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German Pages [325]
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Judith Gundry-Volf (New Haven, CT) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Christian Rose
Theologie als Erzählung im Markusevangelium Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung zu Mk 1,1–15
Mohr Siebeck
Christian Rose, geboren 1975; Studium in Bethel, Göttingen und Kiel; 2007 Promotion; Assistent am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie; Arbeit an einem alttestamentlichen Habilitationsprojekt.
e-ISBN PDF 978-3-16-151579-8 ISBN 978-3-16-149512-0 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Meiner Mutter
Vorwort Aristoteles, !"# $%!&,', 14. Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Inauguraldissertation, die unter dem Titel „Theo-logie als Erzählung. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Studie zum Eingangsbereich des Markusevangeliums und seiner Bedeutung für die Gesamterzählung“ an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 31.10.2006 eingereicht und im Wintersemester 2006/07 angenommen wurde. Ich danke Prof. Dr. Dieter Sänger für fördernde Hinweise während der Entstehung der Arbeit und die Übernahme des Erstgutachtens sowie Prof. Dr. Reinhard von Bendemann für die Übernahme des Zweitgutachtens. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme der Arbeit in die 2. Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“. Das Thema der Studie geht zurück auf Prof. Dr. Hans Hübner. Im Zuge meiner Tätigkeit in seinem Projekt „Vetus Testamentum in Novo“ an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen wurde er zu meinem ersten neutestamentlichen Lehrer und leitete meine Schritte auf dem Weg exegetischer Gehversuche. Wie tief diese Prägung für mich war, habe ich – natürlich – erst wesentlich später gemerkt. Umso dankbarer bin ich dafür heute. Prof. Dr. Hans Hübner regte schließlich für meine Arbeit im Rahmen der Ersten Theologischen Prüfung die Frage an: „Welches Verständnis Gottes ( ) implizieren die Logos-Prädikate im Prolog des Johannes-Evangeliums?“ Dieses Thema setzte mich auf die Spur der vorliegenden Studie, die sich aber im Laufe der Arbeit in eigener Weise entwickelte und vom jüngsten zum ältesten Evangelisten wandte. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Rüdiger Bartelmus. Er hat zu Beginn meiner Zeit als Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie an der Theologi-
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Vorwort
schen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel meinem neutestamentlichen Promotionsprojekt zugestimmt und mir den notwendigen Freiraum für die Arbeit an der eingeräumt. In einer Zeit der immer weitergehenden Spezialisierung der theologischen Disziplinen ist das ein Zugeständnis, das alles andere als selbstverständlich ist. Von seiner Art und Weise, mit Sprache(n) und Texten umzugehen, habe ich viel gelernt. Zudem hat er mir auf unseren Reisen in den Nahen und Mittleren Osten die Augen für Dinge geöffnet, die zu sehen wesentlich ist: im theologischen, religiösen und politischen Dialog wie in der täglichen Arbeit an Quellen und mit Menschen. Herzlich danken möchte ich des weiteren Dipl.-Bibliothekar Rolf Langfeldt. Er hat in Zusammenarbeit mit seinem Team auch aus den kürzesten Bruchstücken eines Titels eine sinnvolle Literaturangabe machen und jeden noch so entfernten Artikel beschaffen können. Diese Hilfe ist über die Dauer der Entstehung eines Buches hinweg kaum hoch genug einzuschätzen. Schließlich, aber nicht zuletzt, danke ich meinen Eltern Bärbel und Siegfried H. Müller. Ihre Liebe, ihre Fragen und ihr Interesse haben mich durch die Höhen und Tiefen des Studiums und der Zeit der Promotion begleitet und bestärkt. Wie hoch der positive elterliche Einfluß ist, ist schwer einzuschätzen; in schwierigen Zeiten vor dem Studium war es in jedem Fall meine Mutter, die auf ihre Weise den Blick auf das Ganze behalten und so ein Fundament gelegt hat, auf dem ein weiterer Aufbau möglich war – ein Aufbau, den man selbst zu leisten hat, der aber ohne das solide Fundament nicht möglich wäre. Meiner Mutter ist deswegen dieses Buch in Liebe und tiefer Dankbarkeit gewidmet. Kiel, am 29. Juli 2007
Christian Rose
Inhaltsverzeichnis 1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter ............................................ 1 1.1 Die Breite der Forschung ........................................................... 1 1.2 Terminologische Vorklärungen .................................................. 2 1.3 Verschiedene Aussagerichtungen ............................................... 3 1.4 „Handeln Gottes in Christus“ ..................................................... 5 1.4.1 „Mit- und Ineinanderaussagen von Gott und Christus“ ..... 5 1.4.2 „Aktives Handeln Gottes an, in und durch Christus“ ........ 6 1.5 „Narrative“ und „implizite Christologie“ ................................... 9 1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, von Theologie und Christologie“ ..................................................................... 12 1.6.1 Von Gott zu Christus ...................................................... 12 1.6.2 Gott und Christus in Einheit ........................................... 14 1.6.3 Von Christus zu Gott ...................................................... 17 1.7 Die Zielsetzung der Arbeit ....................................................... 21 2. Methodische Überlegungen ............................................................. 22 2.1 Die Geschichte der „Narrativen Theologie“ ............................. 22 2.1.1 H. Weinrich: „Narrative Theologie“ ............................... 22 2.1.2 J.B. Metz: „Kleine Apologie des Erzählens“ .................. 23 2.1.3 Weinrich, Metz und ihre Wirkungen .............................. 24 2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte ........................................ 25 2.2.1 Die theologische Perspektive ......................................... 25 2.2.1.1 G. Lohfink: „Erzählung als Theologie“ .............. 26 2.2.1.2 Konsequenzen .................................................... 27 2.2.2 Die literaturwissenschaftliche Perspektive ..................... 31 2.2.2.1 G. Genette: „Die Erzählung“ .............................. 31 2.2.2.2 Konsequenzen .................................................... 32 2.3 Theologie als Erzählung .......................................................... 34 2.4 Die synchrone Ebene der Textanalyse ..................................... 42 2.5 Zusammenfassung ................................................................... 43
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Inhaltsverzeichnis
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik ....................................................... 45 3.1 Zwei neuere Ansätze auf dem Prüfstand .................................. 45 3.1.1 Der Entwurf von M. Mayordomo-Marín (1998) ............. 46 3.1.2 Der Entwurf von D. Dieckmann (2003) .......................... 48 3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung ................ 49 3.3 Das Verhältnis von Mikrotext und Makrotext .......................... 56 3.4 Die Auswahl der Texte ............................................................ 57 3.5 Zusammenfassung ................................................................... 59 4. Zwischen Forschungsgeschichte, Methodik und Exegese ................ 61 5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15 ........................................... 63 5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung ... 63 5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung ............... 70 5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel ....................... 77 5.4 Zur Frage der Zugehörigkeit von Mk 1,2-3 .............................. 83 5.4.1 Die Kombination Mk 1,1-3.4-8 ...................................... 85 5.4.2 Die Kombination Mk 1,1.2-8 .......................................... 86 5.4.3 Ergebnis ......................................................................... 87 5.5 Präexistenz als Proousie .......................................................... 89 5.6 Die Gliederung von Mk 1,1-15 ................................................ 94 5.7 Zusammenfassung ................................................................... 95 6. Inhaltliche Textauslegung ............................................................... 97 6.1 Mk 1,1-3 – Der Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes .................................................................... 98 6.1.1 Übersetzung ................................................................... 99 6.1.2 Analyse des Abschnitts .................................................. 99 6.1.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 109 6.1.4 Zusammenfassung ........................................................ 119 6.2 Mk 1,4-8 – Der Auftritt Johannes des Täufers als Vorläufer und Wegbereiter .................................................................... 122 6.2.1 Übersetzung ................................................................. 123 6.2.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 123 6.2.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 129 6.2.4 Zusammenfassung ........................................................ 137 6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes .................................................................... 138 6.3.1 Übersetzung ................................................................. 138 6.3.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 139
Inhaltsverzeichnis
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6.3.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 146 6.3.4 Zusammenfassung ........................................................ 149 Mk 1,12-13 – Die Versuchung Jesu als Erprobung des Gottessohnes .................................................................... 150 6.4.1 Übersetzung ................................................................. 150 6.4.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 150 6.4.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 152 6.4.4 Zusammenfassung ........................................................ 154 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“ als Tür zum Evangelium .................................................................... 154 6.5.1 Übersetzung ................................................................. 154 6.5.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 155 6.5.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 160 6.5.4 Zusammenfassung ........................................................ 163 Mk 1,21-28 – Das Lehren und die erste Heilung Jesu in Kapharnaum als narrative Entfaltung von Mk 1,14f. .............. 163 6.6.1 Übersetzung ................................................................. 164 6.6.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 164 6.6.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 175 6.6.4 Zusammenfassung ........................................................ 177 Mk 2,1-12 – Die Heilung des Gelähmten in Kapharnaum als Zeichen der Vollmacht des Menschensohnes zur Sündenvergebung .................................................................. 178 6.7.1 Übersetzung ................................................................. 179 6.7.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 179 6.7.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 198 6.7.4 Zusammenfassung ........................................................ 203 Mk 9,2-13 – Die Verklärung Jesu als Handeln Gottes ........... 204 6.8.1 Übersetzung ................................................................. 204 6.8.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 205 6.8.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 221 6.8.4 Zusammenfassung ........................................................ 226 Mk 15,33-41 – Der Tod Jesu und die Reaktion des Centurio . 227 6.9.1 Übersetzung ................................................................. 228 6.9.2 Analyse des Abschnitts ................................................ 228 6.9.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen ......................... 243 6.9.4 Zusammenfassung ........................................................ 248
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Inhaltsverzeichnis
7. Konsequenzen: Rückblick und Ausblick ....................................... 250 7.1 Ergebnissicherung ................................................................. 250 7.2 Theologie als Erzählung ........................................................ 253 7.2.1 Anfang und Ende des MkEv ........................................ 254 7.2.2 Die Basisfunktion von Mk 1,1-15 und das Jünger-Wissen ........................................................ 255 7.2.3 Die Erzählfiguren ......................................................... 257 7.2.4 Mk 1,14f. als Kernsatz des MkEv ................................ 259 7.2.5 Räumliche Strukturen der mk Erzählung ...................... 260 7.3 Gott – oder: Christus als Theologe ......................................... 261 7.4 Desiderata der Forschung zum MkEv .................................... 267 Literaturverzeichnis ............................................................................ 268 1. Abkürzungen ......................................................................... 268 2. Quellen und Textausgaben ..................................................... 268 3. Hilfsmittel, Wörterbücher und Grammatiken ......................... 269 4. Aufsätze, Kommentare, Lexikonartikel und Monographien ... 270 Stellenregister ..................................................................................... 292 Autorenregister .................................................................................... 303 Sachregister ......................................................................................... 308 Register griechischer Ausdrücke ......................................................... 310
Kapitel 1
Forschungsgeschichtliche Schlaglichter 1.1 Die Breite der Forschung 1.1 Die Breite der Forschung
Die wissenschaftliche Landschaft zum Thema „Christologie des Neuen Testaments“ ist von einer „verwirrenden Vielfalt von Hypothesen und Auseinandersetzungen“ geprägt.1 Die Forschungsinteressen sind breit gestreut, die Ansätze stehen in zustimmender wie abgrenzender Resonanz zueinander, oder sie versuchen, auf möglichst innovative Weise Neuland zu gewinnen. Ähnlich zeigt sich die Situation im Bereich des Themas „Theologie des Neuen Testaments“.2 Allein ein Blick auf die Gliederungen der großen Entwürfe des vergangenen Jahrhunderts erweist ein beeindruckendes Spektrum.3 Kompliziert wird die Situation bei dem Versuch, die Themen „Christologie“ und „Theologie“ in sachgemäßer Weise miteinander zu verknüpfen und dabei zu möglichst eindeutigen und zustimmungsfähigen Aussagen zu gelangen.4 P.-G. Klumbies hat 1992 versucht, die „Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext“ darzustellen.5 Im forschungsgeschichtli1
Vgl. schon B ALZ, Probleme, 13. Daß dieses Urteil nach wie vor gültig ist, zeigt HAHN, Methodenprobleme. THEOBALD, Gottessohn, 37, empfindet es als „gewagtes Unterfangen“, angesichts der „aporetisch anmutenden gegenwärtigen Situation der MkForschung“ eine „Skizze einiger Strukturlinien der Christologie im MkEv“ zu zeichnen. Zum Problem einer unspezifischen Verwendung von „Christologie“ vgl. SCHRÖTER, Jesus, 140. 2 Immerhin ist mit SCHOLTISSEK, Gott, 71, „Theo-logie, Rede von Gott im strengen Sinn, [...] die vornehmste und zugleich oft genug vergessene Aufgabe der Theologie in ihren Disziplinen.“ Entsprechend untersucht DONAHUE, Factor, 565, die „God language in Mark“, da er, wie DAHL, Factor, 5, „any comprehensive or penetrating study of the theme ‚God in the New Testament‘“ vermißte. Zum Unterschied von Theologie und Theo-logie vgl. 1.2. 3 Vgl. etwa die Übersicht bei HAHN, Theologie I, 1-28. 4 DONAHUE, Factor, 592f., hat dies versucht, allerdings „surveying the ways Jesus spoke of God [...].“ Vgl. ähnlich HOFFMANN, Rede. 5 K LUMBIES, Rede. Daß es hier und im folgenden darum geht, „von Gott“ und nicht „über Gott“ zu reden, ist dem Votum Bultmanns zu verdanken, der deutlich gemacht hat, daß „reden über“ einen Standpunkt außerhalb des Gegenstandes der Rede voraussetzt. In
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1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
chen Teil seiner Arbeit fragt er nach dem „Bezug der Christologie zur Theo-logie in der neuesten Paulusforschung“6 und gelangt zu dem Ergebnis, daß es in allen von ihm untersuchten neueren Arbeiten „gerade die Christologie ist, die die Theologie interpretiert, und nicht umgekehrt.“7 Im Gegensatz dazu ist das Ziel seiner Arbeit, die „christologische Interpretation Gottes durch Paulus“8 zu untersuchen, weil es erst vom Christusgeschehen her möglich sei, von Gott als von Gott zu reden: „Insofern führt die Christologie zur Ausbildung einer eigenen neuen Theo-logie.“9 Analog läßt sich fragen, wie sich die Rede von Gott in den Evangelien darstellt: In welchem Verhältnis stehen hier Christologie und Theologie? Wie bestimmen die Evangelien das Verhältnis von Gott und Christus? Und auf welchem Wege gelangen sie zu Aussagen von Gott?10
1.2 Terminologische Vorklärungen 1.2 Terminologische Vorklärungen
Der Beantwortung dieser Fragen steht die in 1.1 beschriebene Forschungssituation entgegen. Es scheint demnach angemessen, die Termini „Christologie“ und „Theologie“ zunächst näher zu erläutern. Dabei ist aber weder eine allgemeingültige noch eine für alle Bereiche der wissenschaftlichen Theologie gültige Definition zu erwarten,11 sondern lediglich eine für die folgende Arbeit verbindliche Diskussionsgrundlage. bezug auf Gott stellte er klar, daß von Gott reden als aus Gott reden nur von Gott selbst gegeben werden kann; vgl. BULTMANN, Sinn. 6 KLUMBIES, Rede, 24-30; vgl. schon LINDEMANN, Rede. 7 KLUMBIES, Rede, 30. 8 Ebd. 31. 9 Ebd. 244. GRÄSSER, Gottesverständnis, 179, geht noch von anderen Voraussetzungen aus: „Der [...] Grund dafür, warum Paulus kein theo-logisches Lehrgebäude errichtet, ist [...] von ganz prinzipieller Art. Für [...] Paulus ist ‚Gott‘ in der definitiven Weise seiner Selbstprädikation als der ‚Ich bin da‘ (Ex 3,14) [...] die frag-lose Voraussetzung, von der seine theologischen Gedanken ausgehen [...].“ Dennoch bleibt für ihn „die Verhältnisbestimmung von Gott und Christos, von Theo-logie und Christologie ein wichtiges exegetisches und systematisches Thema [...].“ 10 Lange Zeit, vgl. HOLTZ, Theo-logie, 105, sind diese Fragen in der Evangelienforschung nicht eingehender gestellt worden. Die Fragestellung an sich war zwar gesehen, wurde aber vor allem auf Paulus fokussiert zu beantworten versucht; vgl. etwa SCHRAGE, Theologie. 11 Das Vorhaben einer allgemeingültigen Definition wäre fragwürdig, da der ganze Komplex der wissenschaftlichen Theologie in allen Disziplinen ständig in Bewegung ist und sein muß. Erst der Stillstand des Systems würde eine Definition erlauben – diese endgültige Definition würde dann aber niemand mehr leisten, oder sie würde für das stillstehende System nicht mehr benötigt.
1.3 Verschiedene Aussagerichtungen
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Christologie im weiteren Sinne ist die wissenschaftliche Beschäftigung vor allem in den Disziplinen „Neues Testament“, „Kirchen- und Dogmengeschichte“ sowie „Systematische Theologie“ mit Fragen und Antworten, die sich auf Christus beziehen und sich mit Christus beschäftigen. Theologie im weiteren Sinne ist jede wissenschaftliche oder nichtwissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen und Antworten, die im Zusammenhang mit und in der Folge der Offenbarung Gottes an die Menschen gestellt und gegeben werden und die in der geschichtlichen Entwicklung zur Gesamtheit der Disziplinen im Rahmen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Lehre von Gott geführt haben. Im Blick auf die im folgenden notwendigen Unterscheidungen sind die terminologischen Klärungen noch zu präzisieren: Christologie im engeren Sinne ist das Denken, Lehren und Erzählen von Jesus als dem Christus, das in den verschiedenen Gruppierungen des Urchristentums entstanden ist und das sich im Neuen Testament in verschiedenen Zeugnissen schriftlich niedergeschlagen hat. Theologie im engeren Sinne ist das Denken, Lehren und Erzählen von Gott, das in den verschiedenen Gruppierungen des Urchristentums auf der Basis des Alten Testaments und in zustimmender oder abgrenzender Weiterentwicklung des Alten Testaments entstanden ist und das sich im Neuen Testament in verschiedenen Zeugnissen schriftlich niedergeschlagen hat. In dieser Differenzierung werden die Termini im folgenden verwendet. Hin und wieder, vgl. 1.1, begegnet die Schreibweise „Christo-logie“ bzw. „Theo-logie“ zur Unterscheidung von Christologie bzw. Theologie im weiteren und im engeren Sinne. Es ist allerdings möglich, auf diese etwas umständliche Bindestrich-Terminologie zu verzichten, weil im jeweiligen Kontext eindeutig ist, ob der enzyklopädische oder der spezifisch exegetische Ausdruck gemeint ist. Entsprechendes gilt für die Adjektive „christologisch“ bzw. „theologisch“.
1.3 Verschiedene Aussagerichtungen 1.3 Verschiedene Aussagerichtungen
Christologie und Theologie stehen in neutestamentlicher Perspektive in denkbar engem Zusammenhang, und zwar insofern, als eine Christologie ohne Theologie und umgekehrt eine Theologie ohne Christologie nicht denkbar ist.12 Allerdings finden sich im Neuen Testament selbst weder die 12 Vgl. FASCHER, Gott, 1715: „Die G.vorstellung des NT ist so eng mit Person, Lehre und Werk Jesu Christi verknüpft, daß man trotz kritischer Analyse der einzelnen urchrist-
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1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
Ausdrücke noch oder eines ihrer Derivate, die als die griechischen Ursprungswörter der deutschen Entlehnungen zu sehen sind. Das Wort scheint erstmals bei Plato zu begegnen, und zwar in Politeia 379a, also um 375 v. Chr. Hier heißt es: % ()*+ , , * - . , * / , – *#,01-* , 2 3 – " , * - . 0 , , 0 – 4 Der Terminus ist nicht belegt; der Thesaurus Linguae Graecae #E weist keine Treffer aus. Die griechischsprachige Antike scheint das Wort nicht benutzt zu haben. Das gleiche gilt für den lateinischen Terminus christologia. Entsprechend ist davon auszugehen, daß sich das Wort in der dogmatischen Diskussion entwickelt hat, daß es dabei aber vollkommen von dem Wort „Theologie“ abhängig ist. 13
Die Beleglage deutet darauf hin, daß das Neue Testament selbst bzw. seine Autoren nicht den Versuch unternommen haben, eine geschlossene Lehre von Gott oder von Christus zu entwickeln, bzw. daß ihnen der Versuch einer Systematisierung der Aussagen – aus welchen Gründen auch immer – nicht wichtig war. Es liegt in der Natur der Sache, daß damit das Neue Testament auch keine Aussagen über das Verhältnis von Christologie und Theologie vornimmt, jedenfalls nicht im Sinne einer terminologischen Präzisierung oder Relationsbestimmung. Anders stellt sich diese Situation in der Forschung zum Neuen Testament dar. Christologie und Theologie werden hier aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Zwar ist eine Einteilung dieser Perspektiven schwierig, weil jede Kategorisierung Gefahr läuft, komplexe Sachverhalte zu verkürzen; dennoch lassen sich drei Aussagerichtungen zeigen, die bei eingehender Betrachtung noch weiter differenzierbar werden. Zwei Aspekte sind dabei zu berücksichtigen: Zum einen überschneiden sich die Aussagerichtungen, so daß im Normalfall nur auf das eingegangen werden kann, was beim jeweiligen Forscher dominiert; zum anderen ist es mittlerweile unmöglich geworden, die gesamte Literatur zum Thema zu überblikken. Geboten werden also exemplarische Positionen, an denen Charakteristisches sichtbar wird.14 lichen Traditionsschichten die Grenzen zwischen Theologie und Christologie schwer ziehen kann.“ 13 Vgl. CANCIK, Theologia. Vgl. auch SCHWÖBEL, Theologie. 14 Meine Studie versteht sich als exegetische Arbeit. Dies muß klargestellt werden, da der erste Teil eine systematisch-theologische Perspektive aufweist. Dies ist kein Widerspruch – vielmehr durchdringen sich die exegetischen und systematisch-dogmatischen Fragen hier von der Sache her gegenseitig.
1.4 „Handeln Gottes in Christus“
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Die erste Linie dieser Aussagerichtungen kann erfaßt werden unter dem Titel „Handeln Gottes in Christus“ (1.4), die zweite unter „narrative“ und „implizite Christologie“ (1.5), die dritte als „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, von Theologie und Christologie“ (1.6).
1.4 „Handeln Gottes in Christus“ 1.4 „Handeln Gottes in Christus“
Die Überzeugung, daß Gott in Christus gehandelt hat, erscheint – unterschiedlich ausgeprägt – in allen Schriften des Neuen Testaments. Die Forschung hat in bezug darauf zwei Tendenzen entwickelt: Die eine Richtung betont die „Mit- und Ineinanderaussagen von Gott und Christus“ (1.4.1), die andere Richtung akzentuiert stärker ein „aktives Handeln Gottes an, in und durch Christus“ (1.4.2).15 1.4.1 „Mit- und Ineinanderaussagen von Gott und Christus“ Der Systematische Theologe G. Wehrung läßt sich als exemplarischer Vertreter der ersten Aussagelinie benennen: Christus „fordert [...] Entscheidung, persönliche Antwort und Stellungnahme, Gehorsam, Hingabe des ganzen Wesens. Er fordert das alles für Gott, indem er es für sich fordert.“16 Und er unterstreicht: „An sich könnten der Vergebende und Versöhnende zwei sein. Hier ist es gerade einer, Gott in Christus [...].“17 Aus neutestamentlicher Perspektive hebt K.H. Schelkle hervor, daß im Handeln Jesu das Tun Gottes offenbar werde. So seien etwa Schöpfung und Vollendung der Welt nicht ohne den Sohn denkbar. Für das Handeln Jesu heißt das: „In den Worten des Gottgesandten spricht Gott selbst.“18 Im johanneischen Christus sieht Schelkle die Offenbarung in Person, da in Christus der Vater gegenwärtig sei.19 15 Wenn hier von „Richtung“ die Rede ist, so heißt das nicht, daß sich einer der Autoren ausschließlich in der aufgezeigten Weise äußert, daß aber die jeweilige Aussageform deutlich erscheint. Entsprechend sind die Aussagen einiger Autoren unter verschiedenen Überschriften zu thematisieren. 16 So WEHRUNG, Christologie, 1635. Zuvor hatte RITTELMEYER, Christologie, zwar noch auf eine explizite Inbezugsetzung von Gott und Christus und damit von Theologie und Christologie verzichtet, durch seine Darstellung aber deutlich gemacht, daß er von einem Aufgehobensein der Christologie in der Theologie ausgeht. 17 WEHRUNG, Christologie, 1644. Ähnlich STEPHAN, Theologie, 1122, und V OGEL, Christologie, 776. 18 SCHELKLE, Theologie, 67. 19 In die gleiche Richtung zielt SCHWEIZER, Jesus, 709: „In den Evangelien [...] ist Gottes Wirken in Jesu Leiden und Tod, [...] Gottes endgültige Zuwendung zum Men-
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1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
Zum Zusammenhang von Gottes Sohn und Gottes Herrschaft macht P. Stuhlmacher deutlich: „Indem er das Evangelium von der Gottesherrschaft bezeugt und lehrt, ist Jesus der Sohn, der im Namen des Vaters handelt und lebt.“20 Im Rahmen einer Bekenntnisaussage heißt das, im Blick auf Jesu „Person zu sagen, wer er von Gott her war, gegenwärtig ist und zukünftig sein wird, und im Blick auf sein Werk zu bekunden, was er in Gott und Gott in ihm vollbracht hatte, was er gegenwärtig wirkt und was ihm künftig aufgetragen war.“21 Daß die Mit- und Ineinanderaussagen von Gott und Christus insbesondere der johanneischen Ausdrucksweise entsprechen, zeigen die Stellen, die die reziproke Immanenz von Gott und Christus betonen (vgl. Joh 1,14.18; 3,16f.; 10,30; 12,45; 14,1-9.24; 20,28). Sie bringen das Wirken von Gott und Christus zum Ausdruck und akzentuieren so einen gemeinschaftlichen Handlungsaspekt. Allerdings zeigen solche Aussagen allein noch kein Verhältnis von Gott und Christus im Sinne einer Relationalität auf. Es bleibt unklar, ob Gott und Christus auf gleicher Stufe stehend zu denken sind oder ob Christus Gott subordiniert bleibt. Im Vergleich zu den folgenden Darstellungsweisen wird deutlich, daß die bloßen „Mit- und Ineinanderaussagen“ in der Gefahr stehen, einen wesentlichen Aspekt der Rede von Gott und Christus zu minimieren, nämlich die Frage, wer der eigentliche Initiator des Christusgeschehens ist. 1.4.2 „Aktives Handeln Gottes an, in und durch Christus“ Die Betonung des aktiven Handelns Gottes bedeutet für die Verhältnisbestimmung von Gott und Christus inhaltlich-theologisch einen substantiellen Fortschritt. So geht J. Weiß bei der Beschreibung des Glaubens der Urgemeinde von Apg 2,36 aus und macht deutlich, daß die Auferstehung weniger als Tat Jesu, sondern vielmehr als Tat Gottes zu verstehen ist: „Der Herrschaft der Finsternis [...] hat die Stunde der Vernichtung geschlagen,
schen im Ganzen des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu [...], Gottes Offenbarung im herrlichen Wirken Jesu [...] besonders betont.“ Ähnlich weist auch HÜBNER, Theologie I, 189, in bezug auf die Offenbarung im Neuen Testament darauf hin: „Die Begegnung des Glaubenden mit Gott findet als Begegnung mit Jesus statt [...].“ Er leitet damit ein Zitat von B ULTMANN, Theologie, 403, ein: „Daß in Jesus Gott selbst begegnet, [...] – darin liegt die Paradoxie des Offenbarungsgedankens, die erst Johannes ins Auge gefaßt hat.“ Kursive im Original gesperrt. 20 STUHLMACHER, Theologie I, 74. 21 Ebd. 182.
1.4 „Handeln Gottes in Christus“
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als Gott Jesum zum König erhob.“22 Die in den Evangelien belegte Aussage, Christus sei auferstanden (Mk 16,6; Mt 28,6; Lk 24,6), kommt in dieser Formulierung neu zur Geltung, indem Gott als der Aktive des Auferstehungsgeschehens benannt wird. Aus dieser Perspektive könnte dann auch präzise von Auferweckung geredet werden. Eine mit Apg 2,36 vergleichbare Aussage findet sich in den Evangelien nicht. Nur hier und in Apg 2,24.32; 3,15; 4,10; 5,30; 10,40; 13,30.33.34.37; 17,31 formuliert Lukas den Satz aktivisch.23 – Auch für die Taufe Jesu macht Weiß einen Perspektivwechsel deutlich: Der Anklang von Ps 2,7 in den Tauferzählungen Mk 1,9-11; Mt 3,13-17; Lk 3,21f. (vgl. 6.3) wurde lange im Sinne einer Adoptionschristologie interpretiert.24 Diese passivische Redeform – „Christus wird adoptiert“ – blendet aber den Aktiven, den Adoptierenden, völlig aus. Weiß formuliert dagegen aktivisch: „Gott will von diesem Augenblick an der Vater des Königs sein, und er soll Macht und Recht des Sohnes Gottes haben.“25 Auf diese Weise erscheint das christologische Passiv, das Adoptiertwerden, durch ein theologisches Aktiv, das Adoptieren, in einem neuen Licht.26 Im Blick auf die Bezeichnung Jesu Christi als „Sohn“ im JohEv stellt G. Sevenster heraus, daß dieser „immer wieder gebrauchte Würdename“ auf die besondere Verbundenheit mit Gott hinweist und „den einzigartigen und entscheidenden Charakter der von Gott ausgehenden Offenbarung“ betont.27 Auch P. Althaus hebt auf das aktive Handeln Gottes ab: Zu Ostern habe Gott an Jesus Christus gehandelt, ihm die Doxa verliehen, ihn erhöht, zum Herrn eingesetzt.28 Althaus gebraucht nach dieser Feststellung ein drastisches Bild: „Gott bringt [...] seinen Zorn wider die Sünde dadurch zur Geltung, daß er Jesus [...] den Widerstreit zwischen ihm, Gott, und der sündi22
WEISS, Christologie, 1714. Die aktivische Formulierung findet sich auch bei Paulus (etwa in Röm 10,9; 1Kor 6,14; Gal 1,1) und in der weiteren Briefliteratur (etwa 1Petr 1,21), vgl. H OFIUS, Erwägungen, 208: „Daß Jesus Christus ‚von den Toten auferstanden ist‘ und daß Gott, sein Vater, ‚ihn auferweckt hat‘, das sind die beiden Aspekte, unter denen das Ostergeschehen betrachtet werden kann und muß. Beide Aspekte ergänzen einander und beleuchten sich gegenseitig.“ 24 So etwa sehr eindringlich von V IELHAUER, Erwägungen, 206: Er sieht in Mk 1,11b „nach Form und Inhalt eine Adoptionsformel [...].“ Vorbereitet wurde diese Sicht durch B ULTMANN, Geschichte, 263f., der sich dafür auf DIBELIUS, Christologie, 1595, beruft. 25 WEISS, Christologie, 1715. 26 Vgl. nochmals VOGEL, Christologie, 777. 27 SEVENSTER, Christologie, 1755f. 28 ALTHAUS, Christologie, 1782. 23
1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
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gen Menschheit voll durchleiden läßt. [...] Gott [...] setzt den Sohn zum Denkmal seines Zornes gegen die Sünde [...]: als das Nein Gottes [...]. Das ist die Tiefe der Not seines Sterbens. Der Vater bereitet sie ihm.“29 Zu der Frage von aktivischen und passivischen Aussagen wird K.H. Schelkle in bezug auf Mk 4,11 ( 0 - 5 -[...]) konkret: Er sieht in der passivischen Ausdrucksweise das verhüllte Handeln Gottes; Gott selbst sei es, der die Offenbarung gibt.30 „Hauptträger der Offenbarung“ sei aber dennoch immer Jesus Christus.31 E. Schweizer sieht in der Wortverbindung „Jesus Christus“ den Bekenntnissatz der frühen Gemeinde, der aussagt, daß in einem geschichtlich bestimmbaren Menschen letztgültiges Handeln Gottes Wirklichkeit wurde. Auch Schweizer reflektiert die Frage von aktivischer und passivischer Ausdrucksweise: „In den Glaubensformeln [...] ist durchweg Jesus Christus Subjekt, nicht Gott, der heilige Geist oder der Mensch mit seinen Erfahrungen. Immer ist dieser aber als der davon Betroffene genannt oder mindestens impliziert [...]. Immer ist es ein passives (oder sachlich passives) Verbum, das Jesus als den beschreibt, ‚durch‘ den oder ‚in‘ dem Gott handelt.“32 Aussagen von der Aktivität Gottes erscheinen in der Literatur dann häufiger, wenn es um Paulus und die paulinische Theologie und Christologie geht.33 Der Grund dafür dürfte vor allem darin liegen, daß bei Paulus selbst derartige aktivische Formulierungen zu finden sind, während die Evangelien eher im passivischen Aussagemodus bleiben. Wo sind die Vorteile, wo sind die Nachteile dieser aktivischen Redeform? Zunächst muß deutlich sein, daß vieles, was hier ausgedrückt wird, bereits in den neutestamentlichen Aussagen enthalten ist, denn eine passi29
Ebd. 1785f. Ebenfalls zu aktivischen Neuformulierungen, wenn auch nicht in so eindringlicher Sprache wie Althaus, kommt CONZELMANN, Grundriß, 372: „Die Stichworte ‚Sendung‘, ‚Gesandter‘ besagen, daß Gott selber der Veranstalter des Heils ist [...].“ Ähnlich zielt auch KÜMMEL, Theologie, 40, auf explizite Aussagen vom aktiven Handeln Gottes: „Gott der Vater, der den Seinen die Gottesherrschaft schenken will, macht durch Jesu Wirken die Gegenwart schon zur Heilszeit.“ Aus der Perspektive der Textentstehung argumentiert SCHNACKENBURG, Christologie, 238: „Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die einhellige Aussage der jungen Christenheit: Gott hat den gekreuzigten Jesus auferweckt!“ 30 SCHELKLE, Theologie, 61. 31 Ebd. 67. 32 SCHWEIZER, Jesus, 684. 33 Vgl. dazu als Beispiele etwa DIBELIUS, Christologie, 1599f., und MARXSEN, Christologie, 751f.
1.5 „Narrative“ und „implizite Christologie“
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vische Formulierung enthält immer auch ein aktives Moment bezogen auf das handelnde Subjekt. In der Neuformulierung wird ein Sprachgewinn erzielt; Gott wird explizit als der Aktive des Christusgeschehens benannt. Dazu kommt nach Althaus, daß nicht nur das aktive Handeln Gottes in einem allgemeinen Sinne an, in und durch Christus deutlich wird, sondern auch und besonders die Tatsache, daß Gott in Christus für die Menschen handelt und Christus für die Menschen leiden läßt. Damit kommt ein soteriologischer Aspekt zum Tragen: die Rede von der Heilstat Gottes in Christus für die Menschen. Umgekehrt wird man bei dieser Aussageform auch das feststellen müssen, was bereits zu 1.4.1 gesagt wurde: Es wird auf diese Weise kein Verhältnis von Gott und Christus im Sinne einer Relationalität deutlich. Auch die Frage der Gleich- oder Unterordnung Christi zu Gott wird so nicht näher bedacht.
1.5 „Narrative“ und „implizite Christologie“ 1.5 „Narrative“ und „implizite Christologie“
Der erste Satz der Theologie des Neuen Testaments R. Bultmanns – „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.“34 – hallt noch immer in der neutestamentlichen Forschung nach. Bultmanns Ansatz markiert im Gefolge A. Schweitzers35 den „Zusammenbruch der Leben-Jesu-Forschung“.36 In dieser Phase kam es infolge der form-, redaktions- und religionsgeschichtlichen Erkenntnisse zur Neubewertung der historischen Referenz des in den Evangelien Berichteten und ihres historischen Anspruchs.37 E. Käsemann hat die Frage nach dem historischen Jesus neu akzentuiert wieder aufgegriffen und so die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ eingeleitet.38 Es kam damit „zu einer intensiven Suche nach einer nicht an Titel gebundenen ‚impliziten Christologie‘.“39 R. Bultmann sah in „Jesu Entscheidungsruf“ eine implizite Christologie „als Explikation der Antwort auf die Entscheidungsfrage, des Gehorsams, der in ihm Gottes Offenbarung anerkennt.“40 Eine solche Christologie sei 34
B ULTMANN, Theologie, 1. Kursive im Original gesperrt. SCHWEITZER, Geschichte. 36 T HEISSEN / MERZ, Jesus, 30. 37 Besonders seien genannt DIBELIUS, Formgeschichte, und B ULTMANN, Geschichte. 38 Vgl. KÄSEMANN, Problem, und in seiner Folge programmatisch ROBINSON, Quest. 39 T HEISSEN / MERZ, Jesus, 451; ähnlich FUCHS, Notizen. 40 B ULTMANN, Theologie, 46. 35
1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
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in der Urgemeinde insoweit explizit geworden, als sie Jesus als den verstehe, den Gott durch die Auferweckung zum Messias gemacht hat. Darin zeige sich, daß sie seine Sendung als Gottes entscheidende Tat verstanden hat. Über 1.4.1 und 1.4.2 hinaus zeigt diese Aussage Bultmanns, daß es ihm nicht um die Suche nach einem wie auch immer gearteten messianischen Selbstbewußtsein Jesu geht. E. Käsemann sah durch die formgeschichtliche Arbeit nachgewiesen, „daß die von den Synoptikern dargebotene Botschaft Jesu größtenteils [...] Ausprägung des urchristlichen Gemeindeglaubens in seinen verschiedenen Stadien ist.“41 Die Evangelien seien aber „gar nicht an der Erfassung der gesamten Historie Jesu und an der Überprüfung des von ihnen Berichteten auf seine Zuverlässigkeit und Wirklichkeitstreue hin interessiert gewesen“, sondern hätten die Historie lediglich als „Schnittpunkt der eschatologischen Ereignisse“ gesehen.42 Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus ergibt sich dann für Käsemann dadurch, „daß der erhöhte Herr das Bild des irdischen fast aufgesogen hat und die Gemeinde dennoch die Identität des erhöhten mit dem irdischen behauptet.“43 Niederschlag findet Käsemanns Ansatz bei D. Ritschl. „Die C[hristologie]. strebt auf explizite Aussagen zu, die in ihrem engen inhaltlichen Zusammenhang mit anderen zentralen Gebieten der christl. Lehre [...] überprüft und angewendet werden. Sie nimmt ihren Ausgang dabei nicht nur von expliziten, sondern auch von impliziten christologischen Aussagen. [...] Implizit christologisch sind nahezu alle Stellen im NT, die über Jesus bzw. Jesus Christus handeln.“44 Ritschl weist auf die Gefahr der Verengung bei der Explikation der Aussagen hin, macht aber zugleich deutlich, daß die Frage nach der Legitimität dieses Sprachgewinns letztlich die Frage nach Gott in Jesus ist. Substantiell darüber hinaus geht U. Luz: „Die narrativen christo‚logischen‘ Entwürfe der Evangelien beanspruchen neben den begrifflichen christologischen Aussagen ein besonderes Interesse.“45 Neu hinzu kommt 41
KÄSEMANN, Problem, 188. Ebd. 199f. 43 Ebd. 213. Den Zusammenhang von historischem Jesus und den Anfängen der Christologie beleuchten T HEISSEN / MERZ, Jesus, 453-455. Sie unterscheiden hierfür zwischen dem vorösterlichen Anspruch des historischen Jesus (und entsprechend zwischen einer expliziten, einer evozierten und einer impliziten Christologie) und der nachösterlichen Deutung der Gemeinde (und entsprechend einer gesteigerten und einer exklusiven Titelverwendung). 44 R ITSCHL, Christologie, 712. Vgl. auch ebd. 735-747. 45 LUZ, Christologie, 714. Diesen Aspekt des Narrativen im Sinne von Luz betont auch GNILKA, Theologie, 186. Er sieht in den mt Reflexionszitaten „die Produktion chri42
1.5 „Narrative“ und „implizite Christologie“
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jetzt die essentielle Einsicht, daß es sich bei den Evangelien um erzählende Literatur handelt: Ging es vorher zumeist um eine traditionsgeschichtliche Sichtweise, die sich vor allem mit den Vorstufen einzelner Motive und ihrer Entwicklung, hier schwerpunktmäßig mit der Erforschung der christologischen Hoheitstitel befaßte, so geraten jetzt zunehmend die Evangelien als ganze in den Blick. Sie werden als Erzählwerke wahrgenommen, die nicht nur auf der terminologischen Ebene des Einzelwortes Christologie enthalten und wiedergeben, sondern sie vor allem auch dadurch entwikkeln, daß sie von Jesus Christus, seinem Auftreten und Handeln, seinen Worten und Werken erzählen. F. Hahn sieht im Traditionsgut des MkEv bereits stark christologisch ausgeformte Textabschnitte, etwa die Erzählungen von der Taufe Jesu, der Verklärung und dem Messiasbekenntnis, sowie Erzählungen, in denen Jesu Macht über Dämonen, Krankheiten und Naturgewalten zum Ausdruck kam, „die also zumindest implizit eine christologische Komponente besaßen.“46 Für Anhaltspunkte für eine implizite Christologie hält Hahn das Sendungsmotiv, die Gottesanrede „Abba“ und das Verhalten Jesu.47 Entsprechend seien bei der Rückfrage nach Jesus implizit Anhaltspunkte für eine Christologie erkennbar. Positiv ist festzuhalten, daß seit Käsemann Jesu Gottesbild stärker untersucht wird.48 Eine Verhältnisbestimmung von Gott und Christus auf dieser Basis steht aber unter Vorbehalten, weil Jesu Gottesbild nicht die Sicht der neutestamentlichen Christologie repräsentiert. Das Gottesbild Jesu hängt in diesem Kontext vielmehr von den Ergebnissen der Form- und Redaktionskritik ab. Eine Veränderung mit erheblichen Konsequenzen ergibt sich etwa dann, wenn es in der Kriterienfrage so weitreichende Verschiebungen gibt, wie das bei der Entwicklung des „historischen Plausibilitäts-
stologischer Details im Narrativen [...].“ Zuvor hatte bereits T ANNEHILL, Mark, 57, darauf hingewiesen, daß Jesus „the central figure“ im MkEv sei und daß deswegen „the narrative form of Mark in discussing this Gospel’s presentation of Jesus Christ“ ernstzunehmen sei. MARQUARDT, Bekenntnis, 30, sieht sich in der Folge vor die Aufgabe gestellt, „eine Christologie des Juden Jesus zu versuchen.“ Von einer impliziten Christologie im Sinne Ritschls, aber konkret für die Logienquelle Q, geht auch POLAG, Mitte, aus. Ihm schließt sich DE J ONGE, Christologie, 69, an. 46 HAHN, Theologie I, 493. 47 DERS., Theologie II, 201f. 48 Vgl. dazu B ECKER, Gottesbild. Becker sucht hier, ebd. 24, nach „Jesu Gottesbild in Grundzügen [...] und [...] der ältesten Deutung von ‚Ostern‘.“ Ein Ergebnis ist, daß „‚Ostern‘ [...] zunächst in den Bereich der Theo-logie und nicht der direkten Christologie“ gehört. Ähnlich bezeichnet auch M USSNER, Ursprünge, 102, Ostern als „eine Tat Gottes“. Vgl. jetzt auch BROER, Bedeutung.
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kriteriums“ in Abgrenzung vom „Differenzkriterium“ durch G. Theißen und D. Winter der Fall ist.49 Die Untersuchung des Gottesbildes Jesu baut also notwendigerweise immer auf einer Reihe von Hypothesen auf. Damit ist die Schwäche des Ansatzes benannt: Gott und Christus werden nicht in der Perspektive neutestamentlicher Theologie in Bezug gesetzt, sondern in der Perspektive des historischen Jesus. Eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Christologie im erstrebten Sinne ist dabei nicht intendiert und auf diese Weise auch nicht erreichbar.
1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, von Theologie und Christologie“ 1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, Theologie und Christologie“
Die dritte Linie der Aussagerichtungen befaßt sich genauer mit dem Verhältnis von Gott und Christus einerseits und dem Verhältnis von Theologie und Christologie andererseits. Weil auch hier unterschiedliche Herangehens- und Umgangsweisen festzustellen sind, legt es sich nahe, noch genauer zu differenzieren. Eine erste Linie beschreibt das Verhältnis von Gott und Christus so, daß von Gott ausgehend Aussagen von Christus gemacht werden (1.6.1). Eine zweite Linie faßt das Verhältnis unter den Stichworten „Einheit“, „Sendung“, „Vater-Sohn-Beziehung“, „Relationalität“ (1.6.2). Eine dritte Linie schließlich schlägt den der ersten Linie entgegengesetzten Weg ein, um von Christus ausgehend zu Aussagen von Gott zu kommen (1.6.3). 1.6.1 Von Gott zu Christus In dem systematisch-theologischen Konzept von W. Thüsing sind zwei Linien angelegt, deren eine hier, deren andere in 1.6.3 zu benennen ist. Thüsing zeigt, daß „Theo-logie“ und „Christo-logie“ seit dem Christusgeschehen nicht voneinander zu trennen sind.50 Weil seiner Ansicht nach Theologie, Gottesverständnis, Gotteserfahrung, Gottesgemeinschaft durchgehend an Jesus Christus gebunden sind, entwirft er das „Programm einer von der
49
Vgl. KÄSEMANN, Problem, 203-206. Die klassisch gewordene Formulierung findet sich bei CONZELMANN, Jesus, 623: Es „gilt der methodische Grundsatz: als echt ist anzusehen, was sich weder in das jüdische Denken einfügt, noch in die Anschauungen der späteren Gemeinde.“ Vgl. aber T HEISSEN / W INTER, Kriterienfrage. Einen Niederschlag findet dies auch in T HEISSEN / MERZ, Jesus, 96-124, besonders 116-120. Einen Überblick über das ganze Thema gibt PORTER, Criteria. 50 Vgl. THÜSING, Christologie, 133.
1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, Theologie und Christologie“
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Theo-logie her und auf sie hin konzipierten Christologie.“51 Da Christologie nicht ohne den Bezugspunkt „Gott“ darstellbar sei, sei zu versuchen, „einen theo-logischen Entwurf der Christologie zu skizzieren.“52 Aus exegetischer Sicht macht F. Hahn für die johanneischen Aussagen von Gott deutlich: „Bei allem Gewicht, das der Christologie oder der Pneumatologie zufällt, wird jedes Geschehen auf Gott selbst zurückgeführt. Die theozentrische Konzeption ist ein wesentliches Kennzeichen der johanneischen Theologie.“53 Grundsätzlich müsse daran erinnert werden, daß die Christologie Teil der Gotteslehre sei. Christologie wie Pneumatologie seien im Neuen Testament zu verstehen „als integrale Bestandteile der Botschaft vom Heilshandeln Gottes.“54 Entworfen wird hier eine theologische Christologie, also ein Komplex von Christus-Aussagen, der seinen Ausgang bei Gott, bei der Theologie, nimmt und von da aus eine Christologie entwickelt. Diese Aussageform läßt sich als „Christologie von oben her“ bezeichnen. Eine grafische Umsetzung dessen würde so aussehen: Gott
Theologie
Christus
Christologie
ඏ
ඏ
Gott ist Christus übergeordnet, und die Theologie ist der Christologie vorgeordnet. Das Schaubild repräsentiert das übliche Verständnis des Verhältnisses von Gott und Christus. Die zugehörige Argumentationsstruktur stellt sich dann dar als: „Gott ist ..., also ist Christus auch ... .“ Dabei sind die Leerstellen durch eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit aufzufüllen.55 Eine Stärke dieser Aussageform liegt in dem Versuch, Gott und Christus, Theologie und Christologie in ein Verhältnis zueinander zu setzen, und zwar in ein Verhältnis, das zugleich eine Aussage über das Oben und Unten, den Impulsgeber der Offenbarung und den Impulsmittler der Of51
DERS., Christologie, 133. Ebd. 135. Diese Schrift ist die überarbeitete und erweiterte Fassung von DERS., Gottesbild. Auch in monographischer Form liegt diese Konzeption vor, vgl. DERS., Theologien. Auf gleicher Ebene liegt auch Thüsings Versuch, am Beispiel der christologisch durchgeführten Kulttheologie eine theozentrische Christologie des Hebr zu entwerfen, vgl. DERS., Frage. Dieser Ansatz findet sich dann auch bei Thüsings Schülern K. Backhaus und T. Söding, vgl. programmatisch B ACKHAUS, Funktion, und SÖDING, Theozentrik. 53 HAHN, Theologie I, 611. 54 DERS., Theologie II, 305. 55 Vgl. dazu W EHRUNG, Christologie, 1636, und HAHN, Theologie II, 163. 52
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1. Forschungsgeschichtliche Schlaglichter
fenbarung macht. Dem steht allerdings negativ gegenüber, daß eine Sichtweise, die bei Gott ansetzt, um von ihm aus zu Aussagen von Christus zu gelangen, immer schon eine wichtige Voraussetzung macht: Eine ansatzweise Gotteserkenntnis muß vorhanden sein, mindestens ein grundsätzliches Wissen um Gott ist Bedingung, damit Gott als derjenige gesehen werden kann, der über Christus steht.56 Dagegen ist der Weg der Gotteserkenntnis, der bei Jesus Christus beginnt und von ihm aus zu Gott gelangt, noch nicht deutlich. Dieser Aspekt wird in 1.6.3 aufzunehmen sein. 1.6.2 Gott und Christus in Einheit Für die Rede von der Einheit von Gott und Christus liegt ein Schwerpunkt auf dem JohEv. So ist für M. Dibelius die Christologie in den Mittelpunkt des JohEv getreten: In Jesus „haben die Christen Gott. Sein Wort und Werk sind Wirkungen Gottes [...]. Darum kann von Jesus Wesensgemeinschaft mit Gott ausgesagt werden, wie sich in seiner Bezeichnung durch das Wort ‚Gott‘ kundgibt (20,28, s. auch 1,1).“57 Dibelius arbeitet dann die Aspekte der Wesenseinheit und der Überordnung Gottes über Christus heraus,58 und er betont so die Relationalität, in der Christus zu sehen sei.59 R. Bultmann versteht die Sendung Jesu als die entscheidende Tat Gottes.60 In bezug auf die johanneische Literatur macht er klar, daß in immer neuen Wendungen „diese Einheit Jesu als des Sohnes mit Gott als dem Vater betont“ wird.61 Festzuhalten bleibt, daß Bultmann zwar die Entwicklung der Lehre zur Alten Kirche hin betrachtet, dort aber nur die Bezüge einerseits der Theologie zur Kosmologie, andererseits der Christologie zur Soteriologie bestimmt. Eine Inbezugsetzung von Theologie und Christologie nimmt er nicht vor.62 56 Mit BREYTENBACH, Grundzüge, 172, muß beachtet werden, daß Christologie kein selbständiges Thema ist. Was für das MkEv gilt, gilt in gleicher Weise für das MtEv, das LkEv und das JohEv. 57 DIBELIUS, Christologie, 1606. 58 Bei Paulus wird dies noch deutlicher, wie SCHRAGE, Theologie, 127, zeigt: Gott macht Christus zu dem, was er ist; Gott ist damit also „der eigentlich Handelnde“, so daß Christus „als Gott untergeordnet“ erscheint. 59 Auf diese Relationalität geht auch W EHRUNG, Christologie, 1636, mit nur graduell anderem Aussageschwerpunkt ein. Grundsätzlich zum Thema Relationalität vgl. SCHOLTISSEK, Immanenz, besonders 7-22.363-380. 60 Das gilt auch für den Abschnitt zur joh Christologie in BULTMANN, Christologie. 61 Ebd. 402. Kursive im Original gesperrt. Vgl. jetzt auch B ECKER, Christentum, 126131.170-179. 62 Vgl. dazu BULTMANN, Theologie, 497-551, besonders 497f. Ähnlich deutet auch CONZELMANN, Grundriß, 372, das Verhältnis von Gott und Christus unter dem Aspekt
1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, Theologie und Christologie“
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Auch W.G. Kümmel geht von der Sendung aus: „Die Gottessohnschaft Jesu ist nun darin begründet, daß ‚der Vater ihn geheiligt und in die Welt gesandt hat‘ [...]. Das Verhältnis von Vater und Sohn scheint also das einer völligen Gleichheit zu sein, so wie der Sohn wie ein Gottwesen neben Gott steht und von Gott eigentlich nicht unterschieden werden kann.“63 Die Einheit von Vater und Sohn bestehe in der Sendung, denn darin „gehören der sendende Vater und der gesandte Sohn untrennbar zusammen.“64 Einen fundamental anderen Ansatz verfolgt W. Joest, der nach der Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus fragt und das Anliegen einer Naturenchristologie durch eine Relationschristologie interpretieren will. Ausgehend davon, daß Gott in Jesus gegenwärtig und Jesus zugleich das menschliche Gegenüber Gottes sei, will er „das Zugleich der Gegenwart Gottes in Jesus und seines menschlichen Gegenüber zu Gott nicht substantial als ontische Doppelbeschaffenheit seiner Person in sich selbst, sondern relational als das Miteinander zweier Beziehungen [...] verstehen, [...] einmal in seinem eigenen Verhältnis zu Gott, und andererseits in dem Verhältnis, das Gott selbst in ihm zu uns eingegangen ist.“65 Er vergleicht diesen Ansatz mit einem menschlichen Vater-Sohn-Verhältnis: Ein Sohn könne „in der Relation seines eigenen Gegenüber zum Vater ganz der gehorsam dem Willen des Vaters sich Unterstellende sein, in der Relation zu andern, Außenstehenden aber unter bestimmten Umständen zugleich der den Vater vollmächtig Vertretende, in seinem Namen Handelnde.“66 Beides könne in Hinsicht der jeweiligen Relation gleichzeitig gelten. Wieder unter dem Aspekt der Sendung behandelt G. Strecker das Verhältnis von Gott und Christus: „Die Priorität der eschatologischen Dimension, die besondere Bedeutung des Sendungscharakters des Sohnes,“ werde an den Christustiteln deutlich, die das JohEv verwendet.67 Die „absolute Bezeichnung “ charakterisiere das Vater-Sohn-Verhältnis, „das die Sendung des Sohnes durch den Vater [...], die Liebe des Vaters zum Sohn [...] oder die Einheit Vater-Sohn aussagt [...].“68
der Sendung. Dem folgt, ebd. 373-380, ein Abschnitt, der, wie bei Bultmann, mit „Die Sendung des Sohnes“ überschrieben ist. 63 KÜMMEL, Theologie, 239. 64 Ebd. 243. Ebenfalls angeregt durch die johanneische Theologie setzt auch LOHSE, Grundriß, 127, hier den Schwerpunkt: „In der Mitte der joh. Theologie [...] steht das christologische Zeugnis vom Gottessohn, den der Vater gesandt hat.“ 65 JOEST, Dogmatik I, 233. 66 Ebd. 234. 67 STRECKER, Theologie, 508f. 68 Ebd. 510.
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Mit stärker ontologischen Aussagen auf der Basis von Joh 1,1-18 arbeitet H. Hübner. Er paraphrasiert Joh 1,1f. so: „‚Ich als bin der, der wesenhaft bei und im existiert. In dem Gott bin ich als Gott.‘ In theologischer Ontologie: ‚Ich bin aus dem Gott, mein Sein als das Sein aus dem Gott ist mein Gott-Sein.‘“69 Und unter Herausstellung der Gegenseitigkeit von Gott und Christus: „Wie Gott am Wort-Sein des Logos partizipiert [...], so partizipiert in reziproker Weise der Logos am Gott-Sein dessen, der der Gott ist, .“70 Für P. Stuhlmacher gehören „Jesus und Gott [...] erwählungsgeschichtlich und inkarnatorisch zusammen.“71 Auf dieser Basis stünden dann die Sendungs- und Einheitsaussagen: Die johanneische Sicht des Christus könne kaum besser charakterisiert werden als durch den Ausspruch Jesu in Joh 10,30 ( ), vgl. 17,11, sowie durch die Rede von der gegenseitigen Immanenz von Vater und Sohn. „Jesus ist der Sohn nur in der Herkunft vom und Zuordnung zum Vater, aber der Vater begegnet auch nur in ihm und durch ihn.“72 Die Throngemeinschaft werde im 4. Evangelium auf den Christus incarnatus ausgedehnt.73 F. Hahn sieht in der Sendung „das Grundmotiv der johanneischen Christologie“ und „geradezu das Herzstück der johanneischen Theologie [...].“74 Für das Verhältnis von Gott und Logos, von Vater und Sohn sei wichtig, daß „nach biblischem Denken“ die Unterordnung eine Gleichstellung nicht ausschließe, sondern daß sie „für urchristliches Denken“ sogar eine „Partizipation an Gottes Gottheit einschließt.“75 HÜBNER, + 6!$, 113. Angelegt ist diese Aussage aber bereits bei HÜBNER, Theologie III, 168, wenn es heißt: „Die Selbstoffenbarung des göttlichen Sohnes ist die Selbstoffenbarung des göttlichen Vaters. Jesus spricht das Ich Gottes; ihm eignet das Sein Gottes.“ Vgl. auch zu Joh 7 im Blick auf den Sohn und die Schrift, ebd. 172: „Er als der Sohn Gottes und die Schrift als die Schrift Gottes, sie haben beide ihre göttliche Qualität kraft ihrer Herkunft aus Gott.“ 70 DERS., + 6!$, 114. Vgl. dazu auch SÖDING, Vater. 71 STUHLMACHER, Theologie I, 75. 72 DERS., Theologie II, 225. 73 Bei einer Überprüfung der These fällt auf, daß im JohEv nicht vorkommt. Stuhlmacher geht hier aber auch noch weiter, vgl. ebd.: „Trotz der wesenhaften Gleichheit und Immanenz von Gott-Vater und Gott-Sohn hat auch die Johannesschule an der Subordination des Sohnes unter den Willen des Vaters festgehalten.“ Daß dieser Gedanke der Subordination schwierig ist, hat schon vorher KAMMLER, Geistparaklet, besonders 107, gezeigt. Kammler betont demgegenüber, vgl. ebd., „die wesenhafte Gottheit“ des Logos und bemüht damit einen aus der dogmatischen Tradition entlehnten Zuschreibungsbegriff, den er auch exegetisch für angemessen hält. 74 HAHN, Theologie I, 608. 75 DERS., Theologie II, 299. Hahn beschreibt, ebd. 296, das Verhältnis von Gott zu Christus als „relational und funktional“ auf den Ebenen der personalen Komponente, des 69
1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, Theologie und Christologie“
17
Verschiedene Aussageschwerpunkte sind deutlich: Die Akzentuierung der Sendung findet sich besonders bei Bultmann, Kümmel, Strecker, Stuhlmacher und Hahn. Das Verhältnis von Gott und Christus ist aber auch in der Perspektive der Relationalität und Reziprozität zur Sprache gekommen, so etwa bei Wehrung, Joest und Hahn. Wesensgemeinschaft und ontologische Einheit haben Dibelius und Hübner betont, die Handlungseinheit stärker Stuhlmacher. Weil das Verhältnis von Gott und Christus aus urchristlicher Perspektive bis hin zur Gleichrangigkeit beschrieben werden kann, vgl. Hahn, sieht eine grafische Darstellung dieser Aussageform so aus: Gott ∞ Christus
Theologie ∞ Christologie
Bei diesem Ansatz ist hervorzuheben, daß er einen wirklichen Versuch darstellt, Gott und Christus in einem Verhältnis zueinander zu sehen und dieses Verhältnis näher zu beschreiben. Dabei rangiert dieses Verhältnis je nach neutestamentlicher Schrift zwischen der Partizipation Jesu an dem Gottsein Gottes und der Gleichrangigkeit beider. Das Moment der Partizipation betont dabei das funktionale Element in der Beziehung von Gott und Christus, vgl. Hahn, so daß damit auch ein soteriologisches Moment unterstrichen wird. Allerdings, und das ist negativ festzuhalten, ist die Betonung des Sendungsmotivs in dieser Hinsicht nur für das JohEv angemessen. Die synoptischen Evangelien bieten nicht nur dieses Motiv nicht in der gleichen oder ähnlich stark ausgeprägten Weise, sondern es ist sogar zu fragen, ob jedes Evangelium an sich etwas Analoges enthält. 1.6.3 Von Christus zu Gott Der letzte Abschnitt besitzt gewisses Achtergewicht, weil auf der Basis des hier Gesagten meine eigene Fragestellung entwickelt werden soll. W. Holsten untersucht die Bedeutung von Theologie aus religionsgeschichtlicher Perspektive und stellt fest: „Der Begriff Th., vom Griechentum geschaffen, bezeugt hier das Bemühen, kraft des Logos das Sein Gottes zu untersuchen.“76 Stellt die religionsgeschichtliche Sicht so etwas wie eine AußenGemeinschaftscharakters und des Stellvertretungsgedankens. Vgl. auch DERS., Theologie I, 610. Das Element der Relationalität findet sich ähnlich bei GNILKA, Theologie, 138, der „das Aufeinander-bezogen-Sein, die Reziprozität von Vater und Sohn“ betont. 76 HOLSTEN, Theologie, 1355.
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perspektive auf eine Religion dar, so ist in dieser Aussage „Logos“ noch nicht im neutestamentlichen, speziell: im johanneischen Sinne zu verstehen. Dennoch liegt in dieser Formulierung auch für die Innenperspektive der Theologie eine Aufgabe, die gegenüber den bisher vorgestellten Ansätzen etwas ganz Neues in den Blick nimmt: Es legt sich nämlich von da aus nahe, Holstens Aussage auf das Neue Testament zu beziehen und zu fragen, wie sich eine Theologie darstellt, die von der Christologie her entwikkelt wird. Nach W. Pannenberg weist die Christologie immer Beziehungen zur Gotteslehre auf.77 Entsprechend bildet für ihn die Lehre von Jesus Christus das „Kernstück einer jeden christlichen Theologie.“78 Weil Christen aber Gott nur noch so kennen, wie Jesus ihn offenbart hat, „sind Theologie und Christologie, Lehre von Gott und Lehre von Jesus als dem Christus, miteinander verklammert. Ihren Zusammenhang zu entfalten, ist geradezu das Ziel sowohl der Theologie als auch der Christologie.“79 Von hier aus ist nochmals auf den Ansatz von W. Thüsing zurückzukommen. Thüsing hatte sich (vgl. 1.6.1) zum Ziel gesetzt, „einen theologischen Entwurf der Christologie zu skizzieren.“80 Er hat dabei aber nicht nur von der „Theo-logie“ zur „Christo-logie“ hin argumentiert, sondern ansatzweise auch die entgegengesetzte Perspektive aufgezeigt. So kommt jetzt der zweite Teil seines Programms mit besonderem Gewicht zum Tragen: das „Programm einer von der Theo-logie her und auf sie hin konzipierten Christologie.“81 Thüsing etabliert die Rede von zwei Linien in folgender Abgrenzung: „Bei der ‚absteigenden‘ Linie ist Gott als Ursprung der Heilsdynamik gesehen, d.h. als der die Heilsinitiative Ergreifende und der Schenkende, während er bei der ‚aufsteigenden‘ Linie als Zielpunkt, auf den alles hinzuordnen ist, betrachtet wird, d.h. als der, dessen schenkender Liebe geantwortet wird.“82 In dem Ansatz Thüsings bildet die „Theo-logie“ den Ausgangspunkt für die christologische Arbeit. Von der Christologie aus wird dann aber in einem zweiten Schritt erneut nach Gott und damit nach der „Theo-logie“ gefragt. „Vorausgesetzt ist also etwas, was meist übersehen wird und doch im Befund des NT eindeutig verankert
77
Vgl. P ANNENBERG, Christologie, 1762. DERS., Grundzüge, 13. 79 Ebd. 80 T HÜSING, Christologie, 135. 81 Ebd. 133. Bei Thüsing im ganzen kursiv, diese Hervorhebung durch mich. 82 Ebd. 119. 78
1.6 „Verhältnisbestimmung von Gott und Christus, Theologie und Christologie“
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ist: Eine Theozentrik der aufsteigenden Linie wird nicht nur vom Jesus der Geschichte, sondern auch vom Auferweckten ausgesagt.“83 J. Roloff sieht die neutestamentliche Gotteslehre durch die spannungsvolle Zuordnung zweier Tendenzen bestimmt: Einerseits knüpfe das Neue Testament an die alttestamentliche Gottesvorstellung an; andererseits aber führe es über das Alte Testament hinaus, indem es das Reden von Gott in exklusiver Weise an Aussagen über Botschaft, Schicksal und Person Jesu binde und so die „Christologie zum Schlüssel der G[ott].eslehre“ werden lasse.84 Christologie als Schlüssel der Theologie – dieser Satz steht bei Roloff nicht auf der Ebene eines hermeneutischen Prinzips, sondern gibt lediglich Hinweise auf die Gliederung des Artikels. Im Vergleich zu dem, was bereits zu Holsten, Pannenberg und Thüsing gesagt wurde, bleibt Roloffs Ansatz damit deutlich zurück. Nach C. Gunton baut Christologie „auf der Bedeutung Jesu von Nazareth als des ewigen Sohnes Gottes, der Mensch geworden ist, auf (Inkarnationslehre) und entfaltet deren Implikationen für das Sein Gottes und der Welt.“85 Gunton setzt also beim irdischen Jesus an und will von ihm aus die Implikationen der Christologie für die Theologie erarbeiten. Dadurch, daß er dann Jesus als Sohn Gottes bezeichnet und so die historische Ebene verläßt, kann er in relationaler Hinsicht deutlich machen: „Die Lehre von der Gottheit Christi bezieht sich auf das Verhältnis Jesu von Nazareth als des Sohnes Gottes zu Gott dem Vater.“86 Eine Detailbeobachtung, die diese Denkrichtung unterstützt, teilt A. Lindemann mit: „Die synoptischen Evangelien zeichnen Jesus als den Verkündiger der nahen Herrschaft Gottes. Für Markus ist charakteristisch, daß die Menschen angesichts der Wunder Jesu Gott preisen [...].“87 Lindemann zeigt, daß in den synoptischen Evangelien Gott und Christus eng verbunden sind, ohne daß Gott und Christus aber gleichgesetzt werden. Er hebt damit die aufsteigende Linie hervor, die von Christus zu Gott führt. F. Hahn beleuchtet das Verhältnis der Offenbarung Gottes zur Christologie: Wo immer im Neuen Testament von der Offenbarung Gottes die Rede sei, sei diese „explizit oder implizit christologisch mitbestimmt.“ Das 83 Ebd. 144. Vgl. LOHSE, Grundriß, 14: „Nur von der Christologie her kann auch die Theologie der nt.lichen Zeugen aufgeschlossen und entfaltet werden.“ Lohse thematisiert deswegen Jesus bzw. die Christologie jeweils zu Anfang eines Abschnitts, führt seine Einsicht aber nicht im Sinne eines methodischen Programms fort. 84 ROLOFF, Gotteslehre, 300. 85 GUNTON, Christologie, 310. 86 Ebd. 311. Vgl. zu dieser Position im ganzen auch DERS., God. 87 LINDEMANN, Gott, 1106.
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komme vor allem dort zum Ausdruck, wo es um „ein Handeln des Präexistenten bei der Schöpfung oder in der Geschichte“ geht.88 Theologische Rede im Neuen Testament habe demnach immer christologische Anteile, und Christologie sei für die Urchristenheit zu einem integralen Bestandteil der Theologie geworden. „Alle christologischen Aussagen wollen daher als Aussagen über Gottes Handeln verstanden sein, das sich in und durch Jesus realisiert.“89 Eine theologische Perspektive für das MkEv entwickelt G. Guttenberger. Sie sieht in der Gottesvorstellung zwar nicht das beherrschende Thema des MkEv, wohl aber eine einheit- und sinnstiftende Größe. Die Gottesvorstellung gerate häufig in den Hintergrund der Wahrnehmung und erscheine als vermeintlich selbstverständliche Größe, so daß explizite Aussagen über Gott selten seien und häufig im Zusammenhang mit christologischen oder soteriologischen Aussagen stünden; dennoch sei die „Darstellung des epiphanen Gottes [...] exklusiv an Jesus gebunden. Nur in Beziehung zu ihm wird Gott in der Wirklichkeit wahrnehmbar.“90 In grafischer Umsetzung würde sich das Gesagte etwa so darstellen: Gott
Theologie
Christus
Christologie
ඍ
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Ein Gewinn der dritten Aussagelinie ist, daß eine echte Verhältnisbestimmung von Gott und Christus unternommen wird. Diese geht, anders als bei der ersten (1.6.1) und der zweiten (1.6.2) Linie, stärker von der Christuserkenntnis des Menschen aus und gelangt über den Erkenntnismittler Christus zu Gott. Theologisch setzt diese Linie dabei Gott voraus. Als Defizit wird deutlich, daß die aufgezeigte Linie, die von Christus ausgehend zu Aussagen von Gott kommen will, hermeneutisch bisher nicht näher bestimmt wurde.91 Mit anderen Worten: Diese aufgeworfene Frage ist noch nicht als methodische Frage gesehen worden. 88
HAHN, Theologie II, 157. Ebd. 194. 90 GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 93. Sie geht damit aber insgesamt stärker von Jesus als von der Christologie aus. Vgl. dazu auch B ORING, Christology, 451: „Mark’s narrative is thoroughly theocentric and permeated with God-language.“ Auch hier liegt der Akzent auf Jesus; vgl. ebd. 471: „For Mark, to tell the story of Jesus is to talk about God, the one God.“ 91 Vgl. GNILKA, Gottesgedanken, 144. Er argumentiert zunächst im Sinne der Linie von 1.6.1, geht aber weiter, ebd. 154: „Weil die 5 zentraler theologischer Begriff des Evangeliums ist, rückt Jesus auch auf diesem Wege in die Nähe Gottes, 89
1.7 Die Zielsetzung der Arbeit
21
1.7 Die Zielsetzung der Arbeit 1.7 Die Zielsetzung der Arbeit
Weil Gott nur in der Weise bekannt ist, wie Jesus Christus ihn offenbart, muß eine Suche nach der Theologie von Christus ausgehen. Jesus Christus aber ist nur in der Weise bekannt, in der die Autoren der neutestamentlichen Schriften ihn zeigen. Wer also nach der Theologie des Neuen Testaments sucht, wird – von den neutestamentlichen Schriften ausgehend – zu fragen haben, wie Jesus Christus Gott offenbart. In den Abschnitten 1.4 bis 1.6 sind verschiedene Aussagelinien der Forschung in bezug auf die Christologie näher untersucht worden. Auf diese Weise wurde sichtbar, was diese Aussagelinien theologisch auszusagen vermögen. Ein aus methodischer Sicht klares Defizit ist im Blick auf die Linie der Aussagen „Von Christus zu Gott“ (1.6.3) festgestellt worden. Dieser Richtung soll im folgenden weiter nachgegangen werden. Die Frage, die P.-G. Klumbies (vgl. 1.1) für Paulus gestellt hat, soll hier exemplarisch für das MkEv bedacht und angewendet werden. In sprachlicher Anlehnung, aber in inhaltlicher Abgrenzung könnte man mit W. Thüsing sagen: Ziel der Arbeit ist die Frage nach einer christologischen Theologie im MkEv. Im Unterschied zu der in 1.6.1 herausgestellten „Christologie von oben her“ soll es im folgenden um eine „Theologie von unten her“ gehen, aber eben nicht ausgehend vom irdischen Jesus, sondern von der Christologie des MkEv. Anders gefragt: Wie stellt sich die Theologie des MkEv dar, wenn man die Christologie als ihren Schlüssel betrachtet?
bestimmt er das Gottesbild des Evangeliums auf unverwechselbare Weise.“ Hervorhebung durch mich.
Kapitel 2
Methodische Überlegungen Die Beantwortung der folgenden methodischen Fragen bildet die Basis für die weitere Arbeit. Zunächst soll die Diskussion um eine „Narrative Theologie“ (2.1) kurz nachgezeichnet und erörtert werden. Sodann sollen die Konsequenzen dieser Diskussion für die gegenwärtige Arbeit überlegt und exemplarisch aus der theologischen und der literaturwissenschaftlichen Perspektive beleuchtet werden (2.2). Aus diesen Ansätzen soll im Sinne der Fragestellung der Arbeit eine neue Positionierung dahingehend vorgeschlagen werden, daß die allgemeine und mehrdeutige Rede von einer „Narrativen Theologie“ in einem spezifisch exegetischen Sinne von „Theologie als Erzählung“ verstehbar wird (2.3). Dann ist herauszustellen, von welcher Textbasis die Analyse am sinnvollsten ausgehen kann und warum (2.4). Eine Zusammenfassung (2.5) schließt diesen Teil ab. Sie soll die Ergebnisse des ersten Abschnitts zu den Ergebnissen des zweiten Abschnitts in Beziehung setzen und, darauf aufbauend, die Fragestellung präzise greifbar machen.
2.1 Die Geschichte der „Narrativen Theologie“ 2.1 Die Geschichte der „Narrativen Theologie“
Angestoßen durch zwei Aufsätze des Sprachwissenschaftlers H. Weinrich und des katholischen Fundamentaltheologen J.B. Metz hat sich seit 1973 eine bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unabgeschlossene Diskussion um das Problem einer „Narrativen Theologie“ entwickelt. Weil der Terminus heute auf unterschiedliche Weise gefüllt und interpretiert wird, muß jeder Vermittlungs- oder Verständigungsversuch der dem Terminus zugeschriebenen Bedeutungsvielfalt Rechnung tragen. 2.1.1 H. Weinrich: „Narrative Theologie“ Der für eine wissenschaftliche Fachzeitschrift stilistisch ungewöhnliche Artikel1 beginnt damit, daß der Autor ein nach seiner Aussage apokryphes 1
Vgl. STEINER, Theologie.
2.1 Die Geschichte der „Narrativen Theologie“
23
Evangelium erzählt, in dem er die beiden Texte Lk 15,4-5 und Lk 15,8-9 neu kombiniert, so daß sich der zweite Teil aus dem ersten entwickelt. Weinrich will damit deutlich machen, daß die Bedeutung dieser Geschichte nicht darunter leidet, daß ihr keine historische Faktizität zukommt. So legt sich für ihn der Verdacht nahe, daß innerhalb der Theologie die Frage nach der Geschichte möglicherweise falsch gestellt ist: „Die biblische Tradition legt vielmehr die Frage nach der Erzählung nahe.“2 Er begründet seinen Verdacht damit, daß gerade die religiös relevanten Texte Erzählungen sind und daß damit Jesus selbst als „erzählter Erzähler“ begegnet. Daraus folgt für Weinrich, daß das Christentum eine Erzählgemeinschaft ist. Nach dieser Vorstellung tradiert sich das Christentum – in der Nachfolge Christi, des erzählten Erzählers aus Nazareth – von Generation zu Generation in einer endlosen Kette von Nacherzählungen. Weinrich bezeichnet das, mit Anspielung auf Röm 10,17, als „fides ex auditu“. Seiner Ansicht nach hat aber die weitere Geschichte einschneidende Veränderungen gebracht, die das Christentum nicht eine Erzählgemeinschaft bleiben ließen. So macht er im Blick auf die Erzählsignale des Johannesprologs deutlich, daß nicht der Logos narrativiert wurde, sondern die biblischen Erzählungen vielmehr logisiert. Darin sieht er seine These „bestätigt, daß diese Gesellschaft (endgültig?) post-narrative Kommunikationsgewohnheiten angenommen hat.“3 Weinrich hält eine nur narrative Theologie kaum mehr für vorstellbar, schon gar nicht in dieser, wie er es nennt: post-narrativen Zeit; allerdings sieht er auch die Faktizität eines narratologisch tradierten Geschehens nicht als conditio sine qua non dafür, daß eine Geschichte uns etwas angeht, uns „betrifft“. Für ihn ist eine Theorie der Narrativität somit ein weiträumiges Forschungsprogramm für die Theologie. 2.1.2 J.B. Metz: „Kleine Apologie des Erzählens“ J.B. Metz weist zunächst auf den Zusammenhang von Erzählung und Erfahrung hin, geht dann auf den „praktischen und performativen Sinn der Erzählung“ ein und wendet sich schließlich der pastoralen und sozialkritischen Funktion des Erzählens zu: „Die Randgruppen und Bewegungen [sc. im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben, C.R.] argumentieren zumeist nicht. Sie erzählen vielmehr, oder besser: sie versuchen zu erzählen.“4 2
WEINRICH, Theologie, 330. Ebd. 333. 4 METZ, Apologie, 335f. Metz hat diese These an anderer Stelle nochmals und ausführlicher vertreten, vgl. DERS., Erlösung. Die stärkere Wirkung, wohl auch und gerade wegen eines initialzündenden Moments, ist aber von der „Apologie“ ausgegangen. 3
2. Methodische Überlegungen
24
Metz empfindet dieses Erzählen als heilsamen „Kulturschock“5 und fragt, ob nicht gerade diese Randgruppen ein weithin verlorengegangenes Erzählpotential anregen könnten: „Erinnern sie nicht auf ihre Art an das erzählende Wesen des Christentums?“6 Eine unmittelbare Unterscheidung von Verkündigung, die erzählt, und Theologie, die argumentiert, lehnt er ab: „Eine Theologie des Heils [...] muß immer auch narrativ expliziert werden; sie ist in fundamentaler Weise memorativ-narrative Theologie.“7 2.1.3 Weinrich, Metz und ihre Wirkungen Weinrich und Metz haben mit ihren Artikeln eine – besonders in der Theologie – breite Diskussion ausgelöst,8 die aber aufgrund der verschiedenen terminologischen Füllungsversuche in sehr unterschiedlichen Bahnen verlaufen ist.9 Erst seit 1992 findet sich das Stichwort „Narrative Theologie“ in Theologischen Nachschlagewerken.10 Andeutungen sind zuvor bei U. Luz11 oder E. Schweizer12 zu beobachten. Häufig erscheint der Ausdruck „Narrative Theologie“ in Anführungszeichen.13 Der Hauptgrund für diesen uneigentlichen Gebrauch14 dürfte vor allem darin liegen, daß es „keine systematischen Entwürfe zu einer narra5
METZ, Apologie, 336. Bei Metz entsteht hier der Eindruck, als sei „das Christentum“, das er beschreibt, eine einheitliche Größe. Davon allerdings dürfte zu keinem Zeitpunkt der Geschichte auszugehen sein. Zu fragen wäre auch, ob „das Christentum“ tatsächlich als Ganzes dieses „erzählende Wesen“ gehabt hat. Zumindest für diejenige Briefliteratur, die ihren Weg in das Neue Testament gefunden hat, ist dies zu bezweifeln, wenngleich sich natürlich auch Paulus in seinen Briefen durchweg auf die Jesus-Christus-Geschichte bezieht. Vgl. dazu REINMUTH, Paulus, besonders 67-77. Zum Ausdruck „Jesus-Christus-Geschichte“ vgl. DERS., Hermeneutik, besonders 11-38. 7 METZ, Apologie 339. 8 Weinrich selbst war von der Reaktion auf seinen Artikel überrascht und hat seinen Standpunkt später nochmals ausdrücklich unterstrichen, vgl. DERS, Formen, 235. 9 Vgl. besonders W ACKER, Theologie, und DERS., Jahre. Eine Auseinandersetzung mit beiden Entwürfen leistet auch W ENZEL, Hermeneutik. 10 Vgl. etwa SCHOENBORN, Theologie, ARENS, Theologie, und WENZEL, Theologie. 11 LUZ, Christologie, 714. 12 SCHWEIZER, Jesus, 685. 13 Vgl. etwa SCHIERSE, Geschichte, 35: „[D]en Text, die Botschaft, den ‚Logos‘ der Apostelgeschichte beginnt man erst dann zu verstehen, wenn man die Ebene historischkritischer Fragestellungen übersteigt und sich von Lukas, dem ‚narrativen‘ Theologen, seine Geschichten erzählen läßt.“ 14 Uneigentlichen Gebrauch sehe ich dann vorliegen, wenn „narrative Theologie“ in Anführungszeichen steht, ohne daß damit der Terminus näher untersucht oder auf ein anderes Werk angespielt bzw. dieses zitiert wird. 6
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
25
tiven Theologie“15 gibt, „der Terminus ‚narrative Theologie‘ [...] bis dato keine allgemein akzeptierte inhaltliche Füllung hat gewinnen können“16 und damit die „Bedeutung schwankt zwischen ‚erzählende Theologie‘ und ‚theologische Theorie der Narrativität‘.“17 Naheliegend ist dann das Urteil: Eine „‚narrative Theologie‘ ist – genau genommen – eine Fehlbezeichnung.“18 Besitzt das, was mit „Narrative Theologie“ bezeichnet wird, (noch) keinen konzeptionell ausgearbeiteten Hintergrund, so wirkt der Ausdruck als ganzer aufgrund seiner häufigen und unspezifischen Verwendung unscharf. In keinem Fall ist er demnach gleichzusetzen oder auszutauschen mit dem, was als „narrative Christologie“ bezeichnet wird (vgl. 1.5). Der lateinische Ausdruck „narratio“ bedeutet für sich genommen zunächst nichts anderes als „Erzählung“. Unter einer „Erzählung“ im allgemeinen Sinne verstehe ich jede mündliche oder schriftliche Darstellung von Ereignissen oder Ereignisabfolgen. Diese allgemeine Sicht ist im folgenden zu spezifizieren. Dafür soll jeweils exemplarisch eine wichtige Arbeit genauer nachgezeichnet werden: aus theologischer, speziell neutestamentlicher, und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Nach dem Votum von Weinrich (vgl. 2.1.1) wird insbesondere zu prüfen sein, inwiefern die historische Faktizität des Berichteten für das Erzählte relevant ist.
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte 2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
Aus neutestamentlicher wie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive birgt der Ausdruck „narrativ“ eine Bedeutungsvielfalt, der vor einer verantworteten Verwendung nachgegangen werden soll. Dabei werden sich eine Reihe von Überlegungen ergeben, die für die weitere Arbeit hermeneutisch relevant sind. 2.2.1 Die theologische Perspektive Im Zentrum der Untersuchung steht hier ein kurzer, 1974 von G. Lohfink veröffentlichter Artikel, der das Ziel verfolgt, die Ausdrücke „Erzählung“ und „Theologie“ in ein Verhältnis zu setzen. Das Erscheinungsjahr legt eine Vermutung nahe, die eine Fußnote in seinem 1989 erschienenen Sam15
STEINER, Theologie, 89. W ACKER, Jahre, 20. Ähnlich BAUDLER, Gott, 11. 17 W ACKER, Jahre, 20. 18 R ITSCHL / J ONES, Story, 7; vgl. auch ebd. 41. 16
2. Methodische Überlegungen
26
melband bestätigt:19 Lohfink hat mit diesem Artikel auf die seinerzeit laufende Diskussion reagiert, die durch den Impuls von J.B. Metz angestoßen wurde. 2.2.1.1 G. Lohfink: „Erzählung als Theologie“ G. Lohfink bestimmt das Verhältnis von Erzählung und Theologie im Neuen Testament im Sinne von Erzählung als Theologie. Seiner Analyse nach gibt es drei Spracharten, nämlich argumentative, appellative und narrative Sprache. In diesem Zusammenhang meint narrativ zunächst – unabhängig von der Form – lediglich die Mitteilung eines Geschehens. Anhand neutestamentlicher Beispiele zeigt Lohfink die grundlegende Funktion narrativer Sprache auf. Seiner Ansicht nach haben alle „nichtnarrativen Elemente [...] nur sekundäre Funktion [...], weil die urchristliche Botschaft von Anfang an Bekenntnis der Heilstaten Gottes in Jesus Christus gewesen ist, also von Anfang an narrativen Charakter hatte.“20 Allerdings muß die „Argumentatio“ in der Theologie einen sehr großen Platz einnehmen, wenn sich die Theologie darüber im klaren ist, „daß sie grundsätzlich bei jeder ihrer Denkbewegungen irgendwo an eine Grenze stößt, nämlich dort, wo sie auf das einmalige, unvorhersehbare und nicht mehr ableitbare Handeln Gottes trifft. An dieser Stelle angekommen, kann die Theologie nicht mehr argumentativ, sondern nur noch narrativ sprechen.“21 Für Lohfink ist damit Erzählung selbst Theologie. Ziel von Erzählungen sei es, die „Gegenwart des Erzählten“ herzustellen und den Hörer hineinzuziehen in das, was damals geschah.“22
19
LOHFINK, Erzählung. LOHFINK, Erzählung, 20. Den Unterschied zwischen Paulus und den Evangelien in bezug auf die Art und Weise der Entfaltung von Theologie betont auch S ÖDING, Evangelist, 12. 21 LOHFINK, Erzählung, 21f. 22 Ebd. 25. Ähnlich SANKEY, Promise, 17: „Mark’s text does not just narrate. It engages not just our attention but our selves.“ Vgl. aus alttestamentlicher Sicht DIECKMANN, Segen, 26f., der für Gen 12.13.20.21.26 deutlich macht: „Die Geschichten der Genesis zielen nicht darauf ab, geschichtliche Informationen zu übermitteln, sondern wollen die Rezipienten, z.B. mit Avraham in Gen 22, mitfühlen lassen und sie auf diese Weise in die Erzählwelt gleichsam hineinziehen.“ Zu dem rezeptionsästhetischen Konzept von Dieckmann vgl. genauer 3.1. 20
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
27
2.2.1.2 Konsequenzen Drei Stärken des Ansatzes von Lohfink sind festzuhalten und kurz weiterzuverfolgen. Auf dem zweiten Aspekt liegt dabei von der Sache her ein Schwerpunkt. a) Jede Erzählung von Gott ist Theologie. Durch die Gattung „Erzählung“ wie durch das Erzählen selbst wird Theologie getrieben: Theologie ist „kein Anhängsel, kein Gegenüber zum Erzählen, [...] im Vergleich mit ihm nicht sekundär, sondern ins Erzählen integriert.“23 Es ist denkbar, daß diese Verknüpfung von Erzählung und Theologie, abhängig von der jeweiligen Erzählsituation, nicht jedem Erzähler jederzeit bewußt ist; auf analytischer Ebene aber ist das Moment „Theologie durch Erzählen“ immer mit zu berücksichtigen.24 b) Lohfink zielt auf den Aspekt der Vergegenwärtigung von Vergangenheit ab. Daß das Gesagte weiterhin Gültigkeit für sich beanspruchen kann und somit auch textpragmatische Aspekte zum Tragen kommen, hat Gründe, die mit dem Inhalt der Aussage zusammenhängen: Es geht um religiöse Texte, um die „Membran zwischen zwei Instanzen, dem Geglaubten und dem Glaubenden [...].“25 Damit spricht das, was in der Erzählung ausgesagt wird, den Menschen existentiell an. In besonderer Weise gilt dies für die Person des Erzählers: Indem er erzählt, macht er die Erzählung zu seiner Erzählung.26 Im Blick auf den Text gilt das damals wie heute – seine Aussage vermag noch immer bzw. immer wieder den Rezipienten direkt anzusprechen.27 Auch im Blick auf den Rezipienten gilt dies damals wie heute, weil er noch immer der Ansprache bedarf – und dies zu allen Zeiten nicht nur einmalig, sondern ebenfalls immer wieder.28 Die Aussagekraft der Erzählung besteht also weiterhin, weil von Gott die Rede ist und das Erzählte existentielle Bedeutung besitzt. Erzählungen diesen Inhalts haben von dem Moment des Aussprechens an Gültigkeit,
23
Vgl. MÜLLER, Wer ist dieser?, 14. Erzählen ist damit immer personal gebunden. Vgl. auch STEGNER, Theology, 3: „I use the term narrative to emphasize that Jewish Christians sometimes depicted their theology through stories.“ 25 JEZIORKOWSKI, Verhältnis, 192. 26 Die Frage, welcher Erzähler hier gemeint ist, etwa ein realer oder ein impliziter Erzähler, wird von Lohfink selbst nicht aufgeworfen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird diese Frage allerdings zu stellen sein, vgl. 3.2. 27 Ähnlich BORING, Mark, 31. 28 Auch die Frage, wie eine antike Situation, in der eine Erzählung stattgefunden hat, konkret vorzustellen ist, spielt für Lohfink keine Rolle. Vgl. auch dazu 3.2. 24
2. Methodische Überlegungen
28
weil sie den Menschen, seine Umwelt und seine Zukunft betreffen.29 Damit bleibt der in dem Gesagten enthaltene Appellcharakter bestehen. Diese Erzählungen zielen bis heute darauf, das Handeln des Menschen zu verändern. Die Zeitspanne, die zwischen dem erzählten Geschehen und dem (Wieder-) Erzählen liegt, ist somit für das Erzählte wie für die Adressaten nicht relevant. Für den speziellen Kontext einer Geschichte, die Jesus selbst erzählte, hat Weinrich betont, daß ihre Bedeutung nicht darunter leidet, daß ihr keine historische Faktizität zukommt.30 Wesentlich an dieser Aussage ist, daß sie ausschließlich für „eine Geschichte“ gilt, nicht für „die Geschichte“. In bezug auf „die Geschichte“ ist zu unterscheiden zwischen einem Faktum der Vergangenheit, das als bloßes Faktum an sich bedeutungslos ist, und einem historischen Faktum, zu dem ein Faktum der Vergangenheit dann wird, wenn es in den Rahmen einer übergreifenden Fragestellung eingeordnet und so in einen Interpretationsrahmen eingebettet wird.31 Ein historischer Gegenstand wird also erst durch bestimmte, auf historische Sinnbildung zielende Fragestellungen überhaupt konstituiert. Dann ist klar, daß sich der Sinn eines Faktums nicht an der Faktizität entscheidet, sondern erst an der Bedeutung, die ihm beigemessen wird.32 Die Konstruktion von Geschichte ist also „ein notwendiges Element historischer Arbeit.“33 29
Man kann mit MÜLLER, Verstehst, 144, sagen: Es sind „Erzählungen, die ein Ereignis der Vergangenheit so auf ihre Gegenwart hin erzählen, daß diese davon beeinflußt wird. [...] Insofern handelt es sich bei religiösen Texten um absichtsvolle ‚anspruchsvolle‘ Texte, die Beziehungen stiften, zum Erkennen und Handeln führen wollen. Dies tun sie ganz offensichtlich über ihre eigene Zeit und ihren Entstehungsrahmen hinaus.“ 30 WEINRICH, Theologie, 330. 31 Zu dieser Unterscheidung vgl. HÄFNER, Konstruktion, 69f. 32 Vgl. auch SCHRÖTER , Konstruktion, 201: „Ereignisse, die sich zutragen, [...] sind nicht identisch mit ihrer späteren Darstellung innerhalb der historischen Erzählung, denn erst durch die letztere gewinnen sie eine Bedeutung, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt und die letztere als bedeutsam erscheinen läßt.“ Auf eine Verknüpfung von Erzählforschung und Geschichtswissenschaft zielt BECKER, Historiograph. Sie sieht, ebd. 113, in der neutestamentlichen Erzählforschung „eine Reduzierung erzähltheoretischer Ansätze auf literaturwissenschaftliche, nicht aber geschichtsorientierte Perspektiven der ‚Erzählung‘ [...].“ Dabei gehört für sie, ebd. 118f., die „Verhältnisbestimmung von ‚Faktizität‘ und ‚Fiktion‘ in den Evangeliendarstellungen nicht nur literarisch, sondern auch noetisch und hermeneutisch zu den unaufgebbaren Aufgaben ntl. Wissenschaft [...].“ Vgl. auch DIES., Markus-Evangelium. Becker versucht hier, vgl. ebd. 1, das MkEv „im Zusammenhang antiker Historiographie“ zu betrachten und es „damit der antiken Geschichtsschreibung in einem weiteren Sinne“ zuzuordnen. 33 HÄFNER, Konstruktion, 93. Vgl. auch SCHNELLE, Anschlußfähigkeit, 50: Geschichte wird „unausweichlich und notwendigerweise konstruiert.“ Mit seiner Aussage bezieht Schnelle Position zu der in der geschichtstheoretischen Diskussion grundsätzlichen Fra-
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
29
Aus der Außenperspektive sind Evangelien Fiktionen.34 Markus hat durch die Zusammenstellung von unterschiedlichen Materialien und Textsammlungen zu einer chronologischen und geographisch geschlossenen Geschichte „eine chronologische Fiktion (wahrscheinlich bewußt!) geschaffen, die Matthäus dann weiterführte und ‚umbaute‘.“35 Diese Weiterführung bestand in der teilweisen Auflösung der Vorlage, in der Umgruppierung der Einzelteile und in der Erweiterung des Erzählstoffes, so daß das Ergebnis wie das MkEv im weitesten Sinne als „Jesus-ChristusGeschichte“36 zu bezeichnen ist, bei genauerem Hinsehen aber zu anderen christologischen wie theologischen Aussagen kommt. Handelt es sich bei dem MkEv und dem MtEv um bewußte narrative Fiktionen – das LkEv zeigt durch Lk 1,1-4 einen anderen Anspruch –, so ist es nicht entscheidend, ob das Erzählte historische Faktizität, also einen objektiven Referenzbezug besitzt;37 wichtiger als historische Faktizität ist in neutestamentlicher Perspektive der Wahrheitsanspruch einer konkreten Geschichte, der Jesus-Christus-Geschichte, auf die durchgehend Bezug genommen wird. Für diese Geschichte als ganze ist relevant, daß das Erzählte Appellcharakter besitzt, gut greifbar beispielsweise in dem von dem Erzähler als Summarium gestalteten Umkehrruf in Mk 1,15 (vgl. 6.5). Durch diesen Appellcharakter wirkt der Text über sich hinaus. Der Jesus-Christus-Geschichte geht die Geschichte Israels und Judas voraus, die im Tanak, der maßgeblichen Schriftsammlung der Juden und der ersten Christen, aufgezeichnet ist. Sie zeigt sich als Geschichte, die mit der Schöpfung Gottes beginnt, sich mit der Verheißung an Abraham auf ein Volk fokussiert und über die Knechtschaft in Ägypten, den Exodus, die Landnahme und die Zeit bis zum Exil in Babel fortsetzt. In dieser Krisensige, ob Geschichte konstruiert oder rekonstruiert wird. Diese Frage löst sich aber auf, wenn klar ist, daß es sich in keinem Falle um freie, sondern immer um eine der Vergangenheit angemessene Konstruktion handelt. Vgl. zum Ganzen auch SCHAPP, Geschichten, 85-206. 34 Dies gilt nur aus der Außenperspektive, denn, so JEZIORKOWSKI, Verhältnis, 192, „religiöse Texte verstehen sich [...] als nichtfiktional. Sie übersetzen ihrem Selbstverständnis nach aus einer Transzendenz, die [...] die wahre Realität und Wahrheit ist, in eine andere Realität, die gleichfalls nicht erfunden ist, sondern unsere Lebenswirklichkeit, die des Autors und des Lesers solcher Texte.“ Vgl. auch DU T OIT, Herr, 14: Das MkEv ist eine „nicht-fiktionale Erzählung, [...] die mittels der erzählten Geschichte auf Ereignisse verweisen will, die aus Sicht des Evangelisten real geschehen sind.“ Vgl. dazu auch STIERLE, Rezeption, und FOCANT, Vérité, besonders 310f. 35 LUZ, Fiktivität, 177. Schon das MkEv enthält nach SCHRÖTER, Jesus, besonders 6289, „produktive Erinnerungen“. 36 Zu diesem Ausdruck vgl. oben 2.1.2 und REINMUTH, Hermeneutik, passim. 37 Vgl. dazu LANDMESSER, Wahrheit.
2. Methodische Überlegungen
30
tuation läßt Gott einen neuen Exodus stattfinden, der die Rückkehr aus dem Exil und den Neuanfang im Land ermöglicht. Durch Mk 1,2f. kontextualisiert der Erzähler seine Erzählung so, daß sie an diese Geschichte anschließt. Das MkEv, die mk Erzählung der Jesus-Christus-Geschichte, will demnach verstanden werden als Fortsetzung des Handelns Gottes an Israel (vgl. 6.1). Das MkEv versteht sich als Erzählung lediglich an ein einziges Ereignis gebunden, nämlich an diese Offenbarung des in der Geschichte Israels handelnden Gottes in Jesus Christus. Für eine Erzählung diesen Inhalts ist der Zeitabstand zwischen dem Erzählten und dem (Wieder-) Erzählen irrelevant.38 Das gilt in gleicher Weise für Geschichten mit diesem Inhalt, die heute erzählt werden.39 c) Schließlich geht es nach Lohfink nicht um das distanzierte Aufzählen von Fakten der Vergangenheit, sondern um das Hineinziehen des Hörers. Dieser soll sich angesprochen fühlen, sich, angeregt durch das Gehörte, engagieren, in Aktion geraten. Dieses Engagement zeigt sich bei den Evangelisten, die auf der Basis des Erzählten bzw. des vorgefundenen schriftlichen Materials ihr jeweiliges Evangelium zusammengestellt, gleichsam „komponiert“ haben.40 Der Erzähler des ältesten Evangeliums ist damit geradezu das Paradigma des von Lohfink angesprochenen Phänomens: Er ist durch das Hören des Erzählten der selbst in die Geschichte Gottes mit den Menschen hineingezogene Weitererzähler. Drei Aspekte sind festzuhalten: Erzählung und Theologie schließen sich nicht aus, sondern durchdringen sich von ihrem Gegenstand her. Die Erzählung bleibt wegen ihres Inhaltes, ihres Anliegens und ihres Appellcharakters bis in die Gegenwart gültig. Und: Erzählung findet dahingehend engagiert statt, daß die Rezipienten durch die Jesus-Christus-Geschichte in 38
Vgl. MÜLLER, Wer ist dieser?, 172: „Beim Erzählen geht es nicht um Dinge oder Begebenheiten ‚an sich‘, sondern um ihre Bedeutung. Bedeutung ist den Dingen nicht inhärent, sie wird verliehen. Dies ist erst in der Retrospektive möglich.“ 39 Möglicherweise tritt noch das hinzu, was SELLIN, Vorstellungen, 717, zur Kategorie des Mythos im MkEv sagt: „Das narrative biographische Gemälde dient als Epiphanie des Gottessohnes. Es war zum ganzheitlichen Vorlesen bestimmt, und dieses Vorlesen war eine kultische Repräsentation; in ihm ereignete sich die Epiphanie dessen, wovon die Rede war. [...] Das Prädikat ‚Mythos‘ heißt aber nicht, daß diese Erzählung keinen historischen Grund habe.“ Dies bedeutet dann auch, ebd. 715: Das „‚Einmal der Offenbarung‘ ist als ‚Einfürallemal‘ gegenwärtig und deshalb [im Modus der erzählten Vergegenwärtigung des Vergangenen, C.R.] wiederholbar.“ Auch damit wirkt der Text über sich hinaus. Vgl. auch DERS., Mythos. 40 So schon VON W ILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Verklärung, 282; ähnlich auch BREYTENBACH, Nachfolge, 13 und passim. Mehr dazu in 2.3.
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
31
die vorausgegangene Geschichte Gottes hineingezogen werden und dann auch andere Menschen mit ihrem Erzählen in diese Gottes-Geschichte hineinziehen können. 2.2.2 Die literaturwissenschaftliche Perspektive G. Genette schlägt in seinem literaturwissenschaftlichen Entwurf eine Binnendifferenzierung des Ausdrucks „Erzählung“ vor. Auf diese Weise wird präziser greifbar, was mit „Erzählung“ im weiteren Sinne gemeint ist und wofür der Ausdruck „Erzählung“ im engeren Sinne zu verwenden ist. 2.2.2.1 G. Genette: „Die Erzählung“ G. Genettes „Die Erzählung“ erschien 1998 in 2. Auflage.41 Das Buch vereint zwei Texte: I. Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch (frz. 1972). II. Neuer Diskurs der Erzählung (frz. 1983).42 Ständiger Bezugspunkt der Arbeit ist das Werk „A la recherche du temps perdu“ von M. Proust, an dem Genette narratologische Grundphänomene aufzeigen will.43 Grundlegend ist folgende Unterscheidung:44 a) Erzählung (frz. „récit“, engl. „story“) ist die Erzählung im eigentlichen Sinne, der Signifikant, also der narrative Text oder Diskurs. b) Geschichte (frz. „histoire“, engl. „narrative“ oder „discourse“) ist das, was erzählt wird, das Signifikat, also das Ereignis, der narrative Inhalt oder Gegenstand. c) Narration (frz. „narration“, engl. „narrating“) ist das Ereignis des Erzählens, der produzierende narrative Akt selbst in der realen oder fiktiven Situation.45
41
GENETTE, Erzählung. Der „Neue Diskurs“ von 1983 ist Genettes Reaktion in der Form einer Nachschrift auf das, was er mit seinem ersten Entwurf ausgelöst hat. Er nutzt hier die Gelegenheit zur Verdeutlichung wichtiger Anliegen und korrigiert einzelne Teile seiner früheren Schrift. 43 Eine Grundentscheidung, mit der er später, vgl. ebd. 197, keineswegs mehr zufrieden war, weil er damit nach eigener Angabe „gewisse Verzerrungen“ in seine Darstellung hineingetragen hat. 44 Vgl. besonders ebd. 15-20. Diese Unterscheidung sieht er später als allgemein akzeptiert an. 45 Die Terminologie ist, bedingt durch die Übersetzung von Genettes Werk in verschiedene Sprachen, verwirrend: Die Unterscheidung von „histoire“ und „récit“ bei Genette entspricht der Unterscheidung von „story“ und „discourse“ bei C HATMAN, Story. In der deutschen Übersetzung von GENETTE, Erzählung, 16, wird dennoch zur Erklärung von „récit“ der Ausdruck „Diskurs“ verwendet. Um sachgemäß mit Genettes Entwurf arbeiten zu können, verwende ich deshalb in aller Regel seine französische Terminologie. 42
2. Methodische Überlegungen
32
Lediglich der Signifikant, der narrative Diskurs läßt sich direkt einer textuellen Analyse unterziehen. Dreierlei ist dafür wichtig: a) Geschichte und Narration existieren nur vermittelt durch die Erzählung. b) Erzählung ist nur Erzählung, sofern sie eine Geschichte enthält. c) Narrativ ist die Erzählung durch den Bezug auf die Geschichte. Daraus folgt für Genette: „Die Analyse des narrativen Diskurses ist [...] im wesentlichen die Unterscheidung der Beziehungen zwischen Erzählung und Geschichte, zwischen Erzählung und Narration sowie [...] zwischen Geschichte und Narration.“46 Der Durchgang des Buches ist über diese Grundlegung hinaus von Interesse, soll aber im Zuge der Exegese (vgl. Kap. 5 und 6) an konkreten Textbeispielen erläutert, problematisiert und unter Umständen angemessen verändert angewendet werden.47 Dabei sind 5 Kategorien relevant: die der Ordnung, der Dauer, der Frequenz, des Modus und der Stimme als narrativer Instanz.48 Jede Kategorie ist dann für sich noch weiter aufzugliedern.49
2.2.2.2 Konsequenzen Genettes Entwurf zeigt den Terminus „Erzählung“ als polysem. Die Ebenen der Erzählung, des Erzählten und des Erzählens werden in einleuchtender Weise unterschieden und griffig anwendbar. Deutlich wird auf diese Weise, daß Narration ein zeitlicher Vorgang ist, der also zeitlichen Gesetzen unterliegt, der aber, um Narration sein zu können, eine Erzählung umfassen muß. Diese Erzählung wiederum muß, um Erzählung sein zu können, auf eine außertextliche Gegebenheit referieren. Der folgende Versuch, das Modell Genettes grafisch umzusetzen, macht diese Abhängigkeiten sichtbar, die Genette selbst in bezug auf die einzelnen Teile des Modells 46
GENETTE, Erzählung, 17. Vgl. auch DU T OIT, Prolepsis. Du Toit versucht hier, einen Aspekt von Genettes Konzept auf das MkEv zu beziehen, und zwar, vgl. ebd. 167, den „Aspekt der temporalen Struktur des Evangeliums“, speziell „das Verhältnis der Reihenfolge der erzählten Ereignisse auf der Textebene zur Reihenfolge jener Ereignisse, auf die sich die Erzählung bezieht.“ Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Anachronien und den Prolepsen in der Erzählung. Vgl. auch DERS., Herr, besonders 7-14, und OKO, Who then is this?, 2931. Ebenfalls mit Genette, aber in bezug auf Paulus, hat sich W ISCHMEYER, Paulus, auseinandergesetzt. Ihr geht es vor allem um den Erzählmodus der Autodiegese im Blick auf autobiographische Aspekte in den Paulusbriefen. Sie macht allerdings deutlich, daß eine Autobiographie „keine ‚Erzählung‘ im Sinne Genettes“ ist, vgl. ebd. 90f. 48 In der Nachschrift hat Genette deutlich gemacht, daß statt von Dauer besser von Geschwindigkeit zu reden gewesen wäre, vgl. GENETTE, Erzählung, 213. 49 Vgl. KINGSBURY, Christology, 47-55, der vor allem die Kategorien „Point of View“, „Structure“, „Protagonist“ und „Procedure“ untersuchte, und grundsätzlich M ARSHALL, Faith, 14-30. 47
2.2 Erzählen, Erzählung und Geschichte
33
betont (vgl. 2.2.2.1). Das Ziel der Analyse ist entsprechend, die Erzählung (den récit) in ihren genannten 5 Teilaspekten zu untersuchen und so ihre Position zwischen Narration und Geschichte genauer verstehbar zu machen. Narration, narration
“
Erzählung, récit
Geschichte, histoire
„ Narration, narration Daß meine Wahl angesichts der Vielzahl literaturwissenschaftlicher Entwürfe gerade auf den Entwurf Genettes gefallen ist, hat Gründe: Die Exegese soll vom Endtext ausgehen (vgl. 2.4). Der Endtext ist als Text ein strukturiertes System, ein Gewebe – lat. textus – aus schriftgebundenen bzw. verschrifteten Sprechakten. Der Sinn eines Textes entsteht im Zusammenspiel von Einzelworten und -sätzen, in der Kombination von Teilstrukturen (dem Mikrotext), die den Text als Ganzen (den Makrotext) bilden. Die Analyse von Einzelstrukturen und ihre Untersuchung in der Gesamtstruktur des Textes ist die Aufgabe des Strukturalismus, genauer: des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. 50 Die linguistische Grundlegung des Strukturalismus ist üblicherweise mit dem Namen F. de Saussure verbunden, doch steht bei de Saussure nicht der „Begriff der Struktur“ im Mittelpunkt der Analyse, sondern „vielmehr der des Systems [...].“51 De Saussure versteht Sprache als Zeichensystem, das aus langue, langage und parole besteht: aus Sprache bzw. Sprachregeln, Sprachkompetenz und jeweiligem Sprechakt. Das System der langue wiederum, der Sprache, wird konstituiert aus Signifikant (dem lautlichen Zeichen), Signifikat (dem Inhalt des Zeichens) und Referent (dem konkret Bezeichneten), wobei sich Signifikant und Signifikat arbiträr zueinander verhalten.52 50
Jedes Strukturalismus-Modell, das sich nicht mit Literatur beschäftigt, scheidet für meine Textanalyse aus, so etwa der ethnologische Strukturalismus von C. Lévi-Strauss oder der geschichtswissenschaftliche Strukturalismus von P. Ricœur. Weniger geeignet ist auch der Strukturalismus J. Lotmans, der sich mit der räumlichen Organisation erzählender Texte beschäftigt, der auf den Bereich der Psychoanalyse ausgeweitete Strukturalismus J. Lacans und der über S. Freud hinaus bis in den Marxismus reichende Strukturalismus L. Althussers. 51 GEISENHANSLÜKE, Einführung, 70. Vgl. auch ALBRECHT, Strukturalismus, 233-238. 52 Vgl. DE SAUSSURE, Grundfragen, besonders 76-119, und DERS., Gegenstand. Die Arbitrarität von Signifikant und Signifikat bestreitet B ENVENISTE, Probleme, 61-68. Inwieweit langage tatsächlich ein drittes Element neben langue und parole bildet, ist umstritten, vgl. ALBRECHT, Strukturalismus, 30: Mit langage könnte auch der Bereich bezeichnet werden, auf den langue und parole zu beziehen sind. Eine Trennung von de Saussure und dem Strukturalismus versucht M ESCHONNIC, Politique, zu vollziehen. Dabei
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2. Methodische Überlegungen
Die „eigentliche Begründung des Strukturalismus“ hat R. Jakobson vollzogen.53 Er lehnte aber das Prinzip der Arbitrarität ab und zeigte gegen de Saussure auf, daß sich synchrone und diachrone Analyse nicht ausschließen müssen. 54 Eine strukturalistische Literaturtheorie hat R. Barthes entwickelt. Ihm ging es dabei aber nicht um die Bedeutung von Texten, sondern grundsätzlicher um die „Funktionsregeln, denen ein Text gehorcht.“55 Zwar finden sich bei Barthes auch Anwendungen seines Modells auf Erzählungen, speziell auf Texte wie Gen 32,23-33 und Apg 10f., doch verbleiben diese auf der Ebene einer groben Analyse. 56 Demgegenüber geht es Genette, der wie Barthes den Pariser Strukturalismus auf seiten der Literaturwissenschaft repräsentiert, gerade um die Verbindung von Code und Nachricht, von Form und Bedeutung und nicht nur um die Funktionsregeln eines Textes. Der methodische Entwurf Genettes, der das entwickelte Modell auch in seiner Anwendung demonstriert, eignet sich damit am besten für die Applikation auf einen anderen erzählenden Text.57 Dies gilt insbesondere im Vergleich zu dem Ansatz Lotmans, weil bei Genette die Zeitstruktur der Erzählung stärkere Berücksichtigung findet.
2.3 Theologie als Erzählung 2.3 Theologie als Erzählung
Was tragen die Konzepte G. Lohfinks und G. Genettes für das MkEv und für die Fragestellung nach einer christologischen Theologie aus, also für die Frage nach einer Theologie im engeren Sinne, die entsteht, wenn und indem von Christus erzählt wird? In vielen Arbeiten zum MkEv wird die besondere theologische Leistung des Evangelisten gewürdigt.58 Aufgrund der Quellenlage läßt sich aus heuhält er zwar an der Annahme fest, daß Sprache den Charakter eines Systems hat, kritisiert aber das Zeichensystem des Strukturalismus als nicht ausreichend und führt zusätzlich den Rhythmusbegriff von BENVENISTE, Probleme, 363-374, ein. 53 GEISENHANSLÜKE, Einführung, 73. 54 Vgl. besonders J AKOBSON, Probleme, 63-66. Weil der Entwurf Jakobsons stark theorielastig und, mit GEISENHANSLÜKE, Einführung, 75, bei der eigentlichen Textinterpretation wenig innovativ ist, ist er für meine Analyse ebenfalls weniger geeignet. 55 GEISENHANSLÜKE, Einführung, 82. Vgl. speziell BARTHES, R., Tätigkeit, und grundsätzlich DERS., Einführung. Vgl. auch DERS., Lust, 19f., vgl. 55. 56 Vgl. DERS., Erzählanalyse, und DERS., Kampf. Eine exemplarische Anwendung des Modells von Barthes auf das MkEv leistet SCHENK, Reader. 57 ALTER, Art, hat 1978 seine Wahrnehmung alttestamentlicher Geschichten als Erzählungen beschrieben, vgl. ebd. 178-189. Seine Sichtweise auf das ganze Alte Testament unter Einschluß der Poesie, vgl. DERS., Poetry, entwickelt er 1992, vgl. DERS., World. SKA, Fathers, erarbeitet unter anderem auf der Grundlage von Genettes Entwurf ein „booklet“, vgl. ebd. V, zur allgemeinen Einführung in die narrative Analyse. Er bezieht sich dabei durchgehend auf hebräische Erzählungen. Culpepper hat den Entwurf von Genette auf das JohEv angewendet, vgl. CULPEPPER, Anatomy. Zu seiner Sicht auf die letzten 20 Jahre narratologischer Evangelien-Analyse vgl. DERS., ans. Vgl. dazu auch P ARMENTIER, Dieu. 58 Vgl. etwa SCHWEIZER, Markus, 8.
2.3 Theologie als Erzählung
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tiger Sicht relativ sicher sagen, daß Markus „die literarische ‚Gattung des Evangeliums‘ begründet“ hat.59 In diesem Zusammenhang ist insbesondere der erste Vers seines Evangeliums programmatisch: *+ *$ 6 7 89 Was ist mit dem wichtigen Terminus gemeint? Die Frage nach der Herkunft und der Bedeutung des Terminus führt in eine Diskussion, deren Pole vor allem mit den Namen P. Stuhlmacher und G. Strecker verbunden sind.60 Stuhlmacher hat 1968 „Das paulinische Evangelium“ untersucht und vier Themenstränge unterschieden: Evangelium als christliche doctrina, Evangelium im Sprachgebrauch des Hellenismus, Evangelium in alttestamentlichen und jüdischen Belegen und Evangelium im Rahmen einer „epochal gegliederten urchristlichen Begriffsgeschichte“61 unter Einschluß religionsgeschichtlicher Ströme. Dabei grenzt er sich inhaltlich von G. Friedrich ab, der meinte, daß die Vorgeschichte des neutestamentlichen Terminus nicht in LXX zu suchen sei.62 Allerdings beurteilte Friedrich als einen „term techn für Siegesbotschaft“ und sah seinen wichtigsten Sitz im Leben im Kaiserkult.63 Stuhlmacher stellte sich die Aufgabe, „das Phänomen des paulinischen Evangeliums traditionsgeschichtlich und religionsgeschichtlich zu erhellen.“64 Seiner Ansicht nach liegt die Wurzel für die paulinische Evangelienterminologie in der hellenistisch-judenchristlichen Gemeinde.65 Strecker brachte die Position Friedrichs 1972 bzw. 1975 wieder stärker in die Diskussion.66 Er vermutet, daß der „primäre traditionsgeschichtliche Urgrund des neutestamentlichen [...] im Umkreis der hellenistischen Herrscherverehrung zu suchen sein [dürfte], welche die Sprache auch des Kaiserkultes geprägt hat.“67 Nach der Prüfung aller
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HENGEL, Evangelienüberschriften, 49. SÖDING, Evangelist, 50, bezeichnet das MkEv als „ein literarisches Novum.“ Ähnlich auch B ECKER, Markus-Evangelium, 1. 60 Vgl. zur Forschungsgeschichte auch DORMEYER / FRANKEMÖLLE, Gattung, 16351694, und FRANKEMÖLLE, Begriff, 1-18.64-203. 61 STUHLMACHER, Evangelium, 8. Zur Forschungsgeschichte vgl. besonders 7-55. 62 Vgl. FRIEDRICH, :, 723. Friedrich nahm für seinen Artikel die Vorarbeiten Schniewinds auf und führte sie in seinem Sinne fort, vgl. ebd. 705. Die spätere Diskussion mit Friedrich orientierte sich daher sowohl an Friedrichs Artikel als auch an der vorausgegangenen Monographie seines Lehrers SCHNIEWIND, Euangelion I, und DERS., Euangelion II. 63 FRIEDRICH, :, 719-722. Der Grund dafür sei darin zu sehen, daß der Kaiser mehr als ein gewöhnlicher Mensch zu sein beanspruchte und seine Anordnungen daher als frohe Botschaften zu verstehen waren. 64 STUHLMACHER, Evangelium, 56. Seit dem Erscheinen der Theologie Bultmanns 1953 sah Stuhlmacher nur noch den hellenistischen und den semitischen Erklärungsversuch diskutiert. 65 Ebd. 287. Stuhlmachers Ergebnis weist ein Problem auf: Er sieht die erste faßbare Konzeption von „Evangelium“ in den Gemeinden der Logienquelle Q. Gerade in Q aber ist „ “ kein einziges Mal belegt. 66 Vgl. STRECKER, Überlegungen, und DERS., Evangelium. 67 DERS., Evangelium, 511f. Als Beispiel ist besonders die Inschrift von Priene zu nennen. Im Zuge der Einführung des julianischen Kalenders in Kleinasien 45 v. Chr. wurden hier 3 Dokumente festgehalten: ein Brief mit der Aufforderung, den Kalender
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2. Methodische Überlegungen
neutestamentlichen Belege kommt er zu dem Ergebnis, daß das „neutestamentliche .- [...] nicht in eine lückenlose traditionsgeschichtliche Entwicklung einzuordnen“ ist: „Vielmehr ist für das Substantiv primär ein griechisch-hellenistischer, für das Verb dagegen mindestens auch der alttestamentlich-jüdische Sprachgebrauch von Einfluß gewesen.“68 Stuhlmacher sieht 1983 in der „Missions- und Verkündigungsterminologie des Urchristentums“ – gegen Strecker – weiterhin keinen „bewußten Anschluß an die des Kaiserkults [...].“69 Und für das Substantiv bleibt auch Strecker 1992 noch bei seiner Meinung, daß der Abstand zwischen der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung und dem neutestamentlichen Ausdruck denkbar groß sei, „um so mehr, als das Subst. weder im MT noch in der LXX eine theol. Bedeutung hat.“70 Auch H. Frankemölle sieht 1984, ähnlich wie Strecker, für das Substantiv „Evangelium“ keine lückenlose Traditionsgeschichte, anders als Strecker aber „weder für den biblisch-jüdischen noch für den griechischen Sprachraum.“71 Obwohl er mit Strecker das Verb : im Neuen Testament als christliche Rezeption aus dem Sprachgebrauch Deuterojesajas ansieht, hält er den neutestamentlichen Ausdruck für semantisch analogielos, wenngleich terminologische Elemente auch in außerneutestamentlicher Literatur nachweisbar seien.72 D. Dormeyer arbeitet dann 1993 diejenigen Entwicklungslinien heraus, die für den neutestamentlichen Gebrauch von relevant sind, unter anderem „die Entwicklung von der mündlichen Metapher zum schriftlichen Buch [...].“73 Vom paulinischen und deuteropaulinischen Gebrauch ausgehend, sieht er „die Metapher ‚Evangelium‘ an die exponierteste Stelle gesetzt, die möglich ist, und zwar in die Überschrift des ältesten Evangeliums (Mk 1,1) [...].“ 74 Allerdings sei dort nicht nur von die Rede, sondern von der : „Evangelium ist also metonymische Bezeichnung des Buches, und zwar seines Inhaltes, und theologische Metapher zugleich.“75 In dieser Doppelfunktion sieht er den Grund dafür, weshalb bis heute die Erzählbücher des Viererkanons ‚Evangelium‘ genannt werden.
einzuführen, der Beschluß des Landtags, dieser Aufforderung nachzukommen und der Beschluß des Landtags, Wahltermin und Amtseinführung in öffentliche Ämter so zu koordinieren, daß der Amtsantritt mit dem Geburtstag des Kaisers zusammenfällt. Auch hier ist bezeugt, allerdings in der Pluralform [sic!]. Damit ist fraglich, ob zwischen dem Terminus, der im Neuen Testament ausschließlich in der Singularform begegnet, und der Pluralform, die in der Inschrift von Priene bezeugt ist, eine Verbindung besteht. Vgl. Neuer Wettstein II/1, 7-9. 68 STRECKER, Evangelium, 545. 69 STUHLMACHER, Thema, 25; vgl. DERS., Theologie II, 117-122. Ähnlicher Meinung ist auch HENGEL, Evangelienüberschriften, 24: Die „religionsgeschichtliche Herkunft des Sprachgebrauchs ist durch die Arbeit Stuhlmachers eindeutig geklärt. Eine Ableitung von der Verwendung im Kaiserkult [...] ist völlig irreführend [...].“ 70 STRECKER, , 179; vgl. DERS., Theologie, 355-361. SCHNELLE, Einleitung, 176, schließt sich seiner Meinung gegen Stuhlmacher an. 71 DORMEYER / FRANKEMÖLLE , Gattung, 1688; vgl. FRANKEMÖLLE, Begriff, 251. 72 FRANKEMÖLLE, Begriff, 253. 73 DORMEYER, Testament, 199. 74 Ebd. 201. 75 Ebd. 202. Ähnlich auch B ECKER, Markus-Evangelium, 105-111, vgl. 400.
2.3 Theologie als Erzählung
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Der Terminus ist siebenmal im MkEv belegt,76 viermal im MtEv, nie im LkEv und JohEv, aber zweimal in Apg. Im MkEv steht er zweimal außerhalb von Jesusworten und dann jeweils in Verbindung mit einem Genitiv, einmal (Mk 1,1) als *$ 6 und einmal (Mk 1,14) als .77 Die übrigen fünf Belege (Mk 1,15; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9) sind absolut gebraucht (vgl. 6.1). Die LXX hat – nur im Plural belegt – als Übersetzung des hebräischen / (2Bas 4,10), benutzt aber auch fünfmal das feminine (2Bas 18,20.22.25.27; 4Bas 7,9).78 Belegt ist hier durchgehend der profane Sprachgebrauch, der ausnahmslos Positives mit der Bedeutung „Siegesbotschaft“ oder auch „Botenlohn für eine Siegesbotschaft“ beinhaltet. Im Neuen Testament liegt mit ein Terminus vor, der „die Kunde, die mit Gott zu tun hat“ bzw. „die Kunde, die von Gott kommt“ meint: „Will man den Inhalt des Evangeliums [...] zusammenfassen, so lautet er: Jesus, der Christus.“79 Diese Christusbotschaft erscheint auch – wenngleich selten – in Verbindung mit dem Gerichtsgedanken.80 Geht man davon aus, daß bzw. sein hebräisches oder aramäisches Äquivalent nicht zum Bestand der Verkündigung des irdischen Jesus gehört hat,81 so ist zu vermuten, daß sich der spezifisch neutestamentliche Gebrauch in frühchristlicher Zeit in der vorpaulinischen Überlieferung gebildet hat (vgl. etwa die bekenntnisartigen Traditionseinheiten in 1Thess 1,9b-10 und 1Kor 15,3-5). Durch Paulus hat der Terminus dann eine charakteristische Veränderung erfahren: Findet sich bei ihm die überwiegende Anzahl der -Belege im Neuen Testament,82 so zeigt sich hier die Bedeutungsablösung vom Akt der Gesprochenwerdens. Auch die schriftliche Predigt wird bei Paulus als „Evangelium“ qualifiziert.83 Die theologische Leistung des Markus besteht darin, daß er das gleichnamige Evangelium geschrieben hat.84 Das MkEv ist „die erste uns be76
Der Beleg Mk 16,15 im sekundären Schluß Mk 16,9-20 scheidet aus. Vgl. dazu auch SCHNACKENBURG, Evangelium, 311. 78 Vgl. FRIEDRICH, :, 722f., und STRECKER, , 179. Auffällig ist, daß das Substantiv in der LXX nur sechsmal erscheint, das Verb aber 23mal. 79 FRIEDRICH, :, 728. Kursive im Original gesperrt. 80 Ein Gebrauch von im Zusammenhang des Gerichts, vgl. etwa Offb 14,6f., ist im Neuen Testament die Ausnahme. 81 Mit STRECKER, , 177. 82 Bei Paulus steht 48mal , davon 22mal absolut, vgl. SCHNACKENBURG, Evangelium, 310. 83 Vgl. STUHLMACHER, Evangelium, 107. 84 Vgl. SCHWEIZER, Leistung. Ähnlich auch E NSLIN, Artistry, 386; vgl. FOWLER, Reader, 17-20. 77
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2. Methodische Überlegungen
kannte Schrift, die versuchte, die Jesusüberlieferungen in einer Darstellung zu sichten und zu sammeln. Als solche ist sie [...] ein bemerkenswerter Neueinsatz [...].“85 Diese Aussage gilt zunächst im Hinblick auf vormarkinische Sammlungen, deren Umfang – sofern es die Sammlungen überhaupt gegeben hat – schwer bestimmbar ist.86 Diese Aussage gilt aber auch für die traditionsgeschichtlich ältere Logienquelle Q. War Q schon einen ersten Schritt in die Richtung dessen gegangen, was später als Evangelium bezeichnet wurde,87 so überwiegt hier der Redestoff gegenüber wenigen Erzählungen. Zudem fehlt hier wie bei den vormarkinischen Sammlungen der ganze Komplex der Passions- und Auferstehungserzählungen. Demgegenüber hat Markus auf der Grundlage seiner Überlieferungen sein Evangelium erarbeitet.88 Er schuf aus den Überlieferungen eine Gesamtgeschichte mit einem christologischen und (damit) theologischen Anspruch. Es geht darin um die Tat Gottes in Zeit und Geschichte, und es geht um die Aufforderung seines Sohnes an die Menschen, umzukehren und an das Evangelium zu glauben, das dieser Sohn bringt. Markus stellt die vorgefundenen Einzelüberlieferungen in den großen Zusammenhang vom einmaligen geschichtlichen Auftreten, von Umkehr- und Gottesreichspredigt sowie Leiden, Tod und Auferstehung Jesu. Seine Leistung besteht also darin, Einzelüberlieferungen mit der Passionsgeschichte zu verbinden, vorösterliche Jesusüberlieferung mit nachösterlicher Evangeliumsverkündigung zu verschmelzen und so einen inneren Zusammenhang mit Kreuz
85 Vgl. LÖHR, Wahrheit, 96. Aus historiographischer Sicht sieht dies BECKER, Markus-Evangelium, 51. VORSTER, Markus, 22, betont, daß W. Marxsen Markus als eine in „gewissem Sinne schöpferische Persönlichkeit“ bezeichnet hat. MARXSEN, Evangelist, 12, übernimmt diese Wendung nach eigener Aussage von WREDE, Messiasgeheimnis. Zwar zeigt der Grundton Wredes diese Tendenz, vgl. ebd. 13.71.84.129-146.283, doch findet sich die Wendung selbst bei ihm nicht. JÜLICHER, Wrede, 509, weist auf die Aufnahme des „in gewissem Sinne schöpferische Persönlichkeit“ durch Wrede von V OLKMAR, Evangelien, hin. Volkmar spricht zwar mehrfach von mk Neuansätzen, doch erscheint die Wendung selbst auch bei ihm nicht. Sie kann dann bei Jülicher nicht im Sinne einer wörtlichen Übernahme gemeint sein. 86 Vgl. dazu KUHN, Sammlungen. Kuhn hat in bezug auf die Sammlungen, die Markus vorlagen, statt der zunächst vermuteten neun Sammlungen (Mk 1,16-39; 2,1-3,6; 4,1-34; 4,35-5,43; 9,33-50; 10,1-31; 11,15-12,40; 13,3-37 und die Passionsgeschichte, vgl. ebd. 16-45) nur vier erhärten können (Mk 2,1-3,6; 4,1-34; 4,35-6,52; 10,1-45, vgl. ebd. 214226). 87 SCHNELLE, Einleitung, 233, spricht im Anschluß an J ÜLICHER / FASCHER, Einleitung, 347, von einem „Halbevangelium“. 88 Vgl. KELBER, Gospel, 91: „an extraordinary undertaking“. Vgl. auch F OWLER, Reader, 51: „a watershed in the shift from orality to literacy in the Christian tradition“.
2.3 Theologie als Erzählung
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und Auferstehung herzustellen.89 Er schuf damit das Genus „,Evangelium‘, das in der Folgezeit Schule machte.“90 Im Blick auf die Entwicklung des MtEv, des LkEv und des JohEv stellt sich die Frage, was die Beweggründe für die Evangelisten waren, ihre eigenen Werke zu verfassen und zu veröffentlichen. T.K. Heckel versucht deutlich zu machen, daß die späteren Autoren Matthäus und Lukas auf die Ersetzung des MkEv zielten. Für Heckel spricht der Umgang der mt Redaktion mit der mk Vorlage dafür, „daß das Mt das Mk-Ev ablösen wollte.“91 In bezug auf Lk 1,1-4 sieht Heckel „ein eigenständiges Werk“ angestrebt, das „spätestens mit der Fertigstellung der Apg für sich stehen sollte.“92 Etwas anders sieht nach Heckel die Situation für das JohEv aus, gerade durch die herausgehobene Stellung von Joh 21,25 (;< 0 / *$ , 1 * , * 1 55). Der Autor lasse hier erkennen, daß er um die Existenz anderer Schriften neben seiner weiß und daß er die Kenntnis dieser anderen Schriften beim Leser bzw. Hörer des Textes für nicht unmöglich hält: „So ermöglicht Joh 21,25, mehrere Bücher über Jesus nebeneinander stehen zu lassen, ohne diese Bücher auf eines hin zu redigieren.“93
Das MtEv und das LkEv lassen einen konzeptionellen Anschluß an das des Markus erkennen,94 weil sie wie er eine biographisch geordnete Erzählung von Jesus, dem Christus, verfaßt haben (vgl. 5.2). Ist dieser Terminus polysem (vgl. 2.2.2.2), kann er sowohl das Erzählen selbst als auch das literarische Genus der Erzählung, aber auch den Inhalt des Erzählten bezeichnen.95 Die Belege in Mk 1,1 ( *$ 6 ) und Mk 1,14 ( ) werfen im Unterschied zu Mk 1,15 ( ) zudem die Frage auf, ob die vorfindlichen Wortverbindungen als genitivus subjectivus oder als genitivus objectivus zu verstehen sind und ob diese Alternative überhaupt den Ausdrücken gerecht zu werden vermag (vgl. 5.3). Im Zuge der Entwicklung des historisch-kritischen Methodeninventars ist die Rolle des „Redaktors“ lange Zeit negativ beurteilt worden: „Man 89
Mit SCHOLTISSEK, Galiläa, 59f. Ähnlich auch schon SCHNACKENBURG, Evangelium, 323. In besonderer Weise geschieht diese Verschmelzung durch das auf das Schicksal Jesu vorausweisende in Mk 8,31; 9,11; 13,7.10.14 (vgl. 6.8). 90 SCHNACKENBURG, Evangelium, 323. 91 HECKEL, Evangelium, 76; zur Fragestellung vgl. ebd. 62f. Zu fragen wäre dann aber, warum Matthäus dann fast das gesamte MkEv in sein Evangelium integrierte. 92 Ebd. 103; zur Fragestellung hier vgl. ebd. 81. 93 Ebd. 192. 94 Die literarische Kenntnis zumindest des MkEv durch das JohEv ist umstritten. 95 Markus ist, vgl. HENGEL, Evangelienüberschriften, 51, derjenige, „der als erster eine Schrift ‚ ‘ nannte.“ Von seinem Werk aus wurde der Titel auf das MtEv, das LkEv und das JohEv übertragen. Notwendig wurde eine Betitelung der Schriften dort, wo zwischen verschiedenen Werken und Autoren unterschieden werden mußte, etwa für Editionen, Bibliotheken oder im gottesdienstlichen Gebrauch.
2. Methodische Überlegungen
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bezeichnet ihn gern als ‚Sammler‘, ist aber kaum geneigt, ihm – außer in Kleinigkeiten – einen besonderen Anteil an der Komposition seines Werkes zuzugestehen.“96 Bei G. Bornkamm fällt erstmals ein positiveres Licht auf die Rolle des sogenannten Redaktors des MtEv,97 und W. Marxsen versucht, „die individuelle theologische Leistung des Markus angemessener zu würdigen [...].“98 Der „Redaktor“ erscheint dann selbst als „Erzähler und Theologe eigenen Rechts und eigener Kompetenz.“99 Sein Werk ist eine „einheitliche Schrift eines souveränen Autors [...].“100 Dieser Autor macht aus einzelnen Texten und Textteilen ein großes Ganzes.101 Er erzählt von Christus, entwirft eine Christologie und also eine Theologie und gibt so den Jesusüberlieferungen in ihrer konkreten Zusammenstellung eine eigene Gesamtaussage. Gerade die Breite und Vielschichtigkeit der JesusTraditionen verschafft ihm dabei die Möglichkeit, sein Evangelium zu schreiben.102 So ist es erst durch das jeweilige Gesamtwerk möglich, die Theologie der Evangelisten zu ermitteln und damit das spezielle Profil des jeweiligen Evangeliums herauszuarbeiten.103 Die Evangelien sind als Erzählungen von Christus narrative Christologien im weiteren Sinne. Indem die Evangelisten von Jesus erzählen, seiner Verkündigung, seinem Auftreten und Handeln, machen sie christologische Aussagen und so zugleich implizite oder explizite theologische Aussagen. Weil die Evangelien narrative Christologien sind, sind sie zugleich
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Vgl. MARXSEN, Evangelist, 7. Eine Auseinandersetzung speziell mit Bultmanns negativer Einschätzung der Redaktoren findet sich bei L INDEMANN, Erwägungen. 97 B ORNKAMM, Sturmstillung. 98 GÜTTGEMANNS, Fragen, 77f. Ähnlich K LUMBIES, Mythos, 7. VORSTER, Markus, 1629, betont dabei den Gegensatz von Güttgemanns gegen Bultmann, Dibelius und SCHMIDT, Rahmen. 99 SÖDING, Evangelist, 24. Vgl. auch NOBLE, Approaches, 143: „On the synchronic view they [sc. the biblical writers, C.R.] where highly skilled literary artists [...]; on the diachronic view they where basically compilers [...].“ 100 DORMEYER, Markusevangelium, 42. Die individuelle Leistung betont schon ENSLIN, Artistry, 389: The author of Mark „shows a perfect freedom with the material he uses and rewrites and interprets as seems to him wise.“ Vgl. auch DSCHULNIGG, Sprache, 293, und REDDISH, Introduction, 26. Ähnlich ZUNTZ, Heide, 221: Markus ist nicht „Kompilator alter Dokumente“, sondern „überlegen-verstehender Schöpfer [...].“ 101 Vgl. MARSHALL, Faith, 227: „Mark’s gospel is more than a string of isolated units; it is one unified narrative [...].“ 102 SÖDING, Evangelist, 39. 103 Vgl. REDDISH, Introduction, 26: „We must listen to each story for its own presentation of Jesus of Nazareth.“ Eine Theologie der Logienquelle Q zu schreiben, ist demgegenüber ungleich problematischer.
2.3 Theologie als Erzählung
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in bestimmter Weise narrative Theologien:104 In ihrer Erzählung, in ihrem récit, ist als Geschichte, als histoire, ihr Verständnis Christi und darin zugleich ihr Verständnis Gottes enthalten. Mit der je eigenen narrativen Christologie des jeweiligen Evangelisten ist also seine je eigene narrative Theologie mitgesetzt, sofern die Jesus-Christus-Geschichte mit der GottesGeschichte untrennbar verbunden ist. Der Ausdruck „narrative Theologie“ wirkt in diesem Kontext paradox, verbindet er doch Theologie und Narrativität, also Lehre bzw. Argumentation und Erzählung. Tatsächlich fällt aber bei näherem Hinsehen diese Unterscheidung nicht ins Gewicht.105 Erzählende Texte, sei es in den Evangelien, sei es in narrativen Teilen der Briefliteratur, tun vielmehr das eine durch das andere: Sie argumentieren, indem sie erzählen. Sie vermitteln ihre Aussage, ihren „Skopos“,106 auf dem Wege des Erzählens, mit G. Genette: Sie vermitteln ihre histoire innerhalb des récit durch die narration. Logos und Erzählung sind also kein Widerspruch, sondern gehen miteinander Hand in Hand.107 Die Erzählung (der récit) sorgt dafür, daß der Logos (die histoire) überhaupt erst durch das Erzählen (die narration) zu einem breiten Erfolg gelangt. Umgekehrt hätte natürlich – und darauf weist auch schon Genette hin – eine Erzählung (ein récit) wie das Erzählen (die narration) keinen Wert, wenn sie keine Geschichte (histoire) in sich hätte.108 Dieser Tatsache und den Definitionen in Abschnitt 1.2 Rechnung tragend, müßte man dann im engeren Sinne von einer „narrativen Theologie“ sprechen, von einer „Theologie als Erzählung“.109 Markus als den – im historischen Sinne – ersten Evangelisten kann man von da aus mit Recht „einen erzählenden Autor nennen.“110
104
Ähnlich HÜBNER, Theologie III, 64, der davon ausgeht, daß man für die (synoptischen) Evangelien „den in anderem Zusammenhang geprägten Begriff narrative Theologie in Anspruch nehmen“ kann. 105 Vgl. METZ, Apologie, 20. 106 LOHFINK, Erzählung, 23, hat sich im Gefolge von B ALDERMANN, Didaktik, 46-59, gegen die seit J ÜLICHER, Gleichnisreden, entwickelte Skopos-Methode ausgesprochen. Der Sache nach halte ich sein Anliegen für berechtigt; den Terminus „Skopos“ benutze ich hier der Griffigkeit wegen. 107 Auch METZ, Apologie, 337, betont die „narrative Tiefenstruktur der Theo-logie“ (vgl. 2.1.2). 108 Vgl. WEDER, Verstehen, 97: „Wenn man unter Theologie die vernünftige Bearbeitung dessen versteht, was der Glaube zu denken gibt, so ist es theologisch von grosser Bedeutung, die Eigenarten der Sprache des Glaubens genau zu erforschen.“ Kursivierung durch mich. 109 HÜBNER, Theologie III, 156, gebraucht diesen Ausdruck in einem anderen Sinne. 110 VORSTER, Markus, 36.
2. Methodische Überlegungen
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2.4 Die synchrone Ebene der Textanalyse 2.4 Die synchrone Ebene der Textanalyse
In dem Maße, in dem die theologische Leistung des Evangelisten anerkannt und er als kreativer Autor mit einer eigenen theologischen Konzeption gesehen wurde, erfuhr auch das von ihm geschaffene Werk eine Neubewertung: Das Evangelium war jetzt nicht mehr nur ein Steinbruch, aus dem die kleinsten Einheiten herauszuarbeiten waren, sondern wurde als ein Werk interpretiert, das gerade aufgrund seiner Gesamtkomposition zu eigenständigen Aussagen kommt (vgl. 2.3).111 Die Antwort auf die in 1.7 aufgeworfene Fragestellung liegt dann auf der Ebene des Endtextes. Die Ausdrücke „synchron“ und „diachron“ sind zu Schlagwörtern in der Exegese geworden.112 Eine exegetisch-methodische Grundannahme muß sein, „daß ein Evangelientext in sich suffizient ist, d.h. dem Rezipienten alles für das Verständnis seiner Intention Notwendige bereithält und deshalb prinzipiell keines Vergleichs mit anderen Texten bedarf.“113 Es gilt also „das Axiom vom Primat der Synchronie vor der Diachronie [...].“114 Nach den zum Teil atomisierenden Analysen aus der Zeit der Literar- und Formkritik ist der Text so als ganzer wieder stark aufgewertet. Zum einen darf aber weder die synchrone gegenüber der diachronen Textanalyse noch die diachrone gegenüber der synchronen Textanalyse methodisch verabsolutiert werden.115 Zum anderen darf „synchrone Textanalyse“ nicht als „a-chrone Textanalyse“ mißverstanden werden, die sich mehr oder weniger bewußt über alle am Text nachweisbaren Entstehungssignale hinwegsetzt.116 Versteht man die Zerlegung eines Textes in Schichten als Teil einer diachronen Analyse und interpretiert man diese (re-)konstruierten Schichten 111
Das war keine einheitliche Entwicklung, vgl. T ELFORD, Challenge, 493: „Nowhere has the conflict between holistic and atomistic perspectives been more apparent than in the exercise and development of redaction criticism itself.“ Vgl. auch DERS., Theology, 18-23, und DERS., Mark, 37-85. Einen Forschungsüberblick gibt BREYTENBACH, Nachfolge, 16-74, und DERS., Markusevangelium, 77-91. 112 Vgl. aus theologischer Perspektive RICHTER, Exegese, besonders 35-37, und BREYTENBACH, Anfragen, 87, aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ZWIRNER, Herkunft, GLINZ, Synchronie, 79f., und BAUMGÄRTNER, Synchronie. 113 T HEOBALD, Primat, 163. 114 Ebd. 164. So auch MÜLLER, Wer ist dieser?, 10-12. Bereits R ICHTER, Exegese, 36, hatte deutlich gemacht: „Die einzuhaltende Reihenfolge ‚synchron – diachron‘ bedeutet keine Abwertung des zweiten Schrittes [...].“ Ähnlich auch GLINZ, Synchronie, 83.
115 BREYTENBACH, Nachfolge, 73.130-132. Vgl. auch KLUMBIES, Mythos, 2-3.7-27, und LINDEMANN, Literaturbericht, 243. Anzumerken bleibt, daß die biblischen Texte historisch die längste Zeit unkritisch gelesen und also vom Endtext her verstanden wurden. 116 Vgl. BREYTENBACH, Anfragen, 83-86, und besonders 104.
2.5 Zusammenfassung
43
je für sich synchron, so läßt sich dieser Vorgang des Zerlegens und Interpretierens der einzelnen Teile als synchrone Diachronie beschreiben. Der Schwerpunkt der Aussage liegt dabei auf dem Hauptwort „Diachronie“, das durch das Adjektiv „synchron“ näher beschrieben wird. Im nächsten Schritt werden die Einzelteile des Textes, die (re-)konstruierten Schichten, im Rahmen einer synchronen Analyse wieder zusammengesetzt und auf der Ebene des Endtextes interpretiert. Dieses Zusammentragen der Ergebnisse der vorausgegangenen diachronen Analyse für eine synchrone Analyse und die Interpretation des Ganzen läßt sich dann als diachrone Synchronie bezeichnen. Auch bei dieser Aussage liegt das Schwergewicht auf dem Hauptwort, hier auf „Synchronie“, und diese Synchronie wird durch das Adjektiv „diachron“ näher bestimmt.117 Um diese Analyse im Sinne der diachronen Synchronie soll es hier gehen. Dabei ist eine Untersuchung für das ganze MkEv nicht zu leisten. Von der Fragestellung der Arbeit her ist dies zunächst auch nicht notwendig. Statt dessen ist die Überprüfung einzelner Erzählungen angestrebt, die für die Rezeption der Gesamterzählung von besonderer Bedeutung sind, vgl. Kap. 3.
2.5 Zusammenfassung 2.5 Zusammenfassung
Die Impulsartikel von H. Weinrich und J.B. Metz haben eine sichtbare Wirkung auf die Theologie entfaltet. Die Auswirkungen sind allerdings in unterschiedlichste Richtungen gegangen, so daß die Diskussion um eine „Narrative Theologie“ noch nicht abgeschlossen ist. Angesichts dieses noch offenen Terminus ist seine neue Füllung erlaubt, aus neutestamentlicher Sicht sogar angemessen. Die Hinweise von G. Lohfink – Theologie im Akt des Erzählens und der Erzählung selbst, bleibende Gültigkeit des Erzählten, Engagement des Hörers – geben dabei die entscheidende Richtung vor. Die literaturwissenschaftliche Perspektive von G. Genette unterscheidet innerhalb der „Erzählung“ narration, récit und histoire und zeigt, in welcher Weise auf dem Wege der narration die histoire durch den récit vermittelbar wird.
117 Es ist dabei leicht denkbar, daß der Text als ganzer eine Aussage produziert, die über die Ergebnisse der Einzelschichtenanalyse, der synchronen Diachronie, hinausgeht. Dabei gilt grundsätzlich, was GENETTE, Erzählung, 140, sagt: „Die Erzählung sagt immer weniger, als sie weiß, aber sie läßt einen oft mehr wissen, als sie sagt.“
2. Methodische Überlegungen
44
Aus der Sicht des Neuen Testaments erscheinen dann die Evangelien vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte als eine Form von narrativer Theologie, genauer: Die Evangelien sind selbst Theologie als Erzählung. Sie sind zu verstehen als Rede von Gott, die nicht (nur) argumentativ, sondern auch und vor allem auf dem Wege der Erzählung und des Erzählens gewonnen wird und entsprechend zu interpretieren ist. Für die Exegese ist damit die vor allem synchrone Analyse des Endtextes angemessen. Theologie in der Erzählung und Theologie im Erzählen – diesen beiden Aspekten wird im Sinne der im ersten Abschnitt aufgeworfenen Fragestellung exegetisch Rechnung zu tragen sein.118
118
Zu diesen beiden Aspekten vgl. auch MÜLLER, Wer ist dieser?, 154.171-175.
Kapitel 3
Aspekte der Rezeptionsästhetik Neben narratologischen Überlegungen spielt in der Exegese des Alten wie des Neuen Testaments die rezeptionsästhetische Fragestellung eine immer größere Rolle. Sie beansprucht deswegen besondere Beachtung, weil sie das historisch-kritische Methodeninventar unterstützt und bereichert. Zwei neuere Ansätze sollen kurz vorgestellt (3.1) und untersucht werden (3.2). Sodann ist das Verhältnis von Mikrotext und Makrotext zu beleuchten (3.3) und für die Fragestellung der Arbeit auszuwerten. Danach (3.4) kann für die Arbeit eine begründete Auswahl exemplarischer Texte getroffen werden, die als Basis für die exegetische Analyse dient. Eine Zusammenfassung (3.5) steht am Ende des Abschnitts.
3.1 Zwei neuere Ansätze auf dem Prüfstand 3.1 Zwei neuere Ansätze auf dem Prüfstand
Beeinflußt durch die Hermeneutik H.-G. Gadamers, der die aktive Rolle des Lesers im Prozeß des Verstehens hervorgehoben hat,1 sind seit den späten 1960er Jahren im Bereich der Literaturwissenschaft rezeptionsorientierte Fragestellungen entwickelt worden, die seit den 1980er Jahren auch in die Exegese eingeführt wurden.2 Mit den neuen Fragestellungen geriet zunehmend der Vorgang des Erschließens und des Zuwachses von Bedeutung im Zuge der Rezeption in das Zentrum des Interesses. M. Mayordomo-Marín und D. Dieckmann haben diese rezeptionsästhetischen Fragestellungen an der Exegese exemplarisch vorgeführt. Ihre Ansätze sollen kurz vorgestellt werden, weil hier einerseits zentrale Fragen der Rezeptionsästhetik diskutiert werden und andererseits die Applikation der rezeptionsästhetischen Methoden auf alt- und neutestamentliche Texten transparent vorgeführt wird. 1
Vgl. besonders GADAMER, Ästhetik, DERS., Dichten, und DERS., Wahrheit. Vgl. etwa MÜLLER, Verstehst, 128-134. Die Pionierarbeiten vorher beschreibt FOWLER , Reader, 9-24, der dafür auch auf seine eigenen Anfänge verweist, vgl. ebd. 10; vgl. auch DERS., Loaves, besonders 149-179, DERS., Gospel, DERS., Criticism, und DERS., Rhetoric, sowie LATEGAN, Grips. 2
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
46
3.1.1 Der Entwurf von M. Mayordomo-Marín (1998) Mayordomo-Marín fragt grundlegend, wie sich die Interaktion zwischen Text und Rezipient gestaltet.3 Dabei hält er „gerade die Frage nach dem Leser nicht für den archimedischen Punkt, um die historisch-kritische Methode aus den Angeln zu heben, sondern für eine Bereicherung und mögliche Kurskorrektur derselben.“4 Weil es seiner Ansicht nach kaum möglich sei, von einer homogenen theoretischen Konzeption auszugehen, setzt er folgende Grundprämissen: „a) Texte sind als polyvalente Gebilde grundsätzlich auf die Lektüre ausgerichtet. Sie sind daher keine autonomen Gegenstände, die unabhängig vom Akt des Lesens mit Sinn behaftet sind. b) Der Sinn eines Textes konstituiert sich erst durch die aktive Teilnahme des Rezipienten am Leseprozeß. Die Interpretation hat sich daher vornehmlich mit der Interaktion zwischen Text und Leser zu beschäftigen. c) Da Lesen, phänomenologisch betrachtet, ein zeitliches Ereignis ist, haben Ausleger/innen die zeitlich sequentielle Anordnung des Textes zu beachten, ohne den Text mittels Konkordanzen, Tabellen, Gliederung usw. in räumliche Kategorien aufzulösen [...]. d) Sinnvolles Lesen setzt die konventionelle Beherrschung bestimmter Kompetenzen voraus. Dabei ist vor allem an sprachliche, aber auch an soziale und intertextuelle Kenntnisse zu denken. e) Sinnkonstruktion zielt auf irgendeine Art der Kohärenzbildung [...].“5 Seine Zusammenfassung des operativen Modells der rezeptionskritischen Evangelienexegese setzt er in eine Grafik um.6 Darin zeichnet er einen situativen Rahmen, in dem sich ein „‚impliziter Autor‘, Erzähler“, der „Text“, ein „‚impliziter Leser‘“ und „empirische Leser/innen“ befinden. Außerhalb dieses situativen Rahmens kommt noch ein „historischer Autor“ hinzu. Diese Grafik ermöglicht einen guten Vergleich mit dem Modell Dieckmanns für dessen alttestamentlichen Entwurf (vgl. 3.1.2). Textrezeption ist ein interaktives Geschehen. Zwar wird der Ausdruck „interaktiv“ in Zeiten elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten immer mehr beansprucht, doch ist er hier im Sinn des Wortes – „inter agere“ heißt „wechselseitig“ oder „aufeinander bezogen“ – angemessen: Text und Rezipient werden in einen Bezug gesetzt, der bei der Anwendung des historisch-kritischen Methodeninventars (fast) keine Berücksichtigung findet. Die Leserorientierung ist als Bereicherung des historisch-kritischen Methodeninventars gedacht und zielt nicht auf dessen Ersetzung. 3
MAYORDOMO-MARÍN, Anfang, 18. Ebd. 17. 5 Ebd. 24. 6 Vgl. ebd. 187. 4
3.1 Zwei neuere Ansätze auf dem Prüfstand
47
Bleibt der Text im Interessenfeld der Exegese, so gerät der Rezeptionsvorgang selbst zunehmend in dieses Feld. Texte zeigen sich in dieser Perspektive als polyvalent, besitzen also, abhängig vom jeweiligen Rezipienten, mehr als nur einen einzigen Sinn. Die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Exegese ergibt sich damit in jeder Zeit unter den jeweiligen Umständen immer wieder. Dabei sind Texte nicht autonom, sondern der Sinn von Texten (die histoire) hängt vom Rezeptionsvorgang ab, weil Texte nur auf dem Wege von récit und narration überhaupt ihren Sinn entfalten können.7 Diese Entfaltung des Textsinnes geschieht durch die interaktive Teilnahme des Rezipienten am Leseprozeß, so daß die Interaktion zwischen Text und Leser zu interpretieren ist. Daneben bringt Mayordomo-Marín die Tatsache in Anschlag, daß durch die notwendig sequentielle Anordnung des Textes auch gleichzeitig ablaufende Sachverhalte in eine Reihenfolge gebracht werden (müssen) – und zwar sowohl beim Autor als auch beim Leser. Die geforderte Leistung des Rezipienten liegt dann darin, das Nacheinander des récit wieder in eine Gleichzeitigkeit der histoire zu bringen. Dabei werden auch soziale und intertextuelle Kompetenzen des Lesers erwartet. Ein Text ist also niemals voraussetzungslos. Grundlegend ist bei Mayordomo-Marín die Unterscheidung von implizitem und empirischem Autor. Hinter der Bezeichnung „Autor eines Textes“ steht hermeneutisch ein zweischichtiges Konzept: Zum einen ist es der empirische, der historische Autor, etwa der Evangelist Markus, der in einer bestimmten Zeit seinen Text geschrieben hat; zum anderen aber ist es diejenige Instanz, die dieser historische Autor von sich zeigt, die in seinen Text eingeht und die also zwischen dem historischen Autor und dem Erzähler des Textes vermittelt. Dieser „implizite Autor“ ist der in den Text codierte und dessen Strategie zu erkennen gebende Autor. Verglichen mit der Malerei wird man in diesem impliziten Autor so etwas wie ein Selbstbildnis des Künstlers zu sehen haben.8 Dann zeigt sich auch, daß hinter der Bezeichnung „Leser“ ebenfalls ein zweischichtiges Konzept steht. Zu unterscheiden sind ein impliziter Leser und ein empirischer Leser: Der empirische, der historische Leser ist derjenige, der – etwa in einer Gemeindesituation – den Text gelesen oder gehört hat bzw. der heute den Text liest oder hört. Der implizite Leser ist demgegenüber derjenige, auf den hin sich die Erzählung des impliziten Autors richtet. 7 8
Vgl. oben 2.2.2.2 und GENETTE, Erzählung, besonders 15-20. Vgl. B AR-EFRAT, Bibel, 23.
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
48
Das Verhältnis von implizitem Autor und implizitem Leser ist ideal, weil die Kommunikation ungestört und frei von Mißverständnissen oder Unterbrechungen abläuft. Umgekehrt ist das Verhältnis von empirischem Autor und empirischem Leser genau diesen Störungen in der Kommunikation unterworfen, die bei der jeweiligen historischen Rezeptionssituation immer mitbedacht werden müssen. Etwas vereinfacht und in eine Linie gebracht würde das grafisch etwa so aussehen: empirischer Autor ඎ [impliziter Autor ඎ Text ඎ impliziter Leser ඎ empirischer Leser] Dabei bezeichnen die [ ] den situativen Rahmen.
3.1.2 Der Entwurf von D. Dieckmann (2003) Dieckmann geht vom literarischen Modell der Wiederholung aus, die er in Gen 12.20.26 sieht. In seinem Modell, das er auch grafisch umsetzt,9 unterscheidet er zunächst einen empirischen Autor, der für die Produktion des Textes zuständig ist, und einen impliziten Autor. Dem stehen ein impliziter Leser und ein empirischer Leser, der den Text rezipiert, gegenüber. Zwischen ihnen befindet sich ein Erzähler, der sowohl Erzählerrede als auch Figurenrede sowie Erzählfiguren vertritt. Nach diesem a) Modell weist Dieckmann auf den b) hermeneutischen Unterschied zwischen der mündlichen Kommunikationssituation und dem Akt des Lesens hin. Hören und Lesen unterscheidet, daß c) die Rezeption eines schriftlichen Textes neben der primären diachronen Lektüre auch einen synchronen Umgang mit dem Text erlaubt. Weil Lesen ein Prozeß von Sinnproduktion ist, bedeutet d) Lesen aktive Mitarbeit. Im übrigen gilt e) für das Lesen: „Materialität ermöglicht die Fortdauer des Textes über die Produktionssituation hinaus und eröffnet [...] die Freiheit, den Text synchron oder diachron zu lesen.“10 Sodann ist f) zu unterscheiden zwischen einsamem und gemeinsamem Lesen, und zu problematisieren ist g) die Frage der Eindeutigkeit und der Bedeutungsvielfalt in der Auslegungsgemeinschaft. Hierbei ist auch h) nach realen bzw. postulierten Lesern einer Auslegungsgemeinschaft zu fragen. Für die Leser ist darüber hinaus i) die Lesekompetenz zu klären, und zwar in sprachlicher, literarischer und intertextueller Hinsicht sowie im Blick auf ihr Weltwissen. Weiterhin wichtig ist j) die Kohärenz (Einheitlichkeit des Textes) und die Dialogizität (innere Vielfalt an Denk9
DIECKMANN, Segen, 110. Ebd. 116.
10
3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung
49
und Sprechweisen), k) Nähe und Distanz zum Text und l) die Erzählwelt, aus der ein Erzähler auswählt. Schließlich ist noch m) die existentielle Bedeutung des Lesens zu berücksichtigen: „Die Lektüre der Bibel ist deshalb so lebendig, weil Lesende in die Innenwelt eintreten und sich in neue Seinsweisen hineinnehmen lassen können.“11 Auch Dieckmann unterscheidet in seinem Modell zwischen einem empirischen und einem impliziten Autor bzw. Leser, so daß er zwischen der Textproduktions- und der Textrezeptionssituation differenzieren kann. Zudem macht er auf die Differenz von Hören und Lesen aufmerksam, die damals wie heute zu berücksichtigen ist. Dieckmann macht wie Mayordomo-Marín das Moment der Interaktion zwischen Text und Rezipient stark und sieht den Vorgang des Lesens als aktive Mitarbeit des Rezipienten. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß durch die Materialität des Textes, durch die Schriftform, eine gewisse Sicherung des Textes gewährleistet wird. Dem geschriebenen Text wird somit ein Fortbestand zuteil, der mündlich vorgetragenen, evtl. auch frei rezitierten Texten fehlt oder leicht zu nehmen ist, etwa indem der Rezitator am Vortrag gehindert wird. Auch hier soll versucht werden, das Modell grafisch etwas vereinfacht und – soweit möglich – linear abzubilden: [emp. Autor ඔ ඓ Erzählerrrede Erzähler ඎ Figurenrede ඎ impl. Leser] ඎ emp. Leser [impl. Autor ඓ ඔ Erzählfiguren Dabei bezeichnen die [ ] den Rezeptionsrahmen.
3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung 3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung
Dem Rezipienten muß bei der Rezeption eines Textes eine erheblich größere Rolle zugestanden werden, als dies bisher getan wurde. Sind zuvor nur ausnahmsweise – und nicht methodisch stringent – Leser- bzw. Hörerperspektiven mit in Betracht gezogen worden,12 so sind diese jetzt zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Wesentliche Impulse der beiden Arbeiten sind festzuhalten. Wichtig ist mit Mayordomo-Marín vor allem, daß die rezeptionsästhetische Analyse kein Ersatz für das historisch-kritische Methodeninventar sein soll, sondern daß sie als Bereicherung gedacht ist. Die methodische Berechtigung 11 12
Ebd. 129. Vgl. MAYORDOMO-MARÍN, Anfang, 132, besonders Anm. 1.
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
50
der historisch-kritischen Arbeit wird damit anerkannt, ohne sie zu verabsolutieren.13 Sodann ist deutlich, daß der Sinn eines Textes erst bei der Rezeption entsteht, also aktive Mitarbeit erfordert. Da bei dem Rezipienten bestimmte notwendige Kompetenzen vorausgesetzt werden, ist Rezeption kein voraussetzungsloser Vorgang. Dies gilt in gleicher Weise für das Lesen und das Hören von Texten. Im Ansatz von Mayordomo-Marín bleibt diese Unterscheidung von Lesen und Hören insgesamt unterbestimmt.14 Sie ist aber bedeutend für die Situation in der antiken Gemeinde, in der Texte wie schon in der Synagoge vor allem vorgetragen wurden (vgl. 1Thess 5,27; Eph 3,4; Kol 4,16).15 Eine Vor-Lesung ist in diesem Sinne eine Rezeptionsform, auf die der Rezipient weniger Einfluß nehmen kann als auf die Textlektüre, weil vor allem die Geschwindigkeit des Vortrags, die Artikulationsfähigkeiten des Vorlesers und die äußeren Gegebenheiten, also die Räumlichkeiten, die Anzahl der Anwesenden etc. entscheidend sind. Ein vorgelesener Text kann sich damit erheblich schneller verflüchtigen als ein selbstgelesener.16 Umgekehrt kann allerdings auch ein vorgelesener Text eine größere Wirkung entfalten als ein selbstgelesener, nämlich dann, wenn der Text rhetorisch gekonnt vorgetragen wird.17 Lesen und Hören haben somit als zwei ganz eigene Rezeptionsmodi zu gelten, die nicht vermischt werden dürfen, weil sie je eigenen Gesetzen unterliegen.18 13
Ähnlich TELFORD, Mark, 34. Der Titel des Buches ist entsprechend gut gemeint, zielt aber in eine andere Richtung. Das Buch heißt „Den Anfang hören“, nach der inhaltlichen Ausrichtung wäre „Den Anfang lesen“ zum Teil treffender. Vgl. SMITH, Beginnings, 5: „The first ‚readers‘ were, in fact, ‚listeners,‘ [sic!] for ancient works were normally read aloud to public […].“ Vgl. auch B ORING, Mark, 1: Das MkEv „is a written text composed to be read aloud [...].“ 15 Vgl. MÜLLER, Verstehst, 41-48. Vgl. auch H OOKER, Beginnings, 2: „[T]hese books were written to be heard, not read.“ B REYTENBACH, Anfragen, 82, betont das für das MkEv als ganzes, KELBER, Gospel, 67, wie MARSHALL, Faith, 81, speziell für Mk 2,1-12 (vgl. 6.7). 16 Ähnlich auch HOOKER, Beginnings, 2: „[W]hen we listen, we have to listen intently or we shall miss something or forget it; when we read, we can always go back and reread an obscure passage.“ 17 DIECKMANN, Segen, 114, weist insbesondere darauf hin, daß die Unterscheidung synchron – diachron beim Lesen eher möglich wird als beim Hören; vgl. ebd. 116. Ähnlich auch HOOKER, Beginnings, 3: The first readers could not analyse the Gospels „in the way that modern scholars love to analyse them, dividing them into sections and subsections.“ 18 Zu überlegen wäre des weiteren, inwiefern sich der Unterschied zwischen lautem und leisem Lesen auf die eigene Textrezeption auswirkt. Im Bereich der Thora- und Koranschulen etwa ist halblautes Lesen – zum besseren Einprägen des Gelesenen verbunden mit Bewegungen – auch dann üblich, wenn es nur um die Eigenlektüre geht. In anderen 14
3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung
51
Stellen wie 1Thess 5,27, Eph 3,4 und Kol 4,16, vgl. oben, lassen erkennen, daß Texte etwa im Rahmen von Gemeindeversammlungen vorgetragen wurden, vgl. Offb 1,3, wo neben den Hörern ( ) sogar der Vorleser ( ) genannt wird. Sachgemäß ist also die Wiedergabe von mit „vorlesen“ oder „verlesen“.19 Der jeweilige Schreiber des Briefes konnte somit davon ausgehen, daß seine Schrift einem oder mehreren Rezipienten vorgetragen wurde. Er konnte seinen Text also auf die Rezipienten abstimmen und sie direkt adressieren, weil er um die Rezeptionssituation wußte. Daß in erzählenden Texten der Rezipient unmittelbar aus dem Text heraus adressiert wird, ist die Ausnahme.20 Mit Mk 13,14 (
) liegt im MkEv die „einzige bewußte Hinwendung des Erzählers an den Leser“ vor.21 Die übliche Übersetzung lautet: „Wer das liest, merke auf!“ Wird zwischen dem Lesen und dem Vorlesen unterschieden, ist es angemessener, zu übersetzen: „Wer dies vorgelesen bekommt, merke auf!“ Diesen Effekt bezeichnet G. Genette als „Metalepse“. Eine Metalepse liegt vor, wenn der Dichter in der Realität das bewirkt, was er sagt. Der extradiegetische Erzähler, die erzählende Instanz der ersten, der Haupterzählung, wendet sich aus dem Text heraus an den Rezipienten oder verändert etwas durch seine Erzählung in der Realität des Lesers, in dessen diegetischer Welt: „Jedes Eindringen des extradiegetischen Erzählers oder narrativen Adressaten ins diegetische Universum [...] oder auch [...] das Umgekehrte, zeitigt eine bizarre Wirkung, die mal komisch ist [...], mal phantastisch.“22
In biblischen Texten zeitigt dieses Eindringen, diese Transgression des Erzählers eine appellative Wirkung und fordert den Rezipienten zum Nachdenken oder zum Handeln auf. Erzählerkommentare (Mk 3,17; 15,34) und Erzählfigurenkommentare (Mk 7,11) machen deutlich, daß ein Kontakt zwischen dem Erzähler und Schulsystemen ist dagegen Vor-Lesen eher die Ausnahme als die Regel. Bestimmte Erzählaussagen scheinen aber geradezu darauf angelegt zu sein, laut gelesen zu werden, damit sie wirken, vgl. den von Klangspielen durchzogenen Text Gen 11,1-9 oder alttestamentliche Namensätiologien wie Ex 2,10. 19 Vgl. etwa B ULTMANN, , 347, und B ALZ, , 184. Das heißt umgekehrt nicht, daß es nicht auch andere Lesesituationen gegeben hat, wie besonders Apg 8,30.32 zeigt. Hier wäre sachgemäß mit „lesen“ wiederzugeben. 20 Mittelbar ist der Rezipient adressiert etwa in Apg 8,26ff. Der Äthiopier wird hier zum Modell-Leser, und die Erzählung fordert den Rezipienten auf, zur Sinnkonstruktion beizutragen und, vgl. MÜLLER, Verstehst, 133f., „einen Bezug zwischen sich und dem Text herzustellen.“ 21 PETERSEN, Perspektive, 83; vgl. DERS., reader, 43-49. Vgl. auch FOWLER, Reader, 82-87, REINMUTH, Vielfalt, 84, und FOCANT, Fonction, 115. 22 GENETTE, Erzählung, 168.
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
52
dem Rezipienten auch auf anderem Wege möglich ist. Solche Kommentare zeigen die „Differenz zwischen der Kompetenz der handelnden Figuren und der der Leser in ihrer jeweiligen eigenen Welt; aber sie implizieren auch die Kompetenz des Erzählers in den Codes beider Welten [...].“23 Zugleich bauen solche Kommentare eine Distanz zwischen dem Leser und seiner Welt auf, überbrücken diese aber sofort und beziehen den Rezipienten in die Erzählwelt ein. Eine besondere narrative Funktion für den Dialog von Autor und Leser haben die Jünger Jesu als Erzählfiguren im MkEv.24 Der Erzähler beabsichtigt, daß sich die Rezipienten anfangs mit den Jüngern Jesu identifizieren:25 Sie beobachten, artikulieren Fragen, die der Rezipient in gleicher Weise stellen könnte, und sie bekommen unter Ausschluß der Öffentlichkeit Mehrwissen mitgeteilt, über das innerhalb der Erzählung niemand verfügt, vgl. Mk 4,10-20. Wegen der immer stärker werdenden Unzulänglichkeit und des Scheiterns der Jünger am Schluß wird diese Identifikation aber zunehmend problematisch. Durch das unbefriedigende Ende des récit, die Flucht der Jünger, zielt der Erzähler auf eine Fortsetzung der histoire in der Gegenwart des Rezipienten. Er erwartet, daß jeder Rezipient für sich entscheidet, wie seine persönliche histoire enden wird. Indem also ein Teil des Personeninventars über längere Zeit kontinuierlich bleibt, wird es für den Rezipienten möglich, Entwicklungen zu verfolgen und schließlich eine Distanz zwischen den Jüngern und sich aufzubauen, die immer wieder zu einer Stellungnahme auffordert. Durch die letztlich negative Entwicklung 23
PETERSEN, Perspektive, 82f. Vgl. auch GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 37, die am Beispiel von (Mk 1,11; 9,7) deutlich macht, daß Markus erwartet, daß die Rezipienten Episoden aufeinander beziehen und daß er damit eine gewisse Leser- bzw. Hörerleistung voraussetzt. Vgl. dazu auch 6.3 und 6.8. 24 T ANNEHILL, Jünger, 39. Vgl. auch B EST, Disciples, 101, und grundsätzlich DERS., Jesus. Drei unterschiedliche Verstehensmodelle für die Rolle der Jünger im MkEv faßt KLAUCK, Rolle, zusammen. Er unterscheidet (1) den historischen Auslegungstyp, bei dem das Jüngerbild von der Geschichte vorgegeben wird, (2) den paränetischen Auslegungstyp, bei dem die Darstellung des MkEv als Geschichtsdarstellung zugleich Anrede an die Gemeinde sein soll und bei dem die christlichen Leser im Blick auf die Jünger einen Wiedererkennungseffekt erleben sollen, und (3) den polemischen Auslegungstyp, bei dem in den negativ gezeichneten Jüngern die theologischen Gegner Jesu gesucht werden. Dabei scheidet seiner Ansicht nach der polemische Typ aus, weil die Karikatur der Gegner nach Klauck verfehlt wäre. Der historische Typ sieht nach Klauck historisch Richtiges bewahrt, allerdings erschöpfe sich darin die Darstellung nicht. Richtiger ist für ihn der paränetische Auslegungstyp, vgl. ebd. 159: „Am Beispiel der Jünger erkennt der Leser, daß er seinen Glauben an Jesus Christus allein der freien Gnadenwahl Gottes verdankt.“ Zur Rolle der Jünger im MkEv vgl. auch FOCANT, incompréhension, besonders 75-79. 25 T ANNEHILL, Jünger, 51. Ähnlich auch HOOKER, Beginnings, 4.
3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung
53
der Jüngerfiguren wird zugleich – nicht nur für den Erstrezipienten – Spannung aufgebaut und am Ende die Suche nach einem neuen Weg eröffnet, der zu einem anderen Ziel führt als das, was die Jünger erreicht haben.26 In diesem Zuge verweist Mk 16,1-8 auf den Anfang des MkEv, des mk récit zurück; der Rückverweis fordert zu einer erneuten Rezeption auf und versucht, die erzählte Geschichte zur Geschichte des Rezipienten werden zu lassen. Vergleicht man die beiden Modelle auf grafischer Ebene, so fällt auf, daß bei Mayordomo-Marín die Figuren fehlen, die im Text auftreten und die sich dort an ein wie immer geartetes Gegenüber, aber auch direkt an den Rezipienten wenden können (vgl. Mk 13,14). Zudem bleibt die Frage offen, wer der Adressat des Erzählten ist. Diese Ebene ist bei Dieckmann differenzierter ausgearbeitet. Allerdings ist bei ihm unklar, was den eigentlichen Text ausmacht. Er gibt zwar den rezeptiven Rahmen an, hat darin aber auch den empirischen Autor verortet, wenngleich er diesen nur als Schatten darstellt, der ganz hinter seinem Werk zurücktritt.27 Dies scheint schwierig, weil immer (mindestens) zwei empirische Faktoren an einem Kommunikationsgeschehen beteiligt sein müssen, wenn dieses auf Sinnproduktion abzielt. Die empirischen Faktoren müssen dann aber von dem eigentlichen récit getrennt werden. Damit ist es angemessener, die Kommunikationssituation vereinfacht so darzustellen:28 Autor ඎ [impl. Autor ඎ Erzähler ඎ Figuren ඎ Adressat ඎ impl. Leser] ඎ Leser Dabei bezeichnen die [ ] den textinternen Bereich.
Untersucht man die Übergangsbereiche näher, die hier mit Pfeilen dargestellt sind, so läßt sich folgendes sagen: Der Autor schreibt seine Erzählung und codiert sich dabei – bewußt oder unbewußt – selbst in den Text hinein, in dem er dann als impliziter Autor wahrnehmbar wird.29 Dieser 26 Vgl. T ANNEHILL, Jünger, 53: Der Erzähler „fordert den Leser auf nachzudenken, warum die von Jesus Berufenen so weit irregehen konnten, und was er selbst tun muß, um nicht wie sie zu scheitern.“ 27 Vgl. DIECKMANN, Segen, 111. 28 So ist das für die heutige Diskussion grundlegende Schema von CHATMAN, Story, 146-151, besonders 151, in den wesentlichen Zügen erneut bestätigt. Vgl. auch SKA, Fathers, 40, und OKO, Who then is this?, 41-56. 29 Ob auch der Hörer in ähnlicher Weise in den Text hineincodiert wird, ist umstritten, vgl. VORSTER, Reader, der das annimmt, und W UELLNER, Reader, der sich eher zurückhaltend äußert. Vgl. auch grundsätzlich PETERSEN, reader, 39-43.
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
54
implizite Autor kommuniziert mit dem Erzähler durch die geschriebene Erzählung, der Erzähler und die Erzählfiguren durch die erzählte Erzählung. Zwischen den Erzählfiguren und dem Adressaten steht die Figurenrede und also die erzählte Erzählung zweiter Ebene. Adressat und impliziter Leser kommunizieren über die geschriebene erzählte Erzählung, und der implizite Leser mit dem empirischen Leser durch das Lesen der geschriebenen Erzählung.30 Dabei zeigen sich im Durchgang durch das Schaubild bestimmte Zusammengehörigkeiten, die auch dargestellt werden sollen: Autor ඎ [impl. Autor ඎ Erzähler ඎ Figuren ඎ Adressat ඎ impl. Leser] ඎ Leser
Ŋņņņņņŋ Erzählvorgang Ŋņņņņņņņņņņņņņņņŋ Erzählkonzept Ŋņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņņŋ Erzählkontext Im Vergleich zu dem Erzählkonzept Genettes zeigt sich, daß der Erzählvorgang der histoire entspricht, das Erzählkonzept dem récit und der Erzählkontext der narration.31 Diese Entsprechung ist aber nicht zu verwechseln mit dem Gesamtmodell Genettes, in dem dieses Kommunikationsmodell insgesamt den récit umfaßt. Strittig ist bei Genette die Instanz des impliziten Autors. Sie spielt bei Mayordomo-Marín wie Dieckmann eine konzeptionelle Rolle. Genette reagiert im zweiten Teil der „Erzählung“ auf den Vorwurf, er habe in seinem Konzept den impliziten Autor übergangen. In der Rede vom impliziten Autor sieht er den Versuch, die Narratologie über die narrative Instanz hinaus zu verlängern in die Richtung des realen Autors, „und die Instanzen des implied author und des implied reader liegen nun einmal jenseits von ihr.“32
30
Dies ist nur die eine Variante, weil das individuelle Lesen des Textes historisch eher die Ausnahme als die Regel war. Kommt die Instanz des Hörers hinzu, verändert sich das Schaubild, weil der Leser durch den Vorleser ersetzt wird. Das Lesen der geschriebenen Erzählung fällt dann nahezu in eins mit dem Vorlesen der geschriebenen Erzählung aus der Sicht des Vorlesers und dem Hören der geschriebenen Erzählung aus der Sicht des Zuhörers. 31 Zu den Termini „Erzählkontext“, „Erzählkonzept“ und „Erzählvorgang“ sowie zu dieser Form der graphischen Darstellung vgl. EBNER / HEININGER, Exegese, 100. 32 GENETTE, Erzählung, 284.
3.2 Der Ertrag der rezeptionsästhetischen Fragestellung
55
Genette definiert den impliziten Autor als das Bild des Autors im Text und fragt, ob der implizierte Autor eine notwendige und also rechtsgültige Instanz zwischen dem Erzähler und dem realen Autor ist. Er bezweifelt, daß ein Autor in seinem Text ein untreues Bild seiner selbst produzieren kann.33 Genette zeigt auf, daß in fast allen Fällen der implizite bzw. implizierte Autor zugleich der reale Autor ist, daß also das Auseinandertreten beider Instanzen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht konstatierbar ist. Allerdings benennt er auch drei Ausnahmen, von denen eine für die alt- wie neutestamentliche Exegese von Relevanz ist: Fälschungen, Werke anonymer Ghostwriter und Werke, die von mehreren Autoren gemeinsam verfaßt wurden. Der Ausdruck „Fälschung“ impliziert, daß ein Autor auf die bewußte Täuschung seiner Rezipienten zielt. In bezug auf das Neue Testament ist damit eine falsche Kategorisierung vorgenommen. Das Phänomen, das hier festzustellen ist, ist mit „Pseudepigraphie“ sachgemäßer bezeichnet. Konkret wird im Neuen Testament die paulinische Verfasserschaft verschiedener Briefe angezweifelt, die vorgeben, Paulusbriefe zu sein. Gemeint sind Eph, Kol, 2Thess, 1Tim, 2Tim, Tit. Das bedeutet: Ein uns unbekannter empirischer Autor verfaßt einen Brief an eine Gemeinde (Eph, Kol, 2Thess) bzw. an eine Einzelperson (1Tim, 2Tim, Tit), also an jeweils konkrete Empfänger; allerdings gibt sich der Autor in diesem Brief nicht als derjenige aus, der er ist, sondern als Paulus. In dieser Konstellation werden der empirische Autor und der „implizite Autor“ unterscheidbar, weil hier beide gleichsam auseinandertreten. Dabei steht „implizit“ hier in einem etwas anderen Gebrauch. Nicht der in der Erzählstrategie codierte Autor ist jetzt gemeint, sondern derjenige, als der sich der empirische Autor verstanden wissen will. Es wäre dann angemessener, von einem „empirischen Autor 2“ zu sprechen: Der „empirische Autor 1“, der uns unbekannt ist, will von seinen Empfängern als „empirischer Autor 2“, nämlich als Paulus, rezipiert und verstanden werden. Während es sich dabei um ein in der Antike häufiger zu beobachtendes Phänomen handelt, ist es nicht für alle neutestamentlichen Schriften in gleicher Weise in Anschlag zu bringen. Für die Evangelien etwa deutet nichts darauf hin, daß ein empirischer Autor, der heute beispielsweise Markus genannt wird, nicht dieser empirische Autor gewesen ist. Sollte zudem das MkEv als einziges Werk dieses empirischen Autors vorliegen, so wäre für uns auch kein Auseinandertreten von „empirischem Autor 1“ und „empirischem Autor 2“ feststellbar, da uns heute das Vergleichsmaterial fehlt. Es wäre also gleichgültig, ob hinter dem MkEv ein Autor Markus gestanden hat oder ob – gewollt oder nicht – dem Werk dieses Autors nur der Name des Markus zugeschrieben wurde. Erst die real gegebene Möglichkeit zur Unterscheidung etwa durch Vergleichsmaterial, wie es im Fall von Paulus vorliegt, entscheidet also darüber, ob für uns der „empirische Autor 1“ und der „empirische Autor 2“ auseinandertreten oder nicht. Damit wird der „empirische Autor 2“ bzw. der „implizite Autor“ zwar als Instanz greifbar, er muß aber nicht in jedem Werk auch tatsächlich nachweisbar sein, sondern wird meistens mit dem „empirischen Autor 1“ in eins fallen.
33
In bezug auf die Verhältnisbestimmung von implizitem Autor und empirischem Autor ist SKA, narrateur, 266, grundsätzlich zurückhaltend: Il „est pratiquement impossible de pouvoir confronter les ‚personnalités littéraires‘ avec les ‚personnalités historiques‘.“
56
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
3.3 Das Verhältnis von Mikrotext und Makrotext 3.3 Das Verhältnis von Mikrotext und Makrotext
Der Anfang eines Werkes spielt unabhängig von seinem Umfang oder Inhalt für die Rezeption eine besondere Rolle: Er soll das Interesse des Rezipienten wecken, prägnant zum Thema hinführen, in vornehmlich – aber nicht ausschließlich – nichtwissenschaftlicher Literatur darüber hinaus einen Spannungsansatz aufbauen und die erste(n) wichtige(n) (Haupt-) Erzählfigur(en) einführen. Nicht umsonst fällt es deshalb vielen Autoren schwer, am Anfang des Schreibvorgangs den allerersten Satz zu formulieren, weil mit ihm viele Vorgaben für die folgende Arbeit gemacht werden.34 Daß auf dem Anfang eines Textes ein besonderes Gewicht liegt, gilt in gleicher Weise für die Evangelien. Mayordomo-Marín hat das mit dem programmatischen Titel „Den Anfang hören“ für das MtEv gezeigt. Es ist möglich, über seine Studie hinaus für das MkEv noch einen Schritt weiter zu gehen: Wenn dem Anfang eines Textes eine so wegweisende Funktion zukommt, sollte sich zeigen lassen, daß die Spuren, die der Autor am Anfang eines Werkes legt, implizit oder explizit – sei es terminologisch, sei es narrativ – durch die ganze Schrift hindurch verfolgt werden können. Der Anfangsteil hätte dann schon in hochkonzentrierter Form viele wesentliche Elemente des kommenden Textes in sich und würde diese dem Rezipienten gleich zu Beginn mitteilen.35 Zwar wird dies dem Rezipienten bei der Erstrezeption noch nicht unbedingt sofort auffallen,36 dafür ist der Rezipient aber ab dem zweiten Lesen oder Hören bereits von Beginn an gleichsam im Text zuhause und sieht die wesentlichen narrativen Bögen über den Text als ganzen wie einen Horizont aufgespannt. Er kann dann bereits während der Einleitung assoziativ durch den ganzen Text gehen und sieht die Hauptthemen durch die ersten terminologischen wie narrativen Anspielungen berührt und vorbereitet. Dieses Moment wird immer besser greifbar, je öfter ein Text rezipiert wird. Dann besteht nicht mehr nur ein Wie34 Vgl. P ARSONS, Reading, 18, aus J.H. Moore, „The Duke of Beneveto“: „I hate the prologue to a story / Worse than the tuning of a fiddle, / Squeaking and dinning; / Hang order and connection, / I love to dash into the middle; / Exclusive of the fame and glory, / There is a comfort on reflection / To think you’ve done with the beginning.“ 35 Ähnlich HOOKER, Beginnings, 6: „[T]he prologue is a very important part of the book, and contains information that is crucial to our understanding of the story.“ 36 Vgl. GENETTE, Erzählung, 223f.: „Im ersten Moment, d. h. beim ersten Lesen, kann man nicht wissen, ob das Detail nicht später doch noch eine pragmatische Funktion erfüllt [...].“ Und doch: „[M]ir scheint, daß eine gewisse stilistisch-narrative Kompetenz dem Leser helfen kann, intuitiv zu erkennen, ob ein Detail einen pragmatischen Charakter hat oder nicht.“
3.4 Die Auswahl der Texte
57
dererkennungseffekt, sondern auch ein Wiedererwartungseffekt in bezug auf die erzählten Inhalte. Im Rahmen der Textanalyse soll versucht werden, diese Effekte nachzuzeichnen. Bei einer Analyse, die von einer Rezeption durch das Hören ausgeht, sind allerdings paratextliche Elemente, also die grafische Absetzung etwa von Vorworten, Motti, Untertiteln oder Absätzen auszublenden. Was beim Lesen rezeptionssteuernd wirkt, fehlt beim Hören und darf bei einer auch rezeptionsästhetischen Analyse keine Berücksichtigung finden.
3.4 Die Auswahl der Texte 3.4 Die Auswahl der Texte
Die Entscheidung des Markus, seine Darstellung in die narrative Form des Evangeliums zu gießen, war wegweisend für seine Nachfolger (vgl. 2.3). Das MtEv und das LkEv weisen dabei inhaltlich und strukturell eine große Nähe zum MkEv auf, weil das MkEv zu unterschiedlichen Teilen in das MtEv und das LkEv integriert und zudem die Logienquelle Q eingearbeitet wurde, die vom MtEv und LkEv auf je eigene Weise rezipiert worden ist. Fraglich ist nach wie vor, ob es auch zwischen dem MkEv und Q Verbindungen gegeben hat. Die Überlegungen dazu reichen weit zurück. Bereits B. Weiß sah 1886 einzelne Stücke von Q „in sekundärer Fassung und in sekundärem Zusammenhang noch bei Marcus erhalten“, und ihn „hindert nichts, auch solche erzählende [sic!] Stücke des Marcus auf diese Quelle zurückzuführen, welche im ersten Evangelium eine einfachere und ursprünglichere Form zeigen, zumal wenn Spuren einer solchen auch noch bei Lucas erhalten sind.“37 Die unübersichtliche Diskussion seitdem, die auch W. Schenk beklagte,38 faßte etwa 100 Jahre später F. Neirynck zusammen. 39 Dies braucht hier nicht wiederholt zu werden, aber zwei Arbeiten aus diesem Umfeld sollen mit ihrer Hauptthese exemplarisch für die Diskussion benannt werden. Für R. Laufen steht 1980 fest, daß ein Überlieferungszusammenhang zwischen den bei Q und im MkEv erhaltenen Texten besteht. Weil teilweise Q, teilweise aber auch das MkEv die ältere Fassung eines Logions Jesu enthält, schließt er, „daß weder der QBearbeiter das Markusevangelium noch umgekehrt Markus die Logienquelle als direkte literarische Vorlage benutzt hat.“40 Mögliche Verbindungen können dann nur im mündlichen Bereich entstanden sein. Nach Laufen reflektieren also Q und das MkEv einen je unabhängigen Zugang zur Jesustradition. H.T. Fledderman geht 1995 von der Zwei-Quellen-Theorie aus und untersucht „the overlap texts“ vom MkEv und Q näher. Er kommt zu folgenden Ergebnissen:41 „1. Everywhere in the overlap texts Mark is secondary to Q.“ „2. In the overlap texts Mark re-
37
WEISS, Lehrbuch, 489. SCHENK, Einfluß, 141. 39 NEIRYNCK, Developments. 40 LAUFEN, Doppelüberlieferungen, 385. 41 FLEDDERMAN, Mark, 208-218. 38
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
58
flects the redactional text of Q.“ „3. The differences between Mark and Q in the overlap texts stem from Markan redaction.“ Auf dieser Basis behauptet Fledderman eine literarische Benutzung der Endgestalt von Q durch das MkEv. Damit sind zwei Pole der Diskussion benannt: der lediglich traditionsgeschichtliche Zusammenhang im Bereich vor der Verschriftlichung und die direkte literarische Abhängigkeit des MkEv von Q. Wenngleich Berührungen auf schriftlicher Ebene nicht auszuschließen sind, scheint die These von Laufen insgesamt plausibler; Textbereiche mit dem gleichen Inhalt weisen hier eher auf einen gemeinsamen Zugang zu alten Jesustraditionen hin, die von den jeweils anderen unabhängig sind. Dann ist im ganzen eine direkte literarische Verbindung vom MkEv und Q unwahrscheinlich. Die komplizierte Entwicklung der jeweiligen Logienpriorität kann damit auf sich beruhen.42
Von den drei synoptischen Evangelien erscheint das MkEv aufgrund der Entstehungsgeschichte als besonders originell, weil es – anders als Q – die Jesusgeschichte als erstes in einen großen erzählerischen Zusammenhang bringt und dabei auch die Passionsgeschichte inklusive der Erzählung vom leeren Grab integriert (vgl. 2.3). Es ist von da aus sinnvoll, die Fragestellung der Arbeit exemplarisch auf das MkEv anzuwenden. Da nach den vorausgegangenen Überlegungen ein besonderes Gewicht auf dem Anfang des MkEv liegt, bietet es sich an, diesen Anfang in das Zentrum der Studie zu stellen. Sollte tatsächlich der Bereich Mk 1,1-15 eine Schlüsselfunktion für das MkEv als Ganzes haben (vgl. 3.3), so müßten sich die Linien des Mikrotextes im folgenden Makrotext aufweisen lassen.43 Für diesen Aufweis legt es sich aber aus arbeitsökonomischer Sicht nahe, eine Textauswahl zu treffen, die ein beispielhaftes Spektrum von Erzählungen abdeckt, so daß sich zum einen ein besonders deutliches Bild für die Einzeltexte ergibt und zum anderen ein Gesamteindruck für das ganze Evangelium entsteht. Immer wieder ist gezeigt worden, daß sich in Mk 1,1; 9,7 und 15,39 die kompositorischen Säulen der Gesamterzählung finden, weil es hier um Jesus als geht.44 Diese Stellen sollen exemplarisch um das erste Wunder, das erste Streitgespräch und die erste Menschensohnaussage der mk Erzählung ergänzt werden. Neben Mk 1,1-15 greife ich deshalb Mk 1,21-28; Mk 2,1-12; Mk 9,2-13 und Mk 15,33-41 heraus. Wie diese Erzählabschnitte das Verhältnis von Gott und Christus narrativ einholen, reflektieren, vertiefen und auf charakteristische Weise die Linien fortsetzen, die bereits in Mk 1,1-15 gelegt werden, wird in Teil 5-7 zu zeigen sein. 42
Zu einem ähnlich Urteil kommt neuerdings auch SCHNELLE, Einleitung, 235f. Ähnliche Überlegungen stellt auch MATERA, Prologue, für das MkEv an. 44 Vgl. grundlegend, aber mit problematischer Hauptthese, V IELHAUER, Erwägungen, und kritisch dazu STEGEMANN, Erwägungen, 102f. Grafisch gelungen veranschaulicht SHINER, Technology, 156-162, die Funktion von Mk 1,1; 9,7; 15,39 für das ganze MkEv. 43
3.5 Zusammenfassung
59
3.5 Zusammenfassung 3.5 Zusammenfassung
Die aus der Literaturwissenschaft in die Theologie, speziell die Exegese des Alten und Neuen Testaments eingeführten rezeptionsorientierten bzw. rezeptionsästhetischen Methoden der Textanalyse eröffnen eine Perspektive, die neben dem – bisher im deutschsprachigen Raum überwiegend angewendeten – historisch-kritischen Methodeninventar der Textanalyse eine neue Sichtweise ermöglicht. Dabei liegt ein deutlicher Akzent auf dem Wort „neben“, weil die rezeptionsästhetischen Fragestellungen nicht auf die Ersetzung des historisch-kritischen Methodeninventars drängen, sondern dieses ergänzen und bereichern wollen. Geht man davon aus, daß mit dem Anfang eines Textes eine Reihe von wichtigen Grundeinstellungen des Textes im Blick auf den Rezipienten vorgenommen wird, so hat der Anfang eines Textes eine besondere rezeptionsästhetische Bedeutung. Er als Mikrotext übernimmt die Weichenstellungen für den Makrotext, und er ist so immer auf diesen bezogen. Vor dem Hintergrund, daß paratextliche Elemente zu vernachlässigen sind, ist also zu fragen, welche Rezeptionssignale der Mikrotext für den Makrotext setzt und was diese Signale für den Rezipienten bedeuten bzw. was sie bei ihm auslösen können (receptio lectoris) und auslösen sollen (intentio auctoris). Zweierlei ist dabei wichtig: Zum einen ist nach der beim Rezipienten vorausgesetzten Kompetenz zu fragen, weil durch die Voraussetzungen, die ein Text macht, die Haltung des Rezipienten beeinflußt werden kann. Zum anderen: Wenn ein Rezipient bewußt den Weg einer wiederholten Lektüre oder eines wiederholten Hörens einschlägt, wird er bestimmte Teile genauer und bewußter zur Kenntnis nehmen und eine andere sinnbildende Leistung erbringen als ein Erstrezipient. Speziell für einen biblischen Text ist hier die Frage nach anderen vorausgesetzten Bibeltexten in Anschlag zu bringen. Konkret: Wenn der Erzähler bestimmte Themen der Schrift oder der vorausgegangenen Geschichte Israels und Judas anspricht, ist zu fragen, ob und inwieweit der jeweilige Rezipient damit umgehen kann. Sicher zu unterscheiden sind hier – wie bei der Differenzierung von empirischem und implizitem Autor – der empirische und der implizite Leser bzw. Hörer des Textes. Sicher zu unterscheiden sind aber auch heiden- und judenchristliche Rezipienten, die sehr wahrscheinlich unterschiedliche Schriftkenntnisse mitbringen. Von da aus ist zu überlegen, welche Erinnerungen der gelesene oder vorgetragene Text beim Rezipienten aktiviert und wie dessen sinnbildende Leistung dann aussehen kann.
60
3. Aspekte der Rezeptionsästhetik
Weil die rezeptionsorientierten Fragestellungen insgesamt anregend auf die Exegese wirken, soll im nächsten Schritt überlegt werden, in welcher Weise eine Verbindung von narratologischer und rezeptionsästhetischer Textanalyse denkbar ist und wo hier die Schwerpunkte liegen könnten.
Kapitel 4
Zwischen Forschungsgeschichte, Methodik und Exegese Es ergibt sich folgende Zwischenbilanz: Weil Gott und Christus im Neuen Testament in denkbar enger Verbindung zueinander beschrieben werden, ist jede Aussage über den einen immer auch eine Aussage über den anderen. In der Forschung wurde weitgehend die Theologie zum Ausgangspunkt gemacht und von dort aus die Christologie entwickelt. Die umgekehrte Herangehensweise ist demgegenüber noch kaum untersucht worden. Allerdings scheint sie den Evangelien deswegen angemessen, weil die Evangelisten, indem sie von Christus erzählen, implizit oder explizit von Gott erzählen. Die Evangelien gehören im weiteren Sinne in den Bereich der narrativen Theologie; sie zeichnen ihre je eigene „Theologie als Erzählung“. Auf der Basis der sequentiellen Anordnung des jetzigen Makrotextes „Evangelium“ ist deshalb zu untersuchen, wie der Autor, hier exemplarisch der „Pionier“ der Evangelienschreibung Markus, durch sein Erzählen von Jesus Christus, durch seine Christologie im engeren Sinne, seine Theologie entwickelt und wie diese sich darstellt. „Erzählen“ meint dabei mit G. Lohfink „Theologie als Erzählen“, und „Erzählung“ ist mit G. Genette aufzuschlüsseln in den Vorgang der narration (das Erzählen), das Medium des récit (die Erzählung) und den Kern der histoire (das Erzählte). Bei jeder Rezeption eines Textes kommt dem Rezipienten eine wesentliche Rolle zu. Die Rezeptionsästhetik fragt also, welche Effekte beim Lesen bzw. Hören auftreten, wie sich ein Rezeptionsvorgang abspielt und welchen Beitrag zur Sinnbildung der Rezipient eines Textes zu leisten hat. Das historisch-kritische Methodeninventar wird demnach durch die rezeptionsästhetische Fragestellung wesentlich bereichert. Der Blick auf exegetische Arbeiten der vergangenen Jahre zeigt, daß häufig entweder ein narratologischer Ansatz oder ein rezeptionsästhetischer Ansatz für die Textanalyse gewählt wurde. Dies vermag zu überraschen, weil die Ansätze der Fragen zwar unterschiedlich sind, sie sich aber beide mit dem Kommunikationsvermögen von Texten beschäftigen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß durch die Fragestellungen verschiedene Aspekte der Kommunikationssituation untersucht werden. Die narrato-
4. Zwischen Forschungsgeschichte, Methodik und Exegese
62
logische Analyse fragt vor allem nach dem récit und seiner Gestaltung. Die rezeptionsorientierte Fragestellung versucht zu klären, unter welchen Bedingungen der récit steht, was über die verschiedenen Erzählinstanzen oder -etappen bei dem Rezipienten ankommt und wie dies geschieht. Außerdem untersucht sie, welche Mitarbeit der Rezipient bei der christologischen bzw. theologischen Sinnbildung zu leisten hat und welche Kompetenzen möglicherweise bei ihm vorausgesetzt werden. Der Zielpunkt ist also je nach dem Ansatz der Fragestellung unterschiedlich, obwohl beide Ansätze die Kommunikationsstruktur vom Autor über den Text und bis hin zum Rezipienten untersuchen.1 Die narratologische und die rezeptionsästhetische Fragestellung zu verbinden, heißt demnach zu fragen, was der Autor durch seinen Text wie und auf welchem Wege mitteilt, wie seine histoire den Rezipienten auf dem Wege des récit erreicht und was der récit bei dem Rezipienten bewirken könnte. Es heißt, den Kommunikationsprozeß in seinen verschiedenen Instanzen oder Etappen zu analysieren.2 Der Analyse sind dort Grenzen gesetzt, wo die Spekulation beginnt. Psychologische Überlegungen für den Autor wie für den Rezipienten sind auszuschließen. Die Kommunikation kann nur beschrieben werden, indem auf Potentielles hingewiesen wird, also etwa die Möglichkeit, daß der Rezipient sich durch den Text an etwas erinnert fühlt, daß Texte bei ihm aufgerufen oder eingespielt werden. Die viel kritisierte Aussage Bultmanns – „Mk ist eben noch nicht in diesem Maße Herr über den Stoff geworden, daß er eine Gliederung wagen könnte.“3 – ist damit also nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht schwierig; sie ist aus der Perspektive der narratologischen und der rezeptionsorientierten Fragestellung auch inhaltlich unhaltbar geworden.4 Damit ist im Übergang das Ziel der Arbeit nochmals deutlich zu formulieren. Es geht unter Einbeziehung narratologischer Analyseaspekte wie rezeptionsästhetischer Fragestellungen um die Erhebung der mk „Theologie als Erzählung“ (vgl. 2.3) und zugleich um die Frage nach dem Sprachgewinn durch die Umkehrung der Aussagenperspektive „Gott ist ..., also ist Christus auch ... “ (vgl. 1.6.1). Zur Verdeutlichung könnte man sagen: Ziel der Arbeit ist die Untersuchung der „Theologie der mk Christologie“. Oder kürzer: „Christus als Theologe im MkEv“. 1
Vgl. SCHENK, Roles, 72: „Analysis of production and analysis of reception cannot be united nor can one be excluded by the other.“ 2 Vgl. REINMUTH, Vielfalt, 80. 3 B ULTMANN, Geschichte, 375. 4 Vgl. dazu RÜEGGER, Verstehen, 15-18.
Kapitel 5
Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15 Vor einer näheren Beschäftigung mit Mk 1,1-15 und den Linien, die der Erzähler von dort aus in das weitere Evangelium legt, sind zunächst eine Reihe von Einzelproblemen zu klären, die in diesen Versen in großer Häufung und in enger Verbindung miteinander auftreten. Es geht um die Struktur, den Umfang und die Abgrenzung des Anfangs des MkEv (5.1), um die Frage, als welche Textform das MkEv überhaupt zu verstehen ist (5.2), um das angemessene Verständnis von Mk 1,1 (5.3) wie um die Zugehörigkeit und den Bezug von Mk 1,2f. (5.4). Dann ist auch der in der Literatur häufig verwendete Ausdruck „Präexistenz“ zu problematisieren (5.5). Im Anschluß soll eine Gliederung entwickelt werden, die auf den Ergebnissen dieses Abschnitts basiert (5.6). Eine Zusammenfassung schließt diesen Teil ab (5.7). Zu beachten ist, daß bei der Beantwortung der genannten Fragen immer schon eine bestimmte Gesamtsicht auf die Texte vorausgesetzt ist.
5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung 5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung
Die Frage nach dem Umfang und der Abgrenzung des Anfangs des MkEv wird unterschiedlich beantwortet. In der älteren deutschsprachigen Forschung wurde, in der englisch- und französischsprachigen wird nach wie vor häufig die Meinung vertreten, der eigentliche Mk-Prolog umfasse den Bereich Mk 1,1-13; Mk 1,14ff. verweise bereits auf das weitere Evangelium, weil dort die Wirksamkeit Jesu beginnt, was zum einen durch die präpositionale Wendung *$
in Mk 1,14 angezeigt, zum anderen aber auch durch den Wechsel von Ort und Zeit deutlich werde.1 Als deutschsprachige Repräsentanten dieser Auffassung können etwa E. Klostermann, E. Lohmeyer und E. Schweizer gelten, als englischsprachige J.D. Kingsbury, L.W. Hurtado, J.P. Heil, M.D. Hooker, F.J. Moloney und W.R. Telford und als französischsprachige Y. Bourquin 1
122.
Weitere Argumente sind zusammengestellt bei FOCANT, Fonction, besonders 116-
64
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
und C. Focant.2 Demgegenüber betonen B. van Iersel, G. Guttenberger und D.S. du Toit, daß V.14f. nicht eindeutig zuzuordnen seien; V.14f. habe vielmehr die Funktion eines „hinge“,3 also eines Scharniers oder Gelenks, markiere einen „Grenzstreifen“4 oder stehe als „Nexus an der Schwelle“ zwischen Mk 1,1-13 und Mk 1,16-16,8.5 Daß aber Mk 1,1-15 eine Einheit bildet, hat überzeugend L.E. Keck gezeigt. Er geht von dem Terminus aus, untersucht die Rolle und die Funktion Johannes des Täufers und sieht V.14f. als Darlegung („explanation“) von V.12f. Die mk Sicht auf Johannes den Täufer und Jesus „pulls vv. 14 f. into the orbit of i. 1-13. So regarded, vv. 14 f. are a climactic statement that fulfills the word of John about Jesus, while at the same time it rounds out the over-arching interest of .“6 Wenngleich Nestle-Aland27 eine augenfällige Unterteilung in Mk 1,1-13 und 1,14ff. vornimmt, wird in der aktuellen deutschsprachigen Literatur weitgehend Mk 1,1-15 als auszulegender Abschnitt behandelt.7 Tatsächlich erweist sich Mk 1,1-15 durch zahlreiche Verschränkungen als zusammengehörig.8 Hier werden Johannes der Täufer und Jesus narrativ parallelisiert. Die Einleitung ihres Auftretens wird in V.4a ( ) bzw. V.9a ( ) vorgenommen. Die täuferische Aktivität des Johannes wird dann in V.5a.b zuerst allgemein beschrieben ( = *$ >$ , 5: * *$ ), um in V.9b.c an Jesus konkretisiert zu werden ( *$ ?: ' 2 KLOSTERMANN, Markusevangelium, 3, LOHMEYER, Markus, 9, SCHWEIZER, Markus, 10, KINGSBURY, Christology, 71, HURTADO, Mark, 12, HEIL, Mark, 19, HOOKER, Beginnings, 8, MOLONEY, Mark, 17, T ELFORD, Mark, 13, B OURQUIN, Polyvalence, 324, FOCANT, Fonction, 122, und DERS., Marc, 39-41. 3 VAN IERSEL, Mark, 21. Vgl. auch COOK, Christology, 81. 4 GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 40. Markus gestalte „Übergänge und nicht lineare Grenzen.“ 5 DU TOIT, Herr, 274. 6 KECK, Introduction, 361f. Keck nahm damit die These von WELLHAUSEN, Marci, 9, wieder auf, der für Mk 1,16-20 zu dem Schluß kam: „Hier beginnt nach der Einleitung der erste Teil.“ Wellhausen kann also als älterer Vertreter der Auslegergruppe gelten, die in Mk 1,1-15 den Eingangsbereich des MkEv sahen. Auf diese Tatsache macht auch aufmerksam B ORING, Beginning, 55. Vgl. auch FRICKENSCHMIDT, Evangelium, 352. 7 Vgl. etwa ERNST, Markus, 31, PESCH, Anfang, 111, DERS., Markusevangelium I, 71, DAUTZENBERG, Zeit, 225, LÜHRMANN, Markusevangelium, 33, GRUNDMANN, Markus, 34, und GNILKA, Markus I, 39. Vgl. aber auch BEST, Mark, 129, GUELICH, Mark, 3-5, und B ORING, Mark, 5, die als englischsprachige Exegeten für Mk 1,1-15 als auszulegenden Abschnitt plädieren. 8 Vgl. KLAUCK, Vorspiel, besonders 21-35, und FOCANT, Marc, 53-55.
5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung
65
5 *$ *$
). Der Inhalt der Verkündigung Johannes des Täufers erscheint zusammengefaßt in V.4c (
5 01 ), der Inhalt der Verkündigung Jesu in V.14c (
). Die äußerliche Beschreibung des Täufers und seiner Lebensweise in V.6 ( *$
: 1 0 ) findet ihr Gegenstück in V.12f., in der Beschreibung des vom Geist in die Wüste getriebenen Jesus nach seiner Taufe ( 5 0 9
: , , 0 ). Mit V.7f. erscheint der Inhalt der Verkündigung Johannes des Täufers ausführlich (
- 0 , . @ 9 5 , 5 ); die Parallele dazu, die Verkündigung Jesu, findet sich in V.15 ( 0 5 - ). Die Notiz in V.14a über den Täufer ( *$
) hat kein Pendant in Mk 1,1-15. Ihr entspricht aber auf der makrotextuellen Ebene Mk 6,14-29; zugleich wird in V.14a das Schicksal Jesu vorabgebildet (vgl. 3,19; 9,31; 10,33; 14,10.11.18.21. 41.42.44; 15,1.10.15). Innerhalb der wörtlichen Rede in Mk 1,2f. wird Christus von Gott direkt angesprochen (vgl. 5.4), und Gott kündigt ihm die Sendung eines Boten an, der ihm den Weg bereiten soll. Die Ansprache an Christus ist hier jeweils in der 2. Person Singular formuliert, V.2: ... ,... . Eine Wiederaufnahme der Anrede in der 2. Person findet sich in V.11: , 9 Dem aus V.2 entspricht zudem das in der wörtlichen Rede des Täufers in V.7. Weitere terminologische und strukturelle Zusammenhänge liegen vor. So hält vor allem V.1.14.15 in Form einer inclusio zusammen,9 darüber hinaus verbindet V.1.11, 0 V.3.4.12.13,
V.4.7.14, / V.4.15, 5: / 5 V.4.5.8.9 und V.8.10.12. Eine Klammer um V.9-14 liegt zudem mit der topographischen Notiz in V.9b ( *$ ?: ') vor, die in V.14b ( *$ ' ) ihre Wiederaufnahme
9
Ähnlich BORING, Beginning, 52, und H OOKER, Beginnings, 8.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
66
findet und die in der Ansage des Täufers in V.7 mit 0 terminologisch vorbereitet ist. Diese Verse sind des weiteren thematisch strukturiert. Eine Vielzahl von Stimmen wird in Mk 1,1-15 laut, und auch ihr Zusammenspiel konstituiert den Versbereich als zusammengehörig. Die durchgehende Stimme, die das Geschehen beschreibt, ist die eines Erzählers, der über sämtliche Gegebenheiten und Ereignisse informiert ist, auch über diejenigen, bei denen keine Augen- oder Ohrenzeugen anwesend sind.10 Dazu gehören besonders V.1-3.10-11.12-13. Die Erzählperspektive kann von da aus als auktorial bezeichnet werden: Der Erzähler ist ein auktorialer Erzähler.11 Dies ist nur eine mögliche von verschiedenen denkbaren Erzählperspektiven, wie G. Genette deutlich macht.12 Eine Erzählung soll eine Geschichte erzählen. Der Erzähler kann also entweder reden und nichts anderes vermitteln wollen, als daß er redet (diêgêsis); oder er kann reden und dabei die Illusion erzeugen wollen, daß er es gar nicht ist, der redet (Nachahmung oder mimêsis). „Der Gegensatz von diêgêsis und mimêsis läuft [...] darauf hinaus, daß die ‚reine Erzählung‘ distanzierter ist als die ‚Nachahmung‘: sie sagt es knapper und auf mittelbarere Weise.“13 Da in jedem Fall die Erzählung von Ereignissen immer Umsetzung von Nichtsprachlichem in Sprachliches ist, spielt besonders der Erzähler eine wichtige Rolle: Er „ist anwesend als Quelle, Garant und Organisator der Erzählung [...].“14 Im Blick auf die Erzählfigurenrede gibt es drei mögliche Formen: (1) die narrativisierte, erzählte Rede, die distanziert und reduzierend ist, (2) die transponierte, indirekte Rede, der die Buchstäblichkeit fehlt, und (3) die mimetische Form der Rede, bei der sich der Erzähler so gibt, als rede die Person. Dabei ist für Genette die dritte, die nachahmende Redeform die Grundform der Redeerzählung. Allerdings ist diese Einteilung in der Praxis nicht immer so eindeutig abgrenzbar. Zu unterscheiden ist also im Blick auf die Perspektive der Geschichte: (1) Der Erzähler kommt in der Handlung als Figur vor (homodiegetisch) und erzählt als Held seine Geschichte (autodiegetisch). (2) Der Erzähler kommt in der Handlung als Figur vor und erzählt die Geschichte des Helden (Erzähler mit Nebenrolle). (3) Der Erzähler kommt in der Handlung als Figur nicht vor (heterodiegetisch) und erzählt als allwissender Autor die Geschichte. (4) Der Erzähler kommt in der Handlung als Figur nicht vor und erzählt als außenstehender Autor die Geschichte. 10
So auch TELFORD, Mark, 104. Vgl. ABRAMS, Glossary, 166, der „auktorialer“ bzw. „allwissender Erzähler“ so definiert: „This is a common term for the large and varied works of fiction written in accord with the convention that the narrator knows everything that needs to be known about the agents, actions, and events, and also has privileged access to the characters’ thoughts, feelings, and motives; and that the narrator is free to move at will in time and place, to shift from character to character, and to report (or conceal) their speech, doings, and states of consciousness.“ Ähnlich auch PETERSEN, Perspektive, 78. 12 Vgl. GENETTE, Erzählung, besonders 115ff. und 175ff. 13 Ebd. 116. 14 Ebd. 119. 11
5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung
67
Davon wiederum ist die narrative Ebene zu unterscheiden, die den Status des Erzählers bestimmt: Der extradiegetische Erzähler erzählt die Rahmenhandlung, also die äußeren Gegebenheiten. Der intradiegetische Erzähler hingegen ist derjenige Erzähler, der innerhalb dieser Erzählung auftaucht und selbst seinerseits erzählt. Das bedeutet für die narrativen Ebenen: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“15 Die narrative Instanz der Rahmen- oder ersten Erzählung ist also extradiegetisch, die narrative Instanz der metadiegetischen oder zweiten Erzählung ist diegetisch etc. Dabei kann die metadiegetische Erzählung ein Kausalverhältnis zur nächsthöheren Ebene haben, eine thematische Beziehung zu ihr oder auch gar keine Beziehung. Der Erzähler ist also bestimmt sowohl durch seine narrative Ebene als auch durch seine Beziehung zur Geschichte. Es sind damit 4 Erzählertypen denkbar: (1) extradiegetisch-heterodiegetisch, (2) extradiegetisch-homodiegetisch, (3) intradiegetisch-heterodiegetisch und (4) intradiegetisch-homodiegetisch.16 Mögliche Sichtweisen, die Genette als Fokalisierung bezeichnet, sind: (1) Erzählungen mit Nullfokalisierung, die eine Übersicht über das Erzählte bieten, (2) Erzählungen mit interner Fokalisierung, die eine Sicht mit einer Erzählfigur bieten und (3) Erzählungen mit externer Fokalisierung, die eine Außensicht auf das Erzählte bieten. Auch hier bemerkt Genette, daß nur selten eine Fokalisierung in aller Strenge praktiziert wird. Die Analyse der Fokalisierung ermöglicht, innerhalb der Erzählung einen Fokalisierungswechsel, eine Alteration, sichtbar zu machen. Der Erzähler kann, indem er einen Verstoß gegen den Code begeht, sowohl weniger Informationen geben, als gegeben werden müßten (von : Paralipse), als auch mehr Informationen geben, als benötigt werden (von 5 : Paralepse). Abschließend sind noch folgende Funktionen des Erzählers feststellbar: (1) Der Erzähler kann narrative Funktion im eigentlichen Sinne haben. (2) Er kann Regiefunktion haben. (3) Er kann Kommunikationsfunktion haben. (4) Er kann Beglaubigungsfunktion haben. (5) Er kann aber auch ideologische Funktion haben.17 Es legt sich damit nahe, eine nähere Bestimmung des Erzählers des MkEv vorzunehmen, als dies durch seine Qualifikation als auktorialer Erzähler geschieht.
Mk 1,1-15 erscheint mit Ausnahme der wörtlichen Rede in Mk 1,2f. (vgl. 6.1) und Mk 1,11 (vgl. 6.3) als diêgêsis. Das mag auf den ersten Blick verwundern, weil auch über Mk 1,2f.11 hinaus ein namhafter Anteil an Figurenrede in diesem Teil vorliegt, doch wirkt die Erzählung hier insgesamt relativ distanziert. Die gesamte Organisation der Erzählung hängt vom Erzähler ab: Er macht durch Redeeinleitungsformeln (V.2: ...; V.3: 1 5 ...; V.7:
; V.11: 1 ; V.15: ) deutlich, wann er den Erzählfiguren das Wort gibt, er 15
Ebd. 163. Vgl. ebd. 178. 17 In der Nachschrift hat Genette dies noch detaillierter eingeteilt, vgl. ebd. 255. Er unterscheidet jetzt (1) explikative Funktion, (2) prädikative Funktion, (3) rein thematische Funktion, (4) persuasive Funktion, (5) distraktive Funktion und (6) obstruktive Funktion. 16
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5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
zeigt sich durchgehend als allwissender, extradiegetisch-heterodiegetischer Erzähler, und er bietet 4 Figurenreden: Zweimal kommt Gott zu Wort, je einmal Johannes der Täufer und Jesus. Diese Reden umfassen 75 Wörter, fast ein Drittel von Mk 1,1-15. Die Erzählung bietet eine Außensicht auf das Erzählte, sie besitzt eine externe Fokalisierung. Dies wird etwa dadurch deutlich, daß auch Dinge mitgeteilt werden, die den Erzählfiguren unbekannt sind, vgl. vor allem Mk 1,1-3.10b-11. Der Erzähler hat damit neben seiner narrativen Funktion eine Beglaubigungsfunktion. Er tritt für seine Erzählung ein und steht gleichsam für die Richtigkeit des Erzählten Pate. Dies zeigt beispielsweise die Zitationsformel in Mk 1,2f. Im Zentrum des Abschnitts stehen 5 Themen: a) Gott und die Schrift, b) Johannes der Täufer, und c) - e) Jesus: a) V.1-3 bieten eine Hintergrundinformation, die außerhalb der erzählten Zeit liegt, die aber für die erzählte Zeit unmittelbare Relevanz besitzt (vgl. 5.4 und 6.1). Die wörtliche Rede in Form eines Schriftzitates macht mehr als die Hälfte des Abschnitts aus. b) V.4-8 beschreiben das Auftreten und Handeln Johannes des Täufers. Dabei markiert V.4 durch einen expliziten Neueinsatz. Das Handeln des Täufers steht in Korrespondenz zu dem Handeln des Volkes, wobei das Handeln des Volkes durch die Aktivität des Täufers ausgelöst wird. Auch dieser Abschnitt endet mit wörtlicher Rede, die knapp ein Drittel von V.4-8 umfaßt. c) V.9-11 sind ebenfalls durch einen deutlichen Neueinsatz markiert ( ). Das beschriebene Handeln Jesu ist durch die Predigt und die Tauftätigkeit Johannes des Täufers ausgelöst und steht deswegen mit ihm in engem Zusammenhang. Im Vergleich zu V.5 wird der Fokus auf einen Einzelnen aus der zu dem Täufer kommenden Masse gerichtet. Ab V.10b ist Gott selbst der Handelnde. Auch dieser Abschnitt endet mit wörtlicher Rede, allerdings noch nicht mit der Rede Jesu, sondern mit der Rede Gottes. Die drei Verse umfassen 53 Wörter, wobei nur 19 Jesus als den eigentlich Aktiven zeigen. 7 Wörter zeichnen die Tätigkeit des Täufers an Jesus, und 27 Wörter beschreiben das Handeln und die Rede Gottes an Jesus. d) V.12f. zeigen Jesus als vom Geist Getriebenen, so daß fraglich ist, ob er als der eigentlich Aktive dieses Abschnitts gelten kann: Nur 12 Wörter von V.13 stellen ihn in Aktion dar (
[...], ), während die Aktion des Geistes (9), Satans (4) und der Engel (5) mehr als die Hälfte von V.12f. ausmachen. Dieser Abschnitt ist in den ersten 15 Versen der einzige, der keine wörtliche Rede enthält.
5.1 Der Anfang des MkEv – Struktur, Umfang und Abgrenzung
69
e) Mit Bezugnahme nach vorne und dem Hinweis auf das Schicksal des Täufers beginnt Mk 1,14f. Jesus wird hier aktiv: Er geht nach Galiläa – so ergibt sich ein Bezug zu V.9 – und beginnt dort seine Verkündigung. Auch dieser letzte Abschnitt endet also mit wörtlicher Rede. Die gezeigten Querverbindungen legen es nahe, in Mk 1,1-15 ein Ganzes zu sehen und diesen Bereich als zusammengehörig zu interpretieren. M.E. Boring findet in Mk 1,1-15 „five main themes which are all elements of the one primary christological theme as Mark understands Christology“: 18 (a) the power of the Christ, (b) the story of the Christ, (c) the weakness of the Christ, (d) the secrecy of the Christ, (e) the disciples of the Christ. Nach Boring haben diese fünf Themen von Mk 1,115 alle einen jeweils unmittelbaren Bezug zu Gott: (a) power: Christus als „manifestation of the power of God;“ (b) story: Christus-Geschichte als „the key, climactic segment of history as the mighty acts of God;“ (c) weakness: Christus als „a representation of the weakness and victimization of humanity, and […] thus the true power of God;“ (d) secrecy: das Messiasgeheimnis als „Mark’s literary-theological means of divine power and human weakness in one narrative and the result of Mark’s conviction that the Messiah cannot truly known as Messiah until he is crucified and risen, i.e. raised by God;“ (e) disciples: die Jünger als „the messianic people of God.“ Boring zeigt einen Ansatzpunkt für eine Theologie, die von Christus ausgeht und zu Aussagen von Gott kommen will. Dieser Ansatz ist zwar nicht methodisch ausgebaut, zeigt aber doch deutlich den Zusammenhang von Christologie und Theologie im engeren Sinne.
Mit den Bezeichnungen „Anfang des MkEv“, „Prolog“ oder „introduction“ deutet sich die eng damit zusammenhängende Fragestellung an, wie der Abschnitt Mk 1,1-15 zu bezeichnen ist. „Prolog“ dominiert in der Literatur deutlich.19 J. Gnilka steht dagegen, wenn er Mk 1,1-15 als „Initium“, als „Eingang“, „Anfang“ oder „Beginn“ bezeichnet.20 G. Dautzenberg hält den Ausdruck „Prolog“ für nichtssagend; er verdecke, „daß es sich um einen ersten integralen Teil der Geschichtserzählung des Markus handelt, der eine unaufgebbare Rahmen- und Klammerfunktion für die gesamte Schrift [...] ausübt.“ Man solle deshalb „neutralere Kennzeichnungen wie ‚Einleitungs-‘ oder ‚Eröffnungsperikope‘“ benutzen.21 18
B ORING, Beginning, 63-66. Vgl. etwa ERNST, Markus, 31, PESCH, Anfang, 108, DERS., Markusevangelium I, 71, und LOHMEYER, Markus, 9. Programmatisch ist dies bei FENEBERG, Markusprolog. Auch im englisch- und französischsprachigen Bereich ist „prologue“ weithin üblich, vgl. HOOKER, Beginnings, 5, T ELFORD, Mark, 13, B OURQUIN, Polyvalence, 316, und FOCANT, Fonction, 115. 20 GNILKA, Markus I, 39; ähnlich SCHOLTISSEK, Gott, 78. Auch DECHOW, Gottessohn, steht dagegen, vgl. 21 („Vorspann“), und ebd. 24 („der einleitende Abschnitt des MkEvangeliums“). 21 DAUTZENBERG, Zeit, 230f. Gegenüber dem Ausdruck „Prolog“ ist auch B ECKER, Markus-Evangelium, 108f., kritisch, vgl. ebd. 109: Es „lassen sich weder Mk 1,1-15 als ‚Prolog‘ noch Mk 1,1-13 als ‚Prolog im Prolog‘ verstehen.“ Die Bezeichnung von Joh 19
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5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
Dazu ist zweierlei zu bemerken. Zum einen: Ähnlich wie bei Joh 1,1-18 entwickelt sich für Mk 1,1-15 der Sprachgebrauch dahin, daß die Bezeichnung „Prolog“ üblich wird. Der Ausdruck läßt sich aber noch schärfen, wenn man den Hinweis von Dautzenberg ernstnimmt und „Prolog“ terminologisch im Sinne H. Weders verändert: Weder spricht von dem prologartigen Charakter von Mk 1,1-15.22 Damit wäre für den Beginn des MkEv eine weniger starre Bezeichnung gewonnen, die dennoch einen Bezug zu der üblichen Redeweise hat. Zum zweiten: Unten (vgl. 6.5) wird Mk 1,14f. als Tür zum Evangelium bezeichnet. So erscheint der ganze Bereich Mk 1,1-15 als Eingangsbereich des MkEv. Der Ausdruck „Prolog“ ist also wegen seines häufigen Gebrauchs weiterhin vertretbar und in der Lesart Weders anschlußfähig, die Rede von dem Eingangsbereich des MkEv ist dagegen sachlich angemessener.23
5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung 5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung
In 2.3 ist deutlich geworden, daß der Terminus „Evangelium“ polyvalent ist: Er kann die Botschaft Jesu ebenso bezeichnen wie die literarische Erzählung, in die diese Jesusbotschaft eingeschrieben ist. Diese Jesusbotschaft und die literarische Erzählung „Evangelium“ hängen mithin unlöslich zusammen.24 In bezug auf die literarische Erzählung ist zu fragen, welcher schriftlichen Gattung das MkEv zuzuordnen ist. Diese Frage steht im Zusammenhang mit der Überlegung, was für einen Text der Eingangsbereich Mk 1,1-15 eröffnet (5.3). Die Frage nach der literarischen Gattung des MkEv wird kontrovers diskutiert. Die Forschungsgeschichte dazu ist an mehreren Stellen aufgear-
1,1-18 als Prolog läßt Dautzenberg jedoch stehen, weil er sie als traditionell einstuft. Ähnlich KLAUCK, Vorspiel, 36-39. 22 WEDER, Evangelium, 46. 23 Ausgehend von in Mk 1,1 könnte man auch von einem „Archäolog“ sprechen; dies wirkt allerdings etwas künstlich und birgt die Gefahr einer Kategorisierung als Gattung sui generis in sich (vgl. 5.2). Passender wären evtl. „Präludium“ oder „Ouvertüre“, weil beide den Beginn eines klassischen Musikstückes markieren und in diesem Zuge bereits die ersten musikalischen Motive des Kommenden zu Gehör bringen. „Ouvertüre“ findet sich so etwa auch bei B ORING, Beginning, 63, und TELFORD, Mark, 45. War in 2.2.1.2 davon die Rede, daß die Evangelisten ihre Werke komponiert haben, ergäbe sich damit eine Art terminologische Wiederaufnahme. Die deutsche Übersetzung von HOOKER , Beginnings, hat „Ouvertüre“ sogar zum Haupttitel gemacht, vgl. H OOKER , Ouvertüren. 24 Vgl. FRANKEMÖLLE, Begriff, 13.
5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung
71
beitet worden.25 Sie kann hier nicht in Gänze dargestellt werden, doch sollen Hauptlinien hervorgehoben werden, die für die Diskussion insgesamt kennzeichnend sind und für meine Arbeit eine wesentliche Rolle spielen. Die Bestimmung der Gattung eines Textes kann geschehen durch synchrone Analyse, durch diachrone Analyse oder durch einen literarischen Vergleich: Die synchrone Analyse fragt nach der Schreibweise, der Sprecherperspektive, Sprache und Stil, der Komposition und dem Thema eines Textes. Die diachrone Analyse fragt dagegen vor allem traditionsgeschichtlich und soziologisch, bezieht also das Stadium der Textentstehung ebenso ein wie die spätere Rezeption des ganzen Textes. Der literarische Vergleich schließlich bindet synchrone und diachrone Fragestellungen zusammen und analysiert weitere Texte im Vergleich zu dem Text, dessen Gattung bestimmt werden soll.26 Der literarische Vergleich war in den letzten Jahren dominierend. Weil hier die Frage nach denjenigen Gattungen gestellt wurde, die dem MkEv ähnlich oder mit ihm deckungsgleich sind, wurde der literarische Vergleich immer stärker zu einem übergreifenden literaturgeschichtlichen Vergleich entwickelt. Für eine literaturgeschichtliche Einordnung sind dabei vor allem Vergleichstexte relevant, die sich in räumlicher und bzw. oder theologischer Nähe zum MkEv befinden. Der Vergleich stützt sich deswegen häufig auf alttestamentliche, jüdische oder hellenistische Texte.27 Dominierend sind hier zur Zeit Versuche, Analogien zu alttestamentlichen oder hellenistischen Texten aufzuzeigen; jüdische Texte treten demgegenüber momentan eher in den Hintergrund. Allerdings fehlen auch hier Zuordnungsversuche nicht völlig: So sieht etwa M.E. Vines im MkEv eine „Jewish Novel“, die in Verbindung steht mit der „Jewish novelistic literature of the Hellenistic period.“28 Zum Typus dieser „Jewish Novel“ rechnet Vines vor allem die griechischen Versionen des Daniel- und des EstherBuches, Tobit, Judith, Susanna sowie Joseph und Aseneth. Sie alle seien Teil der „Jewish ‚historical novels‘.“29 Maßgeblich für die literaturgeschichtlichen Vergleichsanalysen in heutiger Zeit ist die Arbeit von F. Overbeck.30 Er sah 1882 in der „christlichen 25 Vgl. etwa DORMEYER / FRANKEMÖLLE, Gattung, 1543-1704, DORMEYER, Evangelium, DERS., Markusevangelium, bes. 31-36.101-137.153-185, und FENDLER, Studien. 26 Mit FENDLER, Studien, 38-80. 27 Gut sichtbar bei GUELICH, Genre, 185-204, VORSTER, Ort, 10-22, STRECKER, Literaturgeschichte, 139-148, und FRANKEMÖLLE, Begriff, 1-18. 28 VINES, Problem, 161. 29 Ebd. 144, vgl. 153. 30 Ähnlich DORMEYER, Gattung, 49, und DERS., Testament, 199.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
72
Urliteratur“, die mit den neutestamentlichen Schriften beginnt, „eine Literatur, welche sich das Christentum so zu sagen aus eigenen Mitteln schafft, sofern sie ausschließlich auf dem Boden und den eigenen inneren Interessen der christlichen Gemeinde noch vor ihrer Vermischung mit der sie umgebenden Welt gewachsen ist.“31 In diesem Zusammenhang sieht er die „Form des Evangeliums“ als die „einzige originelle Form [...], mit welcher das Christentum die Literatur bereichert hat.“32 Nach Overbecks Analyse ist das Evangelium als Gattung demnach eine Gattung sui generis und als solche literargeschichtlich isoliert – eine in der folgenden Diskussion häufige, aber problematische Annahme.33 J. Weiss geht 1903 von der Arbeit Overbecks aus und gelangt bei der Analyse des literarischen Charakters des MkEv zu der Frage, „ob wir unsre Schrift etwa der biographischen Literatur im weiteren Sinne zurechnen dürfen.“34 Er selbst antwortet negativ: Der „Gesamtcharakter“ gestatte es nicht, es „der eigentlich biographischen Literatur zuzurechnen.“35 1922 sah K.L. Schmidt, daß „sich der Vergleich der Evangelien mit der ungefähr gleichzeitigen griechischen Biographie-Literatur einer besonderen Beliebtheit“ erfreut.36 Schmidt selbst allerdings äußert sich zurückhaltend: „Das Evangelium ist von Haus aus nicht Hochliteratur, sondern Kleinliteratur, nicht individuelle Schriftstellerleistung, sondern Volksbuch, nicht Biographie, sondern Kultlegende.“37 Die Frage, die Weiss 1903 stellte, ist für die Diskussion bis heute basal. Wenngleich Weiss und Schmidt die Frage mit unterschiedlichen Gründen negativ beantworten, steht doch seit Weiss die Überlegung im Raum, ob sich Verbindungslinien von der zeitgenössischen Biographieliteratur zu den Evangelien, speziell dem MkEv aufzeigen lassen. K. Baltzer beschrieb 1975, ausgehend vom Alten Testament, die literarische Gattung der „Idealbiographie“ und brachte diese auch mit dem MkEv in Zusammenhang.38 D. Lührmann stellte im Rahmen seiner Vorarbeiten für seinen MkEv-Kommentar 1977 fest, daß das MkEv biographische Züge trägt.39 Für ihn ist deshalb „Biographie“ der geeignete Ausdruck 31
OVERBECK, Anfänge, 36. Ebd. 33 Vgl. BREYTENBACH, Nachfolge, 68, und dagegen C ANCIK, Gattung, 88. 34 WEISS, Evangelium, 11. Kursive im Original gesperrt. 35 Ebd. 22. 36 SCHMIDT, Stellung, 51. Kursive im Original gesperrt. 37 Ebd. 76. Kursive im Original gesperrt. 38 B ALTZER, Biographie, 184-189. 39 Zurückhaltend ist BORING, Beginning, 46: „[T]he structural principle of Mark is not biographical but christological; Mark is not a biography of Jesus but a narrative Christol32
5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung
73
für das, was das MkEv bietet: ein chronologisch geordneter „Ablauf des Lebens Jesu von seinem ersten Auftreten bis zu seinem Tod und seinem Begräbnis – eine merkwürdige Biographie freilich: eines Gestorbenen, der lebt (16,1-8).“40 Lührmann hält fest, daß der eigentliche Rahmen einer Biographie durch die Erzählungen vom leeren Grab bzw. der Auferstehung Jesu durchbrochen wird. Es ist dann grundsätzlich zu fragen, ob die Bestimmung als „Biographie“ noch trägt oder ob die Jesus-Erzählungen derart „strange biographies“41 sind, daß sie eigentlich nicht mehr „Biographie“ genannt werden können. C.H. Talbert nahm dagegen 1977 eine Klassifizierung der antiken Biographie in 5 Typen vor.42 Seiner Analyse nach sei das MkEv der „Type B biography of Jesus“: „It was written to defend against a misunderstanding of the church’s savior and to portray a true image of him for the disciples to follow.“ Das Evangelium habe als „myth of origins for an early Christian community“ gewirkt.43 Seit 1983 ist in diese Diskussion deutliche Bewegung gekommen. Mit unterschiedlichen Gründen wurden die Evangelien seit diesem Zeitpunkt immer stärker der antiken Biographieliteratur zugeordnet.44 So sieht etwa M. Hengel das MkEv als einen „Sonderfall“ in dem „sehr weiten Bereich der antiken ‚Biographie‘“,45 und K. Berger sieht die „hellenistische Biographie“ als so vielgestaltig an, daß auch die Evangelien darin Platz haben könnten.46 Diese Offenheit und Weite kann als Stärke beurteilt werden, weil die Evangelien jetzt im literaturgeschichtlichen Vergleich einer anderen antiken Gattung zugeordnet werden können. Diese Weite bedeutet aber umgekehrt die Zuordnung der Evangelien zu einer recht unspezifischen Gattung.47 A. Dihle hat deswegen grundsätzlich zu unterscheiden versucht: Die Evangelien hätten zwar biographisches Interesse im weiteren Sinne, hätten aber zur Verkündigung der Worte und Taten Jesu des literarischen Vorbilogy.“ Vgl. T ELFORD, Mark, 66f.: „[T]he Gospels are not biographies but kerygmatic works, religious texts written ‚out of faith, for faith‘.“ 40 LÜHRMANN, Biographie, 36. 41 HOOKER, Beginnings, 1. 42 T ALBERT, Gospel, 94-98. 43 Ebd. 134. 44 Vgl. DORMEYER, Cäsar, 29, DERS., Idealbiographie, 4-6, und B ECKER, MarkusEvangelium, 21-23.64f. 45 HENGEL, Evangelienüberschriften, 49. 46 BERGER, Formgeschichte, 346. 47 Vgl. GUELICH, Genre, 191, und B URRIDGE, Gospels, 63.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
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des einer festen Gattung nicht bedurft: „Wenn wir [...] die Evangelien mit einigem Recht Biographien Jesu nennen – denn ein biographischer Rahmen bestimmt ohne Frage ihre literarische Form und biographisches Interesse die Ausgestaltung ihres Inhaltes –, so sollten wir dabei doch den Gedanken an die spezifisch griechische Kunst der Biographie fernhalten.“48 Gegen ein zu enges Verständnis der Evangelien als Biographien argumentierte auch H. Cancik. Er stellte die historiographische Struktur des MkEv heraus, die er „mit verschiedenen Formen von Lehre [...] und mit Paradoxographie aufgefüllt“ sah.49 Wenngleich davon auszugehen sei, daß die hellenistischen und römischen Leser das MkEv als Biographie gelesen haben werden, „wenn auch als eine ziemlich exotische“, so habe sich demgegenüber den Juden „ein anderer kultureller Hintergrund, andere Erwartungen und Assoziationen“ eröffnet.50 Die Gattung „Evangelium“ sei Höhepunkt und Ende der graeco-jüdischen Literatur auf der Basis des griechischen Alten Testaments. Nach F. Fendler spricht gegen das Verständnis des MkEv als Biographie vor allem, daß es anonym abgefaßt ist. Der Verfasser vermeide die erste Person, trete völlig hinter seinen Stoff zurück und gestalte zurückhaltend: Die „schlichte, auf rhetorische Ausschmückung verzichtende Sprache und die Häufigkeit der direkten Rede können in diesem Zusammenhang genannt werden.“51 T. Söding sah 1995 eine Berührung des MkEv mit hellenistischen Biographien in der literarischen Form, einen Unterschied aber im theologischen Ansatz.52 Das Evangelium sei eine Darstellung der öffentlichen Verkündigung und der Passion Jesu unter der Voraussetzung des Glaubens an Jesu Gottessohnschaft, an seine vollmächtige Verkündigung der Gottesherrschaft, an seine Lebenshingabe zur Rettung der Menschen und an seine Auferweckung durch Gott. Als „Sondergattung der Biographie“ hat D. Dormeyer 1999 das Evangelium eingeordnet, „in der die hellenistische Biographieliteratur und das atl. idealbiographische Erzählen eine neue Verbindung finden.“53 Das Evangelium erscheint ihm als christliche Neubildung. Es gehöre zu der „Grund-
48
DIHLE, Evangelien, 48. Vgl. DERS., Biographie, und grundsätzlich DERS., Studien. CANCIK, Gattung, 94.98. 50 Ebd. 96. 51 FENDLER, Studien, 79 52 SÖDING, Evangelist, 52. 53 DORMEYER, Idealbiographie, 11. 49
5.2 Das MkEv als biographisch-theologische Erzählung
75
gattung ‚genus epideiktikon‘“, der „Prunkrede“.54 Markus wolle ein neues theologisches Werk schaffen, das aber der antiken Biographie zurechenbar bleibe. Er nehme vorliegende „Biographien auf, um den weltlichen Gehalt der Botschaft und Botschaftstätigkeit Jesu an die Tradition der ‚großen Männer‘ des Judentums und der Antike anzuschließen [...].“55 In dieser neuen literarischen Form sieht er eine bleibende Spannung zwischen Evangelium als neuem theologischen Inhalt und Idealbiographie als neuer literarischer Form. P.-G. Klumbies hat 2001 das MkEv in zweifacher Hinsicht einzuordnen versucht. Seiner Ansicht nach komme „dem Mythos bei Markus eine prägende Bedeutung sowohl hinsichtlich der Form als auch im Blick auf den Inhalt der Darstellung“ zu.56 Damit sei Mk 1,1-16,8 ein im Ansatz einheitliches Erzählganzes. In der Gattung Mythos sieht er die Korrespondenz von der Geschlossenheit des Erzählganzen einerseits und der inneren Einheit der integrierten Einzelelemente andererseits. Dann handele es sich bei dem MkEv „nicht um ein , sondern – wie vom Erzähler seinem Werk in 1,1 explizit vorangestellt – um eine . [...] Die markinische ist die Schöpfungsgeschichte des gegenwärtig gelebten Glaubens.“57 Es ist fraglich, ob mit der Bestimmung des MkEv als ein Fortschritt erzielt wird: In der Folge wird das MtEv gattungsmäßig als 55 , das LkEv als und das JohEv unter Umständen mit Anklang an Joh 1,18 als = oder mit Anklang an Joh 1,1.14 als des = gewordenen zu bestimmen sein. Für vier Evangelien ergeben sich dann vier verschiedene Gattungen, die jeweils im Neuen Testament singulär wären. Was oben zu der Bestimmung der Evangelien als Gattung sui generis gesagt wurde, gilt dann hier analog, wenn nicht noch dringlicher, weil jetzt sogar jedes Evangelium an sich in die literargeschichtliche Isolierung gerät.58 D. Frickenschmidt versuchte demgegenüber 1997 aufzuweisen, daß das MkEv „eine antike Biographie im Vollsinn des Wortes“ ist.59 Er stellte Apg 10,37-41 als „Basis-Biographie“ Jesu im Neuen Testament heraus, die Taufe bzw. Salbung mit heiligem Geist, Wirken und Tod Jesu am Kreuz mit anschließender Auferstehung umfasse. Hierin sah er die Grundlage der 54
DERS., Kompositionsmetapher, 463. Ähnlich auch DERS., Testament, 202.204.220f., und DERS., Cäsar, 35. 55 Ebd. 56 KLUMBIES, Mythos, 303. 57 Ebd. 58 Vgl. auch B ECKER, Markus-Evangelium, 50. 59 FRICKENSCHMIDT, Evangelium, 351.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
76
Evangelien, die je für sich in unterschiedlicher Weise ausgestaltet worden seien.60 Eine Besonderheit des MkEv liege weder in der episodischen Gliederung des Textes noch in dessen breit entfaltetem Ende der Hauptperson, sondern lediglich „in der Einzigartigkeit der Person, von der es erzählt [...].“61 Auch Frickenschmidt kommt also nicht ohne die Feststellung einer Besonderheit der Gattung aus. Ähnlich wie Frickenschmidt zählte R.A. Burridge die Evangelien 2004 zu den „Graeco Roman 5“.62 Er macht zwar deutlich, daß der Bereich der „Biographie“ von vielen Seiten beeinflußt ist und deshalb viele „subgenres“ besitzt;63 dennoch erkennt er „a high degree of correlation between the features of the gospels and those noted in 5, indicating a shared family resemblance.“64 Der sich auf exemplarische Positionen beschränkende Überblick zeigt, daß keine der untersuchten Textsorten der Form der neutestamentlichen Evangelien exakt entspricht.65 Damit liegt die Annahme nahe, daß die Gattung der Evangelien eine Gattung sui generis ist; doch ist diese Klassifikation kein Gewinn. Zudem ist es unwahrscheinlich, daß das Christentum sich eine Form schafft, mit der es zwar sein Grundanliegen kommuniziert, die aber sonst keine Verbindungslinien zu der zeitgenössischen Literatur aufweist. Gerade an Orten, an denen auch und vor allem nichtchristliche Literatur produziert wurde – für das MkEv wird immer wieder Rom diskutiert –,66 sollte der Einfluß anderer Gattungen spürbar sein, wenn die eigene Literaturform auch in diesem Kontext rezipiert werden sollte. Dann ist aber neben der Annahme einer Gattung sui generis auch eine monokausale Ableitung der Gattung „Evangelium“ unwahrscheinlich.67 Ist „Evangelium“ zwar „keine völlige Neuheit“,68 so ist doch im Blick auf die vier neutestamentlichen Evangelien denkbar, daß mit den Evangelien und insbesondere dem MkEv als ältestem auf der Basis der Literatur der Umwelt eine neue Gattung geschaffen wurde:69 „[T]he Gospels do constitute a literary genre [...], but not a ‚unique literary genre‘.“70 Wesentlich daran ist, 60
Ebd. 196. Ebd. 351. 62 B URRIDGE, Gospels, 233. 63 Ebd. 63. 64 Ebd. 235. 65 Vgl. VORSTER, Ort, 21. 66 Vgl. SCHNELLE, Einleitung, 244f., 67 Ähnlich VORSTER, Ort, 21, und FRANKEMÖLLE, Begriff, 3. 68 FENDLER, Studien, 79. 69 KÖSTER, Einführung, 605. 70 GUELICH, Genre, 216. Ähnlich auch VORSTER, Ort, 21. 61
5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel
77
daß die neue Gattung drei spezifische Merkmale aufweist: Zum einen besitzt sie, wie etwa Lührmann gezeigt hat, unbestreitbar biographische Elemente, wenngleich der eigentliche biographische Rahmen durch das Ende des jeweiligen récit durchbrochen wird.71 Zum zweiten ist „Evangelium“ eine erzählende Gattung, weshalb C. Breytenbach sie als „episodische Erzählung“ charakterisiert hat. Er hat damit zum einen den Erzählaspekt betont, zum anderen die Tatsache, daß die Erzählung zwar einen Erzählbogen im ganzen entwirft, daß dieser sich aber Schritt für Schritt – in einzelnen Episoden – entwickelt.72 Für diese episodisch-biographisch Erzählung ist charakteristisch, daß sie „Jesus-Christus-Geschichte“ erzählt (vgl. 2.1.3): Schon der Inhalt mit dem besonderen Ende an sich macht also die Erzählung zu einer besonderen Erzählung. Es scheint auf dieser Basis sinnvoll, das MkEv als „biographische Erzählung“ zu bezeichnen.73 Der besondere Erzählinhalt, die histoire, legt es aber schließlich nahe, noch ein drittes – „das spezifisch Christliche des Werkes“ – hinzuzufügen.74 Das MkEv ist eine Erzählung von Jesus Christus, „told with a theological purpose.“75 Der Erzähler mißt dem besonderen Ereignis des Auftretens, Redens und Handelns Jesu besondere Bedeutung bei und erzählt von diesem besonderen Menschen, weil er auf diese Weise von Gott selbst erzählen kann. Das MkEv ist also eine biographische Erzählung von Christus, der in unlöslicher Verbindung mit Gott steht. Auf dieser Basis ist es angemessen, das MkEv als biographisch-theologische Erzählung zu bezeichnen und es in dieser Ausrichtung zur Grundlage der Textauslegung zu machen.
5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel 5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel
Im Rahmen einer Analyse von Mk 1,1-15 spielt der erste Vers eine besondere Rolle.76 Ist er die eigentliche Eröffnung des mk Gesamtwerkes, hat er die Funktion einer Überschrift bzw. eines Titels, oder ist er im technischen Sinne als Beschriftung zu verstehen?77 Wenn die Beobachtung zutrifft, daß 71
LÜHRMANN, Biographie. BREYTENBACH, Markusevangelium. Ähnlich auch T ELFORD, Mark, 13. 73 Vgl. MÜLLER, Wer ist dieser?, 178. Den Erzählcharakter betont neben VORSTER, Ort, 21, auch REDDISH, Introduction, 26. 74 FENDLER, Studien, 80. 75 REDDISH, Introduction, 26. 76 Grundsätzlich pessimistisch zeigt sich SCOTT, Birth, 83: „There is no obvious , despite Mark’s attempt to create one.“ 77 Die letzte Sichtweise nimmt in der Forschung eher eine Randposition ein. Zu nennen sind hier vor allem SCHMITHALS, Markus I, 73, der in Mk 1,1 einen „Hinweis des 72
78
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
der Erzähler im Eingangsbereich des MkEv durchgehend eine narrative Parallelisierung von Johannes dem Täufer und Jesus vornimmt (vgl. 5.1), ist weiter zu fragen, worauf sich Mk 1,1-3 eigentlich beziehen. Zu diskutieren sind als Bezugspunkte das ganze Evangelium und der Eingangsbereich des MkEv. Für die Erörterung dieser Fragen wird erneut der Terminus eine Rolle spielen; die Grundlagen dafür sind in 2.3 gelegt. D.E. Smith hat 1991 grundsätzlich drei verschiedene Typen narrativer Anfänge in der antiken Literatur benannt und charakterisiert: „preface“, „dramatic prologue“ und „incipit“.78 Dem folgt als kurze Andeutung das „virtual preface“. a) Preface: Das deutsche Äquivalent liegt im Bedeutungsbereich von „Einleitung“, „Vorwort“ und „Vorrede“. Im Griechischen wird dies als oder 1 bezeichnet, im Lateinischen als exordium. Smith nennt hier das LkEv als neutestamentliches Beispiel und zeigt folgende Merkmale auf: „a dedication“, „a reference to a request“, „an expression of the unwillingness of the author to write“, „a final expression of submission by the writer to the dedicatee’s request.“ Ein „preface“ hat damit in jedem Fall die Form einer geschriebenen Arbeit. b) Dramatic prologue: Der „Prolog“ hat die Funktion „to introduce the audience to the opening action of the drama. In comedy, a prologue would often apprise the audience of information unknown to the characters in the play.“79 Smith benennt die Tatsache, daß das MkEv mit dem Genre des Dramas verglichen worden ist und daß deswegen Mk 1,115 zu der Bezeichnung „Prolog“ gelangt ist. Ein „dramatic prologue“ ist in seiner Funktion als Teil einer Aufführung somit auch mündlich denkbar und nicht auf die Schriftform festgelegt. c) Incipit: Mit „incipit“, übersetzbar als „Anfang“, „Beginn“, „Einsatz“, „Einleitung“, oder auch „erstes Stadium“, wird nach Smith eine weniger festgelegte Form des Anfangs bezeichnet. Es genügt hierfür „a brief phrase to introduce a document or selection from a document.“80 Infrage kommen hierfür das MkEv, das MtEv, EvThom und Q, wobei die Annahme für Q hypothetisch bleibt. Sollte ein „incipit“ als Titel verstanden worden sein, so würde es in das Werk als Ganzes einführen, es definieren oder beschreiben. d) Virtual preface: Eine virtuelle Einleitung liegt nach Smith dann vor, wenn etwa Xenophon seine Arbeit „in medias res“ beginnt. 81 Weil das Thema nach Meinung des Autors keiner weiteren Einführung bedarf, wird auf ein übliches „preface“ verzichtet. Der Aufsatz von Smith stellt den Versuch dar, die Form speziell von neutestamentlichen Schriften über ihren jeweiligen Beginn durch den Vergleich mit antiker Literatur zu beschreiben. Für Mk 1,1-15 scheidet demnach „preface“ aus; das gleiche gilt für „virtual preface“, weil das MkEv sonst mit Mk 1,16 beginnen müßte. Die Frage, ob sich das MkEv als Komödie definieren läßt, ist allein durch die Untersuchung des „dramatic pro-
Abschreibers“ sieht, und HENGEL, Evangelienüberschriften, 23, der aber auch meint, daß „die Einleitung Mk 1,1 [...] zugleich die Funktion einer Überschrift besitzt.“ 78 SMITH, Beginnings, 1-9. 79 Ebd. 4. 80 Ebd. 81 Ebd. 6. Ein Beispiel für einen solchen Beginn nennt Smith nicht.
5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel
79
logue“ nicht zu beantworten.82 Damit wäre „incipit“ als Form naheliegend,83 nur ist diese Form gerade weniger festgelegt als die übrigen. Zudem wäre zu fragen, ob dann Mk 1,1 oder Mk 1,1-3 als „a brief phrase“ zu verstehen sind.
Das Besondere von Mk 1,1 liegt darin, daß gleich hier der Terminus erstmals im MkEv begegnet. In Mk 1,1 wie in Mk 1,14 ist dieser Terminus mit einem erläuternden Genitiv verbunden, in Mk 1,1 mit *$ 6 , in Mk 1,14 mit . Für Mk 1,1 ist die Frage, ob es sich bei *$ 6 um einen genitivus subjectivus oder um einen genitivus objectivus handelt, ob also von dem Evangelium die Rede ist, das Jesus Christus bringt, oder von dem, das Jesus Christus zum Inhalt hat. Die ältere Forschung hat die Wendung in Mk 1,1 als genitivus objectivus interpretiert. Dies hält bis in jüngere Zeit an.84 Ist Christus in dieser Sichtweise der Inhalt des Evangeliums, das MkEv also das Buch über ihn, so ist nach dem Verständnis von Mk 1,14 zu fragen.85 Dieser Vers kommt zum einen wegen der grammatikalisch gleichen Genitivverbindung in den Blick, zum anderen deshalb, weil die drei Belege von zusammen mit Mk 1,15 den ganzen Eingangsbereich des MkEv umfassen (vgl. 5.1). Gerade wegen dieser Nähe wäre zu vermuten, daß einen univoken Gebrauch aufweist. Mk 1,14 müßte dann bedeuten, daß Jesus in Galiläa das Evangelium verkündet, das Gott zum Inhalt hat – eine überaus abstrakte Vorstellung. Zudem wäre die Frage zu klären, warum
dann zwei verschiedene präzisierende Genitive bei sich hat. Leichter greifbar wäre es, wenn Gott als das Subjekt des Evangeliums, gleichsam als sein Veranstalter, verstanden werden sollte und Jesus diese Botschaft als Evangelium entsprechend in Galiläa verkündigt hätte. Damit würde Mk
82
Sicher wäre das MkEv damit auch keine Komödie in Reinform, sondern würde charakteristische Spezifika aufweisen, wie dies schon bei dem Versuch der Fall war, die Gattung des MkEv in eine vorhandene Kategorie einzuordnen (vgl. 5.2). 83 So auch BUNDY, Dogma, 70, und FOCANT, Fonction, 122: „la catégorie d’incipit pourrait bien convenir à Mc 1,1 et celle de prologue dramatique à 1,4-13.“ 84 Vgl. etwa WOHLENBERG, Markus, 37, PESCH, Markusevangelium I, 75, LÜHRMANN, Markusevangelium, 33, DECHOW, Gottessohn, 28. Anders etwa STRECKER, Evangelium, 503-548, und DAUTZENBERG, Zeit, 219-225.76-91. Dautzenberg schließt sich dabei Streckers Meinung explizit an, vgl. DERS., Zeit, 224. KLUMBIES, Mythos, 159, sieht für Mk 1,1 trotz seiner Hauptthese, das MkEv sei eine , vgl. ebd. 303, „keine Notwendigkeit, eine strikte Trennung zwischen der Darstellung in Buchform und dem aktuellen Vollzug der Evangeliumsverkündigung zu vollziehen.“ 85 Zu diesem Versuch vgl. besonders DAUTZENBERG, Zeit, 219-225. Vgl. auch DERS., Markusevangelium, besonders 11-14.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
80
1,14 als genitivus subjectivus aufgefaßt.86 Das würde aber bedeuten, daß die beiden Genitivverbindungen in Mk 1,1.14 einen äquivoken Gebrauch aufweisen, was wegen der identischen Konstruktion, der Nähe der Belege zueinander wie des Fehlens weiterer Belege schwierig scheint. Umgekehrt: Mk 1,14 wie Mk 1,1 könnten als genitivus subjectivus aufgefaßt werden. Das, was auf Mk 1,1 folgt, wäre dann das Evangelium, das Jesus Christus selbst verkündet hat. Mk 1,1.14 wiesen so einen univoken Gebrauch von auf. Die enge Zusammengehörigkeit beider Stellen wäre damit begründet, daß Mk 1,1 geradezu als Füllung von Mk 1,14f. verstanden werden könnte: Das Evangelium Gottes (Mk 1,14), an das geglaubt werden soll (Mk 1,15), ist genau das, das Jesus Christus gebracht hat. Allerdings ist auch diese Sichtweise problembehaftet, weil Mk 1,1 und Mk 1,14f. nicht auf der gleichen Erzählebene liegen: Mk 1,1 bietet eine Information, die nach Mk 1,2f. in die Vor-Zeit verweist (vgl. 6.1), während Mk 1,14 Erzählreferat und Mk 1,15 Figurenrede ist. Die Verbindung von Mk 1,1 und Mk 1,14f. tritt deutlicher hervor, wenn die Ausdrücke 5 und beachtet werden. Wie die Auslegung von Mk 1,15 zeigen wird, ist mit der Verkündigung Jesu laut Mk 1,15 die Zeit Jesu als eschatologische Zeit qualifiziert (vgl. 6.5). Jesus als Subjekt des Evangeliums würde also selbst in die Endzeit hineingehören. Dieser Gedanke wäre schwierig, wenn die Genitivverbindung in Mk 1,1 als genitivus objectivus verstanden würde, Jesus also selbst „nur“ Inhalt des Evangeliums wäre. Sind die Verse Mk 1,14f. geradezu der Prüfstein für das dem Text angemessene Verständnis von , so legt es sich für den Anfang des MkEv nahe, diesen gleichsam von hinten nach vorne zu lesen.87 Jesus Christus wurde nachösterlich selbst Teil der Verkündigung und also selbst Inhalt des Evangeliums.88 Seitdem zeigt sich *$ 6 auch im Sinne eines genitivus objectivus.89 Dieses Verständnis
86
Natürlich schließen sich auch für Mk 1,14 genitivus subjectivus und genitivus objectivus nicht aus, wie KECK, Introduction, 359, deutlich macht: „If Mark were faced with the question, Is this an objective or a subjective genitive, he would probably have said it was both: the God-given message about God.“ In seiner Nachfolge steht S ÖDING, Glaube, 217. 87 Vgl. nochmals DAUTZENBERG, Zeit, 233. Ähnlich auch MARXSEN, Evangelist, 100, der in Mk 1,1 die „abschließende Aussage der rückwärts gerichteten Kompositionsarbeit des Evangelisten“ sieht. 88 Vgl. ERNST, Markus, 32: Insofern Jesus Christus der Inhalt des Evangeliums ist, muß der Anfang als „Grundlage der christlichen Verkündigung verstanden werden.“ 89 Ähnlich MARXSEN, Evangelist, 90.99, ERNST, Markus, 32, und GNILKA, Markus I, 43. WEDER, Evangelium, 51, spricht sich erst für einen „genetivus objectivus“ [sic!] aus,
5.3 Mk 1,1 als Beschriftung, Überschrift oder Titel
81
der Genitivverbindung konnte sich von da an aber über die Bedeutung als genitivus subjectivus schieben.90 Aus einer späteren Perspektive ist somit festzustellen, daß der Ausdruck *$ 6 zwischen genitivus subjectivus und genitivus objectivus oszilliert.91 Das Problem, daß Genitivverbindungen im jeweiligen Kontext uneindeutig sind oder sein können, begegnet auch und in besonderer Dringlichkeit bei der paulinischen Formulierung 6 (Röm 3,22.26; Gal 2,16.21; 3,22; Phil 3,9; 1Thess 1,3). Dieser Genitiv ist allerdings in mehrfacher Hinsicht anders gelagert als der in Mk 1,1: Für das Syntagma 6 stehen mehr Textstellen in mehreren Schreiben als unmittelbare Vergleichsgruppe zur Verfügung. Es läßt sich deswegen zeigen, daß 6 philologisch und theologisch mit Sicherheit zuerst als genitivus objectivus zu verstehen ist, daß 6 in der wissenschaftlichen Diskussion darüber hinaus aber auch als genitivus subjectivus verstanden wurde.92 Im Kontext der paulinischen Theologie ist die Eindeutigkeit des Syntagmas hilfreich, weil es um soteriologisch relevante Zusammenhänge geht. Im Kontext des MkEv dagegen liegt die Stärke gerade in einem polyvalenten Verständnis von Mk 1,1, weil die folgende Erzählung dann in mehrfacher Hinsicht rezipierbar wird (vgl. 6.1): Das *$ 6 im Sinne eines genitivus objectivus ist so zunächst das MkEv, das von Jesus Christus erzählt und in dem das Syntagma thematisiert wird. Die von Mk 1,1 markiert in diesem Zusammenhang den Anfang des Vortrags über Jesus Christus. Als *$ 6 im Sinne eines genitivus subjectivus ist das MkEv darüber hinaus das Evangelium, das Jesus Christus bringt und in dem er sich als gleichsam selbst vorstellt. Die von Mk 1,1 bedeutet in diesem Zusammenhang den Anfang des Ereignisses Evangelium, das von Gott selbst initiiert wird. weist dann aber auch auf den Zusammenhang von dem durch Jesus verkündigten und dem als Jesus Christus verkündigten Evangelium hin. 90 Vgl. P OKORNÝ, Anfang, 120-122, der von „Doppeldeutigkeit“ spricht. D U TOIT, Herr, 284, geht davon aus, daß es sich um eine „absichtlich doppeldeutig formulierte Wendung“ handelt. Die Konsequenzen für die Bezeichnung des MkEv zeigt MÜLLER, Wer ist dieser?, 167, auf: „Die [...] Spannung zwischen der Verkündigung Jesu und dem literarischen Werk [...] ist [...] im Sinne einer Wechselwirkung zu verstehen.
kann für Markus zur Bezeichnung des Buches werden, weil sein zentraler Inhalt ist.“ 91 Schon MARXSEN, Evangelist, 77, sah, daß es nicht nur um die Alternative von genitivus subjectivus und genitivus objectivus gehen kann. Zuvor hielt KLOSTERMANN, Markusevangelium, 4 einen genitivus objectivus für das wahrscheinlichste, aber auch ein genitivus subjectivus und ein genitivus auctoris sei denkbar. Letztere Linie hat sich in der Diskussion nicht durchsetzen können. Vgl. auch DORMEYER, Kompositionsmetapher, 462: „Im Blickfeld der Metapher ‚Evangelium Gottes‘ ist Jesus Christus [...] Subjekt und Objekt zugleich“, denn „Subjekt- und Objekt-Sein bedingen sich gegenseitig.“ Vgl. DERS., Idealbiographie, 21. SCHNACKENBURG, Evangelium, 322, beurteilt die Verbindung von „genitivus subiectivus“ und „genitivus obiectivus“ als sachlich zutreffend, sieht aber zunächst einen Vorrang für den „genitivus obiectivus“. S CHOLTISSEK, Gott, 82, sieht Mk 1,1.14 als „gen. obj. et subj.“ an. Ähnlich auch KAMPLING, Israel, 34f.; vgl. BECKER, Markus-Evangelium, 104f., und B ORING, Mark, 30. 92 Vgl. ULRICHS, Christusglaube, 248-252.
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
82
Mit dem Verständnis von Mk 1,1 als genitivus objectivus geht oft die Bezeichnung von V.1 als „Überschrift“93 oder „Titel“94 einher. Das ist naheliegend, wenn V.1 als Inhaltsangabe des MkEv interpretiert wird.95 Das Verständnis als genitivus subjectivus könnte dahinter fast vollständig zurücktreten, doch wirkt Mk 1,14f. dem entgegen. Mit der Erzählung von der Evangeliumsverkündigung durch Jesus führt der Erzähler in das eigentliche Evangelium über, das in Mk 1,16 mit der Berufung der ersten Jünger beginnt. Mk 1,1-15 erscheint dann als Eingangsbereich des Mk, Mk 1,14f. als Tür zum Evangelium (vgl. 6.5). E. Haenchen machte, von Mk 1,1 als genitivus objectivus ausgehend, darauf aufmerksam, daß Markus nicht das Buch selbst „Evangelium“ nannte, sondern dessen Inhalt, so daß mit Mk 1,1 das ganze Werk charakterisiert und qualifiziert wird.96 Damit ist eine Unterscheidung gegeben, die in zweifacher Hinsicht zu bedenken ist. Sie ist zunächst gattungsgeschichtlich relevant (vgl. 5.2), und die Bezeichnung des MkEv als „Evangelium“ beinhaltet so zwei Werturteile: Zum einen unterstreicht sie die Würde der Schrift aufgrund ihres Inhalts, der Einmaligkeit der beschriebenen Ereignisse und der agierenden Erzählfiguren. Zum anderen ermöglicht die Bezeichnung „Evangelium“ wieder das Verständnis von Mk 1,1 im Sinne des genitivus subjectivus, weil sie deutlich macht, daß Jesus Christus das Heil bringt und daß also Gott selbst das Heil unter den Menschen wirkt. Mk 1,1 ist dann angemessen als „zusammenfassende Überschrift“97 zu bezeichnen. 93
So etwa bei W OHLENBERG, Markus, 36, KLOSTERMANN, Markusevangelium, 3, MARXSEN, Evangelist, 78, PESCH, Anfang, 111.113, HEIL, Mark, 29 („superscription“), und VAN IERSEL, Mark, 31. B ORING, Mark, 29, spricht erst von „the author’s original opening line“, dann aber durchgehend von „the author’s title to the whole Gospel.“ FREESE, Anfang, 429, meinte mit „Überschrift“ Mk 1,1-3. Von einer „überschriftartigen Verwendung von ‚Evangelium‘ an hervorragender Stelle Mk 1,1 im Vorwort seines Buches“ geht SCHENK, Evangelium, 47, aus. FOCANT, Marc, 31 spricht von „accès à l’évangile de Jésus Christ“. 94 So bei P ESCH, Markusevangelium I, 76, und B ORING, Beginning, 50. Explizit gegen die Bezeichnung von Mk 1,1 als „Titel“ ist G UTTENBERGER, Gottesvorstellung, 62, weil sie V.1 „auf die Verse 1-15 hingeordnet“ sieht. 95 Vgl. SCHMID, Markus, 14. Schmid will Mk 1,1 „aber nicht als Buchtitel“ verstanden wissen. MUSSNER, Evangelium, 502, stimmt Schmid zu. Ähnlich auch WEDER, Evangelium, 48. 96 HAENCHEN, Weg, 39. Ähnlich auch HEIL, Mark, 28, der meint, das MkEv sei „gospel“, allerdings „not yet in the sense of a title for the written document we know as ‚gospel,‘ [sic!] but in the sense of a public proclaiming of God’s good news or glad tidings.“ Vgl. auch MARXSEN, Evangelist, 87. 97 LÜHRMANN, Markusevangelium, 31. Ähnlich hat sich auch GNILKA, Markus I, 42 für die Bezeichnung „Zusammenfassung“ ausgesprochen, dabei aber das Verständnis als Überschrift des Buches abgelehnt.
5.4. Zur Frage der Zugehörigkeit von Mk 1,2-3
83
Diese Unterscheidung ist aber besonders für den Anfang des MkEv wichtig, weil hier nicht pauschal von dem *$ 6 die Rede ist, sondern speziell von der *$ 6 . Zu fragen ist also, ob damit tatsächlich das ganze Evangelium oder nur ein Teil bezeichnet ist. Geht man von der narrativen Parallelisierung Johannes des Täufers mit Jesus aus und berücksichtigt die inkludierende Stellung von in Mk 1,1.14.15, so scheint mit Mk 1,1 zunächst nur Mk 1,1-15 bezeichnet zu sein; der Anfang des Evangeliums würde also in den ersten 15 Versen liegen. Da sich in diesem Bereich aber wesentliche Weichenstellungen für das ganze MkEv finden und der Terminus zudem in unterschiedlicher Weise gefüllt wird, läßt sich sagen, daß in diesem Anfang das ganze Evangelium bereits enthalten ist.98 Das aber heißt tatsächlich, daß Mk 1,1 die Funktion als Überschrift für das ganze MkEv nur in Verbindung mit Mk 1,2-3.4-15 wahrnimmt.99
5.4. Zur Frage der Zugehörigkeit von Mk 1,2-3 5.4. Zur Frage der Zugehörigkeit von Mk 1,2-3
Auf den Eingangssatz *$ 6 7 8 folgt eine Zitatenkombination aus LXX, die als Zitat des Propheten Jesaja eingeführt wird, obwohl ebenfalls deutliche Anklänge an Ex 23,20 und Mal 3,1 vorliegen.100 Mk 1,2 % *! A 1- 0
, /
-
Ex 23,20 % 0
, 1= , ,/
Mal 3,1 = 0 , 5@ , ...
Mk 1,2 verbindet mit Ex 23,20, daß mit dem jeweils folgenden Satzteil eine Hypotaxe vorliegt. Mk 1,2c ist als Relativsatz konstruiert, Ex 23,20b dagegen als Finalsatz; Mal 3,1 bietet eine parataktische Konstruktion mit . Dies zeigt eher eine Zusammengehörigkeit von Mk 1,2 und Ex 23,20 an.101 Zudem haben die beiden hypotaktischen Konstruktionen im MkEv 98
LÜHRMANN, Biographie, 43. Vgl. COOK, structure, 138-140.172-174. 100 Vgl. die in Grundzügen ähnliche Übersicht bei FOCANT, Fonction, 125. 101 Ähnlich H AHN, Hoheitstitel, 376. Eine genauere Analyse nimmt auch K AMPLING, Israel, 36f., vor; vgl. dazu jetzt auch GATHERCOLE, Son, 250f. 99
5. Exegetische Grundlagen für Mk 1,1-15
84
und in Ex jeweils eine auf 0 bezogene erläuternde Funktion. Diese Konstruktion ist bei Mal 3,1 nicht so eng angebunden.102 Mk 1,2c ist in dieser Weise im Alten Testament nicht zu finden. Für Mk 1,3 sieht das so aus: Mk 1,3 1 5 - , 5,
Jes 40,3 1 5 >! 1 @ - 2 @ = 0 3 *$ . Wenn alle Menschen den Täufer und seine Verkündigung kennen, dann wissen auch alle, daß nach ihm der Stärkere kommen wird, der eine besondere Taufe mit sich bringen wird. Während sich das in Mk 1,8a nur an die intradiegetischen Adressaten richtet, wirken Mk 1,7b.8b metaleptisch, so daß jetzt insbesondere auch der Rezipient vom Kommen des Stärkeren weiß, obwohl er selbst nicht von Johannes getauft worden ist. Die nähere Schilderung der Kleidung des Täufers läßt den Täufer in der Rolle des Elia erscheinen. Wenn beim Rezipienten mit Mk 1,2 neben der Erinnerung an das Exodusgeschehen eine Erinnerung an Mal 3,1 eingespielt werden sollte, würde sich eine Brücke zu dem Gespräch Gottes mit seinem Sohn ergeben. Mk 1,6 hätte dann die Funktion eines Brückenpfeilers, von dem aus sich ein Bogen von Mk 1,2 zu Mk 9,2-13 spannt (vgl. 6.8). Mit Elia ist dreierlei verknüpft: die Erinnerung an seine (Wunder-) Taten in 1Kön (3Bas) 17-19.21; 2Kön (4Bas) 1, die Erinnerung an seine Entrückung in 2Kön (4Bas) 2 und die Erwartung seiner Wiederkehr nach der Weissagung in Mal 3,23. Schon die Wundertaten Elias machen ihn zu einer herausgehobenen Figur der Schrift. Die Weissagung in Mal 3 weist
134
6. Inhaltliche Textauslegung
ihm eine eminente Rolle im Endzeitgeschehen zu.118 Die Entrückung schließlich bringt ihn in eine besondere Nähe zu Gott, wird ein solches Ereignis doch nur von ihm und Henoch (Gen 5,22-24) berichtet. In dem Zusammenhang spielt nochmals der Jordan eine Rolle. Der Ort, an dem der Täufer wirkt, ist der Ort der Jordanüberquerung der Israeliten nach dem Exodus; es ist aber zugleich der Ort, an dem die Entrückung Elias stattfand, vgl. 2Kön (4Bas) 2,8-14. Was mit Mk 1,2 eingespielt wird, wird mit der Beschreibung der äußeren Erscheinung Johannes des Täufers gefestigt. Der Täufer erscheint als der geweissagte Wegbereiter Jesu Christi, der mit der Erfüllung seines Auftrages die endzeitlichen Ereignisse einleitet. Die Zeit, in der Christus auftritt, wird so als Endzeit charakterisiert. Weil Johannes der Täufer nicht über das dem Rezipienten in Mk 1,1-3 vermittelte Vorwissen verfügt, kann er als Erzählfigur die Übertragung der -Prädikation nicht leisten. Er muß vor dem Hintergrund der Schrift von einem Stärkeren ausgehen, der nicht Gott ist, der aber in enger Verbindung zu Gott steht. Was Johannes der Täufer nicht leisten kann, kann allerdings der Rezipient: Während der Täufer nur in groben Zügen um seine Vorläufer- und Wegbereiterrolle weiß, vgl. V.7f., kennt der Rezipient nach Mk 1,2f. den Kontext des Auftretens, Handelns und Verkündigens des Täufers. Die Beziehung, die Johannes der Täufer dabei zu Elia hat, ist für den Rezipienten vorerst nur zu vermuten, so daß er von diesem Moment an auf eine deutlichere Erklärung wartet. Wenn er Johannes den Täufer als wiedergekommenen Elia interpretiert hat, wird er feststellen, daß der Täufer nicht das erfüllt hat (Mk 6,14-29), was von Elia erwartet wird (Mal 3,23f.). Das Verhältnis zwischen beiden zu bestimmen, bleibt also vorerst die Aufgabe des Rezipienten (vgl. 6.8).119 Mk 1,7 löst eine mit Mk 1,3.4 geweckte Erwartung ein, indem das
5 01 verbalisiert und hörbar wird. Die Struktur von Mk 1,7f. ist chiastisch (V.7a: , V.7b: ; V.8a: , V.8b: ).120 Das aus Mk 1,2 war bisher lediglich narrativ eingelöst; jetzt kommt auch die 1 5 aus Mk 1,3 zu Wort. Mit der Ankündigung des Stärkeren durch den Täufer, der seiner eigenen Aussage nach kommt, wird an das
Gottes in Mk 1,2 angeknüpft.121 Damit betont der Täufer selbst seine Vgl. zum Ganzen JEREMIAS, *!() , und LAMBRECHT, *!. So auch FOCANT, Marc, 62, und B ORING, Mark, 41. 120 Vgl. HEIL, Mark, 32. 121 Ähnlich ebd. 118 119
6.2 Mk 1,4-8 – Der Auftritt Johannes des Täufers
135
Rolle als Vorläufer und bindet seine Rede von dem dezidiert an das Vokabular der Schrift an. Durch den mehrfachen Rückbezug zu Mk 1,2f. und dadurch, daß der Täufer seine eigene Rolle betont, wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das kommende Geschehen gelenkt. Mk 1,8a wirkt intern analeptisch und proleptisch zugleich, weil der Täufer noch für eine gewisse Zeit weiter wirkt. Dadurch, daß in Mk 1,9 die besondere Taufe des Stärkeren beschrieben wird, ist die Analepse intradiegetisch-repetitiv und die Prolepse intradiegetisch-kompletiv, weil die Taufe durch Johannes in Mk 1,911 erweitert und ausgestaltet wird und der Täufer ab V.10 keine Rolle mehr darin spielt. War der Auftritt des Wegbereiters nach der Ankündigung Gottes in Mk 1,2f. noch offen, so ist sie mit dem Auftritt Johannes des Täufers eingelöst.122 War aber in Mk 1,2f. der Sohn angesprochen, für den dieses ganze Geschehen durch Gottes Handeln in Gang gesetzt wurde, so steht dessen Auftreten noch aus. In bezug darauf wird – durch die ankündigende Rede des Vorläufers und seine Verweise auf den – die zuvor erzeugte Spannung aufrechterhalten und weiter gesteigert. Der Verweis auf die eigene Unwürdigkeit Johannes des Täufers hat abgrenzende Funktion und soll einer möglichen Verwechslung von Vorläufer und Nachfolger entgegenwirken. Mk 8,28 ( 7 8 *$
5 , 0 *! , 0 . 1 ) zeigt, daß diese Verwechslungsgefahr tatsächlich bestanden hat. Der Text in Mk 1,8 allerdings ist eindeutig formuliert, indem hier zum einen das des Täufers und das des Stärkeren, dann das 5 und das 5 , aber auch das und das gegenübergestellt werden. Dieser Hinweis auf die eigene Unwürdigkeit einerseits und der daraus resultierende Widerspruch zu der Taufe Jesu durch Johannes andererseits deuten darauf hin, daß selbst Johannes der Täufer seinen Nachfolger nicht erkannt hat.123 Weil keine der Erzählfiguren Mk 1,13 kennt, kann auch keine wissen, in welchem Kontext sie agiert. In der Erzählung über den Täufer fehlt der Hinweis auf den Nachfolger völlig. Die Verkündigung besteht in Mk 1,4 aus der Verkündigung der Taufe zur Umkehr und Sündenvergebung. Erst durch Mk 1,7f. geht die Verkündigung über die transponierte Rede in Mk 1,4 hinaus. Der Modus der Personenrede wechselt auf die Ebene der narrativisierten Rede und gibt so die Aussage distanziert und reduzierend wieder.124 Erst hier erfolgt die 122
So auch GUELICH, Mark, 26. Ähnlich STEGEMANN, Erwägungen, 103. 124 Für mimetische Rede wäre die Wiedergabe zu stark verkürzt und vereinfacht. 123
136
6. Inhaltliche Textauslegung
Ankündigung des Stärkeren und die Ankündigung einer neuen Taufe. Auch dieser Abschnitt endet mit wörtlicher Rede. Ohne sie wäre in Mk 1,7f. in bezug auf den Rezipienten zwar die Erfüllung von Mk 1,3 angedeutet, nicht aber die 1 hörbar und auch nicht die Vorläuferrolle des Täufers neu in Erinnerung gebracht. Wie aber ist die nicht im MkEv erzählte Geisttaufe Jesu in der Ankündigung Johannes des Täufers zu verstehen? Zunächst scheinen zwei Möglichkeiten in Frage zu kommen: Es kann sich um eine bewußte Auslassung des Erzählers handeln, eine Paralipse. Es kann sich aber auch um eine Verheißung handeln, die zeitlich außerhalb der Erzählung liegt, also um eine externe Prolepse. Gegen die Paralipse spricht, daß damit ein wesentlicher Teil der Verheißung Johannes des Täufers nicht eingelöst würde. Er wäre damit zumindest in dieser Hinsicht als ein unglaubwürdiger Bote dargestellt, was im Blick auf die intern-proleptische Verheißung des Auftretens des Stärkeren unwahrscheinlich wäre. Gegen die externe Prolepse spricht, daß die Geisttaufe dann zeitlich erst durch den Auferstandenen vollzogen worden sein kann. Sie müßte in den Bereich nach Mk 16,8 fallen. Auch dies ist unwahrscheinlich. Bedenkenswert ist die These, daß die Geisttaufe generell durch das Wirken Jesu realisiert wird. Sie würde dann mit seiner ersten Verkündigung in Mk 1,14f. beginnen und sich in seinen weiteren Worten und Werken fortsetzen.125 Der Erzähler entwickelt in Mk 1,4-8 durch die Verbindung der Figur des Elia mit dem Terminus aus Mk 1,1 ein eschatologisches Moment. Ist Johannes der Täufer der Bote, der auf den kommenden Christus hinweist, und wird seine Wassertaufe in nächster Zeit durch die Geisttaufe des Kommenden abgelöst, so beginnt bereits mit Johannes dem Täufer das eigentliche eschatologische Geschehen. In der Predigt Johannes des Täufers geht es damit um das eschatologische Heil, das mit der Geisttaufe Jesu hereinzubrechen beginnt.126 Damit ergibt sich eine Abgrenzung von Johannes dem Täufer und Jesus: Das Auftreten und die Verkündigung des Täufers wirken, als sei er einer der Schriftpropheten; die Verkündigung Jesu in Mk 1,14f. (vgl. 6.5) wird sich demgegenüber aber ganz anders anhören. Das in Mk 1,4-8 Erzählte ist durch Mk 1,2f. als bereits in der Schrift angelegt zu verstehen, das jetzt zur Durchführung kommt. Durch die Be125
Vgl. KLAUCK, Vorspiel, 89. B ORING, Mark, 42f., überlegt über Klaucks These hinaus, ob „Spirit-baptism may be a powerful metaphor for the gift of the Spirit that empowers Jesus’ disciples.“ 126 Aus dieser Perspektive ist es mit H AENCHEN, Weg, 43, möglich, Johannes selbst als eschatologische Gestalt zu charakterisieren.
6.2 Mk 1,4-8 – Der Auftritt Johannes des Täufers
137
zeichnung Jesu als , die nach Mk 1,1 wieder in Mk 1,9-11 erscheint, legt sich eine inclusio um Mk 1,4-8; die Bezeichnung wird mit der Erzählung von der Taufe wieder aufgenommen und narrativ entfaltet. 6.2.4 Zusammenfassung Mk 1,4-8 löst die ersten Verheißungen aus Mk 1,1-3 ein, so daß sich der Erzähler als glaubwürdiger Erzähler zeigt.127 Trotz der Erfüllung der ersten Verheißungen sind Spannungsbögen offen; insbesondere die Frage nach der Gottessohnschaft Jesu wird in der Erzählung über Johannes den Täufer höchstens andeutungsweise berührt. Der Rezipient wird so aufgefordert, den weiteren Text genau zu verfolgen. Indem der Text das Auftreten, Verkündigen und Handeln Johannes des Täufers erzählt, kommt die erste Verheißung Gottes an seinen Sohn zur Erfüllung. Der Täufer ist der Bote Gottes; er tritt vor dem Gottessohn auf und bereitet ihm den Weg. Erst im Rahmen der wörtlichen Rede in Mk 1,7f. wird dann auch die angekündigte 1 5 hörbar. Durch den Ort des Auftretens und der Taufe ist eindeutig, daß es sich wie beim Exodus und wie beim Ende des Exils um eine von Gott gelenkte Aktion handelt. Weil der Erzähler die breite Wirkung der Verkündigung schildert, weiß der Rezipient, daß alle Erzählfiguren in Judäa und Jerusalem über die nahe Zukunft informiert sind und mit dem Kommen des Stärkeren zu rechnen haben. Auf ihre Reaktion hat der Rezipient besonders zu achten. Mit der Charakterisierung des Täufers spielt der Erzähler auf Elia an. Erst in Mk 9,2-13 wird Jesus dazu Stellung beziehen. Während also in Mk 1,4-8 der Täufer über seinen Nachfolger redet, redet in Mk 9,2-13 der Nachfolger über seinen Vorläufer, den er selbst in Mk 1,2f. von Gott als solchen angekündigt bekommen hat. In Mk 1,7f. wird die 1 hörbar. Die Erzählung nimmt jetzt zum einen V.3 auf, zum anderen das
aus V.4. Die Erzählfigur Johannes weist selbst auf das Kommen des Stärkeren hin und grenzt sich durch den Hinweis auf die eigene Unwürdigkeit gegenüber dem Stärkeren wie durch den Verweis auf die Taufe des Nachfolgers von diesem ab. Johannes der Täufer zeigt so, daß mit dem Kommen des Nachfolgers das Ende seiner eigenen Verkündigung gekommen ist und weist damit intern-kompletiv proleptisch auf Mk 1,14 ( ) hin. 127
Diesen Aspekt betont B ORING, Mark, 46, zu Mk 1,9-11: „The heavenly voice confirms the narrator’s point of view as aligned with God’s own perspective; the narrator is reliable, and can be trusted to guide the reader through the unfolding story.“
6. Inhaltliche Textauslegung
138
Damit ist der Wegbereiter beschrieben, und auch seine wegbereitende Funktion ist aufgezeigt und narrativisiert. Das Thema „Sohn Gottes“ aus Mk 1,1 ist noch nicht wieder aufgenommen, so daß ein Teil der Ankündigung von Mk 1,1-3 weiterhin offen bleibt. Durch die Rede Johannes des Täufers (Mk 1,7f.) kommt die Ankündigung des Stärkeren hinzu, dessen grundsätzliche Überlegenheit über den Täufer und die Geisttaufe, die er vollziehen wird. Indem Christus also aus dem Munde Gottes und aus dem Munde eines Menschen verheißen ist, wird die Spannung, die mit Mk 1,1-3 aufgebaut wurde, gehalten und nochmals gesteigert. Der Rezipient erwartet weiterhin die narrative Entfaltung des Erzählkommentars über die Gottessohnschaft Jesu Christi. Er ist über die Wirkung der Verkündigung des Täufers informiert, die ganz Judäa und Jerusalem erreicht hat. Er wird beobachten, wie der Stärkere auftritt, was er verkündigt und wie die Menschen auf ihn reagieren werden. Speziell nach dem Hinweis von V.5, daß alle künftig auftretenden Erzählfiguren in Judäa und Jerusalem über das kommende Geschehen informiert sind, wird er darauf achten, ob die Erzählfiguren ihn als den angekündigten Stärkeren erkennen werden.
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes 6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
Seit Mk 1,1 besteht die Erwartung einer Wiederaufnahme der Gottessohnthematik. Daß der Erzähler sie bereits bei dem ersten Auftreten Jesu aufnimmt, zeigt die grundsätzliche Bedeutung dieses Abschnitts an. Indem die Gottessohnschaft Jesu bei der Taufe, der Verklärung und dem Tod Jesu thematisiert wird, legt der Erzähler einen Erzählfaden durch das Evangelium, der Bedeutung für das Ganze hat. Dieser Abschnitt steht damit in enger Verbindung zu Mk 9,2-13 (vgl. 6.8) und Mk 15,33-41 (vgl. 6.9). 6.3.1 Übersetzung 9 Und es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus aus Nazareth in Galiläa und wurde in den Jordan getaucht von Johannes. 10 Und sogleich, als er aus dem Wasser herausstieg, sah er, daß die Himmel sich spalteten und der Geist wie eine Taube herabstieg auf ihn; 11 und eine Stimme geschah aus den Himmeln: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
139
6.3.2 Analyse des Abschnitts Der Anschluß von Mk 1,9 an Mk 1,4-8 mit steht im Kontext von Mk 1,4: Der Auftritt des Johannes war in Mk 1,4 mit einem asyndetischen beschrieben worden (vgl. 6.2.2), den Auftritt Jesu in Mk 1,9 schließt der Erzähler mit einem syndetischen an. Mit Mk 1,9 setzt er die narrative Parallelisierung von Johannes dem Täufer und Jesus fort, und durch die Wendung synchronisiert er das Auftreten Jesu mit dem Zeitraum, in dem Johannes der Täufer auftrat und verkündigte.128 Das Handeln des Täufers, V.4f., und seine Verkündigung, V.7f., werden hier eingespielt und bilden den Hintergrund für die Taufe Jesu. Auch Jesus von Nazareth in Galiläa wird von der Verkündigung des Johannes erfaßt. Er fügt sich in die Menge ein, die zu Johannes kommt, vgl. V.5.8.9,129 doch ist diese Menge ab V.9 nicht mehr im Blick. Johannes wird jetzt nur noch namentlich genannt, sein Titel fehlt. Der Bezug zur Taufe in V.9 ist aber durch 5 und *$ unmittelbar gegeben. Jetzt bestätigt sich die Vermutung über das Verhältnis Johannes des Täufers zu Jesus (vgl. 6.2.3): „John does not recognize him. [...] He does not know what we know.“130 Ohne das Vorwissen aus Mk 1,1-3 weiß er weder, mit wem er es in Mk 1,9-11 zu tun hat, noch, in welchem Kontext er agiert.131 In V.9 ist der Täufer noch anwesend; ab V.10 aber ist nur noch von Jesus, dem Geist und der Stimme die Rede, so daß neben Jesus lediglich der Rezipient des Textes Zeuge des Geschehens wird. Wie in Mk 1,1-3 sind die übrigen Erzählfiguren ausgeschlossen: Sie nehmen an dem Geschehen nicht teil, und sie erlangen auch die mitgeteilten Informationen nicht.132 Johannes der Täufer tut mit Jesus, was er mit den übrigen Menschen zuvor getan hat, vgl. V.8 ( 5 ): Er tauft. Dabei besteht ein charakteristischer Unterschied. Johannes tauft die Menschen im Jordan ( *$ ), V.5, Jesus tauft bzw. taucht er in den 128
Ähnlich KAMPLING, Israel, 49. Vgl. LOHMEYER, Markus, 20. Anders OKO, Who then is this?, 63: „Coming to meet John [...] Jesus could not have been among the crowded audience of John’s preaching on baptism (1,4) all of whom are reported as coming from Judea and Jerusalem.“ 130 HOOKER, Beginnings, 15. 131 Vgl. KAMPLING, Israel, 51. 132 Vgl. P OKORNÝ, Gottessohn, 39: „Der Leser [...] muß von seiner Sohnschaft vom Anfang an wissen [...].“ Vgl. auch HOOKER, Beginnings, 16: „We know what no one in the story except Jesus knows, that whatever he does and says in the future will be done and said in the power and with the authority of God.“ Ähnlich auch B ORING, Mark, 45. 129
140
6. Inhaltliche Textauslegung
Jordan hinein ( *$ ), V.9. Ist grundsätzlich eine Bedeutungsunterscheidung von und schwierig,133 so fällt in Mk 1,1-15 auf, daß der Erzähler in bezug auf Johannes den Täufer und die Taufe zweimal (V.5.8) verwendet. Mit V.9 wechselt er zu ; er betont damit den dynamischen Aspekt der Taufe Jesu und des 5 der Taube
in V.10. Zudem entwickelt er so eine Überleitung zu V.10: In V.9 erzählt er von *$ , in V.10 von . Durch die Ereignisse unmittelbar nach der Taufe Jesu wird die Besonderheit seiner Taufe herausgestellt. Das *$ ist also – im Gegensatz zu *$ – ein erzählerisches Mittel zur Verlangsamung der Erzählung, eine narrative Zeitlupe, die es dem Erzähler ermöglicht, die Ereignisse nach der Taufe Jesu einzubauen. So ist diese Taufe von der Taufe der anderen Erzählfiguren abgehoben. Wichtiger als die Interaktion von Johannes dem Täufer und Jesus ist dem Erzähler das, was gleich nach der Taufe geschieht. Ein Sündenbekenntnis des Täuflings, das nach Mk 1,5 zum festen Ablauf der Taufe gehört, wird von Jesus nicht erzählt. Statt dessen beschleunigt jetzt der Erzähler mit seine Erzählung wieder. Noch während Jesus aus dem Wasser des Jordans heraussteigt, sieht er – nur er: 5 [...] –, daß sich die Himmel öffnen.134 Das Lexem : erscheint noch in Mk 15,38 und bezeichnet dort das Zerreißen des Tempelvorhangs (vgl. 6.9). Im Alten Testament findet sich das Motiv der Himmelsspaltung mehrmals (Gen 7,11 für Regen; Dtn 28,12; Mal 3,10 für Segen; Ez 1,1 bei der Berufung Ezechiels; Jes 24,28; 63,19 in apokalyptischem Kontext). Dieses apokalyptische Moment liegt auch in Mk 1,10f. vor.135 Gott redet jetzt erstmals innerhalb der erzählten Zeit nach Mk 1,2f., und auch diese Rede ist nur für den Sohn und den Rezipienten des Textes wahrnehmbar. Zwei Bewegungsrichtungen zeigt der Erzähler auf: Wie die Bewegung in den Jordan (5 *$ ) bzw. aus dem Wasser ( 5 ) in Korrespondenz stehen, so stehen auch das Heraussteigen Jesu ( 5 ) und das Herabsteigen des Geistes (5 ) in Korrespondenz.136 133
Vgl. BDR §205, besonders §205 1.2.4. Daß nur Jesus Zeuge der Himmelsöffnung ist, betont schon CRANFIELD, Baptism, 56. Die Plural-Form ist vom Alten Testament beeinflußt ( / ), vgl. GESK §88d. In LXX findet dieser Plural seine Nachahmung besonders in den Psalmen. Im MkEv sind sowohl die Singular- (4,32; 6,41; 7,34; 8,11; 10,21; 11,30.31; 13,25. 27.31.32; 14,62) als auch die Pluralformen (1,10.11; 11,25; 12,25; 13,25) belegt. 135 Vgl. auch MELL, Taufe, 166-170, FOCANT, Marc, 69, und B ORING, Mark, 45. 136 Vgl. besonders P ESCH, Markusevangelium I, 90. 134
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
141
Der Erzähler berichtet nach der Notiz von der Himmelsöffnung von dem Herabkommen des Geistes auf Jesus.137 Da die Vorstellung vom Herabkommen des Geistes recht abstrakt ist, unterstützt er sie durch das Bild der Taube. Die Lexeme und verbindet er durch , so daß der Geist wie eine Taube vorgestellt wird. Die Taube begegnet im MkEv nur noch in Mk 11,15 und steht dort als Opfertier in kultischem Zusammenhang. Hier eine Verbindungslinie zu ziehen, die ihren Weg über das Alte Testament geht, führt auf Abwege: „Probably no detail of the account of Jesus’ baptism has evoked so diverse a range of suggestions as has the dove.“138 Am naheliegendsten ist die Lösung, wenn eine wesentliche Unterscheidung vorgenommen wird: „The point is not a dove-like Spirit descending but the Spirit coming with dove-like descent.“139 Die Taube ist dann nicht mit dem Geist gleichgesetzt, sondern ist die „Gestalt [...], in welcher der Geist herabkam.“140 Ausgedrückt wird also durch „the gentle descent of the Spirit of God.“141 Das Lexem stellt eine intern-repetitiv analeptische Verbindung zu V.8 her (vgl. 6.2.2). Durch liegt aber auch eine internkompletive Prolepse vor, weil es der Geist ist, der Jesus in Mk 1,12f. in die Wüste treibt. Das Bild erinnert an Gen 1,2: 5
1 . Diese Verknüpfung ist deswegen zwar augenfällig, weil es hier um das wie um das Wasser geht, das bei der Taufe eine Rolle spielt,142 doch wird in Gen 1,2 die Bewegung des Geistes mit 1 beschrieben, so daß dieser Bezug nicht überstrapaziert werden sollte.143 Näherliegend ist es, eine Verbindung zu Jes 11,2 zu sehen: * , 1
, 5 , 5. Auch hier geht es um das , und hier ist angekündigt, daß der Geist auf dem Zweig aus der Wurzel Isais liegen wird.
137 Zur Strukturparallele von Mk 1,10 und Lk 10,18 vgl. M ARCUS, Vision, besonders 516-520. 138 KECK, Spirit, 41. 139 Ebd. 63. 140 HAENCHEN, Weg, 53. 141 MOLONEY, Mark, 37. 142 GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 67, sieht diesen Bezug zu Gen 1 bereits in Mk 1,2f. vorliegen. Sie versteht damit Gott schon bei der „Sendung als Schöpfer“. W UCHERPFENNIG, Markus, 233, betont wegen der Kombination aus :, und dem neuen Adam, um den es in Mk 1,12f. geht (vgl. 6.4), im ganzen die Schöpfung stärker. 143 Ähnlich LENTZEN-DEIS, Taufe, 133f.
142
6. Inhaltliche Textauslegung
Im MkEv ist 23mal in 22 Versen belegt. Der Terminus bezeichnet 14mal unreine oder negative Geister (Mk 1,23.26.27; 3,11.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,17.20.25), einmal das eigene Selbst (Mk 14,38) und achtmal den Geist, der mittelbar oder unmittelbar mit Gott in Verbindung steht (Mk 1,8.10.12; 2,8; 3,29; 8,12; 12,36; 13,11). Das Lexem zieht sich durch den Eingangsbereich des MkEv hindurch und verbindet Mk 1,4-8 mit 1,9-11 und 1,12f. Anders als in Mk 1,8 wird der Geist in Mk 1,10.12 als aktiv Handelnder beschrieben. Er erlangt in Mk 1,10 den Status einer Erzählfigur und nimmt in Mk 1,12 unmittelbar Einfluß auf das erzählte Geschehen.144 Jesus spürt dort am eigenen Leib, welche Wirkung der Geist zu entfalten in der Lage ist. Daß Jesus eine „Spirit-possessed person“ ist,145 ist also eine Besonderheit, die er anderen Erzählfiguren voraus hat, vgl. Mk 2,8. Zudem wird so die = Jesu angedeutet, von der erst in Mk 1,2128 explizit erzählt wird (vgl. 6.6).146 Mit V.11 setzt der hörbare Teil des Ereignisses ein. Daß die 1 für den Rezipienten als die Stimme Gottes zu identifizieren ist, macht die Anrede Gottes in Mk 1,2 deutlich ( 0 ,[...] ), die sich in den Worten an den Getauften spiegelt ( , [...] [...]). Gott entfaltet jetzt, was der Erzähler bereits in Mk 1,1 über den Sohn gesagt hatte. Diese Anrede Gottes wird häufig mit a) Ps 2,7, b) Jes 42,1 und c) Gen 22,2.12.16 in Verbindung gebracht.147 Mk 1,11 ...
, 9
144
Ps 2,7 ... G ,
-
Jes 42,1 $5, @ - $ , = @- 0 * , 0 =
Gen 22,2.12.16 H5 ,/ ,... F 5
... 1
*... 1 *,...
Ähnlich FOWLER, Reader, 16. B ORING, Mark, 45. 146 Sehr deutlich sieht dies SCHOLTISSEK, Gott, 78f. 147 SUHL, Funktion, 101, erkennt in Mk 1,11 „verschiedene atl. Anklänge“. Diesen Stellen gehen auch KAMPLING, Israel, 55-58, und KLAUCK, Vorspiel, 51-54, nach. 145
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
143
Dazu ist folgendes zu bemerken: a) Ps 2,7 klingt vor allem wegen der Übereinstimmung in V.7a an, weist aber gegenüber Mk 1,11 eine invertierte Wortstellung auf. V.7a legt den Aussageschwerpunkt auf die Sohnschaft, V.7b auf die Zeugung. Der Gedanke der Zeugung wird in Mk 1,11 nicht erwähnt, und er wird insbesondere durch den Hinweis auf das Auftreten der historischen Person *$ ?:' (V.9) ausgeschlossen (vgl. 6.1.3). b) Jes 42,1 betont die Erwählung des Knechtes durch Gott, nicht aber das Gefallen Gottes am Sohn (Mk 1,11). Ein Zusammenhang mit Mk 1,11 ergibt sich erst, wenn und aufeinander bezogen werden und aus Mk 1,10 hinzugezogen wird. Dann aber bleibt die Frage, in welchem Verhältnis und zueinander stehen. c) Gen 22,2.12.16 hebt das Verhältnis von Vater und Sohn hervor und thematisiert das Geliebtsein des Sohnes. Dabei ist aber die Erzählsituation eine andere: Gott redet nicht mit dem Sohn, und der, den Gott meint, ist nicht Gottes Sohn, sondern Abrahams Sohn.148 Gott redet seinen Sohn mit „identifizierend“,149 personal und konkret mit „Du“ an.150 Es geht weder um einen erwählten Knecht (Jes 42,1), noch um den Sohn eines anderen Menschen (Gen 22,2.12.16). Damit spricht alles für Ps 2,7a als Referenztext von Mk 1,11. Weil aber das Gewicht der Aussage nach Mk 1,2f. auf dem liegt, muß in Mk 1,11 die Wortstellung von Ps 2,7a invertiert werden.151 Die präsentische Aussage Gottes zeigt, daß die Gottessohnschaft Jesu schon besteht und nicht erst jetzt oder in Zukunft beginnt; Gott spricht den Getauften so an, wie es der Rezipient nach Mk 1,1 erwartet.152 Die Präsensform weist damit in bezug auf den Beginn der Gottessohnschaft Jesu extern-kompletiv analeptische Züge auf, in bezug auf Mk 1,1 intern-kompletiv analeptische Züge (vgl. 6.1.3).
148 Dennoch ist STEGNER, Theology, 13-31, dafür, Gen 22 zur Auslegungsgrundlage von Mk 1,9-11 zu machen. Einen Bezug zu Gen 22 hält auch LENTZEN-DEIS, Taufe, 192, für wahrscheinlich. HURTADO, Mark, 19f. spricht sich für ein Kombinationszitat aus, das aus Ps 2,7; Gen 22,2; Jes 42,1 besteht, obwohl sich das auf den Sohn Abrahams bezieht. 149 KAMPLING, Israel, 54. 150 Vgl. HEIL, Mark, 35. 151 Gegen MELL, Taufe, 163. 152 Vgl. DECHOW, Gottessohn, 34. Er sieht die Tauferzählung „als eine narrative Entfaltung der Aussage [...], die den Lesenden schon in Mk 1,1 mitgeteilt wurde: ‚Jesus ist der Sohn Gottes.‘“
144
6. Inhaltliche Textauslegung
Gott nennt Jesus und macht so die herausgehobene Stellung des Angesprochenen deutlich.153 Nach 6.1.2 ist hier der Terminus noch weiter zu verfolgen,154 jetzt speziell unter dem Aspekt der Relationalität. Die Termini „Vater“ und „Sohn“ sind aufeinander hingeordnet; wird der eine verwendet, verweist er immer zugleich auf den anderen (vgl. 1.6.2). War in 6.1.2 der Terminus in seinem Gebrauch unter anderem als Patronymikon bestimmt worden, so kann auch die Rede von dem als dieses Patronymikon verstanden werden. Der Erzähler bringt das „Zugehörigkeitsverhältnis“155 von Gott zu Jesus Christus und umgekehrt zum Ausdruck. Der Titel „Sohn Gottes“ ist von daher aus der Relation „der Vater – der Sohn“156 zu verstehen: Der Gebrauch des Patronymikons bildet gleichsam die Folie, vor der „Sohn Gottes“ zu sehen ist. Zugleich drückt der Erzähler die Innigkeit und Verbundenheit beider aus, die enger kaum vorstellbar ist.157 Das Lexem und seine Derivate kommen im MkEv viermal vor (Mk 10,21; 12.30.31.33), das Substantiv gar nicht und das Verbaladjektiv dreimal (1,11; 9,7; 12,6). An allen drei Stellen bezeichnet im Kontext von den von Gott „geliebten Sohn“. Das Lexem heißt „jemanden [...] gerne mögen“, „bevorzugen“ und kann zum Ausdruck der „Vorliebe Gottes für einen bestimmten Menschen“ werden.158 Alle drei Bedeutungen treffen zu, sind aber ohne das Gottes unvollständig: Das , das nur hier im MkEv steht, drückt die „affektvolle Empfindung der Liebe des Erwählenden“ aus.159 In Verbindung mit der Charakterisierung seines Sohnes als in Mk 1,11 hebt Gott die Einzigartigkeit seines Verhältnisses zu Christus hervor.160 Für die Interpretation der Erzählung von der Taufe Jesu wurden drei Modelle vorgelegt: a) Adoption, b) Berufung und c) Einsetzung. a) Ein Teil vor allem der älteren Forschung ist davon ausgegangen, daß es sich bei Mk 1,9-11 um die Adoption Jesu zum Sohn Gottes handelt (vgl. 1.4.2). Dieses Interpretationsmodell ist mittlerweile obsolet. Der Ausdruck „Adoption“ setzt voraus, daß jemand
153 Vgl. THEOBALD, Gottessohn, 58: „Christologisch besagt die Vorordnung der Taufperikope, daß dieses eschatologische Offenbarungsgeschehen an Jesus als Empfänger und Mittler des Gottesgeistes gebunden ist.“ 154 Vgl. zum jüdischen Hintergrund B ILL. 3, 15-22. 155 GRUNDMANN, Markus, 45. 156 Vgl. ebd. 43, und DERS., Sohn. 157 Mit DORMEYER, Testament, 223: „Zugleich ist die biographische Familie der Ideenspender für die Sohn-Gottes-Metaphorik, die mit 1,1.11 einsetzt.“ 158 QUELL / STAUFFER, , 36. 159 SCHRENK, , 738. 160 So auch MOLONEY, Mark, 37.
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
145
von jemandem als Kind angenommen wird, das er bis zu diesem Zeitpunkt für ihn noch nicht gewesen ist.161 Das bedeutet, daß damit die bisherigen Verwandtschaftsverhältnisse des Adoptierten aufgelöst und mit den Adoptierenden neu besiegelt und rechtskräftig werden. Im Blick auf Mk 1,9-11 ist diese Kategorie unangemessen. 162 Zum einen ist der Adoptionsbegriff dem Urchristentum wie dem Alten Testament fremd.163 Zum anderen: Der Aorist hat bei die Funktion eines perfektiven Präsens; er beschreibt einen Anfang, der zurückliegt, dessen Resultate aber weiterhin anhalten.164 Wenn Gott das Kommen Jesu Christi schon in der Vorzeit geplant hat (vgl. 5.4), dann stand dieser Kommende schon in der Vorzeit in einem engen Verhältnis zu ihm. Dies gilt um so mehr, als Gott seine Planung bezüglich des Evangeliums mit seinen eigenen Worten der Schrift belegen kann: Gott hat in Mk 1,2f. bereits gesprochen (vgl. 6.1.2). Also benennt die Gottesstimme „einen schon bestehenden Zustand und nicht ein Ereignis, das durch sie jetzt eintritt: ‚Du bist mein lieber Sohn‘.“165 b) Der Terminus „Berufung“ weist in den Bereich der Richter- und Prophetenerzählungen des Alten Testaments. Zum Motivinventar gehören dort die Vision eines ungewöhnlichen Ereignisses, die Audition der Stimme Gottes, der Auftrag, den der Berufene empfängt, möglicherweise ein Einwand, den der Berufene gegen seine Berufung vorbringt, dann die Überwindung dieses Einwandes und ein Zeichen, mit dem Jahwe die Berufung beglaubigt. Die Erzählung von der Taufe Jesu weist lediglich die Vision und die Audition auf; die übrigen Motive, insbesondere der Auftrag, fehlen.166 Von einer Berufungsvision oder -audition zu reden, legt sich damit nicht nahe.167 c) Der Ausdruck „Einsetzung“ scheint am angemessensten,168 jedoch nicht als Einsetzung zum Sohn Gottes, weil seine Sohnschaft nach Mk 1,1-3 schon seit der Vorzeit besteht. Das heißt, daß hier eine Einsetzung durch Gott stattfindet, die Gott schon seit der Vorzeit vorgesehen hat und die er jetzt vornimmt. 169 Im Blick auf die Würde Jesu Christi
161
MUSSNER, Ursprünge, 87, sieht in Ps 2,7 und 2Sam 7,13f. eine Adoptionsaussage. Ähnlich SCHWEIZER, Markus, 16; vgl. aber ebd. 17. Auch GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 15, und B ORING, Mark, 46, sprechen sich gegen ein adoptianistisches Verständnis aus. Sehr deutlich ist zu Recht HOFIUS, Zuspruch, 143: „Man kann die Perikope Mk 1,9-11 nicht schlimmer mißverstehen, als wenn man in ihr die Adoption des Menschen Jesus von Nazareth zum ‚Sohn Gottes‘ berichtet findet.“ 163 Vgl. BERGMAN / RINGGREN / BERNHARDT, , 407, und AMSLER, , 483. 164 Ähnlich D AVIS, Paradox, 12f.: „The aorist probably indicates that God’s pleasure in Jesus is already established and does not arise as a sudden whim; [...] Mark began his gospel with one of this rare biblical citations in order to show that the events he narrates are part of God’s longstanding plan (1.2-3).“ Ähnlich auch B ORING, Mark, 43: „[I]t refers to a specific event in past time.“ 165 HAENCHEN, Weg, 52. Kursivierung durch mich. 166 Anders SÖDING, Glaube, 248, der in der Basileia-Verkündigung den Auftrag Jesu sieht. 167 Anders HURTADO, Mark, 20: „But though the form of the calling here is like that of OT prophets, the substance of the call is to serve as God’s chosen Son!“ Anders auch GUELICH, Mark, 30. SCHMITHALS, Markus I, 82, sieht in der Taufe „nur“ den Anlaß für die Berufung Jesu. 168 So auch T ILLY, Johannes, 44. 169 Ähnlich CRANFIELD, Baptism, 62: „The voice is [...] to be understood [...] as a confirmation of His already existing filial consciousness.“ Anders GRUNDMANN, Markus, 45, der in Mk 1,11 die Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes erkennt. 162
146
6. Inhaltliche Textauslegung
legt es sich dann nahe, von Inthronisation zu sprechen.170 Im Zuge dieser Inthronisation wird der Rezipient etwas erwarten, mit dem der Inthronisierte ausgestattet wird, und der Erzähler stellt hier das als das dar, was Jesus bekommt.171
Gott zeigt in Mk 1,9-11, wie eng er mit seinem Sohn verbunden ist. Gott und Christus erscheinen so als Handlungseinheit. 6.3.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen Nach dem Vorlauf von Mk 1,1-3.4-8 betritt die Hauptfigur Jesus die Bühne. Seine Einführung wirkt schlicht; mit *$ ?: ' wird lediglich der Ort seiner Herkunft angegeben, keine Tätigkeit (vgl. Mk 1,4: 5: ), kein Beruf (vgl. Mk 1,16: ) wird daneben erzählt. Auch die Familie Jesu spielt hier – anders als in Mk 3,20f.; 6,1-6 – keine Rolle, so daß sein sozialer Hintergrund zunächst im Dunkeln bleibt.172 Daß es sich um die erste Nennung Jesu in der Erzählung handelt, markiert der Erzähler durch das Fehlen des Artikel vor *$ ; dieser steht ab Mk 1,14 anaphorisch vor dem Namen Jesu. Nach der Ankündigung Jesu durch Gott in Mk 1,1-3 können hier nähere Beschreibungen ausfallen. Das Auftreten Jesu wird mit in die Wirkungszeit des Täufers datiert und mit mit dessen Auftreten narrativ parallelisiert, vgl. Mk 1,4. Die Vorläuferrolle Johannes des Täufers wird so nochmals eingespielt. Jesus und Johannes treffen sich jetzt erstmals im MkEv, doch weiß Johannes nicht, mit wem er zusammentrifft; auch durch Mk 1,10b.11 erfährt er es nicht, weil er von der Vision und der Audition Jesu nach der Taufe narrativ ausgeschlossen wird. Neben die zeitliche tritt eine lokale Verknüpfung; Jesus kommt aus Nazareth in Galiläa zu Johannes dem Täufer. Der Täufer wird hier zum letzten Mal im MkEv in Aktion erwähnt. Daß er, von dem zuvor ausführlich erzählt wurde, ganz an das Ende von Mk 1,9 rückt, deutet seine Rolle im Vergleich zu Jesus an: Nicht um Johannes und sein Wirken geht es, sondern um Jesus. Narrativ wird so seine Wirksamkeit beendet, bevor seine Gefangennahme in Mk 1,14 zur Voraussetzung für das öffentliche Auftre170
Vgl. HÜBNER, Theologie III, 79. Eine falsche Beziehung stellt DU T OIT, Gottessohn, 40, her: „Die Geistbegabung Jesu konstituiert [...] die einzigartige Beziehung zwischen Gott und Jesus, die mit dem Prädikat ‚mein geliebter Sohn‘ bzw. ‚Gottessohn‘ zum Ausdruck gebracht wird.“ – Gerade das Umgekehrte ist der Fall: Weil Jesus der Gottessohn ist, bekommt er im Zuge der Taufe den Geist Gottes. 172 Ähnlich GUELICH, Mark, 31, OKO, Who then is this?, 63, FOCANT, Marc, 68, und B ORING, Mark, 44. 171
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
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ten Jesu wird. In Mk 1,14 ist von ihm nur noch passiv die Rede, und auch in Mk 6,14-29 ist er nur noch Objekt des Handelns anderer Menschen.173 In Mk 1,6 hatte der Erzähler Johannes den Täufer mit Zügen Elias beschrieben; in Mk 1,2 konnte durch den Verweis auf Ex 23,20 auch Mal 3,1 eingespielt und so an die endzeitliche Rolle Elias erinnert werden: Johannes der Täufer scheint also selbst die Rolle Elias übernommen zu haben. In Mk 1,9-11 ist von der letzten Begegnung von Jesus und Johannes dem Täufer erzählt. Elia allerdings wird Jesus noch begegnen, nämlich bei der Verklärung in Mk 9,2-13 (vgl. 6.8). Daß der Erzähler von der ohne Zeugen ablaufenden Taufe Jesu berichten kann, zeigt ihn weiterhin als auktorialen, als extradiegetischheterodiegetischen Erzähler. Er fokalisiert jetzt nicht mehr Johannes den Täufer, sondern die Haupterzählfigur Jesus. Die wörtlich wiedergegebene Rede Gottes in V.11b wirkt stark verkürzt, ist aber durch V.11a angemessen vorbereitet und hat entsprechend als mimetische Rede zu gelten. Weil keine Zeugen diese Rede Gottes miterleben, weil also niemand außer Jesus das darin mitgeteilte Wissen erfährt, wirkt die Gottesrede metaleptisch und adressiert den Rezipienten unmittelbar.174 Auch dieser Abschnitt endet wie Mk 1,1-3; 1,4-8 und 1,14f. mit wörtlicher Rede. Durch Mk 1,4 ist der Ablauf der Taufe angedeutet. Im Vergleich zu dem *$ in Mk 1,5 setzt der Erzähler in Mk 1,9 das Erzähltempo herab und erzählt die Taufe Jesu nicht so kurz wie bei der Menschenmenge zuvor, sondern langsamer und gleichsam in Zeitlupe. Auf das *$ folgt in Mk 1,10 das , und durch diese schrittweise Beschreibung des Vorganges schafft sich der Erzähler den Raum, in den hinein er das Besondere der Taufe Jesu erzählt, das sich im Anschluß an das Untertauchen ereignet. Der Jordan wird hier nicht mehr namentlich genannt, wesentlicher ist dem Erzähler das Element Wasser, in dem die Taufe Jesu stattfand. Die Zeitlupe bewirkt, daß das Fehlen des Sündenbekenntnisses bei der Taufe Jesu stärker in den Blick rückt. Der Rezipient wird aus der Aussage von der Gottessohnschaft in Mk 1,1 schließen, daß dieses Sündenbekenntnis nicht nötig ist, so daß es bei der Taufe dieses einen Besonderen ausfallen konnte. In der Rede Gottes in Mk 1,11 sieht der Rezipient dies durch das bestätigt. Implizit liegt eine intern-kompletive Prolepse zu Mk 1,12f. vor (vgl. 6.4). Dem Rezipienten wird jetzt erzählt, was Jesus beim Heraussteigen aus dem Wasser sieht, und er wird so neben Jesus zum einzigen Zeugen der 173 174
Vgl. auch KAMPLING, Israel, 51, und B ORING, Mark, 45. Ähnlich ebd. 59f.
148
6. Inhaltliche Textauslegung
Vision und der Audition. Daß die Himmel sich spalten, ist an sich schon ein besonderes Ereignis, markiert es doch vor dem Hintergrund der Schrift das Eingreifen Gottes in die Geschichte (vgl. 6.3.2). Im Kontext von Mk 1,10 hat das Spalten der Himmel vorbereitende Funktion für das, was unmittelbar danach passiert: Aus den gespaltenen Himmeln kommt der Geist herab, und mit dem Bild von der Taube visualisiert der Erzähler das Herabkommen des Geistes als sanftes Herabgleiten. In das Geschehen greift Gott in Mk 1,11 unmittelbar ein. Nicht mehr die 1 in der Wüste aus Mk 1,3.4-8 wird hörbar, sondern die Stimme Gottes aus dem Himmel. Gott spricht Jesus konkret und personal mit „Du“ an und macht mit dem Gebrauch der Präsensform deutlich, daß er mit seiner Aussage von der Gottessohnschaft Jesu etwas feststellt, was nicht erst jetzt, sondern schon längst gilt. Mit seiner Rede spielt Gott auf Ps 2,7a an, invertiert aber V.7a und legt so allen Nachdruck auf das . Er bezeichnet ausdrücklich Jesus Christus als seinen geliebten Sohn, an dem er Gefallen gefunden hat. Gott zeigt damit unmißverständlich, daß sein Verhältnis zu seinem Sohn einzigartig ist.175 Durch die Anrede mit dem betonten „Du“ und die Charakterisierung des Sohnes als , an dem Gott Gefallen hat, ist Mk 1,1 dann nicht nur entfaltet, sondern noch gesteigert, weil es jetzt nicht um einen Sohn Gottes geht, sondern um den Sohn Gottes, der im Kontext seines Evangeliums (Mk 1,1), das das Evangelium Gottes ist (Mk 1,14f.), verstanden werden soll (vgl. 5.3). Nach der steigernden Entfaltung von Mk 1,1 muß der Rezipient davon ausgehen, daß mit dieser besonderen Erzählfigur etwas ganz Besonderes geschehen wird. Der Erzähler steigert die Erwartungshaltung des Rezipienten, aber auch dessen Aufmerksamkeit. Was Jesus Christus tut und sagt, aber auch, was er erleidet, wird der Rezipient unter der besonderen Voraussetzung des herausgehobenen Gottesverhältnisses Jesu Christi wahrnehmen. In Mk 10,38f. weist Jesus auf die Taufe hin, mit der er getauft werden wird. Die Aussage überrascht, ist Jesus doch bereits in Mk 1,9-11 durch Johannes getauft. Mk 10,38f. steht im Kontext der Bitte der Zebedaidensöhne Jakobus und Johannes, in der = Jesu Christi zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen zu dürfen. Jesus fragt daraufhin, V.38: / 2 5 / 5:5 I Als die beiden Jünger bejahend antworten, sagt er weiter, V.39: / 5 / 5: 5 , [...]. Das Bild von dem aus der Hand Jahwes ist in LXX ein Gerichtsbild (vgl. Jes 51,17.22; Hab 2,16). Vor diesem Hintergrund ist das „Trinken des Leidenskelches [...] Bild für das [...] Auf-
175 TRAKATELLIS, Authority, 8, spricht von der „unique and supernatural Sonship of Christ“.
6.3 Mk 1,9-11 – Die Taufe Jesu als Inthronisation des Gottessohnes
149
sich-Nehmen des von Gott verhängten Leidens“, vgl. Mk 14,36.176 Indem Jesus und 5 gleichsetzt, weist er auf sein kommendes Leiden wie das der Zebedaidensöhne hin. Er bezieht 5 5 auf seine Passion. Das *$ (Mk 1,9) wirkt so wie das Eintauchen in die „Fluten des Todes“, das 5 (Mk 1,10) könnte ein Hinweis auf die Auferstehung sein.177
Die Rede Gottes in Mk 1,11 ist ein wesentliches Rezeptionssignal für die Erzählung, mit dem Gott den Rezipienten auf das Evangelium seines Sohnes (Mk 1,1) hinweist, das sein eigenes Evangelium ist (Mk 1,14f.). Er vermittelt – wie schon in Mk 1,2f. – die hermeneutische Richtlinie, nach der sein Evangelium rezipiert und interpretiert werden soll, und trägt selbst zum angemessenen Verständnis der Erzählung bei. Der Rezipient sieht sich einer Erzählergemeinschaft gegenübergestellt: dem Erzähler des MkEv, Christus als Erzähler des Evangeliums Gottes und Gott als Hermeneut des Evangeliums Jesu Christi. Dem Erzähler des MkEv verleiht dies für seine Erzählung besondere Autorität, wenngleich er immer der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler bleibt, der nicht als Erzählfigur in seiner Erzählung auftritt. Dadurch bleibt er von Gott und Christus abgegrenzt. Die Rede Gottes an seinen Sohn nach der Taufe ist nur dem Sohn und dem Rezipienten bekannt; die übrigen Erzählfiguren sind von dem hier Erzählten ausgeschlossen.178 Der Rezipient wie die Erzählfiguren sollen aber das Evangelium Gottes hören und sich entsprechend verhalten (Mk 1,14f.). Wie die Erzählfiguren dieser Aufgabe gerecht werden können, wird der Rezipient beobachten. Ihm selbst ist durch die bisherige Erzählung gezeigt, in welchem Kontext die erzählten Ereignisse zu verstehen sind und wer die Verstehensanweisungen dafür gibt. Das Thema der Gottessohnschaft Jesu ist durch diese Vorgaben zu einem Leitthema des MkEv gemacht. 6.3.4 Zusammenfassung In den Kontext der Tauferzählung stellt der Erzähler wesentliches Vorwissen, das der Rezipient zum angemessenen Verstehen des Erzählten benötigt.179 Damit sind diese drei Verse, die Jesu Taufe durch Johannes den Täufer und die folgende Vision und Audition beschreiben, bedeutend für die Orientierung des Rezipienten. Für den Rezipienten spannt sich bereits
GOPPELT, , 144. Kursive im Original gesperrt. KLAUCK, Vorspiel, 91. 178 PETERSEN, Perspektive, 80, spricht in diesem Zusammenhang von „transzendente[m] Wissen“. 179 Ähnlich schon BUNDY, Dogma, 74. Vgl. dazu auch FOWLER, Reader, 20f. 176 177
6. Inhaltliche Textauslegung
150
jetzt die Rede vom Sohn Gottes von Mk 1,1 zu Mk 1,11.180 Er wird diesen Erzählfaden in Mk 9,7 und Mk 15,39 aufgenommen sehen. Der Text rekurriert also schon in Mk 1,9-11 auf das in Mk 1,1-3 vermittelte Vorwissen und zeigt dem Rezipienten, daß die Gottessohnschaft Jesu Christi einen der Hauptstränge des Evangeliums bildet. Daneben ist durch die Rede Jesu von seiner noch kommenden Taufe in Mk 10,38f. ein Hinweis auf seine Passion gegeben. Die Erzählung von der Taufe in Mk 1,9-11 ist insgesamt von so fundamentalem Charakter, daß „alles folgende im Licht dieser Erzählung gelesen werden“ soll.181
6.4 Mk 1,12-13 – Die Versuchung Jesu als Erprobung des Gottessohnes 6.4 Mk 1,12-13 – Die Versuchung Jesu als Erprobung des Gottessohnes
Unmittelbar nach der Taufe teilt der Erzähler in Mk 1,12f. mit, wozu der Geist in der Lage ist. Zugleich beantwortet er die Frage, warum bei Jesus Christus das Sündenbekenntnis im Zuge der Taufe entfallen konnte. 6.4.1 Übersetzung 12 Und sogleich trieb der Geist ihn in die Wüste hinaus. 13 Und er war in der Wüste 40 Tage und wurde von dem Satan versucht, und er war mit den Tieren, und die Engel dienten ihm. 6.4.2 Analyse des Abschnitts Auf die Einsetzung folgt die Erprobung,182 und wie die Vision und die Audition Jesu nach der Taufe findet auch sie ohne Zeugen statt. Die Verbindung von Mk 1,12f. zu Mk 1,9-11 über ist eng. Mit diesem paßt der Erzähler die narrative Geschwindigkeit an und vermittelt den Eindruck, daß die Versuchung unmittelbar nach der Taufe stattfindet.183 Die Erwähnung von bedeutet eine terminologische Wiederaufnahme. Indem der Geist demonstriert, was er zu tun vermag, wird die in der Tauferzählung begonnene narrative Linie fortgeführt. Durch das rückbeziehende ist eindeutig, daß es sich bei dem Protagonisten um Jesus 180
ENSLIN, Artistry, 395, sieht Mk 1,1-3 als „crystal-clear prelude“ zu Mk 1,9-11. SCHMITHALS, Markus I, 87. Vgl. DU T OIT, Prolepsis, 185, der in Mk 1,9-15 den „Deutehorizont“ sieht, „auf dessen Hintergrund die darauffolgenden Erzählungen zu lesen sind.“ 182 Vgl. HURTADO, Mark, 20: „an ordeal“. 183 Ähnlich OKO, Who then is this?, 64. 181
6.4 Mk 1,12-13 – Die Versuchung Jesu als Erprobung des Gottessohnes
151
handelt. Das 5 zeigt, daß Jesus 0 getrieben wird. Im Kontext von Mk 1,4-5.9 ist dies auf den ersten Blick erstaunlich, fand doch die bisherige Handlung nach Mk 1,1-3 ausschließlich statt.184 Im jetzigen Kontext wird durch Mk 1,12 das Einsamkeitsmotiv noch stärker betont. Die folgende histoire ist ohne Zeugen und ohne Helfer Jesu zu denken, die über die in Mk 1,13d genannten 0 hinausgehen. Das Handeln des Geistes gibt der Erzähler im praesens historicum wieder. Dadurch wirkt die Erzählung so, als wäre der Erzähler direkt bei dem, was er erzählt. Der Geist übernimmt die Führung Jesu.185 Die Erzählung von der Versuchung Jesu trägt alttestamentliche Züge.186 Zunächst ist die Wüste als Ort des Geschehens zu nennen. Anders als in Mk 1,3.4.6 wird aber in Mk 1,12f. stärker das Moment des Lebensfeindlichen der Wüste aktiviert:187 Die Wüste erscheint als der Ort unberechenbarer Gefahren, als Wohnort wilder Tiere, von Dämonen188 und als Stätte der Erprobung und Bewährung. Damit wird die Wüste auch als der Wohnort Satans vorgestellt.189 Anders als zuvor ist sie jetzt nicht mehr der Ort der Predigt, sondern der Versuchung.190 Weil Jesus Christus allein in der gefahrvollen Wüste ist und von den Engeln versorgt wird, werden daneben Exodusmotive eingespielt, insbesondere die Erinnerung an das von Gott mit Manna und Wachteln versorgte Volk, vgl. Ex 16; Jos 5 und die Zusammenfassung in Dtn 8,2-4.191 Sodann fällt die runde Zahl von 40 Tagen auf, die die Versuchung Jesu andauert. Daß es sich dabei nicht um Einzelereignisse handelt, die zeitlich begrenzt innerhalb der 40 Tage auftreten, macht zum einen die imperfektiDiese Unschärfe ist traditionsbedingt, wenn der Erzähler mit eine Verbindung zwischen den vormals unverbundenen Stücken Mk 1,9-11.12-13 herstellt. Die Langfassung Q 4,1-13 macht zwei Alternativen denkbar: Entweder hat die Versuchungserzählung einmal als selbständige Einheit existiert, oder Mk 1,13 ist von Matthäus und Lukas mit Hilfe von Q-Stoff zu einer Szene ausgebaut worden. 185 Mit GNILKA, Markus I, 56, kann man sagen, daß der Geist positiv das Subjekt des Handelns ist. Vgl. auch B ORING, Mark, 47: The Spirit „operates with an almost violent power [...].“ B EST, Temptation, 10, betont, soweit ich sehe, als einziger: „The Spirit plays a surprising role: it drives Jesus towards Satan but does not assist him in his contest with Satan.“ Es ist fraglich, ob diese Sichtweise zutreffend ist, weil Jesus und der Geist seit Mk 1,9-11 in enger Verbindung zueinander stehen und kaum so getrennt betrachtet werden können, wie Best das hier tut. 186 So auch GUELICH, Mark, 38f. Zurückhaltend ist BEST, Temptation, 5f. 187 Vgl. KLAUCK, Vorspiel, 56, und B ORING, Mark, 39. 188 ERNST, Markus, 45. 189 Ähnlich LOHMEYER, Markus, 26, und P ESCH, Markusevangelium I, 94. 190 Vgl. LÜHRMANN, Markusevangelium, 39. 191 Ähnlich KLAUCK, Vorspiel, 56. 184
152
6. Inhaltliche Textauslegung
sche Formulierung des Verses deutlich, zum anderen das partizipial ausgedrückte versuchende Handeln des Satan. Durch den Hinweis auf die Geistbestimmtheit Jesu ist von Anfang an ausgeschlossen, daß Jesus der Versuchung erliegt, wenngleich dies nicht mitgeteilt wird.192 Das Bild vom Menschen bei den wilden Tieren lenkt den Blick auf das ursprünglich friedliche, paradiesische Zusammenleben von Mensch und Tier. Mit der Vertreibung aus dem Paradies war die Zeit der problemlosen Ernährung zuende, und durch die dann für den Menschen notwendige Landwirtschaft und Viehzucht ergab sich ein grundsätzlich problematisches Verhältnis von Mensch und Natur. Die Wiederherstellung des paradiesischen Zustandes mit dem friedlichen Zusammenleben von Mensch und Tier verheißt Jes 11,6-8. Weil dort wieder eintritt, was ganz am Anfang war, entwirft der Erzähler eine endzeitliche Szene. Vor dem Hintergrund der Schriftmotive – Wüste, die Zahl 40, der ursprüngliche und endzeitliche Frieden von Mensch und Tier – zeichnet der Erzähler Christus als den neuen Adam.193 Vom Geist in die Wüste, in „ein sehr eigenartiges und gefährdetes Paradies“ versetzt, hält Christus den Versuchungen stand.194 Mit ihm kommt die Verheißung des eschatologischen Friedens aus Jes 11,6-8 zur Erfüllung. Für ihn beginnt der Frieden bereits in der Wüste. Mit dem Handeln des Geistes wird so in Christus die künftige, die endgültige Überwindung des Satans bereits erkennbar.195 6.4.3 Rezeptionsästhetische Beobachtungen Wie zuvor ist der Erzähler der auktoriale, extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler. In Mk 1,12f. liegt die stärkste Asynchronie von récit und histoire vor, weil mit nur 30 Wörtern die Ereignisse von 40 Tagen erzählt werden. Mk 1,12f. erinnert an Mk 1,4-8, weil auch die dort erzählte histoire einen längeren Zeitraum andauerte.196 Anders als in Mk 1,4-8 findet sich aber in Mk 1,13 mit
die einzige Zeitangabe in Mk 1,1-15. Ein Vergleich der Verkündigungs- und Tauftätigkeit des Johannes und der Versuchung Jesu ist damit in bezug auf die jeweilige Dauer unmöglich.
192
Vgl. HOOKER, Beginnings, 17; vgl. auch FOCANT, Marc, 74: „Par ailleurs, les brèves informations qui donne Marc doivent bien indiquer une victoire de Jésus [...].“ 193 So PESCH, Markusevangelium I, 95f., GRUNDMANN, Markus, 47, ERNST, Markus, 46, und GNILKA, Markus I, 58. 194 KLAUCK, Vorspiel, 59; vgl. ähnlich B ORING, Mark, 48. 195 Mit ERNST, Markus, 46; vgl. auch HAENCHEN, Weg, 65. 196 Ähnlich OKO, Who then is this?, 64.
6.4 Mk 1,12-13 – Die Versuchung Jesu als Erprobung des Gottessohnes
153
Durch Mk 1,12f. erfährt der Rezipient, wie der Geist, der Jesus nach seiner Taufe ergriffen hat, handelt und wozu er in der Lage ist. Der Rezipient wird erwarten, daß dieser Geist das Leben Jesu mitbestimmen wird. War zuvor Johannes der Täufer als Wüstenbewohner geschildert worden, vgl. Mk 1,6, so sorgt jetzt der Geist dafür, daß auch Jesus für eine bestimmte Zeit zu einem Wüstenbewohner wird. Die narrative Parallelisierung beider findet also in dem Wüstenaufenthalt Jesu ihre Fortsetzung. Sorgt der Geist für die Parallelisierung von Johannes und Jesus, führt eine Linie von Mk 1,9-11 zu Mk 1,12f. Bereits bei der Taufe hatte den Rang einer Erzählfigur, und hier bestimmt der Geist Jesus komplett. Das ist als Subjekt die Erzählfigur, die dem Erzähler den Bericht von Mk 1,12f. ermöglicht. Der Geist wirkt so selbst wie der Erzähler dieses Abschnitts. Gleichzeitig erscheint er als Hermeneut, weil die bestimmende Rolle, die er hier übernimmt, grundlegend für die weitere Erzählung ist (vgl. 6.6) Der Verbindung von Jesus und dem Geist wird mit der kurzen Nennung des Satans ein Antagonist entgegengesetzt; Satan wird selbst zur Erzählfigur. Durch seine einfache Nennung wird ihm allerdings narrativ kein großer Platz in diesem Erzählabschnitt eingeräumt, so daß er Jesus sofort untergeordnet erscheint. Für alle Begegnungen Jesu mit bösen Geistern und Dämonen in der weiteren Erzählung ist das ein Vor-Urteil: Sie werden genauso wenig eine Chance gegen Jesus haben wie Satan in Mk 1,12f. (zu Mk 1,21-28 vgl. 6.6).197 Dennoch werden weitere Versuchungen auf Jesus wie die Jünger (Mk 14,38) zukommen, vgl. neben Mk 1,13 die Versuchung durch die Pharisäer (Mk 8,11; 10,2; 12,12). Mit Mk 1,13 ist dieser Erzählfaden angelegt; mit Mk 1,13 ist aber auch gezeigt, daß Jesus von seinem Weg nicht abzubringen ist.198 Der auktoriale Erzähler erzählt hier, was keine Zeugen hat. Die Erzählung dessen, was der Geist bewirkt, richtet sich also ausschließlich an den Rezipienten und stattet ihn mit grundlegendem Vorwissen für die weitere Erzählung aus, mit Wissen, über das keine andere Erzählfigur verfügt. Es fehlen Details dessen, womit der Satan Jesus versucht, doch würden diese Details von der Hauptaussage dieses Erzählabschnittes ablenken: Die histoire kann der Erzähler auch durch einen kurzen récit vermitteln, ohne Beispiele für die Versuchung im einzelnen nennen zu müssen. Der Erzähler setzt voraus, daß der Rezipient einen Bezug zu der Paradieserzählung herstellen kann. Keine spezielle Schriftkenntnis ist damit ge197 198
So auch HURTADO, Mark, 21, und B ORING, Mark, 48. Vgl. KLAUCK, Vorspiel, 93f.
6. Inhaltliche Textauslegung
154
fordert, lediglich auf Grundwissen kommt es an. Daß im Zuge der Taufe Jesu kein Sündenbekenntnis stattfand (vgl. 6.3.1), wird jetzt internkompletiv analeptisch bestätigt. Der Erzähler beschreibt Christus als den neuen Adam, der sich im harmonischen Zusammenleben mit der Natur befindet. Daß dann im Zuge der Taufe kein Sündenbekenntnis erzählt wurde, ist konsequent. Dieser neue Adam ist sündenfrei, und es ist kein Sündenbekenntnis nötig. Mk 1,12f. hat so als Entfaltung dieses Fehlens in 1,9-11 zu gelten. 6.4.4 Zusammenfassung Mk 1,12f. vermittelt basales Vorwissen für die weitere Erzählung.199 In diesem Abschnitt wird deutlich, warum das Sündenbekenntnis Jesu bei der Taufe ausfallen konnte, und so ist neben der Herausstellung der Besonderheit Jesu in Mk 1,9-11 ein weiterer Unterschied Jesu zu anderen Menschen betont. Man könnte Mk 1,12f. als Exempel für eine „erzählende Christologie“ bezeichnen.200 Weil hier aber die Erzählfigur ihre Macht demonstriert und der Geistbesitz in Mk 1,9-11 die besondere Betonung des Verhältnisses von Gott und Christus ist, ist es angemessener, diesen Abschnitt als Exempel für die narrative Theologie im engeren Sinne, die Theologie als Erzählung zu bezeichnen.
6.5 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“201 als Tür zum Evangelium 6.5 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“ als Tür zum Evangelium
Nach der Festnahme des Täufers und mit der Rückkehr nach Galiläa beginnt das öffentliche Wirken Jesu. Programmatisch geht es jetzt sofort um das und die 5 Gottes. Der Rezipient wird also gleich zu Anfang der Erzählung von Jesus auf das hingewiesen, was ihm im folgenden immer wieder begegnen wird. 6.5.1 Übersetzung 14 Nachdem aber Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa und verkündigte das Evangelium Gottes 15 und sagte: „Erfüllt ist die
199
Ähnlich DU T OIT, Prolepsis, 185. So P ESCH, Markusevangelium I, 95. 201 SÖDING, Glaube, 210. Ähnlich auch SCHNACKENBURG, Herrschaft, 49, und GNILKA, Gottesgedanken, 153. F OCANT, Marc, 76, spricht von der „Déclaration inaugurale“. 200
6.5 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“ als Tür zum Evangelium
155
Zeit, und nahe ist das Reich Gottes: Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ 6.5.2 Analyse des Abschnitts Mk 1,14f. stellt terminologisch und thematisch Bezüge zu Mk 1,1-13 her: Die Termini sind
Mk 1,4.7.14, Mk 1,1.14.15 und / Mk 1,4.14.15. Thematisch bildet die einleitende Formulierung von Mk 1,14 – *$
– eine nochmalige Verknüpfung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus, die aus Mk 1,1-13 bereits bekannt ist. Der Terminus legt sich dabei wie eine Klammer um den ganzen Eingangsbereich des MkEv, so daß Mk 1,14f. erzähltechnisch die Funktion einer inclusio bekommt.202 Der Erzähler gibt mit Mk 1,14f. eine sachgemäße Zusammenfassung der Wirksamkeit Jesu in Worten und Taten.203 Was Jesus in Mk 1,15 sagt, ist in ähnlicher Form in Q 10,9b belegt: 0 1* 5 . Denkbar ist, daß Mk 1,14f. in dieser Form vom Erzähler des MkEv gebildet wurde.204 Johannes der Täufer ist jetzt nicht mehr der Aktive, lediglich seine Auslieferung, seine Festnahme wird noch mit mitgeteilt,205 einem passivum divinum, das Gottes Handeln aussagt.206 Die öffentliche Wirksamkeit des Täufers ist beendet, und dieser Zeitpunkt ist der Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu. Die Auslieferung des Täufers wird zur Voraussetzung für das Auftreten Jesu, und das Schicksal Jesu wird im Schicksal seines Vorläufers vorabgebildet (vgl. 5.1).207 202
Ähnlich GRUNDMANN, Markus, 50, und B ORING, Beginning, 66. Ähnlich FOCANT, Marc, 79. SCHRAGE, Theologie, 138, weist auf die enge Verknüpfung von Theologie und Christologie im Nebeneinander der Umkehr- und der Nachfolgeforderung hin: „Umzukehren gilt es zu Gott, nachzufolgen gilt es Jesus. Beides aber gehört unlöslich zusammen.“ 204 Vgl. MUSSNER, Gottesherrschaft, 82. Vgl. auch LINDEMANN, Erwägungen, 19, der von dem „redaktionell geschaffenen ‚Summar‘“ Mk 1,14f. spricht; ebenso auch LOHMEYER, Markus, 29. Vgl. auch W EDER , Gegenwart, 41f. Anders PESCH, Markusevangelium I, 100, und SCHNACKENBURG, Evangelium, 321: „So stammt das ganze Summarium vom Auftreten Jesu als des Freudenboten Gottes sicherlich aus der Tradition; Markus hat es aber bewußt aufgenommen.“ Zu GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 40, vgl. 5.1. 205 Zu vgl. grundsätzlich P OPKES, Christus, besonders 143-145. 206 So auch SCHMITHALS, Markus I, 96, GRUNDMANN, Markus, 49, ERNST, Markus, 48, GNILKA, Markus I, 65, SCHOLTISSEK, Gott, 79, GUELICH, Mark, 42, und FOCANT, Marc, 77. 207 Mit LOHMEYER, Markus, 29, SCHWEIZER, Markus, 19, ERNST, Markus, 48, LÜHRMANN, Markusevangelium, 39, G NILKA, Markus I, 65, G UTTENBERGER , Gottesvorstellung, 63, und B ORING, Mark, 49. 203
156
6. Inhaltliche Textauslegung
Mit dem Auftreten Jesu wird die Ankündigung des Täufers – 0 – aus Mk 1,7 eingelöst,208 so daß Mk 1,14f. mit dem weiteren Evangelium als intern-kompletive Analepse zu Mk 1,7 zu verstehen ist.209 Aber noch mehr ist damit gesagt: Hatte Gott seinem Sohn in Mk 1,2f. den Wegbereiter angekündigt, so ist dessen Aufgabe als erfüllt anzusehen. Der Weg () für den Sohn ist bereitet, und der Sohn betritt diesen Weg jetzt unmittelbar. Mit Mk 1,14a ist dann gezeigt, wohin dieser Weg ihn führen wird. Die Auslieferung des Wegbereiters zeigt die kommende Auslieferung des Nachfolgers an. Das bedeutet also eine intern-kompletive Prolepse, die das ganze weitere Evangelium überspannt. Unter den Voraussetzungen von Mk 1,1-13 beginnt das Neue: „Mark’s Jesus is the victorious Son of God who returns from the testing-ground with the .“210 Mit Mk 1,14 wird der Erzählfokus auf Galiläa gerichtet: Das Wirken Jesu findet schwerpunktmäßig hier statt, bevor sein Weg ihn nach Jerusalem führt. Seine Tätigkeit in Galiläa wird mit
so beschrieben wie bei Johannes dem Täufer in V.4.7. Allerdings verkündigt Jesus nicht wie sein Vorläufer 5 01 , sondern .211 Der Genitiv ist wie *$ 6 in Mk 1,1 ein genitivus subjectivus. Gott wird als der betont, der das Evangelium initiiert. Ist Jesus Christus Inhalt des Evangeliums, ist in 1,14 eine christologische Aussage.212 Weil aber der mk Eingangsbereich die Stimme Gottes zur Geltung bringt, wird das MkEv im engeren Sinne theologisch fundiert. „Thema des Evangeliums wird [...] das Handeln Gottes an Jesus und durch Jesus sein [...].“213 Damit wird die Lesart von Mk 1,1 als genitivus subjectivus bestätigt: Wenn Christus das Subjekt des Evangeliums ist, dann ist nach Mk 1,14 eine theologische Aussage. Die wörtliche Rede Jesu in V.15 enthält vier Teile, von denen die letzten beiden aus den ersten beiden logisch folgen.214 Insgesamt wirkt V.15
208
So auch PETERSEN, Zeitebenen, 99, und HEIL, Mark, 40. Sollte die Überlegung richtig sein, daß mit der von Johannes verheißenen Geisttaufe in Mk 1,7f. das ganze Wirken Jesu gemeint ist, vgl. KLAUCK, Vorspiel, 88f., und 6.3.3, so kommt ab Mk 1,14f. auch diese Verheißung zur Erfüllung. 210 KECK, Introduction, 362. Vgl. ebd.: „vv. 14 f. […] serve as the explanation of vv. 12 f.“ 211 Darauf weisen auch HURTADO, Mark, 22, und GUELICH, Mark, 43, hin. 212 Mit MARXSEN, Evangelist, 88; ähnlich auch GNILKA, Markus I, 66. 213 KLAUCK, Vorspiel, 110f. 214 Mit REISER, Syntax, 144f. 209
6.5 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“ als Tür zum Evangelium
157
wie eine Zusammenfassung der Botschaft Jesu Christi.215 V.15a ist eine Zeitansage. Am Anfang steht mit ein passivum divinum, das Gott als den zeigt, der „die Zeit des Wartens zu ihrem Ende geführt“ hat.216 Dieses Ende ist mit näher bezeichnet, einem Ausdruck, der im MkEv fünfmal erscheint: Mk 1,15 Mk 10,29f.
Mk 11,13 Mk 12,2 Mk 13,33
... ..., 5 ..., ...
5 - 5, -0
Drei Belege (Mk 1,15; 10,29f.; 13,33) stehen in direkter Rede, zwei (Mk 10,29f.; 11,13) weisen mit einer näheren Beschreibung auf. Alle fünf Belege haben bedingt durch ihre jeweilige Formulierung oder durch den Kontext einen spezifisch theologischen Sinn von „Zeit“ als „Erntezeit“ (11,13; 12,2) oder „diese Zeit“ im Gegensatz zu der kommenden Zeit (10,30). Ist von der endzeitlichen Ernte, dem Gericht Gottes, die Rede, so wird eine Unterscheidung in diesen und den kommenden möglich. Nur die beiden Belege in Mk 1,15; 13,33 stehen absolut und in wörtlicher Rede, umschließen die drei übrigen und heben den einmaligen, unwiederbringlichen Zeitpunkt am Anfang des Wirkens und kurz vor dem Ende des Wirkens Jesu hervor. Bereits in LXX erscheint eine Gebrauchsweise des Begriffs, die eine „göttliche Bestimmtheit“217 zum Ausdruck bringt, vgl. Num 23,23; Ps 75,3 (@ 74,3); 119,126 (@ 118,126); Hi 39,18. Besonders im Kontext von bekommt damit eschatologischen Charakter. Der zweite Teil des ersten Aussagenpaares nimmt 5 in den Blick.218 Der Terminus 5 kommt 18mal im MkEv vor: An drei Stellen (3,24; 6,23; 13,8) ist damit das Reich im säkularen Sinne als „Weltreich“ oder „Königreich“ gemeint, in Mk 11,10 die 5 4 – ein Gebrauch, der nicht einfach dem von 5 215 Vgl. auch VOUGA, Glauben, 98, und PESCH, Markusevangelium I, 107: „Gottes Herrschaft ist nach dem Bericht des Markus der zentrale Begriff von Predigt und Lehre Jesu [...].“ 216 MUSSNER, Gottesherrschaft, 88; ähnlich G NILKA, Markus I, 66. 217 So DELLING, , hier 459. Kursiv im Original gesperrt. 218 Zur Entwicklung dieses Ausdrucks vgl. WOLTER, Gottes reich. Vorher grundlegend ist MERKLEIN, Botschaft. Die Belege im MkEv untersucht auch HAUSER, Herrschaft.
158
6. Inhaltliche Textauslegung
entspricht, der aber auch nicht unmittelbar mit dem weltlichen Königreich gleichgesetzt werden darf. An den übrigen 14 Stellen (1,15; 4,11.26.30; 9,1.47; 10,14.15.23.24.25; 12,34; 14,25; 15,43) geht es um das Reich Gottes. Mit 5 wird bezeichnet, was zugleich a) räumliche wie zeitliche Bedeutung besitzt und was sich zeitlich in der Spannung eines b) „jetzt schon – noch nicht“ befindet. a) Die räumliche Bedeutung ist vorherrschend, wenn die Rede davon ist, „in das Reich Gottes einzugehen“ (9,47), „in das Reich Gottes zu gelangen“ (10,25) oder „nicht fern vom Reich Gottes zu sein“ (12,34). Eine mindestens gleich starke zeitliche Bedeutung liegt vor, wenn gesagt wird, daß 5 „nahe herbeigekommen ist“ (1,15) oder daß „einige den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes sehen“ (9,1). Mindestens vier Stellen (4,26.30; 11,10; 15,43) weisen beide Bedeutungen gleichzeitig auf. b) Mit dem Ausdruck 5 ist die Spannung eines „jetzt schon – noch nicht“ verbunden.219 Augenfällig ist diese Spannung für Mk 1,15, wenn die Rede davon ist, daß 5 „nahe ist“.220 Das Verb : steht im Perfekt und „bezeichnet einen Zustand als Resultat einer vergangenen Handlung [...].“221 Auf diese Weise wird etwas formuliert, was unmittelbar bevorsteht: „Die Nähe der Gottesherrschaft wird dann in dem Sinne verstanden, daß es nur noch kurze Zeit dauert, bis sie kommt.“222 Mit 5 liegt ein genitivus subjectivus vor, der Gott als den bezeichnet, der die 5 wirkt.223 Die Form 0 ist ein implizites Passiv, das aussagt, daß Gott seine 5 nahe herbeigebracht hat. Die Rede von der 5 hat den Charakter eines Ereignisses. Weil dieses Ereignis außer in Mk 15,43 ausschließlich in der Figurenrede Jesu thematisiert wird und weil Jesus und Gott in enger Beziehung zueinander stehen, ist das Kommen der 5 an das Kommen Jesu geknüpft.224 Umgekehrt und auf die -Aussage erweitert: Mit dem 219 Diese Dialektik von „jetzt schon – noch nicht“ sehen auch WOHLENBERG, Markus, 52, SCHMITHALS, Markus I, 102, GRUNDMANN, Markus, 50, und ERNST, Markus, 52. 220 So auch WEDER, Gegenwart, 42. 221 BDR §318. 222 WEDER, Gegenwart, 44. Vgl. auch DU T OIT, Prolepsis, 169: „Die bedeutendste implizite Prolepse des Evangeliums findet sich in 1,14 [sic!]: Die Aussage ‚Das Gottesreich ist nahe (herbeigekommen)‘ impliziert auch, daß das Reich Gottes bald kommen wird (vgl. Mk 9,1).“ 223 SCHMITHALS, Markus I, 101, redet von „göttlicher Initiative“. So auch SÖDING, Glaube, 214, der Mk 1,15 als das „Basileia-Handeln Gottes“ versteht. 224 So auch HEIL, Mark, 42, und B ORING, Mark, 50.
6.5 Mk 1,14-15 – Das „Programmwort Jesu“ als Tür zum Evangelium
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Kommen Jesu ist der erfüllt, und mit Jesus kommt die 5 . Derjenige, der hier von der 5 spricht, ist also der, der sie einleitet. Die Rede Jesu ist performative Rede.225 Unter diesem Aspekt ist es angemessen, 0 zu übersetzen mit „hat sich genähert und ist nun da“.226 Das zweite Aussagenpaar beginnt mit einem asyndetisch angeschlossenen, konsekutiven Imperativ. Die Imperative könnten also sachlich richtig mit „deshalb“ angeschlossen werden.227 Jesus fordert dazu auf, Konsequenzen aus seiner Zeit- und 5 -Ansage zu ziehen. Er fordert Umkehr und Glauben. Das im MkEv seltene Lexem / erscheint hier zum zweiten Mal (vgl. 6.2.2). Im Munde Jesu und in direkter Rede begegnet es nur hier. Gleich zu Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu wird so seine Hauptforderung eindringlich und unmittelbar kommuniziert.228 Wirkt Jesus zwar zunächst wie einer der alttestamentlichen Propheten,229 der zur Umkehr aufruft, vgl. Jes 46,8; Jer 18,8; 38,19; Joel 2,13.14; Jona 3,9.10; 4,2, so liegt aber der Unterschied zu der alttestamentlichen Prophetie darin, daß die Heilszusage Gottes vor der Umkehrforderung erfolgt. Die Umkehr steht im Licht der kommenden 5 . Darin besteht der Unterschied der Verkündigung des Täufers und der Verkündigung Jesu: Beide rufen zwar zur auf, doch steht der Aufruf Jesu im Kontext des , das er selbst bringt. Das Lexem steht zehnmal im MkEv (1,15; 5,36; 9,23.24.42; 11,23.24.31; 13,21; 15,32), wobei sich die Belege erst ab Mk 9 häufen und zwischen Mk 1 und Mk 5 eine große Lücke liegt. Das Substantiv findet sich nur fünfmal im MkEv.230 Das Verb hat im MkEv drei Aussagerichtungen: Es überwiegt der Gebrauch im Sinn von „glauben an“, jeweils konstruiert mit , oder ; einmal steht mit Dativ in der Bedeutung „jemandem glauben“, „vertrauen“ (Mk 11,31), einmal in der Bedeutung „etwas glauben“, „für wahr halten“ (Mk 13,21). Umkehr und 225
Ähnlich TRAKATELLIS, Authority, 9: „[T]his ‚time is fulfilled‘ has its consummation in the person and work of Christ [...].“ 226 Zum Aspekt von Zukunft und Gegenwart vgl. LUZ, 5 , 484. Zur Diskussion um die angemessene Übersetzung von 0 vgl. BERKEY,