzbarkeit von haptischen in visuelle Vorstellungen festgelegt wird, tritt bei Berkeley der Kurzsichtige und mit ihm das Phänomen der Verschwommenheit bzw. - wie es im Original heißt - der »confusion« 99 hinzu. Nicht die scharfe, asymmetrische Unterscheidung zwischen Blindheit und Sehen, sondern den Zustand der Unscharfe, in welchem - »not distinctly« 100 - graduelle Abweichungen entstehen, rückt er in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Zone der Unbestimmtheit zwischen schwindendem Sehvermögen und noch nicht vollständig erreichter Sehunfähigkeit interessiert hier, auch in ihrer Funktion, die Grenzen der geometrischen Kompetenz anzuzeigen und ihren leitdisziplinären Anspruch zu depotenzieren. Doch wie es steht, wird von den Mathematikern die Verschwommenheit selbst völlig vernachlässigt als etwas, das keine notwendige Beziehung zur Entfernung hat, wie man sie bei den größeren oder kleineren Divergenzwinkeln unterstellt.10' 96
Ebd., § 29, S. 20. Ebd., § 57, S. 20f. 98 Auch Berkeley geht auf diese Figur im Appendix der zweiten Auflage des Essay von 1710 ein. Die Descartes' Dioptrique entnommene Zeichnung eines Blinden, der zwei Taststöcke wie einen Winkelmesser in der Hand hält, ist auch hier abgedruckt. 99 George Berkeley, An Essay Towards a New Theory of Vision, in: The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, edited by Α. Α. Luce and Τ. Ε. Jessop. Volume one, Nendeln 1979, § 37, S. 184. Ebd. "" Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, § j8, S. 27. 97
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An der Verschwommenheit des Kurzsichtigen manifestiert sich die Unzulänglichkeit einer geometrisch fundierten Optik und ihres in mathematischen Formeln verschlüsselten Notwendigkeitsparadigmas. Geht die optische Theorie von >notwendigen Beziehungen der Divergenzwinkel< aus, welche sie dem Sehvorgang entsprechend implementiert, setzt Berkeley hingegen auf die nicht weiter begründbare Relativität der »wahre[n] Natur«. Denn »solange man nur Winkel und Linien in Betracht zog, nicht die wahre Natur des Sehens erfaßte und auch nicht, wie weit sie von mathematischer Betrachtung entfernt liegt«, 102 galt die Gleichung, je divergenter die Strahlen, die vom Gegenstandspunkt auf das Auge auftreffen, desto größer die Entfernung. 103 Für den Kurzsichtigen aber ist es irrelevant, ob die Verschwommenheit durch konvergierende oder divergierende Strahlen hervorgerufen wird. Er weiß allein aus Erfahrung, daß ein bestimmter Grad an Verschwommenheit auf eine bestimmte Entfernung hindeutet. Dieses Verhältnis, darauf insistiert Berkeley, läßt sich in der Wahrnehmung selbst nicht geometrisch formalisieren. Nicht das dioptrische Erklärungsmodell steht daher im Zentrum seiner Überlegungen, sondern dessen Konsequenz für die subjektive Wahrnehmung. Diese aber findet sich in der Beziehung eines sprachlichen Zeichens zu seinem Referenten formal abgebildet: 104 in einer funktionalen Relation, die dennoch räumlich gedacht werden muß. Die Erscheinung verändert sich nämlich mit jedem Schritt, den ich auf sie zu mache, und aus einer dunklen, kleinen, schwachen wird eine klare, große und lebhafte. Und wenn ich ans Ende der Meile komme, ist das, was ich zuerst sah, ganz verschwunden, und ich finde nichts, was Ähnlichkeit mit ihm hätte.
Exakt an diesem Argumentationspunkt wird deutlich, weshalb die haptische Dimension im Prozeß des Sehens als unverzichtbare Orientierung gilt. Sie konstituiert nämlich die räumliche Position des wahrnehmenden Subjekts. 106 102
Ebd., § 39, S. 28. ' Berkeley begründet seine Vorbehalte gegen die Optik des 17. Jahrhunderts folgendermaßen: Sie teilt die Uberzeugung, daß die Entfernung des wahrgenommenen Gegenstandes nach der Divergenz der eintreffenden Strahlen beurteilt werde. Ein Gegenstand wird demnach für um so entfernter gehalten, je weniger die vom Gegenstandspunkt ausgehenden Strahlen beim Auftreffen auf das Auge divergieren, also parallel laufen. Das hängt damit zusammen, daß das Auge den (geometrischen) Schnittpunkt der Strahlen als den Ort des Gegenstandspunktes wahrnimmt und der parallele Verlauf der Strahlen den Gegenstand damit in eine unendliche Entfernung versetzt. Berkeley spricht in diesem Zusammenhang von einer »schlecht begründeten Analogie« (ebd.). '°4 Auf diese Weise gehen Sprache und Geometrie getrennte Wege. Foucault hält hingegen fest, daß in der »Allgemeinen Ordnungswissenschaft« der Aufklärung Sprache und Algebra als mathematische Zeichen- sowie Grammatiklehre kompatibel werden. Siehe Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. io8ff. IO( Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, § 44, S. 31. 106 Das wiederholt sich in der Stellung der Augen und ihrer Auswirkung auf das IO
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Sehen ist an einen Körper gebunden, der seinerseits an den empirischen Raum gebunden ist, in welchem seine Stellung ebenso fixiert wie verändert wird. Diese räumlich-körperliche Gebundenheit macht das Sehen zu einer immer auch haptisch - besser noch: taktil - bedingten, zu einer sensomotorischen Operation.107 Der Raum und die in ihm lokalisierten Körper fungieren dabei als Medien des Tastsinns, sofern sie eine visuelle Wahrnehmung ermöglichen, die den Anschein hat, als breite sie sich räumlich aus und weise dabei plastische Eigenschaften auf. Sehen ohne Vermittlung des Raumes und somit des Tastens, d. h. das empirische Vorkommnis reiner Visualität scheint von hier aus vollends in Frage zu stehen. Denn wie sollte es möglich sein, ohne Körper zu sehen. Gesichtswahrnehmung, wie Berkeley sie konzipiert, kann geometrisch nicht erklärt werden, da »jene Linien und Winkel keine wirkliche Existenz in der Natur haben, sondern nur eine durch die Mathematiker gebildete Hypothese darstellen«. 108 Dagegen zieht er die Logik der Sprache heran und kontert so mit dem Konzept willkürlicher Assoziation. Er distanziert sich von Descartes' Dioptrique. Auch lehnt er die dort zumindest metaphorisch konstruierte Analogie von Sehen und Tasten entschieden ab, wenn er die Differenz zwischen den Vorstellungen des Gesichtssinns und denjenigen des Tastsinns nach einer linguistisch modellierten Beziehung zusammenführt. Nur weil sie sich voneinander unterscheiden, können die Tasteindrücke dem Sehen als Suggestionen implementiert werden. Keine Analogie oder Konvertibilität der Sinne, sondern ihre - kontingenzbasierte - Assoziation wird von Berkeley herausgearbeitet. »Es ist ein Fehler zu meinen,« heißt es wiederum in bezug auf Locke, »dasselbe Ding errege sowohl den Gesichtssinn als auch den Tastsinn.«1"9 Die Schilderung des Molyneux-Problems diente dem Nachweis, daß sich die visuell erzeugten Ideen von einem Blindgeborenen einordnen und erkennen lassen, wenn sie — darin besteht seine LernSehen. Je nach dem, wie sie sich bewegen, bestimmen sie den Blickwinkel und damit das Gesichtsfeld mit. »Wenn wir mit beiden Augen auf ein nahes Objekt blicken, das sich uns nähert oder sich von uns entfernt, ändern wir dementsprechend die Neigung unserer Augen durch Verkleinerung oder Erweiterung des Abstands zwischen den Pupillen. Diese Neigung oder Drehung der Augen ist von einer Empfindung begleitet, die mir das zu sein scheint, was in diesem Falle die Vorstellung größerer oder geringerer Entfernung in den Geist bringt.« (Ebd., § 16, S. 16) 107 Oder anders formuliert: »Für Berkeley [...] besteht der Unterschied zwischen gesehener und ertasteter Bewegung darin, daß das Auge Bewegung nur durch den Tastsinn vermittelt erkenne, nicht als sein >immediate objecto« (Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000, S. io8f.) '°8 Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, §14, S. 16. Ebd., §156, S. 77. 50
aufgabe, nachdem er das Augenlicht bekommt — auf haptische Eindrücke verrechnet werden. Der Gesichts- und der Tastsinn sind nämlich nicht nur gleichermaßen für die Erzeugung derselben, etwa räumlichen, Ideen zuständig, sie werden überdies auch von denselben Objekten hervorgerufen. Dagegen Berkeley: Doch wo es keine solche Beziehung der Ähnlichkeit oder Kausalität gibt und überhaupt keine notwendige Verknüpfung, können zwei Dinge durch ihre bloße Koexistenz oder zwei Vorstellungen, weil sie zusammen wahrgenommen werden, einander suggerieren oder bezeichnen, wenn auch ihre Verknüpfung jederzeit eine willkürliche ist."°
Das sprachlich-linguistische Modell koordiniert das Zeichen und das Bezeichnete >willkürlich, denn ihre Beziehung ist weder über >Ahnlichkeit< noch >KausaIität< begründbar — eine bloße Konvention - , noch überhaupt auf eine notwendige Verknüpfung< rückfiihrbar. Zwar haben bereits Descartes und Locke die Annahme jeglicher Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Gegenstand - jeweils verschieden, doch mit gleichem Nachdruck - zurückgewiesen. Berkeley aber fordert noch die Auflösung der Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Sinneswahrnehmungen ein. Er vertieft das Problem, indem er es in das Subjekt der Wahrnehmung verlegt, wo dem Gesichts- und dem Tastsinn weder die Teilung eines gemeinsamen Ideenspektrums noch ein analoges Verhältnis beschieden wird. Denn beide Sinne erzeugen, gerade in ihrer assoziativen Verknüpfung, ein Wahrnehmungsgeschehen, dem jede Ähnlichkeitsstruktur fehlt. Sie >suggerieren< und ergänzen einander. Der Wahrnehmungsprozeß wird somit auf eine grundlegende Differenz gestellt, welche sich nicht aufheben, sondern nur handhaben läßt. Es hilft auch nichts, zu sagen, es gebe keine notwendige Verknüpfung zwischen verschwommenem Sehen und großer oder kleiner Entfernung, denn ich frage jeden Menschen, welche notwendige Verknüpfung er sieht zwischen der Röte eines Errötenden und der Scham. Und doch bringt jene Farbe, sobald er sie im Gesicht eines anderen entstehen sieht, sogleich diese Gemütsbewegung vor seinen Geist, von der beobachtet wurde, daß sie jene begleitet." 1
Zwischen dem Ausdruck >RöteScham< herrscht keine Ähnlichkeit, so daß ihre Beziehung in semiotischer Hinsicht willkürlich ist. Wie aber verhält sie sich auf der Ebene des Phänomens? Oder anders gefragt: Was beinhaltet die Übertragung der sprachtheoretischen These auf die Röte im Gesicht? Indem sie als visueller Körperausdruck in eine willkürliche Beziehung zu ihrer Ursache gesetzt wird, hebt sie auf eine Unterscheidung zwi110 111
Berkeley, Die Theorie des Sehens...verteidigt und erklärt, § 39, S. 120. Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, § 23, S. 18. 51
sehen dem Empfindungs- und Äußerungswert, d. h. zwischen der psychischen Regung und ihrem physischen Symptom ab. Trotz einer solchen Dissoziation des physischen (An)Zeichens von dem psychischen Auslöser wird dennoch ein konventionalisierter Verweisungszusammenhang veranschlagt. Denn die Erfahrung lehrt, daß plötzliches Erröten im Gesicht Scham indizieren kann. Dabei wird das semiotisch vorgeführte Problem der Willkür im Rückbezug auf die empirische Relation zwischen bestimmten Zeichen und ihren Bedeutungen gleichsam naturalisiert. Als solches bildet es letztlich eine anthropologische Tatsache. Wenn aber visuelle Wahrnehmung dem Deutungsschema der Schamröte strukturell homolog beschrieben werden kann, dann konstituiert sie keine mechanische, als Druck-und-Gegendruck entlang der Nervenstränge verlaufende Reizübertragung, sondern setzt eine spezifische kognitive Leistung voraus: eine Art Symptomentzifferung, eine besondere Form der Lektüre. 112 Diese allerdings birgt stets auch das Risiko der Fehldeutung," 3 denn trotz empirisch erworbener und mit der Zeit gefestigter Assoziationsbeziehungen zwischen Farbe und Licht auf der einen, den haptischen Qualitäten auf der anderen Seite kann die Deutung eines Zeichens immer wieder verunsichert werden und Fehler nach sich ziehen.114 Die Röte im Gesicht kann auch vom Fieber, von der Hitze oder einer Lichtreflexion herrühren. Sie kann sogar als leerer Signifikant figurieren, wenn sich ihr keine bestimmbare Ursache zuschreiben läßt. Körperwahrnehmung Gemäß der linguistischen Zuordnung hat der Tastsinn die Position des Referenten, während der Gesichtssinn die Zeichen liefert, mit deren Hilfe haptische Vorstellungen >suggeriert< werden können. Die Zeichen selbst verdienen, anders als das Bezeichnete, wenig Beachtung. Darin zumindest drückt Zu dieser Problematik siehe Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. z8f. " ' Hans Blumenberg unterscheidet mit Bezug auf Berkeley zwischen Wahrnehmung und Deutung - eine Unterscheidung, welche durch die Gleichsetzung von Sprache und Wahrnehmung nur schwer nachvollziehbar ist - , indem er sie als »Lektüre und Exegese« umschreibt, wobei er ausschließlich letztere als Quelle von Fehldeutungen wertet: »Der Mensch irrt nicht dort, wo er sich immer am meisten mißtraut hatte: in der Sinnlichkeit, sondern im Darüber-hinaus-Wollen, in the inferences he makes from his present perceptions. Nicht als Leser, sondern als Exeget des Textes versagt er: als Richter, nicht als Zeuge.« (Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main '1993, S. 153) Oder anders: Nicht in dem, was er wahrnimmt, sondern darin, wie er die Wahrnehmung auslegt, >irrt der Menschtastbare Gestalt< modelliert wird und andererseits die Eindrücke des Tastsinns zeitlich und räumlich expandieren können. Darin zumindest dem Blindenstock in Descartes' Beispiel vergleichbar, daß er die tastende Hand verlängert und derart als Sinnbild des Lichtstrahls sowie als medientechnische Stütze des Tastorgans lesbar ist, erweitert auch die Suggestion mit Hilfe visueller Zeichen den Relevanzbereich haptischer Erfahrungen: [D]en Lebewesen [scheint] der Gesichtssinn verliehen zu sein, damit sie nämlich durch die Wahrnehmung sichtbarer Vorstellungen (die an sich nicht fähig sind, ihren Körperzustand zu beeinflussen oder irgendwie zu verändern) imstande seien, (durch die E r f a h r u n g , die sie davon gemacht haben, welche tastbaren Vorstellungen mit diesen und jenen sichtbaren Vorstellungen verknüpft sind) den Schaden oder Nutzen vorauszusehen, der auf die Berührung ihres eigenen K ö r p e r s mit diesem oder jenem K ö r p e r , der sich in einer Entfernung befindet, wahrscheinlich folgt." 5
>Voraussehend< - deshalb auch erinnernd, da aus vergleichbaren Situationen in der Vergangenheit 116 abstrahiert - und auf die Zukunft hin projiziert, ermöglicht die Suggestion eine Überschreitung noch der zeitlichen Begrenzung. Das Medium der Sprache entwirft somit einen zeitlichen Horizont, vor welchem sich die Gegenwart rück- und vorwärts weiterdenken läßt. 117 " 5 Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens, § 59, S. 38. Siehe dazu: »Wenn wir beachten, daß Zeichen variabel und eine Sache menschlicher Setzung sind, wenn wir uns daran erinnern, daß es eine Zeit gab, in der sie in unserem Geist noch nicht mit den Dingen verknüpft waren, die sie jetzt so prompt suggerieren, und daß ihre Bedeutung in kleinen Schritten der E r f a h r u n g gelernt wurde, so bewahrt uns das davor, sie zu verwechseln.« (Ebd., § 144, S. 82) " ' D a r a u s folgt: »Besteht [...] zwischen zwei Erscheinungen (Ideen) Α und Β kein Wesenszusammenhang, so kann A ( B ) existieren unabhängig davon, ob B ( A ) existiert. Für eine dichte Verknüpfung verschiedener Ideen ist erforderlich, daß sie regelmäßig koexistieren. Sie haften, wenn sie einander ständig begleiten, in der
1,6
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W i r betrachten die Objekte, die uns umgeben, im Verhältnis dazu, wie sie geeignet sind, unserem Körper zu nützen oder zu schaden und dadurch in unserem Geist die Empfindungen des Vergnügens und des Schmerzes hervorzurufen. N u n wirken Körper durch eine unmittelbare Berührung auf unsere Organe ein, und der daraus entstehende Schaden oder Vorteil hängt ganz von den tastbaren und überhaupt nicht von den sichtbaren Qualitäten eines Objektes a b . " 8
Der visuellen Wahrnehmung wird eine unmittelbare Wirkung auf den Körper abgesprochen. Sie ist, vom Körper aus betrachtet, zunächst ohne Interesse, weil ihre Eigenschaften ihm weder >nützen< noch >schaden< können: Sie geht uns nicht an. Bedeutsam wird sie erst, wenn sie sich mit Vorstellungen des Tastsinns verbindet. Daher kommt es, daß wir beim Blick auf ein Objekt hauptsächlich auf die tastbare Gestalt und Ausdehnung desselben achten, während der sichtbaren Gestalt und Ausdehnung wenig Beachtung geschenkt wird, die unmittelbar wahrgenommen wird, uns aber dennoch weniger angeht, und nicht geeignet ist, irgendeine Veränderung in unserem Körper hervorzurufen." 9
Da jedoch das, was uns angeht, vom Gesichtssinn im Hinblick auf seinen Nutzen oder Schaden vorausbestimmt werden kann, gilt auch er letztlich als lebensnotwendig: »Wie notwendig diese Voraussicht für die Erhaltung eines Lebewesens ist, kann jeder aus seiner eigenen Erfahrung lernen.«' 20 In Berkeleys Argumentation wird eine gleichsam primäre von einer sekundären bzw. eine unmittelbar zeichenlose von einer durch visuelle Zeichen vermittelten, da suggerierten Tastwahrnehmung unterschieden. Sichtbare Vorstellungen können einen >Körperzustand< weder >beeinflussen< noch >irgendwie verändern^ Denn als immaterielle Komponenten (des Lichts und der Farbe) können sie auf den Körper nicht direkt einwirken. Sie helfen ihm lediglich, unmittelbare Berührungen >vorauszusehensuggerierten< Tasteindrücke auf einem zeitlichen Verweisungshorizont als Erinnerung und Erwartung aus. Damit lassen sich Erfahrungen, je nach dem, ob sie als schädlich oder nützlich eingeschätzt werden, entweder forcieren oder meiden. Nicht die Wirksamkeit des Tastsinns wird durch die visuelle Vermittlung gesteigert, sondern nur seine — referentiell gedachte Bedeutung in zeitlicher und räumlicher Perspektive erweitert. Die mediale Vorstellung aneinander.« (Arend Kulenkampff, George Berkeley, München 1987, S. 65) 118
Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens und Theorie des Sehens,
§ 58, S. 38. " ' E b d . , § 59, S. } 8 f . 120 E b d . , § 59, S. 38.
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Spezifik der Sprache unterscheidet sich gerade darin von derjenigen des Stocks, daß sie nicht nur auf die Extension der manuellen Tastwirkung abzielt, wie sie im Taststock repräsentiert wird. Sie dient vielmehr der Übersetzung einer haptischen Erfahrung in eine Bedeutung. Eine Berührung, aus welcher >Empfindungen des Vergnügens und des Schmerzes< hervorgehen können, verwandelt sich in eine Suggestion, die erinnert und daher in ähnlichen Situationen reaktualisiert werden kann. Dem Verlust der Unmittelbarkeit, wie ihn die Verknüpfung mit visuellen Eindrücken ermöglicht, so daß Tastvorstellungen auch unabhängig von Taststimuli entstehen können, korrespondiert folglich ein Zugewinn an zeitlicher und räumlicher Effizienz. Für eine Wahrnehmungstheorie des Tastsinns läßt sich hieraus folgern, daß Berkeley zwei Formen unterscheidet: Einerseits erkennt er haptische Vorgänge in allen auf einen Körper von außen einwirkenden sowie mittels eines Körpers hervorgerufenen bzw. sich von einem Körper selbst zufügenden Impulsen, welche sich entsprechend in körperlichen Äußerungen etwa des Schmerzes oder Wohlempfindens manifestieren und dazu in der Lage sind, den >Körperzustand zu beeinflussen oder irgendwie zu verändern«. Damit ist der physikalische Wirkungsraum erfaßt. Andererseits konzipiert Berkeley eine Haptik zweiter Ordnung, die nach dem linguistischen Verweisungsschema die Vorstellungen >tastbarer Gestalten« nur suggeriert. Sie stößt nicht mehr dem gesamten Körper zu, sondern, vom Auge aufgenommen und als bildliche Vorstellung weiterverarbeitet, bezieht sie sich ausschließlich auf kognitionspsychologische Prozesse.121 Auf diese Weise ist ein Fokus gegeben, in welchem eine Physik der unmittelbaren Tasteinwirkungen auf den Körper einer Kognitionspsychologie gegenübersteht, welche Tastvorstellungen visuell evoziert:122 Eine durch die Berührung des Bei Descartes gibt es eine gleichsam lineare Verknüpfung von physikalischen Anstößen, über ihre Weiterleitung durch die elastischen Nerven bis hin zum Gehirn, wo sie im Bewußtsein ankommen. Bei Berkeley handelt es sich eher um eine Akzentuierung der Differenz zwischen den körperlichen Berührungen und ihrer Umwandlung in Vorstellungen. Arend Kulenkampff hebt entsprechend die Leistung Berkeleys im Vergleich zu Descartes in der »exakten Sonderung« der Wahrnehmungsprozesse als »Aufgabe der Philosophie« von der Untersuchung der Lichtstrahlen und ihrer Verläufe als Aufgabe der »Geometrie« bzw. Optik ab. (Arend Kulenkampff, »Skeptischer« und »dogmatischer« Idealismus - Berkeley als Kritiker Descartes', in: Friedrich Niebel, Angelica Horn und Herbert Schnädelbach [Hg.], Descartes im Diskurs der Neuzeit, Frankfurt am Main 2000, S. 143-166, hier S. 154) Erst die visuelle Wahrnehmung verwandelt die körperlichen Eindrücke des Tastsinns in eine psychische Erfahrung, wie Eduardo Torreani schreibt: »In seinem ersten Werk [An Essay Towards a New Theory of Vision, Ν. Β.] beschränkt er [Berkeley, Ν. Β.] sich darauf, zu behaupten, daß nur das, was optisch wahrgenommen wird, im Geist existiert; ohne zu leugnen, daß eine tastbare Welt außerhalb des 55
K ö r p e r s , mithin der H a u t erzeugte E m p f i n d u n g , welche sich nur im H i e r und J e t z t einer Stimulation ereignen kann, und eine räumlich wie zeitlich gedehnte Semiotik visuell h e r v o r g e r u f e n e r Tastvorstellungen. 1 2 5 M i t B e r k e l e y s k ö r p e r a n t h r o p o l o g i s c h e m E i n s a t z p u n k t ist ein Verständnis haptischer W i r k u n g und W a h r n e h m u n g formuliert, welches sich mit d e m mechanischen G r u n d p r i n z i p der K r a f t ü b e r t r a g u n g gleichsetzen läßt. 1 2 4 E n t s c h e i d e n d ist in dem Z u s a m m e n h a n g , daß er dieses G e s c h e h e n sehr allgemein als jede ( A b f o l g e v o n ) B e w e g u n g ( e n ) a u f f a ß t , die dem gesamten K ö r p e r z u g e f u g t oder v o n ihm a u s g e f ü h r t werden: E i n physikalisch generalisierbares K o n z e p t , d e m z u f o l g e sämtliche K ö r p e r b e w e g u n g e n ,
welche
durch einen K ö r p e r ausgelöst w e r d e n , als Tastgeschehen beschreibbar sind. D a B e r k e l e y dieses a u f den menschlichen K ö r p e r bezieht, trifft er daran auch die zumindest nach der aktuellen p s y c h o l o g i s c h e n D e f i n i t i o n übliche U n t e r s c h e i d u n g zwischen Taktilität u n d H a p t i k . I 2 i D e m v o r r a n g i g a u f die
,2i
124
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Geistes vorhanden ist, die freilich keine Kausalverbindung mit den optischen Data hat.« (Eduardo Torreani, Die Theorie der Gesichtswahrnehmung von George Berkeley im Lichte der modernen Naturwissenschaft. Dissertation, Freie Universität Berlin, 1965, S. 35) Diese beiden Konzepte der Taktilität/Haptik korrespondieren der Unterscheidung, welche die Forschung bei Berkeley in der Gegenüberstellung zwischen unmittelbarer und indirekter bzw. »epistemischer Wahrnehmung«, wie Ralph Schumacher formuliert, festmacht. (Ralph Schumacher, Berkeley über die Wahrnehmung von Eigenschaften und Dingen, in: ders. [Hg.] in Verbindung mit Oliver Scholz, Idealismus als Theorie der Repräsentation?, Paderborn 2001, S. 45-76, hier S. 63) Zum Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Mechanik allgemein siehe TorraMattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 23iff. Taktilität ist passiv, während Haptik die Aktivität der Hand meint. Siehe dazu Martin Grunwald, Erkenntnistheoretische und historische Aspekte, in: ders. und Lothar Beyer (Hg.), Der bewegte Sinn. Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung, Basel/Boston/Berlin 2001, S. 1 - 1 4 , hier S. 9f. Bei Berkeley deutet sich bereits eine Umorientierung von dem Tastorgan Hand zum Wahrnehmungsorgan Haut an. Auch wenn es in seiner Abhandlung nicht expliziert wird, so zeigt es sich gerade an dem Punkt der Argumentation, an welchem der ganze Körper als den Tastreizen ausgeliefertes Organ konzipiert wird. »Die Haut [...] kann sich nicht abwenden oder vor Eindrücken verschließen. Dies unterscheidet sie grundlegend von allen übrigen Sinnen. Ihre Sinnesorgane sind zudem nicht ausschließlich am Kopf, dem »edelsten Teil< des Menschen, lokalisiert wie die der anderen vier Sinne, sondern sie sind über die Oberfläche des ganzen Körpers verteilt. Um diesem Problem der Unwillkürlichkeit und der unmittelbaren Leiblichkeit zu entgehen [...], hat man verschiedene epistemologische Strategien entwickelt. Die bedeutendsten sind die verkürzende Gleichsetzung des Tastsinns mit der Hand und die Reduktion der Vielfalt der Hautsinne auf ihre taktil-haptische Komponente. Beides zeigt sich in den aufgeführten Schriften zur Sinnesästhetik, in welchen [...] die Hautsinne als aktive Handsinne konzipiert sind, ohne daß ihr passives Element, ihr >Geworfensein< in die Empfindung, nähere Berücksichtigung findet.« (Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 234^) Benthien findet bei Condilliac erste
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Hand und alle von ihr zu ergreifenden Instrumente gerichteten Tastvorgang setzt Berkeley nämlich ein grundsätzlicheres Konzept entgegen, welches er als basale Kondition aller Körper im Raum versteht. Auf diese Weise tritt bei ihm die Hand als exklusives Tastorgan zurück. Schließlich wird jede Veränderung eines Körperzustandes von Berührungen ausgelöst, ja, Veränderung wird letztlich als eine von Berührung sich geradezu ununterscheidbar vollziehende Operation unterstellt. Insofern aber der visuelle Wahrnehmungssinn immer auch Teil eines individuellen Körpers im Raum ist, kann es keine reine Visualität geben. Bei Descartes wie bei Locke wird die Hand in konstitutive Beziehung zur Blindheit gebracht. Sie repräsentiert und substituiert das fehlende Augenlicht, wenn sie die wahrzunehmenden Objekte abtastet. Sie ist aktiv und sowohl bei Descartes als auch in Lockes Molyneux-Beispiel zielsicher und geschickt. Berkeley hingegen entwindet den Tastsinn dem Diskurs der Blindheit"16 und konzipiert ihn als eine den gesamten Körper betreffende Taktilität: Nicht nur eine von einem menschlichen Körperglied auf einen externen Gegenstand ausgehende und auszuführende Handlung, welche als intentionale Aktivität definiert wird, sondern ein physikalischer Grundzustand, der durch die Stellung und Wechselwirkung der Körper im Raum bedingt ist.127 Darüber hinaus zeichnet Berkeley die Vorstellungen des Tastsinns als Grundvoraussetzung der Gesichtswahrnehmung aus. Das Sichtbare verknüpft sich mit Qualitäten, welche der Tastwahrnehmung entstammen. Innerhalb dieser Taxonomie der Sinne markiert Tasten nicht die andere Seite des Sehvermögens, sondern ist dem Sehvermögen vielmehr als ein von ihm stets unterschiedener Wahrnehmungsbezug unabdingbar inhärent.
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Ansätze einer Differenzierung zwischen aktiver und passiver Auffassung des >Hautsinnsneue Welt< kann nämlich nicht als etwas Vertrautes wiedererkannt und entziffert werden, sondern bedarf überhaupt erst der Erschließung des Codes. An dessen Ausformulierung und Etablierung wird daher seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gearbeitet. Ziel ist es, die mikroskopischen Observationen mit der natürlichen Wahrnehmungswelt abzugleichen und so die durch die Vergrößerung hervorgebrachten abstrakten Strukturen mit der gewohnten Anschauung wieder zu verknüpfen; das bloße und das mikroskopische Auge einander mithin wieder anzunähern. Im Ausblick auf zunehmende Leistungsfähigkeit der Medientechnik und das Vermögen, das Observierte richtig zu deuten, vermutet Locke auch eine Möglichkeit zur Aufdeckung der tatsächlichen - in den primären Qualitäten verankerten - Beschaffenheit der Welt. Die >neue Welt< wird ihm deshalb zur Vorstufe und zum Äquivalent der wahren, der tatsächlichen Welt, deren Einsicht dem Auge obliegt. Mag dieses auch in seinem operativen Modus durch den Einsatz eines Mikroskops gleichsam haptische Züge annehmen, so verfügt es dennoch — und nicht etwa die Hand — über die entscheidende epistemologische Kapazität. Lockes Erkenntnistheorie räumt folglich dem visuellen Sinn eine Schlüsselstellung ein. Berkeleys primäres Interesse an der Sinneswahrnehmung ist demgegenüber, zumindest in dem Essay Towards a New Theory of Vision, vorrangig pragmatisch motiviert. Unter welchen Voraussetzungen, so die darin erörterte Fragestellung, ist der Mensch dazu in der Lage, sich in seiner Lebenswelt zurechtzufinden? Seine Antwort fällt entsprechend der Grundbedingung aus, daß die Welt von der räumlichen Verortung des Körpers her zu denken sei. Keine Vergrößerungsgläser oder andere Techniken zur Schärfung des Blicks sind dabei vonnöten, ja, sie können sogar hinderlich sein, denn >weder auf die eine noch auf die andere Weise tragen Mikroskope zur Verbesserung des Gesichtsinns beineuen Welt< setzt er statt dessen eine ontologische Zäsur. Bemerkenswert ist dabei, wie er sie einführt. Indem er festhält, daß wir weder >mehr Punkte < noch auch >die seitlichen Punkte deutlicher sehen< können, spricht er der Mikroskopie in quantitativer und qualitativer Hinsicht ab, leistungsfähiger, d. h. distinguierter bzw. differenzierter, zu 61
sein, als es das bloße A u g e ist. 1 ' 9 G l e i c h w o h l , so die S c h l u ß f o l g e r u n g , e r ö f f nen uns die V e r g r ö ß e r u n g s g l ä s e r >eine neue Weltx, deren Besonderheit darin besteht, daß ihrer Sichtbarkeit das haptische M o m e n t fehlt. >Neu< ist sie d e s w e g e n , weil sie das Verweisungsverhältnis zwischen sichtbaren u n d haptischen Werten suspendiert. Die alleine mit dem Auge wahrgenommenen Objekte haben eine bestimmte Verknüpfung mit tastbaren Objekten, wodurch wir gelernt haben, vorauszusehen, was sich aus der Annäherung an entfernte Objekte oder ihrer Berührung fur die Teile unseres eigenen Körpers ergibt, und das trägt viel zu seiner Erhaltung bei. Zwischen tastbaren Dingen und solchen sichtbaren Objekten, die mit Hilfe eines scharfen Mikroskopes wahrgenommen werden, gibt es dagegen eine derartige Verknüpfung nicht.140 D e m m i k r o s k o p i s c h armierten A u g e geht die tastbare D i m e n s i o n des Wahrg e n o m m e n e n verloren, w e s h a l b das, w a s es uns sichtbar macht, v o n keiner unmittelbaren B e d e u t u n g f ü r unser L e b e n ist. E s ist körperlich nicht faßbar u n d räumlich nicht lokalisierbar: die W a h r n e h m u n g eines i n t e l l i g e n t e n G e i stes^ D i e B e s c h r e i b u n g der >neuen Welt< w i r d also v o n einem Wesen repräsentiert, das nicht nur intelligent, sondern a u f g r u n d seiner U n k ö r p e r l i c h keit u n d U n b e r ü h r b a r k e i t auch geisterhaft bestimmt, 1 4 ' ja s o g a r gespenstisch konnotiert ist.' 4 2 L i e g t B e r k e l e y s K o n s t r u k t i o n der ausschließlich auf den visuellen Sinn fixierten Intelligenz daher die Vorstellung des Gespenstischen zugrunde?
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Siehe rum Verhältnis zwischen Mikroskopie und Erkenntnistheorie bei Berkeley Catherine Wilson, Berkeley and the Microworld, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76/1 (1994), S. 57-64. Berkeley, Versuch über eine neue Theorie des Sehens und Theorie des Sehens, §85, S. 53. Barbara Stafford spricht in diesem Zusammenhang von »extreme >Neoplatonizing< dissolution of sensory experience into ghostly counterlikenesses.« Sie fuhrt weiter aus: »Descartes, Hume, and Berkeley variously cast serious doubt and damaging suspicion on material solids, and on anything related to self-sufficient bodies. Simultaneously, they unmoored the corporeal imagination from reason and reduced it to manufacturing misperception and error. Having internalized and cognized space, Berkeley, in particular, left sensous bodies open to attack of being merely ideational or imaginary, the fanciful constructs of the mind« (Barbara Stafford, Body Criticism, Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, Cambridge, Mass./London 199}, S. 385). Zur Schwierigkeit, beide Begriffe voneinander abzugrenzen, siehe Derrida: »Die Semantik des Gespensts sucht selbst die Semantik des Geistes heim. Wenn es Gespenstisches gibt, dann genau in dem Augenblick, wo die Referenz unentscheidbar zwischen beiden in der Schwebe bleibt - oder wenn sie nicht mehr in der Schwebe bleibt, da, wo sie es hätte tun müssen.« (Jacques Derrida, Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers, von Susanne Lüdemann, 2. überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 1996, S. 173)
In das von ihm für die Sinnesdifferenzierung veranschlagte semiotische Argumentationsschema zurückübertragen, muß dem mikroskopischen Blick ein Referenzverlust attestiert werden: Wenn den visuellen Zeichen die tastbare Verankerung abhanden kommt, dann fehlt ihnen das wesentliche, ihre Bedeutung nämlich. Die sichtbare Verweisung bleibt - semiotisch - leer: ein Wort, welches für nichts steht. Eine solche Wahrnehmung konstituiert sich ausschließlich aus Licht und Farbe. Aber ist eine solche überhaupt möglich und denkbar? Vermag das Mikroskop tatsächlich räumlich indeterminierte Strukturen sichtbar zu machen und somit reine Visualität aus der Erscheinung zu extrahieren? Oder anders gefragt: Sind Geister und Gespenster unkörperlich vorstellbar? Können sie ohne einen Körper gedacht werden? Berkeley selbst stellt diese Frage zwar nicht. Wollte man sie jedoch nach Maßgabe seiner eigenen Parameter beantworten, müßte man dann nicht annehmen, daß auch mikroskopische Observationen letztlich nicht anders wahr- und vorstellbar sind, denn haptisch, d. h. gestalthaft und räumlich ausgedehnt? Als >Punkte< eben?'43 Wird eine mikroskopische Observation nicht im Augenblick ihrer konkreten Beschreibung notwendig von einem >Körper< substituiert, einem spektralen Körper allerdings,' 44 in welchem dennoch nur die Suggestion des Tastbaren in Erscheinung tritt?
Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren: Exkurs zur Mikroskopie-Metapher in Bodmers Abhandlung über das »Wunderbare« 1740 erscheint Johann Jacob Bodmers Schrift von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. Das im »zweiten Abschnitt« dieses Textes verhandelte Problem »Von der Vorstellung der Engel in sichtbarer Gestalt«' 4 ' bringt, obschon unter umgekehrtem Vorzeichen,
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Hinzuweisen ist hierbei zum Beispiel auch auf Lockes Beschreibung des mikroskopisch observierten Bluts. Dieses wird nicht unkörperlich, sondern in F o r m v o n roten >Kügelchen< wahrgenommen. Daran läßt sich beobachten, daß die flüssige, amorphe Substanz unter dem Mikroskop als Zusammensetzung visuell distinkter Formen zum Vorschein kommt. Das mikroskopische Bild des Blutes fungiert zugleich als eine Konkretisation der >Grundtextur< der Dinge. Deshalb weist auch diese letzdich eine körperliche Dimension auf.
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Im Sinne Derridas: »Damit es Spuk gebe, bedarf es einer Rückkehr zum Leib, aber zu einem abstrakteren Leib denn je. D e r spektrogene Prozeß antwortet also auf eine paradoxe Verleiblichung. Wenn die Idee oder der Gedanke einmal von ihrem Substrat abgelöst sind, zeugt man Gespenster, indem man ihnen einen Leib gibt. Nicht, indem man zu dem lebendigen Leib zurückkehrt, von dem die Ideen oder Gedanken abgezogen sind, sondern indem man diese letzteren in einem anderen, artefakthaften Leib inkarniert« (Derrida, Marx' Gespenster, S. 200).
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Bodmer greift die Thematik in seinem 1 7 4 1 erschienenem Hauptwerk
Critische
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eine vergleichbare Konfiguration zur Sprache, wie sie Berkeleys mikroskopischem Kommentar innewohnt. Bodmer rückt seine Überlegungen in eine poetologische Perspektive, welche er am Beispiel von Miltons Paradise Lost und unter Bezugnahme auf Voltaires und Magnys Kritiken dieses Epos schärft. Die zentrale These der Ausführungen betrifft das Problem literarischer >Visualisierbarkeit< des Unsichtbaren. Inwiefern, so Bodmers folgenreiche Frage, ist es der Poesie möglich, Unsichtbares sichtbar darzustellen? Während Berkeley angesichts mikroskopischer Bilder den Verlust tastbarer Suggestion diagnostiziert und damit zwar eine >neue Welt< eröffnet sieht, diese jedoch im Kontext seiner Argumentation als durchaus >bedeutungslos< abtun muß, fehlt ihr doch exakt das Element, dem die Funktionsstelle des Referenten zukommt, reflektiert Bodmer umgekehrt die Bedingungen, unter welchen unsichtbare Wesen, nämlich Engel, gestalthaft repräsentiert und in dieser Form poetisch wirksam werden können. Ihm geht es dabei nicht um die Rückgewinnung einer haptischen Qualität, da er den visuellen Wahrnehmungsprozeß ohnehin nicht als einen linguistisch orientierten haptischvisuellen Verweisungszusammenhang versteht. Ihm geht es auch nicht um die Wahrnehmung unmittelbar anwesender Dinge. Seine Fragestellung kreist vielmehr um eine an der sinnlichen Wahrnehmung orientierte Vorstellung abwesender Dinge sowie, darauf aufbauend, um die Übertragbarkeit - an sich - unsichtbarer und unkörperlicher geistiger Wesen in menschliche bzw. menschenähnliche Körper. Er hält fest, daß »Milton seine Englischen Personen mit Gestalten und Gliedmassen versehen« habe, »dadurch diese unsichtbare Wesen bequem gemacht werden, die Sinne zu rühren und einzunehmen.«146 Eine >rührende< Wirkung auf die Wahrnehmung vermögen, so die aufschlußreiche Annahme, allein körperlich faßbare Wesen auszuüben. Denn nur diese, Körper also, können berühren und berührt werden, wie die Erfahrung des frühen 18. Jahrhunderts lehrt, weshalb auch ästhetisch nur Vorstellungen körperhafter Wesen >rühren< können. Das bedeutet, daß zumindest in dieser Hinsicht die Wahrnehmungen des inneren Auges, besser noch: des inneren Tastorgans, nach denselben mechanisch angelehnten Gesetzen funktionieren wie diejenigen des physiologischen Sensoriums. Soll sie emotionale Rührung auslösen können, muß der Imagination ein Bild geliefert werden, welches derart materiell und plastisch Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter, Reprint, Frankfurt am Main 1971, im zwanzigsten Abschnitt unter der Uberschrift »Von den Gemählden der Dinge aus der unsichtbaren Welt« wieder auf. ,4S Johann Jacob Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrenen Paradiese; Der beygefuget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte, Zürich 1740, Reprint Stuttgart 1966, S. 30. 64
ausgestaltet erscheint, daß es auch unter den Realbedingungen berührbar und ertastbar wäre. Es m u ß deshalb körperlich konstituiert sein und nicht auf Immaterielles referieren, u m die Suggestion u n d den E f f e k t des Sichtund Faßbaren zu ermöglichen. Auf diese Weise v e r k n ü p f t Bodmer die Kategorie der >Rührungbuchstäblichen< Bedeutung, aufs engste mit der taktilen Wahrnehmung. >Rührungintelligenten Geist< gemeint haben mag, zu. Für die Dichtung proklamiert er demgegenüber die Notwendigkeit der Verkörperung. Nicht auf der Gegenüberstellung zwischen Empirie und dem hypothetischen K o n s t r u k t einer körperlosen Intelligenz fußen seine Überlegungen, sondern auf der systemischen Differenz zwischen Philosophie und Kunst. Milton »hat in diesem Stück die Freyheit gebraucht, die ihm die poetische K u n s t vergönnete, alldieweil sein Vorhaben nicht war, eine metaphysische Abhandlung von der Natur und dem Wesen dieser unsichtbaren Geister zu schreiben, sondern nur die Phantasie mit wohlerfundenen und lehrreichen Vorstellungen auf eine angenehme Weise einzunehmen.« 148 Unter der Voraussetzung ihrer A b g r e n z u n g von der Metaphysik konzediert Bodmer der Poesie eine Eigengesetzlichkeit, welche sie dazu befähigt, körperhafte Supplemente oder >Suggestionen< auch gegen die Widerstände philosophisch-rationaler Logik 1 4 9 zu erfinden. D a ß er die sinnliche Darstellung des Unsichtbaren hier als ein Supplement verstanden wissen will, legt die Rede von der >Einkleidung< nahe. Denn da die Sichtbarkeit für die Natur der Engel etwas gantz fremdes ist, so ist die Operation des Poeten, der sie in sichtbare Cörper einkleidet, eben dieselbe, nach welcher Dinge, die alleine möglich sind, aus diesem Stand in den Stand der W i r k lichkeit hinübergebracht werden. 1 ' 0
Die >Einkleidung< - Metapher des rhetorischen Ornats - bezeichnet hier einen poetischen Vorgang, welcher sich nicht nur an die >Natur< der dargestellten Gegenstände anlehnen muß, sondern auch Möglichem zur Sichtbarkeit verhilft, d. h. Mögliches aktualisiert und konkretisiert. Die als Supplement ausgewiesene >Einkleidung< ist keine bloße, nach dem Verständnis traditioneller Rhetorik verstandene Stütze, mit welcher dem Unsichtbaren
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Siehe dazu ausführlicher Kap. V. Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren, S. 31. 145 Dabei gilt es festzuhalten: »Wenn jezo ein Poet weiter gehet, [...] so ist auch dieses mehr als ein Hirngespinst und leere Einbildung, es hängt an etwas würcklichem und geschehenem, wovon wir Gewißheit haben« (ebd., S. 18). " ° E b d . , S. 32. 148
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ein > sichtbarer Körper< verliehen werden könnte, um somit die abstrakten Begriffe der Metaphysik stellvertretend zu veranschaulichen. Bodmer distanziert sich deutlich von einer solchen allegorischen Vereinnahmung der >Einkleidung< und damit von jeder Auffassung, welcher zufolge »die cörperliche[n] Bilder, die von den Engeln und geistlichen Sachen gebracht werden, irgend eine geistliche Beschaffenheit, eine Metaphysicalische, oder moralische Tugend und Eigenschaft [...] bedeuten sollen.« 1 ' 1 Das Supplement, und darin besteht dessen Paradoxie, stellt vielmehr einen Anspruch auf Autonomie, denn es ist grundlegender Bestandteil der poetischen Operation selbst. Es ist bestimmt als Werkzeug und Produkt der Poiesis des >Möglichenin irgend einem anderen möglichen WeltGebäude zu suchen< ist, so ist damit exakt jener Raum abgesteckt, den die wis-
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mit der Auffassung verknüpft, daß als dessen legitimer Entstehungs- und Wirkungsort vor allem die Poesie geltend gemacht werden müsse. Indem es jedoch mit naturwissenschaftlichen Verfahren der mikroskopischen und teleskopischen Vergrößerung verglichen wird, behauptet das >Wunderbare< eine über die poetisch abgezirkelten Grenzen hinausweisende Relevanz. So trifft in diesem Topos eine Erfahrung neuzeitlicher Naturforschung'' 8 mit poetologischen Kategorien zusammen. Poetische Texte gelten Bodmer als Instrumente bzw. als eine »poetische Verrichtung«' 59 zur Rührung der Phantasie, d. h. zur Evokation von Empfindungen in der Einbildungskraft: »sie belustigen die Einbildungs=Krafft mit der Neuigkeit und Selzamkeit deren Personen, welche vorgestellt werden; sie unterhalten und erregen die geheimen Besorgnisse, welchen das Gemüthe des Menschen von Natur unterworffen ist.«160 Die Abweichung von vertrauten Wahrnehmungsformen zugunsten des > Seltsamem und >Neuen< wird poetisch daher nicht nur erlaubt, sondern geradezu eingefordert. Die Dichtung etabliert auf diese Weise einen eigendeterminierten Funktionszusammenhang, in welchem sie nach ihrem eigenen Dafürhalten entscheidet und mithin sogar das Risiko eingeht, sich über theologisch-metaphysische Prämissen hinwegzusetzen. Zugleich aber, indem sie sich von diesen entfernt, gerät sie in die Nähe einer bestimmten Ausrichtung der philosophischen Naturforschung, welche in den >wunderbaren< Strukturen der mikroskopischen Visualisierung eine Herausforderung anerkennt. Im Unterschied zu Berkeleys skeptischer Einschätzung der Mikroskopie und ihrer Wahrnehmungsmodifikation sieht Bodmer in ihr ein Potential zur Veranschaulichung und Erklärung poetischer Sachverhalte. Was Dichtung und die durch optische Instrumente vermittelte Sichtbarkeit miteinander verbindet, faßt er in den Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter bereits im ersten Abschnitt - »Von den Mitteln die Phantasie mit Bildern zu bereichern und verständig anzuführen« - zusammen: Bey diesem Anlaß muß ich den künftigen Poeten dieses Punctens halber in die neue Philosophie verweisen, welche die Sinnen und vornehmlich das Auge mit neuen Werkzeugen versehen hat, die zur Schärffung und Erhöhung der natürlichen so wohl gedienet haben, dass man mittelst derselben als mit neuerworbenen senschaftliche Forschung im Anschluß an Galilei mit ihrer Eröffnung neuer Erfahrungswelten durch Teleskop und Mikroskop erschlossen hat.« (Andreas Gipper, Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich. Von Cyrano de Bergerac bis zur Encyclopedic, München 2002, S. 39) 1,8 Siehe dazu Karlheinz Barck, Wunderbar, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 6: TanzZeitalter/Epoche, Stuttgart/Weimar 2005, S. 730—773, hier S. 756-758. Bodmer, Critische Abhandlung von dem Wunderbaren, S. 20. ,6 ° Ebd., S. 21. 68
Sinnen die herrlichsten Entdeckungen gemachet hat, dadurch die alte Welt der Dinge in einer gantz veränderten Gestalt erschienen ist. 161
Wenn Bodmer an den optischen Instrumenten ihren Effekt hervorhebt, >die alte Welt der Dinge in einer ganz veränderten Gestalt< vorzufuhren, dann interessiert ihn daran weder der Wahrheitsgehalt der Observationen noch das Problem ihrer Dechiffrierung, sondern allein die sublime Tatsache, daß sie wie >mit neuerworbenen Sinnen die herrlichsten Entdeckungen ermöglichen. Zwar bezieht er sich hier, anders als in der Abhandlung über das Wunderbare, auf die den optischen Instrumenten zugeschriebene Funktion der >Schärfung< und Steigerung des >natürlichen< Sehvermögens, jedoch knüpft er argumentativ allein an den Aspekt der Differenz an, welche die technisch generierte Sichtbarkeit gegenüber der gewohnten Wahrnehmung auszeichnet. Indem er, wie zuvor dargelegt, die spezifische Leistung der Poesie einerseits mit Hilfe der Einkleidungsmetaphorik und andererseits mit Hilfe der optischen Geräte erklärt, führt er beide Topoi zusammen. So läßt sich die körperhafte Ausgestaltung der Engel in Miltons Text sowohl als eine Strategie des >Einkleidens< als auch der mikroskopischen Visualisierung umschreiben. Anders formuliert: Das Mikroskop gilt folglich selbst als eine Apparatur, mit welcher die Bezugsgegenstände in besonderer Weise >eingekleidet< werden. Anstatt, wie von Berkeley reflektiert und auch von Locke mit anderer Akzentsetzung erwogen, die Strukturen der Welt zumindest in bezug auf die haptische Schicht zu entblößen und in ihrer gleichsam nackten Konstitution aufzudecken, verleiht die mikroskopische Technik ihnen lediglich ein anders Gewand, kleidet sie also ein und gibt ihnen somit ein anderes Aussehen, als es dem >natürlichen< Auge zugänglich ist. An diesem Punkt aber wäre die mikroskopisch erzeugte Grundtextur, dieses sichtbare Gewebe der observierten Dinge, zugleich im Sinne des Gewebes, also gewebten Stoffes lesbar, aus welchem Kleider und Gewänder bestehen.' 62 161
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Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter, S. i8f. Siehe dagegen, den Vernunftaspekt als Zielsetzung der Poetik Bodmers und Breitingers akzentuierend: »Aufgabe der P o e s i e ist es - in dieser These stimmen die Schweizer mit Dubos überein - zu bewegen und zu rühren; aber das >Pathetische< ist freilich nicht ihr einziger und ihr höchster Zweck. Die Rührung der Phantasie soll vielmehr der vernünftigen Einsicht den Weg bahnen und ihr im Gemüt des Hörers Eingang verschaffen. Was der bloße Begriff und die abstrakte Doktrin nicht vermag, das soll durch die richtige Wahl der Metaphern, der poetischen >Gleichnisse< erzielt werden.« (Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung [1932]. Mit einer Einleitung von Gerald Härtung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach, Hamburg 1998, S. 45of.) Diese Deutung geht zwangsläufig mit einer Entwertung der >Einkleidung< und >Einhüllung< als bloß sekundären, lediglich als Mittel zum Zweck eingesetzten Technik einher: »Aber das Gleichnis hat auch hier keinen s e l b s t ä n d i g e n Sinn und Wert; es ist nur
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In dem Gedicht »Die Himmlische Schrift« aus dem zweiten Band des Zyklus Irdisches Vergnügen in Gott nutzt auch Barthold Heinrich Brockes die Metapher des Kleides zur Bestimmung der Paradoxie des Sichtbar-Unsichtbaren, welches hier, wie bereits vom Titel indiziert, mit der Metaphorik der Schrift und der Textur in Verbindung gebracht wird. Gott selbst wird in dem Gedicht als eine Sichtbarkeit definiert, welche sich allein in dessen Werk, dem »unbegrentzten Raum des hohlen Himmels« zu erkennen gibt und als »unendlich ewig Kleid« weitergedacht wird. Von diesem Kleid aber heißt es, daß es zugleich »zeiget und verhüllet«, d. h. sowohl freilegt als auch bedeckt und damit die Bedeutung der Grundtextur ebenso wie diejenige des verhüllenden gewebten Stoffes annimmt. Mit dem Oxymoron der »allertiefste[n] Höhe« führt Brockes zudem die mikrokosmische Topographie der Tiefe mit der metaphysischen und makrokosmischen der Höhe zusammen. Da ich anitzt die allertiefste Höhe, Den unbegrenzten Raum des holen Himmels, sehe, Die Weite sonder Ziel, die Gott allein erfüllet, Wo Sein unendlich ewig Kleid, Gewebt aus Licht und Dunkelheit, Sein Wesen zeiget und verhüllet; So stellet dieser Raum recht sichtbar, hell und klar Nicht unserm Geiste nur, den Augen selber, dar Selbst die Unendlichkeit, In deren Tiefe Licht und Dunkel sich vereinet, Die sonder Farbe blau, dicht sonder Cörper, scheinet.' 6 '
In der Sichtbarwerdung der >Unendlichkeit< knüpft die Strophe an den »unbegrenzten Raum< an, welcher auch in die Zuständigkeit der Metaphysik fällt, betont hier jedoch, ganz im Sinne der Konzeption des poetisch Wunderbaren, dessen sinnliche Verfaßtheit. Denn >nicht unserem Geiste nurden Augen selber< gibt er sich zu erkennen. Berkeleys »Dialogues« 1713 wird die Mikroskop-Thematik in Three Dialogues between Hylas and Philonous von Berkeley noch einmal aufgegriffen. Nachdem er in der früheren Schrift die lebensnotwendige Leistung des Tastsinns und dessen Verlust in der mikroskopischen Zurichtung herausgestellt hat, nimmt seine Argumentation hier einen anderen Verlauf an. Dem Tastsinn wird nun keine Leit-
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Vorbereitung für ein anderes und die Hülle, in die sich dieses andere kleidet.« (Ebd., S. 451) Barthold Heinrich Brockes, Die himmlische Schrift, in: ders., Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch= und Moralischen Gedichten, nebst einem Anhange verschiedener dahin gehöriger Uebersetzungen [1727], Zweyter Theil, Nachdruck der 4. Aufl. von 1739, Bern 1970, S. i8of.
funktion mehr beigemessen. Im Zuge dieser Umorientierung ändert sich aber auch die Beobachtung und Bewertung der mikroskopischen Wahrnehmungsmodifikation. Bereits im ersten der Dialoge fragt Philonous, der Freund des Geistes — wie sein Name signalisiert und als solcher einen unüberhörbaren Anklang an den >intelligenten Geist< aus dem Essay erkennen läßt - seinen Gesprächspartner Hylas: »Geschieht die naheste und genaueste Besichtigung durch ein Mikroskop oder mit bloßem Auge?«' 64 Hylas beantwortet die Frage durchaus im Sinne des Fragestellers zugunsten des Mikroskops. Berkeleys Position ist hier nicht mehr lebensphilosophisch-pragmatisch angelegt, sondern verlagert sich auf Anliegen der Erkenntnistheorie. Damit jedoch geht auch eine Aufwertung der mikroskopischen Medientechnik einher, was sich bereits an ihrer Attribution als >genau< - »exactest«' 6 ' abzeichnet. Vorgenommen wird diese Umwertung maßgeblich von Philonous, während Hylas sie zumeist nur bestätigt. Die theoretische Auffassung Berkeleys weicht hier derart von derjenigen in der früheren Abhandlung ab, daß die Prämissen und Konsequenzen der letzteren in einigen Punkten geradezu in ihr Gegenteil verkehrt zu sein scheinen. Die Argumentation geht nicht mehr vom räumlich verankerten Körper aus, sondern von einem i n telligenten Geistob es so etwas in der Natur gibtgebildetebis zu jedem beliebigen Grade vergrößerndem Medientechnik, die es so noch nicht gibt. Trotzdem zeigt sich Hylas von Philonous' These, daß Mikroskope ganz andere Farben an den Gegenständen sichtbar machen, als vom bloßen Augen wahrnehmbar, und daß mit der Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit weitere Veränderungen des Observierten erwartbar sind, vollkommen überzeugt. Er tritt, nicht nur an dieser Stelle, weniger als Kontrahent denn als Stichwortgeber seines Gesprächspartners auf, dem er zur Vertiefung seiner Überlegungen den Weg bahnt. Philonous kann daher fortfahren: Ich glaube, es darf offensichtlich aus deinen eigenen Zugeständnissen geschlossen werden, daß alle mit unserem bloßen Auge gesehenen Farben nur scheinbar sind, wie jene an den Wolken; denn sie verschwinden bei einer näheren und genaueren Betrachtung, wie sie uns das Mikroskop ermöglicht.' 68
Entscheidend ist hierbei, daß Berkeley nun im Unterschied zu seiner Aussage im Essay auch den Entzug sichtbarer Kategorien, der Farbe vor allem, durch die mikroskopische Vergrößerung registriert und mit dieser Wahrnehmung eine grundsätzliche epistemologisch bindende Aussage formuliert. Sowohl Tastbares als auch Sichtbares lösen sich unter der Linse auf und verändern die vertraute Anschauung. Exakt darin aber zeigt sich dem Beobachter das >exakteste< Bild der beobachteten Gegenstände. Es ist - wie die andere Seite dieser epistemologischen These lautet - gespenstisch. Der gespenstische Anblick wird durch den Entzug der Farben noch gesteigert. Bestätigt nicht die D i o p t r i k , daß Mikroskope den Gesichtssinn durchdringender machen und die Gegenstände so darstellen, wie sie dem Auge erscheinen würden, wenn es von Natur mit der auserlesensten Schärfe begabt wäre? 1 ' 9
Die im Essay entworfene anthropologische Verknüpfung zwischen Tast- und Gesichtssinn wird in den Dialogues von einer erkenntnistheoretisch grundierten Allianz zwischen Mikroskopie und Dioptrik ersetzt. Beide bestätigen einander. Denn, was die dioptrische Lehre erklärt, wiederholt sich unter der mikroskopischen Linse. In beiden Fällen wird ein Verlust der Ähnlichkeit gegenüber der natürlich-sichtbaren Welt bescheinigt. Obgleich das Assoziationsband mit dem Tastsinn zerrissen ist, mangelt es dem mikroskopischen Blick, nimmt man Berkeleys Beschreibung wörtlich, jedoch nicht an haptischer Kraft. Wie schon bei Locke wird ihm nämlich auch hier die Eigenschaft zugeschrieben, durchdringender — »more penetrating«' 7 " — zu sein, womit er selbst eine haptische Wirkung ausübt. Nicht als Suggesti167 168 165 170
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Berkeley, Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, S. 29. Ebd. Ebd., S. 30. Berkeley, Three Dialogues between Hylas and Philonous, S. 185.
onseffekt des Gesichtssinns wird der Tast- bzw. Berührungssinn hier evoziert. Er bildet weder eine zeichenhaft vermittelte Referenz, noch ist er das Ergebnis einer Repräsentation. Vielmehr bezieht er sich auf den Modus des Sehens selbst. Ein Blick, welcher durchdringt, welcher penetriert, braucht keine haptische Referenz mehr, denn er selbst ist, in bezug auf seine Operativität, haptisch bestimmt. Anders als im Essay, wo die visuellen Zeichen selbst >wenig beachtet werdendurchdringend< charakterisiert. Auf diese Weise wird keine sich aus zwei Sinnen zusammenfugende Wahrnehmungseinheit mehr beschrieben, sondern umgekehrt, die Leistung der visuellen Wahrnehmung stößt in sich selbst auf eine ihr innewohnende, dennoch fremde, zumindest aber bis dahin nicht erkannte Qualität. Der Gesichtssinn hält nicht auf Distanz, er beschränkt sich auch nicht auf die Wahrnehmung von Farben, Licht und Schatten, ja, diese sind aus seinem Wahrnehmungsfeld sogar verschwunden, sondern er dringt in die von ihm erfaßten Gegenstände ein. Zwar formuliert Berkeley seine Beobachtung zunächst nur als Frage: >Bestätigt nicht die D i o p t r i k ? < Dieser läßt er jedoch sogleich Hylas Bekräftigung folgen: »Gewiß«.' 71 Angesichts der mikroskopischen Observationen kommen beide Sprecherfiguren einvernehmlich überein, daß die mikroskopische Darstellung am besten die wirkliche Natur des Gegenstandes, oder was dieser an sich ist, aufzeigt. 172
Allerdings läßt Berkeley Philonous das mikroskopisch Sichtbare als >Darstellungan sich< unterscheidet, auch wieder als sprachanaloges Verweisungsproblem konstituiert. Wie aber lassen sich die Eindrücke dieser mikroskopisch hervorgerufenen >neuen Welt< in das verbale Sprachsystem übersetzen? Wie können sie mit dessen Mitteln repräsentiert und organisiert werden? Ist das bestehende Sprachsystem zur Erfassung der Wahrnehmungen dieser optischen Repräsentationen* überhaupt imstande? Im strengen Sinne, Hylas, sehen wir nicht denselben Gegenstand, den wir fühlen, noch wird derselbe Gegenstand durch das Mikroskop wahrgenommen, der es durch das bloße A u g e wurde. Wollte man aber jede Veränderung für ausreichend erachten, eine neue A r t oder ein Einzelwesen zu bilden, so würde die unendliche Zahl und die Wirrnis von Benennungen die Sprache unbenutzbar machen.' 74
Im dritten und letzten Dialog rückt Berkeley die Pragmatik wieder ins Zentrum der Auseinandersetzung. Sein Interesse gilt nun der Funktionsfähigkeit der Sprache. Sie kann, so das Argument, nur unter der Voraussetzung gewährleistet werden, daß sie unterhalb der Differenzierung von >Arten< und >Einzelwesen< keine weitere Differenzierung, keine Ubergänge oder Zwischenschritte, zuläßt. Sie legt folglich eine besondere Struktur fest, in welche das Sichtbare, soll es benannt werden, einzupassen ist. Sprache funktioniert nur dann, wenn sie die Vielfalt unterschiedlicher Eindrücke zu übergreifenden Einheiten bündelt und von der Kategorie einer radikal verstandenen Singularität absieht. Eine Problemstellung, welche die mikroskopischen Observationen und ihre Beschreibungen ebenso wie ihre Analysen in hohem Maße beschäftigt, wie im folgenden Kapitel ausgeführt werden soll. Abschließend gilt es zunächst jedoch an den hier behandelten philosophischen Texten als bemerkenswert zu resümieren, daß sie bei ihrem Bemühen, Sehen zu erklären, ohne Rückbezug auf das Tasten nicht auskommen. Das manifestiert sich auf der übergreifenden Ebene aller mechanischen Prozesse, insofern deren Zustandekommen als eine Aneinanderreihung einzelner Berührungsmomente konzipiert wird. Sowohl fur Descartes als auch für Locke, aber auch Berkeley ist dieser theoretische Rahmen gleichermaßen bindend. Des weiteren gibt der Bezug auf Kategorien der Haptik bzw. Taktilität auch in anderer Hinsicht den Ausschlag. Für Descartes hat der Tastsinn insoweit Relevanz, als er in Vermittlung eines Taststocks einen bestimmten Aspekt der Dioptrik veranschaulicht. Locke, nachdem er das Sehen dem Tasten vergleichend gegenübergestellt hat, gebraucht die Meta174
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Berkeley, Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, S. 120.
pher der >PenetrationFakt< behandeln läßt, wenn es sich mit den wandelnden natürlichen und technologischen Beobachtungsbedingungen selbst verändert. 4
3
Zum Begriff und Status der empirischen Tatsache in der Aufklärung vgl. Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur 1 1 5 0 - 1 7 5 0 , Frankfurt am Main 2002, S. 279ff. ' 4 Bezugnehmend auf den französischen Juristen Jean Domat fuhren Daston und Park aus: »Bei Fakten \faits\, die geschehen oder nicht geschehen könnten, abhängig von Ursachen, deren Wirkungen ungewiß sind, folgt nicht aus sicheren und unveränderlichen Prinzipien, daß man weiß, was geschehen ist. In Ermangelung von Prinzipien und Beweisführungen mußten die Juristen und Naturforscher, die Fakten vertrauten, sich auf die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Hörensa-
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E s scheint, als bilde das Mikroskop im 17. und 18. Jahrhundert' das >Privileg der Sehkraftx, mehr noch ihre Exklusivität, ab, indem es als konzentrierter Einsatz des Auges unter Ausschaltung der übrigen Sinneswahrnehmungen funktioniert. »Um durch eine Linse besser beobachten zu können,« gibt Foucault eine der zentralen, von der mikroskopischen Forschung aufgestellten Regeln wieder, »muß man darauf verzichten, mit den anderen Sinnen [...] zu erkennen.«6 Der >natürlichen< Wahrnehmung, welche eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinne nicht nur zuläßt, sondern auch als lebensnotwendiges Prinzip deklariert, setzt die Naturforschung eine Exklusivität des disziplinierten Auges entgegen. Allein durch den Tastsinn sieht Foucault die Vorherrschaft des Auges im Zeitalter der >Repräsentation< zugleich erweitert und gestärkt. Dabei war das Hörensagen ausgeschlossen, aber auch der Geschmack und der Geruch waren ausgeschlossen, weil sie mit ihrer Ungewißheit, ihrer Variabilität keine Analyse in getrennte Elemente gestatten, die allgemein akzeptabel wäre. Es handelt sich um eine sehr enge Begrenzung des Tastsinns auf die Bezeichnung einiger, ziemlich evidenter Oppositionen (wie jene des Glatten und des Rauhen)
Es gilt im folgenden zu prüfen, wie sich diese >Begrenzung< im einzelnen konkretisiert und nach welchen Maßstäben die von der Technik des Mikroskops ausgelöste Interaktion zwischen Sichtbarem und Tastbarem beschreiben läßt. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang auch die Definition der wesentlichen Technik mikroskopischer Forschung, des Beobachtens nämlich. »Beobachten heißt [...], sich damit bescheiden zu sehen; systematisch wenige Dinge zu sehen.«8 Obzwar die Mikroskopie das >Privileg der Sehkraft< bestätigt und ihre Operation als Beobachtung oder Observation bezeichnet wird, steht gleichwohl in Frage, ob sie auch in bezug auf dieses spezifische Verständnis als paradigmatisch gelten kann. Die Auffassung des systematischen Beobachtens als einer sich auf >wenige Dinge< begrenzenden Vorgehensweise wird, nimmt man einschlägige Texte in den Blick, 9 von ihr nur gen von Zeugen verlassen - allesamt notorisch unzuverlässige Quellen der Wahrheit.« (Ebd., S. 280) Der hier formulierte Befund widerspricht jedoch Foucaults Beschreibung dessen, was die Naturforschung des 17. und 18. Jahrhunderts leistet. 5 Zwar reicht die technische Erfindung des Mikroskops bereits ins 16. Jahrhundert zurück, dennoch erfolgt eine systematische Erkundung seiner Möglichkeiten auf dem Gebiet der Naturforschung erst hundert Jahre später. Seit dem 17. Jahrhundert hat die Mikroskopie eine Konjunktur, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. 6 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 174. 7 Ebd. " E b d . , S. 175. 9 Der hier ausgewählte Text von Wolff ist insoweit einschlägig, als sich Zedlers
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bedingt umgesetzt. Die Mikroskopie des 18. Jahrhunderts realisiert dieses Beobachtungskonzept nämlich, wie ich exemplarisch zu zeigen versuchen werde, nicht nur auf der Ebene der von ihr untersuchten Gegenstände, d. h. der Fremdreferenz, sondern auch auf derjenigen ihrer instrumenteilen und technischen Eigenleistungen, indem sie diese auf unterschiedliche Perspektiven, Zustände und vor allem verschieden präparierte oder geschliffene Linsen zurückbezieht. So beobachtet sie zwar, jedoch vornehmlich ihre eigenen Operationsbedingungen. Sie weiß, daß die E f f e k t e der Wahrnehmung sich in hohem Maße den genannten Faktoren verdanken, weshalb sie, um die mikroskopisch sichtbare Natur zu systematisieren, zunächst auch ihre eigenen Verfahren systematisieren muß. Dabei grenzt die Konzentration auf die visuelle Wahrnehmung keineswegs die Kontingenz und Variabilität des Wahrgenommenen ein. Die wenigen, systematisch beobachteten Dinge werden vielmehr proliferiert. J e konzentrierter sich das A u g e auf einen Gegenstand richtet, desto uneinheitlicher und zerstreuter gibt sich dieser zu erkennen und desto weniger läßt er sich als >konkrete Gestalt< identifizieren. Entscheidend ist, daß erst nach Abzug der natürlichen Gestaltwahrnehmung jene Schichten und Strukturen der Gegenstände zutage treten, welche zu ihrer systematischen Erfassung benötigt werden. J e weniger demzufolge das bloße A u g e an der Beschreibung des Observierten beteiligt ist, desto wahrscheinlicher deren Richtigkeit. Indes erfordert diese Erfassung nicht allein einen perzeptiven, sondern auch einen sprachlichen Z u g r i f f . Die Naturforschung muß mithin versuchen, das Sichtbare sprachlich festzulegen, es also überhaupt erst sagbar zu machen. Ausgangspunkt ist dabei die prekäre Einsicht, daß »die Dinge und die Sprache getrennt sind. Sie [die Naturgeschichte, N.B.] wird also jene Distanz reduzieren müssen, um die Sprache dem Blick sehr nahe zu bringen und die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken.« 10 Bevor der Naturforscher das Beobachtete einer Beurteilung unterzieht, muß er es innerhalb dieser Grenzen beschreiben und sprachlich bestimmen, d. h. eine Annäherung zwischen dem Sichtbaren und Sagbaren ermöglichen. Mikroskopie muß sich daher um die Erzeugung eines Berührungspunktes zwischen dem mikroskopischen (Ab)Bild und seiner sprachlichen Repräsentation" bemühen. A u f beiden Seiten dieses Annäherungsprozesses arbeitet sie Universal-Lexicon in dem Artikel über Vergrößerungsgläser auf ihn als vorbildlich bezieht. Siehe dazu Lothar Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' »Anton Reiser«, Frankfurt am Main 1987, S. 174. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 173. " Dieser Berührungspunkt läßt sich zwischen der Beobachtung und sowohl ihrer verbalen als auch ihrer illustrativen Repräsentation unterscheiden: »Investigators could communicate their microscopic data to the scientific community either verbally or pictorially. In fact, they often combined descriptions and illustrations into 79
jedoch g e g e n d r o h e n d e Fehlleistungen u n d Unzulänglichkeiten, h e r v o r g e r u f e n s o w o h l d u r c h intakte T e c h n o l o g i e auf der E b e n e der W a h r n e h m u n g 1 2 als auch d u r c h mangelnde Präzision der B e g r i f f e auf der E b e n e der sprachlichen D a r s t e l l u n g . 1 ' N a c h B e r k e l e y entziehen die m i k r o s k o p i s c h e n O b s e r v a t i o n e n dem A u g e die gestalthaft-räumliche Orientierung. U m an seine sprachanaloge A r g u mentation anzuschließen, handelt es sich dabei sogar u m eine A u f l ö s u n g der empirisch abgesicherten R e f e r e n z überhaupt. A b e r nicht als N a t u r f o r s c h e r erkundet er die M i k r o s k o p i e . A n s t a t t das, w a s diese im einzelnen sichtbar w e r d e n läßt, zu inspizieren u n d in seiner K o n k r e t i s a t i o n durchzumustern, b e f r a g t er, philosophisch interessiert, ihren grundsätzlichen Stellenwert, in den Dialogues
auch den epistemologischen N u t z e n . A u s der Perspektive
praktischer N a t u r f o r s c h u n g erweisen sich derartige Urteile h i n g e g e n , v o r allem die T h e s e v o m Verlust des haptischen B e z u g s , als mehr oder w e n i g e r irrelevant. E s w i r d zu zeigen sein, w i e sie der N a t u r f o r s c h e r , der sich dem S i n g u l ä r e n in seiner jeweiligen, auf nur w e n i g e E i g e n s c h a f t e n reduzierten B e s c h a f f e n h e i t stellen m u ß , falsifiziert. D e n n der Verlust der Ä h n l i c h k e i t ist nicht gleichbedeutend mit d e m Verlust der haptisch-visuellen Wechselwirk u n g der Wahrnehmungseindrücke. one discourse. Since the early microscopists were disclosing a hitherto hidden world, a terminology for the various structures had yet to be developed, as well as a convention for microscopic illustration.« (Marian Fournier, The Fabric of Life. Microscopy in the Seventeenth Century, Baltimore/London 1996, S. 37) Während Fournier die illustrativ-verbale Einheit hervorhebt, geht Catherine Wilson demgegenüber von einer Differenz zwischen den Illustrationen und den Interpretationen aus. Siehe dazu Catherine Wilson, The Invisible World. Early Modern Philosophy and the Invention of the Microscope, Princeton 199;, S. 121. Die Unterscheidung zwischen Illustration und Interpretation, d. h. Beschreibung, läßt sich als ein re-entry der von Foucault für die Naturforschung des 18. Jahrhunderts bestimmten und zu überbrückenden Kluft zwischen Sagbarkeit und Sichtbarkeit reformulieren. Was Foucault auf der Ebene der Wahrnehmung feststellt, wiederholt sich auf der Ebene der Dokumentation im Nebeneinander von zwei Codesystemen: dem des Textes und dem der Illustration. " Dazu Fournier: »It has been established experimentally that the optical image of seventeenth-century microscopes suffered to such an extend from various optical defects that illusory images were observed by some microscopists, for example Athanasius Kircher's famous reference to the worms in the blood of feverish people« (Fournier, The Fabric of Life, S. 35). '' Die Semantik zentraler Begriffe mikroskopischer Forschung ist zu diesem Zeitpunkt weder etabliert noch differenziert. Unterschiedliche Ausdrücke werden zur Bezeichnung desselben verwandt, weil sie in ihrer Bedeutung nicht klar unterschieden sind. »For instance, the word >cellporebladderutricleglobule< were used indiscriminately in reference to what is now defined as the plant cell. Conversely, the same term could be applied to a wide range of structures. The word >globuleallerhand nützlichen Versuche< auch selbst nachzubauen und durchzuführen, verspricht Wolff bereits im Titel, den Weg >zu genauer Erkenntnis der Natur und Kunst< zu ebnen, indem er wie zu zeigen sein wird - sowohl die Apparate minutiös in ihrer Konstruktion auseinanderlegt und so ihre >Kunst< im Sinne ihrer Technik erklärt, als auch die mittels dieser Apparate zugänglichen Naturphänomene. Das Bedingungsverhältnis zwischen technischen Geräten und den Beobachtungsgegenständen bildet somit eine Grundkonstellation seiner Überlegungen. Alles, was gesehen wird, muß auf die Technik zurückgerechnet werden, die es ihrerseits erst ermöglicht. Programmatisch unterrichtet Wolff den ihm »geneigte[n] Leser« in der Vorrede über die Zielsetzung seiner Ausführungen, wobei er sie bezeichnenderweise mit Bezug auf den Gesichtssinn eröffnet: 14
Z u diesem K o m p l e x siehe Luigi Cataldi Madonna, Vernunft und Erfahrung. Z u r Entwicklung der empirischen Methodologie in der rationalistischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ders., Christian Wolff und das System des klassischen Rationalismus. Die philosophia experimentalis universalis, Hildesheim/Zürich/New Y o r k 2001 (=Christian Wolff, Gesammelte Werke. Materialien und D o kumente, Bd. 62), S. 47-82, hier S. 79: »Wolff weiß, daß Theorien im Forschungsprozeß unabkömmlich sind: ohne theoriegeleitete E r f a h r u n g und Beobachtung kommt man nicht voran. E r - und mit ihm die ganze Tradition - vertritt aber nicht die Position, Beobachtung sei nur >im Lichte einer Theorie< durchführbar. A n der Möglichkeit reiner E r f a h r u n g und Beobachtung wird festgehalten.« Siehe dazu auch J a n Rachold: »Das Geistig-Allgemeine wird demnach vollständig aus den Sinnen gewonnen. Diesem Empirismus folgend übernimmt Wolff auch das Grundprinzip des Lockeschen Sensualismus und entfernt sich weit von seinem rationalistischen Ausgangspunkt.« (Jan Rachold, Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999, S. 123) 81
Die Erfahrung ist ein unerschöpflicher Brunn der Wahrheit, welcher niemanden leer von sich lässt, der nur K r a f f t zu schöpffen hat. Freylich meinen viele, es würden zur Erfahrung weiter nichts als A u g e n und, wenn es weit käme, die übrigen Sinnen erfordert: allein wie sehr sie sich betrügen, kann man aus gegenwärtigen Versuchen abnehmen.' 5
Gilt ihm die Erfahrung als >ein unerschöpflicher Brunnen der Wahrheitdie übrigen Sinne< allein nicht ausreichen, um sie aufzuspüren, sind sie doch ohne Leitung der Vernunft, als deren Medium die Sprache fungiert, unzuverlässige Informationslieferanten, welche ständiger Kontrolle bedürfen: >Allein wie sehr sie sich betrügen, kann man aus gegenwärtigen Versuchern ersehen. Dennoch besteht bei der Lektüre bereits der ersten Sätze dieser Vorrede kein Zweifel darüber, daß im folgenden eine operative Dominanz des Sehens vorherrscht, auch wenn zugleich Kompetenzen gefragt sind, welche über dessen - rein sinnliche - Leistung hinausgehen müssen. Wolffs Schilderungen handeln, so das bereits zu Beginn der Abhandlung sich andeutende Versprechen, vom richtigen Gebrauch und Einsatz der Augen. Sie lehren, wie aus der >Unerschöpflichkeit< der Erfahrung mit Hilfe des Gesichtssinns empirische Wahrheit erkannt werden kann. Die nicht mehr als ihre Sinnen mit sich bringen, wenn sie aus der Erfahrung Wahrheiten lernen wollen, müssen meistentheils gar leer abziehen: denn entweder sie übersehen das beste und nöthigste, oder sie wissen nicht zu nutzen, was sie gesehen und durch die übrigen Sinnen begreiffen.' 6
Wolff distanziert die visuelle Wahrnehmung von dem Vermögen der >übrigen Sinnebegreifen< zusammengefaßt werden. Fast mutet die Formulierung, »was sie gesehen und durch die übrigen Sinnen begreiffen«, an, als schäle sich aus einer perzeptiven Diffusion der visuelle Sinn heraus, um mit Hilfe seiner Operation dem >Begreifen< der >übrigen Sinne< etwas Eigenständiges entgegenzuhalten. >Sehen< und >Begreifen< , welches eine deutlich haptische Konnotation aufweist, als Sammelbegriff aller übrigen Wahrnehmungsmodi, scheinen jedoch nicht nur Unterschiedliches zu bezeichnen, sondern auch darin einander zu gleichen, daß sie der Erkenntnis nicht genügen. Das >beste und nötigste< wird >übersehenEs haben zwar viele geschickte Köpfe allerhand Sachen in der Natur und Kunst durch die Vergrößerungsgläser betrachtet, auch ihre Betrachtungen weitläufig genug beschriebene Worauf es letztlich allerdings ankommt, ist nicht die >WeitläufigkeitFleißes und der Mühe< des Beobachters hervor. Denn hier wird das Bezugsobjekt in eine besondere Lage versetzt, durch geplante Einflußnahme verändert oder mit anderen Versuchsobjekten in ungewohnte Beziehung gebracht. E s wird somit Veränderungen unterzogen, die sein natürlicher Zustand in der Form nicht vorsieht. Dagegen impliziert das Verständnis der Beobachtung eine Distanz zwischen Beobachter und Gegenstand, die dafür sorgt, daß dieser vor jeglicher durch den Beobachter und seine Instrumente hervorgerufenen Einwirkung bewahrt bleibt. Indem Wolff jedoch im Zusammenhang seiner mikroskopischen Versuche die technischen Instrumente, vor allem die durch Stärke und Schliff voneinander unterschiedenen Vergrößerungsgläser auf ihre je spezifische Leistung prüft, 26 zeigt er auf, daß jedes Beobachtungsergebnis in hohem Maße von den gewählten Instrumenten konditioniert wird. Indem er somit nachweist, wie die jeweils verwendeten Vergrößerungsgläser an der K o n stitution der sichtbaren Gegenstände beteiligt sind, setzt er - um hier die auf Francis Bacon zurückgehende folgenreiche Unterscheidung in Anschlag zu bringen - die Beobachtung in unmittelbare Nähe zum Experiment. 27 Denn 24
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Sie ist eine Operation, die von dem richtigen Zeitpunkt abhängt, der einen Gegenstand in der für die Beobachtung entscheidenden Form sichtbar macht. »Man siehet hieran, daß, wo man solche Kleinigkeiten genau beobachten will, vieles unterweilen auf das blosse Glücke ankomme, und man demnach dasselbe abwarten muß, indem man mit observiren anhält und nach einem Dinge mehr als einmahl siehet.« (Wolff, Allerhand nützliche Versuche, § 92, S. 384) Carsten Zelle hält - auf Walchs Philosophisches Lexikon von 1726 und "1775 bezugnehmend - fest, daß hier »zwei Erfahrungsmodi unterschieden [werden], und zwar > Wahrnehmung', > Beobachtung' bzw. > Observation', einerseits, das >Experiment< andererseits. Jene Art der Erfahrung, d. h. Wahrnehmung, Beobachtung bzw. Observation, besteht in der Empfindung einer Sache, die >ohne unsere Mühe wirklich istwelche nur durch unsern Fleiß und Mühe wirklich wirdFigur und Proportion der Teileneue WeltErkenntnis der Natur< leisten, wendet er sich dem Streusand zu: einer Materie, die schon deswegen im Hinblick auf die >Figur und Proportion der Teile< schwer zu handhaben ist, weil sie keinen festen Körper hat, sondern nur als Aggregat lose gekoppelter Einzelelemente vorkommt. Für die Identifikation des Sandes ist der Aspekt der >Verknüpfung< demnach irrelevant. Es erstaunt, daß Wolff nach seiner Darlegung der Richtlinien, die zu beachten sind, um systematisch und erfolgreich zu mikroskopieren, für den zuerst von ihm vorgenommenen und beschriebenen Versuch ausgerechnet eine Materie wählt, welche das genannte Ausgangskriterium nicht erfüllt; und es auch nicht, wie sich im weiteren Verlauf der Observation herausstellen wird, auf der Ebene der einzelnen Sandkörner erfüllen kann. Derowegen wenn ich die Verknüpffung durch dasjenige Vergrösserungs=Glaß, welches die Sache auf einmahl zeiget, nicht genau erkennen kann; so sehe ich fiir
» Ebd., § 81, S. 301. 88
allen Dingen zu, ob es angehet, daß ich die Sache, ehe ich sie zergliedere unter ein Vergrösserungs=Glaß, welches mehr vergrössert, dergestalt bringen kann, daß ich den Ort, w o die Glieder zusammen hangen, dadurch erblicken kann. 54
Um die einzelnen Elemente auch wieder zusammenfügen zu können, muß besonders bei den stärkeren Vergrößerungsgläsern der Punkt, an welchem >die Glieder zusammenhängen^ genau fokussiert werden. Unter Umständen muß dafüir eine stärkere Vergrößerung vorgezogen werden, weil sie den Aufbau der Gegenstände deutlicher macht. Erst danach aber sollten sie zergliedert und unter das schwächere Glas gelegt werden. Solange es sich dabei um Gegenstände handelt, die sich auch bei zunehmender Vergrößerung als der Wahrnehmung mit bloßen Augen ähnliche Einheit rekonstruieren lassen, funktioniert die von Wolff aufgestellte Regel. Sie kommt jedoch an ihre Grenzen, sobald die Wahrnehmung auf Mikrostrukturen stößt, welche keine auf Anhieb erkennbare Beziehung zu den natürlichen Erscheinungsformen mehr haben. Will man nun nach diesem in einer Figur vorstellen, wie die gantze Sache erscheinen würde, wenn man sie auf einmahl durch dasjenige Vergrösserungs=Glaß übersehen könnte, welches am meisten vergrössert; so darf man alles zeichnen, was man gesehen."
Die Illustration soll die einzelnen mikroskopischen Ansichten, mithin die zeitliche Folge der Zerlegung dokumentieren und dabei helfen, die einzelnen Schritte wieder miteinander zu verbinden. Wenn Wolff von einer solchen Rekonstruktion jedoch im Konjunktiv spricht, >wie die ganze Sache erscheinen würdebloßen Augendie Körnlein nur wie kleine Stäublein ausdas geringste in ihnen zu unterscheiden^ Das A u g e wird auf diese Weise zum bis zur Schmerzgrenze strapazierten - >daß ich davon einigen Schmerz empfand< - Bestandteil der experimentellen Versuchsanordnung. E s dient darin zum einen als Richtwert, an welchem sich die mikroskopische Sichtbarkeit zu orientieren habe, besteht doch der grundsätzliche Anspruch in der E r m ö g lichung einer Konkordanz zwischen dem mikroskopischen und natürlichen Bild. Zum anderen aber dient es lediglich als Grenzwert, von welchem aus die Demarkationslinie zwischen dem Streusand als einer einheitlichen Masse gleichförmiger Elemente und seiner Proliferation in distinkte Einzelteile zu ziehen ist. Neben diesen beiden Funktionen soll das Auge darüber hinaus durch den mikroskopischen Einblick in die Gegenstände jedoch auch belehrt und verändert werden. Kontrastiv zu dessen gewohnter Wahrnehmungsweise zeigt sich nämlich, daß durch das Vergrößerungsglas die einzelnen Körner verschieden und die Unterschiede zwischen ihnen sogar beträchtlich sind. Durch das Vergrösserungs=Glaß war ein über die maassen mercklicher Unterscheid sowohl an der Grösse, als der Figur, auch in der übrigen Beschaffenheit. Einige waren zwey, drey, vier bis sechs mahl so groß als die anderen. Etliche, wiewohl wenige, hatten eine viereckichte Figur, die meisten waren gantz unordentlich und mehr lang als breit: alle insgesammt waren dicke und sehr e r h a b e n . "
Die Gesamtheit der Sandkörner ist nun durch Abweichung in F o r m und Größe gekennzeichnet. Die Maßgabe der >Figur und Proportion der Teile< läßt sich bei diesem Anblick kaum mehr ausmachen, denn >die meisten waren ganz unordentlich und mehr lang als breitinsgesamt dick und sehr erhaben< waren. Die mit bloßen Augen wahrgenommenen >Stäublein< verwandeln sich unter dem Vergrößerungsglas in singuläre Figuren, welche zumindest in bezug auf ihre Form und Größe einen Zweifel darüber aufkommen lassen, ob sie noch als dasselbe, nämlich Sand, identifiziert werden können. Die Attraktivität dieses Untersuchungsgegenstandes liegt mithin darin, daß er dem bloßen Auge als eine aus gleichförmigen Elementen bestehende Substanz erscheint, bei näherer Betrachtung sich jedoch als wenig strukturierte Diversität einzelner Körner zu erkennen gibt. 40 Anders als die Einheit eines Körpers, welche auch nach seiner Zer" E b d . , § 82, S. jozf. « E b d . , § 82, S. 303. 40
Diese perspektivische Veränderung läßt sich mit Bodmers ästhetischen Kategorien
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g l i e d e r u n g wiederhergestellt w e r d e n kann, w e n n m a n weiß, >wie alle G l i e d m a ß e n zusammen gehörenGlatt< und >rauh< betreffen die Oberflächenstruktur des Sandkorns und bezeichnen haptische Eigenschaften. Diese fallen offenbar unterschiedlich, gar widersprüchlich aus, je nach Art der Einstellung, des Schliffes und der Stärke des Vergrößerungsglases. Obwohl die Ausführung der mikroskopischen Observation dem Auge obliegt, nimmt sie auch auf Vorstellungen anderer Sinne Bezug, sofern sich diese wie die Glätte oder Rauheit visuell manifestieren. Nicht durch Berührung werden sie wahrgenommen, sondern durch eine Substitution bzw. >Suggestion< im Gesichtssinn. So entsteht der Eindruck, als sehe das mikroskopische Auge nicht nur, 4i
Ernst Cassirer weist auf den zentralen Stellenwert der »Analogieschlüsse« hin, die die Beschreibung der Naturerkenntnis in der Zeit der Aufklärung - eine Beschreibung bzw. Deskription, die die Definition der mathematischen Beobachtungsmethode ablöst und derart eine historisch neue Methode des Erkenntnisgewinns konstituiert - mit sich bringt: »Wir müssen uns der Führung und der ausschließlichen Leitung der Erfahrung überlassen: denn nur sie kann uns diejenige Art der Gewißheit geben, deren die Wahrheit von physischen Gegenständen allein fähig ist. Wir müssen die Beobachtungen mehren und schärfen, wir müssen die Tatsachen verallgemeinern, sie durch Analogieschlüsse verknüpfen, bis wir schließlich zu einer Stufe der Erkenntnis gelangen, auf der wir übersehen können, wie das Einzelne mit dem Ganzen zusammenhängt, wie die besonderen Wirkungen von allgemeinen abhängen.« (Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 103 f.)
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Wolff, Allerhand nützliche Versuche, § 82, S. 507. 93
sondern taste seinen Gegenstand in gewisser Weise auch ab. Dabei gelangt es bis zu einem haptischen Unterscheidungsgrad, welcher für den bloßen Tastsinn der Hand, selbst der Fingerspitze, zu fein ist. Erspüren läßt sich die Rauheit eines einzelnen Sandkorns nämlich nicht. Da in diesem visuell vermittelten Modus haptische Eigenschaften freigelegt werden können, wird unter der Linse des Mikroskops die zwischen beiden Sinnen bestehende Wechselbeziehung fortgeführt. Die gewohnten Formen und Proportionen der vergrößerten Gegenstände lösen sich zwar allmählich auf, die visuellhaptische Verweisung bleibt aber auch in den Mikrostrukturen erhalten. Mit dieser Beobachtung wird Berkeleys These widerlegt. Mithin kondensiert die mikroskopische Vergrößerung zumindest auf dieser Stufe das Observierte auf jene Eigenschaften, in welchen Sichtbares und Haptisches zusammentreffen. Wolffs Observation dringt sodann in das einzelne Sandkorn noch tiefer ein. Die rauhe Oberfläche erweist sich nun als eine Art Brüchigkeit und der observierte Gegenstand als ein Bündel >kleiner dunkler Teilchenunzählige Menge< von noch kleineren Elementarteilchen, welche sich als Einheit eigentlich nicht unterscheiden lassen. Mitten war es zwar heller, als um den Rand: allein auch in dem hellen waren sehr kleine dunckele Theilichen in unzehlicher Menge anzutreffen, die viel subtiler als ein Haar mit blossen Augen und viel länger als breit, aussahen: jedoch konnte man ihre Figuren nicht eigentlich unterscheiden. 4 '
In der perspektivischen Annäherung an einen Gegenstand verliert dieser mit zunehmender Vergrößerung allmählich fast alle ihm mit dem bloßen Auge zugewiesenen Eigenschaften. In der Dramaturgie der von Wolff geschilderten Vorgehensweise folgt auf die Modifikation der haptischen Eigenschaften diejenige der visuellen hell-dunkel Verteilung. Farblich ist das Sandkorn nicht bestimmbar, allein ein Kontrast zwischen hellen und dunklen Bereichen läßt sich noch erkennen. Das aber bedeutet, daß an der haptischen Konstitution des Sandkorns eine Feindifferenzierung in Erscheinung tritt, während es seine visuellen Charakteristika, wie sie das Farbspektrum ermöglicht, verliert. Aus der Versuchsanordnung an diesem Einzelfall zieht Wolff ein allgemeines Fazit. Obwohl er zuvor die vollkommene Divergenz zwischen den einzelnen Sandkörnern feststellen mußte, überträgt er hier die an einem einzelnen gewonnene Einsicht auf alle: »Wir sahen demnach, daß die Sand=Stäublein undurchsichtiger werden, wenn sie zu viel vergrössert werden, auch ihnen selbst ganz unähnlich.« 46 Was das mikroskopische Experi41 46
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Ebd. Ebd.
ment am Einzelfall sichtbar werden läßt, ist ein schrittweiser Verlust jeder Ahnlichkeitsbeziehung, was im Sinne eines allgemeinen Urteils generalisiert wird. 47 In mehrfacher Hinsicht indes wird der Sand sich >selbst ganz unähnliche zunächst grundsätzlich gegenüber der Wahrnehmung mit dem bloßen A u g e , sodann die einzelnen Körner im Vergleich miteinander und schließlich sogar jedes einzelne K o r n in bezug auf sich selbst. Wolffs Formulierung markiert in der oben zitierten Passage jedoch, daß dieses Ergebnis an einer falschen Handhabung der Technik liegen könnte, wenn von der Linse behauptet wird, sie vergrößere zu viek. Jedoch schon im anschließenden Resümee wird der Befund der Unähnlichkeit bestätigt, obwohl das Übermaß der Vergrößerung nun auf ein ausgeglichenes bzw. ausreichendes Niveau (»gnung vergrössert«) heruntergestuft wird: Da die Sand=Stäublein, in welchen man sich nicht den geringsten Unterscheid in ihrem inneren vermuthen sollte, so beschaffen seyn, daß auch ein jedes von ihnen von einem jeden andern gar mercklich unterschieden ist, wenn es nur genung vergrössert wird; so wird dadurch der Grund des nicht zu unterscheidenden, der nicht zwey ähnliche Dinge in der Natur leiden will [...], gar schöne bestätiget. Man siehet nicht die geringste Ursache, warum man nicht in einem jeden Stäublein an einer jeden anderen Materie eben dergleichen inneren Unterscheid von andern ihres gleichen vermuthen soll, als man bey dem Sand=Stäublein antrifft, unerachtet so wohl als bey dem Sande die Materie so zu beschaffen seyn scheinet, daß ein Theil dem andern ähnlich ist.4* Wolff konzediert schließlich erneut die völlige Diversität und Singularität der Sandkörner und leitet daraus entsprechende allgemeine Konsequenzen ab. Was sich an der Beobachtung des Sandkorns erkennen läßt, könnte fur 47
Prinzipiell muß hierbei festgehalten werden, daß zu den zentralen Verfahren der Philosophie Wolffs der Analogieschluß, wie Friedhelm Solms ausfuhrt, gehört. »Der Einbildungskraft in ihrer Funktion fur die >kunst zu erfinden< zwar eng verbunden, aber stärker methodisch stabilisiert ist bei Christian Wolff der >WitzHurtigkeit< unterscheidet. In vorsichtiger Absetzung von der traditionell behaupteten Vorherrschaft der Logik sind so bereits fur Wolff >die Schlüsse< nicht mehr >das einige Mittel, dessen wir zum Erfinden benöthiget, sondern es wird dazu noch ein mehreres erfordert, so von der Kunst zu schliessen gantz unterschiedene (Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, S. iiof.). Solms bezieht sich in dieser Passage vor allem auf Wolffs Werk Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt.
4
» Wolff, Allerhand nützliche Versuche, § 82, S. 3o8f. 95
>alle Stäublein an einer jeden anderen Materie< geltend gemacht werden. Auf alle, so die Schlußfolgerung, treffe diese Singularität zu. Dabei stehen mit der Aufgabe des Ähnlichkeitsprinzips sämtliche Kategorien zur Disposition, welche übergreifende Ordnungen, der Art oder Gattung etwa, ermöglichen. Auf diese Weise treibt die optische Vergrößerung nicht nur Einteilungsschemata der Naturforschung an ihre Grenzen, sie verunsichert vielmehr auch philosophische Grundannahmen. »Wenn man demnach von solchen Materien redet, da ein Theil dem andern ähnlich ist von eben der Art bleibet, wie das gantze, so verstehet sich solches nur, in so weit die blossen Sinnen selbige zu erkennen zu reichen.« 49 Mit den bloßen Sinnen nur, um diese Überlegung mit einem weiteren Zitat zu stützen, halten »wir für einerley [...], was unterschieden ist«' 0 . Der menschliche Sinnesapparat, d.h. das bloße Auge, gilt daher als ein Mechanismus, mit welchem Disparates organisiert und in übergreifende Zusammenhänge eingeteilt werden kann. Unter dem Mikroskop hingegen gerinnt der Streusand als Masse wie als einzelnes Korn zu einer Materie ohne sichtbare Konstanz. Soll er dennoch als Einheit beschrieben werden, kann dies nur aus der Perspektive des bloßen Auges geschehen. Nur für dessen Wahrnehmung und die daran angelehnte sprachliche Bezeichnung bildet der Streusand eine einheitliche Referenz. Die natürliche Linse und die variablen Linsen des Mikroskops bringen demnach unterschiedliche Beobachtungszustände, ja sogar -gegenstände hervor, obwohl sie sich auf dieselbe Materie beziehen. So unterhält die Wahrnehmung des bloßen Auges zwar eine privilegierte Beziehung zum sprachlichen Repräsentationssystem, sie wird jedoch im Vergleich mit den wechselnden mikroskopischen Sichtbarkeitseffekten in Frage gestellt.' 1 Verunsichert wird damit die Bestimmung des Streusandes ebenso wie diejenige des Sehens und seines Bezeichnungssystems. Vor allem aber wird dem Konzept einer Beobachtung, die sich vornimmt, weniges systematisch zu sehen, eine besondere Wendung gegeben. Denn die Beobachtung beobachtet sich 45
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Ebd., § 82, S. ; i o . Ebd. In welchem Maße sich die Logik der Naturforschung von derjenigen der Philosophie entfernt, wird deutlich, wenn man folgende Aussage Wolffs aus der Deutschen Metaphysik vergleichend heranzieht: »Weil demnach die Seele eine Kraft hat, sich die Welt [...] vorzustellen; so müssen auch diese Vorstellungen eine Aehnlichkeit mit denen Dingen haben, die in der Welt sind. Denn wenn sie keine Aehnlichkeit hätten, so stellete die Seele ihr nicht die Welt, sondern etwas anders vor. Ein Bild, das der Sache nicht ähnlich ist, die es vorstellen soll, ist kein Bild von derselben, sondern von einer anderen Sache.« (Christian Wolff, Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [1751], in: ders., Gesammelte Werke, Abt. 1, Deutsche Schriften, Bd. 2: Deutsche Metaphysik, hg. und bearbeitet von J . Ecole, H. W. Arndt, Ch. A. Corr, J . E . Hofmann, M. Thomann, Hildesheim/New York 1983, § 769 , S. 474f.)
hier selbst. Sie leistet dies systematisch, insofern sie vom bloßen Auge ausgeht und dieses in der Folge mit immer leistungsstärkeren Vergrößerungsgläsern zugleich konfrontiert und entsichert. In Anbetracht eines Wachsstücks, welches bereits mit den bloßen Sinnen als eine Serie unterschiedlicher Zustände wahrgenommen wird, stellt sich fast hundert Jahre früher Descartes' zweite Meditation einem ähnlichen Problem. Gleichwohl aber wird es hier, in der metaphysischen Schrift, sowohl anders reflektiert als auch gelöst. Denn trotz der sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen läßt der Text keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich dennoch um dieses Stück Wachs handelt und daß diese Gewißheit dem Bewußtsein stets gegeben ist. Betrachten wir diejenigen Gegenstände, von denen man für gewöhnlich annimmt, sie von allen würden am deutlichsten begriffen, d. h. Körper, die wir betasten und sehen, [...] z.B. dieses Stück Wachs. Vor kurzem erst hat man es aus der Wachsscheibe gewonnen, noch verlor es nicht ganz den Geschmack des Honigs, noch blieb ein wenig zurück von dem Duft der Blumen, aus denen es gesammelt worden; seine Farbe, Gestalt, Größe liegen offen zutage, es ist hart, auch kalt, man kann es leicht anfassen [...]. Doch sieh! Während ich noch so rede, nähert man es dem Feuer, - was an Geschmack da war, geht verloren, der Geruch entschwindet, die Farbe ändert sich, es wird unförmig, wird größer, wird flüssig, wird warm, kaum mehr läßt es sich anfassen [...]. Bleibt es denn noch dasselbe Wachs? Man muß zugeben - es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung. Was an ihm also war es, das man so deutlich erkannte? Sicherlich nichts von dem, was im Bereich der Sinne lag; denn alles, was unter den Geschmack, den Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, ist ja jetzt verändert, und doch es bleibt - das Wachs.'2
Da die materiell wahrnehmbaren Eindrücke des Wachses, seine Farbe, Gestalt und Größe, vom Substrat logisch streng unterschieden werden, kann Descartes im Anschluß an die Beobachtung der Formvariabilität festhalten: >und doch es bleibt — das Wachs.< Die philosophische Grundannahme bleibt hier von den sinnlichen Eigenschaften und ihren Veränderungen unangetastet; die Substanzbestimmung mithin gewahrt. Gewiß gehen beide Beobachter, Descartes, der Philosoph, und Wolff, hier in der Funktion des Naturforschers, von unterschiedlichen, nicht zuletzt auch den jeweiligen disziplinären Ort ihrer Aussagen betreffenden Voraussetzungen aus. Anders als die gestreuten Sandkörner, die dem bloßen Auge, obwohl als Sand identifiziert, dennoch von Anfang an als eine lose gekoppelte Vielfalt von Elementen erscheinen, bildet das Stück Wachs in der Wahrnehmung - nicht nur des Auges, sondern ebenso des Geruchs- und 11
Rene Descartes, Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hg. von Lüder Gäbe, lateinisch-deutsch, Hamburg '1992, S. 53.
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des Tastsinns - zunächst eine fester gekoppelte Einheit: eine Scheibe, ein zusammenhängendes, sogar kompaktes Stück, mag es auch alle zuerst wahrgenommenen Eigenschaften allmählich verlieren und andere annehmen. >Bleibt es denn noch dasselbe Wachs? Man muß zugeben - es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung.< So wählt Descartes ein Beispiel, an welchem sich zeigen läßt, wie die sich wandelnden Eindrücke der Wahrnehmung letztlich von der Unteilbarkeit des Geistes wieder aufgefangen und zusammengefugt werden." Auch er denkt den Körper, den >wir betasten und sehenöden Land< in der ersten und dem >unfruchtbaren Sand< in der dritten Zeile folgen mit >BaumStrauchGras< Kontrastwörter, welche die ersten drei Zeilen zu einer Verdichtung der Differenz von belebter und mehr abgestorbener als nur unbelebter Natur formen. Das adverbial markierte Staunen zu Beginn betont die Unwahrscheinlichkeit, daß auch in der O d e und Unfruchtbarkeit Entdeckungen >zu Gottes E h r e und eigener Freude< gemacht werden können. D i e E r k u n d u n g dieser Unwahrscheinlichkeit bildet das zentrale Anliegen dieses Gedichtes. Im betrachtenden AugeWelt-Gebäude< vorangestellte Adjektiv in der vorletzten Zeile des obigen Zitats darauf, daß auch die Schönheit Ziel der Beobachtung sein müsse. Wissenschaftliche
Naturerkundung
und die Grundannahme,
das >Welt-
Gebäude< sei schön, knüpfen dabei eine besondere Beziehung. Beide werden als Phänomene des Auges bestimmt. 6 ' D a aber das >schöne Welt-Gebäude< eine Prämisse formuliert, welche der >öden< und >unfruchtbaren< Landschaft der Eingangssequenz widerspricht, entsteht eine Spannung, deren Aufhebung vom b e t r a c h t e n d e n Auge< erwartet wird. Auf! lasset uns denn weiter gehn, Und G O T T zum Ruhm was sehn, auch wenn wir nichts fast sehn! Es sind ja Creaturen Die Sandes=Körner selbst und Theilchen uns'rer Erden, Da, wenn man nichts fast sieht, doch allerley Figuren
62
6i
Stefan Matuschek, Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse, Tübingen 1991, S. 157. Sie lassen sich auch als Hinweis auf die Differenz zwischen Naturforschung und Ästhetik im Sinne von Aisthesis lesen, und zeigen daher auf »ein[en] Sprung, einfen] Diskurswechsel im Diskurs, zwischen der dargestellten Wahrnehmungsfüille und -Intensität [...] einerseits, der physikotheologischen Argumentation andererseits.« (Wolfgang Preisendanz, Naturwissenschaft als Provokation der Poesie. Das Beispiel Brockes, in: Sebastian Neumeister [Hg.], Frühaufklärung, München 1994, S. 469-494, hier S. 481)
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Von eingedruckten Spuren Im dürren Sande ja gefunden werden. 64
Hat der Anfang des Gedichts vor allem ein Staunen inszeniert, so fangen die ersten Zeilen der zweiten Strophe mit einem Imperativ an: >Auf!< Gegen die Unwahrscheinlichkeit, auch das >öde Land< und der unfruchtbare Sand< können als Zeugnis Gottes aufgefaßt werden, fordert das Gedicht, den Duktus der Hypotypose unterstützend: >Lasset uns denn weiter gehenweiter< - dessen, was das betrachtende Auge< bis dato wahrgenommen hat. >Gott zum Ruhm< wird hier sogar Unmögliches verlangt, nämlich >etwas zu sehen, auch wenn wir fast nichts sehenKreaturen< in das der creatio, also Schöpfung, Zeugung, des Lebens, eingetragen werden. Dieser semantischen Verschiebung korrespondiert ein Zugewinn an visueller Wahrnehmung. Denn dort, wo >wir fast nichts sehenTeilchen unsrer Erde< erkannt wird. - Bedeutet diese Verknüpfung jedoch im Umkehrschluß, daß auch im Sichtbarmachen und -werden Lebendiges entsteht? Kann, mit anderen Worten, das Auge den Gegenstand verlebendigen? Zum Ende des zitierten Passus kehrt zwar >im dürren Sand< die Metaphorik der Leblosigkeit wieder, sie fuhrt jedoch unmittelbar zu den Spuren des Lebendigen: »wenn man nichts fast sieht, doch allerley Figuren/ Von eingedruckten Spuren/ Im dürren Sande ja gefunden werden«. Eine auf distinkte Markierungen - >allerlei Figuren< - gerichtete Beobachtung wird nun eingeleitet, um von hier aus den Umschlag zu bezeichnen, durch welchen auch im >ödenunfruchtbarendürren< Sand Lebendiges zum Vorschein kommt. Nicht mehr der Sand selbst, sondern lediglich die von ihm ermöglichten Figuren rücken in den Fokus. Er interessiert hier nicht in bezug auf seine spezifische Körperlichkeit, sondern in bezug auf seine mediale Funktion: als eine Einzeichnungsfläche für vielfältige Spuren, die ihrerseits vielfältige Figuren ermöglichen und zumindest auf eine vergangene Anwesenheit derjenigen Figuren hindeuten, deren Abdrucke jetzt noch sichtbar sind. Hierbei handelt es sich um Zeugnisse, die auf einem unmittelbaren Kontakt zwischen der abgedruckten Figur und dem Sand beruhen. Dabei fußt die Beobachtung auf der morphologischen Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund und setzt, zumindest in diesem konkreten Fall, nicht die analytische Zerteilung, sondern einen weichen, nachgiebigen Zusammenhalt der Sandkörner voraus. In kleinen Tiefen, kleinen Höh'n Kann ein aufmerksam Herz so Licht als Schatten sehn. Man kann, wenn man so gar allein, Daß weder Laub, noch Kraut, noch Bäume bey uns seyn, Dennoch Veränderung und auch Vergnügen finden, Wenn wir das Denken nur mit unserm Blick verbinden. 66
Mit >Tiefen< und >Höhen< ist die räumlich-haptische Wahrnehmung angesprochen, mit >Licht< und >Schatten< die optische. Beide aber werden an die Katachrese des sehenden aufmerksamen Herzens< geknüpft, das im Verbund mit dem >Denken< zu einem besonderen, Emotionales und Rationales einbeziehenden Zusammenhang heranwächst. Erst, »wenn wir das Denken 66
Brockes, Der Sand, S. 218. 103
mit unserm Blick verbinden^ heißt es weiter, erst, wenn die sinnliche Wahrnehmung auch zu einer intellektuellen Betrachtung wird, worin fast eine Paraphrase des Vorworts aus Wolffs »Allerhand nützlichen Versuchen« anklingt, können auch >Veränderung< wahrgenommen und das >Vergnügen< in der visuellen Anschauung erfahren werden. Das angesichts der zuvor geäußerten Unwahrscheinlichkeit entstandene Staunen wird durch die hier vorgenommene Einbeziehung des rationalen Moments in seiner affektiven Struktur gewissermaßen abgemildert. Es kommet jeder Sand=Korn mir Als wie ein kleines Glied Der allgemeinen Mutter für. Von uns'rer Welt ist es ein würklich Theilchen mit. Die Kleinheit, Festigkeit, die Klarheit, Glätt' und Rande, Die ich in manchem Sand=Korn finde, Wodurch sie sich nicht ganz verbinden können, Und eben dadurch allem Saft Vom Regen oder Thau, zu der Gewächse Kraft, Den Aufenthalt und Durchgang gönnen, Ist ja Bewunderns=werth. Noch mehr, da sie vereint, Und doch nicht ganz, (indem sie sonst versteint,) So können sie den Pflanzen nützen, Den Wurzeln Raum, sich auszubreiten, geben, Auch, wenn dieselbigen sich aufwärts heben, Dieselben so viel besser stützen.67
Eine erneute Fokussierung auf die einzelnen Sandkörner folgt, ihre Kleinheit, Festigkeit, die Klarheit und Glätte< wird herausgestellt. Es handelt sich nicht um jene Merkmale, die Wolffs letzte mikroskopische Observationsstufe freigelegt hat, gleichwohl um solche, mit welchen sich die in den folgenden Zeilen beschriebene Funktionalität des Sandes begründen läßt. Die genannten Attribute verhindern eine Verbindung der einzelnen Körner zu einer undurchdringlichen Einheit. Aufgrund seiner zugleich porösen und doch festen Konsistenz - »vereint,/ Und doch nicht ganz, (indem sie sonst versteint,)« - leitet der Sand nicht nur das Regenwasser zu den >GewächsenWurzeln Raum, sich auszubreiten^ Er erzeugt einen >bewundernswertem Mechanismus. Dieselbe lose Konsistenz, die den Sand dazu befähigt, wechselnde Spuren in sich aufzunehmen, wird nunmehr mit einem handfesten Nützlichkeitsargument 68 verbunden und zum Schlüssel des ökologischen Selbsterhaltungssystems erklärt. Während hier der Sand aus einer Distanz betrachtet wird, die ihn als 67 68
Ebd., S. 218f. Siehe dazu Carsten Zelle, Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott, in: arcadia 25 (1990), S. 225-240, hier S. 235.
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Konglomerat gleichförmiger Elemente erscheinen läßt, fuhrt schon die nächste Strophe den Blick näher an die einzelnen Körner heran. Daran wird deutlich, daß ein zentrales Ordnungsprinzip dieses Gedichtes im Wechsel der Perspektive, genauer der Beobachtungsentfernung besteht. Weitsicht wird von Nahsicht abgelöst, welche wieder in eine gegenüber dem vorangegangenen Standpunkt jedoch etwas näher gerückte Weitsicht wechselt. Ich nam hierauf ein Häuflein Sand, Betrachtet' es genau, und fand Den Unterschied, daß er nicht mancherley, Nein, in der That unzählig sey. Ich konnte tausend Form und Ecken Auch an dem klein'sten Sand entdecken. Teils sind die Körner lang, teils rund, teils groß, teils klein, Teils schwarz, teils braun, teils gelb, teils grau, Teils rötlich, weißlich teils, teils blau, Es sind die meisten dicht und dunkel, viele helle, Durchsichtig, glänzend, rein. Ich wurd' auf mancher Stelle Verschiedener, die, wie Krystall so klar, Mit Lust und mit Verwunderung gewahr. 6 '
Im Vergleich zu den zuvor genannten Attributen impliziert die hier akkumulierte, >unzählig< sich zergliedernde Feinstruktur der >tausend Formen und Ecken< einen Moduswechsel des >betrachtenden AugesbewundernswertVerwunderung< an. So bezieht er den impliziten Verweis auf das optische Instrument und den rhetorischen Topos der admiratio7° aufeinander. 7 ' Damit ist allerdings nicht nur eine mikro-
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Brockes, Der Sand, S. 219. ° Siehe dazu: »Im Begriff der admiratio fließen Verwunderung und .Bewunderung zusammen. Außerdem oszilliert der Begriff zwischen den (positiven oder negativen) Seelen^uständen und der Erzeugung solcher Zustände durch eine plausibel gemachte Überraschung. [...] In der Theorie der Dichtung verhindert dies schon früh, schon bei Aristoteles, ein Verständnis von mimesis/imitatio als bloßes Co-
pieren. [...] Sie ist noch nicht Erkenntnis, also noch nicht nach wahr/unwahr
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binär
codiert. In heutiger Terminologie würde man vielleicht von >Irritation< oder >Perturbation< sprechen.« (Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 234, Anm. 26) Martina Wagner-Egelhaaf beschreibt Brockes' Dichtung als eine Gleichzeitigkeit 105
skopische, sondern auch eine poetologische Kategorie bezeichnet.
Hier
zeigt sich, welche Korrespondenzen zwischen beiden Wahrnehmungsbereichen bestehen, unabhängig davon, daß sie zugleich auch durch ein allmählich hervortretendes Bemühen um gegenseitige Abgrenzung gekennzeichnet sind. 72 In Anbetracht der optischen Geräte und des von ihnen eröffneten Sichtbarkeitsfeldes, 7 ' grundsätzlicher noch durch die Zentrierung sowohl der wissenschaftlichen als auch der poetischen Naturbetrachtung auf den
bzw. »diskursive Nähe des naturwissenschaftlich-technischen Perspektivenwechsels, den die Erfindung der optischen Instrumente mit sich brachte, und der in Frage stehenden rhetorischen Funktion.« (Martina Wagner-Egelhaaf, Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten. Zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes', in: DVjs 71 [1997], S. 185-216, hier S. 205) »Dieser Befund will als Plädoyer dafür verstanden werden, das literaturgeschichtliche Bild von Barthold Hinrich Brockes nicht länger aufzuspalten in einen nochbarocken rhetorischen Brockes, der im Interesse des literaturgeschichtlichen Progresses nicht mehr zu interessieren braucht, und in den fortschrittlichen, zukunftsweisenden Brockes, dessen Aufgeschlossenheit gegenüber den modernen Wissenschaften im Sinne eines frühen Realismus vor den Augen der Literaturhistoriker Gnade zu finden pflegt. Das eine ist ohne das andere bei Brockes nicht zu haben, sein naturwissenschaftliches Wahrnehmungsinteresse ist mit den Mitteln der Rhetorik ins Werk gesetzt, wie umgekehrt die Rhetorik ein Bewußtsein von der medialen Bedingtheit von Wahrnehmung und Erkenntnis schafft.« (Ebd., S.2I3f.) 7 ' »Während später das Ästhetische zum Ersatz des religiösen Gefühls zu werden vermochte, blieb es bei ihm [Brockes, Ν. B.] noch >heteronomes< Vehikel der Religiosität. Gleichwohl ist sein Werk ein Meilenstein auf dem Weg des frühaufklärerischen Autonomiebestrebens, weil es [...] die Poesie zum Offenbarungs->Buch der Natur< erhob. Damit hat Brockes ein literaturgeschichtliches Paradigma eingeführt, an das die Autoren der Empfindsamkeit bis zur Frühromantik [...] vielfach anzuknüpfen vermochten« (Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Frühaufklärung, Bd. 5/II, Tübingen 1991, S. 127). 71 Zum Verhältnis von Einbildungskraft und optischen Instrumenten hält Karl Richter fest: »Indem die optischen Geräte die Oberfläche des mit bloßem Auge Sichtbaren durchbrachen, warfen sie gleichzeitig die Frage auf, was jenseits ihrer Reichweite wohl noch immer verborgen lag. Sie regten dazu an, die Kette der Eindrücke und Vorstellungen in einen noch unerforschten Raum hinein fortzusetzen.« (Karl Richter, Teleskop und Mikroskop in Brockes' Irdischem Vergnügen in Gott, in: Peter-Andre Alt u. a. [Hg.], Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik, Festschrift fur Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, S. 3 - 1 7 , hier S. 14) Anders formuliert: »War bis zum 17. Jahrhundert der Mikrokosmos gleich bedeutend mit dem Menschen. So erzwang der neue Blick durchs Mikroskop offenbar eine Revision. Das optische Gerät erschloss einen neuen Raum, eine neue Wirklichkeit, die sich >unterhalb< der anthropomorphen Dimension erstreckte. Die >kleinen Welten< waren fortan jene subhumanen Partikel, Lebewesen und Strukturen, die vor der Erfindung des Mikroskops unsichtbar geblieben waren« (Gunnar Schmidt, Von Tropfen und Spiegeln. Medienlogik und Wissen im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in: KulturPoetik 2/1 [2002], S. 1-25, hier S. 9). 106
Gesichtssinn, spiegeln sich beide ineinander. Gerade unter Bezugnahme auf Topoi wie die >neue WeltWunderbareVerwunderung< und das >Staunen< - im Sinne einer Reaktion auf das Wunderbare — finden solche Spiegelungs- und Zirkulationsprozesse statt.74 Descartes hat die Verwunderung als neutralen Ausgangspunkt aller leidenschaftlichen Regungen bestimmt. Ihre Besonderheit liegt demnach darin, daß sie im Hinblick auf die Wertung des Bezugsgegenstandes unentschieden ist und deshalb weder als positiver noch negativer Affekt gilt. 7 ' Im Modus konzentrierter Aufmerksamkeit schiebt die Verwunderung das Urteil kurzzeitig auf, bevor sie in »die Achtung oder Mißachtung« 76 übergeht. An diesem Nullpunkt der Leidenschaften, der reine, jedoch indifferente Wahrnehmung anzeigt, 77 läßt sich zugleich auch eine historische Zäsur ablesen. Denn die Verwunderung wird hier nicht mehr — gleichsam ontologisch — auf Eigenschaften der Bezugsobjekte zurückgeführt. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Interaktion, welche deutlich macht, wie selbstreflexiv die Beurteilungskriterien des Beobachters geworden sind. Nicht das grundsätzlich Unzugängliche, das Opake oder Inkommensurable wird in der Verwunderung zum Ausdruck gebracht, sondern ein transitorischer Zustand des Beobachters evoziert, der somit aufgefordert wird, seine Beurteilungskategorien zu überprüfen. Entscheidend ist dabei, daß Verwunderung Erkenntnis und Wissen überhaupt erst anstößt, indem sie die Aufmerksamkeit auf jene Gegenstände richtet, über welche uns keine klaren Begriffe zur Verfügung stehen. »Und so kann man insbesondere von der Verwunderung sagen, daß sie dazu nützlich ist, daß wir Dinge bemerken, die wir bis dahin nicht gewußt haben, und sie im Gedächtnis bewahren.« 78 74
Diese Beobachtung will nicht mit der These, daß Wissenschaft und Dichtung sich zum selben Zeitpunkt als autonome Funktionszusammenhänge mit jeweils spezifischen und ineinander nicht übersetzbaren Zuständigkeiten auszudifferenzieren beginnen, konkurrieren, sondern sie durch Feststellung gemeinsamer Reflexionsbezüge aus einem die Bereichsdifferenzierung ergänzenden Blickwinkel beleuchten.
" Rene Descartes, Die Leidenschaften der Seele, übers, und hg. von Klaus H a m macher, Hamburg 1996, Artikel 53, S. 95. 76
»je nach dem, ob es die Größe oder die Kleinlichkeit ist, über die wir uns wundern.« (Ebd., Artikel 54, S. 95) Entscheidend ist an dieser Stelle, daß die mikroskopische Perspektive gerade das Kleine zum Anlaß nimmt, um es nach seiner Vergrößerung dem A f f e k t der Verwunderung zuzuschreiben. Descartes' metaphorische Rede, welche die Größe und Kleinigkeit moralisch unterteilt, erfährt in der mikroskopischen Beobachtung einen unmetaphorischen Bedeutungswert sowie eine Umkehrung.
77
Siehe dazu Rüdiger Campe, A f f e k t und Ausdruck. Z u r Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 350.
78
Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Artikel 7 5 , S. 1 1 7 .
107
Unter dem Titel Gedanken über das wahrhafte Wunderbare in der Naturforschung erscheint 1747 ein Artikel, welcher entsprechend die funktionale Bestimmung des Wunderbaren für die Naturforschung hervorhebt: »Die Verwunderung über solche Dinge zu erregen, ist also nichts weiter nöthig, als durch genauere Aufmerksamkeit an ihnen zu entdecken, wie wenig wir sie verstehen.«79 Brockes' Dichtung bezieht sich auf das >Wunderbare< und >StaunenswerteWunderbaren< anhand der Visualisierung des Unsichtbaren. Dieses handelt von transzendenten Wesen, deren >Einkleidung< mit einem menschenähnlichen Körper den Gegenstandsbereich der Dichtung erweitert. Brockes sucht hingegen nicht das Außergewöhnliche, sondern beschreibt die ihn unmittelbar umgebenden Phänomene, welche sich ihm jedoch plötzlich,80 durch den Wechsel des Blickwinkels als unwahrscheinlich und wunderbar bzw. bewundernswert zu erkennen geben. Wenn er wie zuvor die >Verwunderung< unmittelbar mit der >Lust< zusammennennt, schafft er eine enge Beziehung — gemäß der prodesse et delectare-Losung —, wonach das Erleben des betrachtenden Auges< nicht in der Erforschung allein, sondern auch in einer lustvollen Wahrnehmung der Gegenstände sein Ziel findet. Die Inkommensurabilität der Sandkörner wie das Fehlen von materiell definierbaren Merkmalen, mit welchen sich ihre Verwandtschaft visuell erfassen ließe, rufen in der Dichtung eine lustvolle >Verwunderung< hervor. Indem ich nun die Kleinheit übersehe, Und alles dieses überlege; Erstaun' ich, wenn ich recht erwege, Daß alle Größe dieser Welt, J a selbst die Welt aus Kleinigkeiten nur, Wie groß sie uns auch scheint und würklich ist, bestehe. 8 '
Das analytische, zuvor am sich in einzelne Körner auflösenden Sand vorgeführte Modell wird nun auf >alle Größen dieser Welt< übertragen. Wenn 79
Anonymus, Gedanken über das wahrhafte Wunderbare in der Naturforschung, in: Hamburgisches Magazin oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen, aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt, hg. von A . G . Kaestner, J . A. Unzer, Bd. 1 (1747), S. 1 - 1 0 , hier S. j. 80 Siehe dazu Günter Peters, Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier, München 1993, S. i43ff. 81 Brockes, Der Sand, S. 219^
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jedoch >selbst die Welt aus Kleinigkeiten nur< besteht, dann steht dem b e trachtenden Auge< eine nahezu unerschöpfliche Ressource singulärer Erscheinungen zur Verfugung, welche sich sowohl poetisch als auch wissenschaftlich nutzen lassen. Nachdem Brockes hier im Duktus eines philosophisch anmutenden Fazits die Welt auf >Kleinigkeiten< zurückfuhrt, nimmt er, scheinbar beiläufig - »Es fiel mir ferner bey« - auf die »Malerey« und mit ihr auf einen explizit ästhetischen Gegenstand Bezug. Es fiel mir ferner bey, Wie Kleinigkeiten fast in allen Sachen Besondere Veränderungen machen. Was ist die schöne Kunst der edlen Malerey, Die guten Teils aus Farben nur bestehet, Und diese wiederum nur bloß aus Sand und Erden? Wodurch jedoch die schön'sten Bilder werden. Denn das, was unser Aug' erfrischt Auf solche wundersame Ahrt, Ist bloß ein wenig Sand mit Oel gemischt, Ist so unglaublich dünn und zart, Daß, wenn man es vom Tuche trennen wollte, Man es für Cörperlich kaum halten sollte.' 2
Hier steht nicht mehr der Befund im Zentrum, daß >alle Größe dieser Welt< aus >Kleinigkeiten bestehe, daß sich mithin alles Sichtbare in noch kleinere Elemente zerlegen läßt, sondern das Phänomen der Transformation: »Wie Kleinigkeiten fast in allen Sachen/ Besondere Veränderungen machen.« Um diese These zu veranschaulichen, wird auf die >schöne Kunst der edlen Malerei verwiesen. Im Unterschied zu seiner Beschreibung als Trägermedium, dem sich erkennbare Figuren einzeichnen oder einprägen, bildet der Sand jetzt einen Bestandteil jener Substanz, durch welche >die schönsten Bilder< möglich sind. Er ist nicht nur medialer Träger, er ist auch Aufgetragenes, nicht nur aufnehmende Substanz, die als Hintergrund zur Profilierung von imprägnierten Figuren selbst in gewisser Weise invisibel werden muß, sondern auch Element der Farbgebung, eine gestaltende und sichtbare Substanz also, die >auf solche wundersame Art< wirksam ist. Indem das Gedicht den Sand zunächst als Hintergrund von >eingedrückten Spuren< einfuhrt, sodann seine Funktion, Regen- und Tauwasser zu den Pflanzen- und Baumwurzeln weiterzuleiten, hervorhebt und schließlich auch seine gestaltende Effizienz als Farbe schildert, vollzieht es eine Umdeutung von passiver zur aktiver Bestimmung, vom Negativ der Spur zum Positiv der Farbgebung. Von bloßer Aufnahme, über Kanalisierung bis zur Hervorbringung eines Gemäldes wird der Sand allmählich in den Zusammenhang einer aktiven Produktivität gestellt und schafft auch in dieser Hinsicht eine direkte Asymmetrie zu der 82
Ebd., S. 220. 109
ihm in der ersten Strophe zugeschriebenen Unfruchtbarkeit und Öde. Im Bereich künstlerischer Werke wird er jedenfalls zum Element eines schöpferischen, (er) zeugenden Prozesses, in welchem sich seine materielle Konstitution gleichsam aufzulösen, ja zu transzendieren scheint, denn mit Ol vermischt, »wenn man es vom Tuche trennen wollte,/ Man es für Cörperlich kaum halten sollte«. Eine entscheidende paradigmatische Achse dieses Gedichtes entsteht, indem der Sand in der ersten Zeile des Gedichtes als >ödes LandSandkörner< und >Teilchen unserer Erde< bezeichnet wird, um fortan analytisch in einzelne Elemente zerlegt und als >Kreaturen< buchstäblich vitalisiert zu werden. Zum Ende des Gedichtes erlangen diese Teilchen schließlich eine solche Feinheit - >so unglaublich dünn und zart< - , daß sie sich kaum mehr als Körper 8 ' identifizieren lassen. Zum einen der mikroskopischen Vergrößerung und Annäherung an die observierten Gegenstände analog, wird der Sand hier in einzelne, unzählige Partikel zerteilt, zum anderen jedoch, in gewisser Weise einen mikroskopischen Topos modifizierend, verbindet er sich unauflösbar mit dem >Tucheinfassend< und einrahmend, noch einmal bestätigt wird. Innerhalb der theologischen Einfassung faltet das Gedicht unterschiedliche thematische Bereiche auf und zentriert sie auf den Sand: Gottesbeweis, Naturbetrachtung, Kunstreflexion, Didaktik des Gesichtssinns u. a. Was auf diese Weise als Sand besprochen und der Beobachtung unterzogen wird, vervielfältigt sich nicht nur in verschiedenen Perspektiven, es vollzieht vielmehr eine grundlegende Transformation. Mit Hilfe eines weitgehend sehr konkreten mimetischen Festhaltens und Beschreibens stößt das Beschriebene hier paradoxerweise, wie schon bei Wolff, an die Grenzen seiner mimetischen Identifizierbarkeit: von dem >ödenunfruchtbaren Land Privileg der Sehkraft* halten beide Autoren, Brockes ebenso wie Wolff, fest. Beide aber problematisieren es zugleich auch. Der Naturforscher Wolff legt die Kontingenz sichtbarer Merkmale offen und setzt sie in Beziehung zu den jeweils verwendeten Vergrößerungsgläsern. Auf diese Weise schafft er zumindest auf der Ebene der eingesetzten Apperatur eine systematische Ordnung. Der Dichter Brockes zeigt in mehreren paradigmatischen Ordnungen seines Gedichtes, welche Veränderungen ein betrachtendes Auge< registrieren bzw. selbst hervorrufen kann, wenn es seine Aufmerksamkeit auch auf das Unscheinbare richtet. Daß dieses jedoch überhaupt einer Betrachtung für wert befunden wird, hängt nicht zuletzt mit der Bedeutung mikroskopischer Versuche zusammen, haben sie doch erst bewiesen, daß Gegenstände durch Vergrößerung bzw. jegliche perspektivische Veränderung gänzlich andere - gegebenenfalls überhaupt erst unterscheid- und bestimmbare - Eigenschaften annehmen können, als sie das bloße Auge wahrzunehmen imstande ist. Beide Texte sind deshalb dahingehend miteinander vergleichbar, daß sie die identitäre Einheit des Sandes und der Sandkörner in eine Reihe veränderlicher Ansichten auflösen. Der mikroskopisch ermöglichte Einblick, dessen naturkundliche Struktur sich in Wolffs Text exemplarisch nachvollziehen läßt, bringt eine allgemeine, d. h. auch außerhalb der Experimentiersituation wirksame Wahrnehmungsveränderung mit sich. Dies ist in den vorangegangenen Kapiteln anhand der philosophischen Bezugnahmen auf das Mikroskop und dessen epistemologische Wertung deutlich geworden, es läßt sich aber auch anhand des Gedichts von Brockes feststellen, welches mithin in eine - unter Umständen überraschende - Nähe zu Wolffs Ausführungen tritt, und dies, ohne den mikroskopischen Blick ausdrücklich auch nur erwähnt zu haben. Trotz einer solchen Nähe handelt es sich um zwei Texte, welche sowohl unterschiedlichen Gattungen zuzurechnen sind als auch als Beiträge unterschiedlicher Kommunikationssysteme fungieren. In der Hinsicht ist die Differenz zwischen ihnen erheblich. Gleichwohl verfolgen beide dieselbe Zielsetzung, sie wollen nämlich unterrichten. Wolff leitet seine Leser dazu an, selbständig mikroskopische Versuche durchzufuhren, und lehrt sie dabei, abstrakte Strukturen richtig zu deuten, während Brockes ein qua vers libre das lyrische Sprechen der Prosa annäherndes Lehrgedicht vorlegt, in welchem neben der instruktiven Darstellung unterschiedlicher Zustände und Funktionen des Sandes auch die Wahrnehmungsfähigkeit des Auges sensibilisiert und geschärft werden soll. Das zentrale Anliegen mag in beiden Fällen ein didaktisches sein, die Mittel, derer sie sich jeweils bedienen, divergieren hingegen beträchtlich. Eine präzise Deskription bei Wolff und eine in der freien Form des Madrigals verfaßte, zum Genuß der Natur aufrufende Huldigung der göttlichen Schöpfung bei Brockes. Begrenzt sich ersterer auf ein naturwissenschaftliches Experiment und steckt die fur des112
sen setting relevanten technologischen und theoretischen Aspekte penibel ab, so geht letzterer zwar auch von einem konkret angeschauten Bezugsgegenstand aus, baut auf ihm jedoch im Verlauf des Gedichts eine allgemeine physikotheologische Preisung auf. Diese differenten Rahmenbedingungen sind ohne Zweifel konstitutiv. Für die hier geleistete Gegenüberstellung aber spielen sie insofern keine entscheidende Rolle, als es ihnen an einer auf der motivisch-argumentativen Ebene der Texte bestehenden Konzeption der visuellen Wahrnehmung gelegen ist. Ausschlaggebend ist diesbezüglich vielmehr, daß trotz der verschiedenen Rahmenbedingungen und Modi formaler Umsetzung beide Positionen gleichermaßen an einer besonderen, mikroskopisch angelehnten Fassung des Sehens arbeiten; daß sie einen gemeinsamen Problemfokus ausbilden, indem sie nämlich die Operation des Sehens sowohl problematisieren als auch vor diesem Hintergrund in neuer Weise lehren.
3. Ausschnitt und Funktion: Ch. Wolff »Von der Seide« Im § 85 des III. Teils seiner Deutschen Experimentalphysik beschreibt Wolff, wie er ein Stück Seide observiert, um das Verhältnis zwischen der Farbe und dem Stoff genauer zu bestimmen. Hält Brockes in der Malerei die Untrennbarkeit der Ölfarbe von dem >TuchWesentliche< erfaßt werden kann. Es ist kein Wunder, daß die Vergrößerungs=Gläser so vielen Nutzen haben: denn sie zeigen uns das Gewebe der Zeuge auf das deutlichste und also das Wesen derselben [...]: Aus dem Wesen eines Dinges aber lässet sich alles herleiten, was von ihm kann gesaget werden [...], und demnach muß man auch aus demjenigen, was die Vergrößerungs=Gläser gezeiget, herausbringen können, was die Zeuge für Eigenschafften haben und was für Veränderungen sie unterworffen sind. 10 '
Illustration und Beschreibung Die Illustration der Gewebeproben ist so komponiert, daß sie die Webmuster als Ergebnisse mikroskopischer Observation, sogar eines bestimmten Mikroskops, kenntlich macht, während sich auf der nächsten Illustrationsseite im Anhang desselben Bandes eine Darstellung 104 findet, auf welcher ausschließlich aus kleinen Kreisen bzw. Punkten zusammengesetzte, gleichsam amorphe Anordnungen abgebildet sind. Diese lassen sich als eine Art verästelte Linienführung mit stärker und schwächer ausgeprägten Verläufen beschreiben (Abb. 3). Bis auf eine vage Parallelität zwischen den als Α Β C D und Ε bezeichneten Linien sowie die Ähnlichkeit zwischen den kleinen Kreisen oder Punkten, aus welchen sie bestehen, kann keine weitere Regelmäßigkeit ausgemacht werden. Die Zeichnung gibt das Observierte ohne jeden ikonographischen Kommentar wieder. Was sie darstellt, erschließt sich allein aus dem ihr zugeordneten Unterkapitel »Beschreibung des Umlauffs des Geblütes« im § 98. Aus der vorangegangenen Illustration geht auch ohne Lektüre des entsprechenden Kapitels hervor, daß es sich bei den aufgeführten Gewebemustern um mikroskopische Beobachtungen handelt, auch wenn ihre jeweilige Art und Herkunft erklärungsbedürftig bleibt. Hier hingegen fehlt eine solche Rahmung, weshalb die Abbildung ohne die entsprechende Textpassage kaum deutbar ist. Was sie darstellt, läßt sich auf Anhieb nicht bestimmen. Neben den eingefugten Buchstaben Α Β C D Ε besteht sie nur aus netzwerkförmig sich ausbreitenden gepunkteten Linienmustern. Ein im Vergleich zu den wohlstrukturierten Webmustern anderes, in gewisser Weise ungeordnetes Gewebe wird sichtbar. 10 ' Dieses weist, 10)
Wolff, Allerhand nützliche Versuche, § 87, S. 348. Ebd., Fig. 66, Exper. Tom II. Tab. X I . Bei dieser Abbildung handelt es sich um den Stich nach einer Zeichnung, die Leeuwenhoek zur Veranschaulichung der Blutzirkulation in Auftrag gab. 105 An diesen beiden Gewebeproben und ihren Formen - der geometrisch beschreibbaren des Seidenstoffes und dem hier angeführten organischen Gewebe des Blutlc4
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den d u r c h die m i k r o s k o p i s c h e L i n s e v o r g e g e b e n e n , an ihren R ä n d e r n ausg e f r a n s t e n Ausschnitten der v e r g r ö ß e r t e n S t o f f s t ü c k e ähnlich, über den R a h m e n des O b j e k t i v s hinaus. Wie in der B e s c h r e i b u n g nachzulesen, k o m biniert diese Illustration mehrere m i k r o s k o p i s c h e A n s i c h t e n , f u g t sie jedoch derart zusammen, daß der E i n d r u c k einer einzigen E i n s t e l l u n g entsteht. D e r m i k r o s k o p i s c h e Sichtbarkeitsrahmen ist hier ein w e n i g überschritten, obgleich das, was darin sichtbar ist, d e n n o c h keinen in sich geschlossenen Z u s a m m e n h a n g ergibt. D e r Illustration fehlt zudem ein Z e n t r u m ,
auch
w e n n die f ü n f markierten L i n i e n Α Β C D Ε durch die Breite und D i c h t e der kleinen K r e i s e , aus welchen sie sich z u s a m m e n f u g e n , die Verteilung dominieren. I m G e g e n s a t z zu den Webmustern der S e i d e n s t o f f e , d. h. einer a n o r g a n i s c h e n Materie, deren Prinzip in einer g l e i c h f ö r m i g e n W i e d e r h o l u n g der jeweiligen Verflechtung mehrerer F ä d e n liegt, 1 0 6 untersteht die hier abgebildete Struktur vielmehr dem Prinzip der A b w e i c h u n g , der R e g e l der >EinzigartigkeitschönstenGelegenheit, alles so deutlich selbst zu observierenTierchen< wird berichtet, sie seien kleiner als die Kügelchen des Blutes und ihre Häufungsdichte enorm. Nicht nur Leeuwenhoek, sondern auch andere Naturforscher haben sie in den Samen unterschiedlicher Tiere, aber auch des Menschen wahrgenommen, wobei alle darin übereinkommen, daß unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft keine nennenswerten Unterschiede in der Erscheinung dieser Wesen festzustellen sind.124 Sie haben in der menschlichen wie in der tierischen Samenflüssigkeit stets einen länglichen Körper und einen Schwanz, der ihre Bewegung steuert. Konnte Wolff die Beobachtung des Blutkreislaufs vernachlässigen, da doch bereits die Lektüre ihrer Beschreibung in anderen Büchern überzeugt, so entbehrt der Fund dieser kleinen >Tierchen< in der Samenflüssigkeit jeder
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Ebd. Ebd. Wolff verweist hier besonders auf Hartsoeker, der festhält, »daß die Thierlein sonderlich im Saamen der Menschen einigen Unterscheid zu haben scheinen von denen, welche sich im Saamen der vierfußigen Thiere befinden: allein er hält den Unterscheid für so geringe, daß er ihn zu bestimmen sich nicht getrauet, zumahl da er erfahren, wie in dem Saamen des Menschen ein einiges Thierlein durch die Bewegung seinen Leib bald verlängert, bald verkürtzet, und dadurch seine Figur in etwas geändert.« (Ebd., § 99, S. 450) Das ist eine erstaunliche Feststellung, die zur Verunsicherung der Präformationslehre fuhren muß, bedankt man, daß die Samen keine bereits vorgebildeten Formen der aus ihnen sich später entwickelten Lebewesen enthalten können. Denn in dem Fall müßten sich die >Tierchen< in der Samenflüssigkeit der Menschen von denjenigen in der Samenflüssigkeit der Tiere erheblich unterscheiden.
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Vernunft, weshalb er in eigenen Versuchen nachzuprüfen sei: »Ich habe in einer so wichtigen Sache«, betont Wolff, »auch gerne mit eigenen Augen sehen wollen und zu dem Ende gleichfalls den männlichen Saamen durch das Vergrösserungs=Glaß betrachtet«.12' Nachdem er ausfuhrlich darlegte, wie der Samen präpariert und unter welches Mikroskop er gelegt wird, faßt Wolff seine Beobachtung zusammen, indem er vor allem auf die Bewegungen dieser >Tierchen< abhebt: Eines bewegete sich schräge durch die Röhre herauf; das andere wieder ihm entgegen. Einige kehreten auch auf ihrem Wege um und giengen zurücke. Ihre Bewegung lasset sehr seltsam: indem sie den Leib beständig herüber und hinüber bewegen, wenn sie fortgehen, nicht anders als wenn sie mit dem Hintertheile ruderten. [...] Ich habe wohl fleißig darauf acht gegeben, ob ich nicht von ihrem Gliedmassen etwas deutlich erkennen möchte: allein es ist in diesem Stücke meine Bemühung vergebens gewesen.' 2 6
Wolff beschließt seine Observation mit der Bemerkung, die Bewegungen dieser Kleinstlebewesen seien >sehr seltsame Nicht nur sind sie kleiner als die >Kügelchen< des Blutes, weshalb sie einen wohl noch tieferen Einblick in die >Grundtextur< der lebenden Materie bezeichnen, auch ist in ihrer Bewegung keine übergreifende Ordnung erkennbar, wie sie der Blutkreislauf etwa ergibt: ein in seiner Logik nicht nachvollziehbares Hin-und-Her, dessen Ziel sich dem verwunderten Beobachter nicht erschließt. Damit ist ein Staunen angesprochen, das als eine Art Abschlußgeste der Observation stehen bleibt, denn trotz >fleißiger Bemühung< läßt sich hier das Sichtbare in seiner Bedeutung nicht verstehen. Der Gegenstand der letzten mikroskopischen Beobachtung in Wolffs Experimentalphysik kann nicht geklärt werden. Das Ergebnis bleibt offen und die Versuche zur Erforschung dieses Vorkommnisses werden sogar insgesamt als >vergeblich< beurteilt. Das sechsundzwanzig Paragraphen umfassende, von Seite 272 bis Seite 456 sich erstreckende Kapitel mit der Uberschrift »Von dem, was die Vergrösserungs=Gläser zeigen« läuft schließlich auf die Beschreibung eines Phänomens hinaus, welches, entgegen Wolffs rationalistischer Haltung, als unerklärbar hingenommen werden muß. Es wird mit einem Staunen quittiert, welches die Grenzen der Vernunft und zugleich das Eindringen in einen nach anderen Gesetzen determinierten Wissensraum markiert.127 Ent-
E b d . , § 99, S. 4 5 1 . 116 127
Ebd., § 9 9 , S . 4 j j . Zusammenfassend läßt sich mit Michael Sonntag für die hier beschriebene historische Situation formulieren: » E s findet eine fundamentale Verschiebung der konstitutiven Struktur dessen statt, was >Beobachtung< sein kann, nicht als Rehabilitation eines sinnlichen Aktes, sondern als Transformation der Wahrnehmungsweisen*, d. h. des Systems der verbindlichen Bedingungen und Modalitäten, die erfüllt sein müssen, wenn etwas als >wahr< anerkannt, >wahr-genommen< sein soll.
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scheidend ist dabei, daß die V e r n u n f t mit der V e r s c h i e b u n g des observierten G e g e n s t a n d s b e r e i c h s v o n unbelebter — Sand, Seide — zu belebter Materie — B l u t u m l a u f , S a m e n f l ü s s i g k e i t - stärker g e f o r d e r t wird. G e l i n g t es ihr n o c h , d u r c h einen S p r u n g in die A b s t r a k t i o n v o n dem sichtbaren G e w e b e der A d e r n und Venen zum K r e i s l a u f des Blutes zu g e l a n g e n , so scheitert sie allerdings an den >Tierchen< der Samenflüssigkeit. 1 2 8 I m letzten, d e m §100 f u g t W o l f f ein allgemeines R e s ü m e e zum Verfahren der hier entfalteten B e o b a c h t u n g s p r a x i s an: Da ich zugleich das Vorhaben habe die Art zu observiren zu zeigen, auch wie man die angestellten Observationen ausführlich beschreiben soll, damit sie desto eher Glauben finden [...], so ist es nützlicher gewesen wenige derselben umständlich anzuführen, als viele unausführlich zu beschreiben. Ich hätte auch mehrere Figuren dazu setzen wollen, dadurch alles geschickt vorgestellet würde: allein weil ich den Mahler nicht jederzeit bey der Hand gehabt, der es hätte tun können, diese auch die Sachen nicht nach dem Sinne zeichnen, den man hat, sondern nach ihrem Kopffe; so habe ich sie lieber weggelassen. Ich verhoffe die deutliche Beschreibung soll zu unserem Vorhaben besser als eine Figur seyn. 129 D i e f ü r die E n t w i c k l u n g der M i k r o s k o p i e und ihre D o k u m e n t a t i o n zentrale Text/Bild- b z w . B e s c h r e i b u n g / I l l u s t r a t i o n - G e g e n ü b e r s t e l l u n g w i r d hier als ein K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s a u f g e f a ß t . D i e A u t o r e n k o m p e t e n z der Beschreib u n g erscheint durch die E i n b e z i e h u n g eines Illustrators gefährdet, indem der f ü r Fehler u n d optische T ä u s c h u n g e n ohnehin schon anfälligen A p p a ratur eine weitere potentielle Störquelle h i n z u g e f ü g t wird. B e a u f t r a g t e Illustratoren arbeiten nämlich nicht >nach d e m Sinn, den m a n hat, sondern
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[...] Erst nach dieser Transformation wird die Alternative zwischen schriftlicher Uberlieferung und den Erfahrungstatsachen in ihre historische Existenz gerufen. Vor dem 17. Jahrhundert gibt es sie in dieser Weise nicht; sie ist nicht Ursache, sondern Folge dieser Veränderung.« (Michael Sonntag, Die Zerlegung des Mikrokosmos. Der Körper in der Anatomie des 16. Jahrhunderts, in: Christoph Wulf und Dietmar Kamper [Hg.], Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie, Berlin 2002, S. 239-266, hier S. 245) Das Mikroskop macht den Einblick in organische Schichten möglich, welche dem anatomischen Verfahren des Sezierens nicht möglich waren. Beide gleichen sich zwar darin, daß sie ins Innere des Körpers vorstoßen. Jedoch fördern das sezierende und mikroskopische Auge jeweils Unterschiedliches zutage. »Das 16. und 17. Jahrhundert stand noch ganz im Zeichen der makroskopischen Anatomie. Die bedeutsamen Erkenntnisse eines Vesal oder eines Sylvius über den Knochenbau und die Muskulatur wurden vor allem durch das Sezieren gewonnen, die Entdekkung des Lymphsystems und des Blutkreislaufs setzte dagegen bereits die Anwendung anderer, nämlich feinmechanischer >SchauSinn< des ersten dem >Kopf< des zweiten kontrastiert: Wahrnehmung, welche sich behutsam der mikroskopischen Sicht annähert, versus voreilige Projektion? Anstatt einer piktographischen entscheidet sich Wolff deshalb weitgehend für die sprachliche Repräsentation. — Visuelle Wahrnehmung, dies konnte an der mikroskopischen Technik verdeutlicht werden, bedarf einer besonderen Schulung und Übung des Auges. Sie ist nicht nur ein physiologischer, sie ist in besonderem Maße auch ein kulturell und wissenshistorisch bestimmter Vorgang, wovon die mikroskopischen Observationen ein prägnantes Zeugnis abgeben. Sie fuhren vor, wie eine Sinneswahrnehmung medien- und kulturtechnisch konditioniert wird. Dabei bildet der Ausschluß anderer Sinne eine zentrale Voraussetzung dieser Konditionierung. Im Hinblick auf die technische Ausführung herrscht bei einer mikroskopischen Observation das Paradigma des Sehsinns vor. Dennoch exemplifiziert die Mikroskopie zugleich auch, welchen Kontingenzen dieser unterliegt und wie wechselhaft, labil und austauschbar die seiner Wahrnehmung entspringenden Betrachtungsobjekte ausfallen können. Anhand der mikroskopischen Untersuchungen von Christian Wolff wurde im einzelnen dargelegt, daß mit der technischen Steigerung und Intensivierung der Sehleistung eine Deformation des sichtbaren Bezugsgegenstandes korreliert, um dessen Wiederherstellung sich der Beobachter nachträglich bemühen muß. Die Zielsetzung besteht dabei darin, einen sinnvollen Zusammenhang aus dem allmählichen Verlust des Ähnlichkeitsbezugs zwischen den untereinander abweichenden mikroskopischen Teilansichten heraus zu konstruieren, vor allem aber die Preisgabe jeder Ähnlichkeit gegenüber den natürlichen Wahrnehmungserscheinungen rational einzuholen. In dieser Hinsicht repetiert die Mikroskopie, was unter der Prämisse der Dioptrik bereits für das bloße Auge gilt. Dieses bildet auch nicht ab, sondern fungiert als Bestandteil einer mehrstelligen Transformation, welche von den Impulsen der Lichtbrechung ausgelöst wird, sodann physiologisch erfolgt und als Weiterleitung an das Gehirn schließlich neurologisch konzipiert wird. Der ersten optischen >Ablenkung< fugt die Mikroskopie somit eine zweite, der natürlichen eine technische hinzu. Indem deutlich wird, wie sich das Sichtbare in Abhängigkeit zu den verwendeten Linsen und Mikroskopen wandelt, weicht dessen visuelle Konsistenz förmlich auf, wodurch ein drastisches Zeugnis von der grundsätzlichen Problematik des Sehvorgangs und seiner Ergebnisse vorgelegt wird. Zwar wird dem Auge seine Erkenntnisfähigkeit auf diese Weise nicht aberkannt. Gerade die Erkundung der Naturgegenstände privilegiert den visuellen Zugang. Gleichwohl aber begleitet unablässig ein Wissen um die Unsicherheit und Unzuverlässigkeit seiner Wahrnehmungsresultate die mikroΪ3 1
skopische Naturforschung des 18. Jahrhunderts. Das Auge gerät in eine ambivalente Position, indem es als zentrales Erkenntnisinstrument eingesetzt und bewertet wird, zugleich jedoch nicht nur hinsichtlich seiner Täuschungsanfälligkeit, sondern grundlegender noch im Hinblick auf seine Konstruktivität diagnostiziert wird. 1 ' 0 Der operative Modus des >mikroskopischen Auges< führt zudem auch vor, wie die dem Sehsinn zugeschriebene Distanzierung - hervorgerufen durch die Lichtstrahlen, die zwischen das Auge und den Gegenstand treten -schwindet und wie mithin die Naturforschung im 18.Jahrhundert ihren Gegenständen buchstäblich auf den Leib rückt, um sie visuell gleichsam abzutasten. In der perspektivischen Vergrößerung und Vertiefung tritt die Beobachtung in eine solche Nähe zum Beobachteten, daß dieses nicht mehr als ganzes übersehen werden kann, sondern nur noch, einer blinden Tastbewegung gleich, stückweise, mit jeder Verschiebung aufs neue und anders erfaßt wird. Hier dient der Vergleich von Sehen und Tasten nicht, um das Zielsichere, die Punktgenauigkeit und Geschicklichkeit, sondern gerade umgekehrt das Ungewisse und Zerstreute als gemeinsames Merkmal beider Operationen hervorzuheben. Vom cartesianischen Modell, demzufolge die Wahrnehmungen ineinander übersetzbar sind, weil sie über Oberflächen der Außenwelt nach dem mechanischen Druck-und-Stoß-Modell informieren, unterscheidet sich die Tastdimension des mikroskopischen Auges darin, daß es auf die observierte Materie, wie von Locke bereits formuliert, durchdringend zugreift. Es tastet nicht nur seine äußere Form ab, sondern durchschneidet sie wie ein Seziermesser, um in darunter liegende Bereiche vorzustoßen. Die Mikroskopie setzt die anatomische Zergliederung fort, indem sie in die Innenräume der Körper, vor allem aber der organischen Gewebe, gelangt und sie so einer gesteigerten, dem bloßen Auge nicht möglichen Sichtbarkeit unterzieht. Aufgrund des Privilegs des Gesichtssinns wird zwar die Möglichkeit eines blinden Naturforschers im 18. Jahrhundert ausgeschlossen, das Moment des blinden Tastens jedoch dem mikroskopischen Sehen selbst implementiert: Ein Tasten, das sich neu formiert, indem es unter die Oberfläche führt und damit von einer Hand her gedacht wird, die keinen Taststock, sondern eine Art virtuelles Seziermesser hält. 1 ' 1 In die Festlegung des Sehens als Leitoperation treten daher haptische Eigenschaf1)0
Das gilt nicht nur fiiir die Naturforschung, sondern auch für die Erkenntnistheorie der Aufklärung. Vgl. in diesem Zusammenhang zur Rezeption des Höhlengleichnisses in der Aufklärung Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1996, vor allem das Kapitel »Die Höhlen der Vernunft«, S. 415 ff. Zur Erzeugung virtueller Effekte in der Mikroskopie des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Alexandre Metraux, Uber virtuelle Details in den Lebenswissenschaften vor 1820, in: Wolfgang Schaffner, Sigrid Weigel und Thomas Macho (Hg.), »Der liebe Gott steckt im Detail«. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 219-240.
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ten, das Ausgeschlossene also, wieder ein, und dezentrieren oder desorientieren das Sichtbare mithin. Begreift man des weiteren das mikroskopische Verfahren als eine experimentelle Anordnung, welche sich nicht allein auf den Akt des visuellen Beobachtens begrenzen läßt, dann muß auch die Fertigkeit der Hand, d. h. des Tastinstruments, in zweifacher Hinsicht in ihre Logik einbezogen werden. Einerseits wird sie nämlich zur Präparation der zu beobachtenden Gegenstände gebraucht, andererseits dient sie zur Ubertragung einer mikroskopischen Ansicht in eine Illustration. Beide Aspekte aber sind in ähnlicher Weise am mikroskopischen Verfahren und seinen Ergebnissen beteiligt wie die unterschiedlichen optischen Instrumente. Im folgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob und in welcher Weise der Tastsinn eine vergleichbare Konditionierungsgeschichte aufzuweisen hat wie der Gesichtssinn. Wird auch er von spezifischen Medien- und Kulturtechniken entsprechend geprägt?
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III. Eine Medientheorie des Tastsinns: Diderot
i. Sensorische Differenzierung Technische Kontaktstellen Im 17. und 18. Jahrhundert wird das Auge wie kein anderes Sinnesorgan an moderne Apparaturen angeschlossen, die es in seinem Wahrnehmungsmodus nicht nur steigern und verbessern, sondern vor allem auch grundlegend verändern. E s läßt sich medientechnisch aufrüsten und als komplexe Schnittbzw. Kontaktstelle beschreiben, deren visuelle Effekte die natürliche Wahrnehmung des bloßen Auges nachhaltig provozieren können. Dabei organisiert der Punkt, an welchem der Sehsinn mit der Apparatur verschaltet wird, eine an der Vorstellung gegenseitigen Berührens orientierte Konstellation: eine Art Fühlung zwischen zwei Instrumenten - dem natürlichen und dem technischen - , deren Wechselwirkung die eigendeterminierte Wahrnehmung des Gesichtssinns mit der eigendeterminierten Sichtbarkeit der Apparatur zusammenfuhrt und konfrontiert. Das Auge wird in die Lage versetzt, über die Grenzen seines natürlichen Perzeptions- und Wirkungsraumes hinauszugehen und derart in Bereiche einzudringen, deren Informationswert sich ihm allerdings nur allmählich erschließt. Es wird in die apparative Vorrichtung gewissermaßen ausgelagert, dort jedoch weniger in seiner Wirkung intensiviert oder verbessert als vielmehr zunächst auf die Probe gestellt und schließlich auch modifiziert. Die Geschichte des Tastsinns im 17. und 18. Jahrhundert kennt keine den Mikroskopen oder Teleskopen vergleichbaren Medientechnologien. Trotz seiner Zentrierung auf die Hand und damit auf das instrumenteile Körperorgan schlechthin ist er in bezug auf den medientechnischen Status mit dem Auge nicht konkurrenzfähig. Ein Taststock ist ein bloßes Werkzeug, ein Mikroskop hingegen - dies macht einen folgenreichen Unterschied aus eine hochkomplexe Apparatur. Ein weiterer Gesichtspunkt tritt hinzu. Inwieweit nämlich die Geschichte des Tastsinns eine der dioptrischen Neubestimmung vergleichbare Erkenntniszäsur kennt, gilt es in den folgenden Kapiteln zu klären. 1 Festzuhalten ist indes von vornherein, daß die haptische
' Siehe dazu auch Kap. IV.
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Wahrnehmung anders als die des Gesichtssinns kaum systematischer experimenteller Erforschung unterzogen wurde. 2 Sie galt bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht als Gegenstand wissenschaftlich-naturkundlichen Studiums. 3 Hat die Optik das Sehvermögen unter physikalischen Prämissen bereits seit der Antike untersucht und die Medizin das Auge in seinen physiologischen Funktionen spätestens seit der Renaissance systematisch erklärt, 4 so kommt die Bedeutung des Tastsinns nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht, und hier zumeist in Verbindung mit dem Gesichtssinn, zum Tragen. Befragt wird das Tastorgan dabei darauf, welche Eindrücke und Ideen es hervorzubringen vermag und wie sich diese zu denjenigen des Auges verhalten.' In einer solchen Konstellation wird es vor allem als Wahrnehmungsvermögen der Hand verstanden. Wenn mithin der Seh- und der Tastsinn eine heuristische Einheit bilden, indem sie aufeinander bezogen werden, um aus diesem Vergleich heraus in ihrer jeweiligen Funktion beleuchtet und ergründet zu werden, dann wird das Wahrnehmungsvermögen des Tastsinns zumeist auf die Hand begrenzt. Denn nur so erscheint eine Kompatibilität beider Sinnesorgane herstellbar. Zwar bestimmt das 18. Jahrhundert ausdrücklich auch die Haut als Tastorgan, 6 jedoch rückt diese selbst nur insoweit in den Fokus der Aufmerksamkeit, als die Hand von ihr umzogen ist. Die Wirkungen des Tastsinns werden weitgehend mit Wirkungen manueller Berührungen gleichgesetzt und auf diesen perzeptiven Umkreis begrenzt. Das Tastorgan Haut wird in Form einer Synekdoche auf die Hand verkürzt. Im Gegensatz zur definitorischen Festlegung lassen sich hinsichtlich der ikonologischen Darstellung und diskurshistorischen Beschreibung des Tastsinns für den hier in Frage stehenden Zusammenhang aufschlußreiche Un1
1690 erscheint Tobias Vogels Curiöser Haut—Diener, die erste deutschsprachige medizinische Abhandlung über die Haut. ' Auf David Katz' 1925 erschienene Schrift Der Aufbau der Tastwelt eingehend und ihr »Anliegen, Aufzeichnungstechniken für empirische Untersuchungen von Tastphänomenen vorzustellen«, im Kontext einer experimentellen Erforschung des Tastsinns diskutierend, wendet sich Nicolas Pethes, Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsentation nach 1900: David Katz, Walter Benjamin, in: Lili 117/30 (2000), S. 33-57, hier S. 37, einem zentralen Kapitel des Forschungsfeldes zu. 4 Siehe dazu allgemein David C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt am Main 1987. ' Zur philosophiegeschichtlichen Bestimmung des Tastsinns von Thomas von Aquin bis Herder siehe Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Hier wird diese erkenntnistheorisch motivierte Betrachtung der Tastempfindung dargestellt. 6 Gefühl entsteht, wenn die »Fibrae der Haut, und anderer Theile durch einen Contactum angegriffen werden« (Johann Heinrich Zedier, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. ro, Halle/Leipzig 1735, Photomechanischer Nachdruck, Graz 1961, Sp. 2225).
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terschiede aufzeigen. Bis ins 17. Jahrhundert wird Haptik vor allem von dem Bild einer bloßen Hand mit leicht gespreizten Fingern repräsentiert, wie beispielhaft in Johann Arnos Comenius' Orbis sensualium pictus von 1658 wiedergegeben. Hier werden die einzelnen Sinne auf einzelne Organe festgelegt, welche aus der physiologischen Einheit des Körpers in gewisser Weise desintegriert und nebeneinander — das Auge und das Ohr ebenso wie die Hand etwa - abgebildet werden.7 Die fünf Sinne werden von einem ihnen jeweils zugeschriebenen organischen Äquivalent ikonologisch angezeigt, was zugleich auch eine anthropologisch-medizinische Zuordnung der Wahrnehmungsformen zu ihren jeweiligen Wahrnehmungsorganen impliziert. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts findet jedoch eine Veränderung statt, insofern in der Emblematik dieser Zeit die Darstellung einer Frau üblich wird, deren eine Hand von einem Vogel berührt wird und deren andere den Panzer einer Schildkröte berührt.8 Das Tastorgan ist hier in zwei Komponenten aufgeteilt und dabei sowohl durch ein aktives als auch ein passives Moment gekennzeichnet. Es bedeutet gleichermaßen ein Werkzeug und eine Reizfläche. Je nachdem, an welchen der beiden Aspekte angeschlossen wird, gestaltet sich die konkrete Bestimmung der haptischen Wahrnehmung sehr unterschiedlich. Werden hingegen beide berücksichtigt, so fuhrt dies zu einer internen Differenzierung des Tastsinns. Jedoch konzentriert sich die Darstellung auch hier ausschließlich auf die Hände. Diese allein stehen für den Tastsinn. Es scheint, als ließe sich Haut visuell nicht repräsentieren; als könnte nur andeutungsweise auf sie Bezug genommen werden, als Überzug und Oberfläche der Hand. Auch in der medizinischen Forschung dieser Zeit wird Haut nachrangig behandelt. Sie ist zum einen eine geradezu hinderliche Hülle, welche es abzulegen bzw. zu durchschneiden gilt, um die Vorgänge im Inneren des Organismus zu begreifen. Zum anderen wird sie selbst physiologisch als poröser Durchgangsort zwischen Innen und Außen verstanden, als eine Grenze also, welche weitgehend aus dem Bereich der Beobachtung herausfällt, weil vor allem das, was sie durch ihre Öffnungen passieren läßt, von Bedeutung ist. Als Schwelle zwischen der Körperoberfläche und dem Innenraum erfüllt sie medizinisch in erster Linie die Funktion eines Symptomträgers, indem die an ihr sichtbaren Veränderungen auf innere Störungen hindeuten. Sie selbst gilt weder als ein eigenständiges Organ, noch kann sie 7
Siehe dazu Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 32. ' Siehe dazu Simon Richter, »Erectionen machen«: Wieland und die Erotik der weiblichen Physiognomie, in: Rüdiger Campe und Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg im Breisgau 1996, S. 313-329, hier S. 320.
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erkranken, gleichwohl aber liefert sie Indizien für Erkrankungen der inneren Organe. »Der Nutzen der Haut ist i ) die unterliegende Theile einzuwickeln und zu beschützen«, so die Erklärung in Zedlers Universal-Lexicon, »2) das Werckzeug des Fühlens, und, den allgemeinen Ausguß des Geblüthes, vermittelst des Schweisses und Durchdünstung auszugeben, welches beydes aber zu Abwendung der Trockenheit der Haut dienet«. 9 Bemerkenswert ist an dieser Beschreibung, daß sie nach der Logik der Kleidung angelegt ist. Nach Maßgabe der unter Punkt 1 explizierten Bestimmung übernimmt die Haut dieselbe Aufgabe für die unter ihr liegende Anatomie, wenn sie diese >einwickelt< und >beschütztWerkzeug des Fühlens< klassifiziert wird, führt der Artikel daraufhin auch ihre Bedeutung als humorales Einlaßtor, als Medium der >Ausgüsse< und >Durchdünstungen< von Körpersäften, aus.11 Im medizinischen Diskurs der Aufklärung ist ihr lediglich ein Supplementärstatus beschieden, weshalb die Haut auch in den Überlegungen zum Tastsinn vielfach supplementär auftritt. Es wird in den folgenden Darstellungen auf die Beziehung zwischen Hand und Haut unter diesem Gesichtspunkt genauer einzugehen sein. Dabei soll zur Sprache kommen, welche konzeptuellen Veränderungen die Einbeziehung letzterer für das Verständnis der Tastwahrnehmung und des Tastvorgangs mit sich bringt. Dieser kann nämlich nicht als druckausübender Kontakt zwischen kompakten Körpern aufgefaßt werden, wenn die Haut als eine Art durchlässiges Gewebe gilt. Eine solche Durchlässigkeit legt vielmehr eine Perzeptionsauffassung nahe, welche auf einem unmittelbaren Einlaß der Reize ins Körperinnere beruht. Dient die Haut, diese poröse Trennschicht zwischen Innen und Außen, als haptisches bzw. taktiles Organ, so müssen entweder die Vorstellungen über den Tastvorgang als widerstandsbildende Stöße, wie sie der Taststock beim Auftreffen auf die Oberflächen der Dinge, aber auch die Berührungen der Hand noch erzeugen, zugunsten von fließenden Austauschprozessen und osmotischen Ubergängen aufgegeben oder das Konzept der Haut selbst überdacht werden. Diese muß etwa als kompakter und undurchdringlicher 9
Art. »Haut«, in: Zedier, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 12, Sp. 926. Etymologisch verweist >Haut< auf das althochdeutsche >hut< zurück, welches seinerseits mit >Hütte< und >Haus< verwandt ist. " Auch wenn die Anthropologie bereits des frühen 18. Jahrhunderts vom humoralen auf den neuronalen Körper umstellt, wie Koschorke dargelegt hat (Albrecht K o schorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 54ff.), so wird die Haut hingegen, als fiele sie aus diesem K ö r per heraus, bis zum Endes des Jahrhunderts weitgehend nach dem humoralen Schema gedacht. 10
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verstanden werden, um auch den Tastreizen einen Widerstand zu bieten bzw. eine Struktur mit eigenen Wahrnehmungssensoren erkennbar zu machen. Anders als das Auge, welches durch interne Mechanismen spezifische Verarbeitungen der aufgenommenen Impulse erzeugt und damit, wie bei Descartes deutlich geworden, das Gesehene überhaupt erst modelliert, verfugt die Haut über einen solchen Mechanismus nicht, wenn sie lediglich als poröser Körperüberzug konzipiert wird. Bis zur Entstehung der Dermatologie an der Schwelle zum 19. Jahrhundert bildet die Haut zwar kein ausdifferenziertes medizinisches Wissensobjekt. 12 Sie wird dennoch im Zuge mikroskopischer Analysen in ihrer Feinstrukturierung genauer beobachtbar. Anatomisch lassen sich an ihr drei unterschiedliche Schichten erkennen: ein »oberefs] Häutlein«, welches aus »kleinsten Blätgen und gleichsam Schuppen« besteht; dann die sogenannten »Malphigii Netze«, welche die obere Schicht zusammenhalten, und schließlich »die eigentlichfe]«' 5 Haut. Nicht nur in ihrer >Einwicklungs-< und >Schutz-Netz< bildet. Netze und Gewebe assoziieren ähnliche Strukturen. Aufgrund dieser zweifach gegebenen Ähnlichkeit werden Haut und Kleidung in eine konzeptuelle Nähe zueinander gebracht, welche es unter verschiedenen Aspekten zu berücksichtigen gilt. Im folgenden soll diese Nähe als natürlich-technische Schnittstelle in eine medientheoretische Perspektive gerückt werden. Die Kleidung soll mithin als Medium des Tastsinns befragt und dem Taststock als der Medientechnik der Hand zur Seite gestellt werden. Die mediale Funktion des Blindenstocks liegt in der Ausdehnung des haptischen Radius. An der distanzüberschreitenden Wahrnehmung des Sehens orientiert, soll auch der Blinde mit Hilfe eines Stocks seine Umgebung weiträumiger erfassen können, als es ihm die bloße Hand ermöglicht. In der Erweiterung des Tastraums fungiert der Taststock als ein kompensatorisches Medium, mit welchem der Ausfall des Gesichtssinns ausgeglichen werden soll. Dieser Medieneinsatz beruht auf der Annahme einer partiellen Symmetrie zwischen beiden Wahrnehmungsorganen. Der Taststock fügt sich der Handführung. E r steht für eine Verlängerung des Arms und, damit einhergehend, für die Ausweitung seines Spielraums. Er behält daher den Stellenwert einer anthropozentrisch abgesicherten Extension, d. h. eines 12
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Bis dahin galt sie als poröse Körperschicht, deren Offnungen nicht anders als andere Körperöffnungen behandelt wurden. Vgl. dazu Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1991; Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte - Körperbilder - Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 49ff. Art. »Haut«, in: Zedier, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Sp. 92 3 f.
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Werkzeugs. Demgegenüber kehrt das Mikroskop dieses Verhältnis um. Es erlangt im Vergleich zu den Wahrnehmungen des Auges eine derartige Autonomie, daß dieses tiefgreifend desorientiert wird. E s erkennt die Gegenstände nicht wieder, weil sie durch den Einsatz der optischen Medientechnik einer einschneidenden visuellen Transformation unterzogen wurden. 14 Das, was die Vergrößerungsgläser sichtbar machen, kann das Auge nur mühsam unter seine Kontrolle bringen. In gewisser Weise tritt dieser Kontrollverlust auch an dem Punkt zutage, wo sich die visuellen und haptischen Eindrücke eigentümlich überkreuzen und die optische Apparatur den Sehsinn mit haptischen Wahrnehmungseindrücken und Kategorien durchsetzt, obwohl operativ der Tastsinn aus der eigentlichen mikroskopischen Beobachtung ausgeschlossen wird. Eine medientheoretische Rekonstruktion der Sinne muß jedenfalls den gravierenden Unterschied zwischen der medientechnischen Funktion, wie sie die Mikroskope repräsentieren, und der instrumenteilen Funktion, wie sie der Taststock ausübt, bedenken. E r wird deshalb die anschließenden Überlegungen anleiten und mit den vorherigen verbinden. Im Lettre sur les aveugles. Λ Γusage de ceux qui voient von 1749 läßt Denis Diderot einen Blinden aus Puisaux eine Verbesserung und Steigerung seines haptischen Fassungsvermögens in Erwägung ziehen. Dabei lehnt sich die darin entworfene Verlängerung seines Arms zum einen am Modell des Blindenstocks an, sie erinnert zum anderen aber auch an ein Teleskop, weil das derart verlängerte Körperglied bis zum Mond reichen soll. Damit schließt Diderot an den in Descartes' Dioptrique erstellten Zusammenhang zwischen Stöcken und Teleskopen in gewisser Weise an. 1 ' E r deutet ihn allerdings um, indem der Blinde seine Hand hier ausdrücklich nicht als Ersatz für das fehlende Augenlicht versteht, sondern im Gegenteil als Beitrag zur Vervollkommnung des Tastsinns.'6 Irgendeiner von uns kam auf den Gedanken, den Blinden zu fragen, ob er sich nicht freuen würde, wenn er Augen hätte. »Wenn mich nicht die Neugierde beherrschte«, sagte er, »so hätte ich ebensogern lange Arme. Mir scheint, daß meine Hände mich dann über das, was auf dem Mond geschieht, besser unterrichten würden als eure Augen oder eure Fernrohre. Außerdem hören die Augen eher auf 14
Mit Extension und Transformation sind zwei Medienkonzepte genannt, welche sich in der Geschichte der Medientheorie exemplarisch mit zwei Namen belegen lassen: Marshall McLuhan und Niklas Luhmann. Versteht jener Medien als »extensions of menBelehrung< beiträgt. Sie wird statt dessen von der philosophischen Diskussion mit Freunden und vor allem der Begegnung mit dem Blinden von Puisaux erhofft. Während dieser von den philosophischen Freunden selbst aufgesucht und befragt wird, erfolgt der Bezug auf den Mathematiker Saunderson hingegen nur über Berichte und Zeugenaussagen Dritter. Die Aufmerksamkeit des Textes richtet sich daher auf zwei unterschiedlich belegte Fälle, die von einer epistolaren Struktur umschlossen werden. Sein kommunikatives Gefüge besteht mithin aus unterschiedlichen Gesprächen: mit dem Blinden aus Puisaux, mit Zeugen, mit philosophischen Freunden, aber auch mit thematisch relevanten Positionen der Philosophiegeschichte und schließlich mit der Adressatin des Briefes, einer ungenannt gebliebenen Madame. Eine Vielfalt einzelner Teilgespräche58 wird hier verwoben, die am Ende des Textes in eine Reihe offener Fragen mündet. Das aber bedeutet, daß sprachliche Kommunikation in vielfacher Weise dargestellt wie vollzogen und dabei in ihrer Funktionsfähigkeit, aber auch in ihren Störungen und Unzulänglichkeiten aufgezeigt wird: Wer hat uns gesagt, daß wir es nicht mit falschen Zeugen zu tun haben? Trotzdem urteilen wir. Ach, Madame, wenn man das menschliche Wissen einmal auf die Waage Montaignes gelegt hat, so ist man nicht abgeneigt, seine Losung anzunehmen. Was wissen wir denn? Was die Materie ist? Keineswegs! Was Geist und Denken sind? Noch weniger! Was Bewegung, Raum und Zeit sind? Durchaus nicht!"
Die Ungewißheit der genannten Kategorien, mit welchen hier das Fundament jeder Wahrnehmung und Erkenntnis erschüttert wird, setzt die metaphysische Infragestellung des Molyneux-Problems sowie der in ihm enthaltenen philosophischen Voraussetzungen fort. Veranlaßt wird diese Reflexion zwar von einem wissenschaftlich-medizinischen Versuch, ihr Fokus aber richtet sich auf philosophische Probleme. Bereits am Anfang bringt der Ich-Erzähler seine Uberzeugung zum Ausdruck, daß von der Staroperation >kaum etwas fiir seine Belehrung zu gewinnen< sei. Die philosophische Reflexion wird hier zum Opponenten einer Wissensform, welche zwar erfolg" Ebd. 58 Siehe zur Bedeutung des Gesprächs allgemein Carol Sherman, Diderot and the art of dialogue, Geneve 1975. 39 Diderot, Brief über die Blinden, S. 99. 149
reiche medizinische Eingriffe ermöglicht und therapeutische Methoden in Aussicht stellt, jedoch selbst problematisch ist, weil sie das visuelle Wahrnehmungssystem dem haptischen vorzieht. Sie trifft somit eine Vorentscheidung, die erst einer Gegenprüfung bedürfte. Diese ungefragte Bevorzugung des Gesichtssinns - das >Privileg der Sehkraft< - wird von Diderots Text als blinder Fleck experimenteller (Natur-)Forschung entlarvt. An dem Punkt nämlich, an dem diese die Grenzen ihrer Augenzentrierung und der daraus erwachsenden Konsequenzen nicht mehr zu erkennen vermag, ist sie selbst mit Blindheit geschlagen. Spiegel und figurative Rede Bevor der Blinde aus Puisaux die Aussicht darauf, sehen zu können, zugunsten derjenigen, seine Arme zu verlängern, ausschlägt, wird er als »ein Mann, dem es nicht an gesundem Verstand fehlt, den viele Leute kennen, der etwas von Chemie versteht und der mit einigem Erfolg die Vorträge über Botanik im Jardin du Roi gehört hat«, 40 eingeführt. Dieser Mann wird von den philosophischen Freunden in ein Gespräch verwickelt, in welchem er dazu gebracht wird, drei optische Instrumente entweder nach seinem Verständnis selbst zu beschreiben oder anhand von ihm gegebenen Beschreibungen in sein Denksystem einzufügen. Auf die Frage des Ich-Erzählers, »was er unter einem Spiegel verstünde«, erwidert er, es sei eine Maschine, »>die die Dinge in einiger Entfernung von ihnen selbst im Relief wiedergibt, wenn diese in bezug auf sie richtig aufgestellt sind. Es ist wie mit meiner Hand, die ich nicht neben einen Gegenstand legen darf, wenn ich ihn fühlen will.scharfsinnige< Kombinationsleistung beurteilt werden — an dem Punkt unterbrochen, wo aus der Beschreibung einer Maschine, >die die Dinge in einiger Entfernung von ihnen selbst im Relief wiedergibt, wenn diese in bezug auf sie richtig aufgestellt sind/ wieder ein Spiegel rekonstruiert werden soll. Eine Rückübersetzung desselben in das übliche Verständnis scheint, von der Beschreibung des Blinden ausgehend, demnach höchst unwahrscheinlich. Denn dieser kombiniert nach einer anderen Logik als die Sehenden, denen er seine Erklärung vor allem bezüglich der Gleichsetzung haptischer mit visuellen Eindrücken gleichwohl entwendet. So deckt der Text nicht nur die kommunikative Diskrepanz zwischen den Blinden und den Sehenden auf, sondern hält letzteren auch einen Spiegel vor, in welchem sie auf die logischen Gesetze und Prämissen der/ihrer Sprache gestoßen werden. Im Anschluß an das Gespräch über Spiegel werden dem Blinden Mikroskope und Teleskope als Maschinen geschildert, die von derselben Art sind, aber die Gegenstände vergrößern; ferner solche, die sie - ohne sie zu verdoppeln - verrücken, heranholen oder entfernen, die sie wahrnehmbar machen, indem sie ihre kleinsten Teile den Augen der Naturforscher enthüllen; es gebe auch solche, die sie vertausendfachten und schließlich solche, die sie völlig zu entstellen scheinen.44
Auf diese Erläuterung reagiert der Blinde mit »hundert sonderbare [n] Frage[n]«. 45 Im einzelnen nennt der Text solche, die das Verhältnis der Form und Größe dieser >Maschinen< zu ihren jeweiligen Funktionen und Wahrnehmungseffekten betreffen.46 Vor allem die Mutmaßung, die Maschine, die 45
Diderot, Brief über die Blinden, S. 53. Ebd., S. 54· 4 > Ebd. 46 »Er fragte uns zum Beispiel, ob mit dem Mikroskop nur diejenigen, die man Naturforscher nennt, und mit dem Teleskop nur die Astronomen sehen könnten; 44
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die Gegenstände >entferne, müsse länger sein als jene, die sie heranholeentfernen< oder >heranholen< könne, ohne ihn dabei selbst im Raum zu verrücken. Ihm fehlt folglich ein Verständnis für räumliche Verschiebungen, die ausschließlich durch den Einsatz einer optischen Technik, gleichsam als visuelle Suggestion, wie man im Anschluß an Berkeley formulieren kann,47 hervorgerufen werden. Räumliche Veränderung wird nach Auffassung des Blinden nur als Resultat eines Kontakts zwischen zumindest zwei Körpern gedacht. Eine Maschine müsse deshalb ein Gegenstand sein, mit welchem einem anderen Gegenstand ein Reiz zugefügt wird. Der dadurch ausgelöste mechanische Wirkungszusammenhang sorgt dafür, daß die räumliche Position bzw. körperliche Beschaffenheit des reagierenden Gegenstandes modifiziert wird. Ein solches Instrument wird als eine nach dem Druck-und-Stoß-Prinzip funktionierende >Extension< gedacht, nicht jedoch als >TransformationsmediumEntfernungVerrückung< oder vom >Heranholen< mit Hilfe der mikroskopischen oder teleskopischen Observation die Rede ist, dann handelt es sich dabei nicht um Formulierungen, mit welchen die p h i losophischen Freunde< dem Blinden das visuelle System zu eröffnen versu-
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ob die Maschine, welche die Gegenstände vergrößere, größer sei als diejenige, die sie verkleinere; ob die Maschine, die sie heranhole, kürzer sei als diejenige, die sie entferne.« (Ebd.) Vgl. dazu Kap. I.
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chen. Es sind keine Übersetzungsangebote, sondern im Kontext dieser optischen Verfahren durchaus übliche Bezeichnungen. Dennoch, und dies ist entscheidend, implizieren sie, anders als die analogen Begriffe des Blinden, bereits eine spezifische visuell-haptische Interaktion. In der sprachlichen Ordnung der Sehenden verweisen die Kategorien des Tast- und des Sehsinns auf die in deren Wahrnehmung gegebenen Verschränkungen und Substitutionen beider Sinne. Der Blinde kann diese metaphorische Form ihrer wechselseitigen Verweisung, wie sie die >Verrückung< oder das >Heranholen< durch die Linse implizieren, hingegen nicht nachvollziehen. 48 Das bedeutet, daß es ihm folglich auch auf der Ebene sprachlicher Repräsentation an einem Verständnis für diese vergleichende Stellvertretung, d. h. für die figurative Ubertragungsleistungen mangelt, welche zwischen den semantischen Feldern des Sehens und Tastens stattfinden können. Wahren sowohl die Analogie als auch die Metapher einen Abstand zwischen ihren beiden Bezugswerten, und sind sie nur unter der Voraussetzung verwendbar, daß dieser Abstand kenntlich ist, so entfallt beim Blinden ein Bewußtsein für exakt diese Differenz zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Wortgebrauch. Das Spiegelbild gilt ihm daher nicht als etwas, das wie ein Relief zu beschreiben sei, für ihn ist es ein Relief. Ebenso >holen< die Mikroskope das, was sie sichtbar machen, tatsächlich >heranDas sind also zwei Sinne, die eine kleine Maschine in Widerspruch bringt. Eine vollkommenere M a schine würde sie vielleicht besser in Ubereinstimmung bringen, ohne daß die G e genstände dadurch realer würden. Eine dritte Maschine, noch vollkommener und weniger trügerisch, würde sie vielleicht verschwinden lassen und uns auf unseren Irrtum aufmerksam machen.Maschine< zurückführt. Dabei liegt, recht betrachtet, ein Mangel nicht allein darin, daß sich das Spiegelbild dem haptischen Zugriff entzieht und so das >Ich< in zwei inkongruente Wahrnehmungssysteme - das sichtbare und das tastbare - spaltet. Der Mangel wird daher 48
Dieser Punkt klingt auch bei Utz an (Peter Utz, » E s werde Licht!« Die Blindheit als Schatten der Aufklärung bei Diderot und Hölderlin, in: Hans-Jürgen Schings [Hg.], D e r ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, D F G Symposion 1992, Stuttgart/Weimar 1994, S. 3 7 1 - 4 0 9 , hier S. 376).
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Diderot, Brief über die Blinden, S. 54.
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nicht allein durch die Unfähigkeit des Blinden, die rhetorische Leistung dieses Vergleichs zu verstehen, verursacht. Vielmehr fuhrt er einen fur die Argumentation weiteren zentralen Zusammenhang ein. Denn er verweist auf die Unfähigkeit des Gesichts, sich selbst zu sehen, auf seinen blinden Fleck also und damit auf den primären, weil für den Gebrauch von Spiegeln überhaupt erst ausschlaggebenden Mangel. Unterderhand wird das Auge selbst als unvollkommene Maschine< enttarnt. Spiegel werden notwendig, weil das Sehen einen blinden Fleck hat. Mit seiner Hilfe wird der Anblick des eigenen Angesichts zwar ermöglicht, nach der Auffassung des Blinden bedingt er jedoch eine Entzweiung, weshalb er als eine >unvollkommene Maschine< disqualifiziert wird. Wenn der Gesichtssinn »sich nur auf die von unserem Gesicht verschiedenen und von uns entfernten Gegenstände ers t r e c k t « , d a n n liegt darin ein gravierender Unterschied zum Tastsinn. Dieser ist nämlich auch auf sich selbst anwendbar. Das Gesicht kann vom eigenen Gesichtssinn nicht erfaßt werden, während der ganze Körper sowohl tastbar ist als auch tasten bzw. spüren und empfinden kann. Die zirkuläre Struktur der Selbstberührung und -betastung steht somit einer visuellen Selbstdistanzierung und -entzweiung gegenüber, die sich im Spiegelbild verdichtet. An der zwischen dem Blinden und den Sehenden verlaufenden Übersetzungsschleife dessen, was unter einem Spiegelbild zu verstehen sei, tritt nicht nur zum Vorschein, welche Diskrepanzen zwischen sprachlichen Formulierungen bestehen, wenn sie auf unterschiedliche Wahrnehmungssysteme bezogen werden. An ihr wird zudem auch die Spaltung des sich selbst sehenden Sehens deutlich. Es scheint, als folge der Ich-Erzähler den Argumentationsspuren des Blinden, wenn er resümiert: Ich folgere daraus, daß wir aus dem Zusammenwirken unserer Sinne und Organe 2weifellos großen Nutzen ziehen. A b e r er wäre noch viel größer, wenn wir sie getrennt gebrauchten und in den Fällen, in denen uns die Hilfe eines einzigen genügte, niemals einen zweiten zu Hilfe riefen.' 1
Das Konzept einer Differenzierung und Abgrenzung der Sinne legitimiert sich aus der Perspektive des Blinden, da es ihm nicht möglich ist, haptische mit visuellen Eindrücken zu verknüpfen, wie es ihm dementsprechend auch nicht möglich ist, das Verglichene von seinem Vergleich und den metaphorischen Bildspender vom Bildempfänger zu unterscheiden. Gegen diese Wahrnehmungs- und Sprachordnung der Sehenden tritt er jedoch den Beweis eines >großen Nutzens< erfolgreicher Sinnesabgrenzung an. Denn an ihm läßt sich im weiteren Verlauf des Textes beobachten, welche Wahrnehmungsfeinheit der Tastsinn entwickeln kann, wenn er nicht vom Ges
° E b d . , S. 53.
" E b d . , S. 58.
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sichtssinn abgelenkt, unterstützt oder entlastet wird; wenn sein »Zusammenwirken mit anderen Sinnen und Organen< also unterbrochen wird. Der Blinde gleitet nicht allein mit seiner Hand entlang jener Körper und Oberflächen, die er auch mit dem Auge streifen würde. Er tastet seine Umgebung nicht nur ab, sondern fühlt überdies auch feinste Luftveränderungen und verschafft sich auf diese Weise eine Orientierung, welche die Sehenden in der Regel weder mittels der Augen noch ihres Gefuhlssinns erwerben können. So dissoziiert er den Tastsinn von der Analogie mit dem Sehsinn. Die Eigenart und Empfindlichkeit seiner Wahrnehmungseindrücke sind dem visuell geprägten Perzeptionssystem kaum zugänglich. Der Blinde aus Puisaux schätzt die Nähe des Feuers nach den Hitzegraden, das Maß, bis zu dem Gefäße gefüllt sind, nach dem Geräusch, das die Flüssigkeiten beim Eingießen verursachen, und die Nähe der Körper nach der Wirkung der L u f t auf sein Gesicht. Für die geringsten Veränderungen, die in der Atmosphäre eintreten, ist er so empfindlich, daß er eine Straße von einer Sackgasse unterscheiden kann.' 2
Das Gesicht, also jener Teil des menschlichen Körpers, der sich nicht unmittelbar mit eigenen Augen anschauen läßt, gilt dem Blinden als hochempfindlicher Sensor zur Erkundung subtilster Unterschiede. Nicht die Formen, welche sich mit Hilfe der Hand und des Auges gleichermaßen wahrnehmen lassen, sondern äußerst feine Reize ohne sichtbares Äquivalent werden vom Blinden registriert. Sein wichtigstes Wahrnehmungsorgan ist hier aber die im Gesicht freiliegende Haut. Ihr ist es möglich, die >Wirkung der Luft< zu erspüren - »II est si sensible aux moindres vicissitudes qui arrivent dans Γ atmosphere, qu'il peut distinguer une rue d'un cul-de-sac« !i und daraus Schlüsse über die Verteilung der Körper im Raum zu ziehen: ein Verweisungsverhältnis, welches dem Sehenden genauso unzugänglich ist, wie dem Blinden die wechselseitigen Bezüge zwischen haptischen und visuellen Kategorien. 54 Das Plädoyer für die Abgrenzung der Sinne erweist sich auch als ein Plädoyer für die Sensibilität." Je weniger Sinne an einer Wahrnehmung beteiligt sind, desto intensiver und subtiler ist diese. In dem Maße aber, in ,2
Ebd., S. 56f. " Diderot, Lettre sur les aveugles, S. 90. H Deshalb widerspricht er der in Zedlers Universal-Lexicon gegebenen Bestimmung des Gefühls: »Daß die Lufft, welche voller unterschiedener Effluvia stecket, und unsere Leiber umgiebet und berühret, auf die Haut keine Empfindung verursache, wird ein jeder an sich selbst täglich erfahren.« (Art. »Gefühl«, in: Zedier, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon, Sp. 2225) " Siehe zur semantischen Vielschichtigkeit dieses Begriffs in Diderots Werk Frank Baasner, Der Begriff >sensibilite< im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988, bes. S. 257-273. 155
dem die Sensibilität als besondere Fähigkeit des Blinden hervorgehoben wird, profiliert sich die Problematik des visuellen Wahrnehmungsprinzips um so deutlicher. Die Sehenden verschränken nämlich die visuellen Eindrücke mit anderen Sinnen, vor allem mit dem Tastsinn. In einer solchen >Wechselseitigkeit< stützen und bereichern die Wahrnehmungen sich jedoch nicht gegenseitig, sondern schwächen sich vielmehr ab. Der Tastsinn, dessen Wirkungsweise in diesem sensorischen Verbund weitgehend auf eine Supplementärfunktion des Sehsinns degradiert wird, entwickelt sich zurück. Dieser hingegen, dem es obliegt, den Tastsinn zu führen, ist durch das Defizit des blinden Flecks gezeichnet. Das Auge kann sein eigenes Angesicht visuell nicht erfassen. Zur Korrektur dieser Unzulänglichkeit behilft es sich deshalb mit Spiegeln, die nach der Beurteilung des Blinden allerdings nur unvollkommene >Maschinen< sind, weil sie den Mangel nicht beheben, sondern nur in anderer Weise reproduzieren. Zur >Vervollkommnung< seines eigenen Empfindungsvermögens schlägt der Blinde demgegenüber eine Freilegung, eine Enthüllung seines gesamten Gefuhlsorgans vor. Ohne die Unbilden des Wetters, gegen die ihn die Kleidung schützt, würde er den Gebrauch der Kleider kaum verstehen, denn er sieht - wie er offen gesteht - nicht ein, warum man einen Körperteil mehr bedeckt als den anderen, und noch weniger, aus welcher Verrücktheit man dabei gerade den Teilen Vorzug gibt, die wegen des häufigen Gebrauchs und wegen der Unpäßlichkeiten, denen sie unterworfen sind, eigentlich unbedeckt bleiben sollten.' 6
Insofern sie einen Ausgleich zu den wechselnden Witterungsverhältnissen herstellt und Schutz bietet, ist auch Kleidung als eine Medientechnik aufzufassen.57 Sie deckt die Haut ab und reguliert ihr natürliches Kälte- und Wärmeempfinden, indem sie die Schwankungen zwischen der Körper- und der Außentemperatur auffängt. In dieser Hinsicht funktioniert sie vergleich'>'· Diderot, Brief über die Blinden, S. 5 8f. In diesem Sinne schreibt auch McLuhan: »Die Kleidung als Ausweitung der Haut kann sowohl als Wärmekontrollmechanismus wie auch als Möglichkeit, das Ich gesellschaftlich einzustufen, betrachtet werden. In dieser Hinsicht sind Kleidung und Wohnung fast wie Zwillinge, wobei uns allerdings die Kleidung, die ältere Form, näher ist; denn die Wohnung weitet den inneren Wärmekontrollmechanismus unseres Organismus aus, während die Kleidung eine noch direktere Ausweitung der Außenfläche unseres Körpers darstellt.« (Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel 1994, S. i86f.) In dieser Beschreibung manifestiert sich deutlich das medientheoretische Konzept der >ExtensionExtension< beschreibt, dann zeigt er daran jedoch auf, welche Beengung sie letztlich bedeutet. Diese Extension steigert die Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht, sondern stört und unterbindet sie.
57
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bar denjenigen optischen Medientechniken und >Maschinenerstaunlich< darstellt, daß die semiotische Repräsentation der Sprache überhaupt funktioniert, bezieht sie sich doch vielfach auf Referenten, die keine sinnliche Verankerung haben >und sozusagen körperlos sindkaum< nicht doch das Zugeständnis zumindest der Möglichkeit einer physiognomischen Wahrnehmung der Blinden aus? Oder umgekehrt gefragt: Sollte der Blinde dazu in der Lage sein, individuelle Gesichtszüge zu erkennen, ohne sie auch physiognomisch zu attribuieren? Läßt sich ein Porträt ausschließlich über äußere Merkmale der Form auf die porträtierte Person zurückfuhren, oder muß es nicht auch den spezifisch-eigentümlichen Ausdruck ihres Gesichts wiederzugeben versuchen? Der Lettre nennt an keiner Stelle eine Begründung für eine Exklusion des Tastsinns aus der Physiognomik. Indem er aber auch umgekehrt kein Beispiel für haptische Physiognomik anführt, diese lediglich als vage Möglichkeit zu denken anstößt, gibt er keine Antworten, sondern provoziert nur weitere Fragen: Lassen sich im Erfühlen und Ertasten von Körpern Anzeichen wahrnehmen, welche über charakterliche oder seelische Eigenschaften Auskunft geben? Oder vermag der Tastsinn die Differenz zwischen Anzeichen und Ausdruck ebensowenig nachzuvollziehen wie der Blinde diejenige zwischen >eigentlicher< und >figurativer< Bedeutung eines dem Bereich des Visuellen bzw. Haptischen entnommenen Wortes? Handelt es sich beim Tasten und Fühlen um reine Oberflächensinne? Mit der Bejahung dieser Frage jedoch wäre der Blinde aufgrund seiner perzeptiven Ausrichtung auf die Tastempfindung aus der zweiwertigen Ordnung eines Denkens ausgegliedert, welches zwischen Hülle und Inhalt, Außen und Innen, dem physischen und psychischen Geschehen unterscheidet. 61 64
Ebd., S. 77. Davide Stimilli bezieht sich auf diese Stelle aus Diderots Lettre, um an ihr gerade einen Wandel in der Physiognomik des 17. und 18. Jahrhunderts zu markieren. So liest er das Beispiel Saundersons im Sinne eines Beitrags zur Physiognomik: »Diese Tendenz zu einer eher physiologisch orientierten Physiognomik wird sich während des 17. und 18. Jahrhunderts fortsetzen [...]. Die Haut, eine weitere Kategorie, die man in der antiken Physiognomik beinahe völlig übergangen hatte, wird nun mehr und mehr als die Leinwand betrachtet, auf die die Leidenschaften der Seele ihre Farben auftragen. Und das ist nicht nur bei den Blinden so, wie uns Diderots Einfall glauben machen möchte (>es gibt [...] auch eine Malerei der Blinden: sie bedient sich deren Haut als Leinwandsich nur dem Auge< zeigt: Eine Symmetrie, deren Beschaffenheit nur dem Gesichtssinn wahrnehmbar ist. Ihre poetische Adaption muß nach Maßgabe der >poetischen Gemälde< den visuellen Charakter auch in der sprachlichen Umsetzung zu erhalten suchen. Zunächst aber interessiert allein das beschriebene Phänomen. Konkret nennt Bodmer zwei Aspekte, nämlich die Gleichförmigkeit der Elemente sowie ihre Zentralsteuerung, die fur die >Musterung eines Heeres< als (Re)Präsentation der Symmetrie den Ausschlag geben. Die wichtigsten und merckwürdigsten Umstände bey einer Musterung sind unstreitig die zween folgenden: Einer daß eine so grosse Anzahl Menschen in ihrer Stellung, Wendung und gantzem Betragen, sich so gleichförmig verhalten, daß sie wie ein eintziger Mann anzusehen sind; ein anderer, daß ein blosses Wort oder Thon sie regieret.7"
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Diderot, Lettre sur les aveugles, S. 85. Johann Jacob Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter [1741], Reprint, Frankfurt am Main 1971, S. 153. 69 Ebd., S. 187. 70 Ebd., S. 189. 68
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Wird hier ein Beispiel für eine statische Symmetrie gegeben, die durch Gleichschaltung der > Stellung, Wendung und des ganzen Betragens< hervorgerufen wird, indem >eine so große Anzahl Menschen< den Anschein erweckt, als handle es sich um >einen einzigen MannDas ist schönumfassenden Idee< wird hier die Deutlichkeit ins Feld geführt. Eine Vertiefung dieser Gegenüberstellung bleibt im weiteren Verlauf des Textes jedoch aus, so daß der Eindruck eines vagen Zusammenhangs entsteht, wonach Deutlichkeit eine Begleiterscheinung des Nutzens ist und beide einander wechselweise bedingen. Anders gewendet: Ist Deutlichkeit stets von Nutzen? - Unvermittelt leitet der Text anschließend die zuvor bereits analysierte Diskussion über Spiegel und andere optische Instrumente ein: »Unser Blinder spricht alle Augenblicke vom Spiegel«, 80 so der Folgesatz des obigen Zitats. Aber hat nicht gerade die Lektüre der vorherigen Unterhaltung über die Spiegel gezeigt, daß die Deutlichkeit seiner Ideen die Bezugsgegenstände, sofern es sich dabei um optische Effekte handelt, verfehlt, weil er ihnen eine Greif- und Tastbarkeit verleiht, welche sie nicht haben? Worin also gründet die Deutlichkeit seiner Ideen? Diderot setzt den Blinden, wodurch er zumindest in dieser Hinsicht an Molyneux anknüpft, in eine enge Beziehung zur Mathematik. Blindheit und mathematisches Wissen gehen hier ein Korrespondenzverhältnis ein. Das liegt daran, daß die haptische Wahrnehmung mit einem geometrischen, weil auf Symmetrien aufbauendem Gedächtnis, vergleichbar ist und wie dieses An diesen Punkt wird Herder in der Plastik anknüpfen. Siehe Kap. VIII. Diderot, Brief über die Blinden, S. 53. 80 Ebd. 78 79
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auch eine unmittelbare Beziehung zu Körpern wahrt. Dem Referenzverlust auf dem Feld optischer und visueller Begriffe entgegnet der Blinde daher mit einem mathematisch disponierten, dauerhaften Bezug zu Körpern bzw. zu seinem eigenen Körper. Wie bildet sich ein Blindgeborener Ideen von Figuren? Ich glaube, daß die Bewegungen des Körpers, das Vorrücken seiner Hand von Ort zu Ort, die ununterbrochene Empfindung eines Körpers, der durch seine Finger gleitet, ihm den Begriff der Richtung verschaffen. Wenn er seine Finger an einem straffgespannten Faden entlanggleiten läßt, gewinnt er die Idee von einer geraden Linie. Folgt er der Krümmung eines losen Fadens, so gewinnt er die Idee von einer krummen Linie. Allgemeiner gesagt: er besitzt infolge wiederholter Erfahrungen das Gedächtnis für Empfindungen, die er an verschiedenen Punkten gehabt hat. Er ist fähig, diese Empfindungen zu kombinieren oder diese Punkte zu verbinden und dadurch Figuren zu bilden.8'
Die Figuren, die sich in der Vorstellung des Blinden formen, lassen sich auf die geometrischen Grundelemente Punkt, Linie, Krümmung zurückfuhren. Sie werden jedoch nicht aus der Anschauung gewonnen, sondern durch >das Vorrücken seiner Hand< und das >Gleiten seiner Fingen hervorgerufen. Da sie aus unmittelbarem Kontakt entstehen, d. h. eine direkte Berührung zwischen dem Wahrnehmungsinstrument, der Hand bzw. dem Finger, und dem Wahrnehmungsgegenstand voraussetzen, sind sie >deutlicher< als die Eindrücke des Gesichtssinns. Der Blinde holt somit nicht nur das Wissen sehender Mathematiker auf, er bereichert es überdies auch mit einer neuen Qualität. Diese besteht nicht zuletzt in der prozessualen Dimension seines Vorgehens. Dabei erstreckt sich die >Deutlichkeit< seiner Wahrnehmungsbegriffe, wie in der anschließenden Schilderung dargelegt, auf den Wissensbereich der Statik und auf Erkenntnisse, für welche die Sehenden bestimmte technische Werkzeuge brauchen. Der Blinde macht nämlich aus seinen Fingern einen Zirkel und aus seinen Armen eine Waage. Auf diese Weise wird seine Fähigkeit, Symmetrien zu erkennen, von derjenigen der Gleichgewichtsherstellung und -erhaltung ergänzt. Zwei weitere Fähigkeiten, mit welchen die >Deutlichkeit< seiner Ideen belegt wird. Mit einem Zirkel zieht er Kreise und mit einer Waage tariert er den Mittel- bzw. Schwerpunkt aus. Diese Insignien könnten eine allegorische Lesart nahelegen, die den Blinden gewissermaßen zum Schutzpatron der Statik und Architektur, aber auch der Gerechtigkeit stilisierte, würde der Text eine solche Allegorie nicht gerade dadurch unterbinden, daß er auf die UnUnterscheidbarkeit der Instrumente und des Körpers setzt. Die Werkzeuge werden dem Blinden nämlich nicht in die Hand gelegt oder neben ihn piaziert, als willkürliche Beigaben sozusagen, sondern mit seinem Körper verbunden. Seine Finger scheinen mit dem Zirkel und die Arme mit der Waage gleichsam verwachsen zu sein. Keine Zweideutigkeit, sondern Verschmelzung. Denn der Blinde 81
Ebd., S. 60.
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hat sich aus seinen Armen eine so genaue Waage und aus seinen Fingern einen so bewährten Zirkel gemacht, daß ich in den Fällen, in denen es um Fragen des Gleichgewichts geht, immer auf unseren Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werde.82
Seine Finger und seine A r m e bedürfen keines technischen Zubehörs, sie selbst sind die Meßinstrumente, woraus der Schluß zu ziehen ist, daß die Geometrie dem Blinden förmlich einverleibt ist. 8 ' Dessen sensorische Fertigkeit wird vom Ich-Erzähler implizit durch R ü c k g r i f f auf das medientechnische >extensionextensive< Medientechniken. Seine Geschicklichkeit am Maßstab technischer Instrumente zu orientieren, bedeutet nicht nur, die Exaktheit der Waage und des Zirkels als normativen Richtwert anzuerkennen, sondern ihn letztlich sogar noch zu überbieten. Der Ich-Erzähler betont nämlich, daß er in >Fragen des Gleichgewichts immer auf den Blinden gegen zwanzig Sehende setzen werdewie< indizierten Abstand zwischen Spiegel und Relief zu begreifen. Der Spiegel wurde nach seinem sprachlichen Verständnis zu einem Relief. A u f diese Weise hat der Blinde die binäre Lücke der Repräsentation unzulässigerweise getilgt. 82
83
Ebd., S. 57. (»...et il s'est fait de ces bras des balances si justes, et de ses doigts des compas si experimentes, que dans les occasions oü cette espece de statique a lieu, je gagerai toujours pour notre aveugle, contre vingt personnes qui voient.« [Diderot, Lettre sur les aveugles, S. 90]) Siehe zum Komplex der Mensch-Maschine-Verschaltung bei Diderot, wenngleich auf die Elemente der Physiologie Bezug nehmend, Bernhard J . Dotzler, Papiermaschinen. Versuch über COMMUNICATION & CONTROL in Literatur und Technik, Berlin 1996, S. 202ff. 167
Überdies werden auch die Waage und der Zirkel vom Ich-Erzähler schließlich jedes Abstandes zum Körper des Blinden enthoben, wenn es heißt, dieser habe >sich aus seinen Armen eine Waage und aus seinen Fingern einen Zirkel gemacht.* Die Formulierung verweist weder auf eine funktionale Ähnlichkeit zwischen noch auf eine qua Vergleich hergestellte Repräsentation der Finger durch einen Zirkel bzw. der Arme durch eine Waage, sie bringt vielmehr ihre Einheit zur Sprache. Ausdrücklich hat der Blinde aus seinen Körpergliedern diese Werkzeuge >gemachtEssai sur l'origine des connaissances humaines< konzipierten Erkenntnistheorie seines Freundes Condillac bloß, denn dieser hatte noch nicht hinreichend geklärt, wie denn der Mensch den Zustand, niemals aus sich selbst herauszutreten, überwinden könne. Der >Traite des Sensations* (1754) gab eine der möglichen Antworten - die Auslagerung des kognitiven Apparats und seine Rekonstruktion als Gedankenexperiment in Form der Statue·. Die Kritik dieser Ant168
sen immer wieder überprüfen, um sich in die Denkstrukturen des Blinden vorzuarbeiten. Eine Zielsetzung, welcher das Wissen um eine grundlegende Differenz zwischen den Vorgängen in den Köpfen der Sehenden und denjenigen der Blinden kontrastiert wird: »In seinem [des Blinden, N.B.] K o p f geht nichts vor, das dem gleicht, was in unserem K o p f vorgeht.« 86 Der K o p f des Blinden ist dem Sehenden vollkommen intransparent und muß es trotz der angestrengten Versuche auch bleiben, da kein Vermittlungsmedium zur gegenseitigen Introspektion vorhanden ist. Daß zwischen zwei Personen, deren perzeptive und intellektuelle Konstitution derart divergiert, dennoch ein Gespräch und eine Annäherung zustande kommen, daß beide einen kommunikativen Raum teilen können, in welchem es ihnen gelingt, voneinander zu lernen und etwas über einander zu erfahren, darin liegt die eigentliche Unwahrscheinlichkeit und damit auch das zentrale Problem, dem sich dieser Text stellt.87 Niemals stellt er [der Blinde, N.B.] sich unmittelbar etwas vor; denn wer sich etwas vorstellen will, muß einen Hintergrund färben und von diesem Hintergrund Punkte abheben, indem er ihnen eine andere Farbe gibt als dem Hintergrund. 88
Hat der Ich-Erzähler dem Blinden nun doch in den K o p f geschaut oder lediglich aus der kommunikativen Interaktion heraus geschlossen, daß dieser sich niemals etwas >unmittelbar< vorstellen könne? Die Begründung seiner Aussage - >denn wer sich etwas vorstellen will, muß einen Hintergrund färben und von diesem Hintergrund Punkte abhebenLettre sur les aveugles« vorsorglich gleich mit, als er sich entschied, es nicht bei einer impliziten Kritik zu belassen und statt des isolierenden Experiments den Dialog als Methode wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns zu versuchen.« (Joachim Gessinger, Auge & Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen. 1700-1850, Berlin/New York 1994, S. 57) 86 Diderot, Brief über die Blinden, S. 61. 87 Johannes Friedrich Lehmann resümiert daher den im J^ettre entfalteten Kommunikationsvorgang zwischen den Blinden und Sehenden prägnant wie folgt: »Kommunikation wird somit als ein zweiseitig einseitiger Prozeß gefaßt, in welchem der eine etwas Eigenes sagt und der andere etwas Eigenes versteht. Ein Prozeß, in dem >zwei Sprachen< aufeinander treffen. Metaphern und Inversionen ergeben sich nicht aus der Differenz von Ordnungen (grammatischen, logischen, rhetorischen), sondern aus der Differenz von Subjekten und deren Körper- bzw. Sinnengebundenheit.« (Johannes Friedrich Lehmann, Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg im Breisgau 2000, S. 76) Damit beschreibt er eine Konstellation, wie sie systemtheoretisch als »doppelte Kontingenz« bezeichnet wird. Siehe dazu Luhmann, Soziale Systeme, S. i48ff. 88
Diderot, Brief über die Blinden, S. 61. 169
wenigstens in meiner Einbildungskraft« 8 ' - stellt sich der Ich-Erzähler die Blindheit als Entzug der Farben und mit ihnen auch der Vorder-/Hintergrund-Differenz vor. Daraus leitet er Rückschlüsse über das Vorstellungsvermögen des Blinden ab. Die morphologische Unterscheidung zwischen Figur und Hintergrund wird von ihm malerisch grundiert, nämlich als Unterscheidung der Farben. Als solche konstituiert sie eine plastisch-malerische Einheit, indem sie die Farbunterschiede nicht nur in der Fläche, sondern auch im Raum verteilt. Dieses Modell kennzeichnet die Einbildungskraft der Sehenden. Danach sind farbige Umrisse, Flächen und Linien, die den Vordergrund vom Hintergrund unterscheiden, Ergebnisse visueller Wahrnehmung. Obgleich sie sich auf Wahrnehmungen des distanzschaffenden Auges beziehen, können bildhafte Vorstellungen auf diese Weise auch eine Wirkung der Unmittelbarkeit erzeugen. Die imaginäre Ordnung der Blinden beruht hingegen auf temporalen Momenten, so die Schlußfolgerung des Ich-Erzählers. Haben Descartes, Locke und sogar Berkeley ungeachtet der Unterschiede ihrer Ansätze bestimmte Eigenschaften der Raumwahrnehmung entweder als gemeinsamen Schnittpunkt zwischen Sehen und Tasten ausgemacht oder aber als Privileg des Tastens betont, so faßt Diderot die Differenz beider Wahrnehmungssinne nach anderen Kriterien. Als Primat des Gesichtssinns gilt ihm die Farbe im Raum, als Primat haptischer Wahrnehmung hingegen die Sukzession der Zeit. Da der Blindgeborene sich Farben und folglich Figuren keineswegs so vorstellen kann wie wir, hat er nur Gedächtnis für die durch den Gefühls- oder Tastsinn gewonnenen Empfindungen, die er auf verschiedene Punkte, Orte oder Entfernungen bezieht und aus denen er Figuren bildet. [...] Schreiben wir ihnen keine Farbe zu, so haben wir wie der Blindgeborene nur das Gedächtnis für kurze, in den Fingerspitzen hervorgerufene Empfindungen, wie sie kleine runde Körper verursachen können.9"
Das Gedächtnis des Blinden gründet auf der Verknüpfung tast- und fühlbarer Punkte. Es funktioniert auf der Basis >kurzer, in den Fingerspitzen hervorgerufener Empfindungen^ Die Unmittelbarkeit einer malerischen Erscheinung, wie sie für die Sehenden Geltung hat, wird hier einem Gedächtnis gegenübergestellt, das als zeitlich gedehnte Abfolge einzelner Punkte bestimmt ist. Das Vorstellungsbild der Sehenden ist in der Weise synthetisch, daß es die Farben und die räumliche Einteilung in Vorder- und Hintergrund in einem einzigen Augenblick verbindet. »Geben sie diesen Punkten wieder dieselbe Farbe wie dem Hintergrund, so verschmelzen sie sofort mit ihm, und die Figur verschwindet.« 9 ' Da der Blinde jedoch über Ebd. Ebd. 9 ' Ebd. 89
90
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kein farbanaloges Unterscheidungsschema verfugt, so die These, da er nicht einmal mit Hilfe des hell/dunkel- bzw. schwarz/weiß-Kontrasts operieren kann, vermag er einen Punkt von dessen Hintergrund nicht abzuheben und deshalb auch nicht räumlich zu verorten. Sein Distinktionsvermögen liegt vielmehr in der Zeit. Will er Figuren wahrnehmen und identifizieren, muß er sie aus dem spezifischen Nacheinander einzelner Wahrnehmungsmomente zusammenstellen. Diese sukzessiv gedehnte Aufteilung hindert den Blinden daran, sich eine Figur >unmittelbar vorzustellen^ Denn Unmittelbarkeit, darin besteht der implizite Umkehrschluß, bedeutet räumliche Unterscheidung eines einzigen Wahrnehmungspunktes innerhalb eines einzigen Augenblicks. Was aber bedeutet dies für den zuvor besprochenen Körperbezug? Löst sich dieser letztlich auch in zeitliche Elemente auf? Und was bedeutet dies für das Symmetrieverständnis des Blinden? Welche Symmetrien erlaubt die Zeit? Und schließlich: Worin kann der perzeptive Unterschied zwischen einem in einzelne zeitliche Tastpunkte zerlegten Relief und einem ebenso zerlegten Spiegelbild bestehen? Mit dieser Systematisierung der Wahrnehmungsmodi und ihrer kognitiven Verarbeitung als Kondensation auf einen Augenblick unter der Vorgabe der Vorder-/Hintergrund-Distinktion einerseits und als Nacheinander einzelner haptischer Wahrnehmungspunkte andererseits schafft Diderot eine Grundlage, welche hier zwar der Abgrenzung zwischen den Vorstellungsarten der Sehenden und Blinden dient. Sie verweist zugleich aber auch auf zentrale Unterscheidungskategorien der Kunst bzw. der Künste. Dabei ist bemerkenswert, daß Diderot mit der Verzeitlichung des Tastsinns in der sukzessiven Anordnung einzelner Tasteindrücke eine strukturelle Angleichung mit dem operativen Modus der Sprache nahelegt, freilich ohne diesen Zusammenhang hier selbst auszufuhren. Was er als eine Sinnesanthropologie entwickelt, läßt sich in den ästhetischen und poetologischen Diskursen der Zeit umgekehrt als ihre anthropologische Fundierung rekonstruieren. Die Modelle der blinden und sehenden Wahrnehmung liegen dabei je nach Auffassung unterschiedlichen Konzepten oder Kunstgattungen zugrunde und schreiben so die taxonomische Ordnung perzeptiver Formen und Eigenschaften ästhetisch fort. Eine Fortschreibung, die mit der um 1740 etwa sich vollziehenden Ausrichtung auf die sinnliche Wirkmächtigkeit der (Dicht-)Kunst eng verknüpft ist. 9 '
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Siehe dazu vor allem Kap. V.
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IV. Funktionsräume des Gefühls
i. Die Ordnung der Sinne: Brockes »Die fünf Sinne« Brockes' Gedicht »Die fünf Sinne« buchstabiert diese im Hinblick auf ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche, Funktionen und Kompetenzen regelrecht aus. Dabei werden das >Gesicht< und das >Gefühl< deutlich herausgehoben, insofern beide die Thematisierung der übrigen Sinne - und auf diese Weise auch das gesamte einhundertfünfundfünfzig Strophen umfassende Gedicht gleichsam einklammern. Aufgrund der markanten Stellung am Anfang und am Ende des Textes wird einerseits auf die konstitutive Bedeutung des Gesichts und Gefühls für die hier entfaltete sensorische Ordnung verwiesen, andererseits auch die zwischen ihnen bestehende Beziehung angedeutet. Auf beide Aspekte wird ausführlich einzugehen sein. In der ersten, dem Gesichtssinn gewidmeten Strophe werden die Augen über eine ihre kreisrunde Form betreffende Analogie mit der Welt physikotheologisch als Bestandteil und Zeugnis göttlicher Schöpfung vorgestellt. Daß Gott dieses Rund der Erden, W i e uns Schrift und Bibel lehr't, Durch ein Wörtchen lassen werden, Ist ja wohl erstaunens=werth: D o c h nicht minder ist zu preisen, Daß in zwey so kleinen Kreisen Alles, was der grosse heg't, Sich in uns're Sele präg't.'
Die Augen treten hier als Empfänger und Wahrnehmungsorgane dessen auf, was nach biblischer Schilderung durch Gottes Wort - >Wörtchen< - entstand: »dieses Rund der Erden«. Uber das Motiv des >Rundenzwei so kleinen KreiseWesen< der Erkenntnis zugänglich zu machen, sondern darin, spezifische Wahrnehmungseffekte und Empfindungen hervorzubringen. Das Gedicht »Die fünf Sinne« besteht aus sechs Teilen. Die ersten fünf sind den fünf menschlichen Sinnesorganen gewidmet, denen der letzte Teil unter dem Zwischentitel »Beschluß« als Vergleich und Resümee folgt. Der Gesichtsinn eröffnet die Beschreibung, dabei nimmt diese quantitativ den größten Raum ein. Sie umfaßt ganze fünfundvierzig Strophen und ist demnach wesentlich länger als die der übrigen Wahrnehmungssinne. Inhaltlich wird sie in beträchtlichem Maße von wissenschaftlichen Referaten, Paraphrasen und Fragen getragen.7 So werden neben einer anatomischen Darstellung auch unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche optische Erklärungsmodelle rekapituliert. A b e r , wie das A u g e sieht, O b das Sehn in seinen Kreisen, ' Ebd. 6 7
E b d . , S. 3 3 1 . Darin ist eine allgemeine Charakteristik der Physikotheologie gegeben, wie Sara Stebbins betont: »Angestrebt wird also nicht, neue Theorien zu entwickeln oder Beweise im strengen, mathematischen Sinne anzuführen, sondern vielmehr die Verbreitung der Wissenschaften zu fördern und zu ihrem besseren Verständnis beizutragen. Inhaltlich spiegelt sich diese Absicht in der Tatsache, daß die Physikotheologen keine streng wissenschaftlich erarbeitete Systematik in ihren Werken darzulegen versuchen.« (Sara Stebbins, Maxima in minimis. Z u m Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1980, S. 126) Die fehlende Systematik zeigt sich in Brockes' Gedicht nicht zuletzt an argumentativen Widersprüchen.
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Oder ausserhalb, geschieht; Davon, wie von vielen Sachen, Ist kein fester Schluß zu machen.8
Als grundsätzlich unerklärbar - ohne >festen Schluß< - gilt die Funktionsweise des Auges. Sowohl dem Versuch einer katoptrischen als auch einer dioptrischen Lösung gegenüber ist daher, wie in der folgenden Strophe deutlich, Skepsis angebracht: Unser Auge treibt zusammen Alle Geister, die es braucht; Seine Stralen sind wie Flammen, Die der Geist stets von sich haucht, Die, in Form der Flammen=Seulen Stetig aus den Augen eilen, Wodurch es uns ins Gemüt Allerley Gestalten zieht.9
Das alte Modell der >Strahlenaus den Augen eilenGestaltenfuhlen< beschrieben und so dem Taststock bzw. der ihm eingeschriebenen Analogie zum Sehstrahl aufs engste angenähert: »Daß sich's [das Sichtbare, N.B.] aber in uns präget,/ Komm't, weils sich durchs Auge spielt,/ Da der Sinn die Bilder führt.« 14 Der Sehsinn >fühltBilder fünfter Sinn< fuhrt dabei über die haptische Funktion hinaus. Erkundet wird nämlich nicht das zielgerichtete Berühren oder Anfassen der Hand, sondern das >Gefühl< als weit gefacherte und übergreifend wirksame sensorische Leistung. Auch die Abfolge des Textes läßt erkennen, daß hier kein an der Hierarchie der Sinne angelehntes Ordnungsprinzip vorherrscht. Wenn unmittelbar an die Thematisierung des Gesichts der Geruch anschließt und an das Gehör der Geschmack, dann wird weder eine von oben nach unten noch umgekehrt gerichtete Rangfolge etabliert, sondern vielmehr die Vorgabe der menschlichen Physiognomie nachgezeichnet. Von den Augen, die sich in der oberen Gesichtspartie befinden, ausgehend, fuhrt das Gedicht über die Nase und über die Ohren zum Mund. So orientiert sich das Nacheinander, nach welchem die Sinne hier besprochen werden, an der physiologischen Topologie ihrer Wahrnehmungsorgane. Das Gefühl aber bezieht sich auf den gesamten Körper; es umfaßt im Grunde die Gesamtheit des äußeren sensorischen Wirkungsraums und verweist überdies auch auf den inneren. Während die Augen in der ersten Strophe als >kleine KreiseSehnen< bündelt, streut und verteilt die H a u t sie h i n g e g e n über den ganzen K ö r p e r . Ihre multiple Struktur im K ö r p e r i n n e r e n setzt sich dabei in kleinen >Wärzchen< auf der H a u t o b e r f l ä c h e fort. »Wo sich diese R ö r e n enden,/ T r i f f t m a n kleine Wärzchen an,/ Welche man in unsern H ä n d e n / N o c h am meisten m e r k e n kann./ H i e d u r c h scheinen wir zu spüren«. 2 0 D i e H a u t w i r d beschrieben als aus zahlreichen sensorischen K o n t a k t p u n k t e n bestehendes G e w e b e . D u r c h die > kleinen Wärzchen< 21 w i r d sie an der O b e r f l ä c h e gleichsam abgeschlossen. Sie ist keine p o r ö s e Schicht, sondern eine recht dichte A n o r d n u n g kleiner Sensoren, welche die A u f n a h m e u n d Weiterleit u n g der R e i z e regulieren. 2 2 A n der H a n d zeigen sich diese >Wärzchen< am 18
Ebd., S. 327. ' ' Georg Stanitzek sieht gerade darin das theologische Moment der Beobachtungsperspektive im Unterschied zum wissenschaftlichen: »Während die moderne wissenschafdiche Disziplin auf Erkenntnisgewinn ausgeht, besteht füir den theologischen Gebrauch der Physik die rechte Erkenntnis im Gewahrwerden von Erkenntnisschranken. Immens große oder extrem kleine Gegenstände, unendlich hohe oder tiefe Räume sind die ausgezeichneten Sachverhalte, deren Betrachtung das >Unvermögen< menschlicher Sinne und menschlichen Verstandes evoziert.« (Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989, S. 69) Die Grenze des menschlichen Fassungsvermögens wird in der obigen Beschreibung durch die wahrnehmbare >Unordnung< bzw. Komplexität der Vielfalt bestimmt. Neben dem Ubermaß in der Größe und im Kleinen kommt hier noch dasjenige des Zuviel hinzu. 20
Brockes, Die fünf Sinne, S. 326. Warzen bedeuten im Lateinischen >papillaeWärzchen< der Haut und den Brustwarzen siehe Simon Richter, »Erectionen machen«: Wieland und die Erotik der weiblichen Physiognomie, in: Rüdiger Campe und Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg im Breisgau 1996, S. 313-329, hier S. 32of. Auch bei Brockes wird das Gefühl erotisch und sexuell bestimmt. 22 An dem Punkt wird auch die Haut nicht mehr als humorales, sondern als neuronales Organ beschreibbar: »Der Gefaßkörper der Humoralmedizin, der bei streng 21
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deutlichsten, weshalb sie zum bevorzugten Gefühlsorgan erklärt wird. Das, was sie dazu privilegiert, ist die besondere Ausprägung der Hautstruktur. Diese Auszeichnung ist also nicht durch eine Ubereinstimmung mit den Wahrnehmungsoperationen des Auges motiviert. Sie beruht allein auf der Hautbeschaffenheit, welche sich auf der Hand feststellen läßt. Eine Aufgabe des Sehsinns besteht darin, Großes auf eine den >kleinen Kreisen< der Augen angemessene Proportion zurechtzustutzen: Was die Erden Grenzen fassen, Muß sich durch besond're K r a f t Von zwey Pünctchen fassen lassen; Deren selt'ne Eigenschaft Auch die allergrößten Sachen Dergestalt weiß klein zu machen, Daß, was nicht zu messen steh't, Ins Gehirn durchs A u g e geh't. 2 '
Das Verkleinern auch der allergrößten Sachen< funktioniert als eine Art Korrektiv. Es ist eine Einrichtung zum Ausgleich zwischen den >Grenzen der Erde< und dem Betrachter. Diese Leistung des Gesichts erlaubt es, die Eindrücke der Außenwelt in einen gleichsam menschengerechten - anthropozentrisch justierten - Maßstab zu übertragen. Damit ist ein perfekter Mechanismus beschrieben. Sähen die menschlichen Augen demgegenüber >schärfer< und >klarerscharf< und >klar< genug zu sehen, erweist sich von dem hier eingenommenen Standpunkt aus als ein Fehlurteil. Werden optische Instrumente dennoch zum Einsatz gebracht, besteht die Gefahr, daß sie Störungen herbeifuhren. So gilt der mikroskopische Blick nun als defizitär, denn es gelingt ihm kaum, ein >Sandkorn auf einmal< zu übersehen.26 Nicht die Neugier des Naturforschers, der sich in kleinsten, zerstückelten und abstrakten Strukturen noch zurechtzufinden versucht, gibt hier die Argumente vor, sondern das Vertrauen in die natürliche Ordnung, 27 mit welcher sichtbare Phänomene nach gewohnten Kriterien identifiziert werden können. An anderer Stelle wird die Überlegung auch in der ersten Auflage bereits zur Sprache gebracht. Das Unbehagen an Augen, welche wie Mikroskope sehen könnten, wird im Bild monströser Atrozität fortgeführt. 28 2
' Vgl. dazu Kap. II. Alexander Kosenina verallgemeinert unzulässig, von diesem Brockes-Zitat ausgehend: »Brockes kommen indes Fehlsichtigkeiten so wenig in den Sinn wie die Möglichkeit, daß optische Instrumente trügerisch verzerren oder täuschend abbilden könnten. Offenbar vertraut er darauf, daß ein Instrument das wirklich Vorhandene genau so sehen läßt wie es ist.« (Alexander Kosenina, Schönheit im Detail oder im Ganzen? Mikroskop und Guckkasten als Werkzeuge und Metaphern der Poesie, in: Peter Heßelmann u.a. [Hg.], »Das Schöne soll sein«. Aisthesis in der deutschen Literatur, Bielefeld 2001, S. 1 0 1 - 1 2 7 , hier S. 110) Daß Brockes die optischen Instrumente gerade in ihrer konstruktiven Funktion herausstellt, wird sowohl an anderen Stellen dieses Gedichtes deutlich als auch an der im Kap. II. vorgenommenen, auf Mikroskopie eingehenden Interpretation von »Der Sand«.
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Deshalb kann mit Harold P. Fry zwar prinzipiell festgehalten werden: »It is clear that Brockes uses the material and diction of traditional natural history and more contemporary natural philosophy in his portrayal of individual phenomena on earth, in the sky and in the universe as participating in a regulated, orderly creation.« (Harold P. Fry, Physics, Classics, and the Bible. Elements of the Secular and the Sacred in Barthold Heinrich Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott, 1721, New York u. a. 1990, S. 164) Jedoch muß zugleich auch betont werden, daß hier nicht der wissenschaftliche Blick, sondern die kompensatorische Begrenztheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates zum Plädoyer für die Ordnung der Schöpfung herangezogen wird.
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Zu überlegen wäre, inwiefern hier eine Ästhetik des Erhaben zum Ausdruck kommt. Das Erhabene, eine Kategorie, welche im Zusammenhang mit Brockes' Dichtung viel diskutiert wird, wäre damit nicht an einen bestimmten Gegenstand, sondern an eine bestimmte Perspektive gebunden und unter ihrer Maßgabe prin-
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Sollten uns're Sinne taugen, Tiefer, als sie thun, zu gehn, Könnten wit durch unser' Augen Als durch ein Vergröß=Glas sehn; Würd' uns für uns selber grauen, Sollten wir die Haut beschauen, Die ja dann, als wie ein Bär, Rauch und recht abscheulich wär. 29
Mikroskopie vergrößert und dringt so in die >Tiefewürde uns vor uns selber grauem. Sobald der menschliche Körper ins Blickfeld eines solchen Auges geriete, erschiene er wie eine Monstrosität: ein >Bärrauh< und >abscheulich< aus. Das natürliche Auge ermöglicht demgegenüber eine angemessene visuelle Distanz und Deudichkeit. I h m erscheint die Haut glatt. Allein an den Fingern läßt es feine >Wärzchen< der H a u t erkennen. Neben dieser Sinnesanthropologie, welche die Vollkommenheit der natürlichen Ausstattung erklärt, weist Brockes' Gedicht aber auch eine andere Tendenz auf. Es finden sich darin nämlich Passagen, in welchen der anatomische Innenraum gleichsam geöffnet und dabei mikroskopisch vergrößert wird. Die wissenschaftliche Perspektive erhält somit wieder Einzug. In der zweiundzwanzigsten Strophe wird das Auge selbst zerlegt, sozusagen seziert. Seine visuellen E f f e k t e werden auf dieser Grundlage physiologisch befragt. Ein Anblick unüberschaubarer Dichte unterschiedlichster Elemente wird dabei freigelegt. E r bildet gegenüber der zuvor v o r g e n o m m e n e n Beschreibung der Augen als >kleine Kreise< einen bemerkenswerten Kontrast. D e n n die Vielfalt der Teilchen in ihrem Inneren assoziiert eine unendliche mikrokosmische Ausdehnung. N u r in einer geradezu hilflos anmutenden parataktischen Reihung, als bloße Aufzählung, kann diese Struktur erfaßt und wiedergegeben werden. A u f die spezifische F o r m und Komplexität der Verbindungen in den unterschiedlichen »Geweben« reagiert die Beschreibung mit einem bloßen Nacheinander, welches somit auf die Grenzen des visuell-kognitiven Fassungsvermögens hindeutet, wie es in der o b e n zitierten Strophe anhand der Destabilisierung des perfekten Sichtbarkeitsmaßes durch die mikroskopische A u s r ü s t u n g des Auges erwogen wurde. zipiell überall zu finden. Dagegen: »Als erhabene Naturgegenstände kommen jedoch nur solche Gegenstände in Frage, die durch ihre enorme Größe oder Uneinheitlichkeit den klassizistischen Schönheits- und Maßvorstellungen widersprechen, das sind vor allem die Bergwelt, der Nachthimmel und das Meer.« (Uwe Spörl, Berge, Meer und Sterne als Erhabenes in der Natur? Eine Untersuchung zur Poetik der Frühaufklärung und der >poetischen Malerei< Brockes', in: DVjs 73 [1999], S. 228-265, hier S. 239) 29 Brockes, Die fünf Sinne, S. 334. 181
Mit wie vielerley Geweben, Adern, Nerven Fleisch und Haut Ist durchflochten und umgeben Das, was man im Auge schaut! Große Fäden, kleine Körner, Netze, Knoten, Trauben, Hörner, Wasser, zähe Feuchtigkeit, Dämmerung und Dunkelheit.
Da die >Gewebe< und ihre einzelnen Bestandteile - >AdernNervenFleischHautFädenKörnerNetze< etc. - so vielzählig sind, wird ihre aufzählende Benennung in der nächsten Strophe fortgesetzt: Geister, Wasser, Blut=Gefässe. Nimmer, nimmer glaubte man, Daß so viel im Auge säße, Als man kaum erzählen kann. Mäuslein, Häute, Nerven, Drüsen Werden uns darin gewiesen. Kurz: es wird des Schöpfers Hand Wunderbar im Aug' erkannt.' 1
Niemals >glaubte man, daß so viel im Auge< selbst zu sehen sei: Sogar die Sprache kommt in Bedrängnis, will sie dieser Vielfalt gerecht werden - »Als man kaum erzählen kann«. Nicht nur seine Funktion als Wahrnehmungsorgan, auch die anatomische Beschaffenheit des Auges regt zum Staunen an. Die Aufzählung der ersten Zeile wird in der fünften Zeile mit >Mäuslein, Häuten, Nerven, Drüsen< von einer weiteren Aufzählung gefolgt, als ließe sich seine mikrostrukturelle Differenzierung zu keinem Abschluß bringen. Trotz dieser Introspektion des menschlichen Auges, welche dazu angetan wäre, wie die vergrößerte Haut >ein Grauen vor uns selbst< hervorzurufen, dient das Beschriebene hier vielmehr zur Huldigung >des Schöpfers HandWunderbares< offenlegen.' 2 Dessen Qualität liegt jedoch nicht in geordneten Strukturen oder überEbd., S. 292. " Ebd., S. 293. 52 Unter Bezugnahme auf Johann Heinrich Winklers Das Wunderbare in den Seelen der Thiere, in einer Gesellschaft guter Freunde abgehandelt (1744) resümiert Karlheinz Barck: »Hier wird das Wunderbare als Bereich des Nicht-Wissens und zugleich als Methode zu seiner Beschreibung mit einem populärwissenschaftlichen Akzent dadurch versehen, daß es die Aufmerksamkeit vergesellschaftet, d. h. zum Mitmachen und Mitdenken anregt.« (Karlheinz Barck, Wunderbar, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 6: Tanz-Zeitalter/Epoche, Stuttgart/Weimar 2005, S. 730-773, hier S. 757) Diese Beschreibung trifft aber ebenso auf Brockes' Lehrgedicht zu. 182
schaubaren Ausgleichsmechanismen, sondern umgekehrt in einer unerschöpflichen Komplexität kleinteiliger Mannigfaltigkeit: in anatomischphysiologischen >GewebenKönigin< Wenn auf der Innenseite des Auges anatomische >Gewebe< in Erscheinung treten, wenn sich seine Rückseite somit von der Rückseite der Haut kaum unterscheidet, weil beide an ein den gesamten Organismus durchziehendes Ader- und Nervensystem angekoppelt sind, dann erscheinen ihre Unterschiede gleichsam entkräftet. Anatomisch bilden die Sinne ein Kontinuum, einen Verbund, in welchem ihre erkenntnistheoretischen Grenzen zwar nicht eingeebnet werden können, sich aber als Effekte desselben organischen Funktionszusammenhangs beschreiben lassen. Unabhängig von den Eindrücken und Vorstellungen, die sie jeweils erzeugen, sind sie in ein sie übergreifendes physiologisches und genetisches Schema" integriert. Dieses findet seinen besonderen Ausdruck in den Nervengeweben, welche ihrerseits auf das >Gefuhl< verweisen, insofern Brockes es als eine Wahrnehmung begreift, welcher die übrigen Sinne im Hinblick auf ihren »Ursprung« und ihr »Ziel« zu subsumieren sind. Das >Gefuhl< generiert demnach die übrigen Sinne und steht somit in einer auch anatomisch sichtbaren Nähe zu den >Geweben< im Körperinnenraum. Die vier andern Sinne scheinen Kinder des Gefuhl's zu seyn, Und es wird kein Mensch verneinen, Daß sie gegen dieses klein; Daß die Kräfte jener Sinnen Bloß aus dem Gefühle rinnen; Weil ihr Ursprung und ihr Ziel Selbst ein zärtliches Gefiil.' 4
Jede Sinneswahrnehmung, so die hier formulierte These, ist sowohl in ihrer Voraussetzung als auch in ihrer Wirkung nur eine Modifikation des Gefühls. Uber die Metapher der >Kinder< wird dieses in die Position einer Mutter versetzt. Wenn die >Kräfte< der übrigen Sinne >aus dem Gefühl rinnenDoppelung< des Sinnbegriffs deutet nicht nur auf eine allgemeine Innen/Außen-Grenze hin, wie sie jeder Wahrnehmung innewohnt, sondern sie spaltet sich überdies in zwei unterschiedliche disziplinäre Zuständigkeitsbereiche auf: Physiologie und Psychologie. Die ganze Natur unserer Sinne ist so was wunderbares, daß die Untersuchung derselben ein ganz ausnehmendes Vergnügen verursacht. Allein sie gehört nicht in die Aesthetik, sondern in die Psychologie und Physiologie, ich habe hier nur so viel anfuhren müssen, als ich in dem folgenden höchst nöthig brauche.49
Trotz der hier postulierten Notwendigkeit, die Ästhetik von diesen beiden Wissensbereichen abzuschirmen, widmet sich Meier ihnen in seiner Abhandlung sehr ausgiebig. Psychologische und physiologische Beobachtungen sind zwar von ästhetischen zu unterscheiden, so die Prämisse. Da sich diese Disziplin jedoch um 1750 erst allmählich auszuprägen beginnt, kann ihr Gegenstandsbereich hier noch kaum in seinen Grenzen ausgemacht werden. Zudem legt ihre im Anschluß an Baumgarten vorgenommene Definition als Wissenschaft von den unteren oder sinnlichen Erkenntnisleistungen bzw. als »Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis«' 0 durch48
Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Teil II [1755], photomechanischer Nachdruck, Hildesheim/New York 1976, § 330, S. 149. 45 Ebd., § 330, S. 150. 50 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Ab189
aus eine enge Beziehung zur Physiologie und Psychologie nahe. Da auch Meier diese Bestimmung in Anspruch nimmt, muß er letztlich konzedieren, daß er beide Disziplinen >höchst nötig brauchte Anders als eine Poetik richtet sich das primäre Interesse der Ästhetik, zumal in ihrer Konstitutionszeit, weniger auf konkrete Werke und ihre spezifischen kommunikativen Strukturen als vielmehr auf die anthropologischen Voraussetzungen, die ihre Rezeption, aber auch Produktion ermöglichen. Die Perspektive sowohl auf physiologische wie auf psychologische Fragen ist daher stets Inbegriffen, wenn nicht sogar grundlegend. Wie jedoch unterscheidet Meier diese beiden Wissensbereiche voneinander? Gemeiniglich bildet man sich ein, daß die Empfindung und die Sinne in dem Körper sind. Allein eine mittelmäßige Aufmerksamkeit kann uns überzeugen, daß nicht nur der innere Sinn samt den innern Empfindungen ein Eigenthum der Seele sey, sondern auch die äusserlichen Sinne, und die äusserlichen Empfindungen.' 1
Die Grenze zwischen dem äußeren und inneren Sinn entspricht demnach nicht derjenigen zwischen Physiologie und Psychologie. Der Sachverhalt ist komplizierter. Beide Sinnesmodi sowie ihre jeweiligen Empfindungsvermögen unterstehen nämlich der psychologischen Zuständigkeit. Zu den inneren Sinnen rechnet Meier »Vorstellungen, Begierden, Verabscheuungen, und wie sie insgesamt heissen mögen«.' 2 Uber die >äußeren< Sinne heißt es dementsprechend: Der letzte [der äusserliche Sinn, N.B.] verbreitet sich in fünf Aeste, das Gesicht, das Gehör, der Geruch, der Geschmack und das Gefühl, deren weitere Erklärung in die Psychologie gehört."
Von den als psychischen Wirkungen ausgewiesenen Wahrnehmungen, in deren Zusammenhang Meier ausdrücklich auch das >Gefühl< nennt, werden im nächsten Schritt erst physiologische Kategorien als »Werkzeuge der Sinne« unterschieden: In dem Körper ist nur zweyerley. Einmal, der nächste Gegenstand der äusserlichen Empfindungen, oder die gegenwärtigen Veränderungen des Körpers; und zum andern, die Werkzeuge der Sinne (organa sensoria) oder diejenigen Theile des Körpers, ohne welche wir keine äusserliche Empfindungen haben können, und es ist bekannt, daß man dahin die Augen, die Ohren, die Nase, den Mund, und den ganzen Nervenbau rechnet.' 4
schnitte aus der »Aesthetika« (1750/58), übers, und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch-deutsch, 2. durchgesehene Auflage, Hamburg 1988, § 14, S. 1 1 . Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, § 330, S. 149. " E b d . , § 353, S. 153" Ebd., § 330, S. 149. ' " E b d . , § 330, S. 150. 190
An dieser Feindifferenzierung zwischen den äußeren Sinnen und ihren Werkzeugen wird die Grenze zwischen Psychologie und Physiologie festgemacht. Dabei korrespondiert der Abgrenzungsprozeß dem Umbau der Sinnestheorie vom mechanischen Schema zu einem komplexen neurologischen Vorgang. Denn die Unterscheidung der Psychologie von der Physiologie basiert nicht auf lokalisierbaren Bereichen, wie sie etwa die Innen/Außen- bzw. Körper/Seele-Unterteilung vorgeben. Sie erfolgt vielmehr über funktionale Annahmen." Danach generieren die Sinne Empfindungen, während die Werkzeuge Reize von außen empfangen und nach internen Maßgaben verarbeiten. Der Sinn und das Sinnesorgan bilden daher keine Einheit mehr, auch wenn sie in enger Wechselwirkung operieren. Sie konstituieren zwei unterschiedliche Funktionsstellen, welche allerdings nur in gemeinsamer Abstimmung Wahrnehmungsvorgänge ermöglichen. Entscheidend ist an diesem Modell, daß die Werkzeuge selbst nicht als empfindungsfähig gelten. Nicht die Augen sehen, sondern der Gesichtssinn erzeugt die visuelle Wahrnehmung. Die Augen nehmen lediglich bestimmte Reize auf, welche sie an den Gesichtssinn weiterleiten. In dieser Hinsicht sind psychische Prozesse auf physiologische angewiesen. Dasselbe gilt auch für die übrigen Sinne: Nicht der Nervenbau fühlt, sondern das Gefühl. Neben der Festlegung auf die Haut und ihre Eingrenzung auf die Hand erhält die Identifikation des Sinnesorgans, welches der haptisch-taktilen Wahrnehmung zugewiesen wird, durch Meier eine weitere, bei Brocks sich in den kleinen >Wärzchen< bereits abzeichnende Variante. Er determiniert nämlich den >Nervenbau< als Werkzeug des Gefühls und deutet mit dieser Entscheidung zugleich die grundsätzliche Schwierigkeit an, den Tast- bzw. Gefuhlssinn physiologisch zu verorten: Eine Schwierigkeit, die nicht zuletzt auch mit den Verschiebungen in der Erfassung seiner Sinnesleistung korreliert. Insgesamt läßt sich beobachten, daß in dem Maße, in welchem ihre Charakterisierung als haptische oder taktile Wahrnehmung changiert, sich auch die Fesdegung des Sinnesorgans verändert. Dabei kann der Unterschied zwischen Hand und Haut einerseits graduell aufgelöst werden, insofern in beiden Fällen eigentlich dasselbe Organ, die Haut nämlich, gemeint ist, im Fall der Hand jedoch auf einen engeren physiologischen Wirkungsraum beschränkt wird. So argumentiert Brockes in seinem Gedicht. Andererseits impliziert der Unterschied auch einen qualitativen Sprung, denn die Erweiterung auf den gesamten Körper rückt auch die passive Dimension des Tastsinns in den Vordergrund. Kann die Hand gezielt bestimmte haptische Wahrnehmungsreize ansteuern oder meiden, so sind andere Körperpartien, das Gesicht oder der Rücken etwa, derartigen Reizen " Siehe zur Umstellung der Wahrnehmungstheorie auf funktionale Bestimmungen in der Aufklärung Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne, S. 45 ff. 191
nur ausgeliefert. Das trifft noch mehr auf Körperpartien zu, welche nicht innerhalb des Wirkungs- und Kontrollbereichs des Auges liegen. Meiers Konzeptualisierung des Gefühlsorgans fällt aus diesem Zusammenhang heraus. Er entscheidet sich weder für die Hand noch für die Haut, wenngleich die zweite seiner Auffassung näher kommt als die erste. Denn der >Nervenbau< erstreckt sich, von der Haut ausgehend, gleichsam unter ihr liegend, über den gesamten Körperinnenraum. Lediglich an dem Punkt, an dem er sich mit der Außenseite der Haut verbindet, kann er auch als ein an der Körperoberfläche lokalisiertes Werkzeug wie das Auge etwa in Erscheinung treten. Hervorzuheben ist somit, daß mit dem Nervenbau dem Gefühl ein Organ zugewiesen wird, welches durch eine autonome physiologische Funktion charakterisiert ist. In der Ankopplung der Nerven an die Haut kann diese nicht mehr als poröse Einlaßoberfläche des Körpers verstanden werden, denn jeder Reizstoff, mit dem sie in Berührung kommt, wird sofort in eine neuronale Information umgewandelt. Deutlicher noch als durch den Bezug auf die >Wärzchen< der Haut wird hier die sensorische Eigenleistung des Gefuhlsorgans gedacht. Gefühlseindrücke sind demnach, wie die Bilder des Sehsinns, Ergebnisse endogener und selbstreferentieller Prozeduren. Hand und Haut markieren die physiologische Außenseite, der Nervenbau internalisiert die Gefühlswahrnehmung hingegen. Das Werkzeug des Gefühls erstreckt sich in Meiers Darstellung, anders als das der übrigen Sinne, tief ins Innere des Körpers hinein. Es ist das einzige, welches im Körperinnenraum angesiedelt ist, das einzige mithin, welches auch innere Körperreize empfangen kann. Jedoch liegt nicht nur darin ein Unterschied zu den übrigen Sinneswerkzeugen. Der Sonderstatus des Gefühls wird vor allem deutlich, wenn die unumgängliche Beteiligung der Nerven bei der Entstehung aller Wahrnehmungen und Empfindungen berücksichtigt wird. Alle Empfindungen hangen von den Werkzeugen der Sinne ab [...]. Da nun diese Werkzeuge nicht anders in die gehörige Bewegung gesetzt werden können, als vermittelst der Nerven; so hangen die Empfindungen von den Bewegungen der Nerven ab. W i r brauchen die Nerven überhaupt auf eine doppelte Art: die Bewegungen der Theile unsers Körpers zu verursachen, und Empfindungen zu bekommen.' 6
Wenn aber sowohl >die Bewegungen der Teile unseres Körpers< als auch die Empfindungen nur unter der Beteiligung der Nerven zustande kommen, dann fungieren diese als psychisch und physisch gleichermaßen relevantes Körperorgan. Sie gelten demnach als ein Werkzeug, welches die Grenze dieser Zuständigkeitsbereiche übergreift und trotz der zwischen ihnen bestehenden Differenz dennoch einen Zusammenhalt ermöglicht. Durch die s6
Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, § 340, S. ιγοΕ
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neuronale Vermittlung werden sowohl physische als auch psychische Prozesse, Körperbewegungen und Empfindungen, hervorgerufen. Im Anschluß spezifiziert Meier den Unterschied zwischen neuronaler Psychologie und neuronaler Physiologie, indem er auf die Verknüpfung des passiv/aktivmit dem innen/außen-Schema zurückgreift: In dem ersten Falle müssen wir die Nerven von inwendig heraus anstrengen, und das wollen wir das Handeln der Nerven nennen. In dem andren Falle werden die Nerven von aussen her bewegt, und das wollen wir ein Leiden derselben nennen."
Empfindungen, d. h. psychische Operationen, entstehen durch ein von Außen ausgelöstes Erleiden der Nerven. Sie setzen einen passiven Zustand voraus. Die Nerven müssen, von einem Reiz angestoßen, in Schwingung gebracht werden, damit sie eine Empfindung erzeugen können. Die Bewegungen der Körperteile werden hingegen als eine Aktivität begriffen, die die Nerven >inwendig< veranlassen. Kein externer Reiz, sondern eine intern generierte Bewegung der Nerven löst eine Körperbewegung aus. Erstere hat es mit erlittenen, d. h. passiv von Außen ausgehenden Nervenregungen zu tun, während sich letztere umgekehrt auf aktiv und endogen vollzogene Nervenregungen bezieht, die sich in Körperbewegungen äußern. Da die Nerven aber nicht nur die Grenze zwischen psychischen und physischen Ereignissen übergreifen, sondern auch die Funktionen der übrigen vier Wahrnehmungsorgane, können sie ihnen nicht gleichrangig eingereiht werden. Die vom Auge, Ohr, der Nase und dem Mund empfangenen Impulse werden selbst stets an die Nerven delegiert, weshalb diese zum einen als Entstehungsort der Empfindungen gelten. Zum anderen aber sind demzufolge alle Empfindungen auch Gefühle. Daß eine Empfindung als visuell oder auditiv erfahren wird, hängt nicht vom Auge bzw. Ohr ab, sondern von den jeweils spezifischen Schwingungen und Informationsflüssen, welche von diesen Organen ausgehen und in den Nervenbahnen entsprechend verarbeitet werden. Psychologisch müssen daher die Empfindungs- und Wahrnehmungsleistungen der Sinne als Modifikationen des Gefühls und seines Werkzeugs, des neuronalen Mechanismus, erklärt werden. Von Bedeutung ist, daß dieser Beitrag zur Gründung der Ästhetik, mithin einer Wissenschaft der unteren Erkenntnisleistungen, sich nicht nur am neuronalen Paradigma orientiert, welches schon fur Descartes Geltung hatte, sondern mit diesem auch das Gefühl in besonderer Weise hervorhebt. Die grundlegende untere Erkenntnisleistung, um deren wissenschaftliche Auslotung und Rehabilitation sich das 18. Jahrhundert - besonders unter dem Vorzeichen der Ästhetik - bemüht, wird demnach vom Gefühl erbracht, " E b d . , § 340, S. 171. 193
wobei dieses ein Bündel vielschichtiger semantischer Zuschreibungen darstellt. Es bezieht sich zunächst auf die selbst schon problematische haptischtaktile Wahrnehmung. Insofern es aber darüber hinaus als eine psychologische Kategorie figuriert, verweist es auch auf die semantische Prägung des Wortes, die sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts durchsetzen wird. Physiologisch tritt diese semantische Umdeutung darin in Kraft, daß das Gefühlsorgan im Gegensatz zu den übrigen Sinnesorganen im Inneren des Körpers sitzt.
3. Nerven und Empfindungen: J. G. Krüger Das Gefühl als Kategorie organischen Lebens 1756 erscheint Johann Gottlob Krügers Schrift Versuch einer Experimentalseelenlebre.'8 Sie steht an der Schwelle zwischen mechanischer und organischer Medizin, was sich - für den hier verhandelten Zusammenhang von besonderer Bedeutung - in einer entsprechenden organischen Definition des Tastsinns bzw. Gefühls niederschlägt. Auch hier wird dieser Sinneswahrnehmung ein herausgehobener Stellenwert zugedacht. Die für ihre Beschreibung und Umdeutung zentralen Passagen finden sich vor allem im dritten Kapitel unter der Uberschrift »Von der Empfindung«. Wie in Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften wird auch in dieser, für die Theorie des Influxus zentralen Abhandlung die schwierige physiologisch-psychologische Demarkationslinie, »daß die Seele in den Leib, und der Leib in die Seele würcket«,59 reflektiert und in eine gewissermaßen unauflösbare Beziehung zum Gefühl gebracht. Für Krüger gilt das Nervensystem jedoch nicht als eines der fünf Sinneswerkzeuge. Es ist vielmehr ein Empfindungswerkzeug. Nach seiner Auffassung sind Nerven für die Entstehung wie für die Spezifikation von Empfindungen ebenso unerläßlich wie bestimmend. »Denn alle Welt ist darinnen einig, dass bloss die Nerven die Werckzeuge der Empfindung sind. Ein Theil, welcher gar keine Nerven hat, hat auch gar keine Empfindung.« 60 Einen solchen empfindungslosen >Teil< wird Krüger jedoch am menschlichen Organismus kaum finden.
' ' » D i e Wahl des Terminus >Experimentalseelenlehre< setzt sich [...] bewußt ab von einer weithin rational verfahrenden >empirischen Seelenlehre< und legt damit schon in der Benennung programmatisch das empiristische Credo der Abhandlung.« (Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New Y o r k 2003, S. 76) " J o h a n n Gottlob Krüger, Versuch einer Experimentalseelenlehre, Halle/Helmstedt 60
1756, S. 519. E b d . , S. 81.
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Die Nerven als ihre Werkzeuge anzuerkennen bedeutet, die Differenz der Empfindungen nicht absolut, sondern prinzipiell als zweitrangig und abgeleitet zu denken. Daß sich nämlich unterschiedliche Empfindungen feststellen lassen, ist gegenüber dem Befund, daß ihre Funktion sich demselben Nervensystem verdankt, von untergeordneter Bedeutung. Die Differenz sinnesspezifischer Wahrnehmungsqualitäten wird von Krüger durch zweifache Abhängigkeit erklärt: Einerseits sind die Sinne abhängig von den Reizen, d. h. von umweltbedingten Impulsen, die eine Schwingung der Nerven auslösen, andererseits von dem auf diese Weise in Gang gesetzten Operationsmechanismus der Nerven, ihrer Schwingung nämlich. Das Wahrnehmungsorgan selbst hat innerhalb dieses Modells keine Relevanz. Ein Reiz und die neuronale Verarbeitung genügen, um die Entstehung von Empfindungen zu erklären. Nerven vermitteln nicht nur zwischen der Umwelt und dem Organismus, sie steuern vielmehr auch die inneren Prozesse. In diesem Kontext wird das Gefühl von Krüger in einer besonderen Funktion reflektiert. Zunächst aber hebt er auf den lebensnotwendigen Status dieser Empfindung ab: Unter allen Sinnen ist keiner so nothwendig, und selbst zum Leben so unentbehrlich, als das Gefühl. Man hat daher wohl Exempel, dass das Gefühl an einem, oder den andern Theile des Leibes verlohren gegangen, nicht aber, dass ein Mensch gelebt, der desselben gantz und gar wäre beraubet gewesen. 6 '
In gewisser Weise wird Leben mit Gefühl im obigen Passus wenn nicht gleichgesetzt, so zumindest in ein notwendiges Bedingungsverhältnis gebracht. Alle anderen Wahrnehmungssinne können ausfallen, sie werden das Leben des Organismus dennoch nicht grundsätzlich bedrohen, ein vollständiger Verlust des Gefühls hingegen indiziert den Tod. Mit dieser engen Kopplung von Leben und Gefühl bringt Krüger eine für das 18. Jahrhundert bedeutsame Weiterführung des haptischen bzw. taktilen Sinns zur Sprache. Sie klingt in Brockes' Metaphorisierung des Gefühls als genetischer Ursprung der übrigen Sinne, wenn diese als seine >Kinder< bezeichnet werden, vor allem aber in der Funktion als Sexualmedium an. Sie wird ebenso in Meiers Grundlegung aller Wahrnehmungen auf das Sinneswerkzeug des Gefühls, die Nerven nämlich, variiert und fortgeschrieben. Denn auch hier kommt dem Gefühl ein übergreifender Funktionswert zu. Die Pointe von Krügers Ansatz besteht jedoch darin, daß er das Gefühl ausdrücklich als Manifestation und Bedingung des organischen Lebens selbst ansieht. Es ist kein erkenntnistheoretisches Werkzeug zur Unterscheidung von Gegenständen, sondern weit mehr, eine gleichsam biologische Grundkategorie.
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Ebd., S. 84f. 19 5
[S]o siehet man mit Recht das Hertz als Quelle des Lebens an. Allein: wovon hat diese Maschine ihre Bewegung? Meinen Gedanken nach von einer Art des Gefühls, welches das Blut in ihm verursachet, wenn es in die Hertzenskammern hineindringt. Diesem zu Folge würde das Leben bey einem gäntzlichen Mangel des Gefühls ohnmöglich erhalten werden können. 61
Das Gefühl oder vielmehr >eine Art des Gefühls< ist am Werk, sobald das Blut >in die HerzkammernQuelle des Lebensein gänzlicher Mangel des Gefühls< zugleich auch das Ende des Lebens anzeigt. In welcher Beziehung dieses Verständnis zum Tasten als einer Handberührung oder taktilen Hautreizung steht, bleibt dabei unausgesprochen. Durch die Verlegung seiner Wirkung ins Innere des Körpers und durch seine unmittelbare Verknüpfung mit dem Herzschlag wird dem Gefühl hier eine ähnliche Konnotation gegebenen, wie sie sich auch bei Meier in der Kopplung mit den Nerven findet. In beiden Fällen nämlich verweist die physiologische Verinnerlichung des Gefühls zugleich auf dessen sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzende Definition als reine Innerlichkeit. Dennoch gilt das Gefühl für Krüger nicht als psychologische Kategorie, zumindest nicht in der Weise, daß es sich ausschließlich psychologisch auffassen ließe. Indem es die Bewegungen der >Herzmaschine< begleitet, hat es offenbar auch eine handfeste physiologische Funktion. Das Gefühl übergreift deshalb beide Bereiche und nimmt eine physio-psychische Zwischenstellung ein. Hat Meier durch die Festlegung der Nerven als Sinneswerkzeug des Gefühls der Hand und der Haut eine weitere Variante zur Seite gestellt, so nimmt Krüger keine solche oder auch nur vergleichbare Zuordnung mehr vor, sondern definiert das Gefühl ausschließlich funktional: Eine Wahrnehmung bzw. Empfindung, welche kein spezifisches Wahrnehmungsorgan hat. Ihre Funktion aber besteht darin, dem mechanischen Vorgang der Blutzirkulation eine Empfindung gleichsam überzustülpen. Als brauchte dieser Mechanismus einen zusätzlichen Motor, wird das Gefühl hier einbezogen. In dieser zusätzlichen Absicherungsfunktion tritt indes das Influxus-Paradigma als Notwendigkeit einer Wechselwirkung zwischen Psyche und Physis in Erscheinung: Da sich nämlich der Kontakt zwischen Leib und Seele mittels der Blutzirkulation allein nicht plausibilisieren läßt und dennoch begründet werden muß, wird dem Gefühl diese Leistung angetragen. 62
Ebd., S. 85.
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Weil ferner das Leben in der Vereinigung der Seele mit dem Leibe gesetzt werden muss, so thut man nicht Unrecht, wenn man das Gefühl als das Mittel ansieht, wodurch diese Verbindung erhalten wird. 6 '
Das Gefühl tritt somit in die Lücke des Commerciums. Es gilt als Indikator des Lebens, weil es zwischen Leib und Seele eine Interaktion herstellt. Als physiologisches Phänomen steht es zugleich an der Schwelle zur Psyche und vice versa. Diese Verortung und Funktionsbestimmung spiegelt einmal mehr die definitorische und konzeptuelle Verschiebung, welche sich am Gefühlsbegriff im 18. Jahrhundert vollzieht. Als physiologische Kategorie muß das Gefühl nach Maßgabe experimenteller Naturforschung beschreibbar sein. Zu diesem Zweck referiert Krüger zum einen auf ein Gedicht von Albrecht von Haller,64 in welchem dieser das >Gefiihl [...] in uns selbst verborgen< sieht und damit als eine endogene, mechanisch nicht einzuholende Kategorie bestimmt, zum anderen, Haller gewissermaßen implizit aufgreifend, auf das Phänomen der Reizbarkeit. Haller wird hier zweifach als Autorität aufgerufen, um mit ihr folgende Überlegungen zu beglaubigen. Gleichwohl aber weicht Krügers Gebrauch des Reizbarkeitskonzepts von der Vorgabe Hallers an entscheidender Stelle ab. 6 ' Diese Modifikation hängt mit dem Influxus-Paradigma zusammen. Denn während Haller das Commercium-Problem mit seiner Abgrenzung der Empfindungs- von der Reizfähigkeit experimentell festschreibt, hält Krüger demgegenüber an der Untrennbarkeit seelischer und leiblicher Vorgänge fest.66 Wie natürlich wäre es auf die Gedancken zu gerathen, dass die Seele durch die Eigenliebe, diese Triebfeder aller ihrer Handlungen, angetrieben würde, für ihren 6i
Ebd. »Was ist nun der Ursprung von solchen Bewegungen, durch welche das Leben erhalten, und dasjenige überwunden wird, so dem Körper den Untergang drohet? Ich weiß nicht, ob man diese Frage jemals besser werde beantworten können, als der Herr von Haller, wenn er schreibt: Ein himmlisches Gefühl liegt in uns selbst verborgen,/ Das nie dem Uebel schweigt, und immer leicht versehrt/ Zur Rache seiner Noth den gantzen Leib empört.« (Ebd., S. 86) 6s 1756 ist der Reizbegriff in der medizinischen Experimentalforschung eindeutig mit Haller verknüpft. Erst in seiner Nachfolge bilden sich auch andere Deutungen heraus. Siehe dazu Hans-Jürgen Möller, Die Begriffe »Reizbarkeit« und »Reiz«. Konstanz und Wandel ihres Bedeutungsgehaltes sowie die Problematik ihrer exakten Definition, Stuttgart 1975. 66 Gabriele Dürbeck stellt bei Haller den Ansatz einer disziplinaren Differenzierung zwischen Physiologie und Psychologie fest, während sie Krüger als Anthropologen bezeichnet. Siehe dazu Gabriele Dürbeck, >Reizende< und reizbare Einbildungskraft: Anthropologische Ansätze bei Johann Gottlob Krüger und Albrecht von Haller, in: Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.), Reiz - Imagination Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003, S. 225-245, hier S. 245. 64
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Körper zu sorgen, und dass daher die Muskeln bey der Berührung aus eben der Ursache zuckten, um welcher willen sich die Augen verschliessen, wenn sie etwas zu verletzen drohet. [...] Allein es findet sich eine Schwierigkeit dabey, die nicht geringe ist. Die abgesonderten Theile der Thiere ziehen sich durch die Berührung eben so zusammen, als wenn sie noch miteinander verbunden wären. [...] Reisst einer Fliege den K o p f ab, so wird sich der Rüssel am Kopfe dem ohngeachtet bewegen, und der Rumpf wird alle Zeichen des Gefühls von sich geben. 6 '
In Krügers Argumentation zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, wenn er Leben als eine Kategorie des organischen Körpers ausweist, welche sich noch an den vom physischen Zusammenhang abgesonderten, zerstückelten Teilen manifestiert. Nicht die Seele sorgt >durch die Eigenliebe, diese Triebfeder aller ihrer Handlungen^ für den Körper und nicht sie gilt als Bedingung seiner Lebendigkeit. Vielmehr gibt es deutliche Anzeichen dafür, daß unterhalb ihrer Wirkungsschwelle und auch unterhalb des bewußten Wahrnehmungsniveaus der Körper selbst Äußerungen einer Lebenskraft aussendet. Dafür spricht, daß auch abgetrennte Körperteile auf Reize durch Zukkungen und Kontraktionen reagieren, wie auch Haller experimentell nachwies. E r leitete daraus jedoch die These der Irritabilität bestimmter Muskelgewebe ab, welche er von der Sensibilität als neuronal übermittelter Reizreaktion unterschied. Unmißverständlich referiert Krüger hier auf Hallers Experimente 68 an lebenden Tieren und übernimmt dessen Erkenntnis, daß dem Muskelgewebe eine Reizfähigkeit zugrunde liegt, womit Leben organologisch fundiert wird. 6 ' Allerdings, und darin liegt eine entscheidende Verschiebung, bezeichnet Krüger die Bewegungen in den abgesonderten Teilen der Tiere< als >Zeichen des GefuhlsZeichen des GefuhlsAusdünstungen< stellen sich so als taktile Reize dar, durch welche die Wahrnehmungen des Gehörs und Geruchs evoziert werden. Das Berührungsmodell setzt den Kontakt zweier Körper voraus, eines Reizes und eines Reizempfangers. Wahrnehmungen, denn um diese Empfindungen geht es Krüger hier, sind deshalb mechanische Reizreaktionen, die eine taktile Kontaktstelle zwischen dem Reiz und dem Wahrnehmungsorgan implizieren. Sie entstehen durch Bewegungen der Nervenstränge. Die Nerven selbst müssen berührt und dadurch in Schwingung versetzt werden, damit sie entsprechende sensorische Eindrücke hervorbringen. Da aber der Stimulus in der Empfindung nicht abgebildet wird und die neuronalen Prozesse selbstreferentiell funktionieren, sind auch Phantomschmerzen möglich. Am Beispiel eines fehlenden Zehs werden diese erläutert. Ich weiss zum wenigsten die angeführten Begebenheiten nicht anders zu erklären, als dass der noch vorhandene Nerve gelitten; und wenn es diejenigen Fäsergen desselben betroffen, aus welchen vorher die Nerven der grossen Zehe ihren Ursprung genommen, eben die Vorstellung entstehen müssen, welchen entstanden seyn würde, wenn die Nerven der grossen Zehe würcklich gelitten hätten.7®
Ein Phantomschmerz entsteht, wenn die Nerven dort in Schwingung geraten werden, wo früher ein Körperglied gewesen ist, dem deshalb die Empfindung vom Bewußtsein weiterhin zugerechnet wird. Dementsprechend können auch Empfindungen verhindert werden, wenn die neuronale Ubertragung eines Reizes durch Druck oder Abreißen einer Nervenfaser unterbunden wird.
77 78
Ebd. Ebd., S. 90.
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Doch gestehe ich gerne, dass dergleichen eigentlich nicht den Namen einer Empfindung verdienet, wenn man dazu jederzeit einen Gegenstand erfordert, welcher ausser dem Gehirne würcklich ist.75
>EmpfindungenGehirn< stattfinden, weil ihnen ein eindeutig zuweisbares Bezugsobjekt als Reizquelle nicht zugeschrieben werden kann, verdienen diesen Namen nicht unbedingt. In dieser Hinsicht nimmt Krüger Tetens' Definition der Empfindung gewissermaßen vorweg. Ausschließlich psycho-physischen Wechselwirkungen behält er die Bezeichnung einer Empfindung vor. Das Gefühl gilt als eine solche. Es wurde zunächst im Zusammenhang mit der Blutzufuhr in die Herzkammern eingeführt und als Begleiterscheinung einer basalen organischen Operation verstanden. Sodann wurde dem Gefühl die Influxusfünktion zugedacht. Dabei galt es als ein Medium der psycho-physischen Interaktion. Durch die implizite Gleichsetzung mit der Operation der Nerven hat Krüger das Gefühl schließlich als Empfindung und als Bewegung bestimmt. Erst zum Ende dieses Kapitels nimmt seine Untersuchung auch wahrnehmungstheoretische Züge an, welche an die traditionelle Unterscheidung der Sinne und ihre epistemologische Ausrichtung anschließen. In Frage steht hier, wie Wahrnehmungsempfindungen im Bewußtsein ankommen und welche Koordinations- und Abweichungsprozesse dort mit bereits bestehenden Vorstellungen stattfinden: »so werden wir finden, wie sehr sich unser Urtheil in die Empfindungen menget, und macht, daß wir uns die Sachen gantz anders vorstellen, als es geschehen seyn würde, wenn dergleichen Vermischungen der Vernunftschlüsse mit den Empfindungen unterblieben wären.« 8 " Besonders an den optischen Wahrnehmungen läßt sich diese Diskrepanz aufzeigen. Das Auge siehet sich also ausser Stande, die Entfernung auf eine solche Art zu entdecken, wie uns das Gefühl das harte und weiche, der Geschmack das süsse und bittere, und das Gehör den Unterschied der Tone vorstellt. 8 '
Der Gefühlsbegriff wird hier in derselben Weise zur Bezeichnung einer Sinneswahrnehmung gebraucht wie derjenige des >Geschmacks< und >Gehörsharten< und >weichen< Wahrnehmungen. 75 80 81
Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Ebd. 203
Obwohl Krüger hier den Gesichtssinn von allen anderen Sinnen unterscheidet, um dessen Unfähigkeit bei der Einschätzung von Entfernungen zu verdeutlichen, diskutiert er die weiteren Beobachtungen fast ausschließlich anhand der Beziehung zwischen dem Auge und dem Gefühl. Aus der Vielfalt der Sinne greift er im folgenden nur diese beiden heraus und bestätigt, wie schon andere vor ihm, deren enge Allianz. Ich sehe von weiten einen kleinen runden Thurm. Ich gehe hin, ich berühre ihn, und finde, dass es ein grosses viereckigtes Gebäude ist. Sähe ich wohl vorher, das, was ich jetzo fühle? Ich höre eine Kutsche fahren, ich mache das Fenster auf, und sehe sie, ich gehe hin und greiffe sie an. Wie sehr sind hier die Vorstellungen des Gesichtes, Gehöres und Gefühles verschieden!82
Epistemologisch, d. h. im Hinblick auf die >VorstellungenverschiedenBerührung< und durch ein >Greifen< entstehen, qualitativ abweichen. In der obigen Darstellung werden die Wahrnehmungen des Auges und des Gehörs jeweils mit der Gefühlswahrnehmung verglichen, als gälte diese der Beglaubigung und Versicherung. Obwohl alle Empfindungen durch Vibration der Nerven zustande kommen und die Bedeutung der Differenz der Sinne vor der Einsicht, daß sie neuronal erzeugt werden, zu Anfang des Kapitels zurücktrat, wird hier offenbar eine Akzentverschiebung vorgenommen. Krüger argumentiert nun auf der Ebene unterschiedlicher perzeptiver Effekte und ihrer epistemologischen Folgen. In dieser Weise legt er das Gefühl als Nahsinn auf die Funktion eines Korrektivs der Fernsinne Auge und Gehör fest. Zum »Lehrmeister« 8 ' der übrigen Sinne wird es erklärt. Nicht nur in bezug auf den organischen Selbsterhalt des Influxus, sondern auch auf der epistemologischen Ebene der Wahrnehmung leitet das Gefühl die übrigen Sinne somit an. Mag der Sprung in der Bestimmung des Gefühlsbegriffs innerhalb des Kapitels erheblich sein, so sind die beiden Fassungen - als Medium des Influxus und als Sinneswahrnehmung - zumindest darin miteinander kompatibel, daß sie das Gefühl gegenüber entweder anderen organischen Funktionen oder anderen Sinnseindrücken auszeichnen. Krügers Gefühlskonzeption verweist auf den buchstäblich neuralgischen Punkt seiner Influxustheorie. Daran wird nicht nur die herausgehobene Stellung des Gefuhlsbegriffs deutlich, sondern zugleich auch seine defini82 8i
Ebd., S. 95. Ebd., S. 99.
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torische Dehnbarkeit. Jedoch läßt sich diese an allen in dem Kapitel besprochenen Positionen gleichermaßen belegen. Brockes weitet das Bedeutungsspektrum des Gefühls von der bloßen Tastwahrnehmung über die Empfindung der Zärtlichkeit zur sexuellen Reproduktionsbedingung aus. Zugleich bezeichnet er das Gefühl als >Ursprung< und >Ziel< jeder Wahrnehmung. Wenn Meier es mit dem Nervenbau in Beziehung setzt und damit eine Grundlage schafft, auf welcher die Genese aller Empfindungen erklärt wird, bestätigt er Brockes' Deutung. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Wahrnehmungen werden in beiden Fällen zwar aufrechterhalten, gleichwohl aber durch Rückführung auf dieselbe Kategorie funktional und genetisch als Einheit modelliert. Entscheidend ist dabei, daß durch diese Auffassung das Gefühl aus der Unterscheidung mit dem Sehsinn heraustritt. Es wird nicht mehr ausschließlich durch Vergleich mit den Wahrnehmungen des Auges geformt, sondern in gewisser Weise autonomisiert. Derart entfaltet es seine eigene Wahrnehmungsstruktur, in welche schließlich sogar die Eindrücke des Sehsinns einbezogen werden. Diese Autonomisierung geht mit der Verschiebung des Tastorgans von der Hand auf einerseits die mit spezifischen Perzeptoren - >Wärzchen< - versehene Haut, andererseits das Nervensystem einher. Physiologisch ist das Gefühl somit durch eine besondere Nähe zu den Nerven und Nervenenden in den >papillae< der Haut charakterisiert. Aufgrund dieser Engführung werden alle neuronalen Bewegungen als Aktivitäten des Gefühls beschreibbar. Auch deshalb avanciert dieses zu einer übergreifenden funktionalen und genetischen Bedingungskategorie. Dem Gefühl wird auf diese Weise ein Sonderstatus zuteil, insofern es nicht nur auf eine spezifische Empfindung referiert, sondern zugleich auch für die Einheit der perzeptiven Differenz steht. Es wird mithin zweifach kodiert: als Bedingung jeder Wahrnehmung und als eine spezifische Sinneswahrnehmung. In dieser konzeptuellen Doppelung äußert sich die im 18. Jahrhundert virulente semantische Verschiebung des Begriffs. Das bedeutet nicht, daß Meier oder Brockes das Gefühl sowohl im Sinne einer Perzeption als auch im Sinne einer psychologischen Kategorie als innere Empfindung verstehen, wie es nach der späteren semantischen Zuteilung üblich sein wird. In der von ihnen jeweils vorgenommenen Erweiterung des Bedeutungs- und Funktionsraums des Gefühls zeichnet sich jedoch durchaus eine Tendenz ab, welche dieser semantischen Umorientierung korrespondiert oder zumindest auf sie hindeutet. Daß dem Gefühlsbegriff in einzelnen Texten ein solch breites Bedeutungsspektrum zugewiesen wird und er über die bloße Tastwahrnehmung hinausgeht, gilt demnach als Beleg dieser allgemeinen semantischen Veränderung. Hervorzuheben ist in dem Zusammenhang auch die psycho-physiologische Schnittstelle des Gefühls, welche bereits in Ansätzen von Brockes, 205
signifikanter aber von Meier reflektiert wird. In Krügers Position wird sie schließlich besonders wichtig, bringt er doch zwei Konzepte in Anschlag, wenn er das Gefühl einerseits als Sinneswahrnehmung und andererseits als Verbindungsmedium des psycho-physischen Influxus behandelt. Da Krüger beide Bedeutungen weder systematisch voneinander abgrenzt noch ihre interne Beziehung präzise benennt, entsteht der Eindruck, als bildeten sie unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens. Die sinnliche Wahrnehmung des Tastens und die Indikation der lebenserhaltenden Zufuhrung des Blutes ins Herz werden gleichermaßen als Leistungen des Gefühls verbucht. So setzt Krüger dieses besonders im zweiten Fall in eine enge Beziehung zum organischen Leben, wie er das organische Leben umgekehrt unmittelbar mit der Wahrnehmung des Gefühls zusammendenkt. Vor allem aber obliegt es dem Gefühl nach dieser Auffassung, zwischen den leiblichen und psychischen Operationen eines Organismus zu vermitteln: eine Vermittlung, welche allerdings erst durch seine Spaltung in zwei Konzepte — worin sich zugleich die semantische Verschiebung abzeichnet - ermöglicht wird.
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V. (Be) R ü h r u n g e n und Ergreifungen
ι. Rührungspoetik: Breitinger, Bodmer »Hertzrührende Schreibart« Dem Gefühl als innere Regung korrespondiert in der Poetik der Frühaufklärung der Begriff der >RührungRührung< auf ein seelisches Geschehen, welches von den physischen Ereignissen funktional unabhängig gedacht wird: als eine Erregung, die allein im Gemüt stattfindet." Dabei referiert auch sie letztlich auf den Tastsinn, indem Rührung sich von diesem herleitet, wie das Grimmsche Wörterbuch unter dem Lemma verzeichnet. So heißt es dort: »verbal-substantiv rühren [...], das [...] im eigentlichen und übertragenem sinne gebraucht wird. [...] im eigentlichen, mehr körperlichen sinne, in älterer spräche und mundartlich, der tastsinn«.2 Bevor mit Hilfe des Gefühlsbegriffs subjektive seelische Prozesse angezeigt und als eine eigendeterminierte Operation zum Ausdruck gebracht werden konnten, diente der Rührungsbegriff der Bestimmung seelischer Bewegtheit. 3 Obgleich ihm die semantische Wurzel des >Tastens< ' Historisch läßt sich diese Deutung des Begriffs auf Du Bos zurückführen: »So stellt Du Bos dem von der >ratio< kontrollierten Geschmacksbegriff eine Konzeption gegenüber, die statt dessen den spontanen Eindruck des schönen Gegenstandes thematisiert und deshalb nicht mehr in der Konventionalität des >goütsentiment< einen Maßstab sieht, der den als Einheit gedachten Kreis der Rezipierenden zu spontaner Urteilsbildung nach dem Grad der Rührung befähigt, den das Kunstwerk auslöst.« (Friedhelm Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder, Stuttgart 1990, S. 87) Festzuhalten ist zudem, daß zwar eine funktionale Unabhängigkeit zwischen der Rührung als einem bestimmten seelischen Zustand und den physischen Prozessen vorausgesetzt wird, gleichwohl können insbesondere übertriebene Empfindungsintensitäten durchaus physische Symptome erzeugen. ' J a c o b und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1 9 1 1 , Sp. 1473. ' So bereits Wolfgang Bender in seiner Bestimmung der Poetiken von Bodmer und Breitinger: »Wir gehen nicht fehl, wenn wir ζ. B. in der Lehre von der Rührung und Erregung des Leser- und Dichtergemüts, in der Wiederaufnahme des >mo-
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mehr oder weniger sichtbar - eingeschrieben war, bezeichnete er seelische Ereignisse, deren Zustandekommen auf eine physische Reizung >im eigentlichen Sinne< nicht angewiesen war. Nach Johann Nicolas Tetens' Differenzierung gilt Rührung als Ergebnis einer nicht gleichgültigen Empfindung. »Wenn diese nicht zu den gleichgültigen gehöret, wenn sie afficiret, wenn sie uns gefällt oder mißfällt, so ist sie, von dieser Seite betrachtet, was nach dem gewöhnlichsten Gebrauch des Worts Empfindniß oder eine Rührung genennet wird.« 4 Die hier vorgenommene, auf die Unterscheidung zwischen >gefallen< und >mißfallen< hinzielende und mithin auf ein Urteil des Geschmacksvermögens verweisende Definition ist allgemein angelegt, schließt sie doch ästhetische ebenso wie nicht ästhetische Empfindungen ein. Im Kontext poetologischer Reflexion muß hingegen die spezifische Kommunikationsform, in deren Medium >rührende< Rede zu erfolgen habe, eine besondere Berücksichtigung erfahren. Es gilt daher zu klären, wie ein >willkürliches< Zeichen, d. h. ein Wort, eine Textstelle, einen rührenden Eindruck hervorrufen können, wie es ihnen also überhaupt möglich ist, eine emotionale Wirkung seitens des Lesers zu veranlassen.' Zwar wird bei der Lektüre eines poetischen Werks nicht nur eine Realempfindung durch eine lediglich vorgestellte substituiert, sondern damit zusammenhängend - auch ein unmittelbarer Körperkontakt mit dem Auslöser der Empfindung übersprungen, insofern die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens aufgrund seiner >willkürlichen< Verfaßtheit sofort in die Seele bzw. die Einbildungskraft, wo es seine Wirkung erst entfaltet, eindringt. Es rührt mithin ausschließlich imaginär. Dennoch wird im Zuge dieser Rührungsästhetik auch die Konzeption der Zeichen selbst mit einer besonderen Aufmerksamkeit bedacht. An Breitingers poetologischen Ausfuhrungen soll in diesem Sinne veranschaulicht werden, in welchem Maße der >Sprachkörper< in den Blick rückt und damit die Sprache durchaus in ihrer materiell-taktilen Dimension offenlegt, wenn sie erfolgreich als Instrument der Gemütserregung gebraucht werden soll, bevor im zweiten Teil dieses Kapitels der Frage nachgegangen wird, wie Lessing die Rührungsfähigkeit der Sprache versteht. Dabei wird in beiden Fällen nicht an dem
vere< und >docere< der Rhetorik - bei den Schweizern lag dann freilich der Hauptakzent auf dem >movere< - erste Ansätze und die Voraussetzung für die Subjektivierung der Kunst sehen mit ihrer Hinwendung zu Gefühls- und Bewußtseinsvorgängen« (Wolfgang Bender, J . J . Bodmer und J . J . Breitinger, Stuttgart 1973, S. 94). 4 Johann Nicolas Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Erster Band, Leipzig 1777, S. 167. ' Siehe zu Tetens' ästhetischer Unterscheidung der Empfindungen Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft [1923], Darmstadt 1967, S. 138. 208
willkürlichen Verhältnis zwischen dem Zeichen und seiner jeweiligen Bedeutung gezweifelt.6 Vielmehr wird unter seiner Voraussetzung daran gearbeitet, die der Sprachstruktur sowie ihren einzelnen Elementen immanente affektive Disposition hervorzukehren und unter deren Prämisse die kommunikative Effizienz zu beleuchten. Sprache wird auf ihre Funktion als poetisches Mitteilungsinstrument reflektiert und darauf hin geprüft, in welcher Weise sie den Ausdruck der Rührung sowohl ermöglicht als auch konditioniert.7 In der Critischen Dichtkunst von 1740 geht Johann Jacob Breitinger dem Zusammenhang zwischen Sprache und Rührung systematisch nach.8 Im Zentrum seiner poetologischen Abhandlung steht sowohl die Frage nach der Herstellung von Texten, welche die Qualität der Rührung annehmen können, als auch, ob und wie diese Qualität auf den Leser wirkungspoetisch übertragbar ist. Als Ausgangspunkt dient dabei eine allgemeine Anthropologie seelischer Bewegung: Auf diesen Grund sah man sich einen neuen Eingang in das Hertz des Menschen geöffnet, und man lernete gleich aus der Erfahrung, daß die Vorstellung abgezogener Wahrheiten unter sinnlichen Bildern und Gleichnissen, durch ähnliche Beyspiele, durch die Fabel und Dichtung, mit einem empfindlichen Ergetzen auf das menschliche Gemüthe eindringet, und dasselbe mit solcher Gewalt rühret, daß es ihr nicht leicht widerstehen mag [...].9
Abstrakte Wahrheiten müssen in >sinnliche Bilder, Gleichnisse, Beispiele, Fabeln und Dichtungendas menschliche Gemüt einzudringen und es mit Gewalt zu rührennatürlichen< und >willkürlichen< Zeichen findet sich bereits bei Jean Baptiste Dubos in dessen Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture (1719) sowie in John Harris' Discourse on Music, Painting and Poetry (1744) und wird schließlich auch von Lessing im Laokoon in Anschlag gebracht. 7 In diesem Zusammenhang hebt Uwe Möller die Bedeutung des figürlichen Sprachstils, gleichsam als Kompensation der Arbitrarität, hervor: »Der figürliche Sprachstil ist insofern eine Steigerung der eigentlichen, natürlichen Ausdrucksweise, als mit Hilfe der tropischen Substitution eine notwendige Beziehung zwischen dem sprachlichen Zeichen und dem Bedeutungsinhalt an die Stelle der sonst üblichen arbiträren Beziehung tritt.« (Uwe Möller, Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier, München 198}, S. 57) 8 In der Studie von Caroline Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, kommen Breitinger und Bodmer als Vertreter der Rührungspoetik nicht vor. 5 Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, hg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle, Stuttgart 1966, S. 8.
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Rhetorik werden hier besondere >sinnliche< Mittel erwogen, welche den >Wahrheiten< überzustreifen sind, damit diese wirksamer vermittelt werden können. Die Vorstellung basiert auf der Annahme, daß der Idee ein sinnlicher Körper nach dem Schema der Einkleidung verliehen werden muß.'° Die rhetorischen Maßnahmen können aber nur unter der Bedingung didaktisch erfolgreich funktionalisiert werden," daß sie in Ubereinstimmung mit der Psychologie erfolgen und auf eine spezifische Grundstruktur der menschlichen Seele antworten: Das »menschliche Gemüthe« ist nämlich »gern immer rege und in Bewegung«.' 2 Deshalb, wie es an einer anderen Stelle heißt, ist »es eine leichtere Arbeit [...], die Gemüthes=Leidenschaften in uns wache zu machen und in Bewegung zu bringen, als dieselben zu unterdrücken, und zu bezähmen.«' 5 Das in dieser Schrift dargelegte Programm wird anthropologisch als eine Art kaum zu bezwingendes Bedürfnis nach innerer Bewegtheit und Erregung fundiert, welchem die Poetik nachzugeben hat, das sie sich aber auch zunutze machen kann. Aus dieser Grundentscheidung speist sich die Legitimation folgender Überlegungen.' 4 Die Art und Weise, wie Rührung hier beschrieben und im Verlauf der Argumentation weiterentwickelt wird, als ein >gewaltsames Eindringen, dem nicht leicht zu widerstehen ist< nämlich, weist eine unverkennbare sublime Konnotation auf.' 5 Aus einer sich nahezu schmerzhaft gestaltenden Intensität, die die Seele okkupiert, sich ihrer bemächtigt und sie daher auch entmachtet, wird jedoch innerhalb nur weniger Jahre ein emotional deutlich abgemilderteres Stilmerkmal.' 6 Rührung wird in der zweiten Hälfte des Siehe dazu, wenngleich mit anderer Ausrichtung, auch den Bodmer-Exkurs im Kap. I. " Diese Bedingung wird programmatisch bereits zwei Seiten zuvor formuliert: »Da die Wahrheit, die von den Weltweisen mittelst tiefen Nachsinnens erkannt worden, für die groben Sinnen der meisten Menschen ungeschmackt ist, und keinen Eindruck auf sie machet, müssen sie solche nach dem Geschmacke der mehrern zubereiten, auf daß sie allgemein werde« (Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 6). 12 Ebd., S. 8. " E b d . , S. 361. 14 Entscheidend ist dabei, daß die Entstehung der Rührung weniger an bestimmte Gegenstände als an die Modi der Präsentation geknüpft wird, worauf Jochen Vogt verweist, wenn er zusammenfaßt: »Rührung ist [...] ambivalent, inhaltlich nicht definiert.« (Jochen Vogt, Gerührt, nicht geschüttelt. Zur Ehrenrettung einer heruntergekommenen Kategorie, in: Gert Theile [Hg.], Das Schöne und das Triviale, München 2003, S. 63-78, hier S. 66) '' Vgl. dazu mit Bezug auf Bodmer Marilyn K . Torbruegge, Johann Heinrich Füßli und »Bodmer-Longinus«. Das Wunderbare und das Erhabene, in: DVjs 46 (1972), S. 1 6 1 - 1 8 5 . Siehe dazu auch Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, S. ij6f. Zelle geht hier vor allem auf Breitingers Unterscheidung zwischen »ergötzender« und »herzrührender« Kunst ein. '6 Sauder spricht in diesem Zusammenhang vom »Programm empfindsamer Diäte210
18. Jahrhunderts, nachdem sich in der Semantik der Psychologie und Ästhetik die Gefüihlskategorie durchgesetzt hat, nur noch als sanfte Regung verstanden, wie in Johann George Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste in dem entsprechenden Eintrag exemplarisch nachzulesen: Eigentlich wird alles, was leidenschaftliche E m p f i n d u n g erweckt, rührend genennt [...]; hier aber halten wir uns bey der besondern Bedeutung desselben auf, nach welcher es blos von dem genommen wird, was sanft eindringende und stillere Leidenschaften, Zärtlichkeit, stille Traurigkeit, sanfte Freude u. d. gl. erwecket. Denn in diesem Sinne wird es genommen, wenn man von Gedichten, v o n A u f tritten, von Geschichten sagt, sie seyen rührend. 17
Sulzer behandelt die Rührung als bloßes Attribut - >rührend< welches auf unterschiedliche Kunstarten angewandt werden kann. Anders als Breitingers Anspruch auf eine Neubestimmung und Etablierung als poetischer Grundbegriff faßt Sulzers Darstellung vor allem zusammen, was als allgemeingültiges konsensuelles Verständnis des Begriffs gilt. Er rekonstruiert die charakteristischen Züge: >Denn in diesem Sinne wird es genommenrührend< aufgefaßt, >was leidenschaftliche Empfindungen erweckte Zumindest in dieser Hinsicht ist sein Verständnis kompatibel mit Breitingers Auffassung. Als hätte ihr aber die Einbürgerung in den Katalog poetischer Grundbegriffe ihre >Gewalt< genommen, als hätte sie sie abgestumpft und besänftigt, heißt es über Rührung im >besonderensanfte< und >stillere< Leidenschaften. Die Heftigkeit der ihr von Breitinger zugeschriebenen Erregungskraft ist hier auf ein wesentlich kleineres Maß zurückgestuft. Im Bereich der Kunst, und auf diesen konzentriert sich Sulzers Bestimmung, steht sie nunmehr für eine affektiv eher verhaltene Wirkung. 18 Zur weiteren Spezifikation nimmt Sulzer eine Abgrenzung von außen vor. Anstatt sie von anderen poetischen oder rhetorischen Stilmitteln ästhetikintern zu unterscheiden, kontrastiert er innerhalb der Sprache die >rührende< der >kalten< Rede-, Schreib- und Beobachtungsweise, wie sie die Philosophie und Dialektik kennzeichnet. Zur Veranschaulichung wählt er das Motiv des Vergrößerungsglases.
tik« und siedelt sie zeitlich am E n d e des 18. Jahrhunderts an. (Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. i: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, S. 1 3 3 ) 17 Johann G e o r g e Sulzer, »Rührend. (Schöne Künste)« in: ders., Allgemeine Theorie der schönen Künste. Dritter Theil, Reprografischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage, Leipzig 1793, S. 1 2 1 . Z u r Bedeutung der Rührung in Sulzers Werk unter dem Gesichtspunkt seiner Theorie der Empfindungen siehe die instruktiven Ausführungen von Torra-Mattenklott, Metaphorologie der Rührung, S. 227ff.
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Der kalte Philosoph, der alles auf das genaueste sieht, und der subtile Dialektiker, der die feinesten Schattirungen der Begriffe bemerkt, als ob er durch ein Vergrösserungsglas sähe, schiken sich am wenigsten hiezu; man lernt von ihnen blos genau sehen, nicht empfinden.' 9
>Kalte Philosophie< wie >subtile Dialektik< gelten als Ausschlußkriterien der >RührungSie schicken sich am wenigsten hierzuSehenskalten< Beobachtens, aber ohne jede Bedeutung für das >Empfinden< ist. Zugleich hält Sulzer an anderer Stelle durchaus fest, daß auch der »rührende Redner [...] richtig« sehen kann, und weiter: »nur mit einem Blick entdeket er die wahre Beschaffenheit einer Sache ohne Zergliedern und ohne subtiles Forschen«." >Rührende< schöne Künste auf der einen und Philosophie bzw. Dialektik auf der anderen Seite konstituieren mithin zwei Sichtweisen, die dennoch dasselbe Anrecht auf >Richtigkeit< und >Wahrhaftigkeit< haben, jedoch hinsichtlich der Genauigkeit gegenüber dem Bezugsgegenstand entschieden voneinander abweichen. Das Vergrößerungsglas gilt dabei als Modell der Genauigkeit, mit welchem eine der Empfindung entgegengesetzte Bestimmung anvisiert wird. Breitinger hingegen behandelt in seiner Typologie »hertzrührender Schreibarten« die »Vergrösserung« als eine spezifische Variante dieses poetischen Verfahrens. Ihre Funktion liegt gerade im Aufweis und in der Erzeugung gesteigerter Leidenschaft. Sie steht für eine rhetorische und stilistische Operation, deren Material die Sprache ist. Daß sich die Beschreibung dieser »Vergrösserung« auch an der instrumenteil hergestellten Vergrößerung mittels optischer Geräte orientiert, läßt sich in den nachstehenden Zitaten erkennen. Innerhalb der typologischen Reihe wird diese Variante zuletzt genannt, weil sie die ausdrucksstärkste Form der Rührung bildet: Ein anders Symptoma der Leidenschaften ist, daß sie die Sachen nicht nach ihrem wahren Maasse, sondern entweder grösser oder kleiner, als sie einem ruhigen Gemüthe vorkommen würden, betrachten; dahero sie sich auch in Vorstellung ihrer Begriffe immer der Vergrösserung bedienen; und aus Furcht zu wenig zu sagen, die Sachen zuweilen bis zu dem Unwahrscheinlichen erhöhen. 2 '
Wo Sulzer in der Vergrößerung als Grundlage der Genauigkeit einen zergliedernden philosophischen Blick fesdegt und der >rührenden< Rede kontrastiert, macht Breitinger den äußersten Grad >herzrührender Schreibart aus, indem er in der Vergrößerung ein Höchst- oder sogar Ubermaß an Wirksamkeit veranschlagt. Ein wichtiges Mittel zur Ermöglichung der Rüh"' Sulzer, »Rührend. (Schöne Künste)«, S. 126. Ebd. 11 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 377. 20
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rung liegt nämlich in der Veränderung der Größenordnungen. Nicht die >wahren Maße< der Dinge sind dazu angetan, das Gemüt zu erregen. Nur wenn sie entweder verkleinert oder vergrößert werden, können sie eine solche Wirkung hervorrufen. Dabei ist hier, anders als bei Sulzer, von Zu- oder Abnahme der Genauigkeit keine Rede. Dieses Kriterium spielt keine Rolle, weil nicht auf dem Verhältnis zwischen dem Beschriebenen und der Angemessenheit seiner Beschreibung das Augenmerk liegt, also auf der Frage, inwiefern die Gegenstände ihnen gerecht wiedergegeben sind. Der Akzent liegt vielmehr auf dem Ausdruck des beschreibenden Subjekts und dessen Mitteilungsabsicht. So dient die >Vergrößerung< bei Sulzer der Freilegung eines Detailreichtums, das jede Empfindung zerstreut, will man es deskriptiv und explikativ einholen, sie unterstellt zugleich, daß >rührende< Reden und Texte detailarm sind. Die >Vergrößerung< steht aber auch, wie bei Breitinger, für die Veranschaulichung eines Ausdrucks intensiver Rührung. Im ersten Fall verlangt die mittels eines Vergrößerungsglases modellierte Sichtbarkeit dem Beobachter eine Distanz der Beschreibung ab, um nicht in der kleinteiligen Fülle die Orientierung zu verlieren, weshalb hier der differenzierende Blick eine der Empfindung entgegenwirkende Maßnahme darstellt. Im zweiten Fall hebt Breitinger demgegenüber hervor, daß die stilistische Vergrößerung aus >Furcht< vorgenommen wird, >zu wenig zu sagen< und den emotionalen Erregungsgrad daher zu verfehlen: auch eine Maßnahme, jedoch nicht, um den Sachbezug diesem angemessen wahrzunehmen und wiederzugeben, sondern um die Empfindung des Sprechers im Verhältnis auf eben diesen Sachbezug so mitzuteilen, daß der Adressat davon berührt werden, sie also in ihrer emotionalen Beschaffenheit nachvollziehen kann. Wenn >Vergrößerung< der >Furcht, zu wenig zu sagenUnwahrscheinlichkeit< verändern. Dies ist zulässig, insofern sich ihr Erfolg primär an der Auskunft bemißt, die sie über die Gemütsverfassung des Sprechers erteilt, sei es auch nur im Hinblick darauf, daß er sich vor der Untertreibung fürchtet. Ihre Ausdrucksfunktion konstituiert sich somit in Beziehung auf das Subjekt der Aussage und von dort aus auch hinsichtlich der Adressatenwirkung. Als Maßstab, von welchem aus Über- und Untertreibungen abgestuft werden, als Nullpunkt dieser Skala, fungiert das >ruhige GemütErhitzung< steht daher im Fokus der >herzrührenden Schreibart: Es sind aber vielerley Arten der Vergrösserung, wodurch ein erhiztes Gemüthe seinem Ausdruck ein recht wunderbares Ansehen mittheilen kann."
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Ebd. "3
Die Begriffe, die Breitinger hier verwendet, lassen sich auch mit der Rhetorik der Mikroskopie zusammenlesen. Ohne diese explizit anzusprechen, klingt sie in der Verbindung der >Vergrößerung< mit dem rhetorischen Topos des >wunderbaren Ansehens< dennoch durchaus deutlich an. So fuhrt Breitinger gleichsam im Umkehrschluß vor, daß die Beschreibung mikroskopischer Sichtbarkeit auch das stilistische Register >herzrührender Schreibart zieht. Was die Naturforschung mit Hilfe optischer Instrumente zu Tage fördert und als Material für zergliedernde Detailbeobachtung nutzt, durchläuft zuvor ein Stadium, welches mit dem poetologischen Ausdruck des >UnwahrscheinlichenMitteilung des Wunderbarem gelesen werden kann, sofern es die emotive Haltung des Beobachters in der >Verwunderung< betrifft. Für die Mikroskopie kann dieses Stadium jedoch nur einen Ausgangspunkt, einen transitorischen Stellenwert bilden, welcher in wissenschaftlich nachprüfbare Bestimmungen und damit in eine die Ubersicht bewahrende Detailgenauigkeit überleiten muß. In der Dichtung hingegen beansprucht die >Mitteilung des Wunderbarem einen affektiven Eigenwert. Entscheidend ist hierbei auch, daß Breitinger gegenüber Descartes den Begriff der Bewunderung anders auslegt, wenn er ihn aus der Kennzeichnung als Zustand eines emotionalen Stillstands herausführt 23 und dazu asymmetrisch - als emotionale Bewegung umkodiert.
Gegen die grammatische Sprachordnung Breitinger hält fest, daß die >herzrührende Schreibart »nicht stille stehet, sondern geraden Wegs auf die Bewegung des Hertzens losgehet.« 24 Sie ist somit extrem mobil. Rührung und >Bewegung< — das rhetorische >movere< - werden so in ihrer Äquivalenz faßbar, die auch darin besteht, daß ihr gemeinsamer Adressat das Herz, die Empfindung ist. Eine derart ausgerichtete Schreibart, heißt es anschließend, erweiset ihre Kraft damit, daß sie uns nöthiget, an den vorgestellten fremden Handlungen und Angelegenheiten, als Menschen von gleicher Natur Theil zu nehmen, und durch die Gemeinschaft eben derselben innigen Rührungen für ihr Wohl nicht weniger besorget und unruhig zu seyn, als für unser eigenes [...].''
Diese >Schreibart< übt auf den Leser einen Zwang aus; sie >nötigt uns, an den vorgestellten Handlungen und Angelegenheiten teilzunehmen^ was bedeutet, daß wir uns in die vor- und dargestellten Figuren einfühlen und sie, dies ist hervorzuheben, >als Menschen von gleicher Natur< erkennen. Ein 23 24 25
Vgl. dazu Kap. II. Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 353. Ebd.
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imaginäres Hineinschlüpfen des Rezipienten in die Position der literarischen Figur und damit zugleich auch - was sich im Verlauf der Argumentation herauskristallisieren wird - des Verfassers findet statt. Was hier als poetische Rührung klassifiziert wird, gibt die Kontur des Mitleidsverständnisses vor, wie es sich in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments für das 18. Jahrhundert kanonisch formuliert findet. Die in der Einbildung vorgenommene Einsicht in die natürliche Gleichheit verweist auf die Möglichkeit einer ethischen >GemeinschaftWohl< der Figuren >nicht weniger besorgt und unruhig, als um unser eigenesherzrührender Schreibart< gegenseitig. Im Moment dieser Annäherung, in der imaginären Verschmelzung beider Positionen, liegt nicht zuletzt auch der Grund für Sulzers Charakteristik der Rührung in Abgrenzung zur >kaltengerührt< werden soll. Die ethische Dimension 27 dieses Konzepts beruht dabei auf einem nicht nur psychologisch disponierten Prinzip: demjenigen der Em- bzw. Sympathie.28 26
Als Einswerden mit der Identifikationsfigur beschreibt Smith diesen Vorgang. E r hebt jedoch zugleich den Intensitätsverlust hervor, welcher sich in der Phantasie gegenüber der Realempfindung ereignet: »Vermöge der Einbildungskraft versetzen wir uns in seine [unseres eigenen Bruders auf der Folterbank, Ν. B.] Lage, mit ihrer Hilfe stellen wir uns vor, daß wir selbst die gleichen Martern erlitten wie er, in unserer Phantasie treten wir gleichsam in seinen Körper ein und werden gewissermaßen eine Person mit ihm; von diesem Standpunkt aus bilden wir uns eine Vorstellung von seinen Empfindungen und erleben sogar selbst gewisse Gefühle, die zwar dem Grade nach schwächer, der Art nach aber den seinigen nicht ganz unähnlich sind.« (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle [1759], nach der Auflage letzter Hand übers, und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern hg. von Walther Eckstein, Hamburg 1994, S. 2)
27
Leidenschaften bzw. »Affekte« werden von ihm moralisch festgeschrieben, indem Breitinger sie als Modifikation »des Guten und des Bösen« bestimmt: »Wer die Natur des Menschen kennet, dem ist unverborgen, daß die Affecten [...] nichts anders sind, als eine undeutliche Vorstellung des Guten und des Bösen« (Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 362). 28 Siehe dazu Joseph Vogls auf die sozialpolitische und ökonomische Dimension des
"5
Breitinger geht dem Zusammenhang unter stilistischen Gesichtspunkten nach. Er befragt den sprachlichen Ausdruck im Hinblick auf seine Möglichkeiten, eine solche Anteilnahme zu evozieren. Wie kann es einem Verfasser mit Hilfe der Sprache bzw. Schrift gelingen, den Leser derart in seine >Gewalt< zu nehmen, daß dieser sich mit dem geschilderten Geschehen gleichsam verbunden und verschmolzen glaubt, daß er sich als Teil des Ereignisses empfindet? Er muß, so die Antwort, gegen die etablierten Regeln der Sprache verstoßen. Breitingers Poetik >herzrührender Schreibart fordert daher eine Kommunikation, welche sich in der Suspension der >gesetzten< grammatischen und rhetorischen Regelhaftigkeit ereignen soll. Die Eigenschaft dieser Sprache bestehet demnach darinnen, daß sie in der A n o r d nung ihres Vortrags, in der Verbindung und Zusammensetzung der Wörter und Redensarten, und in der Einrichtung der Rede-Sätze sich an kein grammatisches Gesetze, oder logicalische Ordnung, die ein gesezteres Gemüthe erfordern, bindet; sondern der Rede eine solche A r t der Verbindung, der Zusammenordnung, und einen solchen Schwung giebt, wie es die raschen Vorstellungen einer durch die Wuth der Leidenschaften auf einem gewissen Grad erhizten Phantasie erheischen
Die Abweichung von >grammatischen und logischen Gesetzen< und damit derjenigen Sprachordnung, welche als Repräsentation einer >gesetzten< Gemütsverfassung gilt, dient als Brücke zum Ubergang in den Bereich der >LeidenschaftenVerbindung< ihrer Elemente soll der Sprache der >Schwung< verliehen werden, welchen die >erhitzte Phantasie* benötigt. Diese ist demnach nicht prinzipiell vom sprachlichen Ausdruck ausgeschlossen. Gleichwohl aber muß die Sprache ihrer gewohnten Struktur erst entrissen werden, soll sie Leidenschaften mitteilen, mehr noch erregen können. Dieses poetologische Anliegen versucht - in Begriffe der Systemtheorie übersetzt - , kommunikative Prozesse zur Herstellung einer affektiven Interaktion zu nutzen, also die Operationen der Kommunikation und des Bewußtseins miteinander zu synchronisieren.' 0
Ansatzes abzielende Lektüre: »[D]ie Theorie der Sympathie bei Smith lässt sich als Modell begreifen, das Unordnung und Kontingenz in den A u f b a u sozialer Ordnung integriert und sich deren Steuerung noch in der Erfahrung der Akteure mit einer A r t Einfühlung in die Welt der Z u - und Unfälle versichert - man könnte auch sagen: als ein erstes Modell, das Morallehre und Psychologie auf den Stand indirekter Regierungsprinzipien und einer >Vorsorgegesellschaft< zu heben vermag.« (Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 90) 29
Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 354.
30
Siehe zu den Problemen einer solchen, zwei geschlossene Systeme betreffenden K o p p l u n g unter dem Begriff der »Interpenetration« Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [1984], Frankfurt am Main 1987 S. 286ff. sowie unter dem Begriff der »strukturellen Kopplung« Niklas Luhmann,
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Woher mag diese hertzrührende K r a f t ihrer Wohlredenheit kommen? Unstreitig daher, weil sie das Hertz reden lassen, und sich dem ungestümen Triebe ihrer Neigungen gäntzlich ergeben.' 1
Einmal mehr werden Kategorien des Erhabenen - >Kraftungestüme Triebe< und >gänzliche Ergebenheit - herangezogen, um die Konstitution dieser Sprachordnung zu umschreiben. Sie unterliegt nicht der logischen Intellektualität, sondern den Leidenschaften, unter deren Leitung allein die Kommunikation eine empathische > Gemeinschaft installieren kann. Festigt die logische Ordnung bildungs- und kulturbedingte Grenzen,' 2 so werden diese von den Leidenschaften, die allen Menschen »von Natur aus« gleichermaßen zuteil sind, übersprungen bzw. nivelliert. Die Sprache ihrer logisch-grammatischen Ordnung zu entwinden, bedeutet deshalb auch, sie in ihrer differenzerzeugenden und -affirmierenden Wirkung zu beschneiden. Die Natur ist demnach die Lehrmeisterinn, bey welcher man in die Schule gehen muß, wenn man diese natürliche Sprache erlernen will; und man kann demjenigen, der sich geschickt machen will, die Leidenschaften in der natürlichen A r t ihres Ausdruckes so glücklich nachzuahmen, daß man die Kunst der Verstellung nicht leicht mercken soll, keinen bessern Rath ertheilen, als daß er sich bemühen solle, diejenigen Leidenschaften selbst anzunehmen und in seinem Hertzen rege zu machen, deren eigene Sprache er zu reden gedencket."
Unter das Gebot der Invisibilisierung wird hier die geforderte und in ihrer Formulierung paradox anmutende >Kunst der Verstellung< gesetzt. Als solche wird sie gewissermaßen gegen sich selbst gerichtet. Damit stößt die Rhetorik zwar an ihre Grenzen, jedoch wird sie nicht grundsätzlich in Frage stellt. Deutlich geht aus dem zitierten Passus vielmehr hervor, daß nicht ein unmittelbarer Ausdruck der Leidenschaften, sondern deren von der Redekunst erbrachte Vermittlung und Erzeugung die Rührungspoetik bestimmen: Leidenschaften als rhetorisches Konstrukt. Entworfen wird daher eine Technik, mit deren Hilfe der >natürliche Ausdruck< der Leidenschaften wirksam, d. h. auf den Adressaten angemessen abgestimmt, >nachgeahmt< werden soll. Ziel ist aber, diese >Verstellungleicht merken< zu lassen. Wenn schließlich aber auch die These vertreten wird, >herzrührende Schreibart lasse sich effizient nur unter der Voraussetzung realisieren, daß die dafür notwendigen >Leidenschaften< vom Verfasser >selbst angenommen und im eigenen Herzen rege gemacht Werdern, so handelt es sich an dieser Stelle um eine Art Übertretung oder Die Gesellschaft der Gesellschaft. Erster Teilband, Frankfurt am Main
1997,
S. 9 2 f f . Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 356. Denn die somit anvisierte Kommunikation generalisiert, indem sie die Grenzen der Kultur und Bildung überschreitet. D a s A r g u m e n t findet sich in ebd., S. 3 5 ; . » E b d . , S. 356.
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Überschreitung des ausschließlich rhetorisch verstandenen Geltungsbereichs. Der Erfolg der rührenden Kommunikation wird nämlich an der tatsächlichen Empfmdungsfahigkeit des Verfassers - und nicht seiner >Verstellung< - festgemacht, welcher seinerseits in den literarischen Figuren seinen Empfindungen Ausdruck verleihen kann. Der Verfasser als Subjekt der Aussage transmutiert gewissermaßen in die dargestellte Figur und rührt mit deren Hilfe das Gemüt des Lesers. Daran anknüpfend, rückt Breitinger im weiteren Verlauf den Aspekt der Authentifizierung der Rede zunehmend in den Blick. Nachdem er den rhetorischen Rahmen seiner Überlegungen pointiert hat, schiebt er ihn nun in den Hintergrund, als gebe er allmählich seine Relevanz auf. [W]enn die Leidenschaft nicht in dem Hertzen brennet, so ist es gantz unmöglich, das rechte Maaß zu treffen; man wird immer mit kaltsinnigen Hertzen von dem wahren Maaße der Natur abweichen, die unnatürliche und gekünstelte Verstellung wird sich selbst verrathen, und an statt zu bewegen, lächerlich werden.' 4
Hier geht es nicht mehr um die Perfektionierung der >Kunst der Verstellung^ sondern umgekehrt um die Abhängigkeit der >Schreibart< von der natürlichen Empfindung. Wird diese nämlich nur vorgetäuscht, >so ist es unmöglich*, sie überzeugend einzusetzen: Die >gekünstelte Verstellung wird sich selbst verraten*. Sie ist dann keine >Kunst< mehr, sondern bloße >Künstlichkeitlächerlich< wirkt. Daraus folgt für die Poetik insgesamt, daß sie zwar rhetorische Figuren unterscheiden und ihre Regeln anwenden können muß, daß die >herzrührende Schreibart* in diesem Sinne auch lehr- und lernbar ist. Jedoch hängt ihr Überzeugungsgrad letztlich von der Empfindungsfähigkeit und -kenntnis des Sprechers bzw. Verfassers ab." Das Studium rhetorischer Mittel impliziert deshalb das Studium »d[er] Natur, Beschaffenheit, und Sjmptomata der Gemüthes=Leidenschaften überhaupt«.' 6 Erst diese zur Deckung gebrachte Doppelkompetenz ermöglicht die hier verhandelte >herzrührende Schreibart*. Rhetorik, Grammatik und die gesamte >logische< Ordnung der Sprache müssen, so Breitinger, anthropologisch zurückgeführt und durch Selbsterlebtes gestützt werden.' 7 >4 Ebd., S. 368. " Dagegen Hans Peter Herrmann: »Von den >Discoursen< an durch alle Werke hindurch lehnen die Schweizer die Erregung von Leidenschaften durch gekonnte rhetorische Mittel ab und verlangen, daß der Poet sich selber unmittelbar in den Zustand des Affektes versetzt, den er darstellen will« (Hans Peter Herrmann, Nachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970, S. 173). Die obige Darstellung zeigt, daß der Sachverhalt komplexer ist und der Konflikt zwischen Rhetorik und Erleben sich nicht zugunsten einer der beiden Komponenten lösen läßt. 36 Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 371. 57 Breitinger bestätigt seine anthropologischen Beobachtungen jedoch immer im Rückgriff auf die poetologische Tradition ζ. B. Longins. 218
Aber die Sprache, als kulturell entwickelte Technik, auf ihren affektiven Ausdruckswert zurückzubeziehen bedeutet, sie gegen ihre grammatische und logische Struktur, in welcher sich eben diese kulturelle Determination repräsentiert, zu wenden, indem sie die gewöhnlichen Verbindungs—Wörter, womit die Theile eines gantzen Rede=Satzes ordentlich verknüpft werden, wegläßt, weil sie ihrer hitzigen Begierde im Wege stehen, und sich also nur in abgeschnittenen Sätzen erkläret.' 8
Der grammatischen Sprachanordnung muß, parallel zur affektiven Wirkung der >herzrührenden Schreibart auf den Leser, auch Gewalt angetan werden, insofern ihre geschlossenen Einheiten, die >ordentlich verknüpftem Sätze, zersetzt und >abgeschnitten< werden müssen. Die Sprache soll von dieser Ordnung befreit werden, weil sie der >hitzigen Begierdeim Wege stehtgrammatischen< oder >logischen< Regelhaftigkeit unterliegen, erzeugen sie nämlich das Höchstmaß an Rührung. J e weniger geordnete Sprache, desto mehr Leidenschaft, desto unmittelbarer der Bezug sowohl zum Sprecher als auch zum Leser, so der unterstellte Zusammenhang. Ein Sprachverzicht ist daher weder möglich noch vorgesehen. Der sprachlichen Kommunikation, die in technischer Hinsicht für die Kommunikation der Dichtkunst unumgänglich ist, soll vielmehr eine zweite, affektive Kommunikation implementiert werden. Diese ermöglicht einen empathischen Kontakt, innerhalb dessen der Verfasser in seine Figur gleichsam ein- und übergeht und der Leser wiederum empfindsam an diese heranrückt. Eine dreistellige (Be)rührung soll damit entstehen. Mitten in der räumlich und zeitlich zerdehnten Kommunikation eines Textes wird derart eine Einfühlung insinuiert, eine imaginäre Unmittelbarkeit in Aussicht gestellt. 39 Als ihre Voraussetzung gilt einerseits, daß der Verfasser des Textes die von ihm geschilderten Empfindungen auch selbst erfahren haben muß, und andererseits, daß er die rhetorischen Techniken beherrscht. 40 In dieser Weise prüfen Breitingers Aus-
)8
Breitinger, Critische Dichtkunst, S. 375. Gabriele Dürbeck weist darauf hin, daß innerhalb dieser Konstellation die »Einbildungskraft des Rezipienten [...] unwillkürlich« vollzieht, »was die Einbildungskraft des Autors willkürlich [...] in Szene setzt.« (Gabriele Dürbeck, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998, S. 81) 4 ° Festzuhalten ist dabei folgendes: »Der A u t o r kann den Leser nicht kennen, und er kann auch seinen Wissensstand nicht kennen. E s wird unmöglich, Bedürfnisse und Interessen auf der E b e n e der beteiligten Individuen zu kontrollieren. Stattdessen muß der Prozeß der Kommunikation sich selbst kontrollieren, indem er sich durch Ersatz-Zeichen von Interesse und Relevanz konditioniert.« (Niklas Luhmann, Die F o r m der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K . L u d w i g Pfeiffer [Hg.], 59
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fuhrungen die sprachlichen Ausdrucksmittel darauf hin, inwiefern es ihnen gelingt, Kommunikation als einen affektiven Prozeß zu generieren. Der poetischen Sprache wird diese Leistung im Zusammenhang der >herzrührenden Schreibart zugestanden. Ihre Zielsetzung besteht danach in der Hervorbringung einer affektiven Kontaktstelle, welche zum einen nur mit Hilfe der Sprache möglich ist, zum anderen aber unbedingt gegen ihre logische und grammatische Ordnung erfolgt. Bodmers Konzept der »Poetischen Gemähide« Ein Jahr später erscheint Johann Jacob Bodmers Schrift über die Poetischen Gemähide. Auch sie geht der Bedeutung der Rührung als Charakteristikum poetischer Wirkung nach, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten, und gelangt in Teilen zu anderen Ergebnissen, als sie Breitingers Ausführungen erzielen. Als besondere Variante innerer Empfindungen und Wahrnehmungen erscheint Rührung aus einer bestimmten Perspektive dieses Textes sogar als problematisch. Bodmer läßt nämlich neben der sensualistischen Dimension der Literatur und ihrer Rezeption auch eine Stoßrichtung erkennen, welche sich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts immer deutlicher als Autonomie ausformulieren und von der Maßgabe des >Reizes und der Rührungein eigenes Gebiet< u n d damit autonom. 4 4 B o d m e r v e r k n ü p f t diese beiden Z o n e n im >NebeneinanderHerrschaft der Sinne< u n a b h ä n g i g e Bereich der E i n b i l d u n g s k r a f t über denjenigen h i n w e g , welcher lediglich als ihre >Schatzmeisterin< dient. E r erstreckt sich s o g a r bis ins >Unendliche< und verleiht d e m I m a g i n ä r e n s o m i t eine G r e n z e n l o s i g k e i t , welche die sensorischen E i n d r ü c k e , so zumindest der U m k e h r s c h l u ß , nicht erreichen k ö n n e n . A n w e l c h e m P u n k t der U m s c h l a g in diesen >unbegrenzten< Bereich e r f o l g t und ab w a n n eine V o r s t e l l u n g d e m a u t o n o m e n B e r e i c h der E i n b i l d u n g s k r a f t zuzurechnen ist, w i r d j e d o c h nicht benannt.
Uber-
haupt wird B o d m e r im weiteren Verlauf seiner S c h r i f t auf die hier angesprochene Ü b e r s c h r e i t u n g nicht mehr eingehen. E r w i r d die B e s c h a f f e n h e i t Dichter. Mit einer Vorrede von Johann Jacob Breitinger [1741], photomechanische Reproduktion, Frankfurt am Main 1971, S. 13. 44 Descartes hat die Illusionen mit Träumen als »Schatten und Abbilder« der realen Wahrnehmungen zusammengefaßt (Rene Descartes, Die Leidenschaften der Seele, übers, und hg. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996, Artikel 21, S. 39), während sie hier bei Bodmer zu einem Konkurrenzraum der wirklichen Wahrnehmung avancieren. Prinzipiell wird in der Forschung immer wieder, auch mit Bezug auf Breitinger, der Widerspruch zwischen selbstreferentiellen Tendenzen und ihrer Zurücknahme festgestellt. Siehe exemplarisch: »Wenn die Schweizer [...] von einer eigenen >Logik der Einbildungskraft sprechen, dann kann dies nach der vorangegangenen Darstellung nicht mehr als Ansatz einer Subjektivierung poetischer Darstellung und Erfahrung interpretiert werden: es stellt sich daher neu die Frage, wie die Rede von der spezifischen >Logik der Einbildungskraft vermittelt werden kann mit der gleichzeitigen Forderung einer vernünftigen Begründung der Inhalte als >Wahrheiten< und einer konsequenten Anwendung der logisch-begrifflichen Verfahren, nach denen die Einbildungskraft ihre poetischen Sachverhalte konstituieren soll.« (Horst-Michael Schmidt, Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung [Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten], München 1982, S. 139) Dürbeck faßt die Diskussion wie folgt zusammen: »Die Kontroverse bezieht sich auf die Frage, ob die Schweizer durch die Übernahme von Leibniz' Theorie der möglichen Welten und der Betonung der poetischen Schöpferkraft die Einbildungskraft im Unterschied zu Gottsched zu einem >produktivensubjektzentriertenautonomen< Vermögen aufgewertet und damit Genieästhetik und Romantik vorweggenommen hätten, oder ob sie trotz Erweiterung des Spielraums der Einbildungskraft dem rationalistischen Wahrheitsbegriff Wolffs letztlich verpflichtet geblieben sind.« (Dürbeck, Einbildungskraft und Aufklärung, S. 266f.) Auch Roland Borgards liest die oben zitierte Stelle von Bodmer als einen Verweis auf die im 18. Jahrhundert übliche Unterscheidung zwischen >wirklichen< und >möglichen< Welten. (Roland Borgards, Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert, München 2003, S. 58) Im folgenden wird der Akzent hingegen anders gesetzt. Hervorgehoben wird die Abkopplung der Einbildungskraft von der sinnlichen Bestimmung. 221
dieses autonomen Bereichs an keiner Stelle spezifizieren. Ganz im Gegenteil wird er in der konkreten Behandlung der Dichtung vor allem die Bedeutung der sensorischen Kategorien zementieren. 4 ' Ein Interesse dieser Abhandlung besteht darin, die Beziehung der Künste in ihrer Funktion als unterschiedliche Wahrnehmungsmedien zueinander sowie ihren jeweiligen Beitrag zur Erregung der Einbildungskraft zu beschreiben. Danach wird die Dichtung durch das Verhältnis der »Worte zu den Gedancken« - und nicht den Empfindungen, wie bei Breitinger - gekennzeichnet, die Malerei durch dasjenige »der Farben zum Licht und Schatten« und die Bildhauerei schließlich durch dasjenige der »Höhen und Tiefen eines Marmors zu den Lineamenten«. 4 6 Sprache, Licht und Schatten sowie Marmor bilden das Material der Künste. Sie fungieren als Medien ihrer jeweils spezifischen Mitteilungsformen. Die Eindrücke, die sie somit hervorrufen, begrenzen sich bei der Malerei und Bildhauerei auf sinnliche Wahrnehmungen der Farben und der Lineamente, d. h. des Verlaufs und der A n o r d n u n g e n der Linien. Die Dichtung wird hingegen mit >Gedanken< in Zusammenhang gebracht. Diese gelten als ihr Referent. Dabei wird der Sprachkunst prinzipiell aufgrund ihres besonderen Kommunikationsmediums mittels willkürlicher Zeichen die Fähigkeit zugestanden, in den autonomen Bereich der Einbildungskraft zu gelangen. Sprache funktioniert nämlich, so zumindest die zugrundegelegte Annahme, ohne unmittelbaren Bezug auf perzeptive Elemente. Anders als in der Malerei oder Bildhauerei bildet sich in der Gestalt der Buchstabenfolge aufgrund der Arbitrarität ihrer Zeichen die Referenz der Mitteilung, der Gedanke also, nicht ab. Dadurch, daß sie ausschließlich Gedanken kommuniziert, reicht die Poesie in die Region der Einbildungskraft hinein, w o keine sinnlichen Vorstellungen mehr verwaltet werden. Hat Breitinger die sensorische Dimension des Sprachkörpers aufzudecken versucht, so hebt Bodmer, zumindest in diesem Zusammenhang, gerade ihre Unabhängigkeit von sinnlichen Festlegungen hervor. Für die Operation der poetischen Sprache hat die sinnliche Konstitution der Zeichen keine Relevanz. Dabei befähigt gerade diese operative Bestimm u n g sie dazu, imaginäre Effekte zu erzeugen, welche über die im A k t der 4
' Deshalb und m. E. zu voreilig sieht Silvio Vietta in dieser Schrift von Bodmer insgesamt einen >Rückfall< hinter die in der Abhandlung über das Wunderbare entworfene Konzeption der Vorstellungskraft zurück, denn: »Die Tätigkeit der Einbildungskraft wird in der bekannten Doppelfunktion vorgestellt: Reproduktion der Vorstellung abwesender Dinge und Eröffnung möglicher Welten« (Silvio Vietta, Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Barock und Aufklärung, Stuttgart 1986, S. 130). 46 Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter, S. 28. 222
Lektüre sich tatsächlich ereignenden Sinneswahrnehmungen hinausgehen. Nicht die Buchstaben selbst werden imaginiert, sondern ausschließlich das, worauf sie in ihrer Kombination als Wörter verweisen. Sprachlich generierte Sinnlichkeit wird nicht durch Veränderung der sprachlichen Regeln und Strukturen hervorgerufen, sondern allein durch die Vorstellungen in der Einbildungskraft. Auf diese Weise wird es möglich, die sinnlichen Effekte auch anderer Künste zu simulieren. Im Vergleich zum Maler und Bildhauer besteht der Vorteil des Dichters deshalb darin, daß seine Kunst ungleich mehr Sachen in sich begreiffet als ihre, und seine Bilder darum um ein grosses lehrreicher sind; die andern schreiten nicht über die Gräntzen derer Dinge, welche in das Gesicht oder das Gefühle steigen, aber dieser begreiffet nicht nur dasjenige, was in das Gesicht oder das Gefühle, sondern was in einen jeden Sinn kömmt, und einige Empfindung in ihm verursacht; ja sie erstrecket sich bis auf die Verrichtungen des Gemüthes, die Gedancken, zu denen keiner von den äusserlichen Sinnen durchdringen kann.47
Im Gegensatz zur Bildhauerei und Malerei, welche mit Hilfe sinnlich wahrnehmbarer Objekte kommunizieren und daher über die >Grenzen ihrer Dinge< sowie der durch Gesicht und Gefühl ermöglichten Eindrücke nicht hinaus gelangen können, ist die Dichtung durch keine vergleichbaren Beschränkungen eingeengt. Sie ist, so die hier vertretene Uberzeugung, durch keine sensorische Form fixiert. Daß auch der Sehsinn bei der Lektüre oder das Ohr beim mündlichen Vortrag in Anspruch genommen werden und an der Herstellung der imaginären Eindrücke beteiligt sind, spielt im Zusammenhang dieser zeichentheoretisch angelegten Argumentation, die solche pragmatischen Aspekte übergeht, keine Rolle. Sprache ist demnach weder vom >Gesicht< noch vom >Gefühl< abhängig. Gleichwohl >begreift< sie alles ein, >was in einen jeden Sinn kommt und Empfindung in ihr verursacht«. Von der Differenzierung der Sinne und ihren Leistungen setzt Bodmer somit die Sprache und mit ihr die Dichtung frei. Er denkt sie, anders als Breitinger, der ihre taktile Dimension durch Zersetzung der grammatischen Ordnung einzukreisen und wirkmächtig zu machen versucht, und anders auch als Diderot, der ihre semantische Struktur und schriftliche Fixierung mit dem Sehsinn verknüpft, als sinnlich vollkommen indeterminiert. A u f dieser Grundlage kann er die herausragende Stellung der Poesie im Hinblick auf die intellektuellen und affektiven Verrichtungen des Gemüts und der Gedanken< behaupten. Derart ins Innere der menschlichen Psyche hineinzuführen, ist den >äußeren Sinnen< hingegen verwehrt. Deren Eindrücke beziehen sich lediglich auf Oberflächenphänomene, und sie selbst verbleiben damit auch nur äußerlich. Die vom sprachlichen Ausdruck stimulierten Sensationen werden demgegenüber als >innere Sinne< aufgefaßt. Erst die sprach47
Ebd., S. 34. 223
liehe Vermittlung des Sehens und Fühlens, d. h. ihre imaginär evozierte Konstitution, verleiht ihnen psychisch wirksame Tiefe. Trotz dieser grundlegenden Zäsur zwischen dem äußeren Sinnesapparat und der sprachlich ermöglichten inneren Vorstellung gilt es zugleich festzuhalten, daß die >inneren Sinne< ihrerseits nach dem Muster der >äußeren< skizziert werden. Wenn Bodmer nämlich die poetische Empfindung auf unterschiedliche sensorische Eindrücke verrechnet, vor allem aber als visuelle Struktur beschreibt, führt er zumindest den Gesichtssinn in seine Darstellung in einer Leitfunktion wieder ein. Dieser bildet nämlich das Modell, an welchem sich die Beschreibung poetischer Werke orientieren soll. 48 Und eben in dieser Absicht wird den poetischen Beschreibungen der Nähme poetischer Gemähide beygeleget, weil sie nemlich der Phantasie die Sachen gantz sinnlich sichtbar vorstellen, so ferne solches durch Worte möglich ist.49
In der Einbildungskraft des Lesers werden die Wahrnehmungsgrenzen der Sinne - deren prinzipielle Gleichwertigkeit an anderer Stelle betont wird, obschon sie für die Ausführungen letztlich folgenlos bleibt 50 — aufgelöst und ihre Eindrücke synästhetisch aufeinander bezogen. Die poetische Sprache kann aufgrund der ihr eigenen sinnlichen Unvoreingenommenheit sowohl die haptischen als auch die visuellen Eindrücke imaginär restituieren. Den Maßstab gibt jedoch die Malerei und damit der Gesichtssinn vor. »Die Phantasie des Lesers ist das Tuch, auf welchem er [der Scribent, N.B.] sein Gemähide aufträgt.«'' Privilegiert wird somit das Sichtbare. Dessen Vorzug wird von Bodmer gleich zu Anfang durch die ihm immanente temporale Struktur begründet. Vom »Sinn des Gesichtes« heißt es hier in Abgrenzung zu den übrigen Sinnen: »dieser ist so behend, daß er in einem Augenblicke biß an den Himmel hinaufsteiget«. 52 Während alle übrigen Sinne ihre Eindrücke in »Bewegung«, 5 3 d. h. in der Zeit empfangen und vollziehen, ist es dem Gesichtssinn möglich, in einem einzigen Moment immense räumliche Distanzen zu überbrücken und unterschiedliche Ebenen der räumlichen Aufteilung gleichzeitig sichtbar zu machen. Ein Modell, welches sich ähn48
Siehe dazu auch die Bedeutung der Kleidung im Kap. I. Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter, S. 38. s ° »Ein jeder von diesen fünf Sinnen ist in seinem Stand ein vollmächtiger Herr eines weitläuftigen Gebiethes und einer vortrefflichen Erkenntniß. Keiner ist dem andern unterwürffig, und keiner hat des andern vonnöthen; einer mag zwar ein grösseres Gebieth haben, als ein andrer, aber dem ungeachtet sind sie im übrigen gleich groß.« (Ebd., S. 6) Bemerkenswert ist hier die Metaphorik der territorialen Herrschaftsansprüche. " Ebd., S. 39. 12 Ebd., S. 7. 15 Ebd.
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lieh auch bei Diderot findet, weshalb dieser das Gedächtnis der Blinden als ein bilderloses Nacheinander einzelner Tasteindrücke definiert und ihm die Fähigkeit der Vorstellungskraft abspricht. Im Hinblick darauf, daß sich das Sehen auf einen einzigen Augenblick komprimiert, während das Tasten als Sukzession aufzufassen ist, gleichen sich beide Positionen. Sie nehmen damit eine Unterscheidung vor, welche sich über Lessing bis Herder, trotz signifikanter Abweichungen im einzelnen, fortsetzen wird. Bodmer argumentiert jedoch nicht auf der Ebene der unmittelbaren Sinneswahrnehmungen, sondern bedient sich ihrer im >uneigentlichen< Modus, um dem Vorgang poetischer Rezeption, welche prinzipiell durch keine sinnliche Festlegung determiniert ist, Kontur zu verleihen. Dieser Zugriff setzt eine Analogie zwischen dem physiologischen Sehvorgang und seiner psychologischen Transformation in der Einbildungskraft voraus. So verdoppelt er das Auge, indem er neben einem äußeren Organ auch ein inneres annimmt: [U]nd eben dieses, was der Mahler mittelst der Farben in dem äusserlichen A u g e des Leibes thut, das thut der Poet in dem innerlichen A u g e der Seelen mittelst der Worte und Figuren der Rede. 5 4
Diese Verinnerlichung des Sehens in der Einbildungskraft dupliziert dasselbe nicht nur, sondern verändert es zugleich auch gegenüber seiner physiologischen Bestimmung. Denn im imaginären Zustand nimmt die rührende Wirkung ab. Diese K r a f t der Seele heissen wir die Einbildungskraft, und es ist eine Gutthat derselbigen, daß die vergangenen und aus den Sinnen hingerückten D i n g e annoch anwesend vor uns stehen, und uns beynahe eben so strarck rühren, als sie ehmahls in ihrer würcklichen Anwesenheit gethan hatten."
Bodmers ästhetischer Ansatz inszeniert den Rezeptionsprozeß eines poetischen Werks als innere Bilderschau, die zugleich mit dem Konzept einer emotionalen Wirksamkeit verknüpft wird, so daß die poetischen Bilder nicht nur betrachtet und auf Distanz gehalten werden, sondern auch nach der Vorstellung einer haptischen Kontaktaufnahme sich dem Gemüt des Lesers, regelrecht zugreifend, annähern sollen. Von >hingerückten Dingen< ist in diesem Zusammenhang die Rede. Die Funktion der Einbildungskraft besteht dabei darin, Eindrücke zu reaktualisieren, welche sich auf vergangene oder mögliche Wahrnehmungen beziehen. Sobald sie >wie noch anwesend< erscheinen, können sie ihre ursprüngliche Qualität als >rührende< Gegenstände geradezu vollständig wiederherstellen. Entscheidend ist zudem, daß Bodmer die Wirkung der >Rührung< notwendig an ein >Ding< 54 !i
E b d . , S. 54. E b d . , S. 1 of. 225
bindet. Anders als Breitingers auf den Sprachkörper gerichtetes Konzept indem er das Kommunikationsmittel selbst als >rührend< kennzeichnet —, gilt Bodmers Interesse ausschließlich den sprachlich hervorgerufenen Nachahmungen, den imaginären Vorstellungsbildern also. Diese und nicht die sie ermöglichende Sprache werden auf ihre Rührungsfähigkeit hin befragt. Breitingers Argumentation impliziert folglich einen medienreflexiven Bezug auf die Sprache, während ein solcher Bodmers Ansatz hingegen fehlt.' 6 Im obigen Zitat signalisiert die im >beinahe< ausgedrückte Einschränkung, daß die vorgestellten Empfindungen stets unterhalb des ursprünglichen Intensitätsgrades der realen Wahrnehmungen liegen. A n anderer Stelle der Abhandlung jedoch wird der Dichtung durchaus eingeräumt, dieselbe Intensität wie die Realerfahrung ermöglichen zu können. Daran, bis zu welchem Rührungsgrad sie gelangt, m u ß sich ihre Qualität messen lassen. Als Werke höchster Meisterschaft zeichnet Bodmer daher solche aus, welchen es gelingt, in der »Nachahmung, da das Nachbild in die Stelle des Urbildes tritt, [...] mit einer gleichen Kraft, wie dasselbe thut, wenn es gegenwärtig ist«,' 7 zu wirken. Das Mimesis-Paradigma wird von hier aus als Wiedergabe nicht nur einer Anschauung, sondern auch der mit dieser einhergehenden affektiven Erregung lesbar. Nachdem Bodmer ein Konzept der Einbildungskraft zur Sprache brachte, welchem zufolge sie sich >unendlich< über die durch sinnliche Wahrnehmung hervorgerufenen Eindrücke hinaus erstreckt, wird hier ihre Leistung gleichsam bescheiden wieder zurückgenommen. Sie bestehe nur noch darin, die sensorische Empfindung in ihrer real möglichen Intensität wiederzugeben. Aber nur dort, w o die Einbildungskraft die Kategorien der Wahrnehmungssinne hinter sich zurückläßt, verlängert sie sich in den eigendeterminierten, autonom-ästhetischen Bereich hinein. Exakt diese Konsequenz zieht Bodmers Darstellung nicht; sie selbst wagt sich in diesen Bereich nicht vor. Zwar stellt sie eine solche Transgression des Sinnlichen in Aussicht, begründet sie sogar mit der sprachlichen Referenz, die in Gedanken gegeben ist. Für die konkrete Beschreibung literarischer Prozesse aber sind sensorische Kategorien - die von Kant aus der autonomen Ästhetik verbannten >Reize und Rührungen< — weiterhin ausschlaggebend. Unter ihrer Prämisse hat das imaginäre A u g e eine Leitstellung inne. s6
Siehe dazu das prägnante Resümee von Borgards, Sprache als Bild, S. 55: »Die Differenz zwischen den Medien, die das Malen mit Sprache implizieren könnte, ist für Bodmer gar nicht vorhanden. Solch eine Beschreibung überspringt nun nicht nur die Differenz ^wischen zwei Medien - hier zwischen der Schrift und der Malerei - , sondern sie überspringt auch die Differenz, die sich möglicherweise durch das vermittelnde Dazwischenkommen eines Mediums ergeben könnte, die Differenz als Folge von Medialität.« " Bodmer, Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide der Dichter, S. 4 ; .
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Als gelte es, die am Anfang geäußerte These, die Einbildungskraft verfuge über ein >eigenes GebietPhantasie gemäßGeister mit Körpern zu bekleidenGedanken< einen sinnlichen Ausdruck annehmen müssen. Sie müssen visualisiert werden, weil sie vor allem aus dieser anschaulichen Verfaßtheit ihre rührende Wirkung beziehen. Der Sprache als Kommunikationsmittel mutet Bodmer diese Leistung nur unter besonderer Bedingung zu. Erst durch die imaginäre Ubersetzung in sichtbare Bilder und Formen kann auch eine sprachliche Mitteilung affektiv aufgeladen werden. Wenn es in dem Zusammenhang ausdrücklich heißt, daß die >Geister< mit >Körpern zu bekleiden< sind, dann ist in dieser Aussage keine Begrenzung auf nur visuelle Eindrücke enthalten. Denn ein Körper muß auch tastbar sein. Für das Verständnis >poetischer Gemälde< gilt demnach, daß sie sinnliche Ubersetzungen sprachlicher Gedanken sind, wobei ihre Sinnlichkeit zwar visuell dominiert ist, zugleich aber auch, wie im Körperbezug deutlich, einen haptischen Eindruck substituiert.
2. Psychologie der Gewebe: Lessings »Laokoon« Emp findungstheorie In seiner Schrift Laokoon oder die Grenzen der Malerei und Poesie bindet Lessing die dort entfalteten ästhetischen Reflexionen in eine Theorie der Empfindungen ein. Zu deren Veranschaulichung entwirft er an zentraler Stelle eine komplexe Gewebemetapher. Mit ihrer Hilfe setzt er die vielschichtige Konstitution des menschlichen Empfindungshaushalts, in dessen Zusammenhang auch die für die weitere Argumentation bedeutsame Kategorie des Mitleids zu denken ist, figurativ um. Nichts ist betrüglicher als allgemeine Gesetze für unsere E m p f i n d u n g e n . Ihr G e webe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Spekulation kaum
" E b d . , S. 574. " Vgl. dazu K a p . I. " 7
möglich ist, einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nutzen hat es? E s giebt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf eine bloße Erfahrung in wenig einzeln Fällen einschränken.60
Das von Lessing herangezogene Gewebebild hat keine Ähnlichkeit mit dem von Wolff mikroskopisch vergrößerten Seidenstoff, dessen Fäden eine geometrische Rasterung ergeben und sich zu einer ebenso gleichmäßigen wie transparenten Ordnung verbinden. 6 ' Hier wird vielmehr auf ein derart >feines< und >verwickeltes< Gefüge referiert, daß jeder Versuch seiner Differenzierung sich als vergeblich erweist und jede Festlegung auf ein allgemeines Gesetz< es notwendig verfehlen muß. Als solches steht es für eine epistemologische Grenze. Die Zerlegung in einzelne Fäden wie der Nachvollzug aller seiner >Kreuzfäden< gelten als unmöglich. Weder die einzelnen Bestandteile noch das Muster ihrer Verknüpfung lassen sich rekonstruieren. Das Gewebe, welches hier als Modell der Empfindungen figuriert, verweist somit auf einen eigendeterminierten, in seiner Komplexität dem analytischen Zugriff kaum zugänglichen Zusammenhang. Für die Argumentation der Schrift hat es dennoch einen konstitutiven Stellenwert, insofern es die anthropologische Grundlage für die Formulierung der ästhetischen Überlegungen zugleich bereitstellt als auch metaphorisch substituiert. Zur Kennzeichnung der psychischen Vorgänge wählt Lessing somit ein Bild, welches einen ausgeprägten organologisch-medizinischen Anklang hat. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden vor allem die schwer überschaubaren Vernetzungsstrukturen der Nervenbahnen als unterschiedliche Gewebe beschrieben. Exemplarisch für diese neurologische Orientierung läßt sich Samuel A. D. Tissots in der Tratte des nerfs et leurs Maladies 1770 vorgelegte Beobachtung anfuhren. Wenn zwey, oder mehrere verschiedene Nerven nahe an einander laufen, und ihre verschiedenen Aeste viele Anastomosen machen, so nennt man das Gewebe, welches ein nerviges Netz bildet, dessen Anastomosen die Punkte, wo sich die Nerven kreuzen, sind, einen Plexus. 62
So werden die einzelnen Punkte, an welchen sich die einzelnen Nerven verbinden oder überkreuzen, als >Anastomosen< bezeichnet. Der >PlexusVerzweiflung< gestürzt wird. Ausschlaggebend ist dabei, daß >Mitleid< als eine Empfindung verstanden wird, welche sich >mit der Vorstellung der Verzweiflung mischt.< Die somit bezeichnete Mischung bezieht sich auf die Interaktion zwischen dem Rezipienten und der poetischen Figur. Das bedeutet, daß die rezeptive Übertragung einerseits einen Abbildungsvorgang impliziert, insofern der Rezipient aus der dargestellten >Verzweiflung< die >Vorstellung der Verzweiflung< abzieht. Andererseits bezeichnet sie einen 94 95 96 97
Lessing, Laokoon, S. 38. Ebd. E b d . , S. 41. E b d . , S. 42.
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Transformationsprozeß, weil der Rezipient auch >MitleidVerzweiflung< auf der Seite der literarischen Figur ruft auf der Seite des Rezipienten >Mitleid< hervor, welches seinerseits in die >Vorstellung der Verzweiflung< eingreift: eine komplexe Wechselwirkung. Im Augenblick der >Zerschmelzung seiner Seelemischt< sich das >Mitleid< in die >Verzweiflung< und damit die Empfindung des Rezipienten in diejenige der dargestellten Figur. In den Begriffen der >Zerschmelzung< und der >Mischung< indiziert der Text aber einen Wandel der Empfindungswerte. Denn dort, wo sich die Empfindungen beider Positionen berühren, entsteht eine neue, das Mitleid.' 00 So wird Heterogenes, d. h. die >Verzweiflung< der literarischen Figur und die Empfindung des Rezipienten sowie seine Einsicht in die >GleichheitZerschmelzung< und >Mischung< umschrieben wird, weist das Konzept des Mitleids eine taktile Dimension auf. Denn der Rezipient imaginiert sich hier 98
Lessing, Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 714. Ebd. 100 Hierin drückt sich, wie Schings unter Bezugnahme auf das Saitenmodell der Nerven hervorhebt, auch die von Lessing in den Ästhetischen Briefen und der Tragödie vorgenommene Unterteilung der Empfindungen in primäre und sekundäre aus: »Die letzteren, kaum Affekte zu nennen, entstehen, wie die Schwingungen einer bloß mittönenden Saite, >bey Erblickung solcher Affekte an andern.< Den Charakter eines primären, >ursprünglichen< Affekts dagegen kann einzig und allein jenes Mitleiden beanspruchen, das in der Wirkung der Tragödie eine neue affektische Qualität hervorbringt.« (Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, S. 37). Das bedeutet aber, daß das Leiden der Figur im Mitleiden des Rezipienten nicht nur gespiegelt oder wiederholt wird - eine Wirkung, die sich mittels des traditionellen neurologischen Modells der mittönenden Saiten beschreiben läßt - , sondern eine eigendeterminierte Bestimmung als >eine neue affektische Qualität erfahrt. Mitleid ist etwas anders als das Miterleiden desselben Unglücks. Darin besteht die Pointe in Lessings Deutung dieser Empfindung. Dabei ist in diesem Kontext ebenso bezeichnend wie konsequent, daß sie im Laokoon im Rahmen der komplexen Gewebemetapher entfaltet wird. 99
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nicht nur in die dargestellte Figur hinein, sondern stellt auch einen unmittelbaren affektiven Kontakt zu ihr her, in dessen Folge das Mitleid entsteht. In einer solchen Rezeption findet daher keine bloße Wiederholung des dargestellten emotionalen Zustandes statt. Durch eine punktuelle Berührung zwischen dem Betrachter und der literarischen Figur wird vielmehr in jenem eine spezifische Empfindung hervorgerufen. So werden zwischen beiden Positionen keine Emotionen übermittelt, sondern eine Wechselwirkung ausgelöst, wie sie die vereinzelten Kontakte innerhalb des Gewebes vollziehen. Durch die Berührung der zwei Empfindungspunkte, desjenigen des Rezipienten und desjenigen der dargestellten Figur, entsteht auch hier eine neue Empfindung: das Mitleid. Obgleich Lessing dieses als Folge des Aufeinandertreffens bzw. der Interaktion unterschiedlicher Werte konzipiert und in eine strukturelle Beziehung zum Gewebemodell bringt, legt er es zugleich jedoch auch fest. Mitleid soll danach einen spezifischen Empfindungspunkt bezeichnen, worin allerdings ein Widerspruch zum Kriterium der gewebekonstitutiven unaufhörlichen Veränderlichkeit gegeben ist. Die Gewebemetapher, mit welcher die psychische Komplexität der Empfindungen substituiert wird, kann somit nur bedingt auf die Darstellung ästhetischer Rezeption angewandt werden, ungeachtet dessen, daß sie zugleich ihre anthropologische Prämisse formuliert.
3. Sensorische Interaktionen: Lessings »Emilia Galotti« Sehen und Malen In Emilia Galotti werden einige der ästhetischen Überlegungen, welche Lessing im Eaokoon entfaltet, wieder aufgegriffen und als zentrale Elemente in den dramatischen Handlungszusammenhang integriert. Die für die ästhetische Schrift grundlegende Gegenüberstellung zwischen den Künsten bildet auch in dem Drama ein bedeutendes Motiv, wenngleich hier das Verhältnis zwischen sprachlichen und visuellen Zeichen mit einer anderen Akzentsetzung versehen wird. Keine Typologie der Differenzen, sondern die Einbeziehung der bildenden Kunst als Moment der literarischen Kommunikation wird in Emilia Galotti vorgenommen. Vom zweiten bis zum fünften Auftritt des ersten Aktes findet auf mehreren Textebenen eine Reflexion auf die Malerei statt, weshalb sie mit Recht nicht allein als thematischer Anfangspunkt des Stücks betrachtet werden kann. Durch ihre Einbeziehung wird es dem Drama vielmehr möglich, auf das im Laokoon der Literatur bescheinigte prekäre Verhältnis gegenüber körperlicher Schönheit zu antworten und auf die Frage einzugehen, wie sie sich dramatisch umsetzen und kommunizieren läßt. Inwiefern aber, um die Konsequenz dieser Überlegungen mitzubeden245
ken, vermag auch körperliche Schönheit in der Literatur - wie Philoktets schrecklichste Gestalt< - Mitleid zu erregen bzw. überhaupt eine Erregung im Rezipienten hervorzurufen? Im Laokoon werden die Gegenstände der bildenden Künste als »Körper« definiert: »Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei.«101 Die Gegenstände der Dichtung werden demgegenüber als Handlungen aufgefaßt: »Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.«102 Aber schon im nächsten Absatz wird diese zunächst scharf markierte Abgrenzung aufgeweicht, insofern »alle Körper [...] nicht allein in dem Räume, sondern auch in der Zeit [existieren]«, weshalb »die Malerei auch Handlungen nachahmen [kann], aber nur andeutungsweise durch Körper.«IO' Ebenso hält Lessing für die Literatur fest: »Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. In so fern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen«.104 Trotz der zwischen ihnen herrschenden grundlegenden Differenz treten die beiden Kunstarten >andeutungsweise< durchaus ineinander wieder ein. Dabei löst sich die Zuordnung und Bestimmung des jeweiligen Gegenstands- und Zeichenbezugs nicht auf. Vielmehr kann nur auf der Grundlage dieser Distinktion die wechselseitige Andeutung erfolgen.10' Exakt diese Gleichzeitigkeit zwischen der Abgrenzung und gegenseitigen Verweisung beider Künste ist ein zentraler Bezugspunkt der nachstehenden Lektüre. Im Fall literarischer Darstellung wird im Nacheinander der Szenen und Ereignisse ein Wechsel unterschiedlicher Perspektiven geboten, während ein Werk der bildenden Künste einen >prägnanten Moment< festhalten muß. Die bildende Kunst muß »einen einzigen Augenblick der Handlung«, und zwar »den prägnantesten wählen«, während »die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen«106 kann. In der zeitlichen Abfolge können daher unterschiedliche, einander widersprechende Eigenschaften einer Figur zum Ausdruck gebracht werden, was die 101
'OJ 104
106
Lessing, Laokoon, S. 116. Ebd. Ebd., S. ι i6f. Ebd., S. 117. Aber auch in dieser >Wechselseitigkeit< ist die von Lessing fundierte Hierarchie der Künste deutlich, wie Dreßler hervorhebt: »Der kleine, aber feine Unterschied liegt darin, daß die Malerei nicht anders kann, während die Poesie vernichtet, weil ihr die Handlung der eigentliche Gegenstand ist.« (Dreßler, Dramaturgie der Menschheit, S. 211) Lessing, Laokoon, S. 1x7.
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Festlegung auf einen Moment, wie sich aus der bisherigen Argumentation schließen läßt, nicht ermöglicht. Wenn Lessing diesen jedoch als >prägnant< bestimmt, dann bringt er damit eine Bezeichnung in Anschlag, in welcher im 18. Jahrhundert die lateinische Wurzel und damit die etymologische Herkunft des Wortes - praegnans - noch deutlich hörbar ist, weshalb es auch auf die Bedeutungen >fruchtbar< und >schwanger< hinweist, d. h. auf die darin implizierte Entwicklungszeit. 107 Diese auszuformulieren, sind die bildenden Künste zwar nicht in der Lage. Gemälde wie Plastiken begrenzen sich schließlich auf die Darstellung nur eines einzigen Zeitpunktes; sie dissoziieren somit ein Ereignis aus dem Kontinuum der Zeit. Aber dieses punktuelle Geschehen komprimiert, wenn es >prägnant< ist, eine zeitliche Sequenz. Wie in einem Embryo der daraus erwachsende Mensch, so ist auch in einem solchen Moment ein über diesen hinausweisender Zeithorizont enthalten. 108 Die Literatur kann eine Entwicklung im Handlungsverlauf gewissermaßen ausfalten oder -wickeln. Die bildende Kunst bewahrt hingegen die im Keim angelegten Entwicklungspotentiale auf. Anders formuliert: Literarische Prozesse differenzieren aus, insofern sie in der zeitlichen Ordnung der Sequenz die Knoten und Verläufe der Gewebefäden auseinanderlegen und dabei ihre Wechselseitigkeit berücksichtigen. In der bildenden Kunst verbleibt der Bezugsgegenstand jedoch in gleichsam eingewickelter Form. Wie allerdings aus dem Knäuel potentieller Anschlüsse ein sich in einzelne Ereignisse und Handlungsfolgen aufteilender komplexer Zusammenhang entsteht, wie mithin die Logik der bildenden Künste in der Logik der Poesie weitergeführt wird, das läßt sich an Emilia Galotti, vor allem aber an der Titelfigur des Stücks, veranschaulichen. Doch was [...] nicht actu in dem Gemälde enthalten war, das lag virtute darin, und die einzige wahre Art, ein materielles Gemälde mit Worten nachzuschildern ist die, daß man das Letztere mit dem wirklich Sichtbaren verbindet [···]·109
107
>Prägnant< bedeutet >schwangerbedeutungsschwanger< und >-trächtigmateriellen Schranken< hinausgeht, sich selber als materielles Gemälde aufhebt und in den Bereich der befreiten Einbildungskraft - des Narrativen, der Poesie - verweist.« (Wellbery, Das Gesetz der Schönheit, S. 180) 105 Lessing, Laokoon, S. 140.
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Dieses Programm einer Zusammenführung beider Modalitäten, d. h. der Ubertrag des >Virtuellen< in das >AktuelleSichtbareWorten verbunden< und auf diese Weise aus dem virtuellen Zustand heraus sprachlich aktualisiert werden soll, gilt bereits auf der Ebene seiner malerischen Umset2ung als gefährdet. In produktionsästhetischer Perspektive wiederholt sich die Unterscheidung zwischen den Zuständen des >virtute< und >actu< nämlich bei der Transformation einer natürlichen Wahrnehmung in ein gemaltes Bild. Das Problem betrifft also nicht nur die Beziehung zwischen Malerei und Literatur, es wird vielmehr auf der Seite der ersteren dupliziert. Dort erweist sich diese Diskrepanz als besonders akut, wo die Wiedergabe einer vorangegangenen visuellen Wahrnehmung als verfehlt gilt. »Ha! Daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!« 110 Mit den vielzitierten Worten, die der Maler Conti ausruft, wird hier die Malerei aus produktionstechnischer und -ästhetischer Sicht kommentiert. Ihr Problem bestehe darin, daß Augen nur sehen, nicht aber >unmittelbarbequemen Verhältnisses< in der Analogie zwischen dem Vorbild und der Ab- bzw. Nachbildung mittels >natürlicher Zeichen< abzielt. Die Ermöglichung der Suggestion einer solchen vermeintlich unmittelbaren Spiegelung, welche den ihr zugrundeliegenden semiotischen Vermittlungsvorgang vergessen macht, ist gleichwohl nur über den Umweg der handwerklichen Umsetzung möglich. Wie die vom Auge gesehenen Gegenstände wahrnehmungstheoretisch das Ergebnis komplexer physikalischer und physiologischer Übertragungsprozesse sind, mithin keine analoge Beziehung zu ihren Bezugsgegenständen unterhalten, so erfolgt auch die Transmission vom abzumalenden Vorbild zum Gemälde über den Verlust jeder Ähnlichkeitsbeziehung zwischen beiden, auch wenn die Hervorbringung der Ähnlichkeit als mimetische Zielsetzung den Malakt letztlich anleitet. Produktionsästhetisch wird hier zwischen dem Auge und der Hand
Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 7: Werke 1770-1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000 (I. 4), S. 298. 248
eines Künstlers eine Zäsur diagnostiziert, welche in gewisser Weise die dioptrische Aufkündigung der Abbildkonzeption variiert. Malerei entsteht nicht wie ein Spiegelbild, obwohl sie mit ihm in Konkurrenz tritt. Sie konstituiert sich nicht über Aufnahme eines Widerscheins, sondern als Auflösung der visuellen Wahrnehmung und deren anschließende semiotische Rekonstitution auf dem >langen Weg aus dem Auge durch den Arm in den Pinseh. 111 Das Sichtbare wird im malerischen Produktionsprozeß, durch Zwischenschaltung der Hand, buchstäblich digitalisiert. IIZ Im Auge des Betrachters jedoch muß ein derart hergestelltes Gemälde wieder den Effekt eines Spiegelbildes hervorrufen. Als Conti dem Prinzen Emilias Porträt zeigt, so scheint dieser das Gelingen einer solchen Suggestion mit der Formulierung zu bestätigen: »wie aus dem Spiegel gestohlen«. 11 ' Zwar wird seine Reaktion an anderer Stelle unter einem anderen Gesichtspunkt nicht nur als Indiz für die Qualität des Produkts und damit der Leistung des Künstlers lesbar sein, deutet sie doch ebenfalls auf die rezeptive Leistung des Prinzen selbst hin. Der Eindruck der Spiegelung erweist sich demnach als eine Projektion des Betrachters. Im Zusammenhang mit Conds Reflexion hingegen signalisiert dieses Urteil, unabhängig davon, wie es sonst noch im Text motiviert ist, eine Zustimmung, die dem Gemälde als technisch hervorgebrachtem Artefakt gilt. Malerei kann den Effekt eines Spiegelbildes lediglich unter der Maßgabe einer bestimmten Verwendung ihrer Zeichen erzeugen. Nicht allein sprachliche Werke sind so anzulegen, daß die Willkürlichkeit ihres Zeichencharakters überspielt und gleichsam unsichtbar gemacht werden kann. Auch Werke der bildenden Kunst, deren Zeichen im 18. Jahrhundert üblicherweise als >natürlich< klassifiziert werden, müssen diese Anforderung befolgen. Ihre >Natürlichkeit< gilt nämlich nur als Resultat einer besonderen handwerklichen bzw. künstlerischen Operation, sie läßt sich also nicht als semiotische Kondition verstehen." 4 Das bedeutet, daß nicht die Zeichen natürlich sind, 111
Peter Utz hebt den diskursiven Aspekt dieses Auftritts hervor. Der Inhalt der Aussage Contis wird nach seiner Interpretation der wahrnehmungstheoretischen Relevanz enthoben, wobei er eine Interpretation liefert, welche recht allegorisch ausfallt: »Conti, naiv in seiner eitlen Selbstüberschätzung, trennt redend den Zusammenhang von Wahrnehmung und ästhetischer Produktivität, von Auge und malender Hand auf, um beides nur erst auf dem >langen Weg< des Diskurses wieder in Zusammenhang zu bringen. Sein Diskurs stellt sich zwischen Wahrnehmung und Darstellung, ist selbst der >lange Wegmit den FingernVerschmelzung< mit der Darstellung. Seine Seele tritt dabei >ganz in seine Augenganz in ihre Augenhierbei der Hand< zu halten, auch in die Vorbereitung der Entführung Emilias und damit einer Handgreiflichkeit 1 ' 6 anderer Art über.
,J4 1)5
1,6
Lessing, Emilia Galotti (I. 4), S. 299. - In der A u s g a b e von K u r t Wölfel heißt es an dieser Stelle: » - A b e r diese bleibt hier.« (Gotthold Ephraim Lessing, Dramen, hg. von K u r t Wölfel, Frankfurt am Main 1984, S. 519) Nicht >diesesdiesehier bleibendie ganze Emilia< für einen prägnanten A u g e n blick; ihr Leben, das nur vielfaltig in Sukzessionen sich realisieren kann, nimmt er als erkanntes. Macht doch selbst das Portrait, nach Hegel, das Individuum sich selbst ähnlicher, so ist diese Vermittlung von Erscheinung und Wesen im Leben gerade die Täuschung, auf die jede E m p f i n d u n g sich verläßt. Man versucht sich in dem Paradox, das Unberührbare zu berühren. Das Drama zeigt, wie das Unberührbare in solchen Berührungsversuchen konstituiert wird.« (Winfried Nolting, Die Dialektik der Empfindung. Lessings Trauerspiele »Miß Sara Sampson« und »Emilia Galotti«, Stuttgart 1986, S. 323) Z u r Bedeutung des Handmotivs sowie seiner sprachlichen Weiterfuhrungen als >Handlung< oder >Handgemenge< arbeitet Ilse Graham heraus: »[Γ]η diesem Stück
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Zum Ende des fünften Auftritts im ersten Akt wird der Prinz bei der Betrachtung des Porträts gestört, und - wie in der Regieanweisung mitgeteilt - »[drehet] das Bild gegen die Wand«..'" Es ist nicht mehr sichtbar, dennoch verläßt es - zumindest als Requisite - den Schauplatz des Geschehens nicht. Gleichsam an seine Rückseite knüpft von jetzt an eine folgenschwere Handlung an. Die Logik des Dramas setzt sich gegenüber derjenigen der bildenden Kunst durch. Denn der Prinz veranlaßt die Entführung Emilias durch Marinelli. Indem er unterdessen eigenmächtig und ohne Absprache mit seinem Mittäter weitere Entscheidungen trifft, so etwa, Emilia in der Kirche aufzusuchen, um ihr dort seine Liebe zu gestehen, ist er für die tragische Eskalation der Ereignisse in erheblichem Maße mitverantwortlich. Dabei artikuliert sich bereits im fünften Auftritt des ersten Aktes das Bedauern des Prinzen, diesen Plan, bevor er noch vollständig entwickelt und umgesetzt worden ist, überhaupt gefaßt zu haben. Wenn er nämlich die folgende Aussage darauf bezieht, daß er von weiterer Betrachtung des Porträts durch Marinelli, dem Handlanger seines Plans, 1 ' 8 abgehalten wird, dann spricht er damit zugleich auch das Bedauern aus, sich nicht mit dem Porträt allein zu begnügen, sondern auch die Porträtierte in seinen Besitz nehmen zu wollen. »Hätt' ich ihn doch nicht rufen lassen! Was für einen Morgen könnt' ich haben!«' 39 Als hätte er keine Wahl mehr, als müßte er das, was bis jetzt das Stadium eines Vorhabens noch nicht überschritten hat, seinen Lauf nehmen lassen, entscheidet der Prinz sich nicht um, sondern empfängt Marinelli, um mit ihm über die Vorbereitung der Entführung zu verhandeln. Der Reiz Im XXI. Kapitel des Laokoon stellt Lessing den Reiz als die der Poesie eigene Kategorie derjenigen der bildenden Künste entgegen, d. h. der körperlichen Schönheit. »Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile,« so Lessing bereits im XX. Kapitel, »die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfordert also, daß diese Teile neben einander liegen müssen;« womit die Angewiesenheit des Begriffs sind Hände unheilvolle Werkzeuge, und wenn wir an sie erinnert werden, so denken wir nicht an künstlerisches Zeugen oder die Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau, sondern an Gewehre, Dolche oder Nadeln.« (Ilse Graham, Geist ohne Medium. Zu Lessings »Emilia Galotti« [1962], in: Gerhard Bauer und Sibylle Bauer [Hg.], Gotthold Ephraim Lessing, Darmstadt 1968, S. 362-375, hier S. J 7 o f . ) ' " L e s s i n g , Emilia Galotti (I. 5), S. 300. 158 Prutti weist darauf hin, daß letztlich der Prinz durch Marinelli zum »passiven Werkzeug seiner ausführenden Hand« gemacht wird (Prutti, Das Bild des Weiblichen und die Phantasie des Künstlers, S. 501). Lessing, Emilia Galotti (I. 5), S. 300. 256
auf den Darstellungsmodus der bildenden Künste herausgestellt wird. Folgerichtig heißt es anschließend: »und da Dinge, deren Teile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Malerei sind; so kann sie, und nur sie allein, körperliche Schönheit nachahmen.« 140 Darin allerdings, daß die m a n nigfaltigen Teile< einerseits in übereinstimmender Wirkungauf einmal übersehen< werden müssen, ist ein deutliches Ausschlußkriterium für ihre Koordination mit Empfindungen formuliert. Der auf Symmetrie und Überschaubarkeit angelegten Konzeption entspricht insofern eine emotionale Wirkungslosigkeit, als Empfindungen gerade nach Maßgabe unordentlicher und stets in Bewegung befindlicher Wechselwirkungen funktionieren, welche sich nicht >auf einmal übersehen< lassen. Wenn wiederum Körper sich in literarischen Texten, wie es an anderer Stelle dieser Schrift heißt, lediglich >andeutungsweise< Ausdruck verschaffen können, dann fehlt dieser Kunstart eine hinreichende Grundlage fur die Mimesis einer auf der Übereinstimmung mannigfaltiger Teile im Nebeneinander beruhenden Darstellung. Körperliche Schönheit kann hier allenfalls angedeutet, nicht jedoch wiedergegeben und weniger noch festgehalten werden. Die Einführung Emilias in den Text über ihr Porträt kann als Manifestation einer solchen >Andeutung< gelten. »Aber verliert die Poesie nicht zu viel, wenn man ihr alle Bilder körperlicher Schönheit nehmen will?«141 Was zunächst wie ein Defizit erscheint, nämlich die ästhetische Notwendigkeit eines Verzichts, erweist sich im Fortgang der Überlegungen als notwendige Voraussetzung für eine alternative, gegenüber dem Schönheitspostulat der bildenden Kunst überlegene und nur der Literatur mögliche Darstellungsoption. Diese kann ihren Mangel einerseits kompensieren, indem sie von dem Gegenstand der Schönheit auf die von ihr ausgehende Wirkung umstellt: »Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursachet, und ihr habt die Schönheit selbst gemalet.« 142 Die dargestellte Entzückung des Prinzen in Anbetracht von Emilias Porträt veranschaulicht diese Behelfskonstruktion. Auch sie läßt sich als Modus einer solchen >andeutungsweisen< Bezugnahme bestimmen. Andererseits kann Literatur jedoch auch die Schönheit durch Reiz ersetzen; sie »in Reiz verwandeln]«. E i n andrer Weg, auf welchem die Poesie die Kunst in Schilderung körperlicher Schönheit wiederum einholet, ist dieser, daß sie Schönheit in Reiz verwandelt. Reiz ist Schönheit in Bewegung, und eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter. [...] A b e r in der Poesie bleibt er, was er ist; ein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen.' 4 5 140
Lessing, Laokoon S. 144.
" " E b d . , S. 154. 141
Ebd.
"4> E b d . , S. 155. 2
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Der Reiz ist kein kompensierter Schönheitsmangel, sondern ein Ein- bzw. Ausdruck eigener Art. In seiner Umschreibung als >Schönheit in Bewegung< und >transitorisches Schönes< impliziert er zwar immer noch einen Bezug auf das Darstellungsprivileg der Malerei, das körperlich Schöne. Dieses jedoch >holt er einein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen.< Nach diesem Schema aber gibt er sich als Bestandteil der Begehrensstruktur zu erkennen. Wie die dramatisch dargestellte Verzweiflung beim Rezipienten Mitleid hervorruft, so auch der dargestellte Reiz das Verlangen nach Wiederholung und, wie sich der Gedanke verlängern läßt, nach Besitznahme. In dem Maße, in dem der reizende Gegenstand der Wahrnehmung des Betrachters entzogen wird, ruft er in ihm ein haptisches Begehren hervor. Reiz impliziert nämlich den Wunsch, das Bezugsobjekt festzuhalten, zu ergreifen und in Besitz zu nehmen; ein Begehren, welches nur aufrecht erhalten wird, solange das Bezugsobjekt sich entzieht. Stets im Begriff, sich zu verflüchtigen, evoziert der Reiz somit das Verlangen, ihm noch einmal und immer wieder zu begegnen, letztlich sogar seiner habhaft zu werden. Er kömmt und geht; [...] so muß der Reiz in dem nemlichen Verhältnisse stärker auf uns wirken, als die Schönheit.'*4
An diesem Punkt wird deutlich, in welcher Weise der literarisch erzeugte Reiz die malerische Schönheit >einholt< und übertrifft: Er >wirkt stärken, weil er durch >Bewegung< anregt. Im letzten Auftritt des Stücks, als Emilia im Beisein jener drei Figuren, die in unterschiedlicher Weise für ihren Selbstmord in Rechenschaft zu ziehen sind,14' nämlich ihres Vaters, des Prinzen und Marineiiis, stirbt, wird auch die Kategorie des Reizes zur Sprache gebracht. Auf seine tote Tochter Bezug nehmend, wendet sich Odoardo an den Prinzen mit der Frage: »Reizet sie noch Ihre Lüste?«146 Ist es möglich, eine leblose, unbewegliche Person noch reizvoll zu finden? Indem der Text diese Frage am Ende stellt und unbeantwortet läßt, weist er auf den im folgenden zu rekonstruierenden Bogen hin, welchen er vom gemalten Porträt Emilias als Repräsentation des 144
Ebd. ' 4i Daß auch Odoardo am Tod seiner Tochter verantwortlich ist, wird von der Forschung immer wieder behauptet. Vgl. dazu vor allem Gerd Hillen, Die Halsstarrigkeit der Tugend. Bemerkungen zu Lessings Trauerspielen, in: Lessing Yearbook 2 (1970), S. 1 1 5 - 1 3 4 ; Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986. 146 Lessing, Emilia Galotti (V. 8), S. 371. 258
Schönen bis zur dramatischen Handlung spannt und dabei als Reiz der Figur in Erscheinung treten läßt. »Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, daß ich dich besitze? - Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur!«' 47 Mit diesen Worten charakterisiert der Prinz im ersten Akt das Porträt Emilias, indem er zugleich auch diese selbst meint: ein >schönes< Kunstwerk und eine noch >schönere< Frau. Im letzten Akt, am Ende des Handlungsverlaufs, wird Emilia hingegen auf ihren Reiz hin befragt. In beiden Szenen ist sie, wenn auch in unterschiedlicher Weise, abwesend. Zunächst wird ihr eine Kategorie der bildenden Künste zugedacht, bevor sie schließlich mit dem literarischen Gegenbegriff in Verbindung gebracht wird; eine Verbindung jedoch, die sich mit Emilias Tod zu lösen beginnt, weil Reiz auf Bewegung, Veränderung, Lebhaftigkeit angewiesen ist. Der ästhetische Reizbegriff ist durch eine Nähe zum Begehren gekennzeichnet. Deshalb steht er für eine sich unaufhörlich reproduzierende Differenzstruktur, welche das Verlangen zwar motiviert, jedoch nur unter dem Vorbehalt, daß es nicht erfüllt werden kann. Der Reiz >kommt und geht< auch wieder, wie Lessing formuliert. Daraus bezieht er seine psychologische Wirksamkeit. In den nur sechs Auftritten der Titelfigur in diesem Stück muß er sich mitgeteilt haben. Trotz der expliziten Referenz auf ihre Schönheit läßt sich bereits im ersten Akt bei dem rezeptiven Nachvollzug von Emilias Porträt durch den Prinzen erkennen, daß dieser darin Züge des Reizes wahrnimmt, wenn er zunächst »[djieses Auge voll Liebreiz und Bescheidenheit«' 48 hervorhebt, sogleich aber das Sichtbare in eine bewegliche Anschauung übersetzt: »Dieser Mund! - Und wenn er sich zum Reden öffnet! Wenn er lächelt!«' 49 In gewisser Weise faltet der Prinz in seiner Betrachtung, von dem Sichtbaren ausgehend, das dem Porträt innewohnende Ausdruckspotential aus, welches Schönheit in Reiz zu verwandeln vermag, wenn es in der Vorstellung zu einem sich bewegenden Bild weiterentwickelt wird.' 50 Sobald sich der Mund »zum Reden öffnet< oder >lächeltetwas< akustisch in Beschlag genommen: »Aber es währte nicht lange, so hört' ich, ganz nah' an meinem Ohre, - nach einem tiefen Seufzer - [...] [m]einen Namen! [...] Es sprach von Schönheit, von Liebe - [...] Es beschwor mich — hören mußt' ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob ich es nicht hörte.« 1 " Emilias Reaktion auf diese Avancen, deren Urheber sie in ihrem Bericht als eine unbestimmte perzeptive Quelle, als >etwasbei der Hand ergreiftVerschmelzung< und >Vermischung< der Empfindung der literarischen Figur mit derjenigen des Rezipienten charakterisiert. In Emilia Galotti wird der Reiz hingegen als eine Empfindung vorgeführt, welche sich gerade durch eine ständige Trennung beider Positionen reproduziert. Nur wenn sich der Reizträger bzw. -auslöser auch wieder entzieht, vermag er diese Empfindung im Rezipienten zu kontinuieren. In diesem Sinn ist die Beziehung zwischen Emilia und dem Prinzen durch ein Verlangen determiniert, welches die stets aufs neue hergestellte Nichtverfügbarkeit des begehrten Objekts gleichsam mitbedingt. Wird am Ende jedoch die Frage gestellt, ob auch der Anblick der toten Emilia noch >reiztaußer sich, keinen Gegenstand wahrnehmen^ Er wäre nicht in der Lage, die einzelnen Sinnseindrücke zuzuordnen und schließlich sogar, dies ist von zentraler Bedeutung: >Er wüßte nicht einmal, daß er selbst einen Körper hat.< — »[L]e couleurs ne seroient point dans ses yeux, les sons ne seroinent point dans ses oreilles, les corps qu'il toucheroit ne seroient point le sein, il ne sauroit pas meme qu'il en a un«.' ! - Das >GefühlAutomatfast unempfindliche Statue< — »presque insensible« 1 ' - werden und damit nicht nur sinnlich verkümmern; er würde >völlig schwachsinnige »un parfait imbecille«.'4 Das bedeutet, daß ihm zum Menschsein, welches immer auch organisch bedingt ist, ein grundlegender Baustein fehlte. Seine Wahrnehmungen und Empfindungen >vollzögen sich< ausschließlich >in seinem Gehirn< wie die sensorisch Ebd., S. 119. "Jean-Jacques Rousseau, Emile ou De l'education. Texte presente par John S. Spink, in: ders., (Euvres completes. Edition publiee sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1969, S. 280. 12 Ebd. " Ebd. 14 Ebd. 268
erzeugten Ideen in den wahrnehmungstheoretischen Auffassungen des 17. Jahrhunderts. Da der Mensch alles, was er begreift, nur durch die Sinne begreift, so ist die erste Vernunft des Menschen eine sinnenhafte Vernunft; sie bildet die Grundlage der intellektuellen Vernunft.''
Rousseau geht nicht davon aus, daß der körperlich aufgenommene Reiz beim Erreichen des Bewußtseins sogleich in eine ihm entsprechende Idee umgewandelt wird. Nach diesem Schema erklärt der mechanische Empirismus die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis. Vielmehr geht er von >einer sinnenhaften und einer intellektuellen Vernunft< aus. Beide gelten als unabdingbar.' 6 Entwicklungspsychologisch muß zwar angenommen werden, daß erst die sinnlichen Begriffe und Vorstellungen sich ausprägen müssen, damit eine >Grundlage< für die Entstehung >intellektueller< Begriffe bereitet ist. Dieses Bedingungsverhältnis setzt aber den Fortbestand der sinnlichen Vernunft auch in den intellektuellen Begriffen voraus. Konzediert wird somit eine sensorische >Vernunftsinnenhaften Vernunft< werden durch bestimmte sensorische Konstellationen hervorgerufen. Dabei erlangt der Tastsinn eine zentrale Bedeutung. Seine Spezifik besteht nämlich darin, zumindest im Wachzustand, unablässig tätig zu sein. 15
Rousseau, Emil, S. 1 1 1 . '6 Siehe dazu die Einschätzung Panajotis Kondylis': »Der bekannteste unter jenen, die den Instinkt verfeinerten, um ihn in den normativen Bereich einbeziehen zu können, ist [...] Rousseau gewesen, der das Gewissen bzw. die Vernunft in moralisch-normativem Sinne >instinct divin< nennt, um dessen Sicherheit, die nicht auf Urteilen, sondern auf Gefühlen beruhe, den >entendement sans regle< und der (intellektuellen) >raison sans principe< gegenüberzustellen. Das war aber, objektiv, d. h. im geistesgeschichtlichen Zusammenhang gesehen, kein Aufstand gegen >die< Aufklärung, sondern Folge bzw. Begleiterscheinung einer anthropologischen Einstellung, die ihrerseits nur auf der allgemeinen Denkgrundlage der (normativistischen und antiintellektualistischen) Aufklärung möglich war« (Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Hamburg 2002, S. 5 5 5)· 17 Raymund Wilhelm unterscheidet Rousseaus Ansatz überdies von demjenigen des Sensualismus, insofern Rousseau keinen gleitenden Ubergang von passiven Wahrnehmungen zu Begriffen der Vernunft annimmt, sondern vielmehr ihre widersprüchliche Gleichzeitigkeit betont. (Raymund Wilhelm, Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des siecle des Lumieres, Tübingen 2001, S. 155 f£.) 269
Solange wir wachen, ist einer unausgesetzt tätig: der Tastsinn. E r liegt wie ein ewiger Wächter auf der ganzen Oberfläche des Körpers und setzt uns von allem in Kenntnis, was uns schaden könnte. Mit ihm machen wir wohl oder übel unsere Erfahrungen: wir brauchen ihn folglich nicht besonders zu pflegen. 18
Hier ist vom Tastsinn ausdrücklich als von einem die gesamte Körperoberfläche besetzenden, überziehenden Wahrnehmungsorgan die Rede. Dabei übt er eine handfeste, überlebenssichernde Funktion aus, indem er >wie ein ewiger Wachten die Umgebung auf mögliche Gefahren sondiert. - »[I]l a ete repandu sur la surface entiere de nötre corps comme une garde continuelle, pour nous avertir de tout ce qui peut l'offenser.« 19 - So dient er als eine Art — panoptisches bzw. >pantaktisches< — Warnsystem, weil er den gesamten Körper erfaßt und daher von allen Punkten aus wirksam ist. E r muß erspüren, wo Gefahren lauern, um rechtzeitig Sicherheitsmaßnahmen ergreifen zu können. Obwohl er keiner besonderen >Pflege< bedarf, was als ein Hinweis auf seine entwicklungsphysiologische Bedingung und die daraus resultierenden pädagogischen Konsequenzen lesbar ist, kann er dennoch unterschiedliche Grade an Sensibilität und Geschicklichkeit erlangen. In seiner grundsätzlichen Funktion eines Uberwachungssystems gilt der Tastsinn bereits in der Kindheit als hinreichend ausgebildet. Gleichwohl lassen sich im Vergleich zwischen Sehenden und Blinden - womit unter anderem Vorzeichen an die Debatten des 17. Jahrhunderts angeknüpft wird - signifikante Unterschiede erkennen, welche - darin liegt die entscheidende Pointe - a u f eine im frühkindlichen Entwicklungsprozeß verursachte Verkümmerung bei ersteren hindeuten. Trotzdem kann man beobachten, daß die Blinden ein sichereres und feineres Getast haben als wir, weil sie keine Augen haben, die sie leiten. Sie sind daher gezwungen, sich auf diesen einen Sinn zu verlassen, um die Folgerungen zu ziehen, die uns das Auge vermittelt. Warum lehrt man uns also nicht, so wie sie, in der Dunkelheit zu gehen, Dinge tastend kennenzulernen oder Dinge aus unserer Umgebung zu erahnen. Mit einem Wort, bei Nacht und ohne Licht das zu tun, was sie bei Tag ohne Augen tun müssen.20
Der bekannte Topos des tastsicheren Blinden wird auch hier wiederaufgegriffen. Wie schon Diderots Lettre sur les aveugles stellt auch Rousseaus Emile eine Vernachlässigung des haptischen Wahrnehmungsvermögens durch die überdominante >Leitung< der Augen fest. In beiden Texten wird dieser Befund nicht als Naturgegebenheit, sondern als Auswuchs eines kulturellen Werte- und Verhaltenssystems kritisiert. Rousseau stellt ihn daher als korrekturbedürftiges Erziehungsproblem zur Diskussion. Gerade an dem Blinden läßt sich beobachten, wie verfeinerungsfähig das >Getast< ist. 18 19 20
Rousseau, Emil, S. 120. Rousseau, Emile, S. 381. Rousseau, Emil, S. 120.
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Solange die Sonne scheint, sind wir im Vorteil; im Finstern können sie [die Blinden, N.B.] unsere Führer sein. Die Hälfte unseres Lebens sind wir blind. Die wirklich Blinden finden sich immer zurecht, während wir bei Nacht keinen Schritt zu tun wagen. Man kann sich ja Licht machen, wird man sagen. Ja, ja, die Technik! Woher wißt ihr, daß sie uns gerade dann nicht fehlt! Mir ist es lieber, daß Emil die Augen in den Fingerspitzen hat als im Kerzenladen. 21 R o u s s e a u s P l ä d o y e r f ü r die V e r f e i n e r u n g des Tastsinns beinhaltet auch eine medientechnische K r i t i k . M i t den natürlichen sensorischen A n l a g e n , so seine G r u n d a n n a h m e , ist der M e n s c h hinreichend ausgestattet. D e s h a l b ist er auf keine technischen Stützen, etwa das künstliche L i c h t einer K e r z e , a n g e wiesen. D a s D e f i z i t liegt dabei allein in der erzieherischen V e r n a c h l ä s s i g u n g der Sinne. D e n n nicht die V e r f e i n e r u n g der >Fingerspitzen< w i r d in d e n ersten Lebensjahren g e f ö r d e r t u n d begünstigt. U m deren durch falsche E r z i e h u n g s p r o g r a m m e verursachtes U n g e n ü g e n schließlich zu k o m p e n s i e r e n , wird an technischen L ö s u n g e n gearbeitet, welche den E r h a l t der S e h d o m i nanz noch in der N a c h t e r m ö g l i c h e n . " Anstatt jedoch die W i r k u n g der visuellen W a h r n e h m u n g künstlich zu erweitern, zumal es sich dabei u m eine u n w ä g b a r e O p t i o n handelt - >Ja, ja, die Technik! Woher wißt ihr, daß sie uns gerade dann nicht fehlt!< - , sollten die F ä h i g k e i t e n des Tastsinns in v o l l e m U m f a n g zur G e l t u n g gebracht w e r d e n . 2 ' N a c h diesem technikkritischen A r g u m e n t w i r d die K o n k u r r e n z zwischen den beiden W a h r n e h m u n g s f o r m e n auch mit d e m K r i t e r i u m der Z u v e r l ä s sigkeit, die den haptischen g e g e n ü b e r dem visuellen Sinn auszeichnet, untermauert. Obwohl wir den Tastsinn am beständigsten üben, bleiben die Erkenntnisse, die er uns vermittelt, [...] unvollkommener und gröber als die anderer Sinne, weil sich die Augen andauernd hineinmengen. Das Auge erreicht den Gegenstand früher als die Hand, und so urteilt der Geist fast immer ohne Getast. Dafür vermittelt es die sichersten Urteile, eben weil sie die begrenztesten sind. Sie reichen nur so weit, wie
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Ebd. " Zum Verhältnis zwischen Werkzeugen und Handlungen in Emile siehe Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt am Main 1993, S. 3 4 2ff. 21 Jürgen Manthey beschreibt - mit einem überbordend bildhaften Aufwand - diesen Lernprozeß als vergeblich, da es ihm nicht gelingt, die kulturell erzeugte >Verkümmerung< wiederherzustellen: »Nein, auch bei Rousseau kommen die fünf Sinne nicht wieder zu ihrem natürlichen Einklang. In seinen unermüdlichen Urteilen über ihr Verhältnis zueinander bezieht eine hergebrachte subjektivierte Partialität nur ihre zeitgemäßen Positionen. Auge und Hand, sie bleiben Teile, die in das Schweigen des Ganzen hineinsprechen: Rousseau lauscht auf ihren Dialog und hört die Laute einer Ursprache heraus, die das Echo eines ganzen abgeben, dieses aber nicht sind.« (Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München/Wien 1983, S. 207) 271
die Hände greifen können, aber sie berichtigen die Fehlurteile der anderen Sinne, die ins Weite reichen, und Dinge erfassen, die sie kaum wahrnehmen. Das Getast dagegen erfaßt richtig, was es erfaßt.24
Innerhalb der sensorischen Entwicklung werden die Eindrücke des Tastsinns, obwohl er >beständig< aktiv ist, durch die >andauernde< Einmischung der Augen gestört. Dabei setzen sich die Urteile der visuellen Wahrnehmung zunehmend durch und überdecken die Urteile des Tastsinns, wie es scheint. Wenn Rousseau sodann gegen die Reichweite und Geschwindigkeit des Sehsinns die >Begrenzung< und >Urteilssicherheit< des Tastsinns anfuhrt, formuliert er eine für die Unterscheidung und Bewertung der Sinne im 18. Jahrhundert symptomatische These. Danach gilt der Tastsinn als urteilssicher, weil er auf einem unmittelbaren Kontakt zum Wahrnehmungsgegenstand beruht. Das Auge wird demgegenüber - wie >die anderen Sinne, die ins Weite reichen< - als Quelle der >Fehlurteile< bestimmt. Die traditionell als >edel< ausgewiesenen Sinne, Auge und Ohr, werden hier mit dem Argument der Täuschungsanfalligkeit belegt und ihre Eindrücke als korrekturbedürftig hingestellt. Entgegen der kulturellen und pädagogischen Präferenz, die sich auch in Lockes Zitat artikuliert, wenn er die ersten nach der Geburt entstehenden Ideen vom Licht verursacht sieht, insistiert Rousseau vielmehr auf der Abhängigkeit des Auges vom Tastsinn. Seine Eindrücke sind nämlich erst haptisch zu beglaubigen. Unter dem Primat des organischen Körperbezugs verändert sich folglich auch die epistemologische Wertung der Wahrnehmungen. Gerade weil der Tastsinn im räumlichen Sinn nur >begrenzt< wirksam ist, also stets im Umkreis der körperlichen Reichweite agiert, kann seinen Urteilen Zuverlässigkeit bescheinigt werden. 2 ' 14
Rousseau, Emil, S. 126. (»Quoique le toucher soit de tous nos sens celui dont nous avons le plus continuel exercice, ses jugemens restent pourtant comme je Tai dit imparfaits et groissiers plus que ceux d'aucun autre, parce que nous melons continuellement ä son usage celui de la vüe, et que l'ceil atteignant ä l'objet plus tot que la main, l'esprit juge presque toujours sans eile. En revanche les jugemens du tact sont les plus surs, precisement parce qu'ils sont les plus bornes; car ne s'etendant qu'aussi loin que nos mains peuvent atteindre, ils rectifient l'etourderie des autres sens qui s'elancent au loin sur des objets qu'ils apperpoivent ä peine, au lieu que tout ce qu'apperpoit le toucher, il l'apperpoit bien.« [Rousseau, Emile, S. 389]) Waltraut Naumann-Beyer spricht in diesem Zusammenhang von einer »ernstzunehmende[n]« Konkurrenz zwischen beiden Sinnen: »Während der Aufklärung des : 8. Jahrhunderts veränderte sich innerhalb des kognitionstheoretischen Diskurses selber die Bewertung von Auge und Hand. Das latente Nebeneinander von optischer und taktilistischer Sinneshierarchie, das zwischen dem theoretischen Diskurs der Erkenntnis und dem praktischen Diskurs des Lebens und der Liebe aufgeteilt war, zog allmählich ins Innere des Erkenntnis-Diskurses selber ein; und in der erkenntnistheoretischen Asthesiologie erwuchs dem Auge im Tastsinn ein ernstzunehmender Rivale. Zu kognitiven Ehren kam der Tastsinn vor allem dort, wo die Erkenntnis auf praktische und vitale Zwecke gerichtet war.« (Waltraut Nau-
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Wenn Rousseau sich in dem anfangs zitierten Abschnitt auf den >Automaten< und die >Statue< bezieht, um sie als Ausschlußkriterien der physiologischen Entwicklung und der daraus hervorgehenden Wahrnehmungstheorie zu proklamieren, dann unterlegt er diese Beobachtung zugleich auch mit der Unterscheidung zwischen Leben und Tod. Unterderhand zumindest bringt er hier eine begriffliche Opposition in Anschlag, welche sich, wie im folgenden darzustellen, in ihrer einfachen Abgrenzung als höchst problematisch erweisen wird. Von Rousseau aber wird Leben als Eigenschaft lebender Materie, die sich im Wachstum des Körpers ausbildet und interpoliert, bestimmt. Erkenntnis, zumal sinnliche Erkenntnis, wird von ihm deshalb stets auch auf den Körperbezug hin projiziert und von diesem her verstanden. Entwicklungsphysiologisch ist er mithin unumgänglich. Aber auch in der Epistemologie der Sinne schlägt sich der Körperbezug nieder, insofern er eine Umwertung des Verhältnisses zwischen Fern- und Nahsinnen bewirkt. Nur letztere gelten als zuverlässig, wobei der Urteilsmaßstab, also das, was erkannt werden soll, der Körper selbst sowie die ihn umgebende und von ihm zu erfassende Welt sind. Das von Rousseau in Emile angestoßene Gedankenexperiment wird in unterschiedlichen Texten des 18. Jahrhunderts gleichsam umgekehrt. Die Herausbildung der Wahrnehmungsfähigkeit wird dann nicht als Entwicklung eines Menschen, sondern als Verlebendigung eines Automaten oder einer Statue veranschaulicht.26 Von hier aus aber kann die Entwicklung gewissermaßen rückwärts gedreht und als Verlebendigungsprozeß inszeniert werden. Anders ausgedrückt: Leben wird an den zum Leben erweckten Automaten und Statuen mit einem Körper in Verbindung gebracht, welcher im Hinblick auf seine sinnesphysiologische Ausstattung unfertig und entwicklungsbedürftig ist, ja überhaupt erst in organische Materie verwandelt werden muß. Wie das Bewußtsein mit dem Gebrauch der Sinne allmählich entsteht, so wird hier auch organisches Leben als eine prozessuale, sich nach der Geburt noch weiterentwickelnde sensuell und kognitiv begabte Materie reflektiert.
mann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 208) 26 Im Unterschied dazu gilt im 17. Jahrhundert bekanntlich der Automat als Modell bzw. Abbild des belebten menschlichen Körpers.
2
73
2. Ausbildung der Sinne: Bodmer und Buffon Leben als Gegenstand der Naturforschung Die Naturforschung des 18. Jahrhunderts hat noch keinen Begriff vom Leben als einer autonomen Kategorie, die eine Spaltung des Wissensfeldes in einen auf lebende und einen auf leblose Materien27 ausgerichteten Bereich notwendig machen würde. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts existiert in der Tat das Leben nicht, sondern lediglich Lebewesen. Diese bilden eine oder vielmehr mehrere Klassen in der Folge aller Dinge auf der Welt: und wenn man vom Leben sprechen kann, dann lediglich als von einem Merkmal - im taxinomischen Sinne des Wortes - in der allgemeinen Verteilung der Wesen. Man ist gewohnt, die natürlichen Dinge in drei Klassen aufzuteilen: die Minerale, denen man Wachstum ohne Bewegung und Empfinden zuerkennt; die Pflanzen, die wachsen können und bestimmte Wahrnehmungen machen können; die Tiere, die sich von allein bewegen. [...] Das Leben bildet keine manifeste Schwelle, von der aus völlig neue Formen des Wissens verlangt werden [...].28
Auch wenn Leben noch >keine manifeste Schwelle des Wissens bildetnatürlichen Dinge< unterschieden und klassifiziert werden, so läßt sich dennoch beobachten, daß und wie dessen Bestimmung bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts diese taxonomische Ordnung allmählich verläßt und gerade im Zusammenhang mit organologischen Konzepten auf andere Kategorien umgestellt wird. Leben als autonome Größe fehlt zwar als ausdrücklicher Erkenntnisbezug, es zeichnet sich jedoch bereits als implizite Verweisung durchaus deutlich ab. Dabei wird es nicht mehr nur als eines unter vielen Merkmalen, die der Klassifikation eines Lebewesens dienen, sondern als Voraussetzung des gesamten klassifikatorischen Merkmalsbündels unterstellt. Ihm wird die Funktion zugedacht, die Entstehung dieser Merkmale überhaupt erst zu ermöglichen. Vor allem das menschliche Leben spezifiziert und vervollständigt sich erst im Wachstum, weshalb es 27
Siehe dazu Bierbrodt, Naturwissenschaft und Ästhetik, S. 88; Simone de Angelis, Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003, S. 4i9ff. Siehe dazu auch Kondylis: »Näher betrachtet sind die beiden Stützen der neuen Biologie - nämlich die Theorie der Epigenesis und die Ansätze zum Evolutionismus - nichts anderes als direkte Schlußfolgerungen aus der Annahme einer Materie, die eine unermeßliche Fülle von Entfaltungsmöglichkeiten ursprünglich in sich schließt oder zumindest dieselben in immerwährender Selbstbewegung schafft.« (Kondylis, Die Aufklärung, S. 271) Kondylis sieht die »Aufwertung der Materie« (ebd., S. 276) als wesentliche Entstehungsbedingung der Biologie an.
28
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers, von Ulrich Koppen, Frankfurt am Main 1974, S. 207f.
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nicht als ein einziges, einfach abgrenzbares Merkmal fixiert und ohne Bezug auf die Prozessualität organischer Entwicklung beschrieben werden kann. Des weiteren aber läßt es sich von seiner anderen Seite, dem Tod, nicht trennen, was allerdings eine notwendige Bedingung seiner taxonomischen Einordnung wäre.29 Von der Frage nach der Merkmalsdichte - wie Linne - oder dem primären Anzeichen — wie Maupertuis in den »Affinitätsbeziehungen in Materieteilchen« i0 - des Lebens ausgehend, wendet sich die Naturforschung des 18. Jahrhunderts der Frage zu, wann es entsteht und wie sich der Punkt seiner Entstehung bzw. seines Entstandenseins markieren läßt. Entscheidend ist dabei, daß es ihr nicht gelingt, den Wechsel vom unbelebten in den belebten Zustand als ein punktuelles Ereignis zu fassen. Die Naturforschung kapituliert vielmehr an der Festlegung einer trennscharfen Distinktion sowie einer präzisen zeitlichen Einheit, mit welcher sich der Umschlag von dem einen in den anderen Zustand bezeichnen ließe. Statt dessen macht sie einen unsicheren Ubergang kenntlich, in dessen Folge jedoch nicht nur die Lebenskategorie als feststehendes, abgrenzbares Merkmal in hohem Maße problematisch wird, sondern auch die taxonomische Ordnung in Bewegung gerät. Leben bedeutet danach einen Entwicklungsvorgang, dessen Anfangsphase durch Zerbrechlichkeit und morbide Gefährdung bestimmt ist. Es definiert nicht die andere Seite der Leblosigkeit, es gilt nicht als Oppositum des Todes, sondern dem Leben selbst lauert der Tod stets, in Ein entscheidendes Charakteristikum der Autonomisierung der Lebenskategorie im 19. Jahrhundert besteht darin, daß das Leben als v o m Tod »durchdrungen« gedacht wird. (Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, übers, von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1988, S. 156) E r bildet nun nicht die Ausschlußkategorie, sondern einen internen Bestandteil des Lebens. Mehr noch, dieses läßt sich nur v o m Tod her erkennen und verstehen. »Von der Renaissance bis zum E n d e des 18. Jahrhunderts war das Wissen v o m Leben im Zirkel des Lebens befangen, der in sich zurückläuft und sich selber spiegelt. Seit Bichat steht dieses Wissen neben dem Leben; es ist von ihm durch die unüberschreitbare Grenze des Todes getrennt. D e r Tod ist der Spiegel, in dem das Wissen das Leben betrachtet.« (Ebd., S. 160) Darüber bestehen konkurrierende Ansichten: »Wenn man es mit Maupertuis durch die Beweglichkeit und die Affinitätsbeziehungen definiert, die die Elemente sich gegenseitig anziehen lassen und sie zusammenhängend aufrechterhalten, muß man das Leben in die einfachsten Materieteilchen verlagern. Man ist gezwungen, das Leben viel höher in der Folge anzusetzen, wenn man es durch ein beladenes und komplexes Merkmal definiert, wie es Linne tat, als er dem Leben Kriterien wie die Geburt (durch Samen oder K e i m ) , die Ernährung (durch Nahrungsaufnahme), das Altern, die äußere Bewegung, den inneren Antrieb der Säfte, die Krankheit, den Tod, das Vorhandensein von Gefäßen, von Drüsen, von Epidermis und v o n Gleichgewichtssinn zuwies. Das Leben [...] ist eine Kategorie der Klassifizierung, die wie alle anderen zu den Kriterien, deren man sich bedient, in Beziehung steht.« (Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 2.o-/f.)
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besonderem Maße aber in der Zeit seiner früheren Entwicklung, auf. Dabei wird an der physiologischen Unfertigkeit des Menschen dieser unmittelbare Bezug des Lebens zum Tod ablesbar, wie Georges-Louis Leclerc Buffon zu Beginn des Kapitels »Über die Kindheit« in seiner Histoire de l'homme (1749) beschreibt: Nichts ist im Stande, uns einen richtigem Begriff von der menschlichen Schwäche beyzubringen, als der Zustand, in dem sich der Mensch unmittelbar nach seiner Geburt befindet. Das neu geborne Kind, unfähig, noch den geringsten Gebrauch von seinen Werkzeugen zu machen, und sich seiner Sinne zu bedienen, hat Hülfe aller Art nöthig, und stellt uns ein Bild des Elendes und des Schmerzens dar. Es ist hülfloser, als ein Junges irgend einer Thiergattung. Sein unsicheres wankendes Leben scheinet sich mit jedem Augenblicke seinem Ende zu nähern. Es kann sich weder aufrecht erhalten, noch bewegen. Kaum hat es die nöthige Kraft, im Leben zu seyn, und durch Wehklagen seine Leiden anzuzeigen.
Nach der Geburt ist das menschliche Leben, als müsse es dem nicht-belebten Zustand erst noch abgerungen werden, >hilflos< und >unsicherjedem Augenblick seinem Ende zu nähern< scheint. Zwischen Leben und Tod herrscht in diesem Zustand ein nur kleiner, ein lediglich gradueller Abstand, welcher sich an der >Kraftein Bild des Elends und des Schmerzes< - verschränkt, verspricht sich die Lebenskraft erst mit der Ausbildung der Sinne zu stärken. Deren Entwicklung gilt daher als unmittelbarer Ausdruck und als Medium der organischen Vitalität. So gibt sich die allmählich durchsetzende Trennung des Lebens vom Tod durch die Ausprägung sensomotorischer Fähigkeiten zu erkennen, wie sich im Umkehrschluß auch an deren Entwicklung die zunehmende Stabilisierung der Lebenskraft beobachten läßt.
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Herrn von Buffons Naturgeschichte des Menschen, nach der französischen Abschrift frey übersetzt und mit vielen eignen neuen Beobachtungen, Anmerkungen und Erläuterungen aus der Naturgeschichte des Menschen versehen von Friedrich Wilhelm Freyherrn von Ulmenstein, Teil I, Berlin 1805, S. 17. Zur »Korrelierungsgeschichte von Schmerz und Leben«, wobei Schmerz den organischen Tod repräsentiert, siehe Roland Borgards, Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin, in: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann (Hg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, S. 1 3 5 - 1 5 8 , hier S. 153.
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Nicht nur die Pädagogik und Naturhistorie, sondern auch die Literatur der Zeit rückt die Phase der Lebensentstehung in Korrespondenz zur sinnesphysiologischen Entwicklung in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit. In der Weise etwa bedient sich Johann Jacob Bodmer der Pygmalion-Fabel, um in seiner 1747 erschienenen Erzählung Pygmalion und Elise das Geborenwerden als Vorgang einer internen Organisation der Sinne und des Bewußtseins zu schildern." Anders als vom Titel angekündigt, steht nicht Pygmalion, der gleichwohl den Anfang der Erzählung dominiert, in ihrem Mittelpunkt, sondern die von ihm gemeißelte Statue.34 Eine zunächst namenlose Protagonistin, die erst in dem zweiten, ihr gewidmeten und nach ihr betitelten Teil den Namen Elise" bekommt.56 In dem Augenblick, in dem sie - bereits in der ersten Hälfte des ersten Teils - verlebendigt wird, scheidet Pygmalion aus dem Geschehen vorerst aus. Weder ihrer Animation noch der Ausbildung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit wohnt er — nicht einmal aus der Distanz unbeteiligter Beobachtung - bei. Seine Perspektive wird aus der narrativen Anordnung für eine gewisse Zeit vollständig ausgestrichen, um statt dessen eine Annäherung an den Naturzustand zu suggerieren, für welchen die ge" Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, diesen Text einer Lektüre zu unterziehen, in welcher vermeintlich >ermüdende Einzelheiten sich gerade als sehr aufschlußreich erweisen können. Siehe dagegen: »Sich bei der Bodmerschen Pygmalion-Erzählung in Einzelheiten zu verlieren, wäre ermüdend« (Annegret Dinter, Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel, Heidelberg 1979, S. 86). Das hier konstatierte Urteil der E r m ü d u n g s gefahr hat sich in der Forschung durchgesetzt, insofern Bodmers Erzählung, wird sie überhaupt zur Kenntnis genommen, nicht interpretierend gelesen und analysiert, sondern fast ausschließlich motiv- und stoffgeschichtlich eingeordnet wird. 14
Vgl. dazu Hans Sckommodau, Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1970 ^ S i t z u n g s b e r i c h t e der Wissenschaftlichen G e sellschaft an der J o h a n n Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 8, H. 3 [1969]), S. 2 } .
" In Bodmers Bearbeitung des Stoffes bekommt die Statue zum ersten Mal einen Namen. Z u r Namensproblematik der Statuen in der Tradition der PygmalionBearbeitungen siehe Heinrich Dörrie, Die schöne Galatea. E i n e Gestalt am Rande des griechischen Mythos in antiker und neuzeitlicher Sicht, München 1968, S. 48. ' 6 Nachdem Bodmer zu A n f a n g der Elise-Erzählung die Quellen der Pygmalionfabel (>Cyprische Handschriften< und >Egyptische Tagebücherkühnen Hand< stellt sich der Marmor als fast lebender Körper, sodann als Mensch - >FrauMann< - dar. Hiermit ist eine erste Verwandlungsstufe vom unbelebten zum belebten Zustand erreicht. Innerhalb des ersten Satzes des obigen Zitats findet sich jedoch ein signifikanter Schnitt, insofern der Text hier ganz deutlich die Eigenschaften der Statue unmittelbar mit Pygmalions Wahrnehmung kurzschließt. Als Rezipient tritt der Bildhauer hier auf, dem sich der Anschein der Gelenkigkeit, aber auch die Weichlichkeit des Fleisches und die Stärke der Muskeln< mitteilen. Haptische Eindrücke, die durch das zentrale Prädikat dieses Passus' - >schien< - gleichwohl als Attribute der Einbildung kenntlich gemacht werden und als solche die Differenz zwischen totem Stein und lebender Materie zunächst noch bestätigen. Eine Differenz, die zum Ende dieses Abschnitts auf die Aussage hinausläuft: Die Statue schien »von [ihrem] eigenen Geiste beseelet«.47 Sogar die Beseelung - in der alteuropäischen Tradition eine von Gott verliehene Gabe - wird hier, wenngleich unter dem relativierenden Vorzeichen des Scheins, 4 ' als selbsterzeugte Operation ausgewiesen. Eine weitere Bearbeitungsphase schließt an die hier beschriebene an. Der darauffolgende Abschnitt zeichnet das Bild gesteigerter Intensität, läßt dabei 46 47 49
Ebd., S. 2i. Ebd. Darin tritt die ästhetische Umorientierung von Produktions- auf Rezeptionsästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert maßgeblich auch von Bodmer vertreten wird, in Erscheinung. Das ästhetische Ereignis findet somit nicht in der Herstellung, sondern in der Wahrnehmung des Kunstwerks statt, weshalb Bodmers PygmalionBearbeitung auch ohne eine Künstler-Figur auskäme; was sie in gewisser Weise auch tut. 281
aber die Frage offen, an welchem Ort sich diese Steigerung ereignet. Wird sie nur der Rezeptionsleistung Pygmalions zugeschrieben oder soll sie auch als Qualität des Werks verstanden werden? Mit anderen Worten, gelingt es Pygmalion, mittels seiner engagierten Rezeptionsleistung das Werk zu verlebendigen? Pygmalion [...] hatte sich in Arbeiten erhitzet und eine heftige Neigung angenommen [...]; dadurch geschah, dass er den A u g e n von Marmor das lieblichste Leben, dem Angesichte die süsseste Holdseligkeit mittheilete, dass er ein feines Lächeln, die erhabenste Haltung des Kopfes, die wohlberedtste und geistreichste Mine ausbildete. 49
Mit >Erhitzung< und >heftiger Neigung< deutet der Text auf Pygmalions zunehmende emotionale Anteilnahme hin. Zudem spricht er die >Mitteilung< als einen Akt der Gabe an, durch welchen die Statue bestimmte Eigenschaften erhält. Mit dieser Prädikation wird allerdings auch auf eine kommunikative Handlung hingewiesen, die keine Auswirkung auf die materielle Konstitution der Skulptur haben muß: Mitteilung, als Akt sprachlicher bzw. überhaupt kodierter Informationsübermittlung. Im Gegensatz zur vorangegangenen Beschreibung des gleichsam präformierten und schließlich aus sich selbst hervorgehenden Werks - wobei hier vor allem die körperliche Gestalt der Skulptur gemeint war können die nachfolgenden Ereignisse der Wahrnehmungsperspektive und Vorstellungskraft Pygmalions zugerechnet werden. Die Intensität, die er seiner >Arbeit< angedeihen läßt, kontrastiert der bloßen, handwerklich stützenden, Freilegung der im Marmor angelegten Figuren, weil sie - obwohl nur in der Vorstellung wirksam - eine Aktivität ist. Bezeichnenderweise wechselt an dieser Stelle auch der grammatische Modus des Textes, und die Marmorstatue scheint nicht nur lebendig, für ihn, der >sich in Arbeiten erhitzt und eine heftige Neigung angenommen hat, ist sie es vielmehr. Seine Arbeit erreicht einen Erregungsgrad, der die Unterscheidungsgrenze zwischen dem Anschein der Lebendigkeit und dem toten Marmor nicht mehr zu erkennen vermag und in die Einsicht mündet: »Ich kann es mir selbst nicht länger verbergen, ich liebe einen Marmorkloß.«' 0 Eine erneute Bewußtseinsveränderung folgt. Hat der Marmor im vorigen Abschnitt seine materiellen Eigenschaften in Pygmalions rezeptiver Animation gegen den Anschein eines lebenden Körpers eingetauscht, so wird er nun auf seine steinerne Materialität - >Marmor< - wieder zurückgeführt: »Dieser Marmor ist Marmor in seinen einfachesten Theilchen.«' 1 Nicht mehr der Schein, sondern das empirisch gewonnene Evidenzgebot lenkt 49
Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 22. E b d . , S. 23.
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E b d . , S. 23f.
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hier die Argumentation. Danach besteht der unbehauene große Block aus Marmor, aber auch seine elementaren, also nicht weiter zerlegbaren Teilchen sind aus eben diesem Material. Er veranschaulicht das Prinzip vollkommener Leblosigkeit, des Todes. In der als unüberwindlich gedachten Abgrenzung vom Leben wird auch das der Metamorphose - die der Zeugung und dem Wachstum notwendig innewohnt — entgegengesetzte Prinzip angesprochen. Denn mikro- wie makroperspektivisch wird in dieser analytischen Betrachtung Pygmalions immerzu ein unveränderliches Element festgestellt: der Stein. Die vorangegangene >Mit/«Y»«glebende K r e a t u r e n im K a p . II. 54 Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 24. 283
Vermischung dieser Teilchen mit anderen Materieteilchen Veränderungen ihrer jeweiligen (Wechsel-)Wirkung nach sich ziehen, sie betrifft jedoch ausschließlich ihre >äußerliche Gestalte. Unberührt bleibt davon ihre grundsätzliche Beschaffenheit als leblose Substanz. Pygmalions Überlegungen werden hier von einer Naturerkenntnis geleitet, die die Annahme, die elementaren Materieteilchen des Marmors verfugten über eine interne Anziehung, durch welche sie sich zu komplexen und in einer solchen Komplexität die Emergenz des Lebens ermöglichenden Organismen verbinden könnten, strikt verneint. Nachdem Pygmalion in erhitzter Rezeption, die ihn als leidenschaftlichen Kunstbetrachter auszeichnete, den Marmor sich verlebendigen sah, wird er hier zu einem Naturforscher, der jede anthropomorphe Verlebendigung unbelebter Materie in Zweifel zieht. Zwei Standpunkte, die auf eine einzige Figur zurückgeführt und als Bestandteile einer personalen Perspektive dem auktorialen Erzählmodus kontrastiert werden, nach welchem die natürliche Präformation des Steins zu Anfang geschildert wird. Entscheidend ist zudem auch, daß gerade die von Pygmalion als unaufhebbar wahrgenommene Diskrepanz zwischen organischer und anorganischer Materie auf jene >Schwelle< hindeutet, die zum Ende des 18. Jahrhunderts das Leben in der Naturforschung konstituieren wird. Denn dieses gilt nicht als ein Merkmal unter vielen, welches innerhalb der Taxonomie der Naturdinge gewisse Subunterscheidungen ermöglicht. Das Leben indiziert vielmehr eine derart grundlegende Grenze, an der sich organische und anorganische Naturphänomene scheiden, daß diese nicht mehr taxonomisch zueinander in Beziehung gebracht werden können. Vor dem Hintergrund einer solchen Unterteilung des Gegenstandsbereichs der Natur wirkt die Erwartung auf eine Belebung des Steins als gänzlich aussichtslos.
Selbstempfindung Pygmalions Perspektive wird einmal mehr umgelenkt. Er erinnert sich: »man trägt sich mit einem nicht gar alten Gerüchte, dass aus den Steinen des Deukalions und der Pyrrha Menschen gewachsen seyn«." Ein empirisch nachprüfbarer Befund, wonach der Marmor auch in seinen kleinsten Elementarteilchen nur toter Stein ist, und eine nicht-beglaubigte, tradierte Begebenheit, die von aus Steinen gewachsenen Menschen berichtet, werden an dieser Stelle des Textes einander als zwei unversöhnliche Wissensformen gegenübergestellt. Aus der naturkundlichen Perspektive, welche die Unüberwindbarkeit der Grenze zwischen organischen und anorganischen Materien festschreibt, läßt sich dieses >Gerücht< freilich nur als Unmögliches " Ebd.
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abtun. Indes werden von Pygmalion beide Perspektiven ernsthaft erwogen. Auf diese Weise verdichtet sich in ihm nicht nur die Differenz zwischen Naturwissen und überlieferten Wundererzählungen, sondern deutlich wird überdies auch, daß er im Wechsel der Argumente und Positionen hin und her gerissen ist. Gerade darin aber besteht ein zentrales Moment der gesamten textuellen Dramaturgie.' 6 Pygmalion hält dem Gerücht wissenschaftlich bestätigte Gesetze der Natur entgegen und verwirft es, indem er eine weitere Reflexion ins Spiel bringt. Auch wenn in den Steinen menschliche Gestalten, als in einem Saamenkorne gesessen hätten, für welche darinnen durch eine göttliche Vorherordnung ihre gewöhnliche Nahrung, wie sonst in dem Eierstocke der Mutter wäre geleget worden, wie hätten diese Gestalten sich durch den Stein hindurchgraben können, wenn sie die Nahrung darinnen aufgebraucht hätten, und dadurch zu einem gewissen Wachsthum gekommen wären?"
Pygmalions Gedankenexperiment greift die präformationstheoretische Auffassung wieder auf. Denn wie hier über die >menschlichen Gestalten« als >Samenkorn< im Inneren des Steins spekuliert wird, so auch schildert der Text am Anfang die Herstellung der Statue aus den Marmorblöcken. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß sich dort ein bildhauerisches Werk aus dem Stein herausschälte. Hier aber, wo keine Statuenbildung, sondern die Entstehung eines lebenden Menschen erwogen wird, zweifelt Pygmalion sogar die Möglichkeit an, daß Götter dazu in der Lage seien, eine solche Metamorphose zu bewirken. »Durch diesen Weg«, so seine Uberzeugung, »scheinet es den Göttern selbst unmöglich zu seyn, mich zu vergnügen.«' 8 Die Elementarteilchen sind nichts anderes als Stein. Wäre in ihnen aber ein lebendiger Keim enthalten, müßte er darin verkommen. Denn niemals schaffen es lebende Materien, sich durch den Stein >hindurchzugrabenWärmeWachs< heranzieht. Die Verlebendigung des Körpers wird dabei nach dem Schema einer plastischen Modellierung dargestellt. So wiederholt der Text das Motiv der bildhauerischen Bearbeitung an der Stelle, wo die Erweckung zum Leben eingeleitet wird. Die Herstellung der Skulptur wie die Erschaffung des lebenden Menschen werden mithin parallelisiert. Tastet er wieder und wieder, der Liebende, nach der Geliebten. Wirklich, sie lebt! Es klopfen, befühlt vom Daumen, die Pulse. 6 '
Pygmalion berührt die Statue und erkennt, daß >sie lebtdie geliebte Bildsäule sich allmählich< empfand, folgt in Bodmers Text der Hinweis auf selbsterzeugte Bewegung: »Indem das Leben 6i 64 65
Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 27. Ovid, Metamorphosen, Zehntes Buch (280-287), S. 525. Ebd. (288-289), S. 326. 287
ihr durch die Gliedmassen hinfloss, stellte sich die Bewegung von einem zum andern ein.«66 Emotion wird von Motion 67 gefolgt. Der Text fährt fort: »Die Sinnen entstunden; und so bald sie ihre Wirkungen anfingen, kamen die Gedanken.«68 Was fortan ins Zentrum rückt, ist die Schilderung des Aufbaus sensorischer Vermögen, der Grundlage komplexerer kognitiver Vorgänge. 69 Mit der >Wirkung der Sinne< setzen auch die >Gedanken< ein. Die Demonstration der Sinnesentwicklung bildet aber das Kernstück des Textes: Eine Frau nimmt sich mittels ihrer Empfindung selbst wahr, sie bewegt sich, und nahezu zeitgleich entstehen ihre Gedanken. Damit sind die wesentlichen anthropologischen Funktionsbereiche erfaßt, in welchen sich menschliches Leben manifestiert. Sie drehete das Haupt, sie streckte eine Hand aus, und dann die andere, sie hob einen Fuss empor, und sezte ihn wieder in die vorige Stellung. 70
Die erste Bewegung erfolgt zwar mit dem K o p f , die zweite aber, das Ausstrecken der Hand, verweist schon auf die erste und deshalb grundlegende perzeptive Erfahrung, die mittels des Tastsinns erfolgt. Dann fuhr sie mit der Hand über ihre Gliedmassen hin, sie befühlte die Ründe ihres Kopfes, die kleine Oefnung des Mundes, die zweifache Hole der Nase, das seidene Haar, den schmalen Hals, die erhabenen Brüste, den gewölbten Bauch, die schlagenden Adern, das warme Fleisch, die weiche Haut, die harten Knochen; das alles ward ihr durch das Gefüihl bekant. 7 '
Die zuvor erwähnte >Selbstempfindung< spezifiziert sich nun als Wahrnehmung des Gefühls. Selbstempfindung und Gefühl werden einander somit korreliert. Nicht das Auge, worin etwa Locke die entwicklungsphysiologisch primäre Wahrnehmungsleistung beobachtete, sondern der Tastsinn wird hier als erster aktiver Sinn bestimmt: eine konstitutive physiologische Erfahrung, die als Ausgangsbasis und als Kontroll- sowie Absicherungs-
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Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 27f. Siehe dazu Gabriele Brandstetter, Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation von Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts, in: Mathias Mayer und Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg in Breisgau 1997, S. 393-422, hier S. 403. 61 Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 28. 69 »Die Statue ist bei französischen Sensualisten oder Materialisten des 18. Jahrhunderts eine Art Anschauungsmodell zur Darlegung der Gesetzmäßigkeit im sensoriellen Wahrnehmungsapparat des Menschen« (Scommodau, Pygmalion bei Franzosen und Deutschen, S. 52). Dieser Tradition muß auch Bodmers Bearbeitung des Stoffes zugerechnet werden. Entscheidend ist dabei, daß das Anschauungsmodell der Evidenzerzeugung dient und in literarischen wie in wissenschaftlichen Texten des 18. Jahrhunderts gleichermaßen zum Einsatz kommt. 70 Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 28. 71 Ebd. 67
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medium aller weiteren Wahrnehmungen dient. Die Statue tastet ihre >Gliedmassen< bzw. den ganzen Körper nacheinander ab und fühlt dabei den Puls, >die schlagenden Aderndas warme Fleisch< und die >weiche< Konsistenz der Haut; Wahrnehmungen, die in Ovids Bearbeitung Pygmalion obliegen, hier aber als selbstreferentielle Erkundungen gerade in seiner Abwesenheit erfolgen. 72 Sensorische Anordnung Unmittelbar im Anschluß an die Tastwahrnehmung entsteht auch das Denken; zuerst stimmlos, »bei sich selbst«, dann aber »auch mit lauter Stimme«. Sic gedachte erstlich bei sich selbst, was das alles, was sie selbst wol wäre? Dann sagte sie, was sie gedachte, auch mit lauter Stimme: Wie habe ich mich selbst gefunden? 7 '
Denken und Sprechen bilden hier zwei Seiten einer Operation. 74 Sie unterscheiden sich lediglich darin, daß letzteres vernehmlich ist. Während die ertasteten Eigenschaften ihres Körpers ein zweifelsfreies Wissen kumulieren und sich zu der Aussage verbinden, >das alles war ihr durch das Gefühl bekanntSie dachte, was sie selbst wohl wäre?< Wahrnehmen und Denken gelangen hier nicht zur Deckung, weil die Summe erfühlter Informationen nicht ausreicht, um mit ihr die Frage der Identität zu beantworten. Die erste Äußerung des Lebens im >Sich-selbst-Empfinden< verliert in der Ordnung des Denkens ihre begründende Funktion. Mit der zweiten, nun laut ausgesprochenen und als direkte Rede formulierten Frage
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»Natürlich wird die Beziehung zwischen der schaffenden Hand und dem durchlebten Körper in vielen Schöpfungsmythen etabliert. [...] Daß aber die fühlende Hand in besonderer Weise geeignet sei, Leben nicht nur >herzustellenZusatzWie habe ich mich selbst gefünden?< Obwohl die vorangegangene Frage danach, >was sie selbst wohl seiich< sagen. In der Dramaturgie des Textes bedingt die ertastete Selbstwahrnehmung des eigenen Körpers den kognitiven Findungsprozeß, indem sie ihm unmittelbar vorausgeht. Dennoch wird sie von diesem zugleich überschritten und auf eine höhere Komplexitätsstufe gewiesen, weil Denken den Zeithorizont auf Vorhergehendes ausdehnt, während die Selbstempfindung allein in der Aktualität der Gegenwart verbleibt. Aber was für ein Wunder, dass ich eine Stimme von mir gebe, und itzo laut denke! Was fur ein grösseres Wunder, dass ich denke! Ich höre mich selber denken, und zu mir selber sagen: Wann habe ich entschlossen mich zu suchen, wo war ich, eh ich mich fand, was war ich?76
Nicht nur die Verwandlung der Statue in einen Menschen, auch die Entwicklung der natürlichen Sinnesausstattung und des daraus hervorgehenden Denkvermögens wird zum Exempel des >WunderbarenWunderbarenWas für ein Wunder, daß ich eine Stimme von mir gebeWas für ein größeres Wunder, daß ich denke.< Anders als der Wahrnehmungsprozeß vollzieht sich das Denken auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung, denn es befragt die Voraussetzungen dessen, was die Wahrnehmung lediglich feststellt. So führt die anschließende Reihe von Fragen die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Standpunktes vor: >Wann habe ich beschlossen, mich zu suchen, wo war ich, eh ich mich fand, was war ich?< Wenn die Statue schließlich festhält: >Ich selbst habe das nicht getanich höre mich selber denkenich fand mich< - weisen schließlich auf etwas von ihnen Unterschiedenes, ihnen gleichsam Vorausgehendes hin. Der psycho-physiologisch geschlossene Selbstbezug der Statue konstituiert somit eine Grenze, hinter welcher Unbekanntes beginnt und die Unbeantwortbarkeit der gestellten Fragen bedingt. 7>
»Das >ich< wird zwar in Frageform gesetzt, aber doch fraglos benutzt. Ichbewußtsein und Sprachvermögen werden somit nicht erst erworben, sondern markieren sofort das >Menschsein< der Figur.« (Vedder, Geschickte Liebe, S. 260) 76 Bodmer, Pygmalion und Elise, S. 28f.
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Mit diesen Worten fühlete sie die flüssige L u f t mit der Hand und dem Fusse, und sagte: Was für ein tiefer A b g r u n d liegt um mich herum; nichts ist ausser mir. 77
Zwar schwenkt hier die Perspektive von den abstrakten Gedanken wieder zur taktilen Wahrnehmung zurück, denn: >mit diesen Worten fuhlte< sie wieder. Was dieses Gefühl jedoch zugänglich macht, untermalt nur die Ungewißheit, die die zuvor offengebliebenen Fragen zurückließen. Die Statue registriert nämlich um sich herum >einen tiefen AbgrundNichtsplötzlich< im Akt einer nochmaligen Tastwahrnehmung auf. Als ihr das Licht mit den Gestalten in die A u g e n fiel, erschütterte sie sich in allen ihren Gliedmassen, und that einen schreckenvollen Schrei: Wohin bin ich gefallen, und w o habe ich meinen vorigen K ö r p e r gelassen? 79
Die Lichtwahrnehmung des Gesichts gestaltet sich >erschütterndverwandelt< sich nämlich gemäß seiner jeweiligen Wahrnehmungsprovenienz. Verlegt wird auf diese Weise das Konzept der Verwandlung von einer poetologischen Kategorie, wie sie die >Metamorphose< im Anschluß an Ovid darstellt, auf die sinnesphysiologische Ebene. Gehören diese seltsamen Figuren, diese hellen Bilder mir zu, die sich so bewegen, so verändern, wenn ich mich bewege, wenn ich mich hin und her wende?81
Die zuvor im Ertasten des eigenen Körpers vollzogene Selbstempfindung ist vollends aufgelöst. An ihre Stelle ist eine Distanzierung getreten: Ein Enteignungs- und Entfremdungsvorgang - >seltsame Figuren< - wird beschrieben. Diente der Tastsinn von Anfang an der Erzeugung eines selbstreflexiven und -referentiellen Bewußtseins, das zugleich einen Mittelpunkt schafft, von welchem aus die Statue ihre Empfindung und ihren Körper als Kontinuum erlebt, so wird der Gesichtssinn zum Ausgangspunkt einer zerstreuenden Selbstentfremdung: Eine Asymmetrie perzeptiver Erfahrungen, in welcher die selbstreferentielle Struktur des Tastsinns der fremdreferentiellen Struktur des Sehsinns gegenübersteht. Während der visuell wahrgenommene Körper in einzelne >Figuren< und >Bilder< zerfällt, die eine Diskrepanz zum Beobachter bilden, als gehörte ebendieser Körper nicht zu ihm, als müßte er als etwas von ihm Unterschiedenes aufgefaßt werden, verbindet das Gefühl den Bezugsreferenten mit seinem Beobachter zu einer Einheit. Berührung des eigenen Körpers und (Selbst)Empfindung ereignen sich in ihm gleichzeitig. Sie betrachtete itzo mit einem sorgfältigen Auge eines von ihren Gliedmassen nach dem andern; hernach nahm sie das Gefühl zu Hülfe. 81
Das Gefühl leitet den Gesichtssinn an, um sich das Sichtbare vertraut zu machen und auf diese Weise gleichsam wieder einzuverleiben. Es wird zur >Hilfe< geholt. Seine Eindrücke sind stärker und zuverlässiger als diejenigen des Auges. Deshalb dient es als Absicherungs- und Beglaubigungsmedium. Nur wenn sich der Gesichtssinn beim Gefühl vergewissert, kann er seine Wahrnehmungen ratifizieren. So wird hier unterderhand die Evidenzkategorie als Augenscheinlichkeit von ihrer visuellen Sprachwurzel und rhetorischen Tradition abgekoppelt, 8 ' um sie statt dessen auf die Logik des Hap80 81 82 8j
Ebd. Ebd. Ebd. Siehe dazu auch Berkeleys Auffassung der Evidenz im Kap. I. - Rüdiger Campe
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tischen umzustellen und entwicklungsphysiologisch zu legitimieren. Als evident gilt danach nur, was haptisch gestützt ist. Buffons »Naturgeschichte des Menschen« In seiner Histoire de l'homme, die zwei Jahre nach der ersten Auflage von Bodmers Pygmalion und Elise erschienen ist, schreibt Buffon: Dieser Sinn [das Gefühl, N.B.] berichtiget die andern Sinne; denn ihre Wirkungen würden nur Täuschungen seyn, und unsern Verstand zu Trugschlüssen verleiten, wenn uns das Gefühl nicht lehrte, richtige Urteile zu fallen.84
Auch Buffon fundiert die unmittelbare Anschauung bzw. Wahrnehmung empirischer Phänomene, das für den Erwerb der Erkenntnis in der Naturforschung und Philosophie der Aufklärung zentrale Verfahren, auf dem Gefühl. Dieses wird den übrigen Sinnen gleichsam als epistemologisches Leitmedium zugrunde gelegt, >lehrt< es sie doch >illusions< und >erreurs< >Täuschungen< und >Trugschlüsse< — zu unterscheiden. Nachdem die experimentelle Wissenschaft vor allem im Zusammenhang mit mikroskopischen Observationen die Korrumpierbarkeit und Manipulierbarkeit des Auges feststellen mußte, reagiert die Naturforschung mit der Rückbindung des Seh- an den Tastsinn als Korrektiv. Nur was dieser beglaubigt, kann als empirische Erkenntnis Geltung beanspruchen. Denn Tasteindrücke, das ist die Implikation, lassen sich nicht simulieren. Von diesem Standpunkt aus wird das der Naturforschung des 18. Jahrhunderts bescheinigte >fast exklusive Privileg des Sehsinns