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German Pages 252 [261] Year 2018
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor
Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Paul-Gerhard Klumbies
Das Markusevangelium als Erzählung
Mohr Siebeck
Paul-Gerhard Klumbies; geboren 1957; Studium der Ev. Theologie in Bethel, Erlangen, Hamburg und Münster; 1988 Promotion; 2000 Habilitation; 1993–2004 Professor für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg i.Br; seit 2004 Universitätsprofessor für Biblische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung des Neuen Testaments an der Universität Kassel.
ISBN 978-3-16-154857-4 / eISBN 978-3-16-156278-5 DOI 10.1628/978-3-16-156278-5 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Der vorliegende Aufsatzband vereint dreizehn Beiträge zur Interpretation des Markusevangeliums als Erzählung. Neun der Aufsätze erschienen im Zeitraum der Jahre von 2006 bis 2017. Hinzu kommen zwei ältere Artikel aus den Jahren 1988 und 1989: ein ursprünglich in italienischer Sprache erschienener und jetzt neu bearbeiteter Beitrag zur Epilepsie bei Markus und den Seitenreferenten sowie ein Aufsatz zu den Sabbatheilungen Jesu, in dem sich methodisch der Umschwung von der seinerzeit noch dominierenden form‑ und redaktionsgeschichtlichen zur narratologischen Auslegung ankündigt. Zwei forschungsgeschichtliche Studien zu wirkungsgeschichtlich einflussreichen Markusinterpretationen wurden eigens für diesen Band verfasst: William Wredes Messiasgeheimnistheorie und Willi Marxsens redaktionsgeschichtliche Markusauslegung werden jeweils auf die in ihnen zur Entfaltung kommenden zeitgeschichtlichen Einflüsse hin untersucht. In der Summe sind die in diesem Buch vorgelegten Beiträge von erzähltheoretischen Überlegungen geleitet. Das heißt, sie unterscheiden bei der Interpretation des Markusevangeliums methodisch durchgängig zwischen der erzählten Welt der endzwanziger Jahre und der Erzählwelt im Übergang vom siebten zum achten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts. Sichtbar gemacht werden vorrangig die Verbindungslinien bei der Gestaltung der erzählten Welt. Auf der Basis der formgeschichtlichen Annahme einer fragmentarisierten Überlieferung heterogener Traditionen und ursprünglicher Eigenständigkeit der Perikopen konnten diese Zusammenhänge entweder nicht bzw. in späterer Zeit unter Anwendung der redaktionsgeschichtlichen Methode nur teilweise in den Blick kommen. Die Wahrnehmung des markinischen Gesamtwerkes als einer einheitlichen Erzählung stellt damit in methodischer Hinsicht zugleich eine kritische Rückfrage an die Tragfähigkeit des klassischen historisch-kritischen Instrumentariums dar. Für die Möglichkeit, den Aufsatzband zu veröffentlichen, danke ich dem Herausgeber der Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament“, Herrn Professor Dr. Jörg Frey, und dem Geschäftsführer des Verlags Mohr Siebeck, Herrn Dr. Henning Ziebritzki. Frau Katharina Gutekunst danke ich für die umsichtige Begleitung des Publikationsprozesses. Für die Übersetzung der vorangestellten Kurzzusammenfassungen ins Englische gilt mein Dank Frau Antje Vent, für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage meiner
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Vorwort
Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Kristina Bierich und für seine Hilfe bei der Anfertigung der Register meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Lukas Schade. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlagshauses Mohr Siebeck haben mit ihrer Sorgfalt bei der Herstellung des Buches dazu beigetragen, dass der Band in der vorliegenden Gestalt erscheinen konnte. Kassel, im Januar 2018
Paul-Gerhard Klumbies
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Hinführung: Vom Quellenautor über den Sammler und Tradenten zum Redaktor und Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts . . . . . . . . . 7 Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium . . . . . . . . . . 55 Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6 . . 74 Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese . . . . . . . . 111 Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 In Stufen zur Einsicht: Die Blindenheilung in Mk 8,22–26 . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Dämonisierung der Epilepsie in Mk 9,14–29 parr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . 175 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Das Markusevangelium im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vom Quellenautor über den Sammler und Tradenten zum Redaktor und Erzähler Das Werk, das traditionellerweise mit dem Namen Markus verbunden wird, besitzt eine wechselvolle Geschichte. Über Jahrhunderte hinweg galt das Markus zugeschriebene Evangelium neben den Evangelienschriften eines Matthäus, eines Lukas und eines Johannes als Leichtgewicht. Sein geringer Umfang, das Fehlen von Überlieferungen, die für das kirchliche Jesus-Christus-Bild als zentral galten, sowie seine für schlicht befundene theologische Substanz ließen den zweiten Evangelisten lange Zeit im Schatten der übrigen Evangelienschreiber stehen. Selbst unter aufgeklärten Auspizien hatte Markus Mühe, das Image abzustreifen, lediglich das kurzgefasste Referat seiner voluminöseren Vorbilder Matthäus und Lukas abzugeben. Mit der Feststellung der Markuspriorität und der Durchsetzung der Zweiquellentheorie in den 1830er Jahren konnte das markinische Werk immerhin den Status des ältesten Evangeliums für sich beanspruchen. Das war kein Geringes, hatte Markus doch nun zum ersten Mal einen Vorsprung gegenüber Matthäus und Lukas erlangt. Dass dieser auf den ersten Blick rein chronologischer Natur war, tat der Bedeutung keinen Abbruch. Aus dem zeitlichen Vorrang resultierte eine sachliche Prävalenz; denn aus der Feststellung des Altersvorsprungs folgerte die Evangelienforschung, dass künftig alle exegetischen Wege zum historischen Jesus über die markinische Evangelienschrift führten. Über Nacht hatte das im Vergleich zu den anderen Evangelien kurze Markusevangelium einen gewaltigen Bedeutungsschub erhalten. Als historische Quelle gelesen versprach es den unmittelbarsten und nächsten Zugang zu Jesus als historischer Persönlichkeit. Fieberhafte Bemühungen setzten ein, um als exegetisches Destillat das Bild des authentischen Jesus der endzwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts zu zeichnen. Bekanntermaßen scheiterten die Versuche des 19. Jahrhunderts allesamt an zwei Klippen: Die eine lag in den Zugangsweisen zum Gegenstand. Die biographische Forschung des 19. Jahrhunderts folgte weitgehend dem Gedanken, dass das Ziel einer historischen Monographie über eine herausragende Gestalt der Vergangenheit darin liege, deren sittliche Entwicklung nachzuzeichnen. In dieser Hinsicht bot das Markusevangelium wenig Material. Letztlich schildert es nur einige Monate der Lebenszeit Jesu während dessen letztem Lebensjahr. Die dazu vorliegenden Überlieferungen sind zum zweiten lückenhaft und erscheinen einer auf Entwicklung ausgerichteten Optik als un-
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geordnet, austauschbar und wenig aussagekräftig. Die Fixierung auf den im 19. Jahrhundert üblichen Zugang zur Lebensgeschichte einer bedeutenden Persönlichkeit ließ das „Material“ des Markus als unzureichend erscheinen. Selbst die Hinzunahme der Logienquelle und des Matthäus‑ und Lukasevangeliums konnten die prinzipiellen Probleme der Forschung zum historischen Jesus im 19. Jahrhundert nicht beseitigen, und so scheiterte die Bewegung – populär und prominent in der wirkmächtigen Untersuchung von Albert Schweitzer auf den Punkt gebracht.1 Die Ära des Markus als Lieferant einer historischen Quelle für die Jesusforschung war zunächst beendet. Erst mit dem Aufkommen der third quest fast einhundert Jahre später wurde an diese Versuche neu angeknüpft. Mit dem Aufkommen der Formgeschichte nach dem Ersten Weltkrieg wurde Markus eine neue Rolle zugeschrieben. Karl Ludwig Schmidt2 stellte den Perikopen‑ und Fragmentcharakter der synoptischen Überlieferung fest. Markus galt ihm als Sammler und Tradent. Wieder wurde Markus wie schon im 19. Jahrhundert als Diener einer Aufgabe gesehen. Allerdings galt er nicht mehr als Übermittler einer durchgehenden Quelle, die allenfalls literarkritisch noch zu ordnen und ggfs. umzustellen war. Vielmehr wurde er nun als eine Person oder Instanz betrachtet, die vielerlei einzeln umlaufende Überlieferungssplitter zusammentrug, aufbewahrte und schließlich edierte. Seine Rolle hatte sich verändert; aber wiederum galt er als derjenige, der einer engagierten Forschung die Basis bereitstellte für deren „eigentliche“ Interesseleitung, nämlich auf der durch Markus gegebenen Grundlage Licht in das Dunkel der vorschriftlichen mündlichen Überlieferungsphase zu bringen. Bekanntlich hatten Rudolf Bultmann3 und Martin Dibelius4, die sich Schmidts Pionierarbeit der Unterscheidung zwischen dem Rahmen und den Einzelüberlieferungen der Geschichte Jesu zueigen machten, angesichts des erfolgten theologischen Paradigmenwechsels von der Liberalen zur Dialektischen Theologie und der damit einhergehenden methodischen Um‑ bzw. Weiterorientierung von der Literarkritik zur Formgeschichte, nicht die Absicht, historische Jesusforschung zu betreiben. Sie interessierten sich für die sozialen Gegebenheiten des frühen nachösterlichen Christentums. In ihm sahen sie die Keimzelle für die Entstehung, Pflege und Weitergabe von Traditionen, die inhaltlich von Jesus handelten, jedoch vom Osterglauben der nachösterlichen Gemeinden durchzogen und getragen waren. Der gemeindliche Sitz im Leben gab anstelle der Lebensgeschichte Jesu den neuen Ort an, auf den sich die exegetische Forschung 1 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2 Bände, Gütersloh 31977 (ursprünglich 1905/06). 2 K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Darmstadt, 2. Nachdruck 1969 (ursprünglich 1919). 3 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970 (ursprünglich 1921). 4 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971 (ursprünglich 1919).
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bezog, um die Genese der Überlieferung von Jesus historisch zu verankern und plausibel zu machen. Sachlich gelangte jedoch angesichts der erdrückenden Übermacht des Überlieferung produzierenden Kollektivs der Urgemeinde Mar‑ kus nicht als individuelle schöpferische Größe in den Fokus der Aufmerksamkeit. Unter formgeschichtlicher Perspektive blieb er Zulieferer und Archivar von Material, dessen Genese ihm selbst nicht zuzutrauen war. Nach wie vor befand sich in der Wahrnehmung der Forschung der Überlieferer Markus unterhalb des Niveaus des von ihm Weitergegebenen. Mit der Redaktionsgeschichte änderte sich dies erstmals. Nun geriet Markus als schöpferisches Individuum in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Redaktor ließe er einen eigenständigen Umgang mit der von ihm vorgefundenen Tradition erkennen. Er galt sogar als Theologe – freilich mit einem begrenzten Wirkungsfeld und in überschaubarem Rahmen. Nur das, was entsprechend der nach wie vor in Geltung stehenden und die Voraussetzung der Synoptikerexegese bildenden Scheidung von Tradition und Redaktion von den Traditionskernen abzusondern war, konnte für sein kreatives Wirken in Rechnung gestellt werden. Dabei handelte es sich in erster Linie um die Ein‑ und Ausleitungsverse der Perikopen, dazu Sondergut, welches ihm in unterschiedlichem Ausmaß zugerechnet wurde. Ansonsten konnte man das markinische redaktionelle Wirken noch an der Stoffgliederung und der Anordnung der Perikopen ablesen. Die Identifikation von sog. markinischem Sondergut stand bereits unter dem Risiko der Spekulation. Mit dem Vordringen der sog. synchronen Auslegung und dem Einbezug literaturwissenschaftlicher Methoden in die Interpretation des Markusevangeliums trat Markus als Instanz im Rahmen eines Autorenkonzepts, als Überlieferer und auch als reflektierender Theologe in den Hintergrund. Die Untersuchungen lenkten ihr Augenmerk zunehmend auf das Werk und die in ihm zu beobachtenden Erzählstrategien. Narratologische Analysen richteten ihren Fokus auf den Erzähler, in der Regel unter der Voraussetzung, dass von diesem kein Rückschluss auf einen historisch identifizierbaren Autor möglich sei. Ob es nicht doch einen Weg über den Erzähler zurück zum Autor gibt, darf heute als offene Frage gelten.5 Die These vom „Tod des Autors“6 kann nicht länger selbstverständliche Geltung für sich beanspruchen. Das Problem der Gewinnung von Kriterien zur Identifizierung eines Autors steckt noch in den Anfängen. Ob der Versuch, über die Untersuchung grammatischer Strukturen eine Art von „genetischem Fingerabdruck“ des Autors zu finden, gelingen wird, wie es in der germanistischen Sprachwissenschaft an5 Vgl. die Beiträge zur Verwendung des Autorbegriffs in F. Jannidis u. a. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. 6 R. Barthes, Der Tod des Autors, in: F. Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 185–193.
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satzweise versucht wird,7 bleibt abzuwarten.8 In jedem Fall wird vermutlich das Bemühen weitergehen, im Markusevangelium nach Indizien zu suchen, die erkennen lassen, ob die Einzeltexte des Werkes einem denkenden Hirn entsprungen sind oder auf unterschiedliche Verfasser zurückgehen. Jenseits traditionsgeschichtlicher Erwägungen zielen die hier vorgelegten Aufsätze darauf ab, die erzählte Welt der markinischen Evangelienschrift mit Worten nachzuzeichnen und auf ihren Mitteilungscharakter hin durchzusehen. Immer wieder werden dazu die impliziten Hinweise der Erzählung ausdrücklich gemacht. Scheinbar beiläufige Bemerkungen, wie die zu Bewegungen der handelnden Personen im Raum, zu Richtungsangaben und Lichtverhältnissen, werden aufgegriffen und in Beziehung zu den erzählten Inhalten gestellt, denen sie ihr setting, d. h. ihren genauen Ort innerhalb der erzählten Handlung verleihen. Die Verflechtungen von Motiven und Worten, die sich aus der Wiederkehr an unterschiedlichen Stellen der Erzählung ergeben, werden expliziert. Die Bezugnahmen einzelner Szenen aufeinander, die Erzählperspektiven sowie die Pointierungen der Gesamterzählung werden so weit wie möglich transparent zu machen versucht. Auch wenn im Zentrum der meisten Beiträge die Interpretation des Erzählten auf der vorliegenden Ebene des Endtextes steht, ist damit in methodischer Hinsicht das diachrone Verfahren dennoch nicht umstandslos durch ein synchrones Vorgehen abgelöst worden. Im Hintergrund der Auslegung bleiben die jahrzehntelang praktizierten form‑ und redaktionsgeschichtlichen Analyseregeln und ‑ergebnisse durchweg präsent. Der seit den 1980er Jahren besonders in der amerikanischen Literatur oft eilig vorgenommene Paradigmenwechsel von der Diachronie zur Synchronie hat die Leistungsfähigkeit des alten Zugangs zu den Texten wenig gewürdigt und schnell durch die neue Zugangsweise ersetzt.9 Zwar ist dieser Wechsel in der Sache richtig gewesen. Er ist aber kaum aus den Grenzen des alten Paradigmas heraus begründet, sondern häufig als Setzung vollzogen worden. Auch wurde zu selten nach den erkenntnisleitenden Interessen gefragt, die die synchrone Interpretation im Unterschied zur traditionsgeschichtlich diachronen Vorgehensweise prägen. Die hier vorliegenden Studien sind auch von 7 Vgl. dazu V. Ágel, Grammatik und Literatur. Grammatische Eigentlichkeit bei Kehlmann, Timm, Liebmann, Handke, Strittmatter und Ruge, in: C. Brinker-von der Heyde u. a. (Hg.), Eigentlichkeit. Zum Verhältnis von Sprache, Sprechern und Welt, Boston 2015, 159–174. 8 Vgl. das von F. Jannidis geleitete Projekt „Digital Humanities“ an der Universität Würzburg, von dem man sich u. a. neue Ansätze im Blick auf die Ermittlung von Autorenschaft und Gattung verspricht. 9 Vgl. u. a. die frühen bekannt gewordenen Bücher von D. Rhoads / D. Michie, Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982; J. D. Kingsbury, The Christology of Mark’s Gospel, Philadelphia 1983; M. A. Tolbert, Sowing the Gospel. Mark’s World in Literary-Historical Perspective, Minneapolis 1989; vgl. auch die zahlreichen Veröffentlichungen von E. S. Malbon. Zur Entwicklung der Forschungsgeschichte im 20. Jahrhundert vgl. P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, Kapitel 1.2 Synchronie vor Diachronie: Der Weg zum New Literary Criticism, 27–38.
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dem Gedanken geleitet zu vergleichen, wohin und wie weit man exegetisch unter Verwendung des traditionellen historisch-kritischen Methodeninstrumentariums gelangt und wo bei Anwendung der literaturwissenschaftlich-narratologisch inspirierten neueren Zugangsweisen die Differenz gegenüber den mit dem alten Verfahren erzielten Ergebnissen liegt. Der Aufsatz über „Die Sabbatheilungen bei Markus und Lukas“ von 1989 lässt bereits durchscheinen, dass die unter der literarkritischen Voraussetzung einer Scheidung von Tradition und Redaktion praktizierten Annäherungen an die Texte zunehmend an diesen selbst abprallten und Aporien hervorriefen. Sichtbar wird, dass bei der formgeschichtlichen Arbeit unausgesprochene – theologische – Voraussetzungen die Ergebnisse präjudizieren und im Zirkelschluss diese Resultate wiederum die Prämissen unterstreichen. Der Übergang von der Diachronie zur Synchronie, der den Studien weitgehend zugrunde liegt, ist also primär durch die Frage motiviert, wie weit eine Textbearbeitung unter dem Postulat einer innertextlichen Wachstumsgeschichte gelangt, welche Annahmen sie dabei machen muss und wo sie an ihre Grenzen stößt. Umgekehrt ist die Gegenprobe von Belang: Wie verändern sich die literarischen und theologischen Pointen unter einer synchronen Betrachtung? Aus diesem Anstoß resultiert die nicht spannungsfreie Überlegung, ob und wie sich die Einsichten der auf beide Weise gewonnenen Resultate zueinander in Beziehung setzen lassen. Dabei zeichnet sich ab, dass ein harmonisch additiver Umgang mit Diachronie und Synchronie, anders als es gelegentlich in eirenischer Absicht vorgetragen wird, nicht der Königsweg ist; denn die Absichten und Interessen einer auf historischer Scheidung von älteren und jüngeren Textschichten beruhenden Exegese weichen von denen text‑ bzw. werkimmanent arbeitender Interpretationen teilweise erheblich ab.10 Auch wenn sich also in den hier vorgelegten Aufsätzen das Augenmerk unter verschiedenen Perspektiven vor allem auf die Interpretation des Markusevangeliums als eines Gesamtwerks richtet, bleibt die unterschwellige Kontrollfrage virulent, was sich dadurch im Verhältnis zur traditionell literarkritisch-formgeschichtlich-redaktionsgeschichtlich ausgerichteten Exegese ändert und gewinnen lässt. Die Wurzeln des literarkritischen Paradigmas und in dessen Gefolge auch die Intentionen des form‑ und redaktionsgeschichtlichen Methodeninstrumentariums liegen in den Untersuchungsabsichten der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.11 Nicht eindeutig geklärt sind hingegen die erkenntnisleitenden Intentionen der auf Synchronie basierenden Interpretationen. Auch das Verhältnis der aus der Literaturwissenschaft übernommenen Methoden zu dem theologischen 10 In Klumbies, Mythos bei Markus (s. Anm. 9), wird in einzelexegetischen Bearbeitungen an einer Reihe markinischer Texte aufgezeigt, wie diachrone und synchrone Analysen im Endergebnis sachlich in der Regel in unterschiedliche Richtungen weisen. 11 Vgl. dazu im Einzelnen P.-G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 15–40 und 43–64.
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Gehalt der neutestamentlichen Texte bedarf weiterer Klärung. Die hier vorgelegten Einzelstudien markieren in diesem Sinne ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einem Zugang zu den Texten, der deren theologische Eigendignität zu erfassen vermag. Als Tendenz der Aufsätze wird sich ein soteriologisch-theologisches Interesse ausfindig machen lassen. Die markinische Christologie zielt nach meiner Wahrnehmung darauf, Jesus, den Christus, als die Person darzustellen, die Menschen in eine verlorengeglaubte heilsame Gottesbeziehung zurückgeführt hat und die die Glaubenden nach wie vor in diese Relation einweist.
Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts The Narrative of Jesus According to Mark as a Work of the Eighth Decade It is widely acknowledged that the Gospel of Mark is not a historical source for studying the life of Jesus. It is rather a narrative of the life of Jesus from a retrospect of faith in later decades, influenced by theological motifs. However, the methodological and interpretative consequences which result from this insight have not yet been considered extensively. To read the Gospel of Mark as a narrative of the eighth decade of the first century A. D. is to distinguish between the content of the staged narrated world of the twenties and the theological requirements of the seventies. The statements about the life of Jesus around the year thirty do not reflect the actual conditions of those years but instead serve the theological self-assurances of the Markan community four decades later. In this essay the relationship between historical factuality and narrative unfolding in Markan research is discussed. Subsequently, the decisive narrative lines in the Gospel of Mark are pointed out as part of an overall interpretation.
1. Der erzähl‑ und der geschichtstheoretische Horizont gegenwärtiger Markusexegese Tragen wir nicht Eulen nach Athen, wenn wir das Markusevangelium als Erzählwerk des beginnenden achten Jahrzehnts des 1. Jahrhunderts n. Chr. interpretieren? Hat nicht die Redaktionsgeschichte solches längst getan? Die Antwort auf diese Doppelfrage lautet: Ja und Nein. Ja, weil die Redaktionsgeschichte in der Tat die Endfassung des Markusevangeliums zu ihrer Grundlage gemacht hat.1 Nein, weil die Redaktionsgeschichte die Vorentscheidungen der Literarkritik und der Formgeschichte übernommen hat. Die Folge davon war, dass große Teile des Markusevangeliums literarischen oder mündlichen Vorphasen des Endtex1 Vgl. F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985; W. H. Kelber, The Oral and the Written Gospel. The Hermeneutics of Speaking and Writing in the Synoptic Tradition, Mark, Paul and Q, Philadelphia 1983.
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tes zugeschrieben wurden. Das hatte zur Konsequenz, dass diese Textteile fast keinen Beitrag zum Verständnis der Endfassung bereitzuhalten schienen. Die Redaktionsgeschichte maß ihnen nur begrenzte Bedeutung zum Verständnis des Ganzen bei. Auf der Basis der literarkritischen Trennung von Tradition und Redaktion waren für das Verständnis der textlichen Endfassung vor allem die Passagen aussagekräftig, die sich von der älteren Tradition abheben ließen.2 Trotz etlicher Vorarbeiten3 steht die Aufgabe, die markinische Evangelienschrift nicht als ein redigiertes Sammelwerk aus mehr oder weniger genau zu rekonstruierenden Einzelquellen, sondern als eine geschlossene Gesamterzählung zu interpretieren, damit weiterhin zur Bearbeitung an. Das Ziel der nachstehenden Ausführungen ist die Interpretation der markinischen Jesuserzählung unter den Bedingungen des achten Jahrzehnts des 1. Jahrhunderts. Die Entstehungsverhältnisse und literarischen Intentionen dieses Zeitraums bilden für die Bestimmung der Relation von erzählter Welt und Erzählwelt den Ausgangspunkt, um die markinische Konstruktion der erzählten Welt zu verstehen. Im Ergebnis hat das Markusevangelium ein Bild der Zeit um 30 n. Chr. hinterlassen, das sich aus den Anforderungen christlichen Gemeindelebens zu Beginn der 70er Jahre erschließt. Der erzählte Jesus der ältesten Evangelienschrift steht in Übereinstimmung mit den theologischen Anforderungen an das Christentum des achten Jahrzehnts. 1.1 Im Dickicht zwischen historischer Faktizität und narrativer Fiktionalität Der Zugriff auf die von Markus hinterlassene Erzählung hat sich mit dem Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion auseinanderzusetzen. Bekanntlich hatte Aristoteles eine idealtypische Ausgangssituation vorgezeichnet. Laut seiner Poetik ist zwischen den Dichtern und den Geschichtsschreibern folgendermaßen zu unterscheiden: Die Dichter formulieren, was geschehen sein könnte, die Geschichtsschreiber übermitteln, was tatsächlich geschehen ist. Diese duale Betrachtungsweise stellt das Was des Erzählten in das Zentrum der Aufmerksamkeit. An dem Was bricht die Differenz zwischen Fakten und Fiktion auf.4 2 P.-G. Klumbies, Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, BZ NF 58 (2014), 21–45, 26–28. 3 Vgl. neben anderen D. Rhoads / D. Michie, Mark as Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982; M. A. Tolbert, Sowing the Gospel. Mark’s World in Literary-Historical Perspective, Minneapolis 1989; R. M. Fowler, Let the Reader Understand. Reader-Response Criticism and the Gospel of Mark, Minneapolis 1991; B. van Iersel, Markus. Kommentar, übers. v. A. Suhl, Düsseldorf 1993; E. S. Malbon, Mark’s Jesus: Characterization as Narrative Christology, Waco 2009. Zur Darstellung der Forschungspositionen vgl. P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 27–38. 4 Vgl. detaillierter P.-G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 113–115. Vgl. auch die Thematisierung des „aristotelische(n) Graben(s)“ bei J. Röder, Schreiben Geschichten (wahre) Geschichte? Fiktionalität und Faktualität, Fakten und Fiktives im Diskurs neutestamentlicher Exegese, in: S. Luther / J. Röder / E. D. Schmidt
1. Der erzähl‑ und der geschichtstheoretische Horizont gegenwärtiger Markusexegese
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Dieser Ansatz verweist unmittelbar auf das Problem der Referentialität. Unter der aristotelischen Vorentscheidung bezieht sich „Referentialität“ auf die außerhalb der Erzählung liegende Realität.5 Gemeint ist die vor-, neben‑ und außersprachliche Wirklichkeit, auf die innerhalb einer Erzählung Bezug genommen wird.6 Erzählungen, die sich auf außersprachliche Wirklichkeit beziehen, nennen Christian Klein und Matías Martínez „Wirklichkeitserzählungen“. Nach ihrer Definition kennzeichnet Wirklichkeitserzählungen, dass diese sowohl einen konstruierenden als auch einen referentiellen Aspekt besitzen. Klein / Martínez begeben sich damit programmatisch in eine Mittelposition zwischen – so könnte man im Blick auf das exegetische Sujet sagen – historistischem Realismus und einem so genannten „‚Panfiktionalismus‘“.7 Den bewusst abgrenzend gemeinten Terminus „Panfiktionalismus“ richten Klein / Martínez namentlich gegen Aleida Assmann und ihre Aussage, dass die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität als ein verabschiedetes Paradigma anzusehen sei8 und gerade die Indifferenz zwischen beidem „das Datum (ist), von dem heute ausgegangen werden“9 müsse. Zwar gestehen Klein / Martínez durchaus zu, dass die Position Assmanns ihre Bedeutung gehabt habe, um den konstruktiven Anteil des faktualen Erzählens ins Bewusstsein zu heben. Inzwischen sei man jedoch „vielerorts“10 mit diesem Verfahren über das Ziel hinausgeschossen.11 (Hg.), Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität, WUNT II/395, Tübingen 2015, 59–107, 68–78. 5 Auf die Insuffizienz „der aristotelischen Opposition“ und ihre Ersetzung durch ein Konzept der erzählten Zeit, wie es P. Ricœur, Zeit und Erzählung, 2 Bände, München 1988 und 1989, entwickelt hat, verweist J. Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, ThLZ 128 (2003), 855–866, 859. 6 Vgl. Ch. Klein / M. Martínez, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart / Weimar 2009, 1–13, 2. Im Rahmen der aristotelischen Voraussetzung ist dies eine stimmige Konstruktion. Verschiebungen ergeben sich, sobald die aristotelischen Prämissen angezweifelt werden. 7 Klein / Martínez, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 6), 1; vgl. dazu Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 4), 123–125. 8 Klein / Martínez, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 6), 7. Ähnlich F. Zipfel, Fiktion und fiktionales Erzählen aus literaturtheoretischer Perspektive, in: S. Luther / J. Röder / E. D. Schmidt (Hg.), Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität, WUNT II/395, Tübingen 2015, 11–35, 12. 9 A. Assmann, Fiktion als Differenz, Poetica 21 (1989), 239–260, 240; vgl. auch A. Assmann, Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Band 55, München 1980. 10 Klein / Martínez, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 6), 7. 11 Das Verschwimmen der „Grenze zwischen Fakten und Fiktionen“ problematisiert auch V. Nünning, Unzuverlässiges Erzählen als Paradigma für die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen, in: S. Luther / J. Röder / E. D. Schmidt (Hg.), Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität, WUNT II/395, Tübingen 2015, 37–58, 37–39.54–56, Zitat 37.
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Den Unterschied zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen machen Klein / Martínez daran fest, dass faktuale Erzählungen „Teil einer realen Kommunikation“ sind und aus Sätzen bestehen, „die vom Leser als wahrheitsheischende Behauptungen des Autors verstanden werden.“ Fiktionale Texte seien komplexer. Sie verfügten über eine zweite imaginäre Kommunikationsebene. „Anders als der reale Sprecher einer faktualen Rede ist das fiktive Aussagesubjekt der fiktionalen Rede nicht an die ‚natürlichen‘ Beschränkungen menschlicher Rede gebunden und kann deshalb z. B. ungestraft die Position eines allwissenden Erzählers einnehmen.“12 Faktuales Erzählen unterliegt im Unterschied dazu dem Maßstab einer Verifikation an der außertextlichen, ja außersprachlichen Wirklichkeit. Für fiktionales Erzählen ist demgegenüber die Überschreitung der Grenzen menschlicher Wirklichkeitserfahrung kennzeichnend. Zur Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten verweisen Klein / Martínez zunächst auf äußere Merkmale. Dazu zählen erstens eine nachweisliche NichtIdentität zwischen dem realen Autor und dem, was ein Text selbst über den Erzähler aussagt. Zweitens können paratextuelle Hinweise zur Gattung oder direkte Aussagen zur Fiktionalität wie „‚Personen und Handlung des Buches sind frei erfunden‘“ eine Einordnung als fiktionale Erzählung ermöglichen. Allerdings führen diese Kriterien im Blick auf das Markusevangelium nicht weiter. Immerhin erklären sie, warum so intensiv um die „richtige“ Gattungsbezeichnung gerungen wird; denn ob das Markusevangelium als ein biographisch-historiographisches Dokument13 oder als mythisch geformte ἀρχή14 angesehen wird, impliziert bereits eine Vorentscheidung, ob eher in Richtung Faktualität oder Fiktionalität gedacht wird. Neben den äußeren bringen Klein / Martínez textinterne Kriterien in Anschlag. Der allwissende Erzähler, der den Lesern aufgrund seiner übermenschlichen Fähigkeiten „Einblicke (…) in die Gedanken‑ und Gefühlswelt“ der auftretenden Figuren verleiht, ist ein starker Hinweis auf fiktionales Erzählen.15 Freilich gestehen Klein / Martínez zu, dass auch faktuale Erzählungen durchaus von fiktionalisierenden Erzählverfahren, insbesondere dem Einsatz eines allwissenden Erzählers, begleitet sein können. Zugleich ist zu beobachten, dass fiktionale Erzählungen häufig mit faktualen Inhalten angefüllt und in faktualem Redemodus gehalten sind.16 Im Übrigen setzt Fiktionalität nicht in jedem Fall und mit Notwendigkeit einen allwissenden Erzähler voraus.17 Die Grenzen im Gefolge der aristotelischen Dualität bleiben also unscharf.18 Klein / Martínez, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 6), 2. Vgl. dazu das Literaturreferat von D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung, EdF 263, Darmstadt 1989, 161–183. 14 Vgl. u. 2.2 Die Gattung des markinischen Erzählwerks. 15 Als „Fiktionssignale“ führt Zipfel, Fiktion (s. Anm. 8), 29 an: „die Phantastik der Geschichte, allwissende Erzähler, innere Fokalisierung, nicht-realistische Erzählsituationen (…) auch sprechende, d. h. ihre Träger kennzeichnende Namen oder strukturelle Intertextualität“. 16 Vgl. ähnlich auch Zipfel, Fiktion (s. Anm. 8), 18. Demnach sind „in fiktiven Geschichten auch Elemente aus der Wirklichkeit vorhanden“. Auch kann „(i)n fiktionalen Erzählungen (…) faktuales Erzählen simuliert werden“ (Zipfel, Fiktion [s. Anm. 8], 23). 17 Zur Darstellung vgl. Klein / Martínez, Wirklichkeitserzählungen (s. Anm. 6), 3–5, Zitat 3. 18 Vgl. R. Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, EChr 2 (2011), 417–444, 428. 12 13
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Faktuales Erzählen beruht auf einem Doppelschritt. Ein postuliertes prä-narratives Ereignis bildet die Grundlage einer Erzählung darüber.19 Modifiziert lässt sich sogar von einem Dreischritt vom Ereignis zum Erzählen und zur Erzählung sprechen. Fiktionales Erzählen kreiert dagegen mit seiner Erzählung die Fakten, die diese Erzählung konstituieren. Die Einheit des Bewusstseins schafft in einem Schritt im Vorgang des Erzählens mit der Erzählung die eine erzählte Welt.20 Im Blick auf Texte, die von historischen Ereignissen erzählen, sind sowohl erzähltheoretische als auch geschichtstheoretische Überlegungen miteinander zu verknüpfen. Ohne die Theoriedebatte, die sich zwischen den durch die Namen Chris Lorenz und Hayden White benannten Polen bewegt, zu wiederholen, und ohne die sich ausschließenden Gegensätze zwischen der Realpräsenz sog. historischer Fakten und dem radikalen Konstruktivismus heraufzubeschwören,21 ist an die Überlegungen zu erinnern, die Hans-Jürgen Goertz unter dem Schlagwort „Unsichere Geschichte“ zusammengefasst hat.22 Danach ist „Referentialität“ nicht objekt‑ oder datenbezogen auf eine außersprachliche Wirklichkeit zu beziehen. Unter der Einsicht, dass Menschen über nichts miteinander kommunizieren können, dass sie sich nicht auf dem Weg über das Bewusstsein angeeignet haben, hält Goertz fest, dass alles, was über die Vergangenheit formuliert wird, bewusstseinsabhängig ist. Geschichte wird im Modus der Erzählung kommuniziert. Insofern finden die Erkenntnisse der Geschichtstheorie ihr Pendant in der Erzähltheorie. Zwischen Ereignis und Erzählung besteht gerade kein Zweischritt, sondern im Akt der Erzählung wird das Ereignis als eben dieses Ereignis konstituiert. Unabhängig davon ist es nicht bekannt. Es mag von jemand anderem auf ähnliche Weise narrativ präsentiert werden. Das könnte eine intersubjektive Verständigung über den Ähnlichkeitsgehalt und die Frage, ob sich die Erzählungen auf ein identisches Ereignis beziehen, zur Folge haben. Aber insofern die Aneignung über die Gegenstandskonstitution entscheidet, handelt es sich strenggenommen um zwei Ereignisse. Historische Referentialität bezeichnet folglich den Rekurs auf die Formulierungsweisen, in denen ein Ereignis begegnet. Nicht das Ereignis hinter der Erzählung, sondern der Bezug auf das Faktum in der Narration ist das historische Thema. Auf das Markusevangelium bezogen besagt dieser Gedanke: Nicht Jesus hinter bzw. zeitlich vor der ältesten Evangelienschrift, sondern der 19 In anderem Zusammenhang formulieren M. Martínez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 20, dass wir „bei fiktionalen Werken“ anders „als bei faktualen Berichten (…) nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt“ haben. Dem ist freilich entgegenzusetzen, dass auch diese anderen Zugänge des Mediums der Sprache bedürfen, um vermittelt werden zu können. Insofern besteht zwischen faktualen Berichten und fiktionalen Werken ein gradueller, aber kein prinzipieller Unterschied. 20 Vgl. Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 4), 123–125. 21 Vgl. dazu Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 4), 116–121. 22 H.-J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001, 24–31.79–81. Vgl. dazu Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 4), 121–123.
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perspektivisch geleitete Zugang zum erzählten Jesus ist der Referenzpunkt historischer Exegese.23 Wirkungsgeschichtlich stehen die gegenwärtigen Debatten nach wie vor unter dem Einfluss der aristotelischen Unterscheidung. Unter dieser Prämisse wird der Geltungsanspruch von Aussagen in der Regel davon abhängig gemacht, ob der Anteil des Faktischen den des Fiktiven übersteigt.24 Zur Bestimmung einer Grenzlinie zwischen faktualen und fiktionalen Erzählungen schlage ich vor, erst dann von einer faktualen Erzählung zu sprechen, wenn die dargestellten Inhalte über weitere Medien jenseits des vorliegenden Textes zugänglich sind. Solange der vorliegende Text allein für seine Inhalte bürgt und es keinen weiteren Zugang zu den von ihm gebotenen Inhalten gibt, sollte die Fiktionalitätsvermutung gelten. Das ändert im Blick auf das Markusevangelium nichts daran, dass der Erzähler eine Geschichte erzählt, die sich in der erzählten „Welt ‚tatsächlich‘ zugetragen hat bzw. sich zugetragen haben soll“25. 1.2 Drei gegenwärtige Zugriffe auf das Markusevangelium In der Debatte um die historische Zuverlässigkeit der in den Evangelienschriften überlieferten Inhalte stehen sich bereits seit dem 19. Jahrhundert zwei Grundpositionen gegenüber: Die eine bemüht sich darum, die Entwicklung der Christologie und der christologisch durchformten Evangelienschriften als Folge eines Impulses darzustellen, der aus dem Leben und Wirken des irdischen Jesus resultiert. Diese Position macht sich dafür stark, die historische Kontinuität von Jesus zum Christusglauben nachzuzeichnen und sucht nach Referenzpunkten für die neutestamentliche Christologie beim historischen Jesus. Ihr Interesse liegt bei der Konstruktion einer geschichtlichen Darstellung von Jesus zur Christologie in chronologischer Reihenfolge.26 23 Inzwischen scheint es, als sei diese Auffassung fast zum Allgemeingut geworden. Vgl. den Hinweis von J. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin / New York 2002, 273–336, 295, auf den Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatte. Allerdings wird der Gedanke in dem Moment unterlaufen, in dem das erzählte Ereignis zum Platzhalter für hinter ihm liegende vergangene Wirklichkeit erklärt wird (so Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft [s. Anm. 5], 864) und ihm aus diesem Grund normative Bedeutung beigemessen wird. 24 M. Bauspieß, Die Pragmatik der Geschichte. Der Metadiskurs zur Geschichtsschreibung in neutestamentlicher Zeit und die Diskussion nach dem „linguistic turn“, in: S. Luther / J. Röder / E. D. Schmidt (Hg.), Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität, WUNT II/395, Tübingen 2015, 363–389, 365.376, plädiert zwar für das Festhalten an der Differenz zwischen Historiographie und Poetik, hebt aber hervor, dass der Unterschied nicht in der Semantik der Texte, sondern in der Textpragmatik liege. 25 Zipfel, Fiktion (s. Anm. 8), 22. Vgl. in diesem Sinn unter Bezug auf das Markusevangelium J. U. Beck, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 29. 26 Vgl. dazu die kritische Darstellung dieser bis in die Gegenwart weiterwirkenden For-
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Die Gegenposition nimmt ihren Ausgangspunkt beim nachösterlichen Christusglauben. Initiiert durch den Auferstehungsglauben sei es zu einer theologischen Entwicklung gekommen, für die die davorliegende historische Epoche des Lebens Jesu von untergeordneter Bedeutung gewesen ist. Ohnehin sei diese Phase hinter der nachösterlichen „mythischen“ oder „kerygmatischen“ Durchformung kaum noch erkennbar. Der historische Referenzpunkt dieser Position liegt bei den Glaubensaussagen des nachjesuanischen Christentums. Von dort aus wird retrospektiv eine – nicht historische, wohl aber theologische resp. christologische – Kontinuität zur vorösterlichen Phase des Lebens Jesu konstruiert.27 Das chronologische Kontinuitätsmodell versuchte insbesondere im 19. Jahr hundert, über literarkritisch eruierte Quellenschriften an den historischen Jesus als das Initiationsereignis und die normative Instanz christlichen Glaubens heranzukommen. Die Formgeschichte mit ihrem Fokus auf den die Überlieferungen formenden Kräften im nachösterlichen Christentum unterzog dieses Quellenmodell einer nachhaltigen Kritik. Zuvor hatte bereits David Friedrich Strauß einen Angriff auf den historischen Optimismus seiner Zeitgenossen unternommen, indem er die vorliegenden Jesuserzählungen als Einkleidungen zeitloser mythischer Wahrheiten deklarierte.28 Allerdings stieß er damit bei seinen dem historischen Paradigma verpflichteten Zeitgenossen auf Unverständnis.29 Rudolf Bultmann teilte mit Strauß die Aufmerksamkeit für den Mythos und die Einsicht, dass der deutenden Interpretation der Vorrang vor den in ihr formulierten materialen Inhalten zukommt. Nach Bultmann markiert das urchristliche Kerygma von Kreuz und Auferstehung Jesu den Ursprung der Traditionsbildung. Von hier aus werde im Licht des Osterglaubens ein Bild der Vorgänge in der Jesuszeit gezeichnet. Gegenüber zahlreichen seiner Schüler, die sich ein Stück weit einem historischen Kontinuitätsgedanken öffneten, stellte Bultmann im Verhältnis zwischen der Verkündigung des historischen Jesu und dem urchristlichen Christus-Kerygma in historischer Hinsicht eine Diskontinuität fest. In sachlicher Hinsicht tritt freilich nachösterlich das Kerygma an die Stelle des historischen Jesus, so dass eine Kontinuität unter theologisch-kerygmatischer Perspektive gewahrt bleibt.30
schungstradition bei K. Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013. 27 So unter den Denkvoraussetzungen von R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984. 28 D. F. Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet. 2 Bände. Mit einer Einleitung von W. Zager, Darmstadt 2012 (Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1835). 29 Vgl. W. Zager, Liberale Exegese des Neuen Testaments: David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004, 3–21, hier 8–10. 30 R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (ursprünglich Heidelberg 1960), 445–469, 468.
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In Reaktion auf das historische Diskontinuitätsmodell Bultmanns kam es durch Ernst Käsemann31 und andere innerhalb der Bultmann-Schule und neben ihr u. a. durch Joachim Jeremias, Birger Gerhardsson und Rainer Riesner32 zu Entwürfen, die gegen Bultmann die historische Kontinuität in der Entwicklung von Jesus zur Christologie herausstrichen.33
1.2.1 Die Zuordnung des Markusevangeliums zur historiographischen Literatur durch Eve-Marie Becker Schon Polybios lässt im 10. Buch, Kap. 21, seiner historiae34 erkennen, dass es jenseits der idealtypischen Aufteilung zwischen Biographie und Historiographie eine Schnittmenge gibt, in der sich Elemente aus beiden Gattungen mischen. Grundsätzlich gilt, dass die Biographie ein Bild vom Wesen und Charakter der dargestellten Personen zeichnet und dies in durchaus idealisierter Weise tun darf. Sie verfolgt dabei mit ihrer Darstellung ein didaktisches Anliegen und bemüht sich um die Formung ihrer Leserschaft. Die Historiographie widmet sich dagegen den Taten der beschriebenen Persönlichkeiten. Sie hat sich in nüchterner, der Wahrheit verpflichteter Weise an den Tatsachen zu orientieren. Freilich können biographische Einzelheiten in die Geschichtsdarstellung eindringen. Allerdings dürfen diese – darauf legt schon Polybios Wert – die historiographische Darstellung nicht überlagern.35 In vergleichbarer Weise hat auch Plutarch zu Beginn seiner Alexanderbiographie die beiden Bereiche voneinander unterschieden: Der bíos beschreibt das éthos, den Charakter, die historía erzählt die práxeis.36 Wenn Eve-Marie Becker das Markusevangelium der historiographischen Literatur zuweist, tut sie dies in dem Bewusstsein, dass sich Biographie und Historiographie nicht kontradiktorisch einander gegenüberstellen lassen. Das E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Erster Band, Göttingen 1960, 187–214; E. Käsemann, Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Zweiter Band, Göttingen 1964, 31–68. 32 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 21973; B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, ASNU 22, Lund / Copenhagen 1961; B. Gerhardsson, Tradition and Transmission in Early Christianity, CNT 20, Lund / Copenhagen 1964; R. Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung, WUNT II/7, Tübingen 21984. 33 Zur Darstellung der Forschungsgeschichte vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 18–27. 34 Vgl. 10,21,2–8. 35 Vgl. die Darstellung von H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Darmstadt 2003, 4–7, hier insbesondere 4–5. 36 Vgl. Sonnabend, Biographie (s. Anm. 35), 7. Vgl. auch M. Ebner, Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur, in: Th. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA / StUNT 69, Göttingen 2009, 34–61, 37: „Das virtuelle Muster einer Gattung ist die eine Seite, die konkrete Realisierung die andere.“ Vgl. ebenfalls E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 264. 31
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Markusevangelium sei eine Gattung sui generis, die eine Mischform aus biographischen und historiographischen Einzelelementen darstelle, wobei die biographischen den historiographischen Tendenzen zugeordnet bleiben.37 Einer Festlegung des Markusevangeliums auf die Biographie stellt Becker das Bedenken gegenüber, dass damit eine Zuweisung an eine Untergattung der historiographischen Literatur festgeschrieben würde.38 Zutreffender sei die Einordnung des Markusevangeliums als eines „eigenen Typus von Prä-Historiographie“39. Mit dieser Klassifizierung würde den Eigenheiten der Evangelienschrift gegenüber den traditionellen historiographischen Werken der Antike Rechnung getragen.40 Beckers Zuordnung des Markusevangeliums zur historiographischen Literatur bringt zwei Vorentscheidungen mit sich, die für ihre Markusexegese folgenreich sind. Erstens unterscheidet nach Beckers Darstellung die Historiographie41 nicht zwischen Autor und Erzähler;42 und zweitens ist für eine historiographische Darstellung ihr Quellenbezug konstitutiv.43 Beide Voraussetzungen finden ihren Niederschlag in Beckers Umgang mit dem Markusevangelium. Bei Markus sieht Becker keinen Anhaltspunkt für eine Unterscheidung zwischen historischem Autor und Erzähler44; und die exemplarischen Analysen ausgewählter Markusabschnitte laufen permanent auf den Nachweis zugrundeliegender „Quellen, Traditionen, Überlieferungen und Traditionsstränge“45 hinaus, die ihrerseits Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 20.264.265 und 382. Markus enthalte insofern „kaum biographische Elemente“, als er keine Bewertungen des Charakters Jesu vornehme, sondern dessen Taten erzähle. Daher lasse sich von „einer personenzentrierten Historiographie“ sprechen (Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 36], 300, vgl. auch 265). Das Markusevangelium „stellt eine Verbindung zwischen dem Leben Jesu und einem in der Passionstradition bereits geschichtlich gefassten vorgegebenen Bericht über das Sterben Jesu her.“ (Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 36], 26). Zu „Elemente(n) der Vita in der Historiographie“ vgl. Ebner, Viten (s. Anm. 36), 45. 38 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 64–65. 39 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 410. Ch.P. Heil, Evangelium als Gattung. Erzähl‑ und Spruchevangelium, in: Th. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA / StUNT 69, Göttingen 2009, 62–94, 84, bezeichnet dies als einen „ernüchternden Schluss“ und hält Beckers Fazit entgegen, dass „nur die tragischpathetische Spielart der antiken Historiographie (…) (a)ls Analogie zum Markusevangelium“ in Frage komme. 40 Ebner, Viten (s. Anm. 36), 80, wertet Beckers Bezeichnung des „Mk als ‚prähistoriographischen Autor‘“ (so Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 36], 407) allerdings als faktische Zurücknahme ihrer These. 41 Historiographie ist einem „‚faktuale(n)‘ Ereignisbegriff “ verpflichtet. Becker, MarkusEvangelium (s. Anm. 36), 69. 42 Vgl. Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 70. 43 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 66. 44 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 104. 45 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 401. Die Einzeldurchführung erfolgt in den Kapiteln 7–12, 144–398; vgl. etwa Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 236.267.268. Zur Erhärtung ihrer Hypothese einer historisch zuverlässigen Vorgeschichte der Passions37
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wiederum auf die ereignisgeschichtlichen Grundlagen46 der Darstellung zurückführen sollen. Aufgrund des hypothetischen Charakters der postulierten Vorüberlieferungen unterliegt dieses fragile Auslegungsverfahren der Gefahr eines sich selbst bestätigenden Zirkelschlusses. Im Ergebnis rekurriert Becker in methodischer und inhaltlicher Hinsicht auf das klassische auf der Scheidung von Tradition und Redaktion basierende und auf die Rekonstruktion der „Autorenintention“47 zielende historisch-kritische Verfahren. 1.2.2 Das Verhältnis von Ereignis und Deutung bei Jens Schröter Die Christologie als Fortführung von Impulsen darzustellen, die auf den historischen Jesus zurückführen, und „die Entstehung der Evangelien aus der Anknüpfung an Jesus heraus historisch plausibel“48 zu machen, ist das Anliegen von Jens Schröter. Im Bewusstsein der Unschärfe in der Verhältnisbestimmung zwischen Ereignis und Deutung geht es ihm darum, das ursprüngliche Ereignis, gemeint ist: das Leben und Wirken Jesu, davor zu bewahren, vollständig von der Deutung verschlungen zu werden. Insofern kann Schröter ebenfalls als Vertreter eines Prae des Ereignisses vor der Deutung gelten.49 In einem Beitrag zur „Historizität der Evangelien“ hat er die Gründe dargelegt, „(d)as Markusevangelium als Quelle für den historischen Jesus“ anzusehen. Nach Schröter haben die der Redaktionsgeschichte und dem narrative criticism verpflichteten Evangelieninterpretationen die historische Referenz der Jesuserzählungen weitgehend außer acht gelassen. Bereits diese Verwendung des Terminus
darstellung referiert Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 364–368, die Ergebnisse der Arbeiten von T. A. Mohr, W. Reinbold, G. Theißen, U. Sommer und A. Y. Collins, ergo die Resultate einer Forschung, die die literarkritischen Möglichkeiten ebenfalls sehr hoch einschätzt. 46 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 111; vgl. auch Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 417. 47 Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 113. Ebner, Viten (s. Anm. 36), 60, Anm. 80 fasst als weitere Einwände gegenüber Becker zusammen: 1. „Methodisch kann die Gattungsbestimmung eines Gesamtwerkes nicht durch den kleinteiligen Vergleich einzelner Passagen antiker Historiographien erreicht werden.“ 2. „Beckers Vitendefinition ist einseitig auf die individualethische Version fixiert“. 3. „Die Quellenverarbeitung, deren Analyse bei Becker für die Zuordnung zur Historiographie im Vordergrund steht, ist sicher kein exklusives Kennzeichen speziell dieser Gattung.“ 48 J. Schröter, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin / New York 2002, 163–212, 183. 49 Vgl. Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 204–205. Dabei ist Schröter sich bewusst, dass es keinen unmittelbaren Zugang zu den Ereignissen gibt, „wie sie sich einst tatsächlich zugetragen haben“. Mittels eines „Begriff(s) von ‚Erinnerung‘ (…), der Geschehen und deutende Kategorien (…) miteinander verbindet“ (204) gelte es einen Bezug zu den Ereignissen herzustellen, die den Konstruktionen von Geschichte zugrunde liegen.
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„historische Referenz“ signalisiert, dass Schröter die Erzählungen als Verschlüsselungen ihnen vorangegangener Ereignisse versteht.50 Den Evangelien eignet bei Schröter der Status historischer Quellen. Ihre Jesuserzählungen sind „mit den zugrundeliegenden Ereignissen von Leben und Geschick Jesu von Nazareth verwoben“.51 Freilich liefern die Quellen kein Abbild vergangener Wirklichkeit. Daher besteht die Aufgabe der historischen Forschung unter den Erkenntnisbedingungen der jeweiligen Gegenwart in einer „Konstruktion von Geschichte“, in diesem Fall der der Person Jesu.52 Die Quellen sind als Wirkungen der in ihnen dargestellten Ereignisse „verständlich zu machen“.53 Zurückgewiesen wird von Schröter eine Tendenz, „die Evangelien als historisch unzuverlässige Quellen zu beurteilen: In ihnen würden die zugrundeliegenden Ereignisse durch die Intentionen sowie die Darstellungsweise der Verfasser derart überformt, daß sie keinen Wert als historische Quellen beanspruchen könnten.“54 Dadurch werde jedoch ihr „Charakter als zugleich historisch-bewahrender und aktualisierender Jesuserzählungen verkannt“.55 Dies führt Schröter zu der Forderung nach einer „historisch-kritische(n) Analyse ihrer narrativen Verarbeitungen des Wirkens und Geschicks Jesu.“56 Dabei äußert er zu Recht, dass eine Aufspaltung zwischen der Wortüberlieferung und den Erzählungen über Jesus kein gangbarer Weg sei. Diese in der Forschung nicht unübliche Weichenstellung stellt er in einen Zusammenhang mit Bultmanns Jesusbuch.57 Demgegenüber ist allerdings geltend zu machen, dass die Zweiteilung zwischen Wort‑ und Erzählüberlieferung bereits in das 19. Jahrhundert zurückverweist. Damals gab es einen breiten Konsens, den Logien im Munde Jesu einen höheren historischen Gehalt beizumessen als den Erzählungen über Jesus. Die Aufgliederung in die beiden Überlieferungsstränge, die Bultmann schon seiner Geschichte der synoptischen Tradition von 1921 zu Grunde legt, ist eine Anknüpfung an die Jesusforschung der Liberalen Theologie gewesen.
Der Maßstab für die Feststellung des „historische(n) Wert(s) der Evangelien“ liegt nach Schröter darin, „wie sich in ihnen Ereignis und Deutung zueinander verhalten“.58 Mittels der Verwendung von Paul Ricœurs Repräsentanz-Begriff vermeidet Schröter das Missverständnis, als könnten die in der Erzählung enthaltenen Ereignisse unmittelbar abgebildet und wiederhergestellt werden. Die Vorstellung der Repräsentanz vermeidet die kurzschlüssige Illusion einer möglichen direkten historischen Referenz und berücksichtigt den perspektivischen
50 Schröter,
Historizität (s. Anm. 48), 165, Anm. 8. Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 165. 52 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 166–167, Zitat 167. 53 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 167. 54 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 168. 55 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 169. 56 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 169. 57 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 187. 58 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 188. 51
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Zugang zu den geschilderten Ereignissen. Die historische Erzählung mitsamt ihren fiktionalisierenden Anteilen tritt an die Stelle des vergangenen Ereignisses.59 Begegnen also nach Schröter die in den Evangelien geschilderten Ereignisse nur in gedeuteter Gestalt in Form von Erzählungen, bilden also Ereignis und Deutung eine Einheit, so stellt er diese in dem Moment wieder zur Disposition, in dem er eine Vorphase der Erzählung eruiert, auf die sich die historische Referenz richtet. An dieser Stelle schleicht sich eine Dualität in den Erkenntnisvorgang zurück, die den Sachverhalt, dass jedes Ereignis der Vergangenheit eben nur in Gestalt einer gedeuteten Erzählung existiert, wieder unterläuft. Naturgemäß schwierig ist die Bestimmung des Umfangs dessen, was an Vorereignissen Eingang in die Erzählung gefunden hat. Nach Schröter ist „von der Aufnahme von Traditionen durch Mk (…) auszugehen (…), auch wenn die kon‑ krete Gestalt dieser Traditionen nicht mehr zugänglich ist“.60 Seine Annahme, dass die „viele(n) biographische(n) Details“ der markinischen Darstellung, die einen Erzählzusammenhang konstituieren, „ein deutliches Indiz für den historisch-erinnernden Charakter der Evangelien“61 darstellen, ist freilich spekulativ. Ob die kontroverse Debatte über galiläische Synagogen62 oder eine mögliche Kenntnis Jesu über das Theater in Sepphoris63 wirklich historische Reminiszenzen der Jesuszeit zutage fördert oder diese Wirklichkeitsverweise nicht eher einen effet de réel darstellen und damit besser zur Erzählsituation der Zeit nach 70 passen, bleibt zumindest offen. Auch die Geographie des Markusevangeliums spiegelt kaum Realien aus der Lebenszeit Jesu. Sie zeigt vielmehr eine bewusste Raumgestaltung unter mythischen und theologischen Prämissen.64 59 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 189. Im Blick auf die Verhältnisbestimmung zwischen heutigen Jesusdarstellungen und den Entwürfen der Evangelien zitiert Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 189, Anm. 69 zustimmend G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 31: „‚Historische Imagination schafft mit ihren Hypothesen ebenso eine ‚Fiktionalitätsaura‘ um die Gestalt Jesu wie die religiöse Imagination des Urchristentums. Denn hier wie dort ist eine kreative Vorstellungskraft am Werk, entzündet durch dieselbe historische Gestalt.‘“ Zuzustimmen ist dem darin, dass dem schöpferischen Bewusstsein höchste Bedeutung für die historische Arbeit zukommt. Dass dieses freilich in der Gegenwart wie in der Zeit der Evangelien durch denselben „Gegenstand“, nämlich die Person Jesu angestoßen ist, ist angesichts der vielen Umstände, die auf die menschliche Vorstellungskraft einwirken, eher Wunsch als Realität. 60 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 190, Anm. 72 (Kursivierung von J. S.). 61 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 193. 62 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 193, Anm. 80. 63 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 196, Anm. 92. 64 Vgl. P.-G. Klumbies, Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium, in: Heiliges Land, JBTh 23, 2008, Neukirchen-Vluyn 2009, 101–121. Den deutenden Charakter der geographischen Angaben im Markusevangelium stellt auch Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 201, heraus. „Die geographischen Angaben der Jesusreisen im MkEv sind somit weder Indizien für eine Unkenntnis des Verfassers noch lassen sie sich als exakte Reisebeschreibungen verstehen. Mit ihnen werden vielmehr summarisch diejenigen Gebiete bezeichnet, in denen Jesus außerhalb von Galiläa gewirkt hat.“ Zu dem alternativen Versuch M. Ebners, die
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Der Versuch, Jesu Wirksamkeit außerhalb Galiläas als ein Aufsuchen dortiger jüdischer Siedlungen zu erklären, ist auf der Ebene der Jesuszeit nicht abwegig.65 Er ist allerdings nicht naheliegend und erklärt sich einfacher im Rahmen der Gesamterzählung, in der Jesu Grenzüberschreitungen die Internationalisierung der christlichen Botschaft bereits vorabbilden.
In seinem Fazit stellt Schröter heraus, „daß jede Aneignung der Vergangenheit auf einer Verbindung von Ereignis und Erzählung beruht“.66 Treffender ist zu formulieren, dass sich in der Verbindung von Ereignis und Erzählung Geschichte erfassen lässt – Vergangenheit kann nicht angeeignet werden, sie ist unwiederbringlich dahin. Bei den Evangelien sind Mythos und historische Erinnerung, so Schröter, eine Verbindung eingegangen, innerhalb derer „die Ereignisse (…) weder völlig hinter dem deutenden Mythos verschwinden noch so zurückzugewinnen sind, wie sie sich einst tatsächlich zugetragen haben.“ Die „zugrundeliegenden Ereignisse“ seien über einen „Begriff von ‚Erinnerung‘ zu erfassen, der Geschehen und deutende Kategorien (…) miteinander verbindet“.67 In einer Auflösung der Verbindung von Ereignis und Erzählung sieht Schröter die Gefahr, „daß der historische Wert der Erzählung nicht mehr wahrgenommen, diese zu einem unhistorischen ‚Mythos‘ erklärt“ und die „Jesusdarstellung von den Quellen abgelöst würde, die nicht mehr als historische Zeugnisse interpretiert, sondern für von diesen unabhängige Deutungen herangezogen würden“.68 Zwar verwahrt sich Schröter gegen die Auflösung der Verbindung von Ereignis und Deutung. Faktisch macht aber die Annahme eines für sich existierenden Ereignisses, das freilich nur in Gestalt einer Deutung überliefert vorliegt, die Trennung zwischen beidem zur Voraussetzung des Gedankens. Auf diese Weise können erzählte Begebenheiten und die szenische Gestaltung des Lebens und Wirkens Jesu im Markusevangelium als gedeutete Ereignisse ausgegeben werden, denen ein deutungsunabhängiger Faktizitätskern vorausliegt.69 Schröters Warnung vor der Auflösung der Verbindung von Ereignis und Deutung ist also in der Sache ein Plädoyer für das Festhalten an einem deutungsunabhängigen Faktizitätskern, zu dem es einen annäherungsweisen hypothetischen Zugang über die real existierenden Deutungen gibt. geographischen Angaben im Markusevangelium in Beziehung zum Einmarsch Vespasians in Galiläa zu stellen, vgl. u. 1.2.3. 65 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 202. 66 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 204. 67 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 204. 68 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 205. Das Konzept des „erinnerten Jesus“ stellt nach Wengst, Der wirkliche Jesus? (s. Anm. 26), 225–230, nur eine sanfte Variante der klassischen historischen Jesusforschung dar. Der Unterschied bestehe darin, dass nicht direkt auf einen faktischen Jesus zuzugreifen versucht wird. Im Modus der „vermeintlich ältesten Erinnerungen“ (230) an Jesus bemühe man sich freilich wiederum darum, nach einem den neutestamentlichen Texten vorausliegenden Stadium zu forschen. 69 Dies gilt auch, wenn damit nicht dem Realismus einer naturgetreuen Abbildung das Wort geredet wird.
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Es mag prima vista so scheinen, als ginge es bei der Verhältnisbestimmung zwischen Ereignis und Deutung nur um das innerhistorische Problem der Plausibilität einer Geschichtskonstruktion zum historischen Jesus auf der Basis der ältesten Evangelienschrift. Dem ist freilich nicht so. Brisant sind nämlich die theologischen Konsequenzen der auf historischem Feld ausgetragenen Auseinandersetzung. Schröter postuliert, „die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zur historischen Person Jesus (darf) nicht die Vorgehensweise der historischen Jesusforschung präjudizieren“70 und behauptet des Weiteren, „eine historische Konstruktion der Person Jesu hat jedoch unabhängig von der Frage, wie sich diese zur Begründung des christlichen Glaubens verhält, zu erfolgen“.71 Unter dieser Voraussetzung strebt er „eine historische Konstruktion, die den Anspruch erhebt, unter gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen plausibel zu sein“,72 an. Diese Grundlegung wirft die Frage auf, wie ein derart historisch assimilierter Ansatz einen Beitrag der Exegese für die Arbeit der Theologie als derjenigen Wissenschaft bereitstellen kann, die von Gott, wie er sich im Glauben zeigt, handelt. Schröters Antwort lautet, dass Theologie „sich kritisch vor ihren Ursprüngen“ zu verantworten habe. Aus diesem Grund bleibe sie „auf den Bezug zur Geschichtswissenschaft verwiesen“.73 „(A)ls historische Disziplin“ leiste die neutestamentliche Wissenschaft „ihren spezifischen Beitrag zur Theologie“.74 Hinter dieser Begründung schimmert noch die Idee des „goldenen Anfangs“ durch. Die Vorstellung, dass die Wahrheit in ihrer reinsten Form am Anfang aller Entwicklung zu finden ist, war für die dem strikt historischen Aufklärungsparadigma verpflichtete Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts konstitutiv. Nach 1918 ist allerdings im Zuge der Dialektischen Theologie mit Grund die Frage aufgebrochen, ob auf dieser Basis dem Offenbarungsgedanken adäquat Rechnung getragen worden ist. Wenn die Exegese an der gesamttheologischen Aufgabe teilhat, unter der Voraussetzung gegenwärtig geglaubter wie in den neutestamentlichen Texten bezeugter Gottesbeziehung Gott als Gott zur Sprache zu bringen, ist eine historische Konstruktion des Lebens und Wirkens Jesu kein Beitrag zur Theologie, sondern zur Geschichtswissenschaft. Schröter selbst nennt bezeichnenderweise die von ihm vertretene ‚„Hermeneutik der narrativen Repräsentation‘“ einen „theologische(n) Beitrag zur Geschichtswissenschaft“.75 70 Schröter,
Historizität (s. Anm. 48), 164, Anm. 4. Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 164. 72 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 206; vgl. ebenso Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft (s. Anm. 5), 864. 73 Schröter, Historizität (s. Anm. 48), 164. 74 Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft (s. Anm. 5), 855. 75 J. Schröter, Nicht nur eine Erinnerung, sondern eine narrative Vergegenwärtigung. Erwägungen zur Hermeneutik der Evangelienschreibung, ZThK 108 (2011), 119–137, 136; vgl. die kritischen Einwände von Wengst, Der wirkliche Jesus? (s. Anm. 26), 286 und 295–298. 71
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Im Ergebnis sind zwei Hauptkritikpunkte an Schröters Position festzuhalten: Erstens ist in methodischer Hinsicht das Verständnis von historischer Referentialität zu kritisieren. Auch wenn Schröter an dem Zusammenhang von Ereignis und Erzählung festhält, reklamiert er den Begriff „historische Referenz“ für einen Ereignisbereich, der einen „historischen“ Raum bezeichnet, der den literarischen Dokumenten, die von ihm erzählen, vorausliegt, zu dem es aber gleichzeitig einen Zugang nur über eben diese Texte gibt. Die historische Referenz wird von der Zuordnung auf die Interpretation der vorliegenden Evangelientexte abgezogen. Demgegenüber gilt jedoch: Es gibt keinen Raum für historische Referenz jenseits der Erkenntnisleistung des Referenten. Historische Referenz schließt den konstruktiven Beitrag des Referenten stets mit ein. Zweitens liegt in der theologischen Position bei Schröter eine Rückkehr zu der sich historisch legitimierenden Theologie vor dem Ersten Weltkrieg vor, ohne dass der Einspruch der Dialektischen Theologie gegen eine historische Fundierung von Christologie und Theologie berücksichtigt würde. In der Sache läuft Schröters Ansatz auf die Reinstallation eines evangelisch gewendeten Traditionsprinzips hinaus.76 Vergleichbares war schon im Kontext der Liberalen Theologie der Fall gewesen. Allerdings wurde dies im 19. Jahrhundert nicht als Problem wahrgenommen; denn die konsequente Historisierung aller Inhalte konnte damals gerade als Widerspruch gegen das üblicherweise dem Katholizismus zugewiesene Traditionsverständnis mit seiner Gewichtung der Aussagen des Lehramts verstanden werden.77
1.2.3 Der Aufstieg Vespasians als Spiegel der „Karriere“ Jesu nach Martin Ebner und Gerd Theißen Eine auf die Erzählwelt um das Jahr 70 bezogene Interpretation der ältesten Evangelienschrift legt Martin Ebner vor. Er bezieht das Markusevangelium auf den Aufstieg des flavischen Kaiserhauses, insbesondere den Vespasians, ab dem Jahr 69. Markus kreiere mit seinem „Evangelium“ ein Gegenstück zu den triumphierenden Erfolgsmeldungen der hellenistisch-römischen Kaiserpropaganda. Die markinische „Erzählung (…) liest sich sowohl im Blick auf das Verhalten und das Herrschaftsprogramm des Protagonisten Jesus als auch im Blick auf den Aufriss wie eine Kontrastgeschichte zur Erfolgsgeschichte des Vespasian“.78 Die Gottessohnbezeichnung, die Vespasian zugeschriebene Wundertätigkeit, sein 76 Vgl. den Einspruch von Wengst, Der wirkliche Jesus? (s. Anm. 26), 284 und 286, gegen die Überhöhung der Person Jesu zwecks Grundlegung des christlichen Glaubens im Rahmen historischer Jesusforschung, die einhergeht mit einer Untergewichtung der konstitutiven Bedeutung des Glaubens an die Auferstehung Jesu von den Toten als dem Grunddatum des christlichen Glaubens. 77 Dies gilt umso mehr, wenn man den für das ausgehende 19. Jahrhundert in Rechnung zu stellenden antikatholischen Kulturkampf als zeitgeschichtlichen Kontext berücksichtigt. 78 M. Ebner, Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier. Eine politische Lektüre des ältesten „Evangeliums“, BiKi 66 (2011), 64–69, 65. Vgl. auch M. Ebner, Evangelium contra Evangelium. Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier, BN 116 (2003), 28–42.
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Herrschaftsprogramm, die geographische Parallele, die sich aus Vespasians Einmarschroute nach Israel ergibt, die politische Symbolik, die sich mit Cäsarea Philippi verbindet, all’ dies verbindet Vespasians Biographie mit der Lebensgeschichte Jesu. Signifikant ist daher, wie die Jesusfigur bei Markus unter Rekurs auf die Eckdaten der Vespasian-Biographie ihre eigenständige Kontur erhält. Der Weg Jesu nach Jerusalem ist das Gegenprogramm. Während Vespasians Laufbahn in Rom mit einem Triumphzug in Rom im Jahr 71 zum Höhepunkt gelangt, vollendet sich die „Karriere“ Jesu mit seiner Kreuzigung in dem von den Römern im Jahr 70 eroberten und zerstörten Jerusalem. Macht und Ohnmacht treten auf virtuelle Weise eindrucksvoll nebeneinander. Über weite Strecken gleicht Ebners Markusinterpretation einem inneren Dialog, der zwischen dem markinischen Werk und der politischen Biographie des Kaisers hin‑ und herschwingt.79 Vor dem Hintergrund von Vespasians Vita erhielten Jesu Schweigegebote, sein Verzicht auf persönlichen „Prestigegewinn“, die Prävalenz der Lehre vor demonstrativen Wundertaten, die Betonung des Dienens für sein Wirken, seine Botschaft von der Gottesherrschaft, die auf „Heilung“, „gesellschaftliche Veränderung“ und „Solidarität“ abzielt, einen konkreten historischen Kontext. Der Weg Jesu, den das Markusevangelium zeichnet, führt in die Entscheidung „zwischen zwei Herrschaftsformen“.80 Ebners Zugangsweise richtet den Fokus sachgemäß auf die Zeit, aus der das Markus zugeschriebene Werk stammt, und die Umstände, unter denen es möglicherweise zustande gekommen ist. Die Einzelheiten von Ebners Darstellung greifen Beobachtungen auf, die bereits Gerd Theißen vorgetragen hatte.81 Theißen hatte in methodischer Hinsicht seine Ausführungen dezidiert als „eine Synthese von Form‑ und Redaktionsgeschichte“82 deklariert. Nach Theißens Darstellung waren der form‑ und der redaktionsgeschichtliche Ansatz „nie zu einem Ausgleich gelangt“;83 denn die Formgeschichte sah in den Evangelien das Werk anonymer Sammler und Tradenten, während der redaktionsgeschichtlichen Wahrnehmung die redaktionell tätigen Evangelisten als Schriftsteller und Theo79 Zur angenommenen „Parallelität zwischen der Textwelt des MkEv und der realen Welt des MkEv“ vgl. schon G. Theißen, Evangelienschreibung und Gemeindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markusevangeliums, in: B. Kollmann / W. Reinbold / A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum, FS Hartmut Stegemann, BZNW 97, Berlin / New York 1999, 389–414, 404. 80 Ebner, Markusevangelium und Aufstieg der Flavier (s. Anm. 78), 68–69, Zitat 69. 81 Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 79), 397, bezeichnet das Markusevangelium als „ein Anti-Evangelium zu den εὐαγγελία vom Aufstieg der flavischen Dynastie“. Zweimal überliefere Josephus das Substantiv εὐαγγελία im Plural als Ausdruck für die „‚frohe Botschaft‘“ vom flavischen Aufstieg (396). Vgl. auch G. Theissen, „Evangelium“ im Markusevangelium. Zum traditionsgeschichtlichen Ort des ältesten Evangeliums, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 63–86, 70–71. 82 Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 79), 390. 83 Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 79), 389.
1. Der erzähl‑ und der geschichtstheoretische Horizont gegenwärtiger Markusexegese
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logen galten. In den Endfassungen der Evangelien ständen daher sog. „blinde Motive“, die auf die mehr oder weniger unbearbeitete Wiedergabe vorliegender Traditionen zurückzuführen seien, neben durchdachten Kommentierungen der theologisch ambitionierten Endredaktoren.84 Dieser clash of cultures zwischen Form‑ und Redaktionsgeschichte wird von Ebner nicht eigens thematisiert. In der Sache bleibt Ebners Zugang insofern der Redaktionsgeschichte verpflichtet, als er die konstitutive Grundlage redaktions‑ wie formgeschichtlicher Arbeit, die Scheidung von Tradition und Redaktion, nicht kritisiert. Das Verfahren, die neutestamentlichen Texte im Licht außertextlicher Ereignisse auszulegen, ist nicht grundsätzlich neu.85 Bereits für Martin Dibelius’ Formgeschichte war konstitutiv, dass die einzelnen Überlieferungen einem postulierten Bild urgemeindlicher Lebensvollzüge und Bedarfe zugeordnet wurden. Bei Theißen ist das Verfahren, einzelne Überlieferungen innerhalb der synoptischen Tradition in das Licht außertextlicher politischer Ereignisse zu stellen, Methode. So legt er Mk 13 zunächst unter der formgeschichtlichen Prämisse, dass hier ein traditionsgeschichtlich frühes Stadium erkennbar sei, vor dem Hintergrund der Caligulakrise aus.86 Unter redaktionsgeschichtlicher Perspektive lasse sich die Passage ein zweites Mal historisch auswerten. Im Rahmen der Endfassung des Markusevangeliums werde die Begebenheit transparent für Christen, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels mit ihren jüdischen Zeitgenossen fürchten, dass nun die erwarteten weiteren Gräuel der Verwüstung einträten. Die seit dem Jahr 40 grassierende Furcht vor einer Entweihung des Heiligtums könnte nun ihren Höhepunkt finden, wenn die Römer, so wie sie es mit der Umwandlung von Synagogen in Cäsarea und Antiochia bereits getan hätten, daran gingen, an die Stelle des Tempels ein römisches Heiligtum zu setzen. Indizien hätten reichlich in der Luft gelegen, die Tempelsteuer sei schließlich bereits „an den fiscus judaicus abgeführt“ und zur Finanzierung des Wiederaufbaus des Jupiter Capitolinus Tempels umgewidmet worden.87 Angreifbar ist der methodische Zirkel, in dem man sich bei dieser Verfahrensweise bewegt. Die Darstellung der Realsituation im Hintergrund geschieht so, dass sie als Folie für die Aussagen des Textes dient, und die Aussagen des Textes werden so perspektiviert, dass sie diesem Bild entsprechen. Diese Vorgehens Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 79), 389. findet überdies auch in anderen Zusammenhängen Anwendung. So unternimmt M. P. Theophilos, The Roman Connection: Paul and Mark, in: O. Wischmeyer / D. C. Sim / I. J. Elmer (Ed.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin / Boston 2014, 45–71, 66, im Rahmen der Frage nach dem Verhältnis zwischen Paulus und Markus den Versuch, the „continuity and discontinuity of theological motifs“ zwischen beiden aus einem gemeinsamen Rom-Bezug abzuleiten. 86 G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg (Schweiz) / Göttingen 21992, 161–176. 87 Theißen, Evangelienschreibung (s. Anm. 79), 399–400, Zitat 399. Vgl. auch Theißen, Lokalkolorit (s. Anm. 86), 272.275–277. 84
85 Es
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weise erfolgt unverändert unter der Prämisse der Redaktionsgeschichte. Bei diesem Verfahren steht nach wie vor das traditionelle Autorenkonzept mit seinem Interesse an der Intention des ursprünglichen Verfassers in Geltung. Es stellt den Erzähler in eine Linie mit einem konkreten Autor und fragt entsprechend, wie dieser historisch und sozial eingebunden ist. Für eine auf das Werk beschränkte Interpretation scheidet die Unterstützung durch eine an den Text herangetragene Außenperspektive aus.
2. Die erzählte Welt des Markusevangeliums 2.1 Erzähltheoretische Vorüberlegungen Die inhaltliche Entfaltung der erzählten Welt des Markusevangeliums unterliegt theoretischen und methodischen Vorentscheidungen. Drei von ihnen stechen hervor. Sie betreffen 1. das Verhältnis von Erzählwelt und erzählter Welt, 2. die Beziehung zwischen Erzählerstimme und Figurenrede und 3. das Zeit‑ und Lokalkolorit, das der Darstellung ein historisches Setting verleiht. Zwischen der Erzählwelt der Zeit nach 70, der das Markusevangelium entstammt, und der erzählten Welt der Zeit um 30, von der inhaltlich erzählt wird, ist methodisch zu unterscheiden. Aus dem Abstand von vier Jahrzehnten präsentiert das Werk ein Bild der Vorgänge und Zustände um die Person Jesu herum. Als Erzählung statt als Quellentext gelesen bilden die erzählten Inhalte kein Reservoir für historische Informationen über die endzwanziger Jahre.88 Vielmehr stellen sie Zeugnisse der theologischen Überzeugungen der markinischen Erzählwelt am Beginn des achten Jahrzehnts dar.89 88 Insbesondere die Inhalte, die nicht vor dem Hintergrund weiterer Überlieferungen gegengelesen oder auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden können, sind eher als Kommentar zur Erzählwelt der beginnenden siebziger Jahre zu betrachten, als dass sie Fakten über vierzig Jahre zurückliegende Vorgänge konservierten. Vgl. den Appell von B. Bosenius, Der literarische Raum des Markusevangeliums, WMANT 140, Neukirchen-Vluyn 2014, 18, „darauf zu achten, die verschiedenen Referenzebenen nicht miteinander zu vermischen“ und ihren Hinweis auf N. R. Petersen, Die „Perspektive“ in der Erzählung des Markusevangeliums, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985, 67–91, 87, dass „ein Text in allererster Linie Zeugnis für die Zeit seiner Abfassung ablegt“. 89 Zustimmend S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, FRLANT 253, Göttingen 2014, 365. A. V. Skoven, Mark as Allegorical Rewriting of Paul: Gustav Volkmar’s Understanding of the Gospel of Mark, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 13–27, stellt dar, wie bereits in der Wahrnehmung von G. Volkmar die Retrospektive – d. h. in seinem Fall die paulinisch-christologische Vorentscheidung – das Jesusbild bei Markus formt (18). Erst nach dem Ende der Phase der Formgeschichte mit ihrem Interesse an den Einzelperikopen sei mit der Redaktionsgeschichte der Blick auf das Markusevangelium als Gesamtwerk wieder frei geworden und das Interesse an der Beziehung zwischen Paulus und Markus neu erwacht (26). Zu gegenwärtigen Ansätzen, das Markusevan-
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In der historisch-kritischen Exegese wurden Figurenrede und Erzählerstimme üblicherweise literarkritisch voneinander getrennt und unterschiedlichen Zeitebenen zugewiesen. Dabei galt die Figurenrede in der Regel als literarisch älter. Die Erzählerstimme, in der sich nach redaktionsgeschichtlicher Auffassung erst der späte Endredaktor zu Wort meldete, habe die Worte der handelnden Personen aufgenommen, möglicherweise sogar zitiert. Sofern es sich um Worte im Munde Jesu handelte, wurde diesen besondere Wertschätzung zuteil. In den Logien versprach man sich am ehesten auf authentisches Sprachmaterial aus der Lebensgeschichte Jesu zu treffen.90 Dieser Bewertung steht die erzähltheoretische Einsicht entgegen, derzufolge Figurenrede wie Erzählerstimme Strategien der Leserlenkung darstellen. Mit allen Teilen der Gesamterzählung wirkt der Erzähler auf seine Leserschaft ein. Auch wie zufällig wirkende Realitätssplitter und scheinbar unbeabsichtigt auftauchende Wirklichkeitsrelikte sind eher als Realitätseffekte zu lesen, die der Darstellung ihr charakteristisches Zeit‑ und Lokalkolorit verleihen, denn als Fundstücke aus pränarrativer Zeit. Eine strikte Trennung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen in der Tradition der aristotelischen Unterscheidung hilft insbesondere im Blick auf mythisch geprägte Erzählungen nicht weiter. Denn was mythischer Rationalität als Faktum gilt, gehört aufgeklärt-analytischer Rationalität zufolge in den Bereich der Fiktion.91 Die Anwendung aristotelisch-aufgeklärter Grundsätze auf solche Texte begibt sich in einen Widerspruch zu deren Selbstverständnis.
2.2 Die Gattung des markinischen Erzählwerks Üblicherweise wird der Begriff „Evangelium“ zur Bezeichnung der literarischen Gattung des markinischen Werks verwendet.92 Unter dieser Prämisse werden gelium als Jesusdarstellung in paulinischer Perspektive zu lesen, vgl. auch H. Omerzu, Paul and Mark – Mark and Paul. A Critical outline of the History of Research, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 51–61, hier 59–60. 90 In der Prävalenz der Logien vor den Erzählungen über Jesus klingt noch ein Axiom der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts nach. Vgl. Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 4), 53 und 126–128; vgl. auch o. 1.2.2. 91 Die Texte des Neuen Testaments verdanken „sich der Interpretation geschichtlicher Erfahrung. Darum fällt für sie Interpretation und Tatsächlichkeit – anders als für den Historiker der Moderne, für den die Unterscheidung von fictum und factum zu den Grundbedingungen seiner Arbeit gehört – zusammen.“ E. Reinmuth, Diskurse und Texte. Überlegungen zur Theologie des Neuen Testaments nach der Moderne, BThZ 16 (1999), 81–96, 91. 92 Anders A. Lindemann, Das Evangelium bei Paulus und im Markusevangelium, in: O. Wischmeyer / D. C. Sim / I. J. Elmer (Ed.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin / Boston 2014, 313–359, 345, der ausdrücklich vermerkt, dass εὐαγγέλιον in Mk 1,1 „nicht Bezeichnung für eine literarische Gattung“ ist. Das gesamte markinische Buch konnte „als von Jesus erzählendes εὐαγγέλιον“ verstanden und der Terminus daraufhin „im 2. Jahrhundert zur Bezeichnung einer literarischen (Erzähl‑)Gattung werden“. K. M. Schmidt, Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptions-
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dann a) das Verhältnis zwischen mündlicher und schriftlicher Evangeliumsverkündigung und b) die Frage nach Ableitung oder Analogielosigkeit dieses literarischen Genres erörtert.93 Mit dem ersten Vers seines Werkes kündigt der Erzähler freilich gerade nicht an, „das Evangelium von Jesus Christus“ zu entfalten.94 Vielmehr spricht Mk 1,1 prononciert aus, dass es im Folgenden um die ἀρχή dieses Evangeliums geht. Der Ursprung, der Anfang des gegenwärtig geglaubten Evangeliums von Jesus Christus in der Lebensgeschichte Jesu bildet den Inhalt der Gesamterzählung.95 Nach vier Jahrzehnten gelebten Christusglaubens präsentiert das Markusevangelium dessen Schöpfungsgeschichte in Form einer schriftlichen Jesuserzählung. In ihr werden die Herkunft des in der Gegenwart der Zeit um 70 n. Chr. gültigen Bekenntnisses und die Fundamente der Theologie dargelegt. In Gestalt einer ätiologischen Erzählung96 vermittelt das Markusevangelium die Grundlage gelebten christlichen Glaubens am Übergang vom siebten zum achten Jahrzehnt. kontexte des Markusevangeliums, NTOA 74, Göttingen 2010, 25, erwähnt quasi en passant, dass εὐαγγέλιον in Mk 1,1 „nicht Gattungsbezeichnung“ ist. 93 Vgl. dazu die Darstellung des Forschungsstandes bei Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 38–59. 94 Im Blick auf die Genese des Evangeliumsbegriffs betont Lindemann, Evangelium (s. Anm. 92), 322.356, die Eigenständigkeit der frühchristlichen Ausformulierung, während Theissen, „Evangelium“ im Markusevangelium (s. Anm. 81), 68–71, das Augenmerk stärker auf die Anklänge an die hellenistische Herrschaftsrhetorik richtet. 95 Vgl. E. K. C. Wong, Evangelien im Dialog mit Paulus. Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern, NTOA / StUNT 89, Göttingen 2012, 77. D. Dormeyer, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, in: Th. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA / StUNT 69, Göttingen 2009, 1–33, sieht in der Überschrift Mk 1,1 eine Parallele zu den Anfängen von Biographien, konzediert freilich zwei „Abweichungen“: Erstens sei „Evangelium“ „eine neue Spezialgattung der Geschichtsschreibung“ und zweitens wirke „(d)as Cognomen ‚Christus = Gesalbter‘ … fremdartig.“ (21) Die dadurch zustande kommende „Sonderstellung“ (ebd. 32) der Schrift werde durch das anschließende Jesaja-Zitat, das „schwerfällig“ (ebd. 21) wirke, noch verstärkt. Das Markusevangelium stelle in Anlehnung an „die griechische Biographieschreibung“ eine „Weiterschreibung der als fehlerhaft verachteten jüdischen Geschichtsschreibung“ dar (32). Die markinische Erzählung als Fortführung der Verkündigung Jesu anzusehen, wie D. S. du Toit, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT 111, Neukirchen-Vluyn 2006, 284, dies vorschlägt, gewichtet das Reden Jesu höher als sein Handeln. Das Markusevangelium profiliert jedoch nach meiner Wahrnehmung statt des verkündigenden einen verkündigten Jesus, dessen Charakteristikum gerade darin besteht, dass diese beiden Aspekte sich wechselseitig illustrieren. 96 P.-G. Klumbies, Die älteste Evangelienschrift als aitiologische Erzählung, in: Ch. Reitz / A. Walter (Hg.), Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche / Telling origins. On the lookout for aetiology, Spudasmata 162, Hildesheim / Zürich / New York 2014, 143–162, 150–152. Anders Bosenius, Raum (s. Anm. 88), 49, derzufolge weder ἀρχή noch εὐαγγέλιον als Gattungsbezeichnung für das Markusevangelium gelten können. Ἀρχή diene „als terminus technicus für den ‚Prolog‘ dieser Schrift“.
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Eine ἀρχή97 nimmt innerhalb des Mythos die Stellung ein, die in der modernen Wissenschaft einem Naturgesetz bzw. einer gesellschaftlichen oder geschichtlichen Regel zukommt.98 Ἀρχαί sind die Ursprungserzählungen von Naturvorgängen oder geschichtlichen Ereignissen. Was gegenwärtig ist, führen sie auf das Wirken einer Gottheit in vorgeschichtlicher Zeit zurück. Insofern ist die ἀρχή zugleich auch die Geschichte eines Gottes. Innerhalb einer ἀρχή bilden die einzelnen Teilerzählungen einerseits in sich abgeschlossene Einzelepisoden. Andererseits sind sie aufeinander angelegt und tragen Beziehungen zu den Nachbarerzählungen in sich. Die Entfaltung des Ursprungsgeschehens erfolgt mittels einer Szenenfolge, die dem Perikopencharakter der Evangelienschrift ähnelt. Dabei erhalten die Einzelsequenzen ihre Bedeutung aus ihrer Zugehörigkeit zur mythischen Gesamtheit. Das Ganze ist den Einzelheiten vorgeordnet.99
Literaturgeschichtlich fügt das Markusevangelium sich einem Trend in der römischen Kaiserzeit ein. Mit der zunehmenden Hellenisierung des Imperium Romanum geht eine kulturelle Inbesitznahme namentlich der östlichen Provinzen einher.100 Im Zuge dieser Entwicklung dringen griechische Formen der Gemeinschaftsbildung wie etwa die Organisation am Vorbild der Polis bis in die Dörfer Syriens und Kleinasiens vor.101 Dazu zählt auch die Produktion identitätsstiftender Gründungsmythen.102 Die mythisch geprägte Jesuserzählung nach Markus ist das Zeugnis einer christlichen Gemeinde, deren gegenwärtiger Glaube an das Evangelium von Jesus Christus durch eine Erzählung vom Leben ihres Protagonisten fundiert wird. Im Blick auf die Gattungszuschreibung ist für das markinische Opus ein doppelter Ursprung zu konstatieren. Einerseits greift die Erzählung auf die Textsorte der mythisch geprägten ἀρχή zurück.103 Andererseits verleiht ihre inhaltliche 97 Als Bezeichnung geläufig ist auch der Begriff αἰτία. Ein Parallelbegriff zu ἀρχή ist γένεσις, vgl. G. Delling, Art. ἄρχω, ἀρχή κτλ., ThWNT I, 1933 (unveränderter Nachdruck 1957), 476–488, 478. 98 K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135, übernimmt den Begriff der ἀρχή von V. Grønbech, Hellas, Reinbek bei Hamburg 1965, 198–209. 99 Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 303–304. 100 Bereits in republikanischer Zeit entstand in der römischen Oberschicht „unter dem Eindruck der griechischen Kultur und der eigenen politischen Expansion das Bedürfnis, das Wissen über Römisches – und dazu gehörten auch die Kulte der Götter und die mit ihnen verbundenen Geschichten – zu sammeln und zu systematisieren“. K. Waldner, Aitiologie und Religion in der griechisch-römischen Antike, in: Ch. Reitz / A. Walter (Hg.), Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche / Telling origins. On the lookout for aetiology, Spudasmata 162, Hildesheim / Zürich / New York 2014, 25–57, 47. 101 Vgl. J. Gerber, Art. Hellenisierung I. Geschichte, DNP 5 (1998), 301–309, 306. 102 Vgl. P. Hommel, Art. Hellenistische Dichtung, LAW 2, Augsburg 1994 (Nachdruck von 1965), 1240–1247, 1241; A. Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Darmstadt 21991, 292–308; F. Fantuzzi / R. Hunter, übersetzt von T. Heinze, Art. Hellenistische Dichtung, DNP 5 (1998), 314–317, 316.317. 103 Gegen die Gattungsbezeichnung ἀρχή für die markinische Evangelienerzählung bringt Becker drei Einwände vor, die allerdings nicht verfangen. Erstens, so Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 36), 112 (und bereits 105, Anm. 152, unter Hinweis auf J. K. Elliott, Mark and the Teaching of Jesus. An Examination of ΛΟΓΟΣ and ΕΥΑΓΓΕΛΙΟΝ, in: W. L. Petersen et al. [Ed.],
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Ausgestaltung, die das Christusevangelium mit der Jesuserzählung zusammenführt, dieser Form eine geschichtliche Dimension. Daraus resultiert eine einzigartige Gestalt, die sich wirkungsgeschichtlich als stilbildend erwiesen hat und in der Folge zur literarischen Gattung „Evangelium“ aufgestiegen ist. 2.3 Die Jesusdarstellung der markinischen ἀρχή 2.3.1 Die Gottesstimme im Prophetenmund (Mk 1,2.3) Zwischen den das Gesamtwerk eröffnenden Vers Mk 1,1 und den Beginn der Handlungen in der erzählten Welt stellt der Erzähler in 1,2.3 ein alttestamentliches Mischzitat. „(2) Wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja: Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der wird deinen Weg bereiten. (3) Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade.“ Das Zitat ist aus den drei Schriftstellen Ex 23,20; Mal 3,1; Jes 40,3 zusammengesetzt und enthält in Mk 1,2c bei der Wiedergabe der Maleachi-Vorlage leichte Abwandlungen gegenüber dem alttestamentlichen Original. Diese sind der Anpassung an den jetzigen neuen Kontext geschuldet. Der Erzähler weist in V. 2 die Zitatkombination pauschal Jesaja zu. Auf diese Weise bündelt er die gesamte Zusammenstellung von Mk 1,3 her, wo er Jes 40,3 LXX anführt. Die Verbindung zwischen Ex 23,20 und Mal 3,1 geht so vonstatten, dass Mk 1,2 einerseits Ex 23,20 wörtlich aufnimmt: „Siehe ich sende meinen Boten vor dir her.“ Andererseits klingt auch Mal 3,1 (LXX) durch, wo es heißt: „Siehe, ich sende meinen Boten aus.“ Der Beginn des Verses bei Maleachi befindet sich zunächst in Übereinstimmung mit der Exodus-Formulierung, ist im Fortgang aber kürzer, da dem Vers die Wendung „vor dir Sayings of Jesus. Canonical and Non-Canonical. Essays in Honour of Tjitze Baarda, NT.S 89, Leiden 1997, 37–45, 43), besitze ἀρχή temporalen Charakter, zweitens werde der Begriff durch die angehängten Genitiv-Objekte „qualifiziert“ und drittens fungiere der polyvalente ἀρχή-Begriff als Buchanfang und zugleich Beginn der Ereignisdarstellung (Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 36], 112). Ad 1: Der temporale Charakter ist für eine mythische ἀρχή in weitaus tieferem Sinn konstitutiv, als es eine am Zeitstrahl orientierten Chronologie abbilden kann, denn das zeitliche Prä ist im Rahmen einer mythischen ἀρχή Ausdruck einer Qualität, in der die sich entrollende Zeit konstituiert wird; vgl. bereits R. Pesch, Das Markusevangelium I. Teil. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1–8,26, HThK II/1, Freiburg / Basel / Wien 51989, 76, und W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 62. Ad 2: Selbstverständlich geben die nachgestellten Genitiv-Objekte dem Oberbegriff ἀρχή seine inhaltliche Konkretion. Gerade in dieser spezifizierenden Weise zeigt sich allerdings ihre dienende Funktion. Ad 3: Aufgrund seiner mythischen Offenheit ermöglicht der ἀρχή-Begriff sowohl die Verwendung als Gattungsbezeichnung für die Gesamterzählung als auch für den Rekurs auf die erzählte Vergangenheit in Mk 1,1–3. Es besteht kein Grund, bei Anerkenntnis der mythischen Implikationen des ἀρχή-Begriffs diese doppelte Zuordnung gegen ihn auszuspielen. Keinesfalls ist die ἀρχή in Mk 1,1 ein „Funktionsbegriff in Bezug auf das εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ“, sondern der Doppelgenitiv εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ ordnet sich als inhaltliche Spezifizierung dem Oberbegriff ἀρχή unter. – Beckers Versuch (Becker, Markus-Evangelium [s. Anm. 36], 110–112), das Zeitverständnis der ἀρχή auf einen chronologisch-temporalen Sinn zu verengen, korrespondiert ihrer Bemühung, das Markusevangelium auf eine vergangenheits‑ und ereignisorientierte historiographische Darstellung festzulegen.
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her“ fehlt. In der Fortsetzung des Verses behält die Exodus-Formulierung die Ausrichtung auf den in der 2. Person angesprochenen Adressaten bei: „damit er dich auf dem Weg bewahre“, während Maleachi mit den Worten „und er wird sich um den Weg vor mir kümmern“ einerseits den Akkusativ ὁδόν für die Formulierung in Mk 1,2c liefert, andererseits aber das Personalpronomen in der 1. Person verwendet. Die erste Hälfte des Verses enthält in Ex 23,20 wie Mal 3,1 übereinstimmend eine Ankündigung aus der Perspektive Gottes, die bei Maleachi in der zweiten Vershälfte in eine direkte Gottesrede übergeht, in der Gott auf sich selbst zurückverweist. Die Aussage bezieht sich darauf, dass Gott in Kürze zum Gericht kommen wird und einen Vorboten – „Maleachi“, der später zum prophetischen Verfasser des gleichnamigen Buches erklärt wurde – voraussendet, um auf das Kommende vorzubereiten.104 Für die Interpretation der Zitatkombination in der bei Markus vorliegenden Gestalt ist es von Belang, wie stark man den Einfluss der Maleachi-Formulierung auf die Zusammenstellung und die Auseinandersetzung des Erzählers mit dieser Vorlage veranschlagt. Immerhin läuft die Richtung der Zitatkombination von Ex 23,20 auf Mal 3,1 zu, d. h. der Zitator denkt auf Maleachi hin,105 so dass beim Zitieren von Ex 23,20 für ihn die ähnliche Formulierung aus Mal 3,1 vermutlich mitschwingt. Es fällt daher besonders auf, dass Markus mit seiner Änderung des Personalpronomens sich von der Maleachi-Vorlage absetzt. Während in Mal 3,1 das Verhältnis zwischen Gott und dem Boten aus der Perspektive Gottes bestimmt ist und es um das Tun dieses Boten für Gott selbst geht, richtet sich der Blick in der Markusversion – so wie es durch Ex 23,20 vorformuliert ist – auf die Beziehung zwischen dem Boten und einem Dritten, der in der zweiten Person des Personalpronomens genannt wird. Die Wendung „meinen Weg“ wird in „deinen Weg“ umformuliert und damit zugleich eine Angleichung an die Formulierung des Exodus-Zitats vorgenommen. „Siehe, ich sende meinen Boten vor dir; der wird deinen Weg bereiten (Mk 1,2). Das Wüstenmotiv aus dem Zitat von Jes 40,3 LXX in Mk 1,3 wird bereits einen Vers später von Mk 1,4 her als Hinweis auf Johannes den Täufer durchsichtig. Die Wüste ist die Wirkungsstätte des Johannes; und wenige Verse später treibt der Geist unmittelbar nach seiner Taufe auch Jesus in die Wüste. Er wird wie vor ihm Johannes ebenfalls zu einer „Stimme in der Wüste“.
In der Debatte über die anaphorische oder kataphorische Zuordnung der Schriftworte scheinen die Argumente ausgetauscht und die Positionen festgeschrieben zu sein. Der kataphorische Ansatz geht von der Voraussetzung aus, dass mit der Annahme, Mk 1,1 bilde die Überschrift über das gesamte Werk, V. 1 als ein isolierter Vers anzusehen sei. Daher müsse der Schriftbeweis in V. 2.3 mit V. 4 verbunden werden. Er verweise nach „unten“ auf den Abschnitt Mk 1,4–8, in dem Johannes der Täufer namentlich in die Handlung eingeführt wird.106 Inhaltlich 104 Vgl.
D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 34. Vgl. Ch. Blumenthal, Gott im Markusevangelium. Wort und Gegenwart Gottes bei Markus, BThSt 144, Neukirchen-Vluyn 2014, der sich gegen eine „Priorisierung des Exodustextes zuungunsten des Maleachitextes“ (29) wendet. Nach seiner Auffassung kann allerdings „keinem der beiden Intertexte der Primat des Einflusses auf die Markusfassung zugewiesen werden“ (30). 106 So etwa Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 104), 33.34; ähnlich Pesch, Markusevangelium II/1 (s. Anm. 103), 75 und J. Ernst, Das Evangelium nach Markus, RNT, Regensburg 1981, 32–33. 105
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werde damit zum Ausdruck gebracht, dass es sich auf der Ebene des Markusevangeliums bei dem in den alttestamentlichen Worten angesprochenen Boten um den Täufer handele, der als Wegbereiter Jesu präsentiert werde. Im Rahmen der anaphorischen Deutung gehören dagegen V. 1–3 eng zusammen. Das alttestamentliche Zitat wird auf V. 1 zurückbezogen.107 Für diese Verknüpfung spricht, dass die Zitationsformel καθὼς γέγραπται im Neuen Testament üblicherweise rückbezüglich verwendet wird und eine zuvor getroffene Aussage nachträglich untermauert.108 Der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus wird bereits von den Propheten Maleachi und Deuterojesaja sowie dem den Propheten zugerechneten Mose, auf den die Exodus-Schriftstelle verweist, bzw. von Gott selbst, der sich durch den prophetischen Mund zu Worte meldet, verheißen. Der Antagonismus zwischen der kataphorischen und der anaphorischen Deutung von Mk 1,2.3 löst sich auf,109 wenn berücksichtigt wird, dass über das alttestamentliche Mischzitat Verknüpfungen in zwei Richtungen vollzogen werden. Sie betreffen das Verhältnis von erzählter Welt und Erzählwelt. Die erzählte Welt umgreift die Ereignisse, die die Lebensgeschichte Jesu betreffen. Sie schließt auch die Person Johannes des Täufers ein. In die Gegenwart der Erzählwelt um das Jahr 70 gehört dagegen das narrative Arrangement. Dieses umfasst die Überschrift über das Gesamtwerk in 1,1 ebenso wie die Einführung der Personen in die Handlung. Die markinische ἀρχή bringt die Gegenwart der Erzählwelt um das Jahr 70 n. Chr. mit den erzählten Inhalten aus der Jesuszeit in Verbindung. Der griechische Begriff der ἀρχή impliziert einen Herrschaftsaspekt. Insofern „regiert“ die Jesus-ἀρχή die Evangeliumsverkündigung des achten Jahrzehnts. Die markinische Jesuserzählung beansprucht, die auf Jesus Christus bezogene Evangeliumsverkündigung in authentischer Weise zu repräsentieren und zu lenken. Der für die Erzählwelt bedeutsame „Herrschafts“-Aspekt findet innerhalb der erzählten Welt sein Korrelat in der Verkündigung der Herrschaft Gottes, für die der markinische Jesus einsteht (Mk 1,15). Als Agent 107 Die enge Zusammengehörigkeit der Verse 1–3 stellt für G. Arnold, Mk 1,1 und Eröffnungswendungen in griechischen und lateinischen Schriften, ZNW 68 (1977), 123–127, 124.127, ein starkes Argument gegen das Verständnis von V. 1 als Gesamtüberschrift des markinischen Werks dar. 108 Vgl. H. Weder, „Evangelium Jesu Christi“ (Mk 1,1) und „Evangelium Gottes“ (Mk 1,14), in: Ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 45–59, 47. 109 Statt einer Alternativsetzung beider Ansätze verbindet bereits Weder, „Evangelium Jesu Christi“ (s. Anm. 108), 48, Elemente der anaphorischen mit der kataphorischen Deutung. Markus beziehe das Schriftzitat in erster Linie auf V. 1. Allerdings denke er dabei nicht primär an den Täufer, denn den Anfang des Evangeliums von Jesus Christus lege nicht dieser. Das Schriftzitat ziele vielmehr auf die Aussage: In „dem vorliegenden Buch (liegt) wahrhaftig der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus vor“. V. 1 bezeichne nicht lediglich den „Einsatzpunkt des Evangeliums bei der Verkündigung und dem Wirken des Täufers“, sondern biete eine „Inhaltsangabe über das ganze Buch (…): die ἀρχή des Evangeliums von Jesus Christus wird in dem folgenden Buch erzählt bzw. ist in dem erzählten Geschehen zu sehen.“
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Gottes betreibt er laut 1,14.15 die Verbreitung des Evangeliums von der anbrechenden βασιλεία τοῦ θεοῦ.
Angesichts dieser Aufgabe verweist die Zitatkombination im Blick auf V. 1 auf den irdischen Jesus als den Vorläufer des Evangeliums von Jesus Christus. Von ihm als dem Ursprung des gegenwärtigen Jesus-Christus-Evangeliums zeugen, so Mk 1,2.3, bereits die prophetischen Stimmen des Alten Testaments. Die Beziehung zwischen dem Evangelium von Jesus Christus und seinem Boten Jesus wird stilistisch durch die mittels zweier Genitive erzeugte griechische Klangsymmetrie zwischen εὐαγγελίου und ἄγγελόν μου in V. 1 und 2 unterstrichen. Neben dem durch weitere Genitive hervorgehobenen Homoioteleuton verknüpfen zudem Assonanzen die Verse 1 und 2. Botschaft und vorausgesandter Bote erscheinen auf diese Weise auch klanglich miteinander verbunden.
Gleichzeitig lenken die alttestamentlichen Worte den Blick auf die ab 1,4 in die Handlung eingeführten Hauptpersonen der erzählten Welt. Die Zitatkombination leistet dabei einen entscheidenden Beitrag zur Relationierung zwischen Johannes und Jesus. Johannes wird als Wegbereiter des erstmals in 1,9 mit Namen erwähnten Protagonisten Jesus in die Handlung eingeführt. Mittels des Wüstenmotivs erfolgt eine Verflechtung, die das Schicksal Jesu mit dem des Täufers verknüpft. Der in Mk 1,2 und 3 angeführten Zitatkombination eignet für die Gesamtdarstellung in formaler Hinsicht eine Scharnierfunktion. Inhaltlich sind die prophetischen Worte transparent sowohl für die Beziehung Jesu zu dem im Evangelium präsenten Jesus Christus als auch für die Relation zwischen Jesus und seinem Vorläufer Johannes. Mk 1,2.3 stellen eine Brücke zwischen Erzählwelt und erzählter Welt dar. Der hoheitliche Titel κύριος dient als ein weiteres Mittel, die unterschiedlichen Erzählebenen in Beziehung zueinander zu stellen. Steht er im alttestamentlichen Herkunftskontext sowohl in Jes 40,3 LXX als auch in Mal 3,1 als Gottesbezeichnung, dient er im frühen Christentum und teilweise auch innerhalb der markinischen Evangelienschrift110 im Rahmen der Christologie als Bezeichnung für den erhöhten Jesus Christus.111 Aus alttestamentlicher Perspektive geht es darum, Gott den Weg zu bereiten. Im christlichen Kontext ist der Titel transparent für Jesus Christus, dessen Verkündigung im Evangelium es vorzubereiten gilt. Darauf zielt das Wirken des erzählten irdischen Jesus und in seiner Zuordnung auf ihn auch das des Johannes.
Geht es in V. 1 auf der Ebene der Erzählwelt, der V. 1 zuzurechnen ist, um den Ursprung des Evangeliums von Jesus Christus und damit um dessen Vor110 So in Mk 7,28; 11,3; vgl. auch 16,19. Vgl. auch die christologische Einbindung von Ps 110,1 in Mk 12,36.37 und bei Paulus in 1 Kor 15,25. 111 Vgl. Eckey, Markusevangelium (s. Anm. 103), 67: „Die Deutung auf die Wegbereitung Jesu entspricht dem frühchristlichen Gebrauch des Herrennamens als Ausdruck des Bekenntnisses zu ihm“. Zur Verwendung des Kyrios-Titels bei Markus vgl. im Einzelnen Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 151–152, Anm. 26, und Bosenius, Raum (s. Anm. 88), 25–28.
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geschichte, ist Jesus der in prophetischer Diktion apostrophierte Bote, von dessen Wirken die nachfolgende Erzählung handelt. Dem Jesus-Christus-Evangelium wird der Weg durch Jesus, seinen Vorboten, bereitet. Jesus geht als Bote des im Evangelium präsenten Jesus Christus diesem voran.112 Der Täufer seinerseits wird als der Ankündiger Jesu innerhalb der erzählten Welt zum Wegbereiter des Vorbereiters des Jesus-Christus-Evangeliums. 2.3.2 Der Konflikt der Geister: Die Pneumatologie des Markusevangeliums Die Geistthematik ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Markusevangeliums.113 Der Eintritt Jesu in die Handlung in 1,9–11 verbindet sich mit seiner Ausstattung zum Geistträger Gottes.114 Träger des von Gott auf ihn gekommenen Geistes zu sein, ist die herausragende Qualität des markinischen Jesus. Entsprechend richtet sich eine Pointe des markinischen Handlungsablaufs darauf zu erzählen, wie Jesus permanent in Konflikte mit widergöttlichen Geistern und Dämonen gerät. Die erste Aktivität Jesu nach seiner Taufe besteht darin, dass der ihm verliehene Geist ihn zu einer Begegnung auf höchster Ebene in die Wüste treibt. Dort trifft Jesus laut 1,12.13 auf den obersten der gegengöttlichen Geister, den Satan. Dessen Versuchungen stellen „die erste Bewährung seiner Geistbegabung dar“.115 Im Fortgang der Erzählung wird Jesus wiederholt in Auseinandersetzungen mit den Trabanten des Satans treten, etwa in 1,21–28 und 5,1–20. Damit ist ein strukturierendes Moment der Gesamterzählung benannt. Jesu Wirken zielt auf die Ausbreitung des Geistes Gottes unter den Menschen vor dem Hintergrund der Widerstände durch gottfeindliche Pneumata. Das Gegenüber zwischen göttlichem Geist und dämonischen Geistern impliziert einen dezenten Dualismus.
112 Die von Arnold, Mk 1,1 (s. Anm. 107), 123, aus der engen Zusammengehörigkeit von V. 1–3 abgeleitete Folgerung, V. 1 dürfe daher nicht isoliert zur Überschrift über das Gesamtwerk erklärt werden, erübrigt sich, denn sie berücksichtigt nicht die Unterscheidung zwischen der Erzählwelt, aus der die Evangelienerzählung stammt, und der erzählten Welt, von der sie handelt. 113 J. E. Aguilar Chiu, A Theological Reading of ἐξέπνευσεν in Mark 15:37, 39, CBQ 78 (2016), 682–705, 705, weist unter Bezug auf G. C. Kenney, Mark’s Gospel: Lectures and Lessons, Lanham 2007, 93, zu Recht darauf hin, dass die Bedeutung der markinischen Pneumatologie häufig untergewichtet bzw. vernachlässigt worden ist. Vgl. auch Beck, Verstehen (s. Anm. 25), 284–292. 114 Mit dem Verhältnis der markinischen Christologie und Geistthematik zum πνεῦμα-Verständnis bei Paulus und Lukas befasst sich G. Buch-Hansen, The Politics of Beginnings – Cosmology, Christology and Covenant: Gospel Openings Reconsidered in the Light of Paul’s Pneumatology, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 213–242, hier 238–242. 115 A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie, BWANT 197, Stuttgart 2011, 161.
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Es legt eine hell-und-dunkel-Polarität, einen Antagonismus zwischen gut und böse, über die Handlung. Ihren Abschluss findet die Geistthematik mit der Verwendung des Verbs ἐκπνέω als Ausdruck für das Sterben Jesu. Die Reaktion und das Bekenntnis des Centurio in 15,39 legen nahe, dass der Jesus in 1,10 vertikal von oben verliehene Geist auf ihn übergegangen ist und sich damit horizontal unter die Menschen auszubreiten begonnen hat. Der markinische Karfreitag impliziert ein pfingstliches Geschehen. Bewertet man das Gottessohnbekenntnis116 des Centurio als eines unmöglichen Zeugen theologisch als ein österliches Ereignis, lässt sich pointiert formulieren, dass im Markusevangelium Ostern und Pfingsten auf den Karfreitag fallen.117 Mindestens vier direkte Bezüge zwischen der Tauf‑ und der Kreuzigungsperikope dokumentieren den inneren Dialog zwischen beiden Szenen.118 Im Einzelnen handelt es sich um den Empfang und den Verbleib des Pneuma, um das Erklingen der φωνή, um die
116 Zu der kontrovers diskutierten Frage, ob die im Imperfekt formulierte Aussage des Centurio als Bekenntnis anzusehen sei, vgl. zutreffend U. Schnelle, Paulinische und markinische Christologie im Vergleich, in: O. Wischmeyer / D. C. Sim / I. J. Elmer (Ed.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin / Boston 2014, 283–311, 305: „Die Vergangenheitsform ἦν signalisiert, dass für Markus der irdische Jesus der Gottessohn war.“ Bosenius, Raum (s. Anm. 88), 73, zitiert zustimmend C. Breytenbach, Abgeschlossenes Imperfekt? Einige notwendig gewordene Anmerkungen zum Gebrauch des griechischen Imperfekts in neutestamentlichen Briefen, ThLZ 118 (1993), 85–91, 87, der unter Hinweis auf Mk 15,39 feststellt, dass das Imperfekt auch dazu dient, „die Erkenntnis von etwas zuvor nicht Erkanntem auszudrücken“. „Der Hauptmann kommt (…) zu einer anderen Einsicht als zuvor.“ (Ebd. 87). Anders M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 94. Vgl. die Argumentation bei P.-G. Klumbies, Das Raumverständnis in der Markuspassion, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 25–49, 41.42, Anm. 30. Aguilar Chiu, Theological Reading (s. Anm. 113), 689–693, hier 691–692, referiert die Debatte in der englischsprachigen Forschung und hebt unter Verweis auf M. D. Hooker, The Gospel according to Saint Mark, BNTC, Peabody 1991, 378, darauf ab, dass zwischen der Wahrnehmung des Centurio und der Perspektive der Leserschaft zu differenzieren ist. 117 Vgl. P.-G. Klumbies, Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das „heilige Grab“, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 71–105, 76, und Klumbies, Konzept des „mythischen Raumes“ (s. Anm. 64), 116. 118 D. Ulansey, The Heavenly Veil Torn. Mark’s Cosmic Inclusio, JBL 110 (1991), 123–125, 123, spricht unter Bezug auf S. Motyer, The Rending of the Veil: A Markan Pentecost?, NTS 33 (1987), 155–157, 155, in diesem Zusammenhang von einer „symbolic inclusio“, die den exakten Beginn und das präzise Ende der irdischen Laufbahn Jesu miteinander verklammere. Von Motyer übernimmt Ulansey als weiteres verbindendes Element den Bezug auf Elia, den Motyer, Veil (s. Anm. 118), 156, bei der Taufe durch die Person des Johannes und in der Todesszene durch den Ausruf der Zuschauer in V. 35 vergegenwärtigt sieht. Bosenius, Raum (s. Anm. 88), 74, Anm. 25, beurteilt die Herstellung der Beziehung zu Elia skeptisch. Zur Verklammerung beider Perikopen vgl. auch Aguilar Chiu, Theological Reading (s. Anm. 113), 683–685, und H. M. Jackson, The Death of Jesus in Mark and the Miracle from the Cross, NTS 33 (1987), 16–37, 31.
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Richtungsangaben, die „oben“ und „unten“ miteinander verbinden sowie um die Verwendung des Verbs σχίζω.119
2.3.3 Der Mensch als Besessener und Ausgeschlossener: Anthropologische Grundlagen Die Geistthematik findet ihr Pendant in der markinischen Anthropologie. Menschen bei Markus begegnen als Besessene.120 Die Exorzismen in Mk 1,21–28 und 5,1–20 zeigen Jesus in dramatischen Auseinandersetzungen um die Befreiung einzelner Menschen von sie quälenden Dämonen. Auch an anderen Symptomen wird sichtbar, dass Menschen im Markusevangelium von nicht-göttlichem Geist beherrscht sind. Die Jünger erweisen sich als unverständig gegenüber Jesu missionarischem Anliegen, Mk 8,14–21. In Mk 9,33–35 und 10,35–45 werden sie als karriereinteressiert gezeichnet. Petrus, der Prototyp des Jesusjüngers, zeigt sich leidensabgeneigt – so in seinen Widerworten gegen Jesu erste Leidensankündigung in 8,32. Dies trägt ihm sogar den Vorwurf Jesu ein, aus ihm spräche der Satan (8,33). Ausgrenzendes Verhalten, wie es aus dem Widerstand der Schriftgelehrten gegen Jesu Zuspruch der Sündenvergebung an einen körperlich Behinderten in Mk 2,7 herausscheint121 und die Stigmatisierung von Zöllnern, die aus dem Protest der Pharisäer in 2,16 gegen die Tischgemeinschaft Jesu mit dieser Personengruppe spricht, zählen ebenfalls zur Signatur des Geistes, den zu vertreiben Jesus angetreten ist. Sichtbar wird im Markusevangelium die Vorstellung einer Gottesgemeinschaft, in die Menschen zurückzuführen Jesus sich unermüdlich bemüht. Den Gelähmten in 2,5 vergewissert er der bleibenden Zuwendung Gottes, die durch seine körperliche Behinderung nicht aufgehoben ist.122 Levi und weitere Zöllner und Sünder nimmt Jesus in seine Tischgemeinschaft hinein und hebt ihre soziale und religiöse Exklusion auf. Lähmung (2,12) und Stummheit (7,37) gegenüber 119 Vgl. dazu im Einzelnen Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 273–278; P.-G. Klumbies, Das inszenierte Sterben Jesu. Lebensentwürfe nach Markus und Lukas, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 50–70, 53–56, und P.-G. Klumbies, Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas, in: Ch. Landmesser / A. Klein (Hg.), Kreuz und Weltbild. Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011, 47–65, 58. Zu den Parallelen zwischen 1,9–11 und 15,37–39 vgl. ebenfalls die Bestandsaufnahme und Interpretation bei Bosenius, Raum (s. Anm. 88), 69–80. 120 Vgl. G. Klein, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349, 340–342. 121 R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: G. Thomas / I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246, 244. 122 Vgl. dazu im Detail P.-G. Klumbies, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik 6), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 235–247, 242.
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Gottes wunderbarem Handeln löst er ebenso wie die Blindheit seinem eigenen Handeln gegenüber (8,11–34). Seine mit eucharistischen Anklängen versehenen Speisungen verweisen auf die tiefgehende geistliche Sättigung, die Jesus vermittelt (6,30–44; 8,1–10; 8,22–26). Auch der Unfähigkeit, den ebenso heilsamen wie notwendigen Charakter seines Leidens, Sterbens und Auferstehens zu sehen, tritt er mit einem zeichenhaften Akt entgegen (10,46–52). 2.3.4 Die ätiologische Begründung geltender Normen Der Zyklus von fünf ätiologischen Erzählungen in 2,1–3,6 präsentiert normative Entscheidungen zur theologisch-ethischen Orientierung der christlichen Gemeinde nach dem Jahr 70. Signifikant für die traditional wirkenden Episoden ist, dass Jesus in ihnen nicht apologetisch Überzeugungen gegenüber Kritik von außen verteidigt.123 Stattdessen tritt er als normsetzende Instanz in einer Weise auf, die seine Opponenten zum Widerspruch provoziert.124 Die Maximen, die er vorgibt, führen fast zwangsläufig zu Konflikten. Der Widerstand gegen Jesus verschafft sich am Ende des Zyklus in 3,6 im ersten Todesbeschluss Luft. Ein zentrales Motiv aller fünf geschilderten Szenen ist, dass es zwischen den früheren religiösen Normen und den jetzigen christlichen angesichts einer konkreten theologisch-ethischen Herausforderung keine Kompromisse gibt. Das Neue, das sich mit Jesu Auftreten verbindet, wird nicht aus dem bestehenden Alten abgeleitet. Jesus hat nichts zu verteidigen. Er setzt seine Vorgaben den geltenden Normen als Alternativen entgegen. Alt und neu werden in akuten krisis-Situationen zu Alternativen, die kein „sowohl – als“ auch zulassen. Die Szenen in 2,1–3,6 rufen den status confessionis auf. Mit seinem Zuspruch der Sündenvergebung an einen körperlich gelähmten Mann in 2,1–12 begibt sich Jesus in das Verstrickungsverhältnis von Krankheit, Sünde und Schuld. Die geistliche Lähmung, die ihm in der ablehnenden Verhärtung der Schriftgelehrten entgegentritt, macht deutlich, dass umfassende Heilung die Einheit von körperlicher und geistlicher Dimension zu berücksichtigen hat. Die Restitution verloren geglaubter Gottesgemeinschaft in 2,1–12, die Reintegration von Menschen, die sich als sozial Ausgegrenzte vorfinden in 2,13–17, die prinzipiellen Fragen nach dem Verhältnis von gleich und ungleich, alt und neu und der Situationsangemessenheit des Verhaltens in 2,18–22, das 123 So jedoch häufig die Auskunft formgeschichtlicher Auslegungen dieser Perikopen. Statt einer Apologie bestimmter Werthaltungen gegenüber jüdischen Kritikern bezieht der erzählte Jesus theologische Positionen von theologisch-ethischer Relevanz für die Selbstverständigung unter Christen in den 70er Jahren des ersten Jahrhunderts. 124 Zum Problem der Erkenntnis von Normen in Texten vgl. R. Zimmermann, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F. W. Horn / U. Volp / R. Zimmermann (Hg.), in Zusammenarbeit mit E. Verwold, Ethische Normen des frühen Christentums: Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Context and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 3–27, 22–24.
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Wohl des Menschen als Orientierungskriterium in der ethischen Entscheidungssituation in 2,23–28, die Einsicht in 3,1–6, dass es angesichts des im Augenblick Gebotenen keine Neutralität für eine Entscheidung zwischen Gut und Böse gibt – das sind die normativen Setzungen, die Jesus in 2,1–3,6 vorgibt.125 Die Herausbildung einer theologisch-ethischen Eigenidentität hat, so die Erzählungen, nicht erst in der Generation der Christen an der Wende vom siebten zum achten Jahrzehnt Konflikte provoziert. Die Konfrontationen, denen sich Christen in den sechziger Jahren mit zunehmender Schärfe in Israel ausgesetzt sahen, haben, so die Erzählung, ihren Ursprung im Wirken Jesu selbst. 3,6 spricht die tödlichen Implikationen aus, die den christlichen Weg begleiten. 2.3.5 Hoheit und Niedrigkeit: Statusfragen im Markusevangelium Ein Hauptproblem bei der Wahrung eines gelingenden Gemeinschaftslebens liegt nach markinischer Darstellung im Umgang mit Statusfragen. Neben dem schon angesprochenen Umgang mit den Ambitionen seiner ehrgeizigen Jünger in Mk 10,35–45 betrifft dies primär das Verständnis der Rolle Jesu selbst. Anders als es in der Folge von William Wredes Messiasgeheimnistheorie immer wieder nachgesprochen wird, geht es bei Markus nicht darum, mittels Schweigegeboten, Jüngerunverständnis und Parabeltheorie einen vorausgesetzten Hoheitsstatus Jesu zu verschleiern. Bei Wrede diente diese Hypothese dazu, einem historischen Dilemma abzuhelfen. Die Messiasgeheimnistheorie sollte einen Ausgleich zwischen dem nachösterlichen Messiasglauben der Gemeinde und deren gleichzeitigem Wissen darum schaffen, dass Jesus zu Lebzeiten sich selbst nicht als Messias bezeichnet hat und auch nicht als solcher wahrgenommen wurde. Formgeschichtlich adaptiert und dialektisch-theologisch durchformt wurde Wredes Theorie dem Evangelisten zugerechnet, der die definitive Offenbarung Jesu als des Gottessohnes an das Osterereignis binden und diesem vorbehalten sein lassen sollte.
Entgegen Wredes Annahme verhält es sich bei Markus jedoch gerade umgekehrt: Der markinische Jesus wehrt sich dagegen, aus der Menge der Gleichen herausgehoben zu werden. Er verweigert sich einer Statuserhöhung.126 Jesus fordert die Dämonen in 1,21–28 und 5,1–20, die sich ihm durchaus respektvoll nähern, nicht auf zu schweigen. Vielmehr bringt er sie zum Schweigen, d. h. er vernich125 Siehe dazu im Einzelnen P.-G. Klumbies, Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6, in: U. Volp / F. W. Horn / R. Zimmermann (Hg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics VII, WUNT 356, Tübingen 2016, 169–188. 126 Vgl. Th. Söding, Der König am Kreuz. Politik und Religion in der Passionsgeschichte, in: M. Bär / M.-L. Hermann / Th. Söding (Hg.), König und Priester. Facetten neutestamentlicher Christologie, FS Claus-Peter März, EThS 44, Würzburg 2012, 89–120, 95: Der „Gegensatz von Macht und Ohnmacht“ steuert die markinische Kreuzestheologie.
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tet sie. Die Abweisung seiner Statuserhöhung praktiziert Jesus auch gegenüber den eigenen Jüngern, exemplarisch angesichts des von Petrus ausgesprochenen Christusbekenntnisses in 8,30–32. In der erzählten Welt wird im Fortlauf der Handlung deutlich, warum Jesus sich gegen das petrinische σὺ εἶ ὁ χριστός verwahrt. Gleichlautend begegnet dieser Satz an der für das Schicksal Jesu entscheidenden Umschlagstelle noch einmal. Beim Verhör Jesu durch den Hohenpriester fallen dieselben Worte in identischer Weise ein zweites Mal: σὺ εἶ ὁ χριστός (14,61). Jesus reagiert darauf differenziert. Zum ersten Mal in der erzählten Welt des Markus stimmt er einem Erhöhungsangebot zu, auch wenn dieses im Munde des Hohenpriesters lediglich verhörstrategische Gründe besitzt. Immerhin versucht Jesus die Aussage in seinem Nachsatz (14,62b) zu modifizieren. Statt des Christustitels verwendet er zum wiederholten Mal die zurückhaltendere Menschensohnbezeichnung. Aber seine nachgeschobene Erläuterung ändert nichts mehr daran: Die Zustimmung zu der Erhöhungsaussage – ἐγώ εἰμι – bedeutet sein Todesurteil. Jetzt bewahrheitet sich die Tödlichkeit der Wendung, die er dem Petrus verwehrt hatte. Die Verknüpfung der Petrus-Szene in Cäsarea Philippi mit dem hohepriesterlichen Verhör in Jerusalem wird dramaturgisch unterstrichen durch die Verschachtelung der Verhörszene mit ihrem Rahmen. In 14,53–54 und 14,66–72 ist Petrus unmittelbar in der Szene anwesend. Indem er draußen im Vorhof abstreitet, Jesus zu kennen (14,71), geht er auf Distanz zu seinen eigenen Worten.127 Die Statuserhöhung als ein tödliches Risiko, weil vom anschließenden Sturz gefährdet, ist neben den Aggressionen, die das normsetzende Verhalten Jesu hervorruft, die zweite Erzähllinie, mit der der Erzähler plausibel macht, warum Jesus am Ende seiner Lebensgeschichte eines gewaltsamen Todes stirbt. 2.4 Der Mythos und seine Grenze 2.4.1 Mythische Raumgestaltung im Markusevangelium Dass die Geographie des Markusevangeliums mit theologischen Bedeutungen verknüpft ist, ist seit Ernst Lohmeyers Studie „Galiläa und Jerusalem“ breit rezipiert worden,128 auch wenn in inhaltlicher Hinsicht das Ergebnis inzwischen differenzierter ausfällt.129 Elisabeth Malbon hat in ihrer Untersuchung auf die mythischen Implikationen bei der Gestaltung des geopolitischen, topographi-
127 Den Zusammenhang zwischen 8,27–33 und 14,53–65 thematisiert Beck, Verstehen (s. Anm. 25), 301–303, ebenso wie die „simultan“ stattfindende Verleugnung Jesu durch Petrus in 14,66–72. 128 E. Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem, Göttingen 1936. Zur Rezeption der These Lohmeyers durch Lightfoot, Marxsen und Kelber vgl. E. van Eck, Galilee and Jerusalem in Mark’s Story of Jesus: A Narratological and Social Scientific Reading, HTS.S 7, Pretoria 1995, 12–17. 129 Vgl. Klumbies, Konzept des „mythischen Raumes“ (s. Anm. 64), 103–104.117–118.
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schen und architektonischen Raums in der erzählten Welt der markinischen Evangelienschrift aufmerksam gemacht.130 Folgt man den Orts‑ und Richtungsangaben im Einzelnen ergibt sich für das Markusevangelium als Ganzes eine Geographie in Kreuzform. Die mit Galiläa – Jerusalem bezeichnete Nord-Süd-Achse, die durch den Rückverweis auf Galiläa in 16,7 zu einer Nord-Süd-Nord-Achse wird, wird mit Beginn der erweiterten Passionserzählung ab 11,1 durch die Erwähnung diverser Ortsangaben um eine Ost-West bzw. West-Ost-Achse ergänzt. Möglicherweise spiegelt sich in der Raumgestaltung des Markusevangelium die Ordnung der römischen Limitation (limitatio) mit ihrer Orientierung an Cardo und Decumanus wider. Diese geht ihrerseits auf die sakrale Raumordnung der Etrusker mit ihrer Aufteilung des Himmels in Kreuzform zurück.131 Charakteristisch für die markinische Raumkonzeption ist die Dreiregionalität von Galiläa, Jerusalem und den hellenisierten Gegenden, die Jesus im Zuge seiner Reise betritt. Überall ist er um die Ausbreitung des ihm bei seiner Taufe verliehenen göttlichen Pneuma bemüht. Der flankierende Hinweis auf die vier Himmelsrichtungen (13,27) und die weltweit eintretende Dunkelheit vor dem Sterben Jesu (15,33) heben im Zusammenspiel darauf ab, dass dem Sterben Jesu eine die gesamte Welt betreffende Bedeutung zukommt. Die Raumvorstellung steht im Dienst der theologischen Konzeption, die internationale Ausbreitung der christlichen Verkündigung als in der Jesusgeschichte angelegt zu dokumentieren.132 2.4.2 Mythisches und Metaphorisches: Jesu Handeln in Tat und Wort Wunder‑ und Gleichniserzählungen zeichnen im Markusevangelium einen Jesus, der seine Botschaft tatkräftig und wortmächtig vertritt. Zur Vermeidung des unscharfen Begriffs „Wunder“133, wird hier die Bezeichnung „mythische Sequenzen“ bevorzugt.134 Für beide Typen von Erzählungen ist die Zweisträngigkeit ihres Ablaufs charakteristisch. Beide Erzählformen enthalten einen in moderner Rationalität als „realistisch“ zu bezeichnenden Zug; und beide Stränge gehen zugleich nicht in der Darstellung diesseitiger Begebenheiten auf, sondern weisen über sich hinaus auf eine zweite Ebene. Bei den mythischen Sequenzen 130 E. S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, BiSe 13, Sheffield 21991, 39–40.96–97.107.114.133. 131 Vgl. dazu im Einzelnen Klumbies, Konzept des „mythischen Raumes“ (s. Anm. 64), 119–121. 132 Die Beziehung zwischen der vertikalen und der horizontalen Raumachse im Markusevangelium gibt auch das strukturierende Prinzip für die Untersuchung des literarischen Raums bei Bosenius, Raum (s. Anm. 88), ab: „Teil II – Die vertikale Raumachse“ (21); „Teil III – Die horizontale Raumachse“ (101). 133 Die Versuche einer Definition des Begriffs „Wunder“ unterliegen der Schwierigkeit, dass sie in unmittelbarem Zusammenhang mit einem bestimmten Rationalitätsverständnis stehen, das die jeweiligen Erklärungen leitet. 134 Eingeführt wurde der Begriff bei Klumbies, Mythos (s. Anm. 3), 252.
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geht ein materieller mit einem spirituellen Erzählstrang einher. Dabei durchdringen sich beide Linien wechselseitig, deuten aufeinander und zeugen in ihrer Gesamtheit von einem Weltbild, in dem göttliches und menschliches Handeln ineinandergreifen. Die Zweisträngigkeit von Gleichniserzählungen verläuft hingegen in einer Parallelführung. Der Verweischarakter, der von dem Erzählten ausgeht, resultiert nach klassischer Lehre aus dem einen Vergleichspunkt, der den Absprung in die immaterielle Welt der Bedeutungszuschreibung ermöglicht. Mit der Aufweichung der von Adolf Jülicher geforderten Beschränkung auf das eine tertium comparationis, etwa durch die metaphorische Ausdeutung von Einzelzügen,135 rückt die Gleichnisauslegung näher an die von der Wahrnehmung mythischer Wechselbezüge bestimmte Wunderexegese heran. Bleiben bei Gleichniserzählungen Bild und Sache trotz großer Nähe nebeneinanderstehen, ohne miteinander zu verschwimmen, fließen in mythischen Sequenzen „harte“ Faktizität und wundersames Geschehen ineinander. In der Auslegung beider Erzählformen liegt überdies ein Unterschied darin, dass die Auslegung eines Gleichnisses bzw. eine metaphorische Auslegung von der Rationalität der Ausleger gesteuert ist, die die Bedeutungszuschreibung vornehmen. Die Interpretation einer mythischen Sequenz folgt hingegen der der Erzählung innewohnenden mythischen Weltsicht und zielt darauf ab, deren eigene Rationalität zur Sprache zu bringen. 2.4.3 Die Zirkularität der Erzählung Der Zyklizität des Mythos entspricht die Zirkularität der Darstellung bei Markus. Die mythisch durchformte ätiologische Jesuserzählung findet ihre Vollendung durch den Schluss in 16,7 und 8. Dem Gesetz der römischen Rhetorik des Schweigens entsprechend besitzt das offene Ende in 16,8 Appellcharakter. Die Leserschaft wird mit der provokanten Frage aus der Erzählung entlassen, ob sie etwa auch in Zittern und Entsetzen, in Furcht und Sprachlosigkeit verharren will. Dem Hinweis auf die Begegnung mit dem Auferweckten in Galiläa in 16,7 wohnt ein doppelter Richtungspfeil inne. Zum einen werden die Frauen und die genannten Jünger in die Region zurückverwiesen, in der ihre gemeinsame Geschichte mit Jesus begann. Literarisch begründet die Nennung Galiläas einen Zirkelschluss. Laut Mk 1,9 ff. hat die Jesusgeschichte in Galiläa ihren Anfang genommen, und der Impuls, dorthin zu gehen, beinhaltet die Rückkehr zu den eigenen Anfängen. „Galiläa“ wird zum Synonym für den Ursprung der eigenen Glaubensgeschichte. Als Leseanweisung verstanden fordert der Verweis auf Galiläa dazu auf, die Erzählung noch einmal von vorn zu lesen.136 Darüber hinaus 135 So bei H. Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions‑ und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, FRLANT 120, Göttingen 31984, 58–62. 136 Der Gedanke, dass der Schluss des Markusevangeliums den Impuls zu einer neuerlichen Lektüre des Werkes impliziert, ist nicht neu. Unterschiedlich sind die Anknüpfungspunkte,
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führt der zweite Richtungspfeil aus der erzählten Welt hinaus. Der Hinweis auf den Herkunftsort der Jesusbewegung baut der Leserschaft die Brücke, „Galiläa“ als Chiffre für ihre persönliche „Heimat“ zu lesen. In ihrem je individuellen „Galiläa“ erfolgt die Begegnung mit dem Auferweckten. In der Sache bindet die Erzählung damit den Osterglauben in die Biographien der Leserschaft ein.137 2.4.4 Die Grenze des Mythos bei Markus Auch wenn das Markusevangelium durch mythische Elemente geprägt ist, ist es in seiner Gesamtheit kein Mythos. Die Grenze für den Einsatz mythischer Züge wird erreicht, sobald der Tod Jesu in den Horizont der Erzählung rückt. Bereits der erste Todesbeschluss gegen Jesus in 3,6 hat zur Folge, dass die mythische Sequenz in 3,1–5 keine harmonische Auflösung mehr erfährt. Anders als in 2,12 gelingt es Jesus nicht mehr, die Verhärtung seiner Gegner aufzulösen und sie in das Gotteslob hineinzuziehen. Das drastische Vorgehen Jesu gegen den fruchtlosen Feigenbaum und den aus Sicht des Erzählers verdorrten Tempelkult in 11,11–22 wird ungeachtet der Kraft, die Jesus in dieser Szene verströmt, in 11,18 zum weiteren Auslöser für das spätere Todesurteil gegen ihn. Auch in der Sterbeszene Jesu in 15,33–39 sind Verstöße gegen die Regeln mythischer Logik festzustellen. Jesu letzte Worte in 15,34 fallen mit dem Ende der dreistündigen Finsternis zusammen. Statt das Ende Jesu in Dunkel zu hüllen und so als Katastrophe zu kennzeichnen, lässt der Erzähler Jesus im Hellen sterben. Jesu Tod erscheint als ein lichtes Geschehen. Die Lichtverhältnisse qualifizieren ihn als ein soteriologisches Geschehen.138 Der abrupte Szenenwechsel in 15,38 ist mit der Wendung der Blickachse von Golgotha im Westen zum Tempel im Osten Jerusalems verbunden. Der auf die neben 1,1 verwiesen wird. M. Horstmann, Studien zur markinischen Christologie. Mk 8,27–9,13 als Zugang zum Christusbild des zweiten Evangeliums, NTA 6, Münster 1969, 131–132, sieht diesen in Mk 1,14; für Schmidt, Wege (s. Anm. 92), 97–98, ist unter Verweis auf M. Wichelhaus, Am ersten Tage der Woche, NT 11 (1969), 45–66, 62, der Bezug auf Mk 1,35–39 konstitutiv. 137 Vgl. dazu ausführlich P.-G. Klumbies, Mk 16,1–8 als Verbindung zwischen erzählter und außertextlicher Welt, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 129–143, 134–136. 138 Die soteriologische Dimension der Sterbeszene Jesu wird exakt erfasst von A. Wypadlo, „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Überlegungen zur Funktion des Centuriobekenntnisses im christologischen Entwurf des Markusevangeliums, BZ NF 55 (2011), 179–208, 194. Die lukanische Fassung der Szene korrigiert diese markinische Pointe. Lukas stellt die mythische correctness wieder her, indem er die Lichtverhältnisse ändert. Während der gesamten Hinrichtung bleibt es finster. Dies hebt auf den traurigen Charakter des Geschehens ab. Selbst die Natur trauert über den Tod Jesu. Vgl. die entsprechenden Ereignisse beim Tod Cäsars. P.G. Klumbies, Das Sterben Jesu als Schauspiel in Lk 23,44–49, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 144–171, 156–158.
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christliche Erzähler lenkt den Blick vom soeben verstorbenen Jesus zum geöffneten Allerheiligsten und verknüpft auf diese Weise Gottes Offenbarung mit dem Tod Jesu.139 Das Gottesverständnis wird aus westlicher Perspektive – mythisch unkorrekt – unter die christologische Vorentscheidung gestellt.140 Der Tod Jesu sperrt sich bei Markus einer Einzeichnung in das zyklische Schema einer sterbenden und auferstehenden Gottheit. Die Realität des Todes Jesu gibt der ätiologischen Erzählung des Markusevangeliums ihre geschichtliche Bodenhaftung. Die markinische Christologie wahrt ihren inkarnatorischen Grundzug.
139 Vgl. R. Feldmeier, Der Gekreuzigte im „Gnadenstuhl“. Exegetische Überlegungen zu Mk 15,37–39 und deren Bedeutung für die Vorstellung der göttlichen Gegenwart und Herrschaft, in: M. Philonenko (Hg.), Le Trône de Dieu, WUNT 69, Tübingen 1993, 213–232, 228. 140 Die Bewertung der Sterbeszene erfolgt im Lukasevangelium unter Wahrung der üblicherweise mit den Richtungen verbundenen Konnotationen. Der Osten ist mit „Heil“ verbunden, während der Westen auf die Sphäre des Todes verweist. Insofern sorgt das Lukasevangelium für eine „Bereinigung“ der Perspektive im traditionell mythischen Sinn, indem es die gesamte Szene vollständig aus östlicher Blickrichtung darstellt.
Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung The Oldest Evangelical Writing as an Aetiological Narrative To read the gospel according to Mark as a narrative is, theologically speaking, by no means the only option. For some 250 years the Jesus-stories of the New Testament gospels have been investigated as sources for the historical Jesus. An aetiological reading was often seen as a threat to mainstream historical criticism of the Bible. The close relation between myth and aetiology was another reason to refrain from a narratological approach. An aetiological reading of Mark, rather than focussing on the life time of Jesus in the twenties of the first century, interprets the gospel as a document of Christian life after the destruction of the Jewish temple in the Roman-Jewish war of A. D. 70. Hence, Mark’s narrative is not a ‘gospel’ in the sense of ‘genre’ but an ἀρχή, i. e. the story of the beginnings of Christian faith in Jesus. The Christians of the eigth decade retrospectively told their origins in the context of Jesus’ life and preaching. Their norms and values were presented as resulting directly from Jesus’ life. There also is a historical dimension in reading Mark as an aetiological narrative. The focus, however, is not on the historical Jesus but on the theologically creative Christian community of the seventies. The main aim of the narratological approach is to describe and discuss the theological issues in the stories about Jesus.
Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung zu lesen, versteht sich im Rahmen der Theologie nicht von selbst. Eine solche Leseperspektive begibt sich in Konkurrenz zu einem Zugang, der über einen Zeitraum von 250 Jahren die neutestamentlichen Evangelien vor allem als historische Quellen wahrgenommen hat. Den nachstehenden Ausführungen wird daher in einem ersten Abschnitt eine Skizze der theologiegeschichtlichen Voraussetzungen für die Behandlung der Thematik vorangestellt. Darin werden die spezifischen Rahmenbedingungen benannt, denen das Thema „Ätiologie und Evangelien“ innerhalb der Theologie unterliegt. Teil zwei der Darstellung gibt einen Einblick in die Diskussion um die Bestimmung der Textsorte der ältesten Evangelienschrift. Deutlich werden soll darin, gegenüber welchen Alternativen die Gattungszuschreibung „Ätiologie“ sich behaupten muss. Der dritte Abschnitt begründet die Bezeichnung des Werkes als einer ätiologischen Erzählung. Im vierten Teil werden die zentralen Erzähllinien der ältesten Jesusdarstellung des Neuen Testaments nachgezeichnet. Der Schlussteil fünf hebt als Fazit auf den Antwortcharakter des markinischen Werks ab.
1. Der theologiegeschichtliche Hintergrund
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1. Der theologiegeschichtliche Hintergrund In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts waren neben anderen staatstragenden Institutionen auch die Kirchen und die Theologie in eine Legitimationskrise geraten. Die traditionellen Glaubensvorstellungen griffen nicht mehr. In einer Epoche, die die Autonomie des Geistes zum Leitbild erhob, wirkte die traditionelle Christusverkündigung überholt. Christlicher Glaube drohte zu einer Sache für die zu werden, die geistig nicht Schritt halten konnten. 1799 fragte Friedrich Schleiermacher ganz offen: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“1 Neben den neuen aufstrebenden Natur‑ wie Geisteswissenschaften hatte der Stern der Theologie zu sinken begonnen. In dieser Phase kam es in der evangelischen Bibelwissenschaft zu einem radikalen Umbruch. Man verabschiedete sich von den bis dahin verbindlichen dogmatischen Prämissen. Das heißt, man hörte auf, die Bibel Alten und Neuen Testaments als direkte Offenbarungsurkunden zu lesen. Nicht Gott selbst hatte den biblischen Schriftstellern die Feder geführt. Neu eingeführt wurde der Gedanke, dass in den biblischen Schriften Menschen ihre Gedanken über Gott schriftlich fixiert hatten. 1787 formulierte Johann Philipp Gabler an der damaligen Universität Altdorf die bis heute verbreitete Maxime: „Die Biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben.“2 Damit war die Umformung der Theologie, in diesem Fall insbesondere der Bibelwissenschaft, zu einer historischen Wissenschaft angestoßen. Die historische Kritik ist seither zum Markenzeichen der Theologie unter dem Banner der Aufklärung geworden. Theologische Begründungsfragen sollten von da ab historisch beantwortet werden. Dogmatische Geltung beanspruchen sollte nur noch das, was sich historisch ausweisen konnte. An die Stelle der traditionellen Christusdogmatik setzte man den von vermeintlichen dogmatischen Verkrustungen befreiten Jesus der Geschichte. Der historische Jesus, seine Verkündigung und sein Handeln, sollten ins Zentrum des aufgeklärten christlichen Glaubens rücken.3 1 Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, hg. v. H. Mulert, Gießen 1908, 36 (zitiert nach G. Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften, in: Ders., Wort und Glaube, Zweiter Band. Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 305–342, 342). 2 Zitiert nach O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, MThSt 9, Marburg 1972, 275. 3 Prominent zusammengefasst hat das in seinen Vorlesungen über das Wesen des Christentums im Wintersemester 1899/1900 in Berlin vor sechshundert Hörern A. Harnack (Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, Akademische Ausgabe, Leipzig 1902).
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Vor der ersehnten historischen Grundlegung des Glaubens in der Lebensgeschichte Jesu galt es jedoch ein Problem zu lösen. Die Jesusüberlieferungen des Neuen Testaments liegen in vier Evangelienschriften vor. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Exegese keine Schwierigkeiten mit diesem Befund. In der Tradition wurden die vier Werke komplementär für die Erstellung eines Jesus-ChristusBildes gelesen. Jetzt trat unter dem Aspekt des Quellenwerts die Frage nach der ältesten Evangelienschrift in den Vordergrund. Welches der vier Evangelien ist das älteste und gewährleistet den bestmöglichen Zugang zum historischen Jesus? Nach einer Phase intensiver literar‑ und quellenkritischer Forschung verhalf im Jahre 1835 Carl Lachmann der Anerkennung der Markuspriorität zum Durchbruch.4 In der Folge setzte ein Boom quellenorientierter Leben-Jesu-Forschung ein. Schon bald aber stellte sich Ernüchterung ein. Keine zwei Darstellungen Jesu, wie er „wirklich gewesen“,5 glichen einander. 1905/06 konstatierte Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ das Scheitern der Bemühung. Jeder Forscher habe die Lücken der Überlieferung mit seiner Imagination gefüllt.6 Gleichwohl ist das Interesse an Jesus als historischer Persönlichkeit nie erloschen. Der Grund dafür liegt neben der wissenschaftlichen Neugier darin, dass sich in der Theologie seit der Aufklärung mit historischen Resultaten normative Aussagen verbunden haben. Nach wie vor besteht in Teilen der Bibelwissenschaft die Auffassung, dass gegenwärtig geltende normative Vorgaben durch den Rekurs auf die geschichtlichen Anfänge des Christentums legitimiert werden müssten.7 Wenn eine Untersuchung des Markusevangeliums als der ältesten Evangelienschrift sich also vom Bezug auf die historische Frage nach Jesus ablöst, gerät sie leicht unter Rechtfertigungsdruck. Lesen wir das Markusevangelium als ätio4 C. Lachmann, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, ThStKr 8, Tübingen 1835, 570–590. Lachmann beobachtete, dass das Matthäus‑ und das Lukasevangelium in der Reihenfolge des Stoffes, den sie mit dem Markusevangelium gemeinsam haben, untereinander solange übereinstimmen, wie sie auch mit dem Markusaufriss übereinstimmen. Weicht einer der beiden von der Markusreihenfolge ab, stimmen sie auch untereinander nicht mehr in der Reihenfolge überein. Lachmann folgerte daraus, dass sich Matthäus und Lukas an Markus als ihrer Vorlage orientiert hatten. Vgl. dazu auch die Darstellung bei W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 181976, 31. 5 In Abwandlung der Ranke-Formulierung „wie es eigentlich gewesen“. 6 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2 Bände, Gütersloh 31977, 620: „List, Kunst, Künstlichkeit und Gewalt“ seien „in die Gesamtanschauung, die den Jesus der Theologie der letzten einhundertfünfzig Jahre hervorgebracht hatte“, eingeflossen. Der Jesus von Nazareth der Leben-Jesu-Forschung „ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde.“ 7 Vgl. J. Schröter, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: Ders. / R. Brucker (Hg.), der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin / New York 2002, 163–212: „Theologie bleibt auf den Bezug zur Geschichtswissenschaft verwiesen“ (164), weil sie „sich kritisch vor ihren Ursprüngen“ (163/164) zu verantworten habe.
2. Die Debatte um die Textsorte der ältesten Evangelienschrift
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logische Erzählung, rückt es in die Nähe einer mythisch durchformten hellenistischen αἰτία. Eine solche Zuschreibung droht die historisch ausgerichtete Jesusforschung ihrer Quellengrundlage zu berauben. Als ätiologische Erzählung erscheint das Markusevangelium für die historische Frage als wenig brauchbar. Mit dem Verlust des Zugriffs auf die historische Person Jesus sehen Teile von Theologie und Kirche zugleich die Legitimationsgrundlage für die gegenwärtige Formulierung des christlichen Glaubens gefährdet.
2. Die Debatte um die Textsorte der ältesten Evangelienschrift Nach dem Tod Jesu um das Jahr 30 stand der Begriff „εὐαγγέλιον“ vier Jahrzehnte lang für die mündliche Frohbotschaft von Jesus Christus. Erst um das Jahr 70 mutiert dieses εὐαγγέλιον zu einem literarischen Werk über das Leben und Wirken Jesu. In einer Rückschau vergegenwärtigt sich die markinische Gemeinde: Was in ihrer Gegenwart Gültigkeit besitzt, hat seinen Anfang in der Lebensgeschichte Jesu genommen. Bei der Zuweisung des Markusevangeliums zu einer Textsorte resp. Gattung stehen zwei Positionen einander gegenüber.8 Auf der einen Seite wird die These von der Unableitbarkeit der Textsorte „Evangelium“ vertreten. Auf der anderen Seite wird versucht, die Textgattung „Evangelium“ aus älteren antiken Gattungen abzuleiten oder Analogien zu entdecken. Die Auffassung von der Unableitbarkeit der Gattung „Evangelium“ besagt in der Sache: Gottes Offenbarung in Jesus Christus ging mit der Entstehung einer eigenen literarischen Gattung einher. In ihr konnte die Geschichte Jesu sachgemäß festgehalten werden. Dieser Gedanke geht bereits auf Franz Overbeck zurück. Er sah die Evangelien als eine literarische Sondergattung an. Diese gehört zur von Overbeck so genannten christlichen „Urliteratur“, das „ist eine Literatur, welche sich das Christentum so zu sagen aus eigenen Mitteln schafft, sofern sie ausschließlich auf dem Boden und den eigenen inneren Interessen der christlichen Gemeinde noch vor ihrer Vermischung mit der sie umgebenden Welt gewachsen ist“. Overbeck pointiert darüber hinaus: Die Form des Evan8 Im exegetischen Sprachgebrauch eingeführt ist der Terminus „Gattung“. Seine Verwendung setzt in methodischer Hinsicht üblicherweise Wachstumsprozesse der Überlieferung voraus. Auch die Wahrnehmung eines Textes als Quelle für außertextliche Vorgänge im frühen Christentum, sei es zur Zeit der Entstehung der Endfassung der Schrift, sei es in den Vorstadien während des Überlieferungsprozesses oder sei es gar zur Zeit Jesu, verbindet sich mit dem Gebrauch des Terminus „Gattung“. Mit der Verwendung des Begriffs der „Textsorte“ soll demgegenüber der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Zuschreibung auf der Grundlage einer narratologischen Analyse auf synchroner Ebene anhand der Endfassung des Textes erfolgt und das vorliegende Werk als Erzählung einstuft. Die Nomenklatur beinhaltet damit bereits eine Aussage zur Methode und impliziert ein Urteil über den Status des Textes.
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geliums bildet „überhaupt die einzige originelle Form (…), mit welcher das Christentum die Literatur bereichert hat“.9 „Den Formen der damaligen profanen Weltliteratur stehe die urchristliche Literatur fern.“10 Der Gedanke, dass es sich bei den Evangelien um eine Literaturgattung sui generis handelt, wird auch in der Gegenwart noch vertreten.11 Gleichwohl dominiert mittlerweile das Bemühen, in der Gattungsfrage Vorlagen bzw. Analogien der ältesten Evangelienschrift in der antiken vor‑ und außerchristlichen Literatur aufzuspüren. Dazu wird aus der Literaturgeschichte Israels auf das Vorbild der alttestamentlichen Prophetenbiographien12 verwiesen. Auch werden Analogien zwischen den Evangelien und dem Exodusbuch geltend gemacht. Auf diese Weise wird eine innere Beziehung zwischen Mose und Jesus hergestellt; beide hätten – wenngleich in unterschiedlicher Weise – einen Bund zwischen Gott und den Menschen vermittelt.13 Beim Rekurs auf hellenistisch-römische Literaturparallelen wird vorwiegend auf den Einfluss der antiken Biographie verwiesen. Verbreitet sind Zuschreibungen wie „Jesus-Biographie“14, „Idealbiographie“15, „‚Amtsbiographie‘“16, „vita“17 oder „biographische Erzählung“18. Als Parallele wird auch auf die Philosophen F. Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur, Darmstadt 1966 (Nachdruck von 1882), 36. 10 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, 179. 11 Schnelle, Einleitung (s. Anm. 10), hält an der These von der literaturgeschichtlichen Unableitbarkeit der Gattung „Evangelium“ fest und konstatiert: „Der Evangelist Markus schuf diese neue Gattung“ (177). „Die Literaturgattung Evangelium ist (…) eine Form sui generis, sie verdankt sich der theologischen Einsicht, daß in der einmaligen und unverwechselbaren Geschichte des Jesus von Nazareth Gott selbst handelte.“ (178). In ähnlicher Weise hatte auch bereits D. Esser, Formgeschichtliche Studien zur hellenistischen und zur frühchristlichen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der vita Apollonii des Philostrat und der Evangelien, Diss. theol. Bonn 1969, konstatiert, „daß die Evangelien eine Literaturgattung sui generis, eine literarische Neuschöpfung des jungen Christentums, sind und sich in wichtigen Punkten von der antiken biographischen Literatur unterscheiden“ (146–147). Gleichzeitig gelte es jedoch zu beachten, dass mit dem „Übergang des christlichen Kerygmas in den hellenistischen Raum“ die dortige „biographische literarische Tradition“ (147) Einfluss auf die Gestaltung der Evangelienschriften nahm. 12 Nach K. Baltzer, Die Biographie der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1975, 27–28, gehören die Evangelien der von ihm rekonstruierten Gattung „Ideal-Biographie“ an. Die Gestaltung der alttestamentlichen Prophetenbiographie gebe das Vorbild für das Markusevangelium ab. 13 Vgl. M. G. Kline, The Old Testament Origins of the Gospel Genre, WTJ 38 (1975/76), 1–27, 3–8. 14 D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997, 501.508. 15 D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 32002. 16 W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 34. 17 M. Ebner, Das Markusevangelium, in: Ders. / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, KStTh, Stuttgart 2008, 154–183, 168. 18 J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997, 46. 9
3. Das Evangelium nach Markus als ätiologische Erzählung
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viten der Antike verwiesen.19 Daneben findet eine Zuordnung zur antiken historiographischen Literatur statt.20
3. Das Evangelium nach Markus als ätiologische Erzählung Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, an dieser Stelle definieren zu wollen, was eine Ätiologie ist. Im Blick auf das Thema soll lediglich durchsichtig gemacht werden, worauf es beim Begriff „Ätiologie“ im Blick auf die älteste Jesuserzählung der Evangelien ankommt. Ätiologien sind Erzählungen auf der Basis einer mythischen Weltsicht. Sie zielen auf die Prägung der Gegenwart, in der sie vorgetragen werden. Sie leiten Verhältnisse der Gegenwart aus Begebenheiten in der Vergangenheit ab. Die ätiologische Retrospektive führt in eine Vorvergangenheit zurück. Diese Sonderzeit liegt der chronologisch geordneten weiterlaufenden Zeit der Geschichte voraus. Was in dieser Vorzeit passierte und in Gestalt der ätiologischen Erzählung präsent gehalten wird, bildet die Grundlage für die Geschehnisse und Gegebenheiten in der geschichtlichen Zeit. Das Jetzt rekurriert auf das Damals. Das Heute ist das Ergebnis des Gestern.21 Terminologisch etabliert ist der Begriff αἰτία. Eine αἰτία gibt die Ursache, den Grund, die Schuld für ein Geschehnis an. In ferner Vorzeit haben unter Einwirkung göttlicher Mächte Ereignisse stattgefunden, die die Gegenwart prägen und die Identität der gegenwärtig lebenden Generation prägen. Kurt Hübner verwendet synonym zu αἰτία den Begriff der ἀρχή. Ich greife diesen terminus technicus auf; denn er baut begrifflich eine Brücke zum Markusevangelium. Eine ἀρχή ist nach Hübner eine „Ursprungserzählung“. In mythischen Zusammenhängen nimmt sie den Platz ein, den im wissenschaftlichen Denken das Naturgesetz, die geschichtliche oder gesellschaftliche Regel innehaben. Irgendwann hat ein Gott einen Naturvorgang oder ein Ereignis ins Leben gerufen. Seither prägt dieses Geschehen die Gegenwart der Menschen, die sich auf diese initiale Handlung zurückbeziehen.22 Dieses Verständnis lässt sich nicht eins zu eins auf das Markusevangelium übertragen. Denn die Jesusgeschichte spielt nicht in grauer Vorzeit. Sie hat ihren historischen Ort in den zwanziger Jahren des ersten Jahrhunderts. Aber aus der 19 Vgl. die Darstellung bei A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblischhermeneutische Studie, BWANT 197, Stuttgart 2011, 32–34. 20 E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 52: In der kulturellen Schnittstelle zwischen griechisch-römischer und alttestamentlich-jüdischer historiographischer Literatur markiere das Markusevangelium „den (…) Beginn christlicher Geschichtsdarstellung“. 21 Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, Kapitel 2: Mythos als Theorie und Phänomen, 63–98. 22 K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 109–198; K. Hübner, Art. Mythos I., TRE 23 (1994) (Studienausgabe 2000), 597–608, 599–604.
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Perspektive der christlichen Gemeinde um das Jahr 70 handelt es sich um die konstituierende Gründungszeit. In dieser in den Formen mythischer Erzählung präsentierten Epoche23 wurde die Basis gelegt für das, was das spätere christliche Gemeindeleben inhaltlich ausmacht. In diesem Sinn lässt sich die Ära der Jesuszeit als eine Zeit vor der Zeit bezeichnen.24 Anders als es die Gattungszuschreibung „Evangelium“ für das markinische Werk nahelegt, kündigt der Erzähler mit dem ersten Vers seines Werkes nicht an, das Evangelium von Jesus Christus zu entfalten. Stattdessen formuliert er, dass er dessen ἀρχή präsentiert. Mk 1,1: Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ (υἱοῦ θεοῦ) (Anfang des Evangeliums von Jesus Christus [Sohn Gottes]). Die Jesuserzählung nach Markus handelt vom Ursprung des gegenwärtig geglaubten mündlichen Evangeliums in der Lebensgeschichte Jesu. Retrospektiv werden in narrativer Weise die Grundlagen gegenwärtiger Wirklichkeit vermittelt. Normen und Werthaltungen werden auf Geschehnisse im Leben des Protagonisten Jesus zurückgeführt. Hinsichtlich der Form ist die markinische Jesuserzählung eine „Begründungserzählung“.25 In inhaltlicher Hinsicht handelt es sich um die Schöpfungsgeschichte der neuen religiösen Bewegung des Christentums. Form und Inhalt entsprechen einander. Die mythisch geprägte Jesuserzählung einer christlichen Gemeinde an der Wende vom siebten zum achten Jahrzehnt fügt sich gut in die Literaturproduktion der römischen Kaiserzeit im 1. Jahrhundert ein. Damals trieb das Imperium Romanum intensiv die Kolonisierung insbesondere der östliche Reichsprovinzen und mit ihr die Hellenisierung dieser Gebiete voran. Im Zuge dieser Bestrebungen entwickelte sich das Abfassen von identitätsstiftenden Gründungsmythen zu einer verbreiteten Gepflogenheit.26 Was die Debatte um Unableitbarkeit oder Ableitung der literarischen Gattung angeht, lässt sich von einem doppelten Ursprung der Textsorte „Evangelium“ sprechen. In literarischer Hinsicht stellt die älteste Evangelienschrift eine griechisch-hellenistische ἀρχή dar. Durch ihren einzigartigen Erzählinhalt gewinnt 23 Deren Darstellung folgt insbesondere in der Schilderung des exorzistischen und wundertätigen Handelns Jesu in weiten Teilen mythischer Logik. 24 Ganz unabhängig von der mythisch verfassten Relationierung zwischen Jesuszeit und späterer christlicher Gemeinde hatte Ende des 19. Jahrhunderts Franz Overbeck unter streng historischem Aspekt die Zeit Jesus als eine qualitativ unvergleichbare Phase der weiterlaufenden Zeit der christlichen Gemeindeentwicklung vorangestellt. Die Zeit der „Urgemeinde“ gilt ihm als die goldene Zeit Jesu, die nicht in die geschichtliche Zeit des sich entwickelnden Christentums hinein eingeebnet werden darf. 25 Die Wortschöpfung verdanke ich einem Gesprächsbeitrag von Sönke Finnern zu meinem Vortrag „Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6“ beim 6. Mainz Moral Meeting zum Thema „Narrative Ethik“ am 26. 6. 2012. 26 M. Fantuzzi / R. Hunter, übersetzt v. T. Heinze, Art. Hellenistische Dichtung, DNP 5 (1998), 314–317, 316–317; J. Gerber, Art. Hellenisierung I. Geschichte, DNP 5 (1998), 301– 309, 306.
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sie freilich schnell eine Eigenidentität. Wirkungsgeschichtlich wird sie bereits nach kurzer Zeit als ein eigenständiges literarisches Genus „Evangelium“ wahrgenommen.
4. Die inhaltliche Gestaltung der Jesuserzählung 4.1 Der gedachte Raum des Markusevangeliums Einen Rahmen für die Präsentation der Jesusfigur steckt bereits die Gestaltung des Raumes durch den Erzähler. Konstitutiv für den erzählten Raum des Markusevangeliums ist die Orientierung an einer Nord-Süd-Nord‑ und einer Ost-WestOst-Achse. Jesus bewegt sich im Verlauf der Erzählung aus seiner Herkunftsregion Galiläa im Norden auf das südlich gelegene Jerusalem, die Stadt seiner Verhaftung, Hinrichtung und Beisetzung, zu. In Jerusalem ergeht am Ostermorgen der Auftrag des angelus interpres (16,7) an die Frauen, mit den übrigen Anhängern Jesu nach Norden in ihre galiläische Heimat zurückzukehren. Dort werde die Begegnung mit dem Auferweckten erfolgen. Ab Mk 11, dem Eingang in die Passionserzählung, spielen in Ergänzung der Nord-Süd-Achse Bewegungen und Perspektivwechsel zwischen Ost und West eine besondere Rolle.27 In der mythischen Raumordnung des Markus wirkt die römische Limitation als Strukturprinzip nach. Das rechtwinklige Achsenkreuz der römischen Landvermessung aus der waagerechten x-Achse des Cardo, die von Süd nach Nord verläuft und der y-Achse des Decumanus, der von Ost nach West und in späterer Zeit von West nach Ost führt, greift die Grundlagen der etruskischen sakralen Raumordnung auf. Die Etrusker hatten für ihre Deutung der Himmelszeichen den Himmel in Kreuzform aufgeteilt. Entsprechend reflektiert noch die römische Landvermessung die „kosmische (…) Ordnung auf die Erde“.28 Jesus wirkt in der erzählten Welt in drei Regionen: In Galiläa, in Jerusalem und in stark hellenisierten Nachbargebieten. Diese Dreiregionalität reklamiert im Zusammenspiel mit den vier Himmelsrichtungen die Gesamtheit des Raumes für das Wirken des Gottessohnes. Seine Mission betrifft die gesamte Welt. Am Ende der Zeit wird der kommende Menschensohn seine Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels (13,27). Der weltweiten Bedeutung Jesu entsprechend legt sich bei seiner Kreuzigung unmittelbar vor seinem Tod für drei Stunden eine Finsternis über „die ganze Erde“ (15,33). Das theologische Thema und die markinische Geographie in Kreuzform stehen als kommunizierende Röhren nebeneinander. 27 Vgl. ausführlich P.-G. Klumbies, Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium, in: Heiliges Land, JBTh 23, 2008, Neukirchen-Vluyn 2009, 101–121. 28 H.-J. Schulzki, Art. Cardo, kardo, DNP 2 (1997), 984–985, 985; Klumbies, „mythischer Raum“ (s. Anm. 27), 119–121.
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4.2 Die Ausbreitung des göttlichen Pneuma Das zentrale Anliegen Jesu im Markusevangelium ist die Ausbreitung des göttlichen Geistes unter den Menschen. Mit dem Motiv der Geistverleihung durch Gott bei der Taufe am Jordan wird Jesus in 1,9–11 in die Handlung eingeführt. Er beginnt sein Wirken als Agent Gottes. Sein erster Weg führt ihn in die Wüste. Dort trifft er mit Satan zusammen, dem Obersten der widergöttlichen Dämonen (1,12–13). Diese Konstellation präfiguriert eine Dualität, die die gesamte Erzählung kennzeichnet. Hinfort wird Jesus in permanente Auseinandersetzungen mit Trabanten des Satans verstrickt. Wieder und wieder gelingt es ihm, diese in der direkten Konfrontation zu überwinden und dem Geist Gottes Raum unter den Menschen zu verschaffen. Am Ende seines Lebens wird sein Sterben in 15,37 in das Verb ἐκπνεῖν29 gefasst. Jesus haucht den ihm von Gott zu Beginn seines Wirkens verliehenen Geist aus. Die Frage, wohin der göttliche Geist entweicht, findet erzählerisch die Antwort: Ausgerechnet in den römischen Centurio fährt der Geist ein. Der Hauptmann, der als der unmögliche Zeuge30 die Hinrichtung geleitet hat, wird zum ersten Empfänger des Gottesgeistes. Das geht aus zwei Erzählimpulsen hervor. Der erste besteht in dem narrativen Arrangement der Szene. Der Centurio wird in V. 39 ἐξ ἐναντίας αὐτοῦ platziert. Damit wird er der Richtungslosigkeit entnommen, die in seiner partizipialen Kennzeichnung als „Dabeistehender“ noch nachklingt. In V. 35 stellte das ungeordnete Herumstehen noch ein Charakteristikum der Hinrichtungstouristen dar. Es war der äußere Ausdruck ihrer inneren Teilnahmslosigkeit. Der Hauptmann wird narrativ in eine geradlinige Beziehung zu dem soeben verstorbenen Jesus gestellt. Das bestätigt als zweiter Impuls sein Bekenntnis. Die Aussage: „Dieser Mensch war Gottes Sohn“, ist die Reaktion des Centurio auf Jesu Tod. Hinter der Formulierung steht eine Grundfigur christlichen Denkens, nämlich der Zusammenhang von Geist und Bekenntnis. Bekenntnis setzt Geistbesitz voraus, und der Geist artikuliert sich im Bekenntnis. Der Jesus bei der Taufe vertikal verliehene Gottesgeist beginnt sich mit dem Tod Jesu horizontal unter die Menschen auszubreiten.31 Er verbalisiert sich im Bekenntnis zu Jesus als dem Gottessohn. Mit dem Eintritt des Geistes in die menschliche Gemeinschaft sind die Voraussetzungen für die Gründung einer auf den Gottessohn bezogenen Glaubensgemeinschaft geschaffen. Seinen Anfang nimmt dieser Gründungsakt ausgerechnet bei der entferntest denkbaren Person. Damit ist ein erzählerisches Signal Deutsch: aushauchen. erfüllt nicht die erwartbaren religösen Voraussetzungen, denn er ist vermutlich nichtjüdischer Herkunft, Angehöriger eines fremdreligiösen Kultes und der für die Vollstreckung der Todesstrafe an Jesus verantwortliche Offizier. 31 Den Zusammenhang zwischen Tauf‑ und Sterbeszene thematisiert auch J. E. Aguilar Chiu, Jésus ou le „Fils de Dieu“ (Mc 1,1) dans le cadre historique et la structure narrative de l’évangile de Marc, in: J. E. Aguilar Chiu / K. J. O’Mahony / M. Roger (Ed.), Bible et Terre Sainte. Mélanges Marcel Beaudry, New York u. a. 2008, 219–232, 229–230. 29
30 Er
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gesetzt. Wenn die Gemeindebildung bei dem in äußerster Christus‑ und Gottesferne befindlichen Römer einsetzt und ihn integriert, dann verweist das auf die schrankenlose und weltumfassende Ausrichtung des christlichen Glaubens. Von nun an ist die christliche Gemeinde die Trägerin des ursprünglich Jesus verliehenen göttlichen Geistes. Erzählerisch wird auf diese Weise der Übergang aus der erzählten Welt in die Realgeschichte der weiter gegangenen Geschichte des Glaubens präsentiert. Damit trägt der markinische Karfreitag das Pfingstgeschehen bereits in sich. Zudem ist die Tatsache, dass es angesichts des Todes Jesu zu dem gemeindebildenden Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu kommt, bereits ein österliches Ereignis. In diesem Sinne fallen bei Markus Ostern und Pfingsten auf den Karfreitag.32 4.3 Der Kampf Jesu gegen Widerstände In mehrfacher Hinsicht formieren und artikulieren sich im Laufe der Erzählung Widerstände gegen Jesus. Das exorzistische Handeln Jesu verweist auf eine anthropologisch brisante Innenseite. Menschen im Markusevangelium begegnen als Besessene.33 Der Geist, der sie steuert und den zu vertreiben Jesus angetreten ist, dringt auf die Ausgrenzung von Personen. Er äußert sich in Statusstreben, Leidensverweigerung sowie Erhöhungs‑ und Größenphantasien. Dämonie tritt Jesus in den Fratzen Besessener entgegen, in den Anfeindungen von Gegnern, auch in falsch verstandener Sympathie von Freunden. Gegenüber religiös begründeter Ausgrenzung Kranker, ethisch gebotener Distanzierung von Kollaborateuren, Rückzug von sog. Sündern unterschiedlicher Art steht die Person Jesu für die theologisch-ethisch begründete Integration gesellschaftlicher Randfiguren. Der markinische Jesus stellt Menschen in der Weise in die Gottesgemeinschaft, dass er Gottes Zuwendung für sie sozial erlebbar macht. Zeichenhaften Ausdruck findet das darin, dass er gesellschaftlich Stigmatisierte in die Tischgemeinschaft hineinnimmt. Wiederholt stellt Jesus Normen auf, die ihn in eine Differenz zu andersartigen Werthaltungen bringen.34 Sein normsetzendes Verhalten zieht wachsenden Widerstand nach sich. Der Erzähler modelliert das autoritative Auftreten Jesu zu einer Erzähllinie, die miterklärt, wieso Jesus am Ende so viel Hass auf sich zieht, dass man ihn hinrichten lässt. Transparent werden die normativen Setzungen im Blick auf eine christliche 32 P.-G. Klumbies, Das Raumverhältnis in der Markuspassion, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 25–49, 40–42. 33 Vgl. G. Klein, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349, 340–342. 34 Vgl. dazu im Einzelnen die ätiologisch-narrativen Begründungen geltender Normen in Mk 2,1–3,6, hier insbesondere in 2,1–12 und 2,13–17.
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Gemeinde, die zu Beginn des achten Jahrzehnts ihre eigenen ethischen Grundsätze formuliert. Die Sorge um den eigenen Status ist ein weiteres zentrales Thema der Auseinandersetzungen Jesu. Es begegnet ihm in dem Geltungswunsch seiner eigenen Jünger35 und in deren Karrierewünschen für den Zeitpunkt, an dem er die Gottesherrschaft durchgesetzt haben werde.36 Statusstreben macht Jesus auch als Motivation hinter den Bemühungen diverser Geister und Menschen aus, ihn selbst zu erhöhen. Er weist die Versuche, ihm eine hierarchische Erhöhung angedeihen zu lassen, als dämonischen Ursprungs zurück. Konsequent verhindert er, dass andere ihn aus der Menge der Gleichen herausheben. Der Exponierung seiner Person als Heilsfigur entzieht er sich. Von sich selbst spricht er stets nur als dem „Sohn des Menschen“. Als ihn Petrus, der Prototyp des exemplarischen Jüngers, im Zentrum des Markusevangeliums in 8,29 eigentlich sachgemäß als den „Christus“ tituliert, ordnet er an, dies nicht herumzuerzählen. Stattdessen entfaltet er erstmals die Leidensperspektive seiner Lebensgeschichte. Als Petrus ihm diese ausreden will, stößt Jesus ihn schroff zurück. Er bezeichnet ihn als „Satan“. Petrus denke nach menschlicher Weise, nicht nach der Art Gottes (8,32–33). Das Wechselspiel von Erhöhung und Erniedrigung und damit die Statusfrage gilt dem Erzähler als weitere innere Ursache für den Tod Jesu. In dem Augenblick, in dem Jesus zum ersten Mal den Versuch einer Erhöhung nicht mehr abwehren kann, ist das sein Todesurteil. Beim Verhör in der Nacht seiner Verhaftung konfrontiert ihn der Hohepriester mit exakt den gleichen Worten, die in 8,29 Petrus im Munde führte: Σὺ εἶ ὁ χριστός. Als Jesus verhalten zustimmt: Ich bin es – und im Begriff ist, dies weiter zu erläutern, fällt der Hohepriester ihm schon ins Wort. Denn nun haben sie ihn. „Habt ihr die Gotteslästerung gehört?“ (14,64). Rückblickend erschließt sich die Gefährlichkeit des Christusbekenntnisses, das kurz zuvor Petrus in bester Absicht ausgesprochen hatte. Der Mechanismus von Erhöhung und Erniedrigung, den zu überwinden Jesus angetreten ist, wird ihn am Ende selbst vernichten. 4.4 Die zyklische Gestaltung des Markusevangeliums Die Schlusssequenz der markinischen Jesuserzählung in Mk 16,1–8 enthält zwei Gestaltungselemente, die dem mythisch-zyklischen Charakter der Gesamterzählung entsprechen. In literarischer Hinsicht dient der Verweis auf das Sehen des auferweckten Jesus in Galiläa in 16,7 der Einweisung in einen Lesekreislauf. Nach Galiläa zu gehen, bedeutet, an den Ausgangspunkt der Erzählung zurückzukehren; denn in Galiläa hatte laut Mk 1,1–20 die Geschichte Jesu ihren Anfang genommen. Aus Vgl. Mk 9,33–37. Mk 10,3.
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36 Vgl.
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Galiläa stammten sowohl Jesus als auch seine Anhängerinnen und Freunde. Der Hinweis auf Galiläa beinhaltet den Impuls, an den Buchanfang zurückzukehren und lesend ein weiteres Mal den Weg Jesu mitzugehen.37 Sein Weg und der Weg seiner Gemeinde resp. Leserschaft verschmelzen in diesem Vorgang der Aneignung zu einer Einheit. Zugleich ist mit der Nennung Galiläas eine weitere Brücke aus der erzählten Welt in die wirkliche Welt der Leserinnen und Leser gebaut. Denn „Galiläa“ als Chiffre für „Heimat“ verstanden, lässt die Herkunftsorte der Leserschaft zu Stätten der Begegnung mit dem Auferweckten werden. Damit setzt die älteste Evangelienschrift am Schluss eine theologische Pointe. Sie mündet in eine Biographisierung des Auferweckungsbekenntnisses. Die Begegnung mit dem auferweckten Jesus findet nicht auf einem Jerusalemer Friedhof des Jahres 30 statt. Der Erzähler verlegt das Zusammentreffen mit dem Auferweckten von der Grabstätte weg in die Lebensgeschichte der Glaubenden hinein.38
5. Die ätiologische Erzählung als Antwort Die Wahrnehmung des Markusevangeliums als einer ätiologischen Erzählung macht sichtbar, dass der narrative Rekurs auf die Person Jesu nach dem Schlüsseljahr 70, in dem der jüdisch-römische Krieg mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels seinen grausigen Höhepunkt fand, im Dienste der Identitätsstabilisierung und Selbstverständigung des jungen Christentums vier Jahrzehnte nach dem Tod ihres Protagonisten stand. Für die neue Lebenssituation der dritten Generation von Christen werden mit dem Mittel einer Erzählung über die Welt der zwanziger Jahre, in der Jesus wirkte, die Essentials christlichen Glaubens und die Normen eines glaubensgemäßen Lebens dargestellt. Die Untersuchung des Markusevangeliums unter erzähltheoretischer Perspektive beinhaltet also nach wie vor eine historische Dimension. Gleichzeitig lenkt sie das Augenmerk in Differenz zu einer an der Textentstehung und der historischen Jesusfrage orientierten Exegese auf die in der Erzählung präsentierten theologischen Inhalte. Das einem unbekannten Autor unter dem Namen „Markus“ zugeschriebene Werk fundiert und normiert die Gegenwart einer christlichen Gemeinde nach dem Jahr 70 durch die ätiologische Erzählung ihrer Ursprünge im Leben der Leitfigur ihres Glaubens, Jesus aus Nazareth. Die Erzählung gibt zugleich eine 37 J. U. Beck, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 363: Die Erzählung bedingt „die Notwendigkeit einer Relektüre“. 38 Vgl. P.-G. Klumbies, Mk 16, 1–8 als Verbindung zwischen erzählter und außertexlicher Welt, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 129–143, 133–136.
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Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung
Antwort auf die Frage, wie christlicher Glaube unter veränderten Bedingungen in einer neuen Generation von Christen in Kontinuität zu den Anfängen gelebt werden soll.
Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium The Concept of "Mythical Space" in the Gospel of Mark The narrated space does not merely give the frame of reference for locating the narrated events. In fact, the representation of space is itself part of the narrative. Specifying spatial conditions directly serves the narrative intention of the work. They are a carrier of meaning. The spatial conception in the Gospel of Mark is coined by mythical views. Herein, the guidelines of the Roman land survey, the limitatio, are reflected as a real-world background. The directions in the Gospel of Mark are an expression of the theologia crucis, a geography in the form of a cross.
1. Erzählter Raum Jede Erzählung schafft sich den Raum für die in ihr erzählte Handlung.1 Der Raum, in dem das erzählte Geschehen stattfindet, ist Teil der erzählten Welt und wird den Anforderungen der Erzählung entsprechend konstruiert. Zwischen der Handlung und dem sie umgebenden Raum besteht ein Korrespondenzverhältnis, das auf einer Konstruktionsleistung des Erzählers aufbaut. Die mit der Erzählung verbundenen räumlichen Gegebenheiten tragen dazu bei, dass die erzählten Ereignisse ihren Lauf so nehmen können, wie es die Handlungsabfolge vorsieht. Hinweise auf Landschaften, Orts‑ und Richtungsangaben kopieren keine außertextliche Realität gedanklich in die Erzählung hinein. Der Wert geographischer und topographischer Angaben in einer Erzählung liegt in ihrem Beitrag zur Erschaffung der die Handlung beinhaltenden erzählten Welt. Entsprechend sind sie als Motive zu lesen, mit denen die Erzählung sich den zu ihr gehörenden Raum durch eine Selektion aus verschiedenen denkbaren Raumkoordinaten schafft. Die Raumangaben sind Bedeutungsträger im Blick auf die erzählte Handlung. 1 K. Backhaus, Spielräume der Wahrheit: Zur Konstruktivität in der hellenistisch-reichsrömischen Geschichtsschreibung, in: K. Backhaus / G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, BThSt 86, Neukirchen-Vluyn 2007, 1–29, 20, formuliert im Blick auf das konstruktive Moment antiker Historiographie: „Jeder Erzählvorgang setzt eine imaginäre Welt, die ihren eigenen Sinnregeln folgt“.
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Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium
Ebenso tragen sie zur Charakterisierung der auftretenden Personen bei.2 Der erzählte Raum ist wie die Erzählung selbst eine kreative Leistung des Erzählers. Das gilt auch für das Markusevangelium. Zu einer Reihe der bei Markus vorkommenden Ortsangaben gibt es archäologische Erkenntnisse.3 Viele Angaben gehören zu den gesicherten geographischen Wissensbeständen moderner Atlanten und Stadtpläne. Dass damit nicht zwingend „objektive“ Tatsachenkenntnisse wiedergegeben sind, zeigt die Perspektivität von Wahrnehmung in der Kartographie.4 Die weitgehend verloren gegangene Kartographie der Griechen und Römer hatte wenig Interesse an der bloßen Wiedergabe „räumlicher Umweltgegebenheiten“.5 Der Blick auf mittelalterliche Karten führt vor Augen, wie theologische Überzeugungen in kartographische Gestaltung umgesetzt wurden. Die theologische wie politische Gewichtigkeit des „Heiligen Landes“6 fand ihren Niederschlag darin, dass Israel auf den Landkarten dieser Zeit überdimensional groß gezeichnet wurde.7 Weltkarten des 12. und 13. Jahrhunderts waren jerusalemzentriert.8 Die mittelalterlichen mappae mundi basieren auf der Verbindung der religiösen Überzeugung der von Gott geschaffenen geordneten Welt mit ih2 N. Würzbach, Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung, in: J. Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, FS Wilhelm Füger, Heidelberg 2001, 105–129, 122. 3 Vgl. E. M. Meyers / J. F. Strange, Archaeology, the Rabbis, and Early Christianity, Nashville 1981, 31–61; W. Bösen, Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin. Zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Exegese, in: M. Küchler / K. M. Schmidt (Hg.), Texte – Fakten – Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung, NTOA 59, Fribourg / Göttingen 2006, 161–195. Zur Wahrnehmung des Jerusalemer Tempels als Mittelpunkt der Welt im Alten Testament und im antiken Judentum vgl. M. Tilly, Jerusalem – Nabel der Welt. Überlieferung und Funktionen von Heiligtumstraditionen im antiken Judentum, Stuttgart 2002, 15–30 und 240–252. 4 Vgl. moderne Weltkarten, die sich auf Einkommensverhältnisse, Energieverbrauch, Bildungsniveau, Gesundheitsversorgung etc. beziehen. Deren Umfang und Bedeutung stehen z. T. in scharfem Kontrast zu der an der Gesamtfläche bemessenen Größe eines Landes. Vgl. Atlas der Globalisierung. Le Monde diplomatique, Berlin, 2. durchges. Aufl. 2006. 5 R. Talbert, Art. Kartographie, DNP 14 (2000), 853–860, 853. 6 Zur Bedeutung des „heiligen Grabes“ für die Legitimation mittelalterlicher Herrschaftsinteressen vgl. O. B. Rader, Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München 2003, 192–206, und P.-G. Klumbies, Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das „heilige Grab“, in: M. Ebner u. a. (Hg.), Leben trotz Tod, JBTh 19, 2004, Neukirchen-Vluyn 2005, 143–169, 143–144 und 167–169. 7 D. Lecoq, Die ältesten Karten des Heiligen Landes, in: Das Heilige Land, WUB 4, Stuttgart 1997, 53–59, 53.57. 8 I. Baumgärtner, Visualisierte Weltenräume. Tradition und Innovation in den Weltkarten der Beatustradition des 10. bis 13. Jahrhunderts, in: H.-J. Schmidt (Hg.), Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewußtsein im Mittelalter, Scrinium Friburgense 18, Berlin / New York 2005, 231–276, 255–258. Zur Bedeutung der Kreuzzüge für diese Entwicklung vgl. I. Baumgärtner, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: D. Bauer / K. Herbers / N. Jaspert (Hg.), Jerusalem im Hoch‑ und Spätmittelalter. Konflikte und Konfliktbewältigung – Vorstellungen und Vergegenwärtigungen, Campus Historische Studien 29, Frankfurt am Main 2001, 271–334, 294–310. Vgl. auch P. D. A. Harvey, Europa und das Heilige Land, in: I. Baumgärtner (Hg.), Europa im Weltbild des Mittelalters:
2. Die Raumthematik in der Markusforschung
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rem diesseitigen irdischen Aufbau. Die geometrischen Formen Linie, Zentrums‑ und Strahlenkreis, Dreieck und Kreuz geben ihre Ordnung im Zusammenspiel mit der entsprechenden Zahlensymbolik wider.9 In der Markusforschung hat die Einsicht, dass Ortsangaben Qualitäten zum Ausdruck bringen, bereits Tradition. Die Vergegenwärtigung der markinischen Raumkoordinaten dient der Erweiterung des Verständnisses der ältesten Jesuserzählung insgesamt.
2. Die Raumthematik in der Markusforschung E. Lohmeyer hat die These vom doppelten Ursprung der ältesten christlichen Gemeinde vertreten.10 Er geht von der Beobachtung aus, dass die Überlieferungen von Erscheinungen des Auferstandenen in den neutestamentlichen Evangelien sowohl in Galiläa als auch in Jerusalem lokalisiert sind.11 Dieses Nebeneinander weise auf unterschiedliche Überlieferungsstränge zurück. Die Tradition galiläischer Erscheinungen begründe die Existenz einer christlichen Gruppe in Galiläa. Die jerusalemischen Erscheinungen erklären die Sammlung einer christlichen Gemeinde in Jerusalem. Nach Lohmeyer spiegelt die Würdigung Galiläas als Stätte der Erscheinungen wider, dass diese Region der Herkunfts‑ und bevorzugte Wirkungsraum Jesu und seiner Jünger war. Analog dazu liegt die Dignität Jerusalems darin, der Ort der Passion und des Sterbens Jesu zu sein.12 Zu unterscheiden sind in Lohmeyers Studie eine historische und eine literarische Perspektive. In historischer Hinsicht bildeten laut Lohmeyer die frühen Christen in Galiläa und Jerusalem zwei unterschiedlich profilierte „Christentümer“ mit eigenständigen christologischen Ansätzen aus.13 Der literarische Entwurf des ältesten Evangeliums, in dem Mk theologische Aussagen an geographische Angaben knüpft, präsentiert dagegen ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Lokalitäten, das auf die theologische Subordination Jerusalems unter Kartographische Konzepte. Internationale Konferenz vom 15. bis 17. Juni 2006 in Nürnberg, Berlin 2008, 135–142. 9 B. Englisch, Ordo orbis terrae. Die Weltsicht in den Mappae mundi des frühen und hohen Mittelalters, Vorstellungswelten des Mittelalters 3, Berlin 2002, 499–502 und 510–511. 10 E. Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem, Göttingen 1936, 84.104. Zur Rezeption der These Lohmeyers durch Lightfoot, Marxsen und Kelber vgl. E. van Eck, Galilee and Jerusalem in Mark’s Story of Jesus: A Narratological and Social Scientific Reading, HTS.S 7, Pretoria 1995, 12–17. 11 Diese Tatsache hatte bereits in der Forschung vor Lohmeyer zu einer Debatte über die Frage geführt, ob die Urgemeinde ihr Zentrum möglicherweise in Galiläa statt in Jerusalem besessen hätte. Vgl. Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 8–9. 12 Vgl. Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 5–9 und 97.100. 13 Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 81–83. Die galiläische Richtung des urchristlichen Glaubens gründet sich „auf Menschensohn-Erwartung und Armen-Anschauung, auf Gesetzesgehorsam und Nachfolge Jesu“, die jerusalemische Richtung auf den „Glauben an den Messias Jesus und (…) (die) Erfahrung des Heiligen Geistes“ (Lohmeyer, Galiläa [s. Anm. 10], 78).
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Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium
Galiläa hinausläuft. Galiläa gilt für Mk als „das heilge Land des Evangeliums“,14 zu dem auch die Umgebung „(b)is hinauf nach Cäsarea Philippi“15 gehört. Demgegenüber wird schon in 3,22 und 7,1 Jerusalem zum „Herd der Feindschaft gegen Jesus“, denn von dort kommen die Gegner Jesu. „Jerusalem, die heilige Stadt, ist der Ort der Sünde und des Todes.“16 Demgegenüber kommt Jerusalem bei Lk insbesondere aufgrund der dort stattfindenden Verleihung des Geistes zentrale Bedeutung zu.17 Durch die Auferstehung und die Geistausgießung wird Jerusalem zum Ursprung und zur „Mitte der urchristlichen Gemeinde.“18. In Lohmeyers Bewertung erscheint Jerusalem im Markusevangelium als eine Durchgangsstation. Zu fragen ist, ob der Raum, der der markinischen Jesuserzählung zu Grunde liegt, tatsächlich in der Opposition zwischen Galiläa und Jerusalem aufgeht. Zu überprüfen ist auch der für Lohmeyer erkenntnisleitende Gedanke, demzufolge die Geistthematik ein Spezifikum der mit Jerusalem verbundenen frühchristlichen Theologie und ihrer Entfaltung im Lukasevangelium und der Apostelgeschichte darstellt. E. Malbon untersucht den erzählten Raum und seine mythische Bedeutung. Malbon interessiert sich nicht für die Erzählerintention, sondern für die literarische Bedeutung der Raumangaben im Rahmen der Gesamterzählung.19 Sie erhebt die Gegensätze im geopolitischen, topographischen und architektonischen Raum und fragt nach deren Vermittlung.20 Die Basis für die registrierten Oppositionen bildet der Grundkonflikt zwischen Chaos und Ordnung des Lebens. Der „Weg“ als die entscheidende Mittlerinstanz hält die Gegensätze zusammen.21 Das Unterwegssein dominiert gegenüber der Ankunft. Das dynamische Moment, der Prozess der Bewegung, ist das strukturierende Prinzip der markinischen Raumgestaltung.22 Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 28–29, Zitat 29. Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 31. Auf die Gefahr einer Vereinnahmung Galiläas aufgrund weltanschaulicher Prämissen weist M. Leutzsch, Jesus der Galiläer, in: Jesus der Galiläer, WUB 24, Stuttgart 2002, 7–13, hin. Vgl. auch K.-H. Ostmeyer, Armenhaus oder Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005), 147–170, 169. 16 Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 34. 17 Vgl. Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 24. Jerusalem ist „die Stätte des Geistempfangs“ (ebd. 92). Die „Tatsache des Geistes“ ist „an Jerusalem und die dort beheimatete Messias-Anschauung geknüpft“ (ebd. 96). Auf die Bedeutung der Raumthematik im lukanischen Sondergut hat N. Neumann, Bewegungen im Dreieck: Heil als Begegnung im erzählten Raum des lukanischen Sonderguts, Bib. 97 (2016), 375–394, hingewiesen. 18 Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 92. 19 E. S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, BiSe 13, Sheffield 21991 (first published in 1986), 2. 20 Malbon, Space (s. Anm. 19), 39–40.96–97.107.114.133. 21 Malbon, Space (s. Anm. 19), 154.165. In der Feststellung diverser Oppositionen unter Hervorhebung der Bedeutung des Weges berührt sich Malbons Ansatz mit dem von B. van Iersel, Leggere Marco, Milano 1989, 42.44. 22 Malbon, Space (s. Anm. 19), sieht durch Mk 14,28 und 16,7 das Unterwegssein hervorgehoben, durch Mk 13,29 aber auch das Ankunftsmotiv benannt (167.168). 14
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4. Die Richtungen im markinischen Raum
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Aus Malbons Beschreibung der mythischen Verknüpfungen sind die interpretativen Folgerungen für das Verständnis der Einzelperikopen zu ziehen. Darüber hinaus ist auf die Bedeutung der Richtungen im markinischen Raum zu achten.
3. Der Aufbau des mythischen Raums In mythischer Wahrnehmung stellt der Raum keine wertneutrale Größe dar, die lediglich geographisch zu vermessen wäre. Der mythische Raum ist ein „Organ der Welterklärung“.23 Orte und Richtungen treten aufgrund von Vorentscheidungen auseinander, die grundlegenden Wertungen entspringen. Den Ausgangspunkt bildet die prinzipielle Abgrenzung zwischen heilig und profan. Die Kardinaldifferenz innerhalb des mythischen Raums resultiert aus der Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Die Orientierung im Raum erfolgt dem Lauf der Sonne entsprechend von Osten her. Die Lichtverhältnisse qualifizieren im Zusammenwirken mit der Trennung zwischen heilig und profan die Orte und Richtungen im mythischen Raum. Nord, Süd, Ost, West sind mit Qualitäten besetzte Richtungsangaben. Günstige sind von ungünstigen Orten zu unterscheiden, Leben spendende von lebensbedrohenden. Grenzüberschreitungen und Territorienwechsel konfrontieren mit den numinosen Eigentümern und Wächtern dieser Regionen. Sie bedürfen ritueller Regelungen. Konflikte um Orte sind stets auch Ausdruck des Kampfes numinoser Mächte um diese Räume.24 Räumliche Nachbarschaft impliziert auch inhaltliche Beziehung. Der Ort einer Begebenheit sagt etwas über den Charakter eines Geschehens aus und gehört zur Sache selbst.25
4. Die Richtungen im markinischen Raum 4.1 Galiläa und der See Genezareth: Das Zentrum im Norden Die für das Markusevangelium zentrale Kategorie des Weges stellt in 1,2 die erste Ortsangabe der gesamten Schrift dar.26 Flankiert wird das Wegmotiv von der Wüstenthematik, die in 1,3 und 1,4 sowie in 1,12.13 erscheint und die Ansage 23 Th. Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts‑ und Kulturtheorie, Hamburg 1992, 141. 24 Vgl. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 159–173 und Ders., Art. Mythos I. Philosophisch, TRE 23, 1994 (Studienausgabe 2000), 597–608, 601. 25 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994, 67.115. 26 Außer in dem Zitat aus Mal 3,1 in Mk 1,2 verwendet Markus ὁδóς in Mk 1,3; 2,23; 4,4.15; 6,8; 8,3.27; 9,33.34; 10,17.32.46.52; 11,8; 12,14. Sämtliche Raumangaben bei Markus werden tabellarisch aufgelistet bei van Eck, Galilee (s. Anm. 10), 248–257.
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Deuterojesajas mit dem Wirken Johannes des Täufers und Jesu verklammert. Die Wüste als erste lokalisierbare geographische Angabe beinhaltet zugleich eine Ostorientierung des Geschehens, denn sie legt den Anfang der Handlung an das Ostufer bzw. in das Gebiet östlich des Jordans.27 Die Anziehungskraft des Täufers lässt nach 1,5 die Menschen aus südlicher bzw. südwestlicher Richtung aus Judäa und Jerusalem herbeiströmen. Die Angabe des Jordans dient nicht in erster Linie als topographischer Hinweis. Sowohl der Zusatz ποταμός in 1,5 als auch der direkte Hinweis auf das Wasser in 1,10 rücken das Element des Wassers als der Qualität des Flusses in den Vordergrund. Als Ort der Taufe steht der Hinweis auf den Jordan in 1,5 und 9 zwischen den Verweisen auf die Wüste in 1,3.4 und 12.13, so dass ein spannungsvolles Gegenüber entsteht, das seinen unmittelbaren Niederschlag in den gegenläufigen Geschehnissen an beiden Orten findet. Die Wüste repräsentiert den Ort des gefährdeten Lebens und der Bedrohung. In ihr halten sich vorzugsweise die widergöttlichen Dämonen auf. Aus ihr ergehen der prophetische Ruf (1,3) und die Predigt des Täufers (1,4). Sie ist der Ort der initialen Begegnung Jesu mit dem Satan (1,12.13). Demgegenüber ist der mit dem Hinweis auf das Fließen bzw. das Wasser des Flusses verbundene Jordan ein Ort spirituellen Geschehens, an dem sich Gottes Gegenwart im Modus von Bußruf und Sündenvergebung (1,4) sowie in intensivierter Weise als herabsteigender Geist und Himmelsstimme realisiert (1,10.11). Jesus wird mit zwei Richtungsangaben, die etwas über seine Herkunft und seine Zugehörigkeit aussagen, in die Handlung eingeführt. Er kommt aus seinem im Westen gelegenen Heimatort Nazareth an die in – heilvoller – östlicher Richtung befindliche Taufstätte. Dort erfährt er seine „Initiation“ und empfängt vertikal von oben den göttlichen Geist. Im Anschluss an den Einsetzungsakt beginnt er seine öffentliche Wirksamkeit in Galiläa. Hier verortet der Erzähler Jesu programmatische Botschaft (1,15) und lässt Jesus am See Genezareth seine ersten Anhänger sammeln (1,16–20). Mit Kapharnaum als dem ersten und bis einschließlich Mk 4 einzig namentlich genannten Ort des Wirkens Jesu verbinden sich mehrere Motive. Die dortige Synagoge wird zum Ort der Auseinandersetzung Jesu mit einem unreinen Geist. Jesus, der Geistträger und Repräsentant Gottes, begibt sich zum ersten Mal in die direkte Konfrontation mit einem Trabanten des Obersten der Dämonen, den er in Gestalt des Satans in der Wüste getroffen hat (1,12.13). Ein zentrales Leitmotiv des Markusevangeliums, der Kampf des göttlichen mit widergöttlichen Geistern, wird auf diese Weise erzählerisch eingeführt. Von Kapharnaum aus verbreitet sich die Kunde von Jesus in „ganz Galiläa“ (1,28), von hier aus sucht Jesus die Synagogen „in ganz Galiläa“ auf (1,39), in diese Gegend kommen die Leute 27 Vgl. Ph. Gruson / M. Baudry, Jordantal und Totes Meer, in: Das Heilige Land, WUB 4, Stuttgart 1997, 2–7, 3.
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„von überall her“ (1,45; 2,13). 3,7.8 bringt die Mittelpunktstellung der Region auf den Punkt, indem hier der Aufenthaltsort am See in seiner Magnetwirkung auf die Menschen auch aus entfernten Gegenden zusammengefasst wird. Die Reihenfolge der Aufzählung erfolgt unter Auslassung Samariens zunächst in Nord-Süd-Richtung: Galiläa, Judäa, Jerusalem und Idumäa. Danach wendet sich die Perspektive nach Osten auf Peräa und abschließend nach Nordwesten auf die Umgebung von Tyrus und Sidon. Auf diese Weise werden die Inhalte von Mk 1–4 mit einem weiten Adressatenkreis verbunden. Ihre Bedeutung wird auf keinen festgelegten Personenkreis und keine in besonderer Weise hervorgehobene Region begrenzt. Unter der galiläischen Perspektive gibt es keine besondere Dignität bestimmter Orte, Landesteile oder Personen, an die sich die Verkündigung bevorzugt richtet. Diese Offenheit in territorialer und personeller Hinsicht entspricht dem Charakter der Erzählungen in 2,1–3,6 als Ätiologien geltender Normen ebenso wie dem prinzipiellen Charakter der Gottesreichverkündigung in Form von Gleichnissen in Mk 4.28 Sie demonstriert die universale Perspektive des nach 70 schreibenden christlichen Erzählers. Der Abstecher an das Ostufer des Sees mit der Problematik einer Lokalisierung von 5,1–17 in Gerasa – oder Gadara29 oder Gergesa30 – und dem Besuch in der Dekapolis (5,20) bedeutet in geographischer Hinsicht eine Erweiterung der in 3,7.8 aufgezählten Gegenden und Richtungen. Die Mittelpunktstellung des Sees Genezareth findet damit ihre Abrundung durch die Integration des östlich befindlichen Raums, und es entsteht ein quasi kreisförmig angelegtes Großgebiet, das die Grenzen Galiläas überschreitet.31 Die Auseinandersetzung des Geistträgers Jesus mit dem widergöttlichen Geist findet auch in der hellenistisch-römisch geprägten Dekapolis32 statt. Während an den Seeufern Jesu Wirken von Erfolg begleitet bleibt (5,21–43), stößt er bei einer Exkursion westwärts in seine Heimatstadt Nazareth auch in 28 Zur Untersuchung von Mk 2,1–3,6 und Mk 4 vgl. im einzelnen P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 160–188 bzw. 188–212. 29 Zur genauen Lokalisierung von Gadara vgl. Th.M. Weber, Gadara – Umm Qes I Gadara Decapolitana. Untersuchungen zur Topographie, Geschichte, Architektur und der Bildenden Kunst einer „Polis Hellenis“ im Ostjordanland, ADPV 30, Wiesbaden 2002, 12–16. 30 Wahrscheinlich hat es sich um den heute Kursi genannten Ort am Ostufer des Sees gehandelt. Zur Einschätzung, welcher der genannten Orte unter historischer Perspektive gemeint sein könnte, vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium, Erster Teil. Einleitung und Kommentar zu 1,1–8,26, HThK II/1, Freiburg / Basel / Wien 51989, 285. Zu den topographischen Problemen im Zusammenhang der drei Ortsangaben vgl. auch Ch. Cebulj, Topographie und Theologie im Neuen Testament. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung am Beispiel der Dekapolis, BN 105 (2000), 88–99, 91–93. 31 Daraus ist nicht zu schließen, dass Mk bewusst oder aus Unkenntnis den See Genezareth zum Mittelpunkt Galiläas erklärt. Anders D.-A. Koch, Inhaltliche Gliederung und geographischer Aufriss im Markusevangelium, NTS 29 (1983), 145–166, 151–153. 32 Die Dekapolis ist weder geographisch noch verwaltungstechnisch ein abgeschlossenes Gebiet. R. Wenning, Art. Dekapolis, RGG4 2 (1999), 635.
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der dortigen Synagoge auf Ablehnung (6,1–6). Das Motiv „Synagoge“ bleibt im Markusevangelium durchgängig mit Widerstand gegen Jesus verbunden.33 Die Herodes-Johannes-Episode in 6,14–29 blendet einen Ortswechsel in den Erzählfaden ein. Zwar liefert die Erzählung keine explizite Lokalisierung des Festortes und des Gefängnisses des Täufers. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass bei der Leserschaft ein Wissen um die historischen Schauplätze, etwa die Festung Machärus als Ort der Hinrichtung des Johannes am Ostufer des Toten Meeres,34 vorauszusetzen ist. Mit 6,30 ff. wird das Geschehen wieder in der Umgebung des Sees lokalisiert. Von Bethsaida (6,45) am Nordufer des Sees gelangt das Boot mit den Jüngern und schließlich auch Jesus in südwestlicher Richtung nach Genezareth (6,53) an das Westufer des Sees. Der zusammenfassende Hinweis auf „jene ganze χώρα“ (6,55) und die Dörfer, Städte und Gehöfte, in die Jesus hineingeht, deutet darauf hin, dass die Handlung weiter in dieser Gegend stattfindet. Mit 7,24 wird ein neuer Richtungsimpuls gesetzt. Jesus zieht in das nordwestlich gelegene syrophönizische Umland von Tyrus. Dort bringt er wie bereits im „heidnischen“ Gerasa einen Dämon zum Verschwinden. Auch außerhalb Galiläas erweist sich der Geist, den Jesus zu verbreiten angetreten ist, wiederum als siegreich (7,29.30).35 Die Ortsangaben in 7,31 zeigen Jesus auf einer Art Rundreise,36 die ihn weiter in das Umfeld hellenistisch-römischer Städte bringt.37 Sein Weg führt zunächst aus dem Gebiet von Tyrus nach Sidon im Norden, dann zurück nach Süden und Südosten. Während die Speisungsgeschichte in 6,30–44 an der galiläischen Wirkungsstätte Jesu stattfindet, ist die Speisungserzählung in 8,1–10 in einer 33 Das gilt für 1,21–28 ebenso wie für 3,1–6. Auch in der summarischen Aussage von 1,39 werden die Synagogen Galiläas als Orte beschrieben, an denen böse Geister hausen, die von Jesus ausgetrieben werden. Die übrigen drei Belege für das Wort „Synagoge“ bei Mk fügen sich diesem Bild ein. 1,29 wird der Begriff verwendet, um den Übergang zu einer neuen Szene herzustellen, 12,39 werden die Synagogen im Rahmen einer Distanzierung von jüdischen Schriftgelehrten und in 13,9 als Ort zukünftiger Geißelungen erwähnt. 34 Nach Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, 18.5.2. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von H. Clementz, II. Band. Buch XI bis XX nebst Namenregister, Halle a.d.S. 1900, 525–526. 35 Zum Kampf der konkurrierenden Geister bei Mk vgl. P.-G. Klumbies, Jesus im Markusevangelium, in: https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-20070129 16885/3/KlumbiesJesusMarkusevangelium.pdf. 36 Th. Schmeller, Jesus im Umland Galiläas. Zu den markinischen Berichten vom Aufenthalt Jesu in den Gebieten von Tyros, Caesarea Philippi und der Dekapolis, BZ NF 38 (1994), 44–66, 47, insistiert darauf, dass „zumindest auch theologisches Interesse bei dieser Wegbeschreibung im Spiel ist“. 37 Auffallend ist, dass der markinische Jesus bevorzugt die ländlichen Gegenden aufsucht. Vgl. C. Breytenbach, Mark and Galilee: Text World and Historical World, in: E. M. Meyers (Ed.), Galilee through the Centuries. Confluence of Cultures, Duke Judaic Studies Series Volume 1. Second International Conference on Galilee in Antiquity, Winona Lake 1999, 75–85, 77–80; S. Freyne, Galilee, Jesus and the Gospels. Literary Approaches and Historical Investigations, Dublin / Philadelphia 1988, 41; Ders., Jesus and the Urban Culture of Galilee, in: Ders., Galilee and Gospel. Collected Essays, WUNT 125, Tübingen 2000, 183–207, 187.
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wüstenhaften Randzone der hellenisierten Dekapolis (V. 4) angesiedelt. In beiden Regionen und Milieus gibt sich der markinische Jesus als Spender einer Brotgabe zu erkennen, die auf ihn selbst zurückverweist.38 Die Überfahrt über den See, die im Westen in Dalmanutha ihr Ziel findet (8,10), kündigt einen Szenenwechsel an. Mangelndes Erkenntnisvermögen der Pharisäer (8,11–12) und Verständnislosigkeit der Jünger, die während einer weiteren Bootsfahrt, diesmal in das an Nordspitze des Sees gelegene Bethsaida, sichtbar wird (8,13–21), münden in einer mythischen Episode, deren Gegenstand die Blindheit Jesus gegenüber ist (8,22–26).39 Von Bethsaida aus bewegt sich der Handlungsfaden weiter in direkter Nordausrichtung nach Cäsarea Philippi. Ihre Pointe bezieht diese Lokalisierung daraus, dass Cäsarea Philippi mit Tyrus der Jerusalem entferntest liegende Ort ist, aus dessen Umgebung eine Szene mit Jesus erzählt wird.40 Jenseits der Grenze Galiläas, im größten Abstand zu Jerusalem formuliert Petrus sein Christusbekenntnis. Dieses wird von Jesus mit einem Schweigegebot belegt und anschließend durch die erste Leidensankündigung interpretiert. Als Petrus sich dieser Auslegung verweigert, tritt ihm Jesus mit Vehemenz entgegen (8,33). Die Massivität des Vorgehens Jesu wird vom späteren Jerusalemer Verhör her in 14,61.62 transparent. Die Paradoxie einer auf den Tod Jesu gründenden Christologie findet bei Mk ihren erzählerischen Ausdruck in der Distanz zwischen Jerusalem – der Stadt, die die traditionelle jüdische Heilserwartung symbolisiert – und Cäsarea Philippi, das für hellenisierte Kultur und Religion steht und politisch und geographisch nicht zu Galiläa gehört.41 Fernab im Norden ist auch die Verklärungsszene auf dem Berg in 9,2–8 verortet.42 Der Zuspruch der Sohnschaft in 9,7 stellt eine innere Beziehung zwischen Tauf-, Verklärungs‑ und Todesort Jesu her.43 Seine zweite, wiederum vom Un38 In beiden Erzählungen finden sich eucharistische Anklänge, die der christologischen Explikation Jesu dienen. Die beiden Speisungen sollen „wohl auf das Miteinander von juden‑ und heidenchristlichen Gemeinden zur Zeit des Evangelisten verweisen“. A. Merz, Das „Meer von Galiläa“ und die Jesusbewegung, in: Jesus der Galiläer, WUB 24, Stuttgart 2002, 32–39, 39. 39 Vgl. P.-G. Klumbies, In Stufen zur Einsicht. Die Blindenheilung Mk 8,22–26, in: J. Heumann (Hg.), Biblische Geschichten erlebt, erzählt, gedeutet für Schule, Kirche, Erwachsenenbildung, FS Horst Heinemann, Oldenburg 2006, 52–56. 40 Schmeller, Umland (s. Anm. 36), 50, weist darauf hin, dass 8,27 ff. zwar oft zum Verständnis des markinischen Messiasgeheimniskonzepts herangezogen worden sei, man sich jedoch nicht „um ein Verständnis der auffälligen Lokalisierung“ bemüht habe. 41 Nach G. Guttenberger, Why Caesarea Philippi of all Sites? Some Reflections on the Political Background and Implications of Mark 8:27–30 for the Christology of Mark, in: M. Labahn / J. Zangenberg (Hg.), Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen 2002, 119–131, 128, positioniert Mk Jesus mit dieser Lokalisierung in politischer Absicht als König der Juden im Kontrast zu Agrippa II. 42 Vermutlich ist topographisch an das Hermon-Gebirge zu denken. Aber „numinose Orte (können) (…) überhaupt nicht in den profanen Raum eingebettet werden“. Sie sind „von Menschen nur unter besonderem numinosen Beistand zu betreten“. Hübner, Wahrheit (s. Anm. 24), 165. 43 Vgl. Mk 1,11 und 15,39.
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verständnis der Jünger begleitete Leidensankündigung spricht Jesus in Galiläa aus (9,30–31). Nach dem Auftakt in der „heidnischen“ Region von Cäsarea Philippi wird die mit Jesu Passion verknüpfte „Jerusalemer“ Christologie nun in Beziehung zum jüdischen Galiläa gesetzt. Kapharnaum, das konfliktträchtige Dorf, wird nach 1,21 und 2,1 in 9,33 zum dritten und letzten Mal ausdrücklich erwähnt. Wieder spielt sich dort eine spannungsgeladene Szene ab. Nach der Auseinandersetzung von 1,21–28 und dem stummen Disput mit den Schriftgelehrten in 2,6–10 zeichnet sich in 9,33–37 mit der Frage nach der hierarchischen Ordnung ein Konflikt unter den Jüngern selbst ab. Weitere aggressionsträchtige Themen sind in 9,38–50 angelagert. Ohne die mythische Bedeutung der Nordausrichtung überzustrapazieren, lässt sich sagen, dass das Wirken Jesu im Norden unter unwirtlichen, weil konfliktuösen Bedingungen stattfindet. In Mk 1–9 ist der See Genezareth der Omphalos der erzählten Welt.44 Die Exkursionen Jesu in verschiedene Himmelsrichtungen – ergänzt durch den Zustrom vieler Menschen aus unterschiedlichen Gegenden – setzen Richtungspfeile, die in der Summe einem Strahlenkreis nahe kommen. Der Raum verwandelt sich dadurch jedoch nicht in ein christliches Großgaliläa.45 Die Regionen werden in ihrer Verschiedenheit zum Ziel der Bemühung Jesu, den göttlichen Geist in alle Richtungen und an alle Orte zu tragen.46 Mit 10,1 erfolgt die geographische Neuausrichtung der Erzählung nach Süden. Jesus begibt sich nach Judäa und Peräa. Die dritte Leidensankündigung in 10,32–34 bezieht sich bereits direkt auf Jerusalem. Die von der Passion und dem Tod Jesu her entwickelte Christologie des Mk richtet damit nacheinander das hellenisierte Umland, Galiläa und Jerusalem auf die Auferweckungsbotschaft aus. Das nordöstlich von Jerusalem gelegene Jericho wird in 10,46 zum Ausgangspunkt für Jesu Weg nach Jerusalem. 4.2 Die Ost-West-Linie ab Mk 11 Während die Nord-Süd-Ausrichtung des Markusevangeliums als „geographische Grundachse“47 breit thematisiert ist, ist die Ost-West-Orientierung, die insbesondere innerhalb der erweiterten Passionsgeschichte ab Kapitel 11 zu beobachten ist, kein Thema der Forschung. Dabei sind bereits in Mk 1–10 verschiedentlich Bewegungen in west-östlicher Richtung festzustellen.48 Sie doku44 Nach mythischer Vorstellung bezeichnet der Omphalos nicht eine geometrische Mitte, sondern drückt die zentrale Bedeutung eines Ortes aus. Vgl. Ch. Auffarth, Art. Omphalos, DNP 8 (2000), 1201–1202. 45 So Lohmeyer, Galiläa (s. Anm. 10), 27. Vgl. im Unterschied dazu Cebulj, Topographie (s. Anm. 30), 93.94. 46 F. G. Lang, „Über Sidon mitten ins Gebiet der Dekapolis“. Geographie und Theologie in Markus 7,31, ZDPV 94 (1978), 145–160, 160. 47 K. Scholtissek, Von Galiläa nach Jerusalem und zurück. Zur theologischen Topographie im Markusevangelium, in: G. Brüske / A. Haendler-Kläsener (Hg.), Oleum Laetitiae, FS Benedikt Schwank, Münster 2003, 56–77, 60. 48 5,1; 7,31; 8,1–10. Dazu zählt auch 6,17–29.
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mentieren in Mk 5 und 7 die Hinwendung Jesu zu Menschen in Regionen mit vorwiegend nichtjüdischer Bevölkerung. Erst ab Mk 11 wird jedoch deutlicher ein absichtsvolles Wechselspiel zwischen West und Ost fassbar. Der mythisch mit Unheil und Tod konnotierte Westen und der Osten als Land des Heils kennzeichnen den inneren Charakter der mit Jerusalem verbundenen Ereignisse. Jesu erste geschilderte Bewegung führt ihn in südwestlicher Richtung auf der Straße zwischen Jericho und Jerusalem nach Bethphage und Bethanien. Am Ostrand Jerusalems, in der Nähe des Ölbergs (11,1), bereitet er seinen Einzug in die Stadt vor. Die in Mk 11 erzählte Handlung ist eng mit Richtungswechseln verbunden. Jesus bewegt sich mehrfach zwischen Bethanien und Jerusalem hin und her. Dadurch erscheinen die geschilderten Ereignisse jeweils unter einer West‑ bzw. Ostperspektive. Der Westweg konfrontiert Jesus jedes Mal mit dem Thema „Fruchtlosigkeit“. Dies betrifft parallel sowohl das Treiben im Jerusalemer Tempel als auch den Feigenbaum. Beide demonstrieren eine vordergründige Lebendigkeit, die für den markinischen Jesus eine Form von Auszehrung darstellt. Jesu tägliche Rückkehr in den Osten dokumentiert die Distanzierung von diesem Geschehen, die auch in seinem aggressiven Verhalten den Geschäftsleuten im Tempel wie dem fruchtlosen Baum gegenüber zum Ausdruck kommt.49 Im Tempel gerät Jesus in eine unfruchtbare weil letztlich ergebnislose Diskussion (11,27–33) mit jüdischen Autoritäten über seine Vollmacht. Am gleichen Ort führt er die Kontroversgespräche in Mk 12. Der Weg aus dem Tempel heraus führt Jesus wiederum nach Osten, diesmal auf den Ölberg (13,3). Jesu Worte vom Ende und dem kommenden Gericht erfolgen aus der mit Heil konnotierten östlichen Position im direkten Gegenüber zu dem im Westen in unheilvoller Richtung gelegenen Tempel. Ebenfalls unter dem Richtungsaspekt in inhaltlicher Distanz zu Jerusalem befindet sich das östlich gelegene Bethanien. Dort findet die Salbung Jesu statt, die das kommende Unglück des Sterbens Jesu und dessen gleichzeitige soteriologische Bedeutung miteinander verschmelzen lässt. Judas geht in die Stadt, d. h. nach Westen, mythisch: in das Reich des Todes, um den Verrat an Jesus zu vollziehen (14,10–11). Zur Vorbereitung des Passamahls schickt Jesus anschließend zwei seiner Jünger „in die Stadt“, (14,13.16). Am Abend geht auch Jesus mit den Zwölfen nach Westen (14,17). Der Einbruch der Dunkelheit und die unheilsträchtige Richtung lassen unter mythischem Aspekt einen düsteren Fortgang erwarten. Nach der Mahlfeier geht Jesus mit den Jüngern ein letztes Mal vor seinem Tod in Richtung Osten an den Stadtrand zum Ölberg. Dort kündigt er mit seiner Auferweckung und seinem Vorangehen nach Galiläa (14,28) die Vollendung seines Weges an. Gedanklich-verbal zieht er dabei eine Linie in Richtung Norden. In 49 Zur Parallelführung der Erzählstränge in 11,11–25 vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 28), 243–249.
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der sich zuspitzenden Situation kurz vor seiner Festnahme wird Galiläa, der Herkunftsort Jesu, zum Zukunftsort der Gemeinschaft des Auferweckten mit den Jüngern. Aus dem sich abzeichnenden Passionsgeschehen in Jerusalem heraus eröffnet sich eine galiläische Perspektive. In der realen Erzählwelt bleibt die erzählte Handlung allerdings zunächst im Osten am Rande Jerusalems lokalisiert (14,32–52). Zum Verhör vor dem Hohenpriester wird Jesus zurück auf westlichem Weg stadteinwärts geführt (14,53). Die Westausrichtung, die das verhängnisvolle Geschehen in sich trägt, wird ab jetzt bis zum Tod Jesu in 15,37 nicht mehr durchbrochen. In der Verhörszene dienen die Kleinräume der deutenden Bewertung der Situation. Markus stellt mittels einer Verschachtelung50 eine Beziehung zwischen Petrus und Jesus her. Während Jesus drinnen verhört wird, befindet sich Petrus draußen im Hof. Die ursprünglich petrinischen Worte aus 8,29 σὺ εἶ ὁ χριστός lösen in 14,61 im Munde des Hohenpriesters das Todesurteil gegen Jesus aus. Im selben Augenblick geht Petrus draußen vom Hof in den Vorhof und sichtbar auf Distanz zu Jesus und zu seinem eigenen Bekenntnis.51 Damit findet die für das Markusevangelium zentrale Frage nach dem inneren Grund des Sterbens Jesu ihre Antwort. Jesus stirbt an dem Ressentiment, das sich aus dem Wechselspiel von Erhöhung und Erniedrigung speist. Der markinische Jesus ist die gesamte Handlung hindurch gegen die Erhöhung seiner Person angegangen und hat alle Versuche, ihn zu exponieren als dämonische Ansinnen von sich gewiesen. In herausgehobener Weise hat er dabei gerade Petrus in 8,31 zurechtgewiesen. Nun wird er selbst ein Opfer des zerstörerischen Mechanismus, den aufzulösen er angetreten war.52 Die finale Frage des Hohenpriesters wird in 14,60 durch eine signifikante Bewegung im Raum eingeleitet. Der Hohepriester steht auf εἰς μέσον und besetzt die Mittelpunktstellung im Raum. Jesus gerät in eine Randposition. Unter umgekehrten Vorzeichen fand ein solcher Positionswechsel bereits in 3,1–6 statt. Dort wurde der Wendepunkt der Erzählung ebenfalls mit dem Ausdruck εἰς (τὸ) μέσον eingeleitet (3,3). In dem Moment, in dem der Mensch mit der trockenen Hand von Jesus in die Mitte gebeten wurde, wurde er aus einer Rand‑ zu einer Zentralfigur der Erzählung. Statt seiner gerieten die zuvor bestimmenden Personen an die Peripherie. Die räumliche Veränderung zu Ungunsten Jesu ab 14,60 wird durch eine Variierung im Gebrauch von πάλιν noch verstärkt. In der Mehr50 Mk 14,53–54.55–65.66–72. Scholtissek, Galiläa (s. Anm. 47), 64: „(I)m Prozeß gegen Jesus kulminieren“ „christologische Fragen, die in Galiläa aufbrechen“. 51 Vgl. die Ringkomposition in Mk 14,53.54 und 14,66–72. Durch sie wird die Verhör‑ von der Verleugnungsszene umrahmt und auf diese Weise interpretiert. Vgl. auch J. U. Beck, Verstehen als Aneignung. Hermeneutik im Markusevangelium, ABG 53, Leipzig 2016, 302–303. 52 Zu der Frage, worin die Tödlichkeit des Christusbekenntnisses begründet liegt, vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 28), 256–267.
4. Die Richtungen im markinischen Raum
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zahl der 28 Fälle, in denen Mk das Adverb verwendet, ist Jesus das Subjekt einer mit πάλιν verknüpften Handlung. Nach 14,60 wird dies nie mehr der Fall sein. Wieder und wieder hatte sich Jesus bei Mk um etwas bemüht. Nun signalisiert die Übertragung des Adverbs an das Reden des Hohenpriesters und später an das Geschrei des aufgebrachten Pöbels (15,13): Das Gesetz des Handelns ist Jesus aus den Händen genommen und auf seine Feinde übergegangen.53 4.3 Die West-Ost-Perspektive der Sterbeszene Mk 15,33–39 Für das Verständnis der Sterbeszene Jesu kommt den Lichtverhältnissen in 15,33–39 besondere Bedeutung zu. Die Darstellung wird in V. 33 mit einer „All“Aussage eröffnet. Die dreistündige Finsternis, die in der Mitte des sechs Stunden umfassenden Leidens Jesu am Kreuz beginnt, erfasst ὅλην τὴν γῆν. In mythischer Weise wird zum Ausdruck gebracht: Es ist die dunkle Stunde der Menschheit. Sie steht soeben im Begriff, den Gottessohn zu töten. Die Lichtverhältnisse entsprechen dem inneren Gehalt des finsteren Geschehens.54 Ihre Grenze findet die Dunkelheit an dem Ausruf Jesu in V. 34. Die Finsternis endet in dem Moment, in dem Jesus seine letzten Worte hervorstößt und wenige Augenblicke später stirbt. Die wiedergekehrte Helligkeit charakterisiert den Tod Jesu als ein lichtes Geschehen. Die durch die Beleuchtung zum Ausdruck gebrachte soteriologische Interpretation des Todes Jesu wird gestützt durch die Angaben zu den Räumen und Richtungen in 15,35–39. Insgesamt vier Hinweise finden sich. In V. 35 drückt die Bezeichnung der Schaulustigen als „Dabeistehende“ aus, dass diese Leute in keiner eindeutigen räumlichen Zuordnung zu Jesus stehen. Ihre äußere Richtungslosigkeit entspricht ihrer inneren Teilnahmslosigkeit. Dieses Desinteresse erfährt vom Ende der Szene in V. 39 her eine Pointierung. Dadurch, dass der Centurio durch die gleiche substantivierte partizipiale Verbform zunächst ebenfalls als Dabeistehender eingeführt wird, wird ein Rückbezug zu V. 35 hergestellt. Die Differenz ergibt sich aus der räumlichen Zuordnung durch den Zusatz ἐξ ἐναντίας αὐτοῦ in V. 39. Die Stellung des Hauptmanns im Raum wird präzisiert. Er steht dem Gekreuzigten direkt gegenüber. Eine Betonung gewinnt die Aussage zusätzlich dadurch, dass unter historischem Gesichtspunkt Jesus vermutlich eher an einem Hochkreuz hängend zu denken ist.55 Die geradlinige 53 Letztmalig ist in 14,39.40 ein Handeln Jesu mit πάλιν verknüpft. In 15,13 begegnet das Adverb überhaupt zum letzten Mal. Aufschlussreich ist, dass es dort Verwendung findet, obwohl keine Wiederholung ausgesagt ist. Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 28), 140–143: πάλιν: Die Wiederkehr des Gleichen bei Markus. 54 Nach Mk 13,24 ist die unter Zitierung von Jes 13,10 angesagte Verfinsterung der Sonne das Signal für die Ankunft des Menschensohns. Daran erinnern sich die Leser bzw. Hörer in 15,33. 55 M. Ebners an sich nicht ausgeschlossene Erläuterung, dass Jesus in Bodenhöhe am Kreuz befestigt gewesen sein könnte (Ders., Im Schatten der Großen. Kleine Erzählfiguren im Markusevangelium, BZ NF 44 [2000], 56–76, 69), gäbe zwar eine historisch plausible Erklärung dafür ab, dass der Centurio auf Augenhöhe mit Jesus stand. Aber der mythisch-theologischen Aussage
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Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium
innere Haltung des Centurio, die explizit in seinen anschließenden Worten zum Ausdruck kommt, wird durch seine klare Positionierung im Raum augenfällig.56 Das Zerreißen des Tempelvorhangs von oben bis unten in V. 38 bildet einen direkten Rekurs auf die Taufszene in 1,9–11. An beiden Stellen wird das Verb σχίζειν verwendet, und die auf „oben“ und „unten“ bezogenen Richtungsangaben verweisen auf die Beziehung zwischen Himmel und Erde. Die Verknüpfung beider Szenen stellt erzählerisch einen Gesamtzusammenhang her.57 Bei der Hinrichtung Jesu in Jerusalem vollendet sich das Werk, das damals in Galiläa begann. An der Hinrichtungsstätte Golgotha, dem außerhalb der zweiten Stadtmauer am westlichen Stadtrand Jerusalems gelegenen Ort des Unheils, kommt zum Ziel, was an der Taufstätte am östlichen Jordanufer seinen Anfang nahm. V. 38 sprengt die Geschlossenheit der Szene. Eingeblendet wird ein Geschehen im Tempel, das die handelnden Personen nicht sehen können. Die Leserschaft wird auf einen Sachzusammenhang hingewiesen. In West-Ost-Perspektive, von der Stätte offenkundigen Unheils her, wird im Blick auf den traditionellen Ort des Heils eine Gottesaussage gemacht. Die Hinrichtung Jesu zieht Konsequenzen für das Gottesverständnis nach sich. Wer Gott ist, erschließt sich für die christliche Leserschaft des Mk vom Tod Jesu her. Für die Raumkonzeption ist wesentlich, dass diese Szene von den klassischen mythischen Richtungskonnotationen abweicht. Eigentlich hätte der Untergang Jesu im Westen aus der östlichen Heilsperspektive geschildert werden müssen. Aus Sicht des im Osten befindlichen Heils und damit aus Tempelperspektive endet Jesus in einer Katastrophe. Die Umkehrung der mythischen Richtung interpretiert sowohl die Heilserwartung als auch die Gottesvorstellung vom Tode Jesu her neu. Durch die Änderung des Richtungssinns vermeidet Mk, dass die Geschichte Jesu als ganze zu einem Mythos vom Sterben und Auferstehen wird. Die soteriologische Interpretation des Todes Jesu erfolgt unter Aufgreifen mythischer Elemente, aber sie macht die Jesusgeschichte nicht zu einem Mythos. Das Bekenntnis des römischen Centurio in V. 39 beinhaltet eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib des Geistes, den Jesus in V. 37 im Moment seines Todes ausgehaucht hat. Aufgrund des konstitutiven Zusammenhangs von Bekenntnisbildung und Geistempfang zeigt die Reaktion des Hauptmanns, dass der Geist, der Jesus bei seiner Taufe von Gott vertikal von oben verliehen wurde und würde die Spitze genommen. Im Übrigen scheint die Verwendung des Verbs καθαιρέω – herabnehmen – in V. 36 eher auf eine erhöhte Anbringung am Kreuz hinzudeuten. 56 Eine schräg noch oben weisende Linie wäre in diesem Moment mythischer Logik folgend unmöglich. Denn „schräg“ stehen nur „schräge Typen“ – die Dabeistehenden in V. 35 sind ein Beleg dafür. Kritisch gegenüber der Auffassung, dass die Aussage des Hauptmanns ein Bekenntnis darstellt: R. Kampling, Henker – Zeuge – Bekenner? Fragen zur Auslegung von Mk 15,39, in: Ders., Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel, hg. v. M. Blum, SBB 47, Stuttgart 2002, 3–20. 57 Vgl. Beck, Verstehen (s. Anm. 51), 338.
4. Die Richtungen im markinischen Raum
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den er die gesamte Erzählung hindurch im Kampf gegen dämonische Geister zu verbreiten trachtete, sich horizontal unter die Menschen auszubreiten begonnen und den römischen Offizier als ersten erfasst hat. Anders als von Lohmeyer vertreten ist gerade die Sterbeszene Jesu bei Markus von besonderer Bedeutung für die Pneumatologie. Am markinischen Karfreitag ereignet sich ein pfingstliches Geschehen, und das gemeindebildende Bekenntnis zu Jesus als dem Gottessohn stellt bereits eine Form des Osterglaubens dar.58 Die Jerusalemer Sterbeszene Jesu beinhaltet bei Mk einen doppelten theologischen Impuls: Erstens wird der Gottesbegriff vom Sterben Jesu her christologisch-soteriologisch qualifiziert und zweitens die weitergehende Christenheitsgeschichte als pneumatologisch begründet dargestellt. Damit bindet das Markusevangelium seine theologische Pointe an Jerusalem. Jerusalem wird zum Ausgangsort einer eigenständigen christlichen Identitätsbestimmung. 4.4 Die Rückkehr von Süden nach Norden in Mk 16,1–8 Die Funktion von 16,1–8 im Erzählganzen besteht darin, das Jerusalem-Geschehen in die galiläische Welt zu tragen. Beide Zentren der Gesamterzählung gehören wie die Brennpunkte einer Ellipse zusammen. Im Eingang von 16,1–8 spielen wie schon in der Sterbeszene die Lichtverhältnisse eine herausgehobene Rolle. Die vier Zeitangaben in V. 1 und 2 kündigen einen Neuanfang an und deuten auf einen Akt der Neuschöpfung voraus. Die Verortung des angelus interpres auf der das Günstige verheißenden rechten Seite in V. 5 deutet auf eine gute Kunde hin. Der Engel weist die Frauen darauf hin, dass sie den Auferweckten am falschen Ort suchen. Die Perikope verankert das nach traditioneller Überlieferung nicht ortsgebundene Auferweckungsbekenntnis erstmals in einem leeren Grab. Gleichzeitig verkündet die weiß gekleidete Gestalt, dass das Sehen des Auferweckten nicht auf einem Jerusalemer Friedhof sondern in der galiläischen Heimat der Frauen und Jünger erfolgen wird. Die Lokalisierung und Historisierung des Auferweckungsbekenntnisses durch seine Verankerung im Grab Jesu wird theologisch durch die Biographisierung dieses Bekenntnisses in der Balance gehalten. Das Jerusalemer Auferweckungsbekenntnis wird auf eine in Galiläa zukünftig stattfindende Erfahrung bezogen. Räumlich wird damit ein Richtungspfeil von Süd nach Nord gesetzt. Die seit Kapitel 11 mit den Bewegungen um und in Jerusalem verbundene Ost-WestOst-Ausrichtung wird verlassen. Die Erzählung knüpft an die für Mk 1–10 charakteristische Nord-Süd-Achse an, diesmal in umgekehrter Richtung. Das Gebiet 58 Während Jesus in seiner galiläischen Wirkungsphase verschiedene Regionen aufsucht, kommen bei seiner Jerusalemer Passion die Menschen zu ihm, u.z. wiederum aus unterschiedlichen Gebieten: Simon von Kyrene aus Nordafrika (15,21), Maria Magdalena und die anderen Frauen aus Galiläa (15,40.41), Joseph von Arimathäa (15,43) aus Judäa. Vgl. E. S. Malbon, Galilee and Jerusalem: History and Literature in Marcan Interpretation, CBQ 44 (1982), 242– 255, 250.
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der bisher erzählten Welt wird in die theologische Perspektive von 15,33–39 und 16,6.7 eingebunden. Fasst man Galiläa in 16,7 als eine Chiffre für „Heimat“, dann bildet der Vorverweis zugleich eine Brücke aus der erzählten in die reale Welt der Gemeinde und deutet über den galiläischen Kontext hinaus. Auch den Leserinnen und Lesern der Evangelienschrift ist die Verheißung gegeben, Jesus in der Heimat, in „ihrem“ Galiläa, zu begegnen.
5. Markinische Raumgestaltung und römische Limitation Jerusalem ist – entgegen Lohmeyers einseitigem Urteil59 – nach Mk 15,37.39 vor allem die Stadt der Geistausbreitung und des ersten Jesu Tod inkludierenden Bekenntnisses aus Menschenmund. In Jerusalem beginnt – allerdings unter dem Kreuz – die christliche Gemeindebildung. Diese theologische Leistung narrativ vollbracht zu haben, ist nicht erst das Verdienst des Lukas und der Apostelgeschichte. Die pneumatologische Dimension besitzt für das Markusevangelium von Anfang an strukturierende Bedeutung. Bereits der Täufer weist auf den Geist als die zentrale mit dem kommenden Jesus verbundene Qualität hin. Die Taufe Jesu bestätigt seine Ankündigung. Das Wirken des Geistträgers Jesus in Galiläa sowie den angrenzenden stärker hellenisierten Nachbarregionen ist von Erfolgen und mit ihnen einhergehender, wachsender Anfeindung verknüpft. Mit seinem Tod in Jerusalem beginnt der bis in die Gegenwart des Erzählers und darüber hinaus anhaltende Siegeszug des göttlichen Geistes, der von Jesus auf die Menschen übergegangen ist. Galiläischer Tauf‑ und jerusalemer Todesort sind durch die Geistthematik verbunden. Die Pneumatologie ist das Einheit stiftende Band der markinischen Jesuserzählung und die zentrale inhaltliche Verklammerung des Markusevangeliums. Die erzählten Räume sind funktional unterschieden. Im Laufe der Erzählung verbinden sich mit Galiläa und Jerusalem unterschiedliche Akzente. Aber alle Räume bleiben Funktionen einer soteriologisch-christologischen Geisttheologie. Dies gilt auch für die außergaliläischen hellenisierten Gebiete, in denen Jesus wirkt. Jerusalem ist als Stätte der Hinrichtung Jesu einerseits der Gegenort zu Galiläa. Dort hat sich die Heilszeit angekündigt und wird ihre eschatologische Erfüllung finden. Andererseits ist Jerusalem die Stadt, in der sich die Lebensgeschichte Jesu heilstiftend vollendet. Die soteriologische Bewertung des Jerusalemer Todes Jesu impliziert, dass Galiläa gegenüber Jerusalem zwar der Ort der endzeitlichen 59 Die Antithese zwischen Galiläa und Jerusalem bei Lohmeyer ist auch nach Auffassung von Schmeller, Umland (s. Anm. 36), 51, überbetont.
5. Markinische Raumgestaltung und römische Limitation
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Ankündigung aber gleichzeitig auch der der Nicht-Vollendung der Lebensgeschichte Jesu bleibt. Das mit Galiläa verbundene Nicht-Vollendungsmotiv könnte auch die Einsprengsel und Splitter erklären, die sich in die ansonsten positive Darstellung Galiläas bei Mk mischen.60 Da Jesus über den durch Galiläa und Jerusalem markierten Raum hinaus heilvoll gewirkt hat, ist anstelle einer Dualität der Räume eher von einer Dreigliedrigkeit des Raumes bei Mk zu sprechen. Im Zusammenspiel mit dieser Dreiregionalität reklamieren die vier Himmelsrichtungen im Markusevangelium die Gesamtheit des Raumes für die Ausbreitung des göttlichen Geistes Jesu. Das Sterben Jesu ist ein die gesamte Welt betreffender Vorgang, die Gottesgegenwart nicht an geographische Räume, sondern an das Bekenntnis und die Erfahrung der Begegnung mit dem Auferweckten geknüpft. Mit der galiläisch-jerusalemischen Geschichte Jesu hat das weltweite Geschehen begonnen, dessen Vollendung in Mk 13,27 angekündigt wird. Charakteristisch für die markinische Darstellung ist die große Nord-SüdAusrichtung, die durch den Süd-Nord-Impuls in 16,1–8 komplettiert wird. Die Passionsgeschichte folgt dagegen einer Ost-West-Ost-Ausrichtung. Sie gibt dem Markusaufriss eine Geographie in Kreuzform. Dies entspricht der sakralen Raumordnung, die in die römische Limitation (limitatio) Eingang gefunden hat.61 Sie führt auf die etruskische Aufteilung des Himmels in Kreuzform zurück, die die Voraussetzung für die Deutung von Himmelszeichen darstellt. Diese etruskische Technik ist „in die Religion und das Ingenieurwesen der Römer eingegangen“62. Die Beziehung zwischen Vermessungsarbeit und kultischer Prozedur und damit die Nachwirkung der alten mythisch konzipierten Weltordnung zeigt sich auch darin, dass die Feldmesser ursprünglich vermutlich Hilfskräfte der für Grenzziehungen zuständigen Auguren waren.63 In späterer Zeit verdrängt der Agrimensor den Auguren aus der praktischen messtechnischen Tätig-
60 Dazu zählen sowohl die Verwerfung Jesu in Nazareth durch seine eigenen Verwandten (3,31–34) als auch der wiederholte Widerstand jüdischer Autoritäten gegen Jesus, wie etwa der der Schriftgelehrten in 2,6.7 und 3,22 und der der Pharisäer in 2,16.24; 7,1 ff.; 8,11 sowie in Verbindung mit den Herodianern in 3,6; 8,15; 12,13. Vgl. auch Schmeller, Umland (s. Anm. 36), 51, Anm. 52: Es wird „heruntergespielt, daß Jesus in Galiläa auch Ablehnung (6,1–6a) und in Jerusalem auch Offenheit erfährt (vgl. Mk 12,28–34).“ 61 Zum Hintergrund vgl. Ch. Schubert, Land und Raum in der römischen Republik. Die Kunst des Teilens, Darmstadt 1996, 5–12. 62 M. Haase, Art. Limitation I. Etruskische Voraussetzungen, DNP 7 (1999), 233. Allerdings wird der Einfluss der etruskischen Prämissen auf die Praxis der römischen Landvermessung kontrovers diskutiert. Vgl. W. Hübner, Himmel und Erdvermessung, in: O. Behrends / L. Capogrossi Colognesi (Hg.), Die römische Feldmeßkunst. Interdisziplinäre Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte Roms, AAWG.PH 3. Folge 193, Göttingen 1992, 140–170, 144–145; U. Heimberg, Römische Landvermessung. Limitatio, Kleine Schriften zur Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands 17, Stuttgart 1977, 36–37. 63 J. Burian, Art. Feldmesser, DNP 4 (1998), 457–458, 457.
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keit und beschränkt ihn auf seine priesterliche Aufgabe.64 Die Landvermessung reflektiert die „kosmische (…) Ordnung auf die Erde“.65 Grundlage der römischen Landvermessung war ein rechtwinkliges Achsenkreuz,66 dessen waagerechte x-Achse, der Cardo, von Süd nach Nord und dessen senkrechte y-Achse, der Decumanus, von Ost nach West verlief.67 Die ursprüngliche, möglicherweise in etruskische Zeit zurückreichende Richtung des Decumanus verlief von Ost nach West, während in späterer Zeit die Orientierung nach Osten erfolgte. Entsprechend teilt der Decumanus die Welt in eine rechte und eine linke Hälfte,68 in die südlich gelegene Tag‑ und die im Norden liegende Nachthälfte; der Cardo gliedert sie in eine Sonnenaufgangs‑ und eine Sonnenuntergangsseite. Da der Gegensatz von Tag und Nacht elementarer ist als der von Morgen und Abend, kommt der Ost-West-Linie der Vorrang vor der Süd-NordLinie zu.69 Der Decumanus, durch den die primäre Teilung vorgenommen wird, geht dem Cardo voraus.70 Er stellt die Hauptlinie dar.71 Die markinische Raumkonzeption spiegelt die Grundsätze der römischen Limitation wider. Aufschlussreich ist, dass die für die markinische Geistthematik wichtige Stadt Gerasa mit ihrer strengen Axialität ein Paradebeispiel für die stadtgestalterische Umsetzung der Limitation darstellt.72 In dem von Rom 64 O. Behrends, Bodenhoheit und privates Bodeneigentum im Grenzwesen Roms, in: O. Behrends / L. Capogrossi Colognesi (Hg.), Die römische Feldmeßkunst. Interdisziplinäre Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte Roms, AAWG.PH 3. Folge 193, Göttingen 1992, 192–280, 201.230. 65 H.-J. Schulzki, Art. Cardo, kardo, DNP 2 (1997), 984–985, 985. 66 H.-P. Kuhnen, Art. Limitation II. Römische Feldmessung, DNP 7 (1999), 233–236, 234.235; A. Schulten, Art. Decumanus, RE IV (1901), 2314–2316, 2315. 67 H.-J. Schulzki, Art. Decumanus, DNP 3 (1997), 354; Behrends, Bodenhoheit (s. Anm. 64), 199: Der cardo ist „der große Querbalken des die Bodenordnung tragenden Kreuzes“, der decumanus „der den Querbalken teilende Hauptbalken“. Vgl. auch Cassirer, PsF II (s. Anm. 25), 124: „Mit dieser Schneidung und Kreuzung der beiden Linien, des decumanus und des cardo, (…) schafft sich das religiöse Denken sein erstes grundlegendes Koordinatenschema.“ 68 Schulten, Decumanus (s. Anm. 66), 2315. 69 Hübner, Himmel (s. Anm. 62), 147.158.160. In der Praxis traten freilich die grundsätzlichen Orientierungen hinter den örtlichen Anforderungen des Geländes zurück, und es kam zu Variationen hinsichtlich der Blickrichtungen. Vgl. E. Fabricius, Art. Limitatio, RE XIII (1926), 672–701, 685–688. 70 Hübner, Himmel (s. Anm. 62), 157. 71 Ursprünglich ist vermutlich der Cardo die Hauptlinie gewesen. In historischer Zeit begegnet er aber nur als sekundäre Linie. A. Schulten, Art. Cardo, RE III (1899), 1587–1588, 1587. 72 Mk 5,1–20. Vgl. die Grundrisszeichnung bei T. Leisten, Art. Gerasa, DNP 4 (1998), 949–951, 950, die die Ausrichtung von Decumanus und Cardo samt Parallelstraßen zeigt. Nach Leisten erfolgte der Ausbau der Stadt in nachaugusteischer Zeit, im 2. Jh. erhielt er einen zusätzlichen Schub. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg (Schweiz) / Göttingen 21992, 115, datiert die Schaffung eines rechtwinkeligen Stadtgrundrisses mit Cardo und Decumanus auf die zweite Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. Zu Stadtanlagen und Landvermessung im griechischen und römischen Einflussbereich vgl. Schubert, Land (s. Anm. 61), 13–42 bzw. 43–87.
5. Markinische Raumgestaltung und römische Limitation
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grundgelegten Koordinatensystem für den Raum beginnt sich der göttliche Geist Jesu weltweit auszubreiten. Die bei Mk theologisch bedeutsame Kategorie des Weges ist eingezeichnet in eine mythisch fundierte, aus dem Sakralen abgeleitete Raumvorstellung, die in der römischen Zivilisation Grundlage profaner Landvermessung wurde.73 Die Verknüpfung von religiöser Überzeugung und kartographischer Darstellung in den mittelalterlichen mappae mundi hält eine Einheit der Weltanschauung fest, die in der mythisch geprägten Raumkonzeption des Markusevangeliums bereits grundgelegt ist. Dem Markusevangelium selbst gilt nicht das Land als „heilig“, wohl aber ist der Raum mythisch strukturiert.
73 „Alte religiöse Muster, die Orientierungspunkte setzen, verbinden sich hier mit neuem Wissen, praktischer Erfahrung und pragmatischem Einsatz rationaler Funktionen.“ Schubert, Land (s. Anm. 61), 12.
Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6 The Aetiological-Narrative Reasoning of Existing Norms in Mk 2:1–3:6 The intention to read the narrative of the Gospel of Mark as aetiological reasoning for norms which are valid in the presence of the narrator is not self-evident. Such an endeavor presupposes determining the literary character of the oldest gospel. Before examining the individual episode in terms of the norms which are expressed in them, consideration must be given to literary and methodological assumptions as well as to the texts of the Markan work. It is then necessary to work out the way in which the scenes from the narrated world at the time of Jesus refer to the situation of the Markan community at the beginning of the eighth decade.
1. Die literarischen Voraussetzungen Unter den Voraussetzungen der historischen Kritik ist das Markusevangelium traditionellerweise als ein Quellentext gelesen worden. Das Werk liefere Auskünfte über Vorgänge zu Lebzeiten Jesu. Neben Informationen über die endzwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts seien ihm darüber hinaus Hinweise auf Entwicklungen im frühen Christentum zwischen dem Tod Jesu und dem Erscheinen der Schrift um das Jahr 70 n. Chr. zu entnehmen. Indizien für innergemeindliche theologische Prozesse seien an Überarbeitungen innerhalb des Textes abzulesen. Sie dokumentierten das Wachstum der Tradition und spiegelten die veränderten Bedarfe innerhalb der frühen Gemeinde. Nach einem mündlichen Stadium der Überlieferung hätten Redaktoren auf literarischer Grundlage die Texte bedarfsgerecht weiterentwickelt. In methodischer Hinsicht bildet für das historisch-kritische Paradigma die Scheidung von Tradition und Redaktion die Basis der Literarkritik. Im Zuge quellenkritischer Arbeit werden jüngere Textschichten von älteren Stufen abgehoben. Die Faszination dieses Verfahrens für das 18. und 19. Jahrhundert ist nachvollziehbar. Mit ihm verband sich die Hoffnung, auf „historisches Urgestein“, im besten Fall aus dem Leben Jesu selbst, zu stoßen. Unter den Maximen historisch-kritischer Exegese ist es dementsprechend schwer vorstellbar, das markinische Werk als Ätiologie zu lesen, es also in die Nähe einer hellenistischen
2. Methodische Vorentscheidungen
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αἰτία, einer mythisch durchformten Erzählung, zu rücken; denn diese erscheint für historische Zwecke als wenig brauchbar. Die Formgeschichte hielt an der methodischen Grundlegung der Literarkritik fest.1 Zwar rückte unter dialektisch-theologischem Einfluss nach 1918 der Blick vom historischen Jesus weg. Stattdessen wandte man sich der Traditionsbildung der kreativen Urgemeinde als dem historischen Referenzpunkt zu. Aber die literarkritische Schere präjudizierte weiterhin den Überlieferungsbestand, auf den man sich berief. Die Literarkritik trennte auch unter den neuen theologischen Vorzeichen sekundäre Überwucherungen von der „gesunden“ älteren Substanz. Die in den 1950er Jahren entwickelte redaktionsgeschichtliche Forschung akzeptierte ebenfalls die Vorgaben, die sich aus der Scheidung von Tradition und Redaktion ergaben. Wie unter dem Zepter aufgeklärter Vernunft im 19. Jahrhundert konnten auch im 20. Jahrhundert im Zeitalter der Entmythologisierung ätiologische Erzählungen nur auf wenig Sympathie rechnen.2
2. Methodische Vorentscheidungen Mit dem Einzug erzähltheoretischer Erkenntnisse in die Evangelienforschung haben insbesondere zwei methodische Weichenstellungen den Blick auf die älteste Evangelienschrift verändert. Die eine besteht in der Unterscheidung zwischen der erzählten Welt, von der die Schrift inhaltlich handelt, und der Erzählwelt, aus der die Erzählung stammt. Das Markusevangelium thesauriert nicht Informationen über die ausgehenden zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. Es ist vielmehr das literarische Dokument einer christlichen Gemeinde an der Wende vom 7. zum 8. Jahrzehnt. Vorrangig geleitet ist es von den Darstellungs‑ und Vermittlungsinteressen dieser Entstehungssituation. Die erzählten Inhalte sind daher nicht für die Rekonstruktion der Welt Jesu im dritten Jahrzehnt auszuwerten. Sie bieten unter historischer Perspektive vielmehr Fingerzeige auf die Situation der beginnenden 70er Jahre. Die zweite Erkenntnis führt zur Aufhebung der künstlichen Trennung von Figurenrede und Erzählerstimme. Sie stellt einen Einspruch gegen die Scheidung von Tradition und Redaktion dar.3 Der quellenkritischen Überzeugung galt die Figurenrede als tendenziell historisch ursprungsnah. Insbesondere die Logien 1 Vgl. R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 3–4. 2 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, BZ NF 58 (2014), 21–45, 28–31. 3 Für R. Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, SBS 18, Stuttgart 1989, 3–12, ist mit dem Ende der jahrzehntelang wenig reflektierten Scheidung von Tradition und Redaktion „ein nicht wieder von der Form‑ und Redaktionsgeschichte ‚erblich vorbelasteter‘, sondern davon emanzipierter, frischer Ausgriff auf die das Ganze des Evangeliums übergreifende literarische Konzeption gefordert“ (8).
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Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6
im Munde Jesu genossen höchste Wertschätzung.4 In ihnen sollte am ehesten historisch authentisches Spruchgut zu finden sein. Die Erzählerstimme wurde dagegen der Ebene des Endbearbeiters zugeordnet. Sie galt als redaktioneller Kommentar. Häufig wurden redaktionelle Einschübe geradezu als Verschlimmbesserungen eines hochwertigen Grundtextes bewertet.5 Sie galten in chronologischer Hinsicht als jung – und das war ihr Makel. Unter narratologischer Perspektive erhalten die Texte durch die beiden Weichenstellungen andere Ausrichtungen.6 Konzediert man, dass der Erzähler des Gesamtwerks über alle ihm literarisch zur Verfügung stehenden Mittel auf seine Leserschaft einwirkt, ist deutlich: Sowohl die Logien in den Mündern der handelnden Personen als auch die Erzählungen über sie stehen im Dienst der Erzählstrategien des Gesamtwerks.7
3. Die Bestimmung der Textsorte8 Ätiologien sind Erzählungen auf der Grundlage einer mythischen Weltsicht. Sie leiten Ereignisse und Zustände der Gegenwart aus Begebenheiten in der Vergangenheit ab. Die ätiologische Retrospektive führt in eine Vorvergangenheit zurück. Diese liegt der chronologisch geordneten Geschichte in weiterlaufender 4 Diese Bewertung findet ihren Widerhall noch in der Gliederung des Stoffes bei Bultmann,
Geschichte (s. Anm. 1). Bultmann behandelt zunächst die Wortüberlieferung (I. Die Überlieferung der Worte Jesu, 8–222) und dann den Erzählstoff (II. Die Überlieferung des Erzählungsstoffes, 223–346). 5 Ein Beispiel neben anderen für diese Bewertung stellt der Kommentar von W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus, ÖTK 2/1 und 2/2, Gütersloh / Würzburg 1979, dar. In ihm zieht sich der Gedanke durch, dass der Redaktor Markus den ihm vorliegenden theologisch hochstehenden Entwurf eines sogenannten Grundschrifterzählers durch seine Überarbeitungen fehlinterpretiert und damit beschädigt hat. 6 Vgl. dazu Klumbies, Wunderexegese (s. Anm. 2), 32–33.44–45. 7 Vgl. J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Paderborn 102008, 144–158; S. Lahn / J.Ch. Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart / Weimar 2008, 117–126; M. Martinez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 78–89; M. Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 22008, 78–83. 8 Im exegetischen Sprachgebrauch eingeführt ist der Terminus „Gattung“. Seine Verwendung setzt in methodischer Hinsicht üblicherweise Wachstumsprozesse der Überlieferung voraus. Auch die Wahrnehmung eines Textes als Quelle für außertextliche Vorgänge im frühen Christentum, sei es zur Zeit der Entstehung der Endfassung der Schrift, sei es in den Vorstadien während des Überlieferungsprozesses oder sei es gar zur Zeit Jesu, verbindet sich mit dem Gebrauch des Terminus „Gattung“. Mit der Verwendung des Begriffs der „Textsorte“ soll demgegenüber der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Zuschreibung auf der Grundlage einer narratologischen Analyse auf synchroner Ebene anhand der Endfassung des Textes erfolgt und das vorliegende Werk als Erzählung einstuft. Die Nomenklatur beinhaltet damit bereits eine Aussage zur Methode und impliziert ein Urteil über den Status des Textes.
3. Die Bestimmung der Textsorte
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Zeit voraus. Was in dieser Vorphase passierte und in Gestalt der ätiologischen Erzählung präsent gehalten wird, bildet die Voraussetzung für die Geschehnisse und Gegebenheiten in der geschichtlichen Zeit. Das Jetzt bezieht sich auf das Damals zurück. Eine αἰτία gibt die Ursache, den Grund, die Schuld für ein Geschehen an. In ferner Vorzeit haben unter Einwirkung göttlicher Mächte Ereignisse stattgefunden. Diese erweisen sich bis in die Gegenwart hinein als prägend und identitätsstiftend. Kurt Hübner verwendet synonym zu αἰτία den Begriff der ἀρχή. Eine ἀρχή ist eine „Ursprungsgeschichte“.9 Sie nimmt im mythischen Kontext den Platz ein, den im wissenschaftlichen Denken das Naturgesetz, die geschichtliche oder gesellschaftliche Regel innehaben.10 Irgendwann hat ein Gott einen Naturvorgang oder ein Ereignis erstmals ins Leben gerufen. Seither prägt dieses Geschehen die Gegenwart der Menschen, die sich auf diese initiale Begebenheit zurückbeziehen. Das Markusevangelium stellt bezeichnenderweise in Mk 1,1 seiner Darstellung den Begriff ἀρχή als erstes Wort voran. Anders als es die gewohnte Sprachregelung suggeriert, liefert der Erzähler mit seinem Werk nicht „das Evangelium nach Markus“. Er verschriftet mit seiner Jesuserzählung vielmehr die ἀρχή, den Ursprung des Evangeliums von Jesus Christus. Die markinische Evangelienschrift präsentiert die Schöpfungserzählung des Jesus-Christus-Evangeliums. Bis zur Entstehung dieses literarischen Werks verband sich über vier Jahrzehnte mit dem Begriff „εὐαγγέλιον“ die mündliche Frohbotschaft von Jesus Christus. Nun mutiert das εὐαγγέλιον zu einer Erzählung über das Leben und Wirken Jesu.11 In einer Rückschau wird erzählt: Was in der Gegenwart der Gemeinde um das Jahr 70 Gültigkeit besitzt, hat seinen 9 K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135, übernimmt den Begriff von V. Grønbech, Hellas, Reinbek bei Hamburg 1965, 208–209. 10 Die Behauptung von W. Weimer, Logisches Argumentieren, Stuttgart 2008, 15: „Das ganze Neue Testament enthält keine eigentlichen, logischen Argumente“, zeugt von einer Engführung im Verständnis von Rationalität. Die Tatsache, dass im Neuen Testament Glaubende auf die Weitergabe des christlichen Glaubens zielen, zu einem Ausdruck „des Überredens“ zu erklären und daraus ein Vernunftdefizit abzuleiten, dokumentiert die Verabsolutierung einer der Aufklärung verpflichteten Rationalität. Insbesondere in ethischen Zusammenhängen ist vor einer Selbstüberschätzung dieses Vernunftverständnisses zu warnen. Vgl. R. Zimmermann, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F. W. Horn / U. Volp / R. Zimmermann (Hg.), in Zusammenarbeit mit E. Verwold, Ethische Normen des frühen Christentums: Gut – Leben – Leib – Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Context and Norms of New Testament Ethics IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 3–27, 11–12, der die Vorurteilsbehaftung Weimers anspricht. 11 Zur Darstellung der Forschungsgeschichte in der Gattungsfrage, insbesondere auch zu den Vorschlägen einer Zuordnung des Markusevangeliums zur antiken historiographisch-biographischen Literatur vgl. A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblischhermeneutische Studie, BWANT 197, Stuttgart 2011, 25–46; P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 38–59; D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung, EdF 263, Darmstadt 1989, 143–194.
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Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6
Anfang in der Lebensgeschichte Jesu genommen. Das Markusevangelium stellt die Gründungsurkunde des Christusglaubens einer Gemeinde um das Jahr 70 n. Chr. dar. Kennzeichnend für eine mythisch geprägte ἀρχή ist neben anderem der sequentielle Erzählstil. Die ἀρχή entrollt Einzelepisoden. Diese stehen in innerem Zusammenhang miteinander. Sie sind aufeinander bezogen und gleichzeitig in sich suffizient.12 Im sog. Perikopenstil der Evangelien findet diese Vorgabe ihren Widerhall. Die Einzelelemente der Darstellung stehen im Dienst der Gesamtdarstellung. Dabei ist das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelfacetten.13 Mittels einer ätiologischen Jesuserzählung führt die markinische Gemeinde ihre Normen und Werthaltungen auf Geschehnisse im Leben ihres Protagonisten Jesus zurück. Was sie von Jesus erzählt, steht in Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundsätzen. Am Beginn des achten Jahrzehnts präfigurieren und legitimieren diese Erzählungen ihre ethischen Überzeugungen.
4. Mk 2,1–3,6 als Texteinheit Klassische historisch-scheidende Exegese sah in dem Abschnitt 2,1–3,6 eine Ansammlung ähnlicher Texte. Ihr verbindendes Thema liege in den Auseinandersetzungen, in die Jesus gerate. Argwöhnische Repräsentanten der jüdischen Gesellschaft Ende der zwanziger Jahre hätten ihn für seine neue eigenwillige Lehre kritisiert. Der Konflikt zwischen Judentum und Jesusbewegung bilde das unterschwellige Thema dieser sog. Streitgespräche.14 In ihnen, so die formgeschichtliche Auffassung, habe die frühchristliche Gemeinde ihre eigene Situation gut wiedererkennen können.15 Wie Jesus mitgespielt wurde und wie er auf verbale Angriffe reagierte, sollte den frühen Christen als Argumentationshilfe in analogen Debatten dienen. 12 K. Hübner, Erfahrung und Wirklichkeit im griechischen Mythos, in: W. Becker / K. Hübner (Hg.), Objektivität in den Natur‑ und Geisteswissenschaften, Hamburg 1976, 73–85, 78; Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), 94. Nach H. Weinrich, Erzählstrukturen des Mythos, in: Ders., Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, München 1986, 167– 183, 174, liegt „(d)ie Ordnung der mythischen Ereignisse (…) ganz und gar in der Erzählfolge, ohne daß es notwendig wäre, von Kausalität zu sprechen“. 13 Diese Feststellung berührt sich mit der Einsicht, die E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form‑ und Redaktionsgeschichte, BEvTh 54, München 21971, 257, als die „Übersummativität“ der Evangelienform gegenüber ihren Einzelelementen bezeichnete. Zu Hintergrund und Bedeutung des Begriffs vgl. auch Zwick, Montage (s. Anm. 3), 609–611. 14 Vgl. Bultmann, Geschichte (s. Anm. 1), 40–42. 15 Nach M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 37–41, handelt es sich um Paradigmen, die im Dienste der Predigt stehen und die „werbende und erbauende Kraft“ (66) besitzen.
4. Mk 2,1–3,6 als Texteinheit
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Die Mischung aus Logion und Szene führte Bultmann zu der Gattungsbezeichnung „Apophthegma“. Apophthegmen bestehen aus der Verbindung einer knappen Szene mit einem wegweisenden Wort Jesu. Bultmann leitete die Einzelelemente, die in diese Kombination mündeten, nicht aus historischen Ursprungssituationen im Leben Jesu ab. Er sah in diesem Zusammenhang vielmehr die frühchristliche Gemeinde traditionsbildend und ‑bindend am Werk.16
In struktureller Hinsicht besteht eine Analogie zwischen den formgeschichtlich getrennt behandelten Textgattungen „Apophthegma“, „Wundergeschichte“ und „Gleichnis“ bzw. „Parabel“.17 Versteht man Parabeln als „‚metaphorische (…) Erzählung(en)‘“, in denen ursprünglich „nicht zusammengehörige (…) Sinnbereiche“18 aufeinander bezogen werden, ergibt sich eine Parallelität zu „mythischen Sequenzen“,19 das sind in traditioneller Nomenklatur Erzählungen über wundersame Begebenheiten. Für diese ist ebenfalls eine Zweisträngigkeit der Darstellung konstitutiv. In ihr werden die materielle und die spirituelle Ebene bzw. eine immanente Realität und der Bereich des Numinosen in einem wechselseitigen Durchdringungsvorgang miteinander verwoben. Die Differenz zwischen metaphorisch und mythisch geformten Erzählungen liegt in der Rationalität, von der beide Erzählformen geleitet sind und mit der sie wahrgenommen werden. Bei metaphorischen Texten erfolgt der Zugang unter der Voraussetzung der Trennung von menschlicher und göttlicher Welt, die nachträglich im Vorgang des Verstehens in Beziehung zueinander gestellt werden. Die Übertragung folgt damit in der Sache den Regeln einer aufgeklärten Vernunft. Im Milieu mythisch geprägter Erzählungen steuert hingegen die Rationalität des Mythos den Blick auf die Verhältnisse in der erzählten Welt. Die Prämisse ist das Ineinanderfließen von spirituell-numinos-jenseitiger und materiell-menschlich-diesseitiger Welt. Im Unterschied zum formgeschichtlichen Tenor dienen bei Berücksichtigung ihres ätiologischen Charakters die fünf Szenen von Mk 2,1–3,6 nicht der Apologie frühchristlicher Überzeugungen und Praktiken. Weder Jesus noch eine frühe Gemeinde verteidigen in diesen Erzählungen etwas. Ein Grundzug aller fünf Erzählungen ist vielmehr der nach vorn weisende normative Zugriff. Das Bultmann, Geschichte (s. Anm. 1), 8–9. A. Lindemann, Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 346–367, 356, weist zu Recht darauf hin, dass „die als Wundererzählungen bezeichneten Geschichten literarisch nicht anders gestaltet sind als etwa die biographischen Apophthegmata oder auch bestimmte erzählende Gleichnisse“. 18 Vgl. R. Zimmermann, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabeln im Matthäus-Evangelium, in: F. W. Horn / R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics, Band I, WUNT 238, Tübingen 2009, 235–265, 247–249, Zitate 247. 19 Zur Verwendung des Terminus vgl. Klumbies, Wunderexegese (s. Anm. 2), 45, und Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), 252. 16 17
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Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6
Konfrontationsszenario, das sich durchgängig abzeichnet, ist durch das normsetzende Verhalten Jesu ausgelöst. Als Ätiologie gelesen dokumentiert der Zyklus der fünf Szenen die narrative Grundlegung der in der markinischen Gemeinde im Übergang zum achten Jahrzehnt geltenden theologisch-ethischen Maßstäbe. 4.1 Theologische Grundlegung: Die Vergewisserung der Gottesgemeinschaft nach Mk 2,1–12 Die Erzählung besitzt ihren Bezugspunkt in der Feststellung eines umfassenden Lähmungszustandes. Ein bewegungsunfähiger Mann wird mit Hilfe von vier Trägern Jesus vor die Füße gelegt. Schriftgelehrte erstarren in Abwehr. Stumm sitzen sie da. In Gedanken bekunden sie Widerstand. Jesu Zuwendung zu dem Gelähmten lehnen sie ab. Die Paralyse, von der die Szene erzählt, besitzt eine körperliche und eine geistliche Dimension. Der eine Gelähmte und die schriftgelehrte Gruppe, beide werden als körperlich reglos geschildert.20 In geistlicher Hinsicht erscheinen sie gleichermaßen als paralysiert. Der Zuspruch der Sündenvergebung setzt voraus, dass das Gottesverhältnis des Gelähmten als ein gestörtes verstanden ist. Darin liegt die Logik des Mythos. Wo körperliche Krankheit herrscht, muss Schuld vorliegen, denn Krankheit ist die Strafe für die Sünde. Die Störung im Gottesverhältnis äußert sich in der körperlichen Beschädigung. Die Schriftgelehrten haben sich in theologischer Korrektheit verhärtet. Sie wachen darüber, dass die Herstellung der heilen Gottesbeziehung Gott selbst vorbehalten bleibt. Keinesfalls dürfe sie, wie hier unterstellt, von dem Menschen Jesus vermittelt werden. Jesu Handeln bildet in ihren Augen einen unerlaubten Übergriff auf den Souveränitätsbereich Gottes (V. 7). Dieser vermeintlichen Grenzüberschreitung entgegenzutreten, sehen sie aus ihrer religiösen Perspektive als Pflicht an, nicht zuletzt, weil eine solche Handlung unheilvolle Folgen von Seiten der numinosen Macht nach sich ziehen könnte.21 Die körperliche Heilung des Gelähmten in V. 11 und 12 spiegelt: Die Vergewisserung der heilen Gottesbeziehung ist zum Ziel gekommen. Wenn der Zuspruch des bereinigten Gottesverhältnisses diesen Mann erreicht hat, dann muss der Logik mythischer Vernunft zufolge auf körperlicher Ebene ein entsprechendes Ergebnis sichtbar werden. Das Korrespondenzverhältnis zwischen spiritueller und körperlicher Verfassung hat zur Konsequenz, dass eine Veränderung an dem einen Pol sich auch in einer Wandlung an dem anderen Punkt zeigt. Genau diese Parallelführung, bei der sich der eine Vorgang im jeweils anderen abbildet, führt 20 Der Bewegungsunfähigkeit des Gelähmten korrespondiert auf Seiten der Schriftgelehrten deren Bewegungsunwilligkeit. 21 Auf das Gefahrenpotential einer „Unsicherheit im normativen Bereich“ verweist G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 61990, 118.
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die Erzählung vor.22 Der ehemals körperlich Gelähmte steht auf und geht vor aller Augen davon. Geistlich vergewissert findet er sich auch körperlich geheilt vor. Die Wiedergewinnung der verloren geglaubten Gottesgemeinschaft zeigt ihre Auswirkungen in körperlicher Hinsicht. Im Blick auf die erstarrt dasitzenden theologisch-geistlich verhärteten Schriftgelehrten vollzieht sich das gleiche Wunder. Der eine geheilte Gelähmte wird für alle Zuschauer der Szene, die Schriftgelehrten eingeschlossen, zum Anlass aufzuspringen und im ekstatischen Gotteslob zu neuer Bewegung zu gelangen.23 Die Vereinigung aller im gemeinsamen Lobpreis Gottes ist die Pointe der Szene im Schlussvers 12. Diese Interpretation beinhaltet die kritische Distanzierung von der Auslegungstradition formgeschichtlicher Exegese.24 Die Formgeschichte hatte nach vorausgehender literarkritischer Zerlegung der Perikope in Teiltexte den Skopus der Erzählung ihren traditionsgeschichtlichen und theologischen Prämissen folgend nicht am Schluss der Erzählung, sondern bereits in V. 10 erblickt. Die Vollmacht des Menschensohnes stelle das christologische Zentrum der Überlieferung dar. Besonderes Gewicht komme zusätzlich der Tatsache zu, dass die Aussage hier im Munde Jesu selbst begegne, es sich also um ein Logion handele. Damit galt die Exklusivität dieses Verses als gleich in doppelter Weise gesichert. Im Rahmen des allmählichen Wachstums verschiedener Traditionsteile25 seien eine ursprüngliche Wundergeschichte, die aus V. 1–5a oder b und V. 11.12 bestand, mit einem nicht selbstständig lebensfähigen Streitgespräch in V. 5b resp. V. 6–9 plus dem isoliert umlaufenden Logion V. 10 verbunden worden.
22 W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 112, greift als Bezeichnung für die Gattung des Textes den Terminus „Normenwunder“ von Theißen, Wundergeschichten (s. Anm. 21), 114, auf. Theißen verbindet mit dem Begriff ein funktionales Wunderverständnis. Auch wenn „ein innerer Zusammenhang von Norm und Wunder, Wort und Tat“ (119) besteht, dient das Wunder in erster Linie der Legitimation der zuvor erhobenen Norm und bleibt dieser damit sachlich nachgeordnet. In dieser Asymmetrie dominiert die aufgeklärte Rationalität der Gegenwart gegenüber der von mythischer Vernunft durchdrungenen Darstellung der Erzählung. 23 Charakteristischerweise ist der vormals gelähmte und jetzt geheilte Mann der einzige, von dem kein Gottesjubel berichtet wird. Er ist vor aller Augen weggegangen. Das entspricht der mythischen Logik, derzufolge er mit dem Zuspruch der Sündenvergebung seiner bestehenden heilen Gottesbeziehung vergewissert wurde und seine körperliche Bewegungsfähigkeit wiedererlangt hat. Daran, was seiner Person widerfahren ist, entzündet sich nun das Gotteslob aller anderen, die angesichts seines Geschicks in neue geistlich-körperliche Bewegung geraten. 24 Vgl. auch das gegen die Aufsplitterung der Szene und auf die Darlegung der Kohärenz des Textes gerichtete Votum von R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: G. Thomas / I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246, 238–242. 25 Zur Geschichte der formgeschichtlich orientierten Forschung zu Mk 2,1–12 vgl. im Einzelnen P.-G. Klumbies, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1–12, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 235–247, 240–242, und Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), 222–225.
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Dieses am Überlieferungswachstum orientierte Textentstehungsmodell kann folglich die Auflösung der erzählten Spannung im Schlussvers 12 nicht wahrnehmen. Entsprechend war Bultmann der Meinung, in dem Gotteslob, das laut V. 12 ausdrücklich „alle“ einschließt, könnten unmöglich die Schriftgelehrten mitgedacht sein.26 Die Redaktionsgeschichte, die ja eine Aussage über die Endfassung des Textes machen möchte, kann, da sie an der vorhergehenden literarkritischen Trennung der Überlieferungsgeschichte festhält und deren formgeschichtliche Einzelzuweisung an urgemeindliche Situationen – die Sitze im Leben – akzeptiert, die am Schluss der Erzählung befindliche Pointe, die sich bei Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit der einzelnen Erzählstränge ergibt, nicht in den Blick bekommen.27
Dem theologischen Skopus von der gelungenen Vergemeinschaftung ursprünglich beziehungslos nebeneinander befindlicher Personen im Gotteslob entspricht eine ethisch und sozial bedeutsame Tatsache. Mit dem Handeln Jesu werden die Isolation und Ausgrenzung des einen,28 des Kranken, der sich neben seiner Behinderung als Sünder stigmatisiert vorfindet, und zugleich die Selbstisolierung der anderen, der Kritiker, die sich von Jesus distanzieren, überwunden. 4.2 Das Leitbild sozialer Integration in Mk 2,13–17 Der Erzählung von der Restitution verloren geglaubter Gottesgemeinschaft in Mk 2,1–12 folgt in 2,13–17 eine Episode über die Reintegration von Menschen, die sich als sozial Ausgegrenzte vorfinden.29 Unter Vorbehalt lässt sich die Beziehung der beiden Perikopen zueinander in Kreuzform darstellen. Der vertikalen Ausrichtung der Erzählung von der Lösung von Paralyse in 2,1–12 folgt in 2,13–17 die horizontale Perspektive. Sie fügt der theologischen Überlieferung die ethische Dimension hinzu.30 Allerdings darf diese Wahrnehmung hinsichtlich der Schwerpunkte beider Erzählungen nicht verabsolutiert werden, denn für 2,13–17 wie für die vorhergehende Perikope gilt: Gottbezogene und menschenbezogene Perspektive durchdringen sich in beiden Fällen wechselseitig. Theologische Basisüberzeugung und anthropologisch-ethische Perspektive bilden eine Einheit. Bultmann, Geschichte (s. Anm. 1), 12. Zur ausführlichen Einzelexegese vgl. Klumbies, Heilung eines Gelähmten (s. Anm. 25), 235–240. 28 Vgl. Zimmermann, Krankheit und Sünde (s. Anm. 24), 244. 29 Auf den ätiologischen Charakter von Berufungsgeschichten weist F. Vouga, Die Entwicklungsgeschichte der jesuanischen Chrien und didaktischen Dialoge des Markusevangeliums, in: D.-A. Koch / G. Sellin / A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 45–56, 52, hin. 30 Laut J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Leipzig 1980, 110, korrespondieren Sündenvergebung und Aufnahme der Sünder in die Gemeinschaft miteinander. Schmithals, Markus 2/1 (s. Anm. 5), 166, verweist als Verbindungsglied zwischen beiden Texten ebenfalls auf das zentrale Sündenmotiv. 26 27
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Die Szene in V. 13 wird unter Hinweis auf die Lehre Jesu an den ὄχλος eröffnet. Der Inhalt der Lehre ergibt sich aus Jesu nachstehend geschildertem Handeln. Die Kombination aus Aktion und διδαχή ist auch aus anderen Erzählungen des Markusevangeliums geläufig. In 1,21–28 entsetzen sich die Zeugen des dramatischen Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum über Jesu Lehre; denn dessen „Lehre“ besteht darin, dem Geist Gottes zur Ausbreitung unter den Menschen zu verhelfen und widergöttliche Geister zu vertreiben resp. zu vernichten. In 2,13 lehrt Jesus und beruft bereits im nächsten Vers en passant, Levi, den Sohn des Alphäus, einen Zöllner, in die Nachfolge. Dieser Ruf in die Jesusgemeinschaft überschreitet die Grenzen des nach herkömmlichen moralischen und wohl auch religiösen Standards Gebotenen. Nähe zu dem Zöllner herzustellen, dokumentiert sichtbar den Widerspruch gegen das Distanzierungsgebot. Diese Erzähllinie wird in V. 15–17 ausgezogen. Jetzt versammelt Jesus sogar eine große Zahl von eigentlich zu meidenden Personen um sich. Zu dem einen Zöllner sind Berufskollegen und weitere Sünder hinzugekommen. Ihnen gewährt Jesus Gemeinschaft. Das traditionelle Ausgrenzungsgebot lässt er demonstrativ hinter sich. Die Sinnhaftigkeit, Gemeinschaft über traditionelle Grenzen hinweg zu eröffnen, wird innerhalb der Erzählung in V. 16 durch schriftgelehrte Pharisäer erfragt. „Was soll das, dass er mit Zöllnern und Sündern isst?“ In der erzählten Welt wird hier unter der Voraussetzung eines innerjüdischen Kontextes von der unerlaubten Gemeinschaft mit Unreinen gesprochen. In den Augen der Erzählwelt des Jahres 70 klingt freilich die Frage durch: Für wen und wie weit darf oder soll sich die Gemeinde unter dem Evangelium Jesu Christi für Außenstehende öffnen? Insofern trifft es zu, „daß die Einwände der Pharisäer ihre Funktion darin erschöpfen, daß sie die Gelegenheit zur christlichen Unterweisung geben“.31 Eine „überzeugende Argumentation“ im Blick auf die „jüdische Synagogengemeinde“ ist in der Tat „nicht mehr angestrebt“.32 Die Frage ist zudem, worin das Kriterium für die Öffnung besteht. Jesus, der Protagonist des Christus-Evangeliums, hat die Grenzen des in seinem religiösen und nationalen Kontext Erlaubten überschritten. Aber wie hat er sein Verhalten begründet? Daraus könnte die Gemeinde des achten Jahrzehnts Wegweisung beziehen.33 Das Wort im Munde Jesu in V. 17a benennt anstelle der Differenz von Reinen und Unreinen den Unterschied zwischen Gesunden und Kranken. Diese beiden Gruppen stellt Jesus in die Beziehung zum Arzt. Für das Berufsbild des Arztes 31 Vouga,
Entwicklungsgeschichte (s. Anm. 29), 52. Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern. Erwägungen zur Entstehung von Mk 2,13–17, in: D.-A. Koch / G. Sellin / A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 57–73, 72. 33 Koch, Jesu Tischgemeinschaft (s. Anm. 32), 72, stellt zutreffend fest, dass die „Argumentation nur im innerchristlichen Bereich (…) Überzeugungskraft“ besitzt. 32 D.-A. Koch,
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ist nicht der Rückzug, sondern gerade das Zugehen auf die Kranken charakteristisch. Jesus widerspricht dem Motto „rette sich, wer kann“ als Grundlage für die Separierung von Menschen, die nicht der eigenen Gruppe zugerechnet werden. Dem Wunsch nach Selbstdistanzierung wird durch den Verweis auf das therapeutische Verhältnis zwischen Arzt und Kranken die Basis entzogen. Mit Jesus, so die Erzählung, ist eine heilende Beziehung zu den Kranken gestiftet worden. Gleichzeitig bleibt die besondere Stellung Jesu, die durch den Vergleich mit der Tätigkeit des Arztes unter Kranken gegeben ist, gewahrt.34 Eine christliche Gemeinde, die mit dieser Erzählung hinter ihrem Protagonisten steht, erlebt sich narrativ hineingenommen in die Bewegung auf desintegrierte Personen zu. Nicht der moralische Appell motiviert dabei, sondern eine neue Perspektive auf die Beziehungsgrundlage. Das andersgeartete Gegenüber wird nicht als Bedrohungsfaktor angesehen, dem es durch Rückzug zu entgehen gilt. Im Bild und mit dem Selbstverständnis des heilenden Arztes werden die Bedürftigkeit zum Kriterium und die Beziehungsaufnahme zur Norm. Bereits in 2,5 hatte Jesus durch den Zuspruch der Sündenvergebung den behinderten Menschen seiner bleibenden Gemeinschaft mit Gott vergewissert. In 2,13–17 hebt er direkt in personaler Weise die Distanz zu den Sündern auf. Sündenvergebung dokumentiert sich in der sichtbaren sozialen Gemeinschaft mit Sündern. Der Nachsatz in V. 17b bringt diese Absicht auf den Punkt. Nicht das unter-sich-Bleiben der Gerechten, sondern die Aufhebung der Distanz zu den Sündern ist das Kennzeichen der Nachfolge auf dem Weg Jesu. Für die Leserschaft resultiert daraus der Impuls: Die Integration von Personen, die bisher nicht den Standards der eigenen Gruppe entsprechen, zählt zu den Essentials christlichen Gemeindelebens. 4.3 Die Situationsangemessenheit der Norm in Mk 2,18–22 Auch die Debatte über die Notwendigkeit des Fastens eröffnet keinen Blick durch das Schlüsselloch der Geschichte auf eine Auseinandersetzung zwischen dem historischen Jesus und einigen Johannesjüngern und Pharisäern. Die Szene dient nicht, wie formgeschichtlich35 erwogen, als Projektionsfläche, die die Rivalität zwischen Täuferkreis und Jesusanhängerschaft nach Ostern spiegelt. Wohl aber gibt die Diskussion um das Fasten der Erzählung ein traditionales Gepräge im imaginierten Kontext der endzwanziger Jahre. Dies ist deshalb zu erwähnen, weil für die Erzählwelt der Zeit nach 70 anzunehmen ist, dass die christlichen Gemeinden vielerorts eine Fastenpraxis pflegen. 34 Vgl. R. von Bendemann, Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums (Teil I), BZ NF 54 (2010), 36–53, 51. 35 Eine überlieferungsgeschichtlich gestufte Analyse und die Interpretation der Szene auf den unterschiedlichen Traditionsstufen bietet U. Mell, „Neuer Wein (gehört) in neue Schläuche“ (Mk 2,22c). Zur Überlieferung und Theologie von Mk 2,18–22, ThZ 52 (1996), 1–31.
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Ausgehend von zwei unterschiedlichen Auffassungen über den Brauch des Fastens führt die Erzählung einen theologisch-ethischen Konflikt vor. Dabei entwickelt sie ein Kriterium, an dem die christliche Leserschaft im Falle des Aufeinandertreffens zweier widerstreitender Normen ihre Entscheidung ausrichten kann. Diejenige Forschung, die in den Logien dieses Abschnitts nach historisch authentischem Material suchte, hat sich schwergetan, das Verhältnis zwischen den Worten Jesu in V. 19 und 20 und denen in V. 21 und 22 genau zu bestimmen; denn letztere wirken sentenzenhaft hinzugefügt. Für sich betrachtet scheinen sie sich vom Ausgangsthema in V. 19 beträchtlich entfernt zu haben. Unter historisch separierender Perspektive gelten sie denn auch als sekundäre Hinzufügung unbestimmter bzw. redaktioneller Provenienz.36
Die Szene lebt vom Wortwechsel. Gemäß der erzähltheoretischen Einsicht, dass sowohl die Aussagen der Erzählerstimme als auch die Figurenrede Teile der narrativen Gesamtstrategie bilden und der Leserlenkung dienen, handelt es sich auch bei den Worten im Munde Jesu um erzählte Rede. Liest man die Szene von ihrem Ende her, ist die Differenz innerhalb der Verse 19–22 geringer als sich dies einer sezierenden und in verschiedene Traditionsbereiche auseinanderlegenden Analyse darstellt. Im Umgang mit einer Kurzerzählung wie der vorliegenden gilt, was sich bereits bei der Interpretation der beiden vorherigen Geschichten bewährt hat: Der Höhepunkt der Aussage findet sich am Schluss der Erzählung. Diese Einsicht ist in der Gleichnisforschung seit dem berühmten Diktum vom „Gesetz des ‚Achtergewichts‘“37 seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Bei den synoptischen Erzählungen, die sich um ein Logion ranken, den von Bultmann so genannten „Apophthegmata“, hat die dialektisch-theologisch geprägte Formgeschichte diesen Grundsatz freilich ignoriert; denn nach ihrem Vorverständnis, demzufolge die Überlieferung der Worte im Munde Jesu höher einzuschätzen ist als die Erzählüberlieferung über Jesus, liegt der Skopus einer solchen Szene im Jesuslogion und dessen christologischer Bedeutung.
Zur Debatte steht laut V. 21.22 die Verhältnisbestimmung zwischen alt und neu. Bei altem Tuch und neuem Stoff, bei rissigen gebrauchten Weinschläuchen und frischem jungem Wein, wirkt die Vermischung zerstörerisch. Das Alte hält das Neue nicht, das jeweils Neue löst sich vom alten Untergrund bzw. sprengt den Schlauch auf. Es entspricht der Alltagserfahrung: Neu gehört zu neu. Gleiches zu Gleichem ist die Auffassung, die auch hinter den Aussagen von V. 19.20 steht. Solange eine Hochzeitsfeier dauert, wird nicht gefastet. Das würde dem Sinn des Festes widersprechen. Nach einem solchen Fest aber kommen Tage, an denen das Fasten wieder die Normalität darstellen wird. 36 W. Weiss, „Eine neue Lehre in Vollmacht“. Die Streit‑ und Schulgespräche des MarkusEvangeliums, BZNW 52, Berlin / New York 1989, 97: „sekundär zugewachsen oder zugefügt“; Eckey, Markusevangelium (s. Anm. 22), 127: Vom Evangelisten „angehängt“. 37 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 1), 207.
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Das Verhältnis von gleich und ungleich war bereits das Thema von 2,13–17. Dort ging es unter den Aspekten von Abgrenzung und Integration um die Herstellung der Beziehung zu Menschen, die prima vista nicht der eigenen Gruppe angehören. Jesus stellte Gemeinschaft mit Personen her, die unter den Denkvoraussetzungen seiner Kritiker auszugrenzen waren. In 2,18–22 findet die Verhältnisbestimmung zwischen gleich und ungleich unter veränderten Vorzeichen ihre Fortsetzung. Die Erwartung, die die Kritiker Jesu in V. 18 an ihn herantragen, steht unter der Voraussetzung, dass sie Jesus ein dem ihren gleichgerichtetes Verhalten abverlangen können. Sie appellieren an Jesus und seine Jünger als eine Gruppe, von der sie annehmen, dass diese ihnen auf Augenhöhe begegnen wolle. Im Raum steht die Frage, ob die Jesusgruppe von den Johannesjüngern und Pharisäern als ebenbürtig angesehen werden kann.38 Ein konformes Verhalten wäre ein Ausdruck von Egalität. Die Prämisse einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit der drei Gruppen unter der Perspektive der kritischen Fragesteller39 wird in V. 19–22 zurückgewiesen. Die Deklaration der erzählten Gegenwart als einer Freudenzeit in V. 19 zieht die Separation von Johannesjüngern und Pharisäern nach sich. Die soteriologische Bestimmung der Gegenwart als eines Hochzeitsfestes führt zur Distanzierung von denen, die unter ihren Voraussetzungen die Norm für die Gemeinschaft zwischen sich und Jesus errichten. Der normative Anspruch der Johannesjünger und der Pharisäer, der aus ihrer Sicht die Gemeinsamkeit aller drei Gruppen garantiert und dadurch die Jesusjünger in die Pflicht nimmt, wird von Jesus zurückgewiesen. Die Vergemeinschaftung unter dem von seinen Kritikern herangetragenen normativen Anspruch weist Jesus zurück. Dabei geht es nicht um die Ablehnung der Fastenpraxis als solcher. Diese mag unter anderen Umständen durchaus ihren Sinn besitzen, so V. 20. Aber der materiale Inhalt des normativen Anspruchs, d. h. die Forderung nach einem gemeinsamen angeblich verbindenden Fasten als solchem, besitzt keine gemeinschaftsstiftende Qualität. Im Gegenteil: Die Alltagsbeispiele von V. 21.22 demonstrieren die gemeinschaftssprengende Kraft dieses Anspruchs. Argumentativ bringt Jesus in dieser Szene den Vorrang der Situation vor der Einzelnorm zur Geltung. Die Wahrnehmung des eigenen Standorts in einer soteriologisch qualifizierten Zeit verlangt den situationsangemessenen Umgang mit einer Norm. Abgewiesen wird die Auffassung, die Einhaltung einer tradierten Regel garantiere ein situationsgemäßes Verhalten. Widersprochen wird auch der Ansicht, das regelkonforme Verhalten stelle ein bindendes Element zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen dar. Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), 173. Vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium I. Teil. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1– 8,26, HThK II/1, Freiburg / Basel / Wien 51989, 172: Die „Infragestellung Jesu und seiner Jünger als einer führenden religiösen Gruppe“, auf die die Kritiker zielen, setzt diesen Status voraus. 38 39
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Der markinische Jesus tritt dafür ein, die Norm mit der Situation in Einklang zu bringen. Dabei wird dem Neuen ein Eigenrecht gegenüber dem Anspruch der Tradition zugesprochen. 4.4 Das Wohl des Menschen als Verhaltenskriterium in Mk 2,23–28 Das Thema der Situationsangemessenheit ethischer Normierung findet seine Fortsetzung in Mk 2,23–28. Die Thematik der Verurteilung des Sabbatbruchs bzw. die Begründung der Übertretung des Sabbatgebots, die Jesus in der erzählten Welt vornimmt, verleiht der Erzählung ihr Zeit‑ und Lokalkolorit. Eine Debatte, wie sie für die endzwanziger Jahre des ersten Jahrhunderts vorstellbar ist, bildet die Grundlage für eine ethische Reflexion unter den Voraussetzungen des beginnenden achten Jahrzehnts. Zu dieser Zeit ist die Sabbatthematik als solche für eine christliche Gemeinde längst „nicht mehr strittig“.40 Innerhalb der erzählten Welt liegt die Basis der von den Pharisäern vorgebrachten Kritik in dem Verweis auf die tradierte und allgemein anerkannte Norm der Sabbateinhaltung. Darin übertrifft diese Kritik noch den Einwand, den Johannesjünger und Pharisäer Jesus gegenüber in 2,18 vorgebracht hatten. Denn in der Sabbatfrage ist von einem ungleich höheren Konsens auszugehen, und der Sachverhalt scheint unter den Voraussetzungen jüdischer Religiosität unstrittig zu sein. Unter christlicher Leseperspektive entsteht an dieser Stelle freilich eine Spannung. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich um eine christliche Begründungserzählung jenseits des jüdischen Selbstverständnisses handelt. In der Auslegung ist immer zugestanden worden: Die Replik Jesu besitzt unter jüdischen Prämissen wenig Plausibilität. Zum einen enthält sie einen inhaltlichen Fehler. Die Davidepisode geschah nicht zur Zeit Abjatars, sondern unter dessen Vater, dem Priester Ahimelech.41 Zum anderen liegt im Falle der Jesusjünger gerade keine Analogie zu der für David unterstellten Notlage vor.42 Die Einsicht in diese argumentative Schieflage hat die formgeschichtlich verfahrende Exegese 40 D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 65. Vouga, Entwicklungsgeschichte (s. Anm. 29), 47: „Die Erzählung ist in einem christlichen Milieu entstanden.“ Zur Forschungsgeschichte unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten vgl. F. Neirynck, Jesus and the Sabbath. Some Observations on Mark II,27, in: J. Dupont (Ed.), Jésus aux origines de la christologie, BEThL 40, Leuven 1975, 227–270, 227–253. 41 Vgl. A. Lindemann, „Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden …“. Historische und theologische Erwägungen zur Traditionsgeschichte der Sabbatperikope Mk 2,23–28 parr., in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 15–39, 18, und Th. Söding, Die Saat des Evangeliums. Vor‑ und nachösterliche Mission im Markusevangelium, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Ed.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era, Tübingen 2013, 109–142, 124, Anm. 53. 42 D. M. Cohn-Sherbok, An Analysis of Jesus’ Arguments Concerning the Plucking of Grain on the Sabbath, in: C. A. Evans / S. E. Porter (Ed.), The Historical Jesus, BiSe 33, Sheffield 1995, 131–139, 135, und Lindemann, Sabbat (s. Anm. 41), 18.
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verschiedentlich dazu veranlasst, die Verse 25 und 26 als nichtursprüngliche Zusätze zu V. 23.24 auszuscheiden.43 Das zugrundeliegende Apophthegma habe nur die Verse 23.24 mit dem Logion in V. 27 umfasst.44 Entsprechend sei in diesem Zusammenspiel die Pointe der Aussage zu suchen. Es gehe um „eine neue Bestimmung des durch das biblische (Sabbat‑)Gebot begründeten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch: (…) Sabbat und Sabbatgebot erscheinen als Gabe Gottes ‚um des Menschen willen‘“.45 Gründet man die Interpretation im Gegensatz dazu auf die Erzählung in ihrer vorliegenden Form einschließlich V. 25.26 und 28, treten Autorität und Charakter der Person Jesu in den Vordergrund. Jesus vollzieht eine normative Setzung. Darin gleicht er David. Dieser nahm aufgrund seiner Machtposition eine Handlung vor, die ebenfalls als angreifbar angesehen werden konnte. Mit aggressivem Unterton reagiert Jesus auf die pharisäische Kritik mit einer Gegenfrage. Diese hebt die Tat Davids hervor; die Begründung mit dessen Not und Hunger schiebt Jesus in einem Nebensatz nach. Legitimieren kann dieser Umstand Davids Handeln nicht. Was Jesus betont, ist: David handelte aus freiem Entschluss. Die Notlage ist lediglich ein Begleitumstand. Auch Davids Verhalten war ein Regelverstoß. Der markinische Jesus führt in V. 27 als Kriterium für die von ihm vertretene Position den Vorrang der menschlichen Situation vor der fixierten Regel an. Gerade weil es sich um eine weisheitliche Sentenz handelt, liegt eine gewisse Analogie zu der sich auf die religiöse Tradition Israels berufenden Sicht der Pharisäer vor. Auch Jesus bezieht sich auf eine Vorgabe zurück. Insofern nimmt er kein Sonderrecht für sich in Anspruch. Er verweist auf eine prinzipielle Verhältnisbestimmung zwischen Sabbat und Menschenwohl, die das konkrete Einzelgebot in einen umfassenderen Referenzrahmen stellt. In der geschilderten Kontroverse bemisst Jesus die Norm am Ergehen des Menschen. Er leitet seine ethische Positionierung aus einer theologischen Position ab, die er der Beurteilung der Situation, wie sie seine Kontrahenten, die sich an der Einhaltung des Einzelgebotes orientieren, vornehmen, überordnet. Dass Jesus innerhalb der erzählten Welt für seine Auffassung kein Verständnis ernten wird, ist evident. Auf der Ebene der Erzählwelt ist freilich deutlich, dass seine in Distanz zum jüdischen Selbstverständnis befindliche Ansicht der christologisch begründeten Haltung der christlichen Gemeinde zu Beginn des achten Jahrzehnts entspricht. Insofern ist es konsequent, dass V. 28 genau diesen Tatbestand ausspricht. Keinesfalls bilden weisheitliche Argumentation und christologische Begründung ein Spannungsverhältnis. Vielmehr bringt V. 28 die in der Erzähl43 Vgl. die Darstellung bei Lindemann, Sabbat (s. Anm. 41), 20–22, und Gnilka, Markus II/1 (s. Anm. 30), 119. 44 Anders jedoch F. Vouga, Jésus et la loi selon la tradition synoptique, Le Monde de la Bible, Genève 1988, 37–41, der die Verse 23–26 dem Kernbestand der Tradition zurechnet. 45 Lindemann, Sabbat (s. Anm. 41), 36.
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welt der beginnenden siebziger Jahre gültige Grundlage der Argumentation auf den Punkt. Aus der Orientierung an Jesus resultieren für die christliche Gemeinde maßgebende ethische Weichenstellungen, die sie in Differenz zu innerjüdischen Begründungsverhältnissen führen. Der markinische Jesus hat seine Leitlinie allerdings nicht erfunden, sondern – so die Erzählerstimme – abgeleitet und erschlossen. Auf der Ebene der Erzählwelt wird damit ein christologisch abgesichertes ethisches Kriterium entwickelt. Konkretes ethisches Verhalten findet seine Norm am Wohl des Menschen. An ihm ist die Entscheidung angesichts der Forderung des Einzelfalls auszurichten. Der Gottessohn, auf den sich das Credo der markinischen Gemeinde richtet, hat als Menschensohn zu seinen Lebzeiten erwirkt, dass gegenüber der Berufung auf eine feststehende Norm der Situation Raum zu geben ist. Im Duktus der erzählten Welt wird mit diesem normsetzenden Auftreten und Anspruch Jesu eine Spannung zu der bestehenden Ordnung des zeitgenössischen Judentums provoziert. Die konfliktuöse Atmosphäre wird im Verlauf der Gesamterzählung anwachsen. Sie ist eine der Ursachen, die in der erzählten Welt des Markusevangeliums plausibilieren, wie Jesu Wirken unter seinen Zeitgenossen eine Aggression entfachen konnte, die ihm den Tod durch Kreuzigung einbrachte. 4.5 Die Aufhebung der Neutralität in der ethischen Entscheidungssituation nach Mk 3,1–6 Der Hinweis in Mk 3,1, demzufolge Jesus wiederum eine Synagoge betritt, impliziert im markinischen Erzählkontext den Vorverweis auf einen neuerlichen Normenkonflikt. Das Stichwort „Synagoge“ kündigt wie in 1,21 und 1,23 eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von alter und neuer Lehre an. Der Tatbestand, dass die Episode am Sabbat handelt, verstärkt die Leseerwartung, dass es im Folgenden um eine Konfrontation zwischen zwei Werthaltungen gehen wird. Schon in 1,21–28 und 2,23–28 diente die für jüdisches Selbstverständnis zentrale Sabbatproblematik als Transmitter, um christliche Positionen in einem jüdischen Erzählkontext mit dem entsprechenden Zeit‑ und Lokalkolorit an die Person Jesu zu binden.46 Die Erzählung in 1,21–28 stellte bei der ersten öffentlichen Aktion Jesu einen Sinnzusammenhang zwischen seinem exorzistischen und seinem lehrenden Handeln her. Jesu Lehre treibt unreine Geister aus und verhilft dem Geist Gottes zum Durchbruch. Seine διδαχή ist dämonenaustrei-
46 Angesichts der Tatsache, „daß die Auseinandersetzung um den Sabbat kein aktuelles Problem der Zeit des Mk mehr ist“ (Lührmann, Markusevangelium [s. Anm. 40], 66) ist auch bei dieser Perikope deutlich, dass die Erzählintention nicht der erzählten Welt der 20er Jahre des ersten Jahrhunderts zu entnehmen ist, sondern den Anforderungen der christlichen Erzählwelt nach dem Jahre 70 n. Chr. entstammt.
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bendes Handeln.47 2,23–28 stellt die Verabsolutierung einer fixierten Norm, wie sie in den Augen des christlichen Erzählers innerhalb der Erzählung der Hinweis auf das Sabbatgebot darstellt, zur Disposition. Aus der christlichen Erzählperspektive findet eine normative Regelung ihr Kriterium in der Ausrichtung am heilsamen Ergehen des Menschen.48 3,1–6 läuft auf die Herausarbeitung des Sachverhalts hinaus, dass es angesichts einer konkreten ethischen Herausforderung keine Neutralität gibt. Ein NichtHandeln kann nicht durch den Verweis auf ein feststehendes Gebot legitimiert werden.49 Innerhalb der Erzählung ruft Jesus einen Menschen mit einer Behinderung aus seiner Position am Rand des Geschehens in den Mittelpunkt des erzählten Raumes. Bereits diese Zentrierung ist ein Signal. Nach mythischer Ordnung besitzt das, was in der Mitte steht, zentrale Bedeutung. Demgegenüber rücken die Erzählfiguren, die als Träger von Missfallen und Abwehr fungieren, an den Rand der Szene. Die Doppelfrage beinhaltet eine Irritation: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses, Leben zu retten oder zu töten? Aus der Sicht der handelnden Personen innerhalb der erzählten Welt kann es hier nur eine Antwort geben: Weder – noch, denn am Sabbat soll der Mensch, abgesehen von geregelten Ausnahmetatbeständen, gar nichts tun. In diese Perspektive mischt sich jedoch die konkurrierende Wahrnehmung der späteren christlichen Erzählwelt. Auffallend ist, dass die beiden aufgeworfenen Alternativen den Rahmen des Geschehens – schließlich geht es lediglich um die Heilung einer verkrüppelten Hand – sprengen.50 Verbalisiert werden gravierende ethische Alternativen. Ihnen gegenüber gibt es weder Neutralität noch zeitlichen Aufschub. Symptomatisch für den Problemfall sind die Reaktionen der handelnden Personen innerhalb der Erzählung. Die Pharisäer und Herodianer haben in der erzählten Welt allen Grund zu schweigen; denn sie denken und handeln von der fixierten Sabbatnorm aus. Die Alternative von V. 4 stellt sich ihnen so nicht. Sie können unter ihren Voraussetzungen abwarten. Für sie geht es nicht darum, was 47 Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), Kapitel 4.4.2 Mk 1,21–28: Die Lehre Jesu als Exorzismus, 216–222. 48 Vgl. M. Becker, Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ‚verdorrten Hand‘) – Mk 3,1–6, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 248–256, demzufolge aus jesuanischer Perspektive im Vordergrund „nicht die Toraübertretung“ (255), sondern „die Wiederherstellung der Schöpfung“ (253) und die Minimierung des menschlichen Leidens steht. 49 A. Lindemann, Jesus und der Sabbat. Zum literarischen Charakter der Erzählung Mk 3,1– 6, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 40–54, 45, verweist auf die Einbindung von Mk 3,1–6 in den Kontext und vermerkt, dass die Szene in formaler wie inhaltlicher Hinsicht an Mk 2,23– 28 anknüpft und diesen Abschnitt voraussetzt. Zur Auslegung der Perikope unter form‑ und redaktionsgeschichtlicher Voraussetzung vgl. ebd. 45–52. 50 Vgl. auch Lindemann, Jesus und der Sabbat (s. Anm. 49), 47: Jesus formuliert „eine Alternative, die sich gar nicht unmittelbar auf den konkreten Anlaß bezieht“.
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Jesus tun wird, sondern ob er überhaupt handeln und sich damit ins Unrecht setzen wird. Aus der Perspektive Jesu drückt sich in dieser Haltung Herzenshärte aus. Dieser Zustand steht in einem Korrespondenzverhältnis zur Vertrocknung der Hand des körperlich behinderten Mannes. Der markinische Jesus nimmt in der Szene Anstoß an einer religiös fundierten ethischen Haltung, die ihrerseits unter Rekurs auf eine Norm, hier das Sabbatgebot, ein Nicht-Handeln angesichts einer situativen Herausforderung rechtfertigt. Jesu Einspruch richtet sich gegen die Reservierung eines Raumes, der den Handlungsaufschub oder ‑verzicht legitimiert. Die Situation selbst stellt vor die Entscheidung, zur Verbesserung der Lage eines bedürftigen Menschen beizutragen oder sich dem situativen Appell zu entziehen. Die Notwendigkeit einer Entscheidung kann angesichts der Forderung des Augenblicks nicht kasuistisch zurückgestellt werden. Jesus macht sichtbar: Auch die begründete Handlungsverweigerung ist ein Handeln. Seine Bestreitung einer Handlungsneutralität zieht massiven Zorn gegen Jesus nach sich. Sie führt in 3,6 zu dem Entschluss seiner Opponenten, ihn aus dem Weg zu räumen.51 Innerhalb der erzählten Welt wird die Positionierung Jesu damit zum auslösenden Moment für seine spätere Hinrichtung. Erzählstrategisch verwendet der Erzähler den durch Jesus herbeigeführten Normenwechsel dazu, die Aggressivität verständlich zu machen, die zu seiner Kreuzigung führt.52
5. Die Einheit theologischer und ethischer Überzeugungen Der Zyklus ätiologischer Erzählungen in Mk 2,1–3,6 verankert die in der Erzählwelt der siebziger Jahre geltenden ethischen Maßstäbe53 im normsetzenden Handeln Jesu innerhalb der erzählten Welt der zwanziger Jahre des 1. Jahrhunderts. Signifikante Begebenheiten der Lebensgeschichte Jesu werden als Ursprungsorte ethischer Orientierung für eine christliche Leserschaft erzählt, die sich in ihren Maßstäben an ihren Protagonisten gebunden weiß.54 Die Normen, für die der 51 Das Problem, dass es Jesus in 3,6 anders als in 2,12 nicht gelingt, den Widerstand seiner Gegner aufzulösen, führt an die Grenze der Darstellungsfähigkeit des Mythos im Rahmen der christlichen Evangeliumsverkündigung der markinischen ἀρχή: Der Tod Jesu wird nicht der Logik der Mythos subsumiert, denn er wird nicht den Vorgängen in der Natur folgend durch die Einzeichnung in den Rhythmus von Sterben und Wiederauferstehen relativiert; vgl. dazu Klumbies, Mythos (s. Anm. 11), 231–233 und 312–313. 52 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas, in: D.-A. Koch / G. Sellin / A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 165–178, 168–169. 53 Zur Bedeutung der Gruppe oder Gemeinschaft für die Akzeptanz ethischer Normen vgl. R. Zimmermann, The “Implicit Ethics“ of New Testament Writings: A Draft on a New Methodology for Analysing New Testament Ethics, Neotest. 43.2 (2009), 399–423, 403. 54 Vgl. Zimmermann, Ethikbegründung (s. Anm. 10), 4.
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markinische Jesus eintritt, resultieren aus der Einheit von theologischen und ethischen Überzeugungen. Der durch Jesus eröffneten Gottesbindung korrespondiert deren ethische Ausrichtung. In der Summe zielen die fünf ätiologischen Erzählungen in 2,1–3,655 auf einen ethisch qualifizierten Glaubensvollzug.56 Die Restitution verlorengeglaubter Gottesgemeinschaft (2,1–12), die Reintegration ausgegrenzter Personen (2,13–17), die Situationsangemessenheit der Norm (2,18–22), das Wohl des Menschen als Verhaltenskriterium (2,23–28) und die Unmöglichkeit, sich in der ethischen Entscheidungssituation auf eine neutrale Position zurückzuziehen, umreißen die Themenfelder, zu denen der markinische Jesus in Wort und Tat Stellung bezieht. Dem normsetzenden Verhalten Jesu kommt dabei über die theologisch-ethische Orientierung hinaus zentrale Bedeutung für die Dramaturgie der markinischen Gesamterzählung zu. Die Schilderung des normativen Auftretens Jesu bildet eine der Erzähllinien, die plausibel machen, wie es dazu kommen konnte, dass der Protagonist der Handlung am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt.
55 B. van Iersel, Concentric Structures in Mark 2,1–3,6 and 3,7–4,1. A Case Study, in: C. Focant (Ed.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the New Literary Criticism, BEThL 110, Leuven 1993, 521–530, 529, zeigt in einer Übersicht die Korrespondenzverhältnisse zwischen den fünf Erzählungen in Mk 2,1–3,6 auf, die sich um 2,18–22 als ihre Mitte legen. 56 Damit treten sie intentional an die Seite der Gleichniserzählungen, die „zum Leben aus dem Glauben führen“ wollen. R. Zimmermann, Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 3–46, 13.
Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas The Theology of the Cross as a Narrative in Mark and Luke The history of the Christian concept of theology is characterized by the separation from the myth. In the partnership with philosophy, the myth-critical orientation has led to the fact that the narrative was excluded from the theological concept until the recent past. However, for some time a new appreciation of the narrative performance of the gospels has been observed in research. For more than half a century the synoptic gospels have increasingly been approved as theological works. This development requires a fundamental revision of the traditional mythological understanding. The composition of the death scene of Jesus by Mark and Luke shows how the theological proposition is presented with the inclusion of mythical elements. The mythical conceptual background serves the theological intention.
Zu Zeiten des Namensgebers der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie wäre das Thema „Narrative Kreuzestheologie“ möglicherweise nicht durchgegangen. Denn „Narrative Theologie“ versteht sich in der Tradition Rudolf Bultmanns keineswegs von selbst. Bultmann hatte bekanntlich den Theologiebegriff unter den neutestamentlichen Schriftstellern einzig Paulus und Johannes vorbehalten. Nur sie, nicht jedoch die Synoptiker, verfügten über eine ausgearbeitete Begrifflichkeit; und diese sei die Voraussetzung, um überhaupt von Theologie sprechen zu können. Ich beginne meine Ausführungen daher mit einem Abschnitt zu der Frage „Theologie in den synoptischen Evangelien?“ Im zweiten Teil folgt ein kurzer Überblick über die Geschichte des Theologiebegriffs, Abschnitt drei thematisiert die Verflechtung zwischen Narrativität, Mythos und Theologie. Der vierte Teil besteht aus der exegetischen Untersuchung der Darstellung des Sterbens Jesu in Mk 15 und Lk 23. Im kurzen Schlussabschnitt fünf wird abschließend ein Resümee gezogen.
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
1. Theologie in den synoptischen Evangelien? Als Ausweis für das Vorliegen von Theologie galt Bultmann die Existenz einer entsprechenden Begrifflichkeit. Wo eine solche Begrifflichkeit vorliegt, kann man von „Theologie“ sprechen.1 Wo sie fehlt, handelt es sich allenfalls um theologische Motive. Diese müssten freilich erst in das höhere Stadium reflektierter Begriffssprache gehoben werden.2 Ansonsten bewege man sich noch auf dem subtheologischen Niveau von Glaubenszeugnissen.3 Entsprechend erhielten die Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas als eigenständige Schriftsteller keinen Zutritt zu Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“. Da ihnen die Begrifflichkeit abginge, verweigerte Bultmann ihren Opera den Theologiestatus. Das hat schon Hans Conzelmann bedenklich gestimmt. Denn so sehr sein eigener Grundriss der Theologie des Neuen Testaments von 1967 über weite Strecken wie eine Summary von Bultmanns epochalem Werk anmutet: Zwischen den Abschnitt über „Das Kerygma der ältesten Gemeinden“ und den großen Hauptteil über „Die Theologie des Paulus“ fügt Conzelmann gegen seine Bultmann-Vorlage die Passage über „Die Theologie der synoptischen Evangelien“ ein. Sie umfasst von der ersten bis zur dritten Auflage seines Grundrisses zwar nur zwölfeinhalb Seiten. Aber sie ist vorhanden; und das war ein Zeichen, das Conzelmann gegen Bultmann setzte.4 Nun ist freilich bei Conzelmann in Rechnung zu stellen: Als einer der Mitbegründer der Redaktionsgeschichte hatte er ein vitales Interesse daran, den Status der Evangelisten unter den neutestamentlichen Schriftstellern zu heben. Es entsprach dem Credo der Redaktionsgeschichtler, die Sammler und Tradenten, als die die Evangelisten der alten Formgeschichte galten, mit ihrem Aufstieg zu Redaktoren auch als Theologen zu adeln. Für Conzelmann wird das Kerygma nicht nur in Begrifflichkeit, sondern auch via Geschichtserzählung adäquat weitervermittelt. Jeder der Synoptiker vertritt „eine ausgeprägte theologische Gesamtkonzeption“.5 Bultmanns Problem, so Conzelmann, habe darin bestanden, dass er „noch beherrscht von der ursprünglichen Perspektive der Formgeschichte, die primär nach den einzelnen Traditionsstücken und deren 1 Laut R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel und K. W. Müller, Tübingen 1984, 163, ist „Theologische Arbeit (…) begriffliche Explikation der gläubigen Existenz“. 2 Vgl. die „Epilegomena“ bei R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 585–589. 3 A. Lindemann, Erwägungen zum Problem einer „Theologie der synoptischen Evangelien“, ZNW 77 (1986), 1–33, 4, hat auf den „Zusammenhang zwischen Bultmanns Definition von ‚Theologie‘ im Neuen Testament und seinem Verständnis von Theologie als Wissenschaft“ aufmerksam gemacht. In der Tat ist bei Bultmann der Theologiebegriff das verbindende Element, um eine Beziehung zwischen den antiken neutestamentlichen Texten und einer der Rationalität der Aufklärung verpflichteten Auslegungstradition zu stiften. 4 Vgl. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 11967; 2 1968; 31976, 160–172: § 17 Die Theologie der drei Synoptiker. 5 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 31976, 116.
1. Theologie in den synoptischen Evangelien?
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Sinn fragte“, gewesen sei. „Diese Betrachtung“, habe zwar „ihr Recht, bedarf aber der Ergänzung durch die Interpretation jedes Evangeliums als eines Ganzen.“6 Die Interpretation der Evangelien als Ganzer anstelle der perikopenweisen Auslegung verleiht nach Conzelmann den Synoptikern ihren Theologiestatus. Bei den zwölfeinhalb Seiten blieb es nur so lange, bis Conzelmanns Buch von Andreas Lindemann überarbeitet wurde. Lindemann dehnte in seiner Bearbeitung des Conzelmannschen Grundrisses diesen Passus auf immerhin 21 Seiten aus.7 Flankierend dazu stellte Lindemann seinem Unterfangen auf der Tagung der Alten Marburger 1986 in Hofgeismar „Erwägungen zum Problem einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘“ an die Seite.8 Nach Lindemann darf man die Frage, ob bei den Synoptikern von einer Theologie zu sprechen ist, nicht durch die Festlegung auf das Vorhandensein von Begrifflichkeit einengen. Es müsse „nach weiteren Grundbedingungen für einen möglichen Theologiebegriff “9 gefragt werden. Nimmt man Bultmanns strenge Festlegung als Messlatte, läuft dies auf eine Ermäßigung der Zulassungsbedingungen für den Eintritt in den Elitekreis der neutestamentlichen Theologen hinaus. Gegen Bultmann wendet Lindemann ein: „Theologische Aussagen können auch in Form von Erzählung und müssen nicht in Gestalt begrifflicher Explikation gemacht werden.“10 Theologie sei der „reflektierte (…) Umgang mit Glaubenstradition“;11 und genau dieser Aufgabe unterzögen sich die Evangelisten.12 Eine „systematische Begrifflichkeit“ sei dazu „nicht unbedingt“ nötig.13 Die Behandlung theologischer Themen mit erzählerischen Mitteln müsse „keinen Mangel an theologischer Substanz bedeuten“.14 In dieser Formulierung klingt eine Sorge an. 6 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, 5. verbesserte Auflage, seit der 4. Auflage bearb. v. A. Lindemann, Tübingen 1992, 143. 7 H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41987; 51992; 6 1997, 142–162. 8 Siehe oben Anm. 3, wieder abgedruckt in: A. Lindemann, Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 316–345. 9 Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 10. 10 Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 12. 11 Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 13/14. G. Ebeling, Art. Theologie I. Begriffsgeschichtlich, RGG3 VI (Ungekürzte Studienausgabe 1986), 754–769, 754, unterscheidet zwischen der „durchschnittliche(n) Wortbedeutung“ im Sinne von „diszipliniert denkende Rechenschaft über die Sache des christlichen Glaubens im Ganzen“ und einer „möglichst präzise(n) Begriffsbestimmung“. 12 W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin / New York 1985, 348– 349, widerspricht der form‑ und redaktionsgeschichtlichen Auffassung, derzufolge der Interpretationsvorgang der Evangelisten als die zentrale „theologische Leistung“ (348) zu bezeichnen sei. Die eigentliche theologische Leistung sei von den Verfassern der zugrundeliegenden Quellen erbracht worden. Kritisch dazu Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 17. 13 Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 32. In dem Verfahren der kritischen Rezeption und Interpretation vorgegebener Überlieferung berührten sich die Evangelisten in methodischer Hinsicht mit Paulus (ebd. 18). 14 Lindemann, Erwägungen (s. Anm. 3), 32.
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Sie weist auf die bereits für Conzelmann angenommene Befürchtung der Redaktionsgeschichtler zurück, die Erzählungen der synoptischen Evangelien könnten als theologisch defizitär bewertet werden. Die Tendenz, die Grenzen aufzuweichen, d. h., den Synoptikern durch einen niederschwelligen Theologiebegriff den Zutritt zum Kreis der neutestamentlichen Volltheologen zu eröffnen, setzt sich in den aktuellen Entwürfen zur Theologie des Neuen Testaments fort. Ferdinand Hahn begnügt sich für seine Einstufung der synoptischen Evangelien „als theologische Entwürfe“15 mit der lapidaren Begründung: „Die Erkenntnis, daß die Synoptiker nicht nur Sammelwerke, sondern eigenständige theologische Entwürfe sind, hat sich in der neueren Forschung durchgesetzt.“16 Für Udo Schnelle ist die Problematik des Theologiebegriffs in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ aus dem Jahr 2007 kaum ein Thema.17 Zwar nehmen die synoptischen Evangelien bei Schnelle breiten Raum ein. Aber der Begriff „Theologie“ taucht so gut wie nicht auf, selbst das beiläufig gebrauchte Adjektiv „theologisch“ ist selten.18 Die Sache selbst löst Schnelle durch die Bestimmung der „Neutestamentliche(n) Theologie als Sinnbildung“ ab.19 Die Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments bestehe darin, die „Sinnbildungsleistungen“ der neutestamentlichen Autoren „in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen“.20 Die faktische Substitution der theologischen durch die sinnbildungsleistende Arbeit mündet in die Nivellierung der im Neuen Testament versammelten Schriften. An der Sinnbildung sind in irgendeiner Weise alle beteiligt. Sämtliche Schriften werden daher ohne Unterschied nacheinander abgehandelt. Darüber hinaus ist Schnelle der Auffassung, der Theologie mit der Erhebung der „Sinn-Kategorie“ zur Leitthematik ihren Platz im Konzert der Wissenschaften zu sichern. „(D)ie Sinn-Kategorie (eröffnet) der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften 15 F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Band I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, 485. 16 Hahn, Theologie (s. Anm. 15), 486. Auch die These von Ch. Rose, Theologie als Erzählung im Markusevangelium. Eine narratologisch-rezeptionsästhetische Untersuchung zu Mk 1,1–15, WUNT II/236, Tübingen 2007, 254: „Die mk Theologie ist ‚Theologie als Erzählung‘“, bleibt Postulat. Roses Begründung: Die „Theologie des MkEv wird formuliert in dem Erzählen von Gottes Sohn“, führt den Vorgang des Erzählens und den Theologiebegriff zusammen, ohne die inhärente Spannung zwischen beiden zu berücksichtigen. 17 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007. 18 So etwa in der Formulierung „eigene theologische Konzeptionen“ in den Überlegungen zu „Strukturen von Erzählungen“ unter der Überschrift „Sinn durch Erzählen“, 347–349. Im Eingangsabschnitt zum Markusteil ist von den „theologischen Einsichten“ des Markus die Rede (369). Der summarische Hinweis auf die θεός-Belege im lukanischen Doppelwerk dient als Indiz „einer reflektierten Theologie im Rahmen einer heilgeschichtlichen Konzeption“ (434). 19 Schnelle, Theologie (s. Anm. 17), 42–44. 20 Schnelle, Theologie (s. Anm. 17), 29.
2. Der Theologiebegriff – ein Rückblick
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in einen kritischen Diskurs zu treten.“21 Auf welcher Grundlage die Theologie dann zu einer Kritik fähig ist, bleibt freilich undiskutiert. Auch Detlev Dormeyer sieht in seiner „Einführung in die Theologie des Neuen Testaments“ keinen Anlass, das Theologieverständnis grundsätzlich zu problematisieren. Er behandelt mit Selbstverständlichkeit nach den paulinischen Briefen die vier Evangelien und die Apostelgeschichte unter der Überschrift „Theologie“ und verweist zudem auf „Jesus und seine Theologie“.22 Wir stehen damit weiterhin vor der grundsätzlichen Frage: Ist die narrative Entfaltung der kerygmatischen Tradition „Theologie“? Dies führt mich zu einem knappen Rückblick auf die Geschichte des Theologiebegriffs.
2. Der Theologiebegriff – ein Rückblick Klassischerweise gehören zwei Elemente zu den Essentials des christlichen Theologiebegriffs: Erstens seine Theozentrik und zweitens die Abgrenzung von der Mythologia. In seiner griechischen Genese stand der Theologiebegriff lange in der inhaltlichen Verknüpfung mit der Mythologie. Das hat ihn christlicherseits nicht gerade umstandslos zum Zentralbegriff für die Reflexion des eigenen Glaubens werden lassen. Für das frühe Christentum war der Begriff noch stark mit fremdreligiösen, „heidnischen“ Konnotationen versehen und daher ungeeignet für die Zusammenfassung der eigenen religiösen Aussagen. In Abbreviatur lassen sich die Linien der Begriffsentwicklung wie folgt nachzeichnen: In der alexandrinischen Tradition kommt es seit Clemens zum allmählichen Umschwung von der Abwehr zur behutsamen Adaption des Theologiebegriffs. Clemens stellt die Theologie in einen „ausdrücklichen Gegensatz zur ‚Mythologie des Dionysos‘“.23 Bei Origenes schreitet die Christianisierung des Begriffs voran. Origenes aktiviert die homologische Bedeutung des Begriffs im Sinne von „Gott bekennen“. Bei Euseb von Cäsarea wird der Begriff im Vollbewusstsein des christlichen Sieges über die sog. heidnische Religiosität schließlich sprachlich akzeptiert. Θεολογία wird zur Antithese gegenüber nichtchristlicher antiker Religiosität. Charakteristisch ist, dass das homologische Element fester Bestandteil des Theologiebegriffs wird. „‚Theologen‘ sind nun statt der alten Mythendichter die Propheten des AT bzw. Paulus und bes. (wegen Joh 1,1 ff.!) der Evangelist Johannes.“24 Sie bringen den „wahren Gott zur Spra21 Schnelle, Theologie (s. Anm. 17), 17. Die Erhebung der Sinnbildung zur Leitkategorie gibt dem Christentum und der Theologie gar ihren Platz im Spektrum der Religionen: „Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien.“ Ebd. 23. 22 D. Dormeyer, Einführung in die Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 2010, 150. 23 Ebeling, Theologie (s. Anm. 11), 756. 24 Ebeling, Theologie (s. Anm. 11), 757.
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che“.25 Im trinitarischen und christologischen Streit des 4. und 5. Jahrhunderts wird θεολογία zum Terminus der Orthodoxie und bleibt im Unterschied zur οἰκονομία auf die Gotteslehre beschränkt.26 Die Verwendung des Begriffs „Theologie“ im Sinne von Wissenschaft wird erst in der Scholastik herausgebildet. Die Theologie als „Wissenschaft vom christlichen Glauben“27 legt unter Rückgriff auf Aristoteles Rechenschaft über die sacra doctrina ab. Damit gelingt es im Hochmittelalter, ein Dilemma zu überwinden, das von der antiken θεολογία noch nicht bewältigt wurde. Die Antike hatte nämlich die Spannung zwischen einer mythischen und einer philosophischen Theologie nicht auflösen können. Der mythischen Theologie mangelte es an der Fähigkeit, Rechenschaft über ihren theologischen Grund abzulegen. Die philosophische Theologie besaß keine Möglichkeit zur homologischen Rede. Das religiöse Leben war nicht in der Lage, eine wissenschaftliche Theologie zu entwickeln, das philosophische Reden von Gott war unfähig zur Homologie.28 Nun jedoch stellt sich die systematische Rechenschaft über den christlichen Glauben in den Dienst des homologischen Redens von Gott. In der Folge kommt es in der Partnerschaft zwischen Philosophie und Theologie zur gänzlichen Ausscheidung der mythisch-kultischen Theologie.29 An ihre Stelle tritt die christliche Verkündigung und mit ihr die Christologie. Luther gibt dem Theologiebegriff mit der Zuspitzung auf die theologia crucis im Unterschied zur theologia gloriae seine pointiert christologisch-kreuzestheologische Ausrichtung. Außerdem gilt Luther in Abgrenzung zu Thomas von Aquin nicht Gott als das subiectum der Theologie, sondern die Beziehung Gottes zum Menschen, d. h. die Soteriologie.30 Unter den veränderten Bedingungen der Moderne erinnert Gerhard Ebeling an die Wurzel der Theologie. Diese liegt in der christlichen Verkündigung. Geschichtlichkeit und Wissenschaftlichkeit als die beiden Essentials von Theologie bleiben in der Rückbindung an die Verkündigung unter dem Aspekt der Homologie beieinander.31 Als Fazit dieses begriffsgeschichtlichen Exkurses ist festzuhalten: In einem mehr als tausend Jahre währenden Prozess hat sich ein spezifischer Theologiebegriff herauskristallisiert. Aus dem Abseits der Unwissenschaftlichkeit hervortretend setzt er seine mythische Substanz dem Feuer einer Philosophie aus, die bereits eine auf Plato und Aristoteles zurückreichende Mythoskritik verinnerlicht hatte. Mit diesem Vorgang hielt eine philosophische Reflexion in die Ch. Schwöbel, Art. Theologie, RGG4 8 (2005), 255–306, 258. Theologie (s. Anm. 11), 757. 27 Ebeling, Theologie (s. Anm. 11), 758. 28 Vgl. Ebeling, Theologie (s. Anm. 11), 759. 29 Diese war ein Störfaktor für die traditionelle philosophische Theologie und erst recht für die christliche Verkündigung. 30 Schwöbel, Theologie (s. Anm. 25), 261. 31 Ebeling, Theologie (s. Anm. 11), 768. 25
26 Ebeling,
3. Narrativität, Mythos und Theologie
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Theologie Einzug, die dazu führte, dass die mythisch-kultischen Implikationen der Theologie zurücktraten, um schließlich ganz aus dem Theologieverständnis auszuscheiden. Mit dem Mythos verschwand auch die Narrativität als die Ausdrucksweise mythischen Denkens. In die Lücke, die durch das Ausscheiden des Mythischen aus dem Theologiebegriff entstand, traten die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Verkündigung und die Notwendigkeit der Homologie. Im Zuge eines unaufhaltsamen Aufstiegs trat neben die traditionelle Theozentrik die Christologie. Der Raum für das Kerygma im Theologiebegriff wurde ursprünglich durch philosophische Mythoskritik geschaffen. So wie die Philosophie jedoch keinen positiven Beitrag für die Verkündigung beisteuern konnte, geht ihrerseits die Verkündigung nicht einfach mit der philosophischen Rationalität konform. Daher ist nachvollziehbar, dass es bis in die Gegenwart immer wieder zu Rivalitäten bei der Verhältnisbestimmung von Mythos und Verkündigung gekommen ist. Letztlich ist die Debatte um Kerygma und Mythos ein Kampf um den Platz in der Lücke des Theologiebegriffs und um den Anspruch auf wissenschaftliche Rationalität gewesen. Für unser Thema ist bedeutsam, dass der Mythos und mit ihm die Narrativität als die für ihn konstitutive Ausdrucksform aus dem Theologiebegriff ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig vollzog sich der Aufstieg der Christologie, die zeitweilig geradezu die Theologie in sich aufsog. Gewonnen wurde im Zuge dieses Prozesses ein wissenschaftskompatibler Theologiebegriff, für den die Begrifflichkeit ein konstitutives Merkmal ist.
3. Narrativität, Mythos und Theologie Mit dem Aufstieg des mythosfreien Theologiebegriffs und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust der Narrativität für die Theologie trat die narrative Leistung der Evangelisten als theologischer Beitrag an den Rand. Die SynoptikerExegese im Gefolge der Aufklärung gehört im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die apologetische Bemühung der Theologie um einen Platz im Ensemble der Wissenschaften hinein. Sie konnte im Zeichen eines solchen Theologiebegriffs wenig Zuneigung zu den Erzählkonzepten der Evangelien fassen. Angesichts der gestiegenen Anforderungen an eine rational anspruchsvolle und konkurrenzfähige Theologie gab sie sich fast zwangsläufig mythosdistanziert. Im Rahmen der Formgeschichte nach dem ersten Weltkrieg zeigte sie entsprechend wenig Interesse für das literarische Schaffen der leicht despektierlich so genannten „Sammler und Tradenten“, die lediglich „Kleinliteratur“ hervorgebracht hätten.32 Statt auf literarkritisch ermittelte durchlaufende Erzählfäden 32 M. Dibelius,
Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
konzentrierte sie sich auf die Analyse der Einzelfragmente der synoptischen Überlieferung. Die Hochschätzung der Narrativität, wie sie sich in der Redaktionsgeschichte anmeldet und gegenwärtig populär geworden ist, muss also die Bewertung des Mythos im Theologiebegriff und im Neuen Testament mit bedenken. Hier hatte Bultmann eine klare Position. Sein Theologiebegriff steht in Übereinstimmung mit und in Kontinuität zu den aufgezeigten mythoskritischen Implikationen. Diese verbieten es ihm, den rein erzählenden Teilen im Neuen Testament Relevanz für „Theologie“ beizumessen.33 Zur Erinnerung sei darauf hingewiesen, dass das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns in einer Kritik am Mythos gründete. Nach Bultmann krankt der Mythos an einem Selbstwiderspruch. In seinem Bestreben, von der jenseitigen, göttlichen Welt zu sprechen, redet er gegen seine erklärte Absicht von Diesseitigem und Menschlichem. Er vermischt, was es laut Bultmann gerade zu trennen gilt. Damit freilich schiebt Bultmann dem Mythos ein Versagen zu, das einem Mythosverständnis entspringt, welches der aufgeklärten Rationalität der Moderne geschuldet ist. Denn es macht gerade das Wesen des Mythos aus, Materielles und Spirituelles, Diesseitiges und Jenseitiges zu mischen.34 Im Kern kommt Bultmanns Entmythologisierung einer Zensur des Mythos unter den Voraussetzungen aufgeklärter Vernunft gleich. Es kann daher nicht verwundern, dass für den Entmythologisierer Bultmann die Entwicklung einer narrativen Theologie der synoptischen Erzählwerke kein Thema ist.
Erst seit den 1980er Jahren hat sich nicht zuletzt durch Kurt Hübners Rückgriff auf Ernst Cassirer der pejorative Umgang mit dem Mythos zu mildern begonnen.35 Seither hat die Einsicht in die Rationalität des Mythos an Boden gewonnen. Die Verquickung von Mythos, Narrativität und Theologie führt zu dem Schluss: Die Narrativität in den Theologiebegriff reintegrieren darf nur, wer die G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61991 (1. Auflage 1919), 2. W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 21959 (ursprünglich 1956), 11, bekundet seine Verwunderung darüber, dass nach dem Ende der Literarkritik die Untersuchung der Einzeltraditionen in den Evangelien und nicht die der Rahmenstücke auf die Agenda der exegetischen Arbeit gesetzt wurde. Demgegenüber ist festzustellen, dass eine Untersuchung der durchlaufenden Erzählfäden unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg noch zu nah bei den Textgrundlagen der Literarkritik stand. Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 16. Darüber hinaus bietet der Theologiebegriff in der theologiegeschichtlichen Phase zwischen 1918 und 1945 wenig Anlass, auf mythosnahe narrative Konzepte zu setzen. 33 Vgl. Bultmann, Enzyklopädie (s. Anm. 1), 165: Theologie ist „die Arbeit der begrifflichen Klarstellung“. 34 Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, hg. v. E. Jüngel, BEvTh 96, München 31988 (ursprünglich 1941). 35 Auch im Titel von W. A. Nestles fast zeitgleich mit Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz erschienenem Werk „Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates“, Stuttgart 1940 (21941), klingt die Überzeugung vom Mythos als einer überwundenen geistigen Form durch.
4. Das Sterben Jesu am Kreuz in Mk 15 und Lk 23
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Mythoskritik hinter sich lässt, die dem traditionellen Theologiebegriff inhärent ist. Die Antwort auf die Frage: Ist die narrative Entfaltung der kerygmatischen Tradition „Theologie“? lautet also: Ja, unter der Bedingung, dass die Bindung der Narrativität an den Mythos wahrgenommen und dem Mythos eine Rationalität zugebilligt wird, die der hellenistisch-philosophisch fundierten Rationalität gleichgestellt ist. Seit der Aufklärung ist der Theologiebegriff auch Platzhalter und Garant für die Wissenschaftlichkeit theologischer Arbeit gewesen. Theologie wurde innerkirchlich und inneruniversitär geradezu zum Synonym für Rationalität. Letztlich geht es bei der Ausweitung des Kreises theologiewürdiger Schriftsteller im Neuen Testament darum, möglichst vielen neutestamentlichen Verfassern das Prädikat „Rationalität“ zuzubilligen. Wenn dem so ist, wäre zukünftig statt der Theologie des Neuen Testaments eine Darstellung der Rationalität der neutestamentlichen Schriften zu verfassen. Damit kommen wir zur Markus‑ und Lukaspassion als Fallbeispiel für narrative Kreuzestheologie. Konkret geht es um die Darstellung des Sterbens Jesu in Mk 15 und Lk 23.
4. Das Sterben Jesu am Kreuz in Mk 15 und Lk 23 In den Auslegungen der Sterbeszene Jesu dominiert traditionellerweise das Interesse an den in der Szene gesprochenen Worten. Demgegenüber wird im Folgenden das Augenmerk stärker das erzählerische Inventar gerichtet. Denn der Erzähler kreiert eine Gesamtszene. In der von ihm erzählten Welt dienen die Einzelzüge der Erschaffung seines Bildes der Wirklichkeit. Dazu gehört zwar auch die Wortüberlieferung. Ebenso zählen aber auch alle weiteren Motive der Szene dazu. Insbesondere werden hier die Lichtverhältnisse und die Angaben über die Richtungen im Raum zu beachten sein. Sie kommentieren das erzählte Geschehen aus der Erzählerperspektive. Markus 15,33–39 In Mk 15,33 und 34 führt der Erzähler eine doppelte Zeitangabe ein. Die Angabe der sechsten Stunde, also von zwölf Uhr mittags, markiert den Scheitelpunkt des Tages. Wir erleben die Mitte des sechsstündigen Zeitraums, in dem Jesus am Kreuz hängt. Zu zentraler Stunde pflegen entscheidende Dinge zu geschehen. Die Leserschaft wird Zeuge, wie das Leben des Protagonisten der Handlung endet. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes die schwarze Stunde der Menschheit. Sie steht soeben im Begriff den Gottessohn umzubringen. Dem inneren Charakter des Geschehens entsprechen die äußeren Lichtverhältnisse. Es herrscht Finsternis über der ganzen Welt. Dies ist deshalb von besonderer erzählerischer Brisanz,
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
weil die Aussage keine historische Deckung besitzt. Historisch erkundet gab es in jenen Jahren keine Sonnenfinsternis. Der Versuch einer historischen Fundierung scheitert auch an der „ganz“-Aussage. Denn wie weit sollten wir uns die Erstreckung der Dunkelheit denken? Bis kurz hinter die Stadtgrenze Jerusalems, über Judäa, über ganz Israel, womöglich über das Mittelmeer oder die gesamte bewohnte Welt? Solche Rationalismen, die in den Kommentaren freilich begegnen, scheitern an ihrer Spekulativität. Auf Golgotha findet ein finsteres Geschehen statt. Es wirft einen dunklen Schatten auf die Welt. Damit erhebt sich die Frage, wann genau die Finsternis endet. Nach der Angabe des Zeitraums von der sechsten bis zur neunten Stunde setzt der Erzähler zu Beginn von V. 34 mit der Nennung eines exakten Zeitpunkts „in der neunten Stunde“ eine Zäsur. Mit diesem Signal wird Neues eingeleitet. Der Fokus richtet sich auf Jesus. Er schreit seine letzten Worte. Mit einer φωνῇ μεγάλῃ ruft er ελωι, ελωι λεμα σαβαχθανι; ὁ θεός μου ὁ θεός μου, εἰς τί ἐγκατέλιπές με; zu was, wozu hast du mich verlassen? Die Einsicht in den finalen Charakter dieses Aufschreis bringt ein neues Argument in die festgefahrene Debatte um die Frage, ob Jesus bei Markus am Kreuz in Verzweiflung oder Vertrauen stirbt. Denn die Einbeziehung von Psalm 22 hat hier keine Klärung erbracht. Die Verzweiflungsthese stützt sich auf den isolierten Anfang des Psalms. Die Vertrauensthese verweist auf die Wendung zum Gottvertrauen, die der Psalmbeter im Verlauf des Psalms vollzieht; und Jesus habe selbstverständlich den gesamten Psalm im Blick gehabt – sagt man. Das Erfassen des finalen Charakters36 anstelle der kausalen Zuweisung lässt eine Sinnperspektive erkennen. Der Erzähler eröffnet der glaubenden Leserschaft einen Horizont. Mag auch der sterbende Jesus selbst keine Antwort mehr auf seine Frage vernommen haben, die Leserschaft des achten Jahrzehnts weiß, wozu dieses Sterben sinnvoll war. Sie lebt bereits seit vier Jahrzehnten von den heilvollen Folgen des Todes Jesu. Sie weiß um dessen soteriologische Bedeutung. Der erzählerische Einschnitt mit der neuerlichen Zeitangabe, die Fokussierung der Person Jesu, die Wahrnehmung des mit den letzten Worten Jesu eröffneten Sinnhorizontes, diese Trias legt es nahe, anzunehmen, dass im Moment des Todes Jesu die Finsternis vorüber ist. Jesu letzte Worte erschallen in dem Augenblick, in dem die Dunkelheit zu Ende ist. Jesus stirbt im Hellen. Das macht sein Sterben zu einem lichten Geschehen. Der Wechsel der Lichtverhältnisse dokumentiert den soteriologischen Charakter des Ereignisses. Liegt über dem Handeln der Menschen Dunkelheit, so erstrahlt die Figur des sterbenden Jesus im wiedergekehrten Licht. Als Zusatzargument für den Wechsel der Lichtverhältnisse an dieser Stelle ist hinzuzufügen, dass die im Fortgang geschilderten Vorgänge Sichtbarkeit 36 Der finale Charakter der Aussage wird auch von W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 504, hervorgehoben.
4. Das Sterben Jesu am Kreuz in Mk 15 und Lk 23
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voraussetzen. Der Läufer, der den Schwamm auf das Rohr spießt und ihn zum Munde Jesu führt, muss etwas gesehen haben. Die Leute rufen sogar: Lasst uns sehen, ob Elia kommt. Dass in V. 38 der Tempelvorhang zerreißt, setzt ebenfalls Sichtverhältnisse voraus. Von dem römischen Centurio wird ausdrücklich gesagt, dass er sah, dass Jesus so aushauchte. Wer behauptet, der Wechsel der Lichtverhältnisse erfolge nicht zwischen V. 33 und 34, muss erklären, wann dieser stattdessen erfolgt sei. Die Erzählung gibt jedenfalls keine weiteren Hinweise, dass sich die Sichtverhältnisse im Fortgang der Ereignisse normalisiert hätten. Nicht akzeptabel wäre im Übrigen die Aussage, die Szene hätte sich in dämmrigem Licht ereignet. Denn im Zwielicht bewegen sich mythischer Logik zufolge zwielichtige Gestalten. In dieses fragwürdige Licht setzt der Erzähler Jesus nicht. Laut V. 35 und 36 bevölkern Hinrichtungstouristen die Szenerie. Mit ihrer Aktivität tragen sie eine relative Unruhe in die Geschehnisse. Unter dem Richtungsaspekt, mit dem sie in die Handlung eingeführt werden, lautet die Kernaussage über sie: Es sind παρεστηκότες. Das Kennzeichen für diese „Dabeistehenden“ ist, dass sie unausgerichtet stehen. Sie besitzen richtungsmäßig keine klare Zuordnung zu dem am Kreuz Hängenden. Ihrer innerlichen Indifferenz bzw. Abneigung entspricht ihre äußere Haltung. Sie stehen herum. Jesu Eloi-Schrei missverstehen sie als Ruf nach Elia. Dementsprechend versuchen sie, das Sterben Jesu hinauszuzögern. Auf die Übereinstimmung ihres äußeren Standorts mit ihrer inneren Einstellung hinzuweisen, ist deshalb von Bedeutung, weil dasselbe Verb παρίσταμαι nur vier Verse später in V. 39 ein zweites Mal auftaucht – dort mit einem signifikanten Zusatz versehen. Der Verzögerungsversuch bleibt vergeblich. Noch einmal lässt Jesus eine φωνὴ μεγάλη erklingen. Im Unterschied zu V. 34 bleibt diese jedoch ungeformt und ohne Worte.37 Das Motiv der φωνή stellt einen ersten Rückbezug dieser Szene zur Taufperikope in Mk 1,9–11 dar. Die Formulierung, mit der in Mk 15,37 Jesu Sterben mitgeteilt wird: Ἰησοῦς ἐξέπνευσεν ruft ebenfalls die Taufszene wieder auf. Dort war das Pneuma auf Jesus herabgekommen, und die göttliche Stimme hatte ihn als Sohn tituliert. Sein gesamtes Wirken hindurch hatte das Pneuma Jesus erfüllt. In zahlreichen Auseinandersetzungen mit widergöttlichen πνεύματα und Dämonen hatte sein Pneuma sich behauptet und Raum verschafft. Nun wird Jesu eintretender Tod durch das Herauslassen des Pneumas charakterisiert. Die Frage ist, wohin das Pneuma im Moment des Todes Jesu entweicht. 37 Die φωνή, die sich geradezu als eigenständige Akteurin in den Schlüsselsituationen des Markusevangeliums zu Wort gemeldet hat – in 1,11 bei Jesu Taufe aus dem Himmel heraus, in 9,7 auf dem Berg der Verklärung aus der Wolke und in 15,34 mit Jesu letzten Worten, verklingt in V. 37 wortlos.
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Vor die Antwort hat der Erzähler als retardierendes Moment freilich V. 38 gestellt. Das hat viele Ausleger, die schnell die Lösung erfahren wollten, so ungeduldig gemacht, dass sie den Vers für redaktionell erklärten und als nicht ursprünglich herausschnitten. V. 38 beinhaltet einen dritten und einen vierten Anklang an die Taufperikope. Schon das sind zwei gute Gründe, den Vers als ursprünglichen Bestandteil der Szene an dieser Stelle zu belassen. Das Verb σχίζειν, das das Zerreißen des Tempelvorhangs bezeichnet, nimmt wortidentisch das σχιζομένους der sich spaltenden Himmel in 1,10 auf; und die Richtungsangabe von oben nach unten, die auf ein Himmel und Erde verbindendes Ereignis hinweist, rekurriert auf die Bewegung des Geistes vom Himmel zur Erde, von der die Tauferzählung sprach. Das Zerreißen des Tempelvorhangs von oben nach unten kündet von einem göttlichen Eingriff. Zwei Katastrophen treten in dieser Szene nebeneinander: Das Versterben Jesu und die Katastrophe des aus jüdischer Sicht profanierten Tempels. Gleichzeitig wird jedoch aus christlicher Perspektive eine Relation mit enormer Auswirkung hergestellt. Der Erzähler stellt die Hinrichtung Jesu in einen Sachbezug zur Öffnung des Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel. Im Augenblick des Todes Jesu wird der Zugang zu Gott aufgerissen. Mythisch steht das, was gleichzeitig geschieht ebenso wie das, was räumlich benachbart ist, in einem inneren Zusammenhang. Der Erzähler eröffnet einen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und der Freilegung des Allerheiligsten als des traditionellen Orts der Gottesbegegnung. Der Tod Jesu auf Golgotha führt zu einer neuen Sicht auf Gott. Er bedingt die Neuformulierung des christlichen Gottesgedankens. Diese interpretatorische Einsicht wird erzählerisch unmittelbar durch den Umgang mit den Richtungen im Raum vermittelt. Die Hinrichtungsstätte Golgotha lag außerhalb der zweiten Stadtmauer auf einer exakten Ost-West-Linie westlich vom Tempel. Keine der handelnden Personen konnte von dort quer durch die Stadt in das Allerheiligste des Tempels hineinschauen. Dies konnte nur der Erzähler. Er verlässt in seiner Schilderung einen Vers lang die im Westen stattfindende Hinrichtung und lenkt den Blick nach Osten auf das im Tempel sich vollziehende Geschehen. Auf der Blickachse von West nach Ost interpretiert er den traditionellen jüdischen Gottesbegriff vom Sterben Jesu her neu. Vom Kreuz Jesu her formt er das Gottesverständnis. Nach diesem kurzen Schlaglicht führt der Erzähler die Leserschaft nach Golgotha zurück. Jetzt rückt der dabeistehende Centurio in das Blickfeld. Seine Richtungslosigkeit entspricht seiner Rolle bei der Hinrichtung: Er ist der Leiter der für die Kreuzigung abkommandierten Gruppe, römischer Besatzungsoffizier, vermutlich Anhänger irgendeines Kultes. Der Erzähler nimmt ihn mit nur einer Bemerkung aus seiner unausgerichteten Haltung heraus. Der Centurio steht ἐξ ἐναντίας αὐτοῦ. Die exakte Lokalisierung stellt ihn in die direkte Beziehung zu dem soeben verstorbenen Jesus. Er steht Jesus gegenüber – von Angesicht zu Angesicht, quasi auf Augenhöhe. Historisch ist das unwahrscheinlich. Wenn
4. Das Sterben Jesu am Kreuz in Mk 15 und Lk 23
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Jesus an einem Hochkreuz gestorben ist, dann hat der Hauptmann vermutlich schräg unter dem Körper Jesu gestanden. Aber schräg stehen in der Ordnung des mythischen Raums nur schräge Typen; und eine solche ist der Hauptmann hier gerade nicht mehr. Seine eindeutige räumliche Ausrichtung auf Jesus spiegelt sich in seinem Bekenntnis. Dieses erscheint im Text als zusätzlich motiviert durch die Wendung „sehend, dass er so aushauchte“. Gut vorstellbar erscheint auch die weitergehende Lesart, die Greeven in seiner Synopse bevorzugt:38 „dass er so schreiend aushauchte“. Abgezielt ist jedenfalls auf die Wortlosigkeit dieses letzten Schreis, der dadurch keiner neuerlichen Missdeutung unterliegt. Dieser wortlose letzte Schrei Jesu wird anschließend in Worte überführt. In dem Ausruf des Centurio: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn, hat die φωνή ihre Sprache wiedergefunden. Vereinzelt ist bestritten worden, dass man diese Aussage als ein Bekenntnis bezeichnen darf.39 Dagegen spräche das Imperfekt ἦν. Ein Bekenntnis verlange das Präsens und im Idealfall einen Satzfang in der ersten Person: πιστεύω oder πιστεύομεν. Dieser Einwand mag für eine moderne Argumentation zutreffen, die von der Spaltung zwischen Person und Inhalt der Rede ausgeht und diese im Bekenntnisakt als überwunden ansieht. Für die mythische Rationalität fällt jedoch die Person mit dem Inhalt ihrer Worte in eins. Was jemand sagt, ist Teil seiner Person; und der Hauptmann steht mit seiner Person für die Überzeugung, dass in dem soeben gestorbenen Jesus Gott und Mensch zu einer Einheit geworden waren. Unter der Maßgabe, dass Bekenntnis und Geistbesitz die zwei Seiten einer Medaille darstellen, ist im Blick auf V. 39 festzuhalten: Der aus Jesus entwichene Geist hat begonnen, sich horizontal unter die Menschen auszubreiten. Die Aussage des Centurio als des unmöglichen Zeugen dokumentiert, dass der Geist mit diesem Römer begonnen hat, unter den Menschen und in die Völkerwelt hinein Raum zu greifen. Das Kreuz Jesu wird bei Markus zum Ort eines pfingstlichen Geschehens. Dass der Hauptmann Jesus angesichts seines Todes in dieser Weise als Gottessohn qualifiziert, lässt sich geradezu als österliches Ereignis bezeichnen. In der Summe gilt: Bei Markus fallen Pfingsten und Ostern im Karfreitag zusammen. Das Kreuz Jesu ist bei Markus der Kulminationspunkt der Theologie. Deren soteriologische Ausrichtung wird entscheidend durch die Beleuchtungs‑ und Richtungsangaben vermittelt. 38 H. Greeven / A. Huck, Synopse der drei ersten Evangelien mit Beigabe der johanneischen Parallelstellen, Tübingen 131981. 39 Zur Auseinandersetzung mit M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 94, der die Auffassung vertritt, die imperfektische Formulierung „dieser Mensch war Gottes Sohn“ sei ein Hinweis darauf, dass keine vollgültige Bekenntnisaussage vorliege, vgl. P.-G. Klumbies, Das Raumverständnis in der Markuspassion, in: I. Baumgärtner / P.-G. Klumbies / F. Sick (Hg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge. Unter Mitarbeit von M. Kohls, Göttingen 2009, 127–144, 138–139, Anm. 30.
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
Lukas 23,44–49 Bei Lukas fällt in anderer Weise als bei Markus Licht auf die Szene. Der lukanische Erzähler hat das Bedürfnis, bei Markus einiges richtig zu stellen. Insbesondere halte Markus sich nach seiner Auffassung nicht korrekt an die mythischen Gepflogenheiten. In seiner Bearbeitung der markinischen Eröffnung der Szene schleift Lukas in V. 44 die klare Konturierung des Zeitraums und die Betonung der zeitlichen Zäsur ab. Die Partikel ὡσεί, ungefähr, lässt die zeitlichen Grenzen an den Rändern verschwimmen. Die Lichtverhältnisse während des geschilderten Gesamtzeitraums sind von Bedeutung, nicht der exakte Einschnitt und der genaue Übergang. Lukas verleiht dem Geschehen insgesamt einen dunklen Hintergrund. Damit fällt auch die bei Markus präzise unternommene Unterscheidung zwischen der auf die Menschen und der auf Jesus bezogenen Perspektive hin. Die nachgeschobene Begründung für die eingetretene Finsternis in V. 45 „weil die Sonne zu scheinen aufhörte“, demonstriert, dass die Rationalität des Lukas anderen Regeln folgt als die des Markus. Lag für Markus die Ursache der Finsternis in der spirituellen Verdunkelung der Menschheit, geht es Lukas um die Erklärungsbedürftigkeit eines eigenartigen Naturphänomens. Für diesen Vorgang weiß er die natürliche Ursache zu nennen. Es bleibt ein seltsames Zusammentreffen, dass die Sonnenfinsternis gerade in diesem Moment eintritt. Ein Wunder im Sinne eines außerweltlichen Geschehens ist es nicht. Das Zerreißen des Tempelvorhangs stellt Lukas seiner Darstellung voran. Bei Markus bildete dieses Ereignis den theologischen Höhepunkt der Szene. Die Gotteserkenntnis mit dem Tod Jesu zu verbinden, war dort die theo-logische Pointe gewesen. Lukas verlagert mit seiner Schilderung den Akzent auf die Christologie. Der Vorhang reißt auf, Jesus steht vor aller Augen. Sichtbar wird eine hoheitlich-majestätische Gestalt, die den Vorgaben der lukanischen Christologie entspricht. Um seine christologische Pointe zu profilieren, verzichtet Lukas auf große Teile des von Markus gelieferten narrativen Inventars.40 Herumlungernde Hinrichtungsbesucher, akustische Missverständnisse und lebensverlängernde Maßnahmen verstellen das lukanische Erzählanliegen. Hier ist kein Platz für richtungslose Menschen, die die Szenerie bevölkern. Der lukanischen Christologie geht es exklusiv um das vorbildliche Sterben des Einzigartigen. Die Richtungsangabe „von oben nach unten“, die bei Markus auf die Beziehung zwischen Himmel und Erde abhebt, löst Lukas durch ein Zerreißen „mitten durch“ ab. Der Ort der folgenden Handlung liegt, der Öffnung einer Bühne vergleichbar, frei. Wie in Großaufnahme richtet sich in Vers 46 der Blick auf den sterbenden Jesus. 40 Die
markinischen Verse 35 und 36 werden von Lukas getilgt.
4. Das Sterben Jesu am Kreuz in Mk 15 und Lk 23
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Diese Einblendung geht freilich bei Lukas mit einer Umkehrung der Blickachse gegenüber Markus einher. Die Erwähnung des Geschehens im Tempel verlegt den optischen Einsatzpunkt in den Osten. Von dort fällt der Blick nach Westen auf das in V. 46 ff. geschilderte Sterben Jesu. Vom Tempel als dem Ort der traditionellen jüdischen Gottesvergegenwärtigung weg richtet sich der Blick auf den gekreuzigten Jesus als das christologische Zentraldatum. Die Katastrophe des Tempels markiert den Wechsel zu dem auf den gekreuzigten Jesus bezogenen Neuanfang. Bei Lukas tritt die Christologie an die Stelle der zur Klärung anstehenden Theo-logie. Mit dieser inhaltlichen Korrektur der Markusdarstellung reaktiviert Lukas zugleich die üblichen Wertungen im mythischen Raum. Ihnen zufolge ist der Osten die Richtung des Heils. Demgegenüber liegen im Westen das Reich des Todes und der Eingang in die Unterwelt.41 Was auf Golgotha ganz im Dunklen geschieht, ist nach Darstellung des Lukas ein trauriges Ereignis. Die Natur hüllt sich als Ausdruck ihrer Trauer in schwarz. So war es nach Darstellung antiker Autoren schon beim Tod anderer bedeutsamer Herrscherpersönlichkeiten, z. B. dem Julius Cäsars, passiert.42 Entsprechend verläuft die Blickachse aus heilvoller östlicher Richtung zum westlich gelegenen Ort des Untergangs. Lukas erweist sich mit seinen Änderungen gegenüber der Markusvorlage als ein kundiger Mythograph.43 Er setzt gegenüber Markus mythische Korrektheit durch. Dass Markus in seiner Darstellung aus theologischen Erwägungen zweimal die Regeln der mythischen Logik durchbrochen hat,44 lässt Lukas ihm nicht durchgehen. Dies gilt für die markinische Behauptung, im Moment des Todes Jesu sei es hell gewesen; und es betrifft die bei Markus von West nach Ost gerichtete Blickachse von Golgotha zum Tempel. Die lukanische Darstellungsweise lässt sich pointiert als Entmythisierung durch Mythologisierung bezeichnen. Die mythischen Züge stehen bei Lukas im Dienst seiner Erzählabsicht. Sie bilden nicht eine gelebte mythische Wirklichkeit ab. Die Änderung der letzten Worte Jesu durch Lukas ist wiederum von einem Spiel mit Perspektiven begleitet. Mit dem Wechsel von Ps 22,2 zu Psalm 31,6 verbindet sich in der Verwendung des Verbs ein Wechsel von der 2. zur 1. Person Singular. Lautet die Du-Botschaft des sterbenden Jesus bei Markus: Mein Gott, wozu hast du mich verlassen, konstatiert der lukanische Jesus in einer 41 Hatte Markus aus theologischer Überzeugung, wenn es um den Tod Jesu geht, die Regeln mythischen Erzählens durchbrochen, duldet Lukas eine solche Distanzierung aus literarischen Gründen nicht. 42 Vgl. S. Pellegrini, Elija – Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium, HBS 26, Freiburg / Basel / Wien 2000, 356–357. 43 Als ein solcher stellt er die mythischen Vorstellungen gezielt in den Dienst seiner eigenen Erzählabsichten. 44 Zur Durchbrechung der Regeln mythischer Logik bei Markus in den Szenen, die den Tod Jesu thematisieren, vgl. P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 312–313.
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
Ich-Ausage: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Diese Verschiebung in der Verbform entspricht den Grundlagen der lukanischen Christologie. Der lukanische Jesus als noch im Tode aktiv handelnde Persönlichkeit löst den von sich weg und auf die Beziehung Gottes zum Menschen verweisenden markinischen Jesus ab. Wohin entweicht bei Lukas Jesu Geist im Moment seines Todes? Strictu sensu entweicht er gar nicht! Der lukanische Jesus gibt ihn kontrolliert an den zurück, von dem er ihn empfangen hat. Die Teilhabe am Geist ist ein Geschehen der Zweisamkeit zwischen Jesus und seinem göttlichen Vater. Entsprechend gibt es keine horizontale Ausbreitung. Vertikal nach oben reicht Jesus den ihm innewohnenden Geist zurück. Vertikal nach oben richtet sich auch die erste von dem Hundertschaftsführer geschilderte Reaktion. Nicht die Worte Jesu allein, das Gesamtgeschehen hinterlässt Wirkung bei ihm.45 Der Erzähler lässt den Blick des Centurio spontan nach oben gehen. Er preist Gott, ohne dass das Gottesverständnis thematisiert oder gar problematisiert werden müsste. Erst danach lässt der Erzähler den Hauptmann anerkennende Worte über den Gekreuzigten äußern. Das Moment der Subordination Jesu unter Gott bleibt gewahrt. Das Lob des Centurio für die ethisch-theologische Qualität des Verstorbenen ist als ein B-Bekenntnis zu werten. Die finale Hoheitsaussage über Jesus zu sprechen, steht dem Römer freilich im Lukasevangelium auch nicht zu. Denn dieser Höhepunkt erfolgt nicht am Karfreitag, sondern erst am Ostertag mit dem Bekenntnis der Auferstehung Jesu (24,6), mit dem Verweis auf die Augen öffnende Bedeutung des Brotbrechens im Kontakt mit den Emmausjüngern (24,30.31) und mit dem Hinweis auf den Segen Jesu und seine schließliche Himmelfahrt (24,50–51). In V. 48 fasst Lukas den Charakter seiner Darstellung mit einem terminus tech‑ nicus zusammen. Und all’ die zu dieser θεωρία / diesem Schauspiel versammelten Massen, nachdem sie das Geschehene gesehen hatten, schlugen an ihre Brust und kehrten um. Lukas verwendet hier einen Begriff aus der antiken Poetik. Der Begriff θεωρία besitzt eine Wirkungsgeschichte von Aristoteles über Horaz hin zu Pseudo-Longinus, einem römischen Dichtungstheoretiker der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Er stellt zugleich eine Beziehung zum Aristeasbrief her. Über den Terminus θεωρία lässt sich eine Linie zwischen hellenistisch-römischer Dichtungstheorie, ihrer Rezeption im hellenistisch geprägten Judentum und dem lukanischen Doppelwerk zeichnen.46 So bezieht sich besagter Pseudo-Longinus als einziger paganer antiker Schriftsteller mit Gen 1,3 und 9 auf ein Bibelzitat. Mit Lukas berührt er sich darin, dass sie beide auf den Stoiker 45 Bei Markus war das Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu im Unterschied dazu ausgelöst durch die Überführung des wortlosen Schreis Jesu in die Worte des Hauptmanns. 46 Zur ausführlichen Darstellung s. P.-G. Klumbies, Das Sterben Jesu als Schauspiel nach Lk 23,44–49, BZ NF 47 (2003), 186–205.
5. Theologie in Begriffen und in Erzählungen – ein Fazit
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Arat verweisen (Apg 17,28) sowie wohl auch mit der Überzeugung, dass „nichts so zur Größe bei(trage) wie das echte, im rechten Augenblick hervorbrechende Pathos“.47 Das wird nicht zuletzt in V. 48 deutlich. Laut V. 48 erfolgt die Teilnahme der Zuschauer an dem dargestellten Geschehen auf dem Wege der „Augenkommunion“, um es mit einem Terminus aus der mittelalterlichen Abendmahlsterminologie zu sagen. Diese Form der Teilhabe zeigt Wirkung. Die Zuschauer reagieren betroffen. Sie schlagen sich an die Brust. Das heißt, sie gehen in sich, und in dem Hinweis auf ihre Rückkehr nach Haus schwingt der Gedanke von Einsicht und Umkehr mit. Laut V. 49 standen währenddessen alle seine Bekannten von fern. Einzigartig bleibt Jesus selbst in seiner Einsamkeit im Tod. Die Hoheit Jesu und die Intensität seiner Gottesbeziehung bilden den christologischen Fokus des lukanischen Erzählers. Mit den Mitteln der antiken Schauspieltheorie und dem reflektierten Einsatz mythischer Vorstellungen inszeniert Lukas das Sterben Jesu als ein Bühnenstück. Dieses zielt auf die Reaktion der Zuschauer. Sie sollen ihren Schluss aus dem Dargestellten ziehen und in ihre Alltagswelt hinein nehmen.
5. Theologie in Begriffen und in Erzählungen – ein Fazit Die Sterbeszenen des Markus‑ und des Lukasevangeliums machen das unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis beider Erzähler sichtbar. Beide folgen einer jeweils eigenen Form von Rationalität.48 Diese schlägt sich in ihren Darstellungen der Kreuzigung Jesu nieder. In divergierender Weise beziehen beide Erzählungen mythische Vorstellungen in ihre Darstellungen ein. Dabei erweist sich die Markusfassung in der Tendenz als Ausdruck gelebter mythischer Wirklichkeit. Dennoch wird dadurch die Jesuserzählung bei Markus nicht einfach zum Mythos. Der Erzähler formuliert hier wie auch sonst, wenn der Tod Jesu in den Blick tritt, die Grenze gegenüber der mythischen Wirklichkeitserfassung. Im Lukasevangelium gehören die mythischen Züge dagegen primär zum literarischen Repertoire des Erzählers. Er bringt die Elemente des Mythos teilweise geradezu spielerisch ein. Wiederholt macht er transparent, dass für seine eigene Rationalität gerade die Distanz gegenüber dem Mythos grundlegend ist. In theologischer Hinsicht stellt Markus die Soteriologie in den Vordergrund. Lukas pointiert demgegenüber eine hoheitliche Christologie. Das ist kein prinzi47 M. Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung, Darmstadt 21992, 168. 48 Vgl. dazu im Einzelnen P.-G. Klumbies, Rivalisierende Rationalitäten im Markus‑ und Lukasevangelium, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 5–24.
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Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas
pieller Gegensatz. Denn in beiden Evangelien bedingen Soteriologie und Christologie einander. Aber die Akzente unterscheiden sich. Freilich wird mit dieser Terminologie die narrative Entfaltung schon wieder auf den Begriff gebracht. Das verkürzt die Eigenart der erzählten Theologie. In beiden Evangelien bilden Narrativität, Rationalität und die Integration des Mythos die Kennzeichen der Jesuspräsentationen. Die daraus gewobene erzählte Theologie ist Ausdruck eines konturierten Weltbildes. Sie wirkt auf distinkte Weise auf die Weltsicht der Leser und Hörer ein. Sie zeigt Wirkung in dem Sinne, dass sie eine Wirkungsgeschichte aus sich heraus setzt. Auf diese Weise schafft sie wiederum neue Wirklichkeit. Theologie handelt per definitionem von Gott im Glauben. Dieses Relationsgeschehen zu versprachlichen, kann in Begriffen und in Erzählungen geschehen – vorausgesetzt, den von mythischen Vorstellungen durchzogenen Erzählungen wird das gleiche Maß an Rationalität zugebilligt wie begrifflich entfalteten Texten. Dem Mythos Ebenbürtigkeit in puncto Rationalität zuzugestehen, ist die conditio sine qua non, wenn von narrativer Theologie geredet werden soll. Die Rehabilitation des Mythos in diesem Punkt ist die Voraussetzung für seine Reintegration in den Theologiebegriff.
Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese1 The Boundary of Form-Criticism and Redaction-Criticism in the Exegesis of Miracle Stories The traditional historical-critical exegesis has reached its limits in the interpretation of the miracle stories. The orientation on literary and form-critical isolated pericopes does not correspond to the character of the narrative as a genuine component of the overall representations of the gospels. Also, the one-sided concentration on Christology, which is partly observable in interpretive history, proves to be a reduction. The inclusion of insights from the narrative theory expands the perception of the narrated contents of the gospels. It is apparent that the Christology expressed in the Markan miracle stories is primarily soteriological-theologically oriented and portrays Jesus as the one who places man in a healing relationship with God.
Die traditionellen Methoden der Exegese – Literarkritik, Formgeschichte, Redaktionsgeschichte – haben seit der Aufklärung auch den Umgang mit den neutestamentlichen Wundererzählungen bestimmt. Neben den Leistungen, die das methodische Instrumentarium erbracht hat, sind dabei zunehmend auch die Grenzen des Verfahrens sichtbar geworden.2 Die folgende Darstellung skizziert 1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Fachgruppe Neues Testament der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie am 28. 5. 2010 in Leipzig. 2 Zur Kritik der traditionellen exegetischen Methoden, insbesondere der Formgeschichte, sind bereits seit den 1970er Jahren zahlreiche Beiträge erschienen. Vgl. aus der Fülle der Literatur E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form‑ und Redaktionsgeschichte, BEvTh 54, München 21971; F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985; W. H. Kelber, The Oral and the Written Gospel. The Hermeneutics of Speaking and Writing in the Synoptic Tradition, Mark, Paul and Q, Philadelphia 1983; G. Schelbert, Wo steht die Formgeschichte? In: G. Schelbert / D. Marguerat (Hg.), Methoden der Evangelien-Exegese, ThBer 13, Zürich / Einsiedeln / Köln 1985, 11–39. Diese Beiträge beinhalten grundsätzliche Anfragen an die klassische Vorgehensweise und stellen auch alternative Theoriemodelle zur Debatte. Aufschlussreich ist freilich, dass die Grundsatzüberlegungen kaum zu Konsequenzen in der exegetischen Praxis geführt haben und für den textbezogenen Umgang mit den neutestamentlichen Wundererzählungen praktisch folgenlos geblieben sind. Zur Darstellung des Forschungsstandes vgl. auch P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 7–38.
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Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese
die Anforderungen, unter denen die Methoden in ihrer jeweiligen Entstehungszeit standen, und hebt ihre weltbildlichen Implikationen hervor. Die Schlussfolgerungen aus der Einsicht in die Zeitgebundenheit der Methodik der Wunderexegese münden in einen Zugang zu den Erzählungen jenseits von Literarkritik, Form‑ und Redaktionsgeschichte. Er wird an zwei exegetischen Fallbeispielen zu Texten aus dem Markusevangelium vorgestellt.
1. Kurze Geschichte der Methodik form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese Im Zuge der Aufklärung fiel der neutestamentlichen Wissenschaft seit dem 18. Jahrhundert die Aufgabe zu, anstelle der überkommenen Christologie neue, historisch verlässliche Grundlagen für die Ausformulierung eines zeitgemäßen Credo bereitzustellen. Im Rahmen der ein Jahrhundert dauernden Epoche der Leben-Jesu-Forschung stellten dabei die neutestamentlichen Wundererzählungen eine besondere Herausforderung dar. Im Umgang mit ihnen musste die neu errungene wissenschaftliche Rationalität ihre Leistungsfähigkeit und ihren Mut beweisen, das heikle Thema der Wunderwirksamkeit Jesu in sachgemäßer Weise zu behandeln. Dies ist im Rationalismus sicher nicht in hinreichender Weise geleistet worden. Aber auch wenn die Erklärungsversuche der Carl Friedrich Bahrdt, Carl Heinrich Venturini, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und anderer rückblickend vielleicht zum Schmunzeln verleiten: Der Rationalismus war der entschiedene, intellektueller Redlichkeit verpflichtete Widerspruch gegen den traditionellen Supranaturalismus. David Friedrich Strauß’ Versuch, daneben die Wunder mit dem Mythos zusammenzubringen, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht vermittelbar. Das lag zum einen an den Widerständen von theologisch konservativer Seite. Schwerer noch wog zum anderen, dass eine Wissenschaftsepoche, die gerade auf dem Weg war, die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Botschaft im Leben des historischen Jesus aufzuspüren, gute Gründe besaß, sich einer mythischen Entgeschichtlichung zu verschließen. Ungeschichtliche Mythen als Ideenträger, die die Geschichte Jesu in das Licht des Doketismus zu rücken schienen, waren in einer auf historische Fakten fixierten Atmosphäre unannehmbar. Dies änderte sich zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit aber spielten die Wunder für die Darstellungen des Lebens Jesu bereits keine Rolle mehr.3 Der Gedanke, die Erzählungen von Wundern Jesu nicht auf deren Geschehensein, sondern auf ihren theologischen Aussagegehalt hin zu befragen, gelangte unter den veränderten geistigen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg 3 Vgl. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996, 22–23.
1. Kurze Geschichte der Methodik form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese 113
in der Formgeschichte zu neuer Bedeutung.4 Im Unterschied zu Strauß sahen R. Bultmann und M. Dibelius zwar nicht die alttestamentliche Überlieferung als Auslöserin neutestamentlicher Wundererzählungen an. Sie richteten ihre Umschau vor allem auf die hellenistische Umwelt. Aber in ihrer Auslegung als kerygmatische Erzählungen, deren Inhalten metaphorisch auf die Spur zu kommen sei, zeigte sich bei aller Differenz im Einzelnen5 ein Nachhall des Straußschen Zugangs. Die dem Bultmannschen Entmythologisierungsprogramm verpflichtete Wun derexegese begriff die Interpretation als Zugang „zum wahren Wunder“. Sie markiere „einen dritten Weg“ „zwischen Elimination und Rezitation“.6 In jüngerer Zeit gilt die Suche einem Zugang jenseits der Alternative von Rehistorisierung und Metaphorisierung.7 Die Rehistorisierung8 scheidet aus, weil sie dem Fundamentalismusverdacht unterliegt. Die Metaphorisierung muss sich mit Recht den Vorwurf gefallen lassen, unter der Maßgabe neuzeitlich-aufgeklärter Rationalität die Inhalte mythisch geprägter antiker Texte vorschnell den eigenen Denkgepflogenheiten einzugliedern. Sie ist als modernisierte Variante des Rationalismus anzusehen. Dieser Vorwurf ist bereits gegenüber Bultmanns Programm der Entmythologisierung vorzubringen. Er trifft in gleicher Weise den neo-rationalistischen Zugang G. Theißens.9
4 Die Richtung war bereits durch Lessing vorgezeichnet. Ihm zufolge geht es im Blick auf die im Neuen Testament überlieferten Wunder Christi nicht um die Faktizität der Ereignisse. Vielmehr stehe der Leser vor der Tatsache, dass er es mit Erzählungen von Wundern zu tun habe. Entsprechend stellen die Wundererzählungen den Untersuchungsgegenstand dar. Vgl. G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Gotthold Ephraim Lessing’s Sämmtliche Schriften, Band 5, Berlin 1825, 75–85 (ursprünglich 1777). 5 Dieser betrifft insbesondere auch das unterschiedliche Verständnis vom Mythos, das entsprechend eigene Konsequenzen nach sich zieht. 6 G. Klein, Wunderglaube und Neues Testament, in: Ders., Ärgernisse. Konfrontationen mit dem Neuen Testament, München 1970, 24. Alternativ spricht Klein vom „wirkliche(n) Wunder“, ebd. 18.23. 7 Vgl. S. Alkier, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001), 2–15, 15. 8 J. Frey, Zum Verständnis der Wunder Jesu in der neueren Exegese, ZPTh 51 (1999), 3–14, 7, plädiert gegenüber einer nach seiner Ansicht überzogenen historischen Skepsis dafür, „die Frage nach der Ereignisdimension der Wunder Jesu“ zurückzugewinnen. 9 Vgl. die zutreffende Kritik von Alkier, Wen wundert was? (s. Anm. 7), 10–11, an Theißens Wunderauslegung, die sich auf G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 61990 und G. Theißen, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, München 71989, bezieht; vgl. ebenfalls R. Zimmermann, Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 5–67, 9.
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2. Der Zusammenhang von Methodik und theologischer Programmatik Die Literarkritik war das neue Instrument für die Exegese der Aufklärungszeit. Die Schere in der Hand, befähigte sie ihre Anwender zum scharfen Schnitt an den als Quellen verstandenen Texten. Tradition wurde von Überwucherung freigeschnitten. Dogmatische Überlagerungen konnten von alten Kernen abgelöst werden. Die Literarkritik führte zu den Texten im Text zurück. Mit deren Alter nahm auch die Reinheit der freigelegten Überlieferung zu. So jedenfalls die Überzeugung all’ derer, die nach den goldenen Anfängen in der Vergangenheit suchten. Die Literarkritik, so hoffte man, eröffnete einen unverfälschten Zugang zu den Ursprüngen der Überlieferung. Diese Sehnsucht teilte die historische Arbeit in Theologie und Exegese mit dem ganzen aufgeklärten Zeitalter. Solcher Zugriff auf die Vergangenheit entsprang der unmittelbaren Notwendigkeit nach Legitimation. Denn in dem Augenblick, in dem die Aufklärung die theonome Fundierung der Gesellschaft negiert und in Theologie und Kirche die altvertraute dogmatische Christologie ihre Plausibilität verloren hatte, war ein Bedürfnis nach tragfähigen Fundamenten entstanden. Damit stand die Theologie in einer Reihe mit den vom Streben nach Autonomie und Emanzipation getriebenen universitären Wissenschaften. Via Literarkritik wollte die neutestamentliche Bibelwissenschaft die Brücke zu den authentischen Grundlagen am Anfang des Christentums schlagen. Dort, so die Verheißung, wartete ein historischer Jesus, der in neuer Weise Orientierung für die Gegenwart versprach.
Im Blick auf die neutestamentlichen Wundererzählungen stand das Duo aus Literarkritik und Rationalismus im 19. Jahrhundert vor einem Dilemma. Selbst ambitioniert aufgeklärt musste es plausibel machen, wie es zu den einer aufgeklärten Vernunft entgegenstehenden Widersinnigkeiten der Wundergeschichten kommen konnte. Selbsttäuschung und Missverständnis – so das Standardmodell rationalistischer Rechtfertigung – begründen, wie es zu solchen unrealistischen Erzählungen kommen konnte. Der Maßstab für das, was als nachvollziehbar galt, war die naturwissenschaftlich-empirisch geschulte Vernunft. Die apologetische Absicht der rationalistischen Erklärungsversuche ist mit Händen zu greifen. Worin die eigentliche Intention der Wundererzählungen bestand, darüber gab es im 19. Jahrhundert keinen Zweifel: in der Ethik. Die Wundererzählungen demonstrieren Jesu Einsatz für die Besserung der Lebens‑ und Seelenlagen seiner Mitmenschen. In diesem Bemühen diente er der Leserschaft als sittliches Vorbild. Sympathischer als die oft schwer verdaulichen Wundererzählungen über Jesus waren dem 19. Jahrhundert die Worte Jesu. Dem Reden Jesu wurde schon eher Offenbarungsqualität beigemessen. Zumal Jesu Aussprüche vor den Niederungen des Supranaturalismus bewahrten. Jesu Verkündigung und seine Lehre über Gott und die Menschen stellten für das aufgeklärte Bewusstsein seine krönenden Lebensäußerungen dar.
2. Der Zusammenhang von Methodik und theologischer Programmatik
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Die Vorordnung des gesprochenen Wortes vor der erzählten Tat gliedert nach dem Einschnitt des Ersten Weltkriegs auch Bultmanns für das 20. Jahrhundert richtungweisende „Geschichte der synoptischen Tradition“. Wenn Bultmanns liberaltheologische Sozialisation eine deutliche Spur hinterlassen hat, dann diese. Entsprechend gliedert er sein Buch: I. die Überlieferung der Worte Jesu; II. die Überlieferung des Erzählungsstoffes.10 Diese Fortführung des liberaltheologischen Axioms hat die Verhältnisbestimmung zwischen Rede‑ und Erzählstoffen in der Wunderexegese des 20. Jahrhunderts geprägt. Bultmanns Weichenstellung: Die Pointen apophthegmatischer Szenen liegen regelmäßig in einem Ausspruch Jesu, hat sich als stilbildend erwiesen. Sie findet bei Schülern wie Kritikern ihre Fortsetzung.11 Die Formgeschichte ist im Unterschied zur Literarkritik die Methode des Fragments. Zwar hatte sie sich etwa im Werk Hermann Gunkels schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt.12 Aber erst nach dem Zerbrechen der überlieferten Kontinuitäten in Gesellschaft und Geistesleben steigt sie zur dominanten exegetischen Methode auf. Punktgenau nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gelangen zwischen 1919 und 1921 K. L. Schmidt13, Dibelius14 und Bultmann fast gleichzeitig zu der Erkenntnis, dass in den Evangelien Perikopenüberlieferung vorliegt. Statt wie bisher angenommen mit durchlaufenden Texten habe man es mit einer schwach geordneten Anhäufung von Einzelperikopen und Logien zu tun. Diese würden nur durch ein loses Netz von Überleitungen zusammengehalten. Die Formgeschichte wird zur Methode für den Umgang mit angenommener textlicher Diskontinuität. In einer Zeit, in der in Politik, Kirche und Kunst die Oberflächen zersprungen sind, trägt die Formgeschichte den expressionistischen Grundzug jener Jahre in die exegetische Methodik hinein. Zugleich verleiht die Formgeschichte der Christologie neue Geltung. Unter dialektisch-theologischem Einfluss tritt an die Stelle des verkündigenden Jesus der literarkritisch-liberaltheologischen Phase der verkündigte Christus in das theologische Zentrum der Formgeschichte. Knapp vierzig Jahre dauerte es, bis in den 1950er Jahren mit der Redaktionsgeschichte ein neues Nachdenken über den literarischen Zusammenhang der 10 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970: Teil I Seite 8–222, Teil II Seite 223–348. 11 Selbst W. Schmithals’ Kritik der Formgeschichte folgt an dieser Stelle der Vorentscheidung Bultmanns. Vgl. dazu W. Schmithals, Kritik der Formkritik, ZThK 77 (1980), 149–185, sowie Ders., Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin / New York 1985, 299–318. 12 Vgl. H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, FRLANT 1, Göttingen 1903; Ders., Art. Literaturgeschichte Israels, RGG1 III (1909), 1189– 1194; Ders., Reden und Aufsätze, Göttingen 1913; vgl. auch Ders., Das Märchen im Alten Testament, Frankfurt a. M. 1987 (ursprünglich Tübingen 1921). 13 K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Darmstadt, 2. Nachdruck 1969 (ursprünglich 1919). 14 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971 (ursprünglich 1919).
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Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese
Textüberlieferung einsetzte. Es bedurfte stabiler Lebensverhältnisse und eines zeitlichen Abstandes zu den Verwerfungen von 1918 bis 1945, ehe der Kontinuitätsgedanke wieder eine Chance auf Gehör bekam. Denn „Kontinuität“ war ja ein Merkmal liberal-theologischer Exegese und im dialektisch-theologischen Zeitalter des Fragments verpönt gewesen.15 Die Redaktionsgeschichte ist die Methode, die die Wahrnehmung textlicher Kontinuität wieder zulässt.
3. Die Durchführung form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese 3.1 Gattungsgewinnung durch Dekontextualisierung? In dem herkömmlichen Verfahren der Gattungsbestimmung wird die Gattung „Wundererzählung“ unter der methodischen Voraussetzung der Dekontextualisierung eines Einzeltextes gewonnen. Der aus dem Zusammenhang gelöste und zur Perikope erklärte Einzeltext wird zum Vergleich mit ähnlich strukturierten Texten freigegeben. Diese Vorgehensweise entstammte den Textvergleichen der Religionsgeschichtlichen Schule an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Deren methodische Praxis stand zunächst freilich unter der Erwartung, dass auf diese Weise die Einzigartigkeit der biblischen Überlieferung zutage träte. Angesichts der Fülle ganz ähnlicher Überlieferungen im Umfeld der biblischen Texte wuchs allerdings allmählich das Bewusstsein, dass das Vergleichsverfahren zu einer Relativierung der biblischen Überlieferung hinsichtlich ihrer Exklusivität und Singularität führt. Unter dem Gattungsaspekt mündete das Verfahren in eine Nivellierung zwischen inner‑ und außerbiblischen Texten.
Die Form‑ und Redaktionsgeschichte akzeptierte die methodische Entscheidung der Religionsgeschichtlichen Schule als Voraussetzung ihrer Arbeit. Schmidts Feststellung des Perikopencharakters der synoptischen Überlieferung zementierte dieses Axiom zur Grundlage der Formgeschichte. Bultmanns Überzeugung, dass die Traditions‑ resp. Überlieferungsgeschichte der Texte auf kleinste Einheiten, sog. „ideale Szenen“ zurückführe, zog die Nebenwirkung nach sich, dass ursprünglich zusammengehörige Textteile für die exegetische Untersuchung auseinandergerissen wurden. Vorgängige Einheit wurde in Einzelteile zerlegt und 15 W. Marxsen, der Schöpfer des Begriffs „Redaktionsgeschichte“, bemerkt in: Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 1956, 21959, 9–12, mit Verwunderung, dass angesichts der Vorbereitung durch die Arbeiten von J. Weiß, W. Wrede und J. Wellhausen nach dem Ersten Weltkrieg die Redaktionsgeschichte nicht unmittelbar die Nachfolge der Literarkritik angetreten hat. Denn die Redaktionsgeschichte bilde in sachlicher Hinsicht nicht die Fortsetzung der Formgeschichte. Eine Erklärung für seine Wahrnehmung bietet Marxsen nicht. Vermutlich ist es in den 1950er Jahren noch zu früh gewesen, um die Ursache für die faktische Entwicklung der Forschung in dem Epochenumbruch nach 1918 zu sehen.
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stand für die Wahrnehmung als Gesamttext nicht mehr zur Verfügung. Für mehr als ein Jahrhundert präjudizierte das Textisolierungsverfahren auch die Ergebnisse der Wunderauslegung. Das traditionelle Schema einer Wundergeschichte ist im Zuge dieser Entwicklung geradezu zum Selbstläufer geworden: Exposition – Begegnung mit dem Wundertäter – wunderwirkendes Wort bzw. wirksamer Gestus – Feststellung des Erfolges – Chorschluss16 der staunenden Menge. Mit dieser Art der Gattungserhebung hat die Formgeschichte über Jahrzehnte formalisierte Grundtexte geschaffen.17 Die Problematik dieses Verfahrens ist evident. Die Gattung „Wundererzählung“ wird als Destillat aus einem größeren Textzusammenhang heraus isoliert. Die narrativen Eigenwilligkeiten der Einzelformen treten zugunsten der standardisierten Grundgattung zurück. In diesem konzentrierten Aggregatzustand wird die schematisierte Erzählung zur weiteren Analyse übergeben. Kontextunabhängig wird an den Einzeltexten weitergearbeitet. Genau an dieser Stelle erfolgt dann freilich deren Rekontextualisierung. Die Erzählung wird in neue Zusammenhänge eingebettet. In der theologisch bestimmten Tradition der Formgeschichte Bultmannscher Prägung ist dies die Beziehung zur Christologie gewesen. Das Wunder konnte zu einer Funktion der Christologie erklärt werden. Ebenso konnte es auch von der Christologie her kritisiert werden. Bei der Weiterbearbeitung im Zuge der Redaktionsgeschichte wurde markiert, mit welchen theologischen Interessen die unterschiedlichen Evangelien die Texte überformt hatten. Auf vier Elemente konnte sich die Redaktionsgeschichte bei der Erhebung des redaktionellen Profils stützen: Erstens auf das Arrangement der Reihenfolge und die Einordnung des Einzeltextes in das Gesamtwerk, zweitens auf die Ein‑ und Ausleitungsverse der Perikopen, drittens auf die Eingriffe in die aus der Tradition stammende Einzelform und viertens auf die Überzeugung, dass Teile des Sonderguts Kreationen des jeweiligen Evangelisten sein könnten.18 Diese Begrenzung macht ein tiefgreifendes Handicap der Redaktionsgeschichte sichtbar: Die textliche Basis zur Erhebung des redaktionellen Profils ist denkbar schmal. Der Grund dafür liegt darin, dass die quellenkritische Trennung von Dibelius, Formgeschichte (s. Anm. 14), 50.55. Das Verfahren, durch den Vergleich ähnlich aussehender Einzelerzählungen und durch Abstraktion von allzu individuellen Merkmalen ein Gattungsschema zu erheben, wird auch in dem narratologischen und linguistischen Zugängen aufgeschlossenen Arbeitsbuch von M. Ebner / B. Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis, Paderborn u. a. 2005, 179–202, sowie in lediglich modifizierter Nomenklatur in der semiotisch orientierten Untersuchung von W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective, FRLANT 163, Göttingen 1994, 153–161, weitergeführt. Zur Problematik vgl. auch N. Neumann, Gattungskritik und Sitz im Leben, in: N. Neumann / M. Lau (Hg.), Das biblische Methodenseminar. Kreative Impulse für Lehrende, Göttingen 2017, 203–219, 206 f. 18 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 15), 12. 16 17
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Tradition und Redaktion auch unter den inzwischen geänderten theologischen Vorzeichen in der Formgeschichte in Geltung blieb; und als Arbeitsvoraussetzung wurde sie auch von der Redaktionsgeschichte akzeptiert. Ungeachtet der christologischen Weiterentwicklungen blieb die Scheidung von Tradition und Redaktion die Herrin des form‑ und redaktionsgeschichtlichen Verfahrens. Anstelle des methodischen Versuchs, eine Gattung „Wundergeschichte“ durch Dekontextualisierung zu generieren, wird im Folgenden vorgeschlagen, die zu untersuchende Einzelszene in Relation zum Buchganzen zu setzen. Auf diese Weise wird vermieden, dass die Erzählungen mit Überlieferungen verglichen werden, die das Verhältnis von Mythos und Rationalität und damit den Charakter eines Wunders als Wunder in unterschiedlicher Weise bestimmen. Die kontextbezogene Auslegung gewährleistet, dass die Erzählung in ihrem vorliegenden Zusammenhang und unter identischen rationalen Voraussetzungen untersucht wird. 3.2 Das Wunderverständnis im Zeichen der Entmythologisierung Bei der Bestimmung dessen, was das Wunder zum Wunder macht, unterscheidet die form‑ und redaktionsgeschichtliche Wunderexegese in der Tradition der Bultmannschen Entmythologisierung „das wirkliche Wunder“19 vom Mirakel. Das Mirakel ist die dingliche, auf das Übernatürliche fixierte Seite des Wunders. Für das Mirakel ist die Durchbrechung der Kausalketten der springende Punkt. Das Mirakel ist daher theologisch betrachtet glaubensinadäquat. Es gilt als superstitiös, ja, gefährlich für den Glauben;20 denn das Mirakel zieht den Blick vom Eigentlichen ab. Entsprechend habe laut Th. J. Weeden der markinische Redaktor den Mirakelglauben als Häresie gebrandmarkt und sich davon abgegrenzt.21 Für D.-A. Koch gehört das mirakelhafte Missverständnis in die Frühphase der christlichen Überlieferung. Die fortschreitende Entwicklung der Tradition dokumentiere den Prozess der Distanzierung von solchem frühchristlichen Wunderverständnis.22 Die ersten Christen waren einfältig wundergläubig; sie lebten im 19 Klein,
Wunderglaube (s. Anm. 6), 35, ebenso 18.23. Für Paulus ist „das Verlangen nach Mirakeln (…) ein Ausdruck menschlicher Sünde“ (Klein, Wunderglaube [s. Anm. 6], 34). 21 Th.J. Weeden, Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlasst hat, in: R. Pesch (Hg.), Das Markus-Evangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 238–258, 238–241.253. Ebenso Klein, Wunderglaube (s. Anm. 6), 54 f.: Markus wolle „klarmachen, daß Jesu Messianität nicht in direkter Betrachtung der Mirakel festgestellt werden kann, sondern sich nur im Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen erschließt.“ Damit sich nicht „jemand unter dem Eindruck der Mirakel (…) zum Glauben an Jesus entschließt, gleichsam an Jesu Kreuz vorbei“, greife Markus „fast gewalttätig in den Text der Wundergeschichten ein“ und installiere als „Bremse“ das Motiv, dass Jesus selbst das Bekanntwerden seiner Wunder zu Lebzeiten nicht gewollt habe. 22 D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin / New York 1975, 191–193. Zur Kritik an einer „‚Wunderkritik‘“ „innerhalb der Evangelien“ vgl. Zimmermann, Wundererzählungen (s. Anm. 9), 11. 20
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„wild wuchernden Dschungel antiker Mirakelgläubigkeit“23 und hatten Teil an der angeblichen Wundersucht der Antike24. Aber die fortschreitende Reflexion, von der das Wachstum der Tradition zeugt, lenke christologisch fundiert das Augenmerk auf das eigentliche Wunder. „Der neutestamentliche Wundergedanke in seiner reinen Ausprägung ist nämlich (…) schroff mirakelkritisch.“25 Wenn es nicht die materielle Seite ist, die das Wunder zum Wunder macht, welche dann? Dann ist es beispielsweise die Vergebung der Sünden.26 Diese Einsicht habe den großen Vorteil, dass sie „keine mirakulöse Absurdität“ darstelle. „Sie mutet niemandem ein sacrificium intellectus zu.“27 Oder „das eigentliche Wunder“ ist „die Einladung, sich selbst auf eine Wirklichkeit einzulassen, die sich nicht in den Raum‑ und Zeitdimensionen kausaler Weltkonstanten (…) erschöpft.“ Die Wundergeschichten gelten dann als „erzählte Zeichen für den Anbruch von Gottes Herrschaft“.28 Damit wird noch einmal die Alternative aufgerufen, die die apologetisch operierende Theologie seit Bultmann beherrscht,29 die aber über das 20. und das 19. Jahrhundert hinweg zurück in die Aufklärung reicht. Verstandesopfer oder Vernunftgemäßheit, historische Faktizität vs. eigentliche Bedeutung – das ist der Hiatus, an dem sich aufgeklärte Exegese im Gefolge der Entmythologisierung wie bereits zu Zeiten von Rationalismus und Liberaler Theologie abmüht. Die Rationalität aufgeklärter Vernunft gibt den Maßstab für das ab, was als theologisch erlaubt und was als verboten gilt. Diese Polarität wurde durch Bultmanns Entmythologisierungskonzept noch einmal festgeschrieben. In seinem Vortrag über Neues Testament und Mythologie von 1941 meinte Bultmann, dem Mythos einen Selbstwiderspruch vorhalten zu müssen. Der Mythos wolle zwar von der jenseitigen, göttlichen Welt sprechen, rede aber gegen seine erklärte Absicht vom Diesseitigen und Menschlichen. Er vermische, was zu trennen sei. Er verobjektiviere, was dem Zugriff entzogen und transzendent bleibe. Damit schiebt Bultmann dem Mythos ein Versagen zu, das dem Mythosverständnis aufgeklärter Rationalität geschuldet ist. Denn für den Mythos ist gerade konstitutiv, Diesseitiges und Jenseitiges, Materielles und Spirituelles 23 Klein,
Wunderglaube (s. Anm. 6), 28. Klein, Wunderglaube (s. Anm. 6), 55, spricht von der „Mirakelsucht der Menschen“. Ähnlich J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 253, der die Zeit des Paulus als „insgesamt recht wundersüchtig“ bezeichnet. 25 Klein, Wunderglaube (s. Anm. 6), 28. 26 So Klein, Wunderglaube (s. Anm. 6), 35, mit Blick auf Paulus. 27 Klein, Wunderglaube (s. Anm. 6), 35. 28 J. Herzer, Neutestamentliche Wundergeschichten als hermeneutische Herausforderung, in: M. Beyer / U. Liedke (Hg.), Wort Gottes im Gespräch, FS Matthias Petzoldt, Leipzig 2008, 233–251, 250; vgl. auch Th. Söding, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie, SBS 12, Stuttgart 1987, 506–509. 29 Vgl. R. von Bendemann, Art. Wundergeschichte(n) II. Neutestamentlich, in: Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, hg. v. O. Wischmeyer, Berlin 2009, 678–679, 678. 24
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zu mischen.30 Bultmanns Entmythologisierung kommt im Kern einer Zensur des Mythos unter den Voraussetzungen aufgeklärter Vernunft gleich.
Die Denkrichtung in der dialektisch-theologisch geprägten Form‑ und Redaktionsgeschichte verläuft bei den Wundererzählungen folgendermaßen: Die Pointen liegen im Regelfall nicht bei den sog. Wundern, den Mirakeln, selbst. Der Materialität der erzählten Ereignisse wird keine theologische Qualität beigemessen. Die geschilderten wundersamen Vorgänge zeigen von sich weg. Sie verweisen auf eine spirituelle Ebene. Dort – im Wort der Vergebung, im Zuspruch der Rechtfertigung, im „Geschenk der Nähe Gottes“31, in der anbrechenden Gottesherrschaft – erschließe sich das eigentliche, immaterielle, geistliche Wunder. Der materielle Aspekt des erzählten Wunders wird zum Sprungbrett in die Welt der reinen Spiritualität. Letztlich bleibt die Wunderexegese im Gefolge der Entmythologisierung im Bannkreis der aufgeklärten Rationalität,32 die sie doch in der Gestalt des Rationalismus heftig attackiert hat. Dabei ist der apologetische Grundton vom 19. bis zum 21. Jahrhundert praktisch der gleiche geblieben. Nach wie vor steht die Wunderexegese unter dem Druck, sich vor dem Forum aufgeklärter Vernunft zu rechtfertigen.
4. Mythosverständnis und Narratologie Seit den 1980er Jahren hat sich nicht zuletzt durch K. Hübners Rückgriff auf E. Cassirer33 der pejorative Umgang mit dem Mythos zu mildern begonnen.34 Seither hat die Einsicht in die Rationalität des Mythos an Boden gewonnen. Als Konsequenz wird die wechselseitige Durchdringung von Diesseitigem und Jenseitigem, von Menschlichem und Göttlichem, von natürlichen Vorgängen und 30 Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, hg. v. E. Jüngel, München 1988 (ursprünglich 1941); P.-G. Klumbies, Rez. von K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, ThRev 106 (2010), 214–216, 215. 31 So E. Drewermann, Mißverständnisse und Irrwege der Wunderauslegung, KatBl 114 (1989), 408–413, 410. 32 Ch. Landmesser, Freiheit durch Interpretation. Die Aufgabe der Bibelexegese nach Rudolf Bultmann, in: I. U. Dalferth / P. Bühler / A. Hunziker (Hg.), Hermeneutische Theologie – heute?, HUTh 60, Tübingen 2013, 173–191, zeichnet nach, wie Bultmann mit der „Unterscheidung zwischen geschichtlich Bedingtem und bleibend Relevantem“ (190) in der auf Johann Philipp Gabler zurückreichenden Tradition historischer Kritik bleibt (179–180). 33 K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985; E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Drei Teile und Index. 1. Teil: Die Sprache, Darmstadt 101994; 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 91994; 3. Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 10 1994 (Nachdrucke). 34 Auch im Titel des fast zeitgleich mit Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz erschienenen Werks von W. A. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940 (21941), klingt die Überzeugung vom Mythos als einer überwundenen geistigen Form durch.
4. Mythosverständnis und Narratologie
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numinosen Ereignissen, von Materialität und Immaterialität neu wahrgenommen. Spirituelles und Körperliches bilden nach mythischer Weltanschauung eine Einheit. Die auslösenden Ursachen für körperliche Defekte liegen auf spiritueller Ebene. Numinose Mächte nehmen Einfluss auf die empirisch vorfindliche Welt. Durchweg führt der Erkenntnisweg von den Ursachen im spirituell-numinosen Bereich zu den Wirkungen in materiell-körperlicher Hinsicht. Für den Umgang mit neutestamentlichen Wundererzählungen sind daraus zwei Folgerungen zu ziehen: 1. Die Exegese sollte sich von ihren impliziten mythoskritischen Voraussetzungen lösen und die Gesetzmäßigkeiten mythischer Rationalität zu ihrem Recht kommen lassen. 2. Die theologiegeschichtlich erklärbaren christologischen Vorgaben sollten nicht reflexartig zum Horizont der Auslegung erhoben werden. Darüber hinaus erweisen sich vor allem zwei Einsichten aus der Erzähltheorie als weiterführend. Erstens ist das Verhältnis von Erzählerstimme und Figurenrede in den Erzählungen sachgemäß zu bestimmen; und zweitens ist auf die Relation zwischen erzählter Welt und Erzählwelt einzugehen. Gemeint ist damit die Beziehung zwischen der Welt, die der Erzähler mit seinem literarischen Werk kreiert und der Welt, in der dieses Werk literarisch entsteht. Für die Interpretation der Erzählungen hat die traditionelle Aufsplittung der Texte in Tradition und Redaktion schwerwiegende Folgen hervorgerufen. Denn auf diese Weise wurde auseinanderdividiert, was die erzählerische Integrität der Gesamtepisoden ausmacht. Der sachliche Vorrang der Wort‑ vor der Erzählüberlieferung wurde als historisch-chronologischer Vorsprung der Figurenrede vor der Erzählerstimme gewertet. Die erhobenen Teiltexte wurden daraufhin in eine zeitliche Abfolge gestellt und mit außertextlichen – postulierten – theologischen Anforderungen neu kontextualisiert. Während im Inneren der Perikopen die handelnden Personen und deren Perspektiven dominieren, meldet sich in den Rahmenversen besonders intensiv die Erzählerstimme zu Wort. Die wichtige Erzählerperspektive erklingt auch in der Stoffanordnung und in den kommentierenden Zwischenbemerkungen, also an all’ den Stellen, die für nichtursprüngliche Redaktion erklärt und als sekundär ausgeschieden wurden. Eine zentrale Erkenntnis der Erzähltheorie besteht demgegenüber darin, Erzählerperspektive und Figurenrede gerade nicht auseinanderzulegen. Beides ist in seiner Verwobenheit wahrzunehmen.35 Nach
35 M. Martinez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, besonders 63–67.78–89; J. Vogt, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, Paderborn 102008, 144–158; M. Fludernik, Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt 22008, 47–50.78–79; vgl. I. Müllner, Zeit, Raum, Figuren, Blick. Hermeneutische und methodische Grundlagen der Analyse biblischer Erzähltexte, PZB 15 (2006), 1–24, 8–14.
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P. Ricœur ist der Erzähltext geradezu die „Rede eines Erzählers, der berichtet, was seine Figuren sagen“.36 Ebenfalls nicht statthaft ist es, das Zusammenfließen von erzählter Welt und Erzählwelt in eine chronologische Abfolge zu zergliedern. Statt mit der Jesuszeit und der Zeit des Evangelisten zwei historische Ebenen einzuziehen, ist die Konstruktion der erzählten Welt von den Bedingungen der Erzählwelt her zu interpretieren. Realisieren wir, dass neben den erzähltheoretischen Einwänden die Scheidung von Tradition und Redaktion von der theologischen Hoffnung auf einen historisch fassbaren goldenen Anfang in der Geschichte Jesu getrieben war, erscheint es an der Zeit, diese Weichenstellung als methodische Voraussetzung aufzugeben.37
5. Exegetische Fallbeispiele 5.1 Mk 2,1–12: Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter Eine der Geschichten, bei der die form‑ und redaktionsgeschichtliche Analyse geradezu kanonische Geltung erlangt hat, ist die Erzählung von der Heilung eines gelähmten und vieler erstarrter Menschen in Mk 2,1–12. Nach form‑ und redaktionsgeschichtlicher Auffassung sind in diesen zwölf Versen zwei Kurzerzählungen und ein Logion zusammengeflossen. Im Zuge des Überlieferungsprozesses seien eine ursprüngliche Wundererzählung, die Verse 1–5 resp. 5a plus Vers 11 und 12, mit einem unselbstständigen Streitgespräch, den Versen 6 bzw. 5b bis 10, zusammengefügt worden. Dabei habe der Auslöser für das aufgesetzte Streitgespräch in dem ehemals selbstständig umlaufenden Logion V. 10 gelegen. Der ursprüngliche Anfang der Erzählung sei nicht mehr genau auszumachen. In V. 1 und 2 hätten sich Tradition und Redaktion zu einem nicht mehr entwirrbaren Knäuel verstrickt. Der eigentliche Handlungsbeginn liege in V. 3.38 36 P. Ricœur, Zeit und Erzählung, Band 2: Zeit und literarische Erzählung, München 1989, 150; vgl. zur Sache Martinez / S cheffel, Erzähltheorie (s. Anm. 35), 51. 37 Auch der synoptische Vergleich ist davon nicht ausgenommen. Denn zwar lässt sich am Text nachweisen, wo Matthäus und Lukas sich auf Markus bezogen haben und wo nicht. Aber selbst da, wo die Integration von Markusstoff via Zitat erfolgt, liegt eine Matthäisierung bzw. Lukanisierung der Tradition vor, so dass auch diese Textteile als von Mt bzw. Lk integrierte, d. h. ihren Erzählregeln eingepasste, wahrzunehmen sind. Dies gilt im Bereich der Wundererzählungen in besonderer Weise gerade auch für verschwiegene Texte, d. h. solche, die von den beiden Seitenreferenten mit Gründen nicht überliefert wurden. 38 Vgl. auch die zusammenfassende Übersicht bei W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 112–113, und die methodisch detaillierte Bearbeitung der Perikope bei M. Ebner / B. Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis, Paderborn 2005, 166–177. Zur Debatte über die literarische Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit der Perikope in der älteren Forschung vgl.
5. Exegetische Fallbeispiele
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Demnach hätten wir es in Mk 2,1–12 mit einem dreistufigen Entstehungsvorgang zu tun. Auf welchen zeitlichen und gemeindlichen Ebenen dieses Wachstum zu denken sei, unterliegt einer gewissen Variationsbreite. Der Wunderkern wird in der Regel einer frühen kreativen Gemeindebildung zugeschrieben. Die Einarbeitung des Streitgesprächs von V. 5b bzw. 6–9 im Verbund mit dem ehemals eigenständigen Menschensohnlogion wird einer vormarkinischen39 oder – so zumeist – einer markinischen Redaktion40 zugewiesen. Die weltbildlichen Implikationen dieses Erklärungsmodells liegen auf der Hand. Am Anfang stand der noch unreife Mirakelglaube einer frühen Urgemeinde. Ihm begegnete mit dem Logion von der Vollmacht Jesu eine steile christologische Position. Unterchristlicher Glaube an die magische Kraft eines als Wundertäter missverstandenen Jesus und ein solennes christologisch begründetes Bekenntnis zur Vollmacht des titular gewürdigten Menschensohnes treffen aufeinander. Am pointiertesten hat Weeden den Kampf zwischen Ketzerei und Orthodoxie, der hier zum Austrag komme, auf den Punkt gebracht. „The Heresy that Necessitated Mark’s Gospel“41 bestand in eben jenem mirakulösen Missverständnis der Person Jesu. Die christologisch gereifte Stufe der redaktionellen Bearbeitung habe diesen faux pas ausmerzen können. Sie habe das Jesusbild mittels der aus der Wortüberlieferung stammenden rechtgläubigen Christologie an die gesamtkirchlich vertretbare Position herangeführt. Die Implikationen, auf denen die theologisch-weltbildliche Basis des form‑ und redaktionsgeschichtlichen Zugangs beruht, bestehen im Ergebnis in der Abwertung des in Erzählung gefassten Mirakelglaubens als christologisch defizitärer Position bei gleichzeitiger Hochschätzung der in den Worten Jesu aufbewahrten christologisch korrekten Aussage. Weitere Beobachtungen sind hinzuzufügen. Das als ursprünglich isoliert umlaufend gedachte Logion von V. 10 rückt im Zuge der Überlieferungsgeschichte zur Pointe der Gesamterzählung auf.42 Darin spiegelt sich die Hochschätzung der Worte Jesu vor dem, was von ihm erzählt wird. Zudem ist in V. 10 die chrisI. Maisch, Die Heilung des Gelähmten, Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Untersuchung zu Mk 2,1–12, SBS 52, Stuttgart 1971, 21–48. 39 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 10), 12–13; A. J. B. Higgins, Son of Man – Forschung since „the teaching of Jesus“, in: A. J. B. Higgins (Ed.), New Testament Essays, FS Thomas W. Manson 1893–1958, Manchester 1959, 118–135, 126 ff.; H. W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium, StUNT 8, Göttingen 1971, 54; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Leipzig 1980, 96; Th.L. Budesheim, Jesus and the Disciples in Conflict with Judaism, ZNW 62 (1971), 190–209; A. J. Hultgren, Jesus and his Adversaries. The Form and Function of the Conflict Stories in the Synoptic Tradition, Minneapolis 1979, 107.108. 40 Koch, Wundererzählungen (s. Anm. 22), 49.50. 41 So der Originaltitel von Th.J. Weeden, The Heresy that Necessitated Mark’s Gospel, Univ. Diss. Claremont 1964 sowie ZNW 59 (1968), 145–168. 42 Koch, Wundererzählungen (s. Anm. 22), 50: „im Erweis dieser ἐξουσία liegt ja auch die Pointe der Gesamtkomposition von Mk 2 1–12 , die in v. 10 ihren Höhepunkt hat.“
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tologische Aussage begrifflich in die großen Substantive der Theologie gefasst: Vollmacht, Menschensohn, Sündenvergebung.43 Nicht beachtet wird freilich das in der Auslegung von Gleichnissen anerkannte Gesetz des Achtergewichts, wenn hier der Skopos relativ weit vor dem Ende der Erzählung liegen soll. Auch dass die zugrunde liegende Erzählung in den Versen 1–5 und 11–12 von Verben der Bewegung bestimmt ist, bleibt unberücksichtigt. In der Präferenz der Begrifflichkeit vor der Narrativität meldet sich freilich ein weiteres Axiom formgeschichtlicher Exegese zu Wort. Es besteht in dem vorausgesetzten Theologiebegriff. Theologie ist demzufolge begrifflich-definitorisch zu entfalten. Diese Überzeugung ist das Resultat einer theologiegeschichtlichen Entwicklung, die Bultmann ausdrücklich unterstützte. Narrative Entwürfe, etwa die der synoptischen Evangelien, galten diesem Denken als ein subtheologisches Stadium. Entsprechend hatte Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments nur Paulus und Johannes in den Elitekreis neutestamentlicher Theologen aufgenommen.44 Mit dem Mythos war im Laufe der Theologiegeschichte zugleich die Narrativität aus dem Theologiebegriff herausgelöst worden.
Eine weitere Vorentscheidung in der Auslegung von Mk 2,1–12 liegt in dem Vorrang der Figurenrede vor der Erzählerstimme. Die Erzählerstimme erscheint in den Auslegungen zusätzlich dadurch geschwächt, dass sie in die drei Teilstimmen der verschiedenen Überlieferungsebenen gesplittet wird. Der Endredaktor fügt diese zwar zusammen. Das Wesentliche ist aber bereits vor ihm gesagt worden, eigene Worte bleiben für ihn kaum noch übrig. Auch das Ineinander von erzählter Welt und Erzählwelt wird im Regelfall in mindestens zwei historische Phasen auseinandergelegt und im chronologischen Nacheinander behandelt. Dabei wird die in der Jesuszeit spielende Handlung um das Jahr 30 von der Gegenwart des Erzählers nach dem Jahre 70 getrennt. Der Zugang zu Mk 2,1–12 als einer geschlossenen Gesamterzählung45 lässt sich wie folgt skizzieren: Jesus wird in V. 2 als Verkünder des λόγος präsentiert. Zwei parallele Erzählstränge, die wechselseitig aufeinander bezogen sind, führen 43 Laut Gnilka, Markus II/1 (s. Anm. 39), 97, wird auf diese Weise eine „Menschensohnchristologie themenangebend“. 44 In der abendländischen Theologiegeschichte ging mit dieser Hochschätzung begrifflich definitorischer Rede eine Abwertung des Narrativen einher. Dies lag an der ursprünglichen Einheit von Narrativität und Mythos in der vorchristlichen Antike. Im Zuge der Ausbildung eines christlichen Theologiebegriffs hatte bereits die Alte Kirche den aus dem Kontext des Mythos stammenden Theologiebegriff aus solcher Umklammerung gelöst – freilich um den Preis, dass damit auch die Narrativität für die Theologie an Bedeutung verlor. Im Zuge der Entmythologisierung wurde von Bultmann der theologische Vorrang der Begrifflichkeit vor der Erzählung ein weiteres Mal festgeschrieben. Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas, in: Ch. Landmesser / A. Klein (Hg.), Kreuz und Weltbild. Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011, 47–65, bes. 47–55. 45 Zur Zusammengehörigkeit der Einzelelemente des Textes vgl. auch R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: G. Thomas / I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdis-
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ein gemeinsames Thema aus. Sie machen sinnfällig, worin der von Jesus geredete λόγος besteht. Ein körperlich gelähmter Mensch und eine Gruppe spirituell und „dogmatisch“ verhärteter Schriftgelehrter werden von Jesus aus ihrer Erstarrung gelöst und in Bewegung gesetzt. Die körperliche Behinderung des einen und die geistliche Lähmung der anderen korrespondieren einander. Gleichzeitig wird auch die Körperbehinderung des einen in einen spirituellen Horizont eingezeichnet. V. 5 stellt mit dem Zuspruch der Sündenvergebung angesichts der körperlichen Paralyse den für den Mythos konstitutiven Zusammenhang her: Körperliche Probleme erfordern spirituelle Lösungen; denn Krankheit basiert auf einem Defekt im Verhältnis zum Numinosen. Parallel dazu findet die innere Abwehr der Schriftgelehrten ihre sichtbare Entsprechung in ihrer Körperhaltung. Regungslos und stumm sitzen sie da. Sie bieten ein Bild der Verstockung. Für die Auflösung der allgemeinen Paralyse gilt in umgekehrter Richtung: Mit der körperlichen Heilung geht eine entsprechende innere Haltung einher. Der Erzähler weiß in der direkten Umgebung der Tragbahre von einem Glauben zu berichten, der sich Jesus optisch erschließt: dem der vier Träger.46 Damit ist das Korrespondenzverhältnis gesichert. So wie Krankheit bzw. Behinderung und Sünde als spiritueller Defekt einen Sachzusammenhang darstellen, so in positiver geistlicher Hinsicht Vergebung und Glaube. Entsprechend kann daraufhin im mythischen Kontext erwartet werden, dass auch die körperliche Genesung folgen wird. Die Schriftgelehrten drängen zwar auf Unterscheidung der Ebenen. Eine pure Heilung würden sie Jesus vermutlich zubilligen, wenn er nur die spirituelle Hilfeleistung der Sündenvergebung unterließe. Sie wollen zwischen materieller und spiritueller Hilfeleistung trennen. Streng genommen betreiben sie damit Entmythisierung. Aber die Erzählung hält an der Zusammengehörigkeit beider Dimensionen fest. Entsprechend muss sich die vollzogene Heilung bei dem Gelähmten auch bei den Schriftgelehrten in einer korrespondierenden Weise äußern. Wie die spirituelle Heilung qua Sündenvergebung bei dem Gelähmten spiegelbildlich den Nachweis auf körperlicher Ebene verlangt, ist analog die Überführung der geistlichen Verhärtung der Schriftgelehrten in eine körperliche Bewegung zu erwarten. V. 12 verleiht der Erzählung genau diese Pointe. Gängigen Erzählgesetzen folgend kommt der Höhepunkt zum Schluss. Sämtliche Anwesende geraten in Bewegung. Zunächst ergreift der Gelähmte seine Bahre und geht davon. Dann ziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246, 237–242, bes. 241 sowie Zimmermann, Wundererzählungen (s. Anm. 9), 29. 46 Die Debatte, ob hier ein christologisch defizitärer Glaubensbegriff im Sinne eines primitiven Zutrauens zu Jesus als Wundertäter zugrunde liegt oder ob bereits eine Christologie im Vollsinn durchscheint, ist obsolet. Sie setzt das in Stufen erfolgende Wachstum der Tradition und deren Entwicklung bereits voraus. Im mythischen Zusammenhang fallen das Zutrauen in die Person wie in deren außerordentliche Kraft ineinander.
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geraten alle Übrigen außer sich. Sie finden ihre Erlösung im gemeinsamen ἐξίστασθαι und im Gotteslob. Um wen es sich bei „allen“ handelt und vor allem, um wen nicht, ist kontrovers erörtert worden.47 Einer ist jedenfalls nicht mehr dabei, u.z. ausgerechnet der ehemals Gelähmte. Er ist bereits vor aller Augen davongegangen. Seine Herausnahme aus der Handlung erfolgt erzähllogisch zu Recht. Denn seine geistliche und körperliche Heilung ist schon erfolgt. Die der übrigen Personen der Handlung steht dagegen noch aus. Sie folgt in V. 12 auf dem Fuße. Die Erzählerstimme bereitet die Pointierung der Erzählung mit der leiblichspirituellen Heilung aller Beteiligten im Schlussvers 12 vor. Angesichts des seines intakten Gottesverhältnisses vergewisserten Ex-Gelähmten geraten ehemals spirituell verhärtete Menschen in Bewegung. Sie vereinen sich im gemeinsamen Gotteslob. In V. 5b und V. 10 hat sich die Erzählerstimme bereits zweimal gleichlautend zu Wort gemeldet. Beim ersten Mal zitiert sie Jesus unmittelbar und lässt ihn in V. 5b direkt sein Vergebungswort aussprechen. Beim zweiten Mal führt sie zu Beginn von V. 11 eine weitere Zitationsformel an. Mit ihr wird als Zitat im Zitat noch nachdrücklicher Jesus selbst zu Worte gebracht. Das doppelte Arrangement hebt hervor, wie die Figurenrede in den Dienst der Erzählerstimme gestellt wird. Die Erzählerstimme hält mittels der Figurenrede beide Erzählstränge in der Balance. Sie lässt Jesus beides sagen: Das immateriell-geistig-geistlich Relevante und das körperlich Bedeutsame. Damit ist auch die Frage von V. 9 als Scheinalternative aufgedeckt. Ob die Vergebung oder die Heilung als leichter erachtet wird, mag eine Frage des Standpunkts sein. Für die Jesusfigur des Markusevangeliums ist entscheidend, dass sie das eine mit dem anderen vollzieht. Der λόγος, den Jesus laut V. 2 verkündet, zielt auf die leibliche und die geistliche Heilung der geschilderten Personen. Beide Dimensionen bilden eine Einheit, Wunder und Verkündigung werden verschränkt,48 die Rückführung in das Gottesverhältnis führt zu neuer Bewegung im umfassenden Sinn. Im Blick auf das Verhältnis von erzählter Welt und Erzählwelt ist festzuhalten: Die Auseinandersetzung um Sünde und Vergebung, um Glaube und Heilung wird in Mk 2,1–12 als Erzählung über den Jesus der Zeit um 30 entfaltet. Auf der Ebene des Markusevangeliums als eines literarischen Werkes der 70er Jahre fällt dieser Szene die Rolle einer ätiologischen Erzählung zu. Die markinische Gemeinde begründet in 2,1–3,6 die theologischen und ethischen Normen, die in der christlichen Gemeinde Geltung erlangt haben. Mittels einer Jesuserzäh47 Bultmann war – im Rahmen seiner formgeschichtlichen Konstruktion völlig stringent – der Auffassung, „alle“ meine natürlich „alle, ohne die Schriftgelehrten“; denn diese gehörten ja nach formgeschichtlicher Überzeugung nicht zur ursprünglichen Erzählung. Vgl. Bultmann, Geschichte (s. Anm. 10), 12. Die gleiche Auffassung vertritt trotz seines Plädoyers für die Einheitlichkeit der Perikope auch Zimmermann, Krankheit (s. Anm. 45), 238. 48 Ähnlich Ebner / Heininger, Exegese (s. Anm. 17), 176–177, nach deren Darstellung das Wunder der Lehre Jesu zugeordnet wird. „Jesu Wunderwirken ist integraler Bestandteil seiner Lehre ‚in Vollmacht‘.“ (177).
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lung fundiert der Erzähler den gegenwärtig erreichten Erkenntnisstand. Jesus vergewissert einen körperbehinderten Mann des Fortbestandes seiner verloren geglaubten Gottesgemeinschaft und löst die spirituelle Verhärtung einer Gruppe schriftkundiger Gelehrter im Gotteslob auf. Nicht die hoheitlich-personale Christologie, wie die Form‑ und Redaktionsgeschichte meinte, ist das Thema der Erzählung. Der verkündigte Jesus des Markusevangeliums steht für eine Christologie, deren Pointe in einer soteriologisch perspektivierten Theo-logie liegt.49 5.2 In Stufen zur Einsicht: Die Blindenheilung in Mk 8,22–26 Die Drastik der Erzählung von der Blindenheilung in Mk 8,22–26 hat seit frühester Zeit die Ausleger in Verlegenheit gebracht. Schließlich rückt Jesus mit seinem Verhalten in die Nähe eines zweitklassigen antiken Scharlatans.50 Die Massivität der magischen Praxis,51 die zögerlich wirkende Rückfrage, ob der Blinde schon etwas sehe, der Heilungsfortschritt in Etappen, der änigmatisch wirkende Schluss mit der Aufforderung, nach Hause, aber nicht ins Dorf zu gehen, haben wortreiche Erklärungen provoziert. Dabei beschleicht einen der Eindruck: Trotz aller Bemühungen scheint die Geschichte wegen ihrer Anstößigkeit schwer zu retten zu sein. Möglicherweise haben ja Matthäus und Lukas den konsequentesten Schluss aus dieser verzwickten Situation gezogen, indem sie ihrer Leserschaft die Erzählung kurzerhand ersparten. So war Jesus nicht, lautet ihre schweigende Botschaft. Die dekontextualisierende formgeschichtliche Exegese hat die Erzählung zunächst in gewohnter Weise isoliert.52 Die gattungstypischen Merkmale sind schnell ausgemacht: Nach dem redaktionellen Einleitungsvers 22, der „die Einzelgeschichten in den geographischen und chronologischen Zusammenhang fügt“,53 erfolgt die Begegnung zwischen dem „bearer of numinous power“, hier Jesus, und dem Hilfebedürftigen, der an einem „initial lack“ leidet.54 Dieser Mangel wird durch den Träger göttlicher Macht beseitigt. Separierung des Kranken, wunderwirkender Gestus, Ansprache des Hilfebedürftigen folgen als weitere
49 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik 6), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 235–247, 238. 50 Vgl. M. Frenschkowski, Art. Magie, RAC 23 (2009), 858–957, 917. 51 Vgl. F. Wiggermann, Art. Magie, Magier I. Alter Orient, DNP 7 (1999), 657–661, 657. 52 In einem nächsten Schritt wurde die Erzählung dann sehr schnell neben Mk 7,31–37 gestellt. Vgl. Eckey, Markusevangelium (s. Anm. 38), 279. Schon bei Bultmann, Geschichte (s. Anm. 10), 228, gilt sie vom Typ her als „Variante“ der Taubstummenheilung. Gnilka, Markus II/1 (s. Anm. 39), 296, bezeichnet die beiden Erzählungen als „Doppelüberlieferung“. Schon E. Wendling, Die Entstehung des Marcus-Evangeliums. Philologische Untersuchungen, Tübingen 1908, 77–78, spricht von einem „Zwillingspaar“. 53 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 10), 227. 54 Kahl, Miracle Stories (s. Anm. 17), 77.154 u. ö.
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gattungstypische Züge.55 Die Feststellung der Teilheilung und die Nachbesserung durch den Wundertäter haben hingegen eher als gattungsuntypische Individualisierungen zu gelten.56 Mit der Feststellung des Heilungserfolgs in V. 25 schert die Erzählung auf der Zielgeraden aber wieder in das Gattungsschema ein. Dass der Redaktor Markus an den ursprünglichen Abschluss in V. 26a noch „sein Schweigegebot“ in V. 26b anfügt,57 stellt unter formgeschichtlichen Auspizien den Anschluss an das christologische Thema sicher. Die Rekontextualisierung der Erzählung erfolgt damit auf vertraute Weise. Das Heilungswunder wird in die Geschichte der sich entwickelnden Christologie eingezeichnet. Es hat seinen Ursprung in der unter propagandistischen Anforderungen stehenden missionarischen Ausgangssituation der frühen nachösterlichen Gemeinde. Dort besitzt es seinen gattungscharakteristischen „Sitz im Leben“. Das christologische Dilemma, das Jesus in einer Rolle zeigt, die unter der Maßgabe einer steilen Christologie als theologisch defizitär anzusehen ist, wird durch Adaption der Wredeschen Geheimnistheorie zu mildern gesucht.58 Konkret bedeutet dies: Jesus erscheint in der Grundstufe der Perikope zwar als eine Art Magier. Seine Qualität liegt hier in seiner Zauberkraft. Aber die sachgemäße – d. h. dialektisch-theologischen Prämissen entsprechende – Uminterpretation der Messiasgeheimnistheorie auf die Anforderungen der Kerygmatheologie hin vermag diesen Jesus für die christliche Verkündigung zu retten.59 Die dialektischtheologisch gewendete Messiasgeheimnistheorie versteht die Christusfigur exklusiv von Kreuz und Auferstehung her als vollgültig. Entsprechend kommt auch an dieser Geschichte der von Weeden indizierte Kampf zwischen häretischer und rechtgläubiger Christologie im frühen Christentum zum Austrag. Die Auslegungsgeschichte von Mk 8,22–26 ist ein Exempel dafür, was geschieht, wenn eine Erzählung als Quellentext für zeitgeschichtliche Ereignisse ausgelegt wird. Der Text dient dann zur Klärung eines im Hintergrund schwelenden historischen Konflikts. In diesem Fall wird die Textauslegung zur Begehung des Schauplatzes vergangener christologischer Kämpfe. Die als anstößig empfundene magische Handlung Jesu, die in einer frühen Gemeindeüberlieferung unbefangen tradiert wurde, wird von einer späteren Gruppe zu domestizieren Vgl. Kahl, Miracle Stories (s. Anm. 17), 106–107. Kahl, Miracle Stories (s. Anm. 17), 158, verweist als Analogie zu dem gestuften Heilungserfolg in Mk 8,22–26 auf die Elisa-Episode in 2 Kön 4,34–35a. 57 So Bultmann, Geschichte (s. Anm. 10), 228. 58 Zur Anpassung der Hypothese vom Messiasgeheimnis in der Forschungsgeschichte vgl. G. Van Oyen, De studie van de Marcusredactie in de twintigste eeuw, VVAW.L 147, Brussel 1993, 150–159.236–259. 59 Vgl. den entsprechenden Kommentar von Frey, Wunder Jesu (s. Anm. 8), 6, Anm. 17 zu den drei Untersuchungen von L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, SBB 5, Stuttgart 1974; D.-A. Koch, Wundererzählungen (s. Anm. 22); K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, StANT 23, München 1977. 55 56
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versucht. In Stufen wird sie einem als angemessen angesehenen christologischen Konzept integriert. Spätestens mit Markus sei eine akzeptable Form erreicht. Beim Blick auf die Gestaltung der erzählten Handlung fällt auf: Viele Verben durchziehen den Text. Sie dominieren gegenüber den Substantiven. Sie bringen Dynamik in die Erzählung. Die großen theologischen Begriffe fehlen. Die Botschaft der Episode wird offenkundig nicht begrifflich, sondern narrativ vermittelt. In der Präsentation der erzählten Welt spielen der Raum und die Richtungen bzw. die Richtungsänderungen eine signifikante Rolle. Das ist im Kontext einer mythischen Weltsicht von Belang. Es ist auch soziologisch von Bedeutung. Um die Bedeutung von Raumwechseln in literarischen Texten aufzuzeigen, lässt sich die Geschichte experimentell in Jurij Lotmans Grenzüberschreitungstheorie einzeichnen.60 Der Protagonist, hier Jesus, kommt von irgendwoher und betritt einen Gegenraum, in diesem Fall den Ort Bethsaida. Nun bestehen zwei Optionen. Möglichkeit eins liegt darin, dass der Protagonist durch eine besondere Aktion die Ordnung des Gegenraums verletzt und anschließend in seinen Herkunftsraum zurückkehrt. Damit kommt es zu einer temporären Störung des Gleichgewichts der Ordnung des Gegenraums. Allerdings bleibt mit dem Verlassen des Raumes dessen Ordnung genauso wie die Ordnung des Ausgangsraumes erhalten. Die zweite theoretische Möglichkeit besteht darin, dass der Protagonist mit dem Betreten des Gegenraumes sich dessen Ordnung unterwirft. Die Ordnung des Ausgangsraumes würde dann im Gegenraum außer Kraft gesetzt und durch die Ordnung des neuen Raumes ersetzt. Diese beiden Vorgehensweisen heißen bei Lotman restitutive Grenzüberschreitungen. Im Gegensatz dazu steht eine dritte Möglichkeit, die sog. revolutionäre Grenzüberschreitung. Bei dieser kommt es zu einer Raumtransformation. Sie beruht auf einer Tilgung der herrschenden Ordnung bzw. einer Raumzerstörung. Dabei werden Grenzen neu festgelegt, alte Trennungen aufgehoben, ein neuer Gesamtraum entsteht. Für Mk 8,22–26 gilt freilich: Keine dieser drei Behandlungen des Raumes liegt vor. Vielmehr zeigt sich in der markinischen Raumgestaltung eine vierte Variante.
Jesus nimmt in Bethsaida, dem Dorf, in das er mit seinen Begleitern kommt, den Blinden bei der Hand und führt ihn aus dem Ort heraus. Nicht klar ist freilich, ob der Blinde von außerhalb des Dorfes zu ihm gebracht wird oder ob er einer der Dorfbewohner ist. Da nach mythischer Auffassung Ort und Befindlichkeit, Raum und Personenidentität eine Einheit darstellen – der Ort ist konstitutiv für das, was und wer jemand ist – deutet die Herausführung in jedem Fall auf einen Wandel der Situation voraus. An anderem Ort, so die Vorstellung, kann der Blinde jemand anderer werden. Gleich in siebenfacher Weise tritt Jesus in Beziehung zu dem Blinden: Er ergreift seine Hand, er führt ihn aus dem Dorf, er spuckt in seine Augen, er legt 60 Vgl. J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. v. R.-D. Keil, München 41993, 327– 329. Zur Darstellung der Position Lotmans vgl. U. E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie, NTOA / StUNT 58, Fribourg / Göttingen 2006, 127–130; vgl. ebenfalls Martinez / S cheffel, Erzähltheorie (s. Anm. 35), 140–144.
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ihm die Hände auf, er spricht ihn an, er legt ihm noch einmal die Hände auf. Abschließend schickt er ihn mit einer Aufforderung nach Haus. Der Gestus der Handauflegung wie die magische Verwendung des Speichels stehen dabei unter der Voraussetzung des Gedankens einer physischen Kraftübertragung vom Heiler auf den zu Heilenden. Diese Vorstellung gehört in das Repertoire der sympathetischen Magie. Die Heilung resultiert aus der Herstellung eines körperlichen Kontaktes, durch den ein Kraftfluss möglich wird.61 Zur vollständigen Herstellung der Sehfähigkeit kommt es erst im zweiten Anlauf. Nach dem Teilerfolg der ersten Phase stellt sich das vollständige Sehvermögen erst nach einer nochmaligen Bemühung Jesu ein. Die Heilung erfolgt in der Distanz zu dem Ort, an dem der Blinde in die Handlung eintrat. Unabhängig davon, ob er aus dem Umland herangebracht wurde oder in Bethsaida lebte: An der Stelle, an der er in der erzählten Welt erstmals in Erscheinung tritt, ist er blind. Im Abstand zu diesem Ort erlangt er seine Sehkraft. Jesus kreiert durch seine Heilung also einen Heilungsort für den Blinden. Er führt ihn, mit Lotman gesprochen, aus dem Gegenraum in seinen, Jesu, Herkunftsraum. Dort ermöglicht er ihm ein Leben mit Sehfähigkeit. An dem für den Blinden neuen Ort werden ihm in der Jesusbegegnung die Augen geöffnet. Mythischer Logik entsprechend soll der Geheilte nicht an den alten Ort seiner Blindheit zurückkehren. Da die Inhalte an den Orten und den Richtungen hängen, käme ein solcher Richtungswechsel einem Rückfall gleich.62 Das Dorf war der Ort der Orientierung in Blindheit. Dorthin gibt es kein Zurück.63 Mit der in der Jesusbegegnung am neuen Ort erlangten Sehfähigkeit kann der Geheilte an seinem häuslichen Ausgangspunkt einen Neuanfang beginnen. Als sehender Mensch kehrt er nach Hause zurück. Vom Dorf, seinem alten sozialen Kontext, in dem er ein Leben in Blindheit geführt hatte, soll er sich fernhalten.64 Einzugehen ist auf die Zweizahl, die das erzählte Geschehen begleitet. Die präpositionalen Wendungen ἔξω τῆς κώμης und εἰς τὴν κώμην markieren zwei Räume. Die wiederholte Bemühung Jesu um den Blinden sowie die Heilung in Etappen zeigen einen gestuften Zugang zur Erlangung der Sehfähigkeit. Das Doppelungsmotiv ist signifikant auch für die textliche Umgebung der Periko61 Kraftübertragung und Heilungsfluss sind an materielle Vermittlung geknüpft. Immaterielles, Geistiges, Spirituelles verbinden sich mit Materiellem, Leiblichem, Sichtbarem zu einer Einheit. Zu den mythischen Verknüpfungen vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II (s. Anm. 33), 67–69. 62 Lotman, Struktur (s. Anm. 60), 329, spricht von der „Polyphonie der Räume, ein(em) Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung“. 63 Das Haus des ehemals Blinden ist dann vermutlich nicht im Dorf zu denken. 64 Jesus schafft mit seiner Zuwendung zu einem Blinden einen heilsamen Raum in der Distanz zu dessen vormaliger Lebenswelt. Zugespitzt lässt sich diese Erzählung einer wundersamen Heilung als eine christliche (Neu‑) Schöpfungserzählung bezeichnen. Zur Auslegung vgl. auch P.-G. Klumbies, In Stufen zur Einsicht. Die Blindenheilung Mk 8,22–26, in: J. Heumann (Hg.), Biblische Geschichten erlebt, erzählt, gedeutet für Schule, Kirche, Erwachsenenbildung, FS Horst Heinemann, Oldenburg 2006, 52–56.
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pe. Der methodischen Vorentscheidung entsprechend, die Wundererzählung auf den Kontext bezogen zu interpretieren, ist die Relation von Mk 8,22–26 zu Mk 8,1–21 und 8,27–33 zu bestimmen. Wieder und wieder versucht Jesus, Menschen zur Erkenntnis seiner Person und Mission und in die Gemeinschaft mit Gott zu bringen. Nach Mk 8,1–10 speist er 4000 Menschen. Nachdem er in 6,30–44 schon 5000 Menschen gesättigt hat, vollzieht er bereits seine zweite Massenspeisung. Alle diese tausende Personen erhalten Brot in Fülle65 – aber sie erkennen Jesus nicht. Schon beim ersten Gegenwind auf ihrer Fahrt über den See halten seine eigenen Jünger Jesus für ein Gespenst (6,45–52). Nach der zweiten Großspeisung gilt ihre primäre Sorge ihren fehlenden Brotreserven. Dass sie jedoch das eine Brot bei sich im Boot haben (8,14), begreifen sie nicht.66 Der Verständnislosigkeit der Jünger Jesu korrespondiert die Reaktion einer zweiten Gruppe von Zeugen des großartigen Wirkens Jesu. Geradezu absurd erscheint deren Verhalten. Soeben hat Jesus die Speisung der 4000 beendet, da lässt der Erzähler nach einer Kurzinformation über eine neuerliche Bootsfahrt Jesu und seine Ankunft in Dalmanutha (8,10) Pharisäer an Jesus herantreten. Mit ihrer Forderung nach einem Zeichen bilden sie auf der Ebene der handelnden Personen die zweite Gruppe, die überzeugt werden muss (8,11–13). Für die Leserschaft muss ihre direkt im Anschluss an die zuvor geschehene Großtat Jesu geschilderte Ignoranz grotesk erscheinen.67 Kein Wunder, dass Jesus mit einem Stoßseufzer (8,12) die Vergeblichkeit seiner Bemühungen artikuliert. Auch der auf die Blindenheilung folgende theologische Höhepunkt des Markusevangeliums in 8,27–33 greift die Zweizahl auf und enthält einen signifikanten Richtungswechsel. Auf Jesu Frage an die Jünger, für wen ihn die Leute halten, folgt ein Bündel von drei – unzutreffenden – Antworten. Diese dokumentieren das Nichtbegreifen der in dieser Gruppe genannten Personen. Als Jesus daraufhin seine Jünger als „die andere Gruppe“ befragt, gibt Petrus die sachgemäße Antwort: „Du bist der Christus!“ Jesus verwahrt sich jedoch dagegen, im Status der Erhöhung bekannt gemacht zu werden und weist die Aussage zurück. Petrus wiederum lässt dies nicht gelten und widerspricht. Dazu nimmt er, Petrus, in 8,32 Jesus als den vermeintlich Blinden beiseite. Jesu schroffe Zurückweisung verbindet sich mit einer körperlichen Umwendung. Petrus spricht das aus, was hinter Jesus liegt. Er verkörpert den Rückfall. Aus ihm spricht der Satan. Zwar hat Petrus Richtiges erkannt. Vollständige Klarheit des Blickes aber, so Jesus, 65 Dem Verhältnis von Brot‑ und Fischmotiv in der Überlieferung geht U. H. J. Körtner, Das Fischmotiv im Speisungswunder, ZNW 75 (1984), 24–35, 31–33, nach. 66 R. von Bendemann, Sehen und Verstehen (Die zweiphasige Heilung des namenlosen Blinden) Mk 8,22–26, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 341–349, 347. 67 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass sie sich innerhalb der erzählten Welt auf der anderen Seite des Sees befinden.
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bedeutet, unter einer österlichen Perspektive das Leiden des Menschensohns in die Wahrnehmung seiner Person zu integrieren.68 Nicht dass Jesus über herausragende ärztliche Qualitäten verfügt,69 nicht die Sprengung der Kausalketten durch eine für undenkbar gehaltene Wunderheilung macht die Besonderheit der Erzählung von der Heilung eines Blinden aus. Das wunderbare Ereignis in Mk 8,1–33 besteht darin, dass Jesus unermüdlich im Einsatz ist, spirituell verblendeten Menschen und einem körperlich Blinden die Augen zu öffnen. Er müht sich wieder und wieder, sie zur Christuserkenntnis und einem Leben mit neuer Sehfähigkeit zu bringen. Im Verbund mit dem Erzähler versucht der markinische Jesus, eine Optik für den Niedrigkeitsaspekt des Christusbekenntnisses zu vermitteln. Die soteriologische Absicht steuert die Vermittlung des christologischen Themas. Wie schon in Mk 2,12 stehen in Mk 8,22–26 die spirituelle und die materiellkörperliche Seite des Geschehens in direktem Zusammenhang. Doch während in Mk 2,1–12 diese Parallelführung innerhalb der Erzählung festzustellen war, verläuft in Mk 8,22–26 der flankierende Strang im textlichen Umfeld der Erzählung.
6. Konsequenzen für die Synoptikerexegese Dekontextualisierung, historische und christologische Rekontextualisierung in Realitäten hinter den Texten, Christologie vor soteriologischer Theo-logie und gegen Mirakelglauben, Substantive vor Verben, Begrifflichkeit vor Narrativität, Ausscheidung des Mythos aus dem Theologiebegriff, Domestizierung des Mythischen via Entmythologisierung, Figurenrede vor Erzählerstimme, Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen erzählter Welt und Erzählwelt: Diese Vorentscheidungen markieren die Grenze, die die Form‑ und Redaktionsgeschichte sich gesetzt hat. Angesichts dieser Situation legen sich drei vordringliche Konsequenzen nahe. Erstens: Die Auslegung der Wundererzählungen sollte die dem Mythos eigene Rationalität zur Geltung kommen lassen. Aus diesem Grund schlage ich vor, in der Markusexegese den Begriff „Wundererzählung“ durch den Ausdruck „mythische Sequenz“ zu ersetzen.70 Das Adjektiv „mythisch“ benennt die den 68 Vgl. Th. Söding, Die Saat des Evangeliums. Vor‑ und nachösterliche Mission im Markusevangelium, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Ed.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era, Tübingen 2013, 109–142, 127.134. 69 Kollmann, Jesus (s. Anm. 3), der sich vornehmlich für die Wahrscheinlichkeit der historischen Faktizität der Wundererzählungen interessiert, reduziert den Wert der Erzählung auf eine „Krankenheilungsanleitung“ für christliche Wundercharismatiker (236). 70 K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II 25.2 (1984), 1031– 1432, 1214, hat zwar mit Recht darauf hingewiesen, dass „‚Wunder‘ (…) kein Kriterium für eine Gattungseinteilung“ ist; und auch seine Feststellung, dass „Wunder“ die „moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses“ ist (Ders., Formgeschichte des Neuen Testaments,
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Erzählungen eignende fremde Rationalität. Es soll sie davor schützen, unmittelbar unter den Voraussetzungen aufgeklärter Rationalität interpretiert und von modernen Denkgepflogenheiten usurpiert zu werden. Das Substantiv „Sequenz“ soll der dekontextualisierenden Bearbeitung entgegenwirken. Es zielt darauf, die Einzelepisoden als Teile eines erzählerischen Gesamtentwurfs zu würdigen.71 Zweitens: Mit den Bestrebungen um die Rehabilitation der Narrativität als theologisch bedeutsamer Ausdrucksform ist ein Theologiebegriff zu entwickeln, der sich von der Exklusivität begrifflichen Denkens freimacht und den Mythos reintegriert. Drittens: Signifikant für mythische Sequenzen ist der parallel geführte Handlungsverlauf. Er lässt die geistlich-numinose und die materiell-körperliche Dimension ein und desselben Geschehens nebeneinander herlaufen und mündet in eine beide Stränge bündelnde Schlusspointierung. Diese Struktur legt für das Markusevangelium einen Blick auf das Verhältnis der mythischen Sequenzen zu den Gleichniserzählungen nahe. Beide Textsorten liegen im Markusevangelium näher beieinander als die separierende Betrachtungsweise dies bisher wahrnimmt.72
Heidelberg 1984, 305), trifft teilweise zu. Gleichwohl lösen sich die Erzählungen damit nicht, wie Berger postuliert, in der Diversität anderer Gattungen auf. W. Kahl, The Numinous Dimension in New Testament Narratives. Reorienting Miracle Research, in: A. Weissenrieder / G. Etzelmüller (Ed.), Religion and Illness, Eugene 2016, 358–395, kritisiert zu Recht, dass in der traditionellen Exegese von Wundererzählungen das diesen Überlieferungen innewohnende eigene Wirklichkeitsverständnis nicht adäquat Berücksichtigung findet (359–360). Auch diene das deutsche Wort „Wunder“ als unpräziser „‚umbrella term‘“ (363). 71 Der Terminus „mythische Sequenz“ ist weiter gefasst als die traditionelle Bezeichnung „Wundererzählung“. Zur Einführung der Begrifflichkeit s. Klumbies, Mythos (s. Anm. 2), 252. Mit dem Begriff „mythische Sequenz“ können im Markusevangelium auch Erzählungen erfasst werden, die ansonsten anderen Gattungen zugeordnet werden, wie beispielsweise die Erzählungen von der Taufe und der Verklärung Jesu in Mk 1,9–11 und 9,2–10. 72 In diesem Zusammenhang ist neu auf das Verhältnis von Mythos und Metapher einzugehen. – Zum Verhältnis der Textsorten zueinander vgl. auch A. Lindemann, Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 346–367, demzufolge „die als Wundererzählungen bezeichneten Geschichten literarisch nicht anders gestaltet sind als etwa die biographischen Apophthegmata oder auch bestimmte erzählende Gleichnisse“ (356).
Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter – Mk 2,1–12 (Mt 9,1–8; EvNik 6) The Healing of a Paralyzed Man – Mk 2:1–12 (Mt 9:1–8; EvNik 6) The literary-formalistic approaches to Mk 2:1–12 generally indicate the lack of consistency in the text. On the basis of the distinction between tradition and redaction, they divide the narrative into subtexts which assign them different phases of transmission. In contrast, the episode is interpreted as a conclusive story. The individual parts form a coherent context and highlight each other. It shows how Jesus succeeds in leading a physically paralyzed person back to a healing relationship with God.
(1) Und als er nach Tagen wiederum nach Kapharnaum hineinging, hörte man, dass er im Haus ist. (2) Und es versammelten sich viele, so dass kein Platz mehr war, auch nicht bei der Tür, und er redete zu ihnen das Wort. (3) Und sie kommen und bringen zu ihm einen Gelähmten, getragen von vieren. (4) Und weil sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menschenmenge, deckten sie das Dach ab, wo er war, und gruben es auf und lassen die Trage herab, auf der der Gelähmte lag. (5) Und als Jesus ihren Glauben sah, sagt er zu dem Gelähmten: „Kind, vergeben sind deine Sünden.“ (6) Es saßen aber etliche der Schriftgelehrten dort und überlegten in ihren Herzen: (7) „Was redet dieser so? Er lästert; wer kann Sünden vergeben außer einem – Gott?“ (8) Und sogleich als Jesus in seinem Geist erkannte, dass sie so bei sich selbst überlegen, sagt er zu ihnen: „Was überlegt ihr dieses in euren Herzen? (9) Was ist leichter – zu dem Gelähmten zu sagen: ‚Vergeben sind deine Sünden‘ oder zu sagen: ‚Steh auf und nimm deine Trage und geh umher?‘ (10) Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat Sünden zu vergeben auf der Erde“, sagt er zu dem Gelähmten: (11) „Ich sage dir, steh auf, nimm deine Trage und geh in dein Haus.“ (12) Und er stand auf und nahm sogleich die Trage und ging hinaus vor allen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen und sagten: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“
1. Sprachlich-narrative und pragmatische Analyse
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1. Sprachlich-narrative und pragmatische Analyse In Mk 2,1–12 liegt eine mythisch geprägte Erzählung vor. In ihr bilden der körperliche und der spirituelle Zustand der Personen, zu denen Jesus in Beziehung tritt, eine Einheit. Die Person des Gelähmten befindet sich ebenso wie die Pharisäer und Schriftgelehrten in einem Erstarrungszustand, der eine körperliche und eine geistig-geistliche Ausdrucksseite besitzt. Die Einbindung der Erzählung in den Gesamtzusammenhang des Markusevangeliums wird bereits aus dem Einleitungsvers 1 ersichtlich. Das Subjekt des Satzes wird in der 3. Person Singular des Personalpronomens – „er“ – als bekannt vorausgesetzt. Jesus wird mit Selbstverständlichkeit als Protagonist der anschließenden Handlung eingeführt. Auch die Ortsangabe „Kapharnaum“ beinhaltet einen Rekurs auf zuvor Erzähltes. Sie verweist auf die Begebenheiten aus Mk 1,21–38: Die Vernichtung eines unreinen Geistes durch Jesus in der Synagoge von Kapharnaum (1,21–28), die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,29–31), die summarisch mitgeteilte Heilung vieler Kranker und das Zum-Schweigen-Bringen einer großen Zahl von Dämonen (1,32–34) sowie Jesu Rückzug in die Einsamkeit und seinen Entschluss zum Aufbruch in benachbarte Ortschaften, um dort zu verkündigen. Der Bezug auf diese Aufsehen erregenden Begebenheiten macht die Verbreitung der Kunde von seinem Aufenthalt in einem Haus in Kapharnaum – insinuiert wird möglicherweise, dass es sich wie in 1,29 um das Haus der Familie des Petrus handelt – und das Zusammenströmen der Menschenmenge plausibel. Ein großes Auditorium bildet das Forum für Jesus, der den λóγος verbreitet (V. 2). In dem Gedränge versuchen vier Männer, einen auf einer Bahre liegenden Gelähmten zu Jesus zu bringen. Unter erheblicher Anstrengung gelingt es ihnen, das Dach zu öffnen und die Trage vor Jesus herabzulassen. Dieser spricht dem Gelähmten, nachdem er optisch den Glauben der Träger konstatiert hat, die Vergebung seiner Sünden zu (V. 3–5). Die in V. 6.7 stumm vorgebrachte Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten bezieht sich auf die geistliche Handlung Jesu. Hätte Jesus den Gelähmten lediglich zum Gehen gebracht, wäre für seine Kritiker kein theologisches Problem entstanden. Besondere ärztliche Fähigkeiten hätten sie ihm durchaus zubilligen können. In der Sache stehen Jesu Gegner damit für einen mythoskritischen Einwand. Sie erwarten die Trennung von körperlicher und geistlicher Heilung. Jesus, der über die Gabe verfügt, in sie hineinzuschauen, geht auf ihren unausgesprochenen Vorwurf ein und nimmt ihn zum Anlass für eine Frage, die eine Alternative aufwirft (V. 9). Beide Hälften der Frage werden in Abhängigkeit von dem Verb „sagen“ gestellt. Ist es leichter, das eine zu sagen oder das andere? Die Antwort hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Ist die Realität des Vollzugs der Sündenvergebung vorausgesetzt, dann ist dieser Akt, der Gott allein zukommt, der Schwierigere. Nimmt man dagegen an, das Vergebungswort sei „nur“ eine
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verbale Äußerung, deren Wirklichkeitsabdeckung niemand überprüfen kann, wird die Heilungskompetenz zum Schwierigeren. In beiden Fällen gilt freilich: Wenn Jesus das eine von beidem vollziehen kann, sollte er auch das andere bewerkstelligen können. In der Erzählung tut Jesus parallel beides: Er sagt das eine (V. 5), und er sagt das andere (V. 11). Hat die formgeschichtliche Exegese in dieser Parallelführung nur eine Doppelung erblickt, die sie dazu verwendete, in V. 5 und V. 10 Einschnitte zwischen zwei Teiltexten auszumachen, so erscheint in der Gesamtinszenierung beides als Ausdrucksform von V. 2: „Er redetet zu ihnen das Wort“.1 Jesu Handeln besteht darin, das eine mit dem anderen zu sagen und es dadurch zu bewirken. Sein Reden findet seinen Ausdruck in einem verbalen Handeln, das zugleich ein faktisches Tun ist. Insofern lautet die Antwort auf die Frage von V. 9: Unter dem Gesichtspunkt des tatsächlichen Geschehens gehören beide Handlungen als die zwei Seiten einer Medaille zusammen. Folglich sind sie als gleich schwer anzusehen. Aus der Perspektive des markinischen Jesus handelt es sich bei diesem Heilungsvorgang um ein einziges Gesamtgeschehen. Ein körperlich gelähmter Mensch, der sich im Rahmen der weltanschaulichen Voraussetzungen der erzählten Welt des Markusevangeliums durch seine Körperbehinderung in geistlicher Hinsicht in Frage gestellt fühlen muss, wird seiner intakten Gottesbeziehung vergewissert. Die Zusage der Sündenvergebung geht mit der körperlichen Wiederherstellung einher (V. 12a). Wie geistliche und körperliche Gesundheit in der Person des Gelähmten eine Einheit bilden und sich die eine Seite in der anderen abbildet, so stehen auch bei der Personengruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten Körperliches und Geistliches in einem Korrespondenzverhältnis. Eingeführt werden die jüdischen Autoritäten unter Hinweis auf ihre Körperhaltung. Sie sitzen, und in ihrer Reglosigkeit bleiben sie zudem stumm. Mitgeteilt werden die Gedanken, die sie „in ihren Herzen“ bewegen (V. 6), die Abwehr gegenüber dem, was Jesus redet, und die Disqualifizierung seiner Worte als Gotteslästerung. Ihre unausgesprochene Rückfrage, die der Leserschaft über die Erzählerstimme zugänglich wird, ist ein Einwand gegen Jesu Verhalten: Wer kann Sünden vergeben außer einem, Gott (V. 7)? Sie bestreiten die Legitimität des Zuspruchs der Sündenvergebung durch Jesus. Wie gegenüber dem gelähmten Mann ist es Jesus, der Herzenskenner, der das Wort an sie richtet und die Kommunikation mit ihnen eröffnet (V. 8.9). Er knüpft an ihre Gedanken an und fragt sie laut nach der Begründung ihrer Haltung (V. 8).
1 Vgl. D. Dormeyer, „Narrative Analyse“ von Mk 2,1–12. Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung zwischen „Generativer Poetik“ und Didaktik neutestamentlicher Wundererzählungen, LingBib 31 (1974), 68–88, 82.
1. Sprachlich-narrative und pragmatische Analyse
137
Bewegungslos und schweigend verharren Pharisäer und Schriftgelehrte in ihrer theologisch motivierten Abwehr. In ihrer Verhärtung kommen sie dem vor Jesus liegenden Paralytischen gleich. Inhaltlich nehmen sie die Position ein, Gott vor einem nach ihrer Auffassung unerlaubten Übergriff durch Jesus zu schützen. Die Erzählung stilisiert sie zu Hütern der korrekten „Dogmatik“. Geistige Haltung und körperliches Erscheinungsbild entsprechen einander. Wie im Falle des körperlich Gelähmten wird auch von keinem der geistiggeistlich erstarrten Adressaten, an die Jesus das Wort richtet, eine Antwort gegeben. In der gesamten Szene bis einschließlich V. 11 bleibt Jesus der einzige, der spricht. Die Tatsache, dass die Erzählung mit V. 12b nach erfolgter Heilung des Gelähmten einen Fortgang nimmt, wird formgeschichtlich unter Hinweis auf einen gattungstypischen Zug erklärt. Hier liege der viel zitierte „Chorschluss“ vor2, der das zustimmende Urteil der Zuschauer zum Ausdruck bringe. Damit ist jedoch der inhaltliche Höhepunkt der Erzählung nicht hinreichend erfasst. Bultmann konnte sich mit der Aussage des Erzählers, demzufolge „alle“ außer sich gerieten und Gott lobten, nicht abfinden. Nach seiner Auffassung sind die jüdischen Autoritäten hierbei nicht mitzudenken.3 Hält man in formgeschichtlicher Logik V. 12 für den authentischen Abschluss der ehemals vermeintlich selbstständigen Wundergeschichte V. 1(3)–5 plus 11–12, ist dem Endredaktor in der Tat vorzuhalten, nach der Integration von V. 6–10 hier die Formulierung nicht dem neuen Zusammenhang entsprechend angepasst zu haben. Erblickt man gängigen Erzählgesetzen folgend die Pointe der Erzählung in dem Schlussvers 12, dann mündet die als Einheit gestaltete Szene4 in das gemeinsame Gotteslob von Kritikern wie Zuschauern.5 Sie vereinen sich im ekstatischen Lobpreis Gottes. Es ist Jesus gelungen, den Widerstand gegenüber dem λóγος aufzulösen. Nicht erstaunen kann, dass der Gelähmte bei diesem Finale nicht mehr dabei, sondern vor aller Augen davongegangen ist. Denn er hat seine geistlich-körperliche Heilung bereits erhalten. An seiner Person hat sich das Geschehen entzündet, das in der Heilung der Kritiker Jesu seine Vollendung findet. Die Erzählung stellt die Personen spiegelbildlich einander gegenüber. Der reglose Mann auf der Tragbahre wird seines bestehenden heilen Gottesverhältnisses vergewissert; und diese Zusage geht mit der Wiedergewinnung seiner körper2 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 54. 3 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 12; ebenso D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBS 43, Stuttgart 1999, 231. 4 Vgl. R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1– 12, in: G. Thomas / I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246, 241. 5 Ebenso P. Dschulnigg, Das Markusevangelium, ThKNT 2, Stuttgart 2007, 95.
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Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter
lichen Bewegungsfähigkeit einher. Zugleich wird die Ausgrenzung überwunden, der der Kranke als Sünder unterliegt.6 Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die unter Hinweis auf ihre reglose Körperhaltung in die Handlung eingeführt und anschließend durch ihre innere Erstarrung als geistlich defizient charakterisiert werden, geraten in V. 12b schließlich ebenfalls in Bewegung – in körperlicher wie geistlicher Hinsicht. Auch sie erscheinen als Integrierte, die in eine lebendige Gottesbeziehung zurückgeholt wurden. Die zentrale Thematik von Erstarrung und Bewegung wird durch das Gegenüber zweier gegensätzlicher Verbsorten in der Erzählung unterstrichen. Dominieren in der rahmenden Passage V. 3–5 und 11–12 Verben der Bewegung und erzeugen Dynamik, stehen in den Versen 6–10 Verben der Ruhe im Vordergrund. Bei Beachtung der mythischen Strukturierung der Erzählung tritt rückblickend auch die Bedeutung der Lokalisierung des Erzählten hervor. Zu den Besonderheiten des Raumes in literarischen Texten gehört, dass es keine nichtsemantisierten Räume gibt. Der Raum steht immer im Zusammenhang mit den erzählten Figuren. Seine Präsentation folgt „den Regeln und Gesetzmäßigkeiten des Werkes“ und ist mit Bedeutung behaftet. Die Interpretation fragt daher danach, was eine Raumangabe zur Charakterisierung der Personen und des dargestellten Geschehens beiträgt.7 Zu den besonderen Begleitumständen der in Mk 2,1–12 dargestellten Szene gehört die räumliche Umgebung. Das Geschehen spielt im abgeschlossenen Innenraum eines Hauses, das von außen nicht mehr zugänglich ist. Wegen der sich bereits am Eingang ballenden Menschenmenge ist kein regulärer Zutritt mehr möglich. Mit Mühe wird ein ungewöhnlicher Zugang über das Dach gebahnt. Die Handlung beginnt in einem Haus und führt mit dem Hinausgehen des geheilten Gelähmten ins Freie. Diese Raumkonzeption wirkt wie ein Spiegel des erzählten Geschehens. Die Erzählung handelt von der Verschlossenheit gegenüber dem λóγος Jesu und davon, wie es Jesus gelingt, diese aufzubrechen, indem er einen Zugang zu den körperlich und geistlich gelähmten Personen gewinnt, die mit ihren verhärteten religiös-theologischen Überzeugungen in abgeschlossenen Denkgebäuden leben. Jesu Einsatz, durch den er den Gelähmten seiner im Rahmen des Tun-ErgehenZusammenhangs verloren geglaubten Gottesgemeinschaft vergewissert, und sein Zugehen auf die Schriftgelehrten, die sich in der Fixierung auf ihr Gottesbild verkapselt haben, ist für den begrenzten Zeitraum dieser Erzählung von Erfolg gekrönt. Auch Jesus hat sich analog dem Engagement der Träger einen Zugang zu den in ihren geistig-geistlichen Räumen lebenden gelähmten bzw. erstarrten Per Zimmermann, Krankheit (s. Anm. 4), 244. S. Lahn / J.Ch. Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart / Weimar 2008, 248–252, Zitat 248. 6 7
2. Sozial‑ und realgeschichtlicher Hintergrund
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sonen der Erzählung verschafft. Entsprechend führt die Perspektive am Schluss aus dem umschlossenen Raum in die offene Außenwelt. Bezeichnenderweise ist dabei das in V. 1 genannte Haupthindernis für den freien Zugang zu Jesus, die Zusammenballung vieler Menschen schon im Eingangsbereich, in V. 12 im Blick auf das Hinausgehen kein Thema mehr. Fazit: In Mk 2,1–12 vergewissert Jesus einen gelähmten Mann seiner bleibenden Gottesgemeinschaft und führt eine Gruppe von Menschen, die in ihrer Gottesvorstellung erstarrt sind, in eine lebendige Gottesbeziehung. Nicht die an den herausragenden Fähigkeiten Jesu orientierte personale Christologie, wie die Form‑ und Redaktionsgeschichte meinte, ist das Thema der Erzählung. Der erzählte Jesus von Mk 2,1–12 steht für die soteriologisch perspektivierte Theologie des Markusevangeliums. Die Christologie, die in der markinischen Jesusdarstellung ihren Ausdruck findet, ist von der Soteriologie geleitet.
2. Sozial‑ und realgeschichtlicher Hintergrund Παρáλυσις impliziert von der Wortbedeutung her den Gedanken der Auflösung. Diese Art der Krankheit rührt nach antiker Vorstellung an die Sphäre des Todes. Die Bewegungsunfähigkeit aufgrund von Lähmung steht im Altertum für den Verlust von Kraft und Empfindung.8 Die nur scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden Verben „abdecken“ und „aufgraben“ in V. 4 haben zu Debatten über die Dachform – hellenistisch-römisches Ziegeldach oder palästinisches Lehmflachdach – und in der Konsequenz über die Herkunft des Erzählers bzw. seine Kenntnisse der Wohnverhältnisse im ländlichen Raum Israels Anlass gegeben sowie zu dem wiederholten Versuch geführt, über die Scheidung von Tradition und Redaktion eine Verteilung auf zwei Textstufen vorzunehmen.9 Spekuliert wurde auch darüber, ob die Öffnung des Daches auf exorzistische Vorstellungen zurückgeht und dem Entweichen eines Krankheitsdämons Raum schaffen bzw. den regulären Zugang zum Haus vor ihm verbergen sollte10 bzw. ob auf diese Weise ein Eingang für Menschen geschaffen wurde, die als kultisch Unreine nicht die Schwelle überschreiten durften und daher von oben eingelassen werden mussten.11 8 Vgl. P. G. Bolt, Jesus’ Defeat of Death. Persuading Mark’s Early Readers, MSSNTS 125, Cambridge / New York 2003, 105–106; W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 114. 9 D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 57. 10 So seit H. Jahnow, Das Abdecken des Daches, Mc 2,4; Lc 5,19, ZNW 24 (1925), 155–158, bei Bultmann, Geschichte (s. Anm. 3), 237; O. Böcher, Christus Exorcista. Dämonismus und Taufe im Neuen Testament, BWANT 96, Stuttgart 1972, 72–73; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Leipzig 1980, 97. 11 Vgl. Eckey, Markusevangelium (s. Anm. 8), 115.
140
Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter
3. Traditions‑ und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die mythische Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit numinosen Mächten und die Vorstellung der Einheit von Materiellem und Spirituellem stehen auch hinter dem für viele Kulturen des Altertums charakteristischen Tun-Ergehen-Zusammenhang. Die Denkfigur der Verknüpfung von Krankheit und Sünde geht von dem Grundgedanken aus, dass jedes Handeln entsprechende Konsequenzen nach sich zieht. Der Tat-Folge-Zusammenhang ist dadurch gewährleistet, dass jede menschliche Handlung einerseits weltimmanentes Geschehen ist und andererseits das Verhältnis zum Göttlichen berührt. Insofern das Tun die Gottesbeziehung tangiert, hängt auch das Ergehen von der Art des Gottesverhältnisses ab. Krankheit resultiert in diesem Kontext aus Sünde, d. h. einer spirituellen Verfehlung, und verweist auf Schuld vor Gott. Als Strafe begriffen macht sie die Notwendigkeit der Vergebung sichtbar. Gesundung setzt die Wiederherstellung einer heilen Gottesbeziehung voraus bzw. geht mit ihr einher.12 Die Alternative, ob Jesus unberechtigterweise das Recht der Sündenvergebung für sich in Anspruch genommen oder lediglich auf die Sündenvergebung durch Gott verwiesen hat,13 verliert unter soteriologischer Perspektive insofern an Bedeutung, als die Zusage Jesu darauf zielt, den Gelähmten gegen den äußeren Anschein seiner bleibenden Gottesgemeinschaft zu vergewissern. Alttestamentlich wird die Verbindung von Heilungs‑ und Vergebungsmotiv in Ps 103,3 ausgesprochen: Gott ist der, „der dir alle deine Sünde vergibt, der alle deine Krankheiten heilt“. Im Falle der Heilung gilt Gott als der Arzt (Ex 15,26). Gegen die Aufweichung der Alleinzuständigkeit Gottes für Krankheit und Heilung wendet sich das Ressentiment aus JesSir 38,15: „Wer gegen den sündigt, der ihn gemacht hat, möge in die Hände des Arztes fallen.“ Neutestamentlich zeugen auch Joh 5,14; 9,2 und Jak 5,14–15 von der Nähe, die zwischen Krankheit und Sünde bzw. Heilung und Vergebung gesehen wurde. Jesus als καρδιογνώστης in Mk 2,8 besitzt eine Fähigkeit, die im Alten Testament Gott zugeschrieben wird. Als Gottesprädikat begegnet die Vorstellung in 1 Sam 16,7; 1 Kön 8,39; 1 Chron 28,9; Ps 7,10; 44,22; 139,2–4; Spr 15,11; Jer 11,20; 17,9–10 außerdem in JesSir 42,18–20 und PsSal 14,8. Das Vorherwissen ist eine Qualität auch hellenistischer Wundertäter.14 Im Neuen Testament wird das Theologumenon in Lk 16,15; Apg 1,24; 15,8; Röm 8,27; 1 Thess 2,4 verwendet. Apk 2,23 bezieht es auf den Sohn Gottes. Der Terminus ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in V. 10 eröffnet ein breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten. Unter etymologischer Perspektive führt der Rekurs auf den hebräischen und aramäischen Sprachhintergrund zu einem möglichen P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 161–165. Vgl. E. S. Malbon, Mark’s Jesus: Characterization as Narrative Christology, Waco 2009,
12 13
152.
14 Philostrat,
Vit. Ap. 1,19; 4,18; 7,9.
3. Traditions‑ und religionsgeschichtlicher Hintergrund
141
Verständnis im Sinne von „ein menschliches Wesen“, „jemand“. Die Bezeichnung „der Sohn des Menschen“ könnte dann im vorliegenden Zusammenhang als Umschreibung des Personalpronomens „Ich“ verstanden werden. Ihre Verwendung schütze davor, Jesus mit seiner Aussage als unbescheiden dastehen zu lassen. Der Terminus schließe das „Ich“ in den größeren Zusammenhang einer Aussage über menschliche Wesen und deren Möglichkeiten ein. Als Kontext wird mit der Verwendung des Ausdrucks auch das Wort über den richtenden Menschensohn aus Dan 7,9 abgerufen.15 Form‑ und redaktionsgeschichtlich orientierte Exegese hat auf der Grundlage der Scheidung von Tradition und Redaktion die Gesamterzählung in Einzelteile zerlegt, diese aus ihrem vorliegenden Kontext herausgelöst, in postulierten historischen Situationen der Geschichte des frühen Christentums verankert und in ein chronologisches Nacheinander gestellt. Die Endfassung des Textes wurde im Zuge dieses Verfahrens aus der Geschichte des Wachstums der Vorstufen und Einzelzüge erklärt.16 Im Rahmen dieses Modells gelten V. 1 und 2 als Einleitung in die Gesamterzählung. Der exakte Anfang sei jedoch nicht mehr zu ermitteln, da Tradition und Redaktion zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt seien. Mit V. 3 beginne die eigentliche Erzählung. Allerdings umfasse sie in ihrer ältesten Grundstufe nur die Verse 3 bis 5 bzw. 5a und die Verse 11 und 12. Unter dem Gattungsaspekt handele es sich um eine stilechte Wundergeschichte. In diese habe ein früher Bearbeiter, vermutlich im ältesten Stadium der auf die mündliche Überlieferung folgenden Verschriftung, die konfliktuöse Szene V. 5b–1017 bzw. V. 6–1018 hineinkomponiert. Für denkbar erachtet wird auch, dass dieser Überarbeitungsvorgang erst vom Evangelisten Markus als dem Endredaktor der Szene vorgenommen wurde. Gattungsmäßig sei der Einschub als ein Streitgespräch zu bezeichnen. Ihren Haftpunkt habe die Konfliktszene an dem ursprünglich frei umlaufenden Logion V. 10 gefunden. Insgesamt liegt nach form‑ und redaktionsgeschichtlicher Auffassung in Mk 2,1–12 eine aus ursprünglich drei Einzeltteilen bestehende Form vor, die A. Y. Collins, Mark. A Commentary, Philadelphia 2007, 187–189. Zur Darstellung im Einzelnen vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 12), 222–225. 17 So V. Taylor, The Gospel according to St. Mark. The Greek text with an introduction, notes and indexes, London 1966, 191; H. C. Kee, Community of the New Age. Studies in Mark’s Gospel, London 1977, 35–37.54; A. J. Hultgren, Jesus and his Adversaries. The Form and Function of the Conflict Stories in the Synoptic Tradition, Minneapolis 1979, 107–108; J. Doughty, The Authority of the Son of Man (Mk 2,1–3,6), ZNW 74 (1983), 161–181, 162–163. 18 So vor allem R. Pesch, Das Markusevangelium I. Teil. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1–8,26, HThK II/1, Freiburg / Basel / Wien 51989, 156; K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu. Traditions‑ und redaktionsgeschichtliche Analysen zu einem Leitmotiv markinischer Christologie, NTA N. F. 25, Münster 1992, 152–166; H.-J. Klauck, Die Frage der Sündenvergebung in der Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 parr), BZ NF 25 (1981), 223–248, 235–236; auch M. Meiser, Die Reaktion des Volkes auf Jesus. Eine redaktionskritische Untersuchung zu den synoptischen Evangelien, BZNW 96, Berlin 1998, 139. 15 16
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Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter
sukzessive weiterentwickelt19 und entweder bereits in einem vormarkinischen Stadium der Überlieferung zusammengestellt20 oder von dem Endredaktor des Markusevangeliums in ihre Schlussfassung gebracht wurde.21 Jeder einzelnen Stufe des Überlieferungsprozesses wird ein dazu passender „Sitz im Leben“ zugeschrieben. Auf diese Weise wird eine idealtypische historische Situation im frühen Christentum imaginiert, die sich aus den Anforderungen der christlichen Verkündigung in den Jahrzehnten bis zur schließlichen Veröffentlichung der Gesamtschrift ergibt. Das Heilungswunder führe in die frühe missionarische Propaganda zurück.22 Diese habe versucht, Glauben unter Hinweis auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten Jesu zu wecken. Das eingeschobene Streitgespräch spiegele die Auseinandersetzung mit Gegnern der christlichen Verkündigung wider. Möglicherweise habe das ehedem selbstständige Logion V. 10, das zentrale christologische Motive aufbewahre, die Bildung dieser nicht eigenständig „lebensfähigen“ Zwischenszene inspiriert und sei in Verbindung mit dieser in die Wundererzählung eingeschoben worden. Die Endfassung dokumentiere den Abschluss der weiterentwickelten christologischen Reflexion der Überlieferung. Die Erzählung ziele darauf, die Vollmacht Jesu, des Menschensohnes, zur Vergebung der Sünden bereits auf Erden hervorzuheben. Für die Isolierung und Herauslösung von Mk 2,3–5b plus 11 und 12 aus dem Gesamtzusammenhang und die Identifikation der Erzählung als einer Wundergeschichte war die Überzeugung vom Vorliegen eines typischen Schemas ausschlaggebend. Durch den Vergleich mit motivisch ähnlich gelagerten Überlieferungen aus dem hellenistischen und jüdischen religionsgeschichtlichen Umfeld war die frühe Formgeschichte zu der Überzeugung gelangt, dass den Stoffen ein wiederkehrendes Muster unterlag. Es bestand aus den Elementen: 1) Exposition, 2) Begegnung der notleidenden Person mit dem Wundertäter, 3) Schilderung der Notlage, 4) Einleitung der Rettungsmaßnahme durch ein wunderwirkendes Wort oder einen wirksamen Gestus, 5) Feststellung des Erfolges, 6) Akklamation der Zeugen der Handlung, der sog. „Chorschluss“.23 19 Vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 95–102; Pesch, Markusevangelium (s. Anm. 18), 149–162; Klumbies, Mythos (s. Anm. 12), 222–224. 20 So Bultmann, Geschichte (s. Anm. 3), 12–13; A. J. B. Higgins, Son of Man-Forschung since „the teaching of Jesus“, in: A. J. B. Higgins (Ed.), New Testament essays. Studies in memory of Thomas W. Manson 1893–1958, Manchester 1959, 118–135, 126 ff.; Th. L. Budesheim, Jesus and the Disciples in Conflict with Judaism, ZNW 62 (1971), 190–209, 191–194. 21 So S. E. Johnson, A Commentary on the Gospel According to St. Mark, BNTC, London 1977, 55; G. Minette de Tillesse, Le secret messianique dans l’Evangile de Marc, Lectio Divina 47, Paris 1968, 117–118; W. Weiss, „Eine neue Lehre in Vollmacht“. Die Streit‑ und Schulgespräche des Markus-Evangeliums, BZNW 52, Berlin 1989, 134–135. 22 K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium, StANT 23, München 1970, 78.87; G. Schille, Die urchristliche Wundertradition. Ein Beitrag zur Frage nach dem irdischen Jesus, AzTh.R. 1,29, Stuttgart 1967, 25. 23 So seit Dibelius, Formgeschichte (s. Anm. 2), 54; mit Modifikationen auch W. Kahl,
4. Verstehensangebot und Deutungshorizonte
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Obwohl dieses Schema zur Formalbestimmung der betreffenden Erzählungen verwendet worden ist und beansprucht hat, eine Gattungsaussage vorzunehmen, besteht ein Handicap dieser Bestimmung darin, dass aus inhaltlichen Zügen auf die formale Gestaltung zurückgeschlossen wird und mit der schablonenartigen Anwendung des Schemas auf neue Überlieferungen das Raster sich selbst immer neu bestätigt. Der Preis für dieses Verfahren ist der Verlust der individuellen Züge der Erzählungen, die zugunsten der Schematisierung ausgeblendet werden. Zugleich wird bei der Anwendung dieses Verfahrens sichtbar, dass die scheinbar rein formalen Bestimmungen mit gravierenden inhaltlichen Vorentscheidungen befrachtet sind (s. u.). Die von der Idee des historisch zuordenbaren Traditionswachstums geleitete form‑ und redaktionsgeschichtliche Exegese hat sich in der Regel von der rekonstruierten Grundstufe der Erzählung theologisch distanziert. Das dieser innewohnende Jesusbild entspreche nicht dem christologischen state of the art. Jesus werde als θεῖος ἀνήρ dargestellt, der zu Zwecken der Missionspredigt in nichtchristlicher Umgebung als besonders qualifizierter Wunderheiler verkündigt wird. Dies sei zwar im Rückblick verständlich, werde aber bereits von der frühchristlichen Bearbeitungsstufe und insbesondere durch den Evangelisten Markus in eine andere Richtung gelenkt. Spätestens der Endredaktor habe eine Korrektur der frühen christologischen Fehlentwicklung vorgenommen.24 Nicht der bloße Wundertäter, sondern der vollmächtige Repräsentant Gottes, der die göttliche Sündenvergebung auf die Erde gebracht habe, stelle das kerygmatische Zentrum der Erzählung dar (V. 10). Die massive, geradezu als magischer Akt anzusehende Heilungstat, würdige Jesus zum bloßen Mirakeltäter herab.25 Entsprechend sei es dem Einschub von V. 5b bzw. 6–10 zu verdanken, die Erzählung in sachgemäßer Weise zu ihrem christologischen Ziel geführt zu haben.
4. Verstehensangebot und Deutungshorizonte Liegt für die moderne Rationalität das Wunder in Mk 2,1–12 in der Wiederherstellung der Gehfähigkeit des Gelähmten, so geschieht in der mythischen Dimension das eigentlich Wundersame im Bereich des Numinosen: Dem Gelähmten wird die angesichts seines körperlichen Zustands nicht für möglich gehaltene bleibende Gottesgemeinschaft zugesagt; die erstarrten Pharisäer und New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective, FRLANT 163, Göttingen 1994, 106–107. 24 Th.J. Weeden, Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlasst hat, in: R. Pesch (Hg.), Das Markus-Evangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 238–258, 238–242.253. 25 G. Klein, Wunderglaube und Neues Testament, in: Ders., Ärgernisse. Konfrontationen mit dem Neuen Testament, München 1970, 24. Alternativ spricht Klein vom „wirkliche(n) Wunder“, 54–55.
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Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter
Schriftgelehrten, die sich in ihre Gottesvorstellung eingeschlossen haben und diese verteidigen zu müssen glauben, werden in die unverhoffte Bewegung einer dynamischen Gottesbeziehung geführt. Die formgeschichtliche Behandlung der Wundergeschichten impliziert unausgesprochen die Anwendung eines wenig problematisierten Wunderbegriffs auf die Erzählungen. Im Regelfall gilt die Durchbrechung von Kausalzusammenhängen als das Kriterium für den Wundergehalt einer Szene. Den Bemessungsmaßstab gibt die Überlegung ab, ob die Erzählungen kompatibel mit einem naturwissenschaftlich-analytisch bestimmten Weltbild sind oder dessen Voraussetzungen durchbrechen. Die Unterscheidung wirkt sich insofern als folgenreich aus, als die Erzählungen anschließend auf ihre historische Vorstellbarkeit hin bewertet werden. Heilungswunder wie Exorzismen gelten in diesem Rahmen als möglich. Totenerweckungen sprengen das Vorstellbare. Auf neo-rationalistische Art wird zwischen denkbaren Wundern Jesu und unvorstellbaren Taten getrennt. „Leichte“ werden von „schweren“ Wundern unterschieden.26 Die Exponierung des Logions V. 10 zur Pointe der Gesamtkomposition hat zur Folge, dass der Höhepunkt der Erzählung nicht in dem Schlussvers 12, sondern bereits vor Ende der Szene gesucht wird.27 Dieses Vorgehen steht freilich im Widerspruch zu dem bei der Interpretation von Gleichnissen anerkannten Gesetz des Achtergewichts. Die Ursache für die Heraushebung des Logions in V. 10 liegt in einer methodischen und in einer theologischen bzw. christologischen Vorentscheidung. Beide Prämissen sind das Ergebnis theologiegeschichtlicher Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert, die Einfluss auf die Auslegungspraxis genommen haben. Demnach ist den Worten im Munde Jesu ein zeitlicher und sachlicher Vorrang vor den Erzählungen über Jesu Taten einzuräumen. Diese Weichenstellung ist ein Erbe der liberaltheologischen Jesusforschung des 19. Jahrhunderts. Bultmann und die Formgeschichtler des 20. Jahrhunderts behielten die Prämisse bei, und die christologisch bestimmte Exegese unter dialektisch-theologischem Einfluss übernahm sie. V. 10 liefert für beide Interessenslagen wichtige Anhaltspunkte: Zum einen handelt es sich um einen – ein hohes Alter suggerierenden – Ausspruch im Munde Jesu, zum anderen enthält er gebündelt drei theologisch gefüllte Substantive bzw. Begriffszusammenstellungen, denen unter christologischer Auslegungsperspektive besondere Dignität zukommt: Vollmacht, Menschensohn, Sündenvergebung. Dass hier für beide ursprünglich konkurrierende theologische Richtungen das Zentrum der Perikope liegt, ließ die Hochschätzung von V. 10 breite Zustimmung finden. Neben der Preisgabe der Überzeugung, dass der Höhepunkt am Schluss einer Erzählung zu suchen ist, zieht die Erhebung von V. 10 zur Pointe der Endfassung 26 Vgl. die Kritik von S. Alkier, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001), 2–15, 10–13. 27 So etwa bei D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin / New York 1975, 50.
4. Verstehensangebot und Deutungshorizonte
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im Rahmen der form‑ und redaktionsgeschichtlichen Exegese zwei weitere methodische Probleme nach sich. Das erste betrifft die Trennung zwischen Erzählerstimme und Figurenrede. Die Figurenrede, zumal wenn es sich um Worte Jesu handelt, steht traditionell unter dem Präjudiz, sie lasse ein höheres Maß an historischer Authentizität erwarten. Die Erzählerstimme wird demgegenüber traditionellerweise als eher sekundäre Sprachäußerung gewertet, der kommentierende Bedeutung zukomme. Das zweite Problem entsteht dadurch, dass die historisch auseinanderlegende Exegese die erzählte Welt, in der die Erzählfiguren ihren Aktionsraum besitzen, und die Erzählwelt, aus der die Erzählung als literarisches Produkt stammt, als zwei chronologisch zu unterscheidende Ebenen behandelt. Im Falle des Markusevangeliums werden auf diese Weise Inhalte, die in der Situation des beginnenden achten Jahrzehnts zu verorten sind, in historische Aussagen über die Jesuszeit um das Jahr 30 umgeformt. Der zugrunde gelegte Wunderbegriff speist sich aus den Axiomen eines modernen, aber auch bereits hellenistisch-aufgeklärten Weltbildes, für das die prinzipielle Unterscheidung zwischen Materiellem und Spirituellem und zwischen menschlichem Bereich und dem Numinosen konstitutiv ist. Für das Verständnis der Wundererzählungen im lukanischen Doppelwerk, das von hellenistischaufgeklärten Denkvoraussetzungen geprägt ist, erweist sich dieser Zugang als durchaus perspektivenreich. Im Umgang mit den von mythischen Prämissen durchdrungenen Wundererzählungen des Markusevangeliums droht er den Blick auf die Pointen jedoch gerade zu verstellen. Die generelle Anwendung des aufgeklärten Wunderbegriffs auf alle Evangelien hat zur Folge, dass die Exegese von Wundererzählungen sich auf dieser geistigen Grundlage offen oder unausgesprochen an dem Problem der Faktizität des erzählten Wunders abarbeitet. Neigt ein Teil der Untersuchungen dazu, die Basis der Erzählungen in einem pränarrativen faktischen Ereignis zu suchen, tendieren andere dahin, das Faktum zugunsten eines Kerygmas, also einer ihm beigelegten Bedeutung, soweit wie möglich zu relativieren.28 Erkenntnistheoretisch bildet in beiden Ausprägungen die Trennung zwischen Ereignis und Bedeutung den Hintergrund des Gedankens. Demgegenüber ist in Rechnung zu stellen, dass in dem vom Mythos geprägten Weltbild der Antike, das die Darstellung der Evangelien in Teilen bestimmt, gerade die wechselseitige Durchdringung von göttlicher und menschlicher Sphäre grundlegend ist. Die Welt wird nicht analytisch unter Absehung der göttlichen Wirksamkeit wahrgenommen. Vielmehr nehmen alle Geschehnisse auf der Erde und im zwischenmenschlichen Bereich ihren Ausgang bei Ereignissen im Bereich des Numinosen. Unter dieser Perspektive bilden die Einzelzüge in
28 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband: Mt 8–17, EKK I/2, NeukirchenVluyn / Zürich 21996, 68–71.
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Mk 2,1–12, die analytisch-aufgeklärter Rationalität zufolge auseinanderlaufen, eine innere Einheit. Zur Unterscheidung von den klassisch als „Wundergeschichten“ bezeichneten Erzählungen empfiehlt es sich für Stoffe, in denen wie in Mk 2,1–12 das eigentlich Wundersame in der Welt des Numinosen und der Durchbrechung der dort geltenden mythischen Regeln geschieht, von mythischen Sequenzen zu sprechen. Im Unterschied zu den Auslegungen, die das form‑ und redaktionsgeschichtliche Wachstumsmodell voraussetzen, stellt die Szene in V. 3–12 bei Beachtung der Verschränkungen, die auf die mythische Rationalität zurückzuführen sind, einen geschlossenen Erzählzusammenhang in zwei parallel laufenden Strängen dar. Beide Erzählfäden sind miteinander verknüpft. Der durch seine Behinderung körperlich bewegungsunfähige Mann, für den sich vier Personen einsetzen, wird von Jesus auf seine geistliche Verfassung angesprochen. Die Zusage, dass seine Sünden vergeben sind (V. 5b), demonstriert, dass es für den markinischen Jesus in dieser Szene um ein Krankheitsphänomen geht, das geistliche Ursachen besitzt. Die physische Lähmung des Mannes wird auf die ihr inhärente geistliche Dimension hin transparent gemacht. Zugrunde liegt die mythische Vorstellung, dass körperliche Erkrankung auf spirituelle Ursachen zurückzuführen ist. Der Zusammenhang von körperlichem Ergehen und geistlichem Tun wird bereits in V. 5a durch den Hinweis des Erzählers auf den im Umfeld des behinderten Mannes vorhandenen Glauben abgerufen. Im Positiven wie im Negativen gilt: Heilung wie Körperbehinderung setzt eine korrespondierende spirituelle Verfassung voraus. Die moderne rationale Überlegung, dass es sich bei diesem Glauben „nur“ um das Vertrauen auf Jesu außergewöhnliche Heilungskräfte handele und ihm der christologische Vollsinn – jedenfalls in der Grundstufe der Erzählung – noch fehle, greift zu kurz: Mythisch strukturierte Wahrnehmung trennt nicht zwischen beidem; die auf den Heiler gerichtete Gewissheit äußert sich im Vertrauen auf dessen Kräfte. Im Verhältnis der Figurenrede zur Erzählerstimme ist für Mk 2,7–12 festzustellen, dass die Figurenrede im Dienst der Erzählerstimme steht. Sie befindet sich in Übereinstimmung mit den Darstellungsintentionen aller übrigen Aussagen. Der Erzähler lässt seine Figuren aussprechen, was ihm für die Richtung seiner Erzählung von Bedeutung ist. Hier gilt das Diktum Ricœurs: Der Erzähltext ist die „Rede eines Erzählers, der berichtet, was seine Figuren sagen“.29 Für die Beziehung zwischen erzählter Welt und Erzählwelt gilt, dass die Vorgänge aus der Zeit der Erzählwelt ihren Niederschlag in dem Bild von der erzählten Welt finden. Die Konstruktion der erzählten Welt ist von den Bedingungen der Erzählwelt her zu interpretieren. Mk 2,1–12 entfaltet die Auseinandersetzung um Sünde und Vergebung, um Glaube und Heilung als Erzählung über den 29 P. Ricœur, Zeit und Erzählung. Band 2: Zeit und literarische Erzählung. Übergänge 18,2, München 1989, 150.
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Jesus der Zeit um das Jahr 30. Auf der Ebene des Markusevangeliums als eines literarischen Werkes der 70er Jahre fällt dieser Szene die Rolle einer ätiologischen Erzählung zu. Der Erzähler fundiert mit ihr eine theologische Überzeugung des beginnenden achten Jahrzehnts. Sein soteriologisch-christologisch gezeichneter Jesus führt hic et nunc Menschen in eine gelingende Gottesbeziehung, die diese aufgrund ihres Gottesbildes für verloren geglaubt oder die sich zum Schutz ihrer überkommenen Gottesvorstellung Jesus gegenüber verhärtet haben. Der christlichen Gemeinde des achten Jahrzehnts des ersten Jahrhunderts gilt Jesus als der Protagonist des Evangeliums, dem sie sich verpflichtet und das sie in seinem Auftreten begründet sieht. Unter der christlichen Erzählperspektive erscheint Jesus als ein Mensch, der normative Setzungen vornimmt. Gerade die Schlichtheit der ihm vom Erzähler in den Mund gelegten Selbstbezeichnung „Sohn des Menschen“ wird zum adäquaten Ausdruck für die Besonderheit, die seine Person für den christlichen Erzähler und seine Gemeinde besitzt. Der Terminus dokumentiert und spiegelt darüber hinaus die rasante Entwicklung des Jesus-Christus-Glaubens wider, der aus unspektakulären Anfängen in der Lebensgeschichte Jesu zum hohen christologischen Bekenntnis der Gemeinde, deren Erzählwelt diese Jesusgeschichte entstammt, aufgestiegen ist.
5. Aspekte der Wirkungsgeschichte / Parallelüberlieferung Mt 9,1–8 (1) Und er stieg in ein Boot und fuhr ans andere Ufer hinüber und kam in die eigene Stadt. (2) Und siehe, sie brachten ihm einen Gelähmten, der auf einer Trage lag. Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Sei guten Mutes, Kind, vergeben sind deine Sünden.“ (3) Und siehe, einige der Schriftgelehrten sagten im Stillen: „Dieser lästert.“ (4) Und als Jesus ihre Überlegungen sah, sagte er: „Warum überlegt ihr Böses in euren Herzen? (5) Was ist denn leichter – zu sagen: ‚Vergeben sind deine Sünden‘ oder zu sagen: ‚Steh auf und geh umher?‘ (6) Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben“ – da sagt er zu dem Gelähmten: „Steh auf und nimm deine Trage und geh in dein Haus.“ (7) Und er stand auf und ging weg in sein Haus. (8) Als das aber die Volksmengen sahen, gerieten sie in Furcht und priesen Gott, der den Menschen eine derartige Vollmacht gab. Die Matthäusversion der Perikope weist gegenüber der Markusvorlage einige Straffungen auf, wie sie für die matthäische Überlieferung von Wundererzählungen charakteristisch sind. Die ausführliche Schilderung der Menschenmenge in Mk 2,1.2 ist in Mt 9,1 ersatzlos gestrichen. Statt auf die Vielzahl der Anwesenden in einem Haus hebt die Matthäusfassung darauf ab, dass Jesus sich in seiner Heimatstadt befindet (9,1). Die Umstände, unter denen der Gelähmte laut Mk 2,3.4
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zu Jesus gelangt, werden auf das bloße Faktum reduziert, dass „sie“ – Menschen unbestimmter Anzahl – einen auf einer Trage liegenden Gelähmten zu Jesus brachten. Der Zusammenhang von Glaubensmotiv und Zuspruch der Sündenvergebung bleibt in 9,2 in Übereinstimmung mit der Markusvorlage stehen. Die Schriftgelehrten werden in 9,3 einzig als Träger der Aussage: „Dieser lästert“, in die Handlung eingeführt. Alle näheren Ausführungen, insbesondere zu ihrer Körperhaltung, entfallen. Auch erspart es sich die Matthäusüberlieferung zu explizieren, worin der Gehalt der Schmähung besteht. Die Feststellung βλασφημεῖ spricht für Matthäus bereits vollständig für sich. Die Rückkoppelung der Vergebungsthematik an das Gottesverständnis unterbleibt. Bestand für die Leser des Markus immerhin noch Raum für die Überlegung, ob Jesus überhaupt das göttliche Recht zur Sündenvergebung für sich in Anspruch genommen hat und nicht eher nur die Sündenvergebung durch Gott selbst zugesagt hat, stellt die Matthäusfassung auf direktem Weg fest, dass Jesus sich mit dieser Aussage ein Problem einhandelt. Sein Blick in das Innere der Schriftgelehrten führt den matthäischen Jesus unmittelbar zu einem moralischen Urteil. „Warum überlegt ihr Böses in euren Herzen?“ (9,4) In der Formulierung der Alternativfrage nach dem Leichteren, dem Verweis auf die Vollmacht Jesu, der Aufforderung an den Gelähmten, aufzustehen, seine Trage zu nehmen und nach Hause zu gehen, folgt Mt 9,5.6 weitgehend Mk 2,9–11. Allerdings lässt der Matthäustext durch die Voranstellung der Wendung ἐπὶ τῆς γῆς noch stärker als Mk 2,10 die Bedeutung der Sündenvergebung unter irdischen Bedingungen in der Gemeinde anklingen. Außerdem führt Mt 9,6 durch die Einfügung des Temporaladverbs τότε eine chronologische Abfolge in die Handlung ein, die in der Markusvorlage mit ihrem Interesse an der Parallelführung der Handlungsstränge gerade nicht vorlag. Mt 9,7 lässt wie schon 9,5 den wiederholten Rekurs auf die Aufnahme der Trage weg. Der Geheilte geht nach Haus; dass dies „vor allen“ geschah und „alle“ außer sich gerieten, tilgt die Matthäusfassung und entledigt sich damit des Problems, ob die Schriftgelehrten hierin inkludiert zu denken sind oder nicht. Auch reduziert Matthäus das hohe Maß an Emotionalität durch die Streichung des ἐξίστασθαι. Stattdessen wird wie bei der Kreuzigung und Auferweckung Jesu in Mt 27,54 und 28,4.8 die Furcht, die das Geschehen unter den Anwesenden auslöst, zum Movens für ihre anschließende Reaktion. Die Furcht verweist auf geschehene Offenbarung, und theologisch korrekt mündet die Erzählung in das Gotteslob. Dieses entzündet sich nun freilich gerade nicht an dem unerhörten Heilungsvorgang, sondern an der Vollmacht, die – über Jesus hinaus – als allen Menschen gegeben gefeiert wird. Signifikant für die matthäische Bearbeitung der Markusvorlage ist, dass Matthäus die Parallelführung sowohl des Handlungsstrangs als auch die von körperlicher und geistlicher Ebene auflöst und in eine zeitlich geordnete Abfolge zerlegt. Auf den körperlichen Defekt reagiert Jesus auf spiritueller Ebene mit der
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Zusage der Sündenvergebung, bezieht dafür den Widerspruch seiner Kritiker und lässt diese mit seinem souveränen Handeln quasi aus der Szene verschwinden. Jesus entscheidet die Machtfrage durch einen Erweis seiner Vollmacht für sich. Auch wenn damit offen bleibt, ob er auf diese Weise den Widerstand seiner Kritiker überwinden konnte, wird von einem solchen nichts weiter berichtet. Nur von dem Lobpreis der Menge erzählt V. 8. An Jesu Vollmacht, so die Pointe der matthäischen Erzählung, partizipieren die Christen, die in der Nachfolge Jesu ebenfalls solche ἐξουσία von Gott verliehen bekommen haben. Die Matthäus-Perikope erzählt die Geschichte der Herkunft des geistlichen Rechts zur Sündenvergebung in der Christengemeinde. EvNik 6 (1) Einer der Juden aber lief herbei und bat den Statthalter ums Wort. Der Statthalter sagt: „Wenn du etwas sagen willst, sage es.“ Der Jude aber sagte: „Ich lag 38 Jahre auf einer Trage im Schmerz der Leiden danieder. Und als Jesus kam, wurden von ihm viele Dämonenbesessene und mit mannigfaltigen Krankheiten Daniederliegende geheilt. Und einige junge Männer hatten Mitleid mit mir, trugen mich mit der Trage weg und schafften mich zu ihm. Und als Jesus mich sah, erfasste ihn Erbarmen, und er sagte das Wort zu mir: ‚Nimm dein Bett und geh umher.‘ Und ich nahm mein Bett und ging umher.“ Die Juden sagen zu Pilatus: „Frage ihn, an welchem Tag es war, an dem er geheilt wurde.“ Sagt der Geheilte: „An einem Sabbat.“ Sagen die Juden: „Unterrichteten wir dich nicht so, dass er am Sabbat heilt und Dämonen austreibt?“ Das Nikodemusevangelium bezieht sich motivisch auf die Heilung in Mk 2,1– 12. Allerdings geschieht dies in Verfremdung und unter Verwendung anderer Motive sowie in deutlicher Verkürzung der markinischen Erzählung. Die in EvNik 6,1 überlieferte Szene dient im Kontext als Beleg für die Verteidigung Jesu durch Nikodemus vor Pilatus. Nikodemus behauptet, Jesus habe viele Zeichen und Wunder getan. Wie seinerzeit bei Mose seien diese Zeichen auf Gott zurückzuführen und nicht als Menschenwerk anzusehen (EvNik 5,1). Um die Aussage des Nikodemus zu stützen, meldet sich ein Jude zu Wort, der in Form einer Ich-Aussage vorbringt, dass er 38 Jahre lang unter Schmerzen bettlägerig gewesen sei. Dann hätten ihn einige junge Männer aus Mitleid samt seiner Bahre zu Jesus gebracht. Dieser habe ihn – ebenfalls aus Erbarmen – aufgefordert: „Nimm dein Bett und wandle“; und genau dieses habe er dann getan. Der λóγος bezieht sich hier anders als in Mk 2,2 konkret auf den Heilungsbefehl. Nicht explizit ausgesprochen wird, dass es sich um eine Lähmung handelt. Die Zahl von 38 Jahren macht den Einfluss von Joh 5,1–18 auf die Szene deutlich (Joh 5,5). Dieser Eindruck findet seine Verstärkung dadurch, dass im Unterschied zur markinischen und matthäischen Fassung, aber in Übereinstimmung mit der johanneischen Überlieferung (Joh 5,9b–16) im Anschluss an die Heilung die
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jüdischen Ankläger Jesu erneut das Wort ergreifen und Jesus des Sabbatbruchs beschuldigen. Im Nikodemusevangelium dient die durch Jesus vollbrachte Heilung dazu, seine ihm von Gott verliehenen Fähigkeiten hervorzuheben. Er unterliegt jedoch weiterhin dem Vorwurf von jüdischer Seite, den Gotteswillen zu brechen – wie die Übertretung des Sabbatgebots zeige. Anders als in Mk 2,1–12 gelingt es Jesus nicht, den Widerstand seiner Gegner aufzulösen. Stattdessen hat die Widerstandslinie, die in Joh 5,17.18 artikuliert ist, in NikEv 6,1 einen Nachklang gefunden.
Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas Jesus Heals on the Sabbath According to Mark and Luke Literary and form-critical, each of the four narratives of how Jesus heals on the Sabbath was interpreted independently in Mark and Luke. This essay depicts how Luke reinterprets in Lk 6:6–11 his source from Mk 3:1–6 which is the basis for the continuation and further development of the motif in Lk 13:10–17 and Lk 14:6. Predominantly leading is Lukan Christology, which aims at a characteristic profiling of the image of Jesus. The dominance of the person of Jesus is the priority in the Gospel of Luke.
I. Insgesamt viermal sind im Markus‑ und Lukasevangelium Erzählungen von Heilungen Jesu am Sabbat überliefert, in denen Jesus in einen Konflikt mit dem jüdischen Sabbatgebot gerät. Eine der Geschichten findet sich bei Markus in Mk 3,1–6, die drei übrigen bei Lukas in Lk 6,6–11; 13,10–17 und 14,1–61. Das Verhältnis der einzelnen Perikopen zueinander ist schon des Öfteren thematisiert worden, allerdings mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Unumstritten ist lediglich die Erkenntnis der Abhängigkeit des Abschnitts Lk 6,6–11 von der Markusvorlage Mk 3,1–6. Kontrovers diskutiert wird dagegen die Beziehung der beiden dem Sondergut des Lukasevangeliums zugehörigen Erzählungen Lk 13,10–17 und 14,1–6 zu Lk 6,6–11 bzw. Mk 3,1–6. R. Bultmann versteht Lk 14,1–6 als eine Variante zu Mk 3,1–6. Die Szene sei auf die Pointe in V. 5 hin komponiert worden. Lukas habe nur noch V. 1 hinzugefügt, d. h. die Perikope im Übrigen bereits als Ganzes vorgefunden. Ähnlich vermutet Bultmann in Lk 13,10–17 eine „weitere Variante des Motivs der Sabbatheilung“2. Der Ausgangspunkt der Überlieferung könnte nach seiner Auffassung in dem ursprünglich isoliert überlieferten Logion V. 15 liegen. Die Tatsache, dass die Freude des Volkes nicht unmittelbar im Anschluss an das Wunder, sondern erst am Ende der Perikope in V. 17b berichtet wird, lässt Bultmann auf Zu Mk 1,21–28 par. vgl. u. Anm. 33. Vgl. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 10. 1 2
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ein hier möglicherweise vorliegendes Eingreifen der lukanischen Redaktion zurückschließen.3 Allerdings könnte bereits auf einer mündlichen Traditionsstufe „der Stil der Wundergeschichte den des Apophthegmas beeinflusst haben“4. Charakteristisch für Bultmanns Analyse ist die Annahme einer bereits vorlukanischen Entstehungs‑ und Entwicklungsgeschichte der Perikope. Seine Voraussetzung einer ursprünglich isolierten Existenz der Erzählung sowie die Tendenz, die Traditionen auf möglichst reine Formen zurückzuführen, veranlassen ihn in diesem Fall darüber hinaus zu dem Werturteil, bei der Komposition von Lk 13,10–17 handele es sich um „die ungeschickteste“5 der drei Sabbatheilungen, da hier zunächst das Wunder und erst dann die Debatte erfolge. Insgesamt sieht Bultmann die drei Erzählungen Mk 3,1–6 (par. Lk 6,6–11); Lk 13,10–17 und Lk 14,1–6 als Varianten an, die Ausdruck der „zeugende(n) Kraft des Apophthegmas“6 sind. Nach J. Ernst ist Lk 13,10–17 nicht von Mk 3,1–6 abhängig. Das Thema der Perikope sei im Zusammenhang des lukanischen Sonderguts „die jüdische Unbußfertigkeit“7. Gegen Bultmanns Ansicht, ein „Kernwort“8 habe zur Ausbildung der Szene geführt, betont Ernst die Gleichgewichtigkeit der Wort‑ und der Erzähltradition in Lk 13,10–17. Die nach seiner Meinung unterschiedlichen Tendenzen beider Traditionen machen für ihn „verschiedene Entstehungssituationen wahrscheinlich“9. Auch für Lk 14,1–6 bestreitet Ernst eine Abhängigkeit von Mk 3,1–6. Im Anschluss an E. Hirsch und H. Schürmann vertritt er die Auffassung, dass bei Lukas an dieser Stelle die Q-Fassung erhalten geblieben sei, die Matthäus in 12,9–14 mit Mk 3,1–6 kombiniert und in diesem Zusammenhang ausgelassen habe.10 3 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 10. Zustimmend J.-W. Taeger, Der Mensch und sein Heil. Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas, StNT 14, Gütersloh 1982, 73; ebenso G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas. 2 Bände, ÖTK 3/1 und 3/2, hier 3/2, Gütersloh 21984, 300. U. Busse, Die Wunder des Propheten Jesus. Die Rezeption, Komposition und Interpretation der Wundertradition im Evangelium des Lukas, FzB 24, Würzburg 1977, 300, hält den ganzen Vers für lukanische Redaktion. 4 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 10. 5 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 10. 6 Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 65. 7 J. Ernst, Das Evangelium nach Lukas, RNT, Regensburg 1977, 421. Auch nach E. Lohse, Jesu Worte über den Sabbat, in: W. Eltester (Hg.), Judentum, Urchristentum, Kirche, FS Joachim Jeremias, Berlin 1960, 79–89, 81, dient die Perikope „als Beispiel für die Unbußfertigkeit der Juden“. Lohse hält Lk 13,10–17 ebenso wie Lk 14,1–6 für Gemeindebildungen, die der Evangelist aus der Tradition übernommen hat. Er geht also wie bereits Bultmann von deren ursprünglich selbstständiger Existenz aus. 8 So der Terminus bei Ernst, Evangelium Lukas (s. Anm. 7), 421. 9 Ernst, Evangelium Lukas (s. Anm. 7), 421. 10 Ernst, Evangelium Lukas (s. Anm. 7), 435. Ähnlich Schneider, Lukas (s. Anm. 3), 3/2, 312, der ebenfalls im Anschluss an Hirsch fragt, „ob nicht 14,1–6 Q-Stoff darstellt, den Matthäus übergangen hat“. Vgl. E. Hirsch, Frühgeschichte des Evangeliums, II: Die Vorlagen des Lukas und das Sondergut des Matthäus, Tübingen 1941, 134–136; H. Schürmann, Protolukanische Spracheigentümlichkeiten? Zu F. Rehkopf, Die lukanische Sonderquelle. Ihr Umfang
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In deutlichem Gegensatz zu den skizzierten Positionen befindet sich W. Schmithals. Nach seiner Überzeugung handelt es sich bei Lk 13,10–17 um eine „sekundäre – vermutlich erst lukanische – Parallele zu 6,6–11“11. Entsprechendes gilt für Lk 14,1–6. Der Text stelle „eine Dublette zu 13,10–17“12 dar. Im Übrigen gebe wiederum Lk 6,6–11 bzw. Mk 3,1–6 die Vorlage zu ihm ab. Die inhaltliche Verwandtschaft der vier bzw. drei Erzählungen sowie der Dissens in der Forschung über die inneren Abhängigkeitsverhältnisse legen von Neuem die Frage nach der Beziehung der Texte zueinander und der Entstehung von Lk 13,10–17 und 14,1–6 nahe. Um zu einer exegetischen Klärung des Problems zu gelangen, sollen im Folgenden die drei bei Lukas überlieferten Perikopen Lk 6,6–11; 13,10–17 und 14,1–6 sowohl mit Mk 3,1–6 als auch untereinander verglichen werden. Dazu sollen die Texte auf ihre Jesusdarstellung bzw. die sich in ihnen aussprechende Christologie hin befragt werden. Des Weiteren soll das spezifische Verkündigungsinteresse jeder der vier Perikopen herausgearbeitet werden. Auf diese Weise sollen Verbindungen wie Differenzen zwischen den Texten festgestellt werden. Im Anschluss daran wird zu prüfen sein, ob und wenn ja welche Rückschlüsse sich aus den Beobachtungen für die Beurteilung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Texten13 sowie für die Entstehung der beiden Sondergut-Perikopen ziehen lassen.
II. Ohne über eine mögliche Entstehungsgeschichte von Mk 3,1–6 selbst zu reflektieren, lässt sich für die Lukas vorliegende Endgestalt der markinischen Perikope Folgendes feststellen: In V. 2 nennt der Erzähler das Problem der Szene. Jesus wird daraufhin beobachtet, ob er am Sabbat heilt oder nicht, d. h., ob er nach dem vom Erzähler vorausgesetzten Verständnis seiner Widersacher, die nach 2,24 erst wieder in 3,6 namentlich genannt werden, den Sabbat einhält oder bricht. Das konfliktträchtige Thema der Sabbatheilung wird also auf der jüdischem Verständnis entsprechenden Ebene der Sabbateinhaltung eingeführt. Unter dieser Perspektive stellt im Falle des Bruchs des Sabbatgebotes die Anklage die konsequente Folge dar.14 In V. 4 wird das die Erzählung bestimmende Problem noch einmal ausgesprochen, diesmal im Munde Jesu. Der Erzähler lässt Jesus die aus seiner Warte vorund Sprachgebrauch, in: Ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 209–227, 213. 11 W. Schmithals, Das Evangelium nach Lukas, ZBK NT 3.1, Zürich 1980, 152. 12 Schmithals, Lukas (s. Anm. 11), 157. 13 Selbstverständlich über die vorausgesetzte Abhängigkeit von Lk 6,6–11 von Mk 3,1–6 hinaus. 14 Vgl. W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, ThHK II, Berlin 51971, 71.
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liegende Problemstellung mit einer doppelten Alternativfrage vorbringen. Die zweite Frage: Ist es am Sabbat erlaubt ψυχὴν σῶσαι ἢ ἀποκτεῖναι? (V. 4b), bliebe allein aus der Szene heraus unverständlich und gewinnt ihren Sinn erst von der vorhergehenden Frage her, ob es erlaubt sei, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun (V. 4a). Die zweite nimmt die erste Frage also verschärfend auf. Dabei fällt ins Auge, dass sich mit der in V. 4a vorgenommenen Formulierung der Alternative die Perspektive gegenüber V. 2 verschoben hat. Nicht mehr die einen jüdischen Verstehensrahmen voraussetzende Frage nach der Einhaltung oder dem Bruch des Sabbats steht zur Entscheidung an. Vielmehr stellt sich im Munde Jesu die umfassende Frage nach dem Tun des Guten oder Schlechten am Sabbat. Für die Gegner Jesu in V. 2 gab das Sabbatgebot den Horizont ab, vor dem Jesu Verhalten zu bewerten ist. Dem in V. 4 gezeichneten Jesus geht es dagegen um die grundsätzliche Aufhebung der durch einen verabsolutierten Sabbatgehorsam gedeckten Neutralität gegenüber Gut und Böse.15 Die isolierte, von innerjüdischen Voraussetzungen her formulierte Frage nach dem Halten oder Übertreten des Sabbatgebotes interessiert ihn nicht. Damit sprengt der Erzähler den in V. 2 zunächst auf eine sich innerhalb der Grenzen des Judentums vollziehende Debatte abgestimmten Rahmen. Die Verschiebung der Perspektive signalisiert einen Normenwechsel von V. 2 nach V. 4, der im Umgang mit der Sabbatproblematik seinen Niederschlag findet. Bildete für das Verständnis von V. 2 die Anerkennung des Sabbats als höchster, nicht relativierbarer Norm die Voraussetzung, wird in V. 4 das Sabbatgebot selbst einer umfassenderen Norm zu‑ und eingeordnet. Für den Erzähler ist dieser Normenwechsel an die Person und Autorität Jesu gebunden. Der markinische Jesus löst in V. 4 nicht das in V. 2 aufgeworfene Problem. Er vollzieht gegenüber seinen jüdischen Opponenten einen Ebenenwechsel. Ihrer in V. 2 erkennbaren Norm stellt er seine veränderte Perspektive gegenüber. Für Markus ist dieser Normenwechsel zugleich das auslösende Moment für den Tod Jesu. Dies kündigt sich bereits in dem κατηγορήσωσιν von V. 2 an und wird explizit deutlich in dem Todesbeschluß der Pharisäer und Herodianer in V. 6. Es deutet sich aber auch in dem Schweigen der Gegner Jesu in V. 4 an. Grundsätzlich gibt es für dieses zwei Erklärungsmöglichkeiten. Auf der Ebene des Erzählers und für den Leser ist bei einer Identifikation mit Jesus dessen Fragestellung einsichtig und überzeugend.16 Folgerichtig muss die Kritik an Jesus verstummen, was hier im Schweigen der Gegner zum Ausdruck kommt. Auf der 15 Vgl. E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1978, 36.37: „Wo Gutes getan werden sollte, gibt es keine neutrale Zone“. 16 Deutlich bei E. Haenchen, Der Weg Jesu. Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen Parallelen, Berlin 1966, 124: „Jesu Recht liegt auf der Hand; aber sie wollen es nicht anerkennen. Kein Wunder also, dass Jesus (…) zornig (…) und (…) traurig ist über die Verhärtung ihres Herzens – welcher Leser würde das Verhalten der Gegner nicht ebenso empfinden?“
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Ebene der Erzählung und aus der Perspektive der Pharisäer besitzt das Schweigen jedoch ebenfalls seinen – allerdings gegenläufigen – Sinn. Aus pharisäischer Sicht ist nämlich klar: Ungeachtet dessen, was Jesus sagt, gilt für die Pharisäer nur, was er nun tun wird. Daran wird von ihren Normen aus sein Verhalten zu beurteilen sein. V. 5 rekurriert auf ebendiese Haltung, wenn Jesu Betrübnis über die πώρωσις τῆς καρδίας αὐτῶν berichtet wird. Der Todesbeschluss in V. 6 resultiert auf der Ebene der Erzählung konsequent aus dem Verstoß Jesu gegen das jüdische Sabbatgebot. Für Markus liegt er jedoch in der Aufstellung einer eigenen Norm durch Jesus begründet. Jesus in dieser normsetzenden Funktion ist das Thema der Perikope und der Inhalt der markinischen Botschaft. Weder die „Lehre“17 noch Jesu ἐξουσία18 als solche stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Die ἐξουσία Jesu, eine Orientierungsnorm aufzustellen, ist vorausgesetzt und erweist sich im Heilungswunder. Seine „Lehre“ ist Ausdrucksform seiner Person. Die Person Jesu besteht für Markus geradezu aus ihrer Verkündigung. Jesu Verkündigung und sein Geschick sind daher unmittelbar miteinander verknüpft. Der markinische Jesus konfrontiert die Christen seiner Gegenwart damit, dass sich der Mensch stets vor der Entscheidung befindet, Gutes oder Böses zu tun. Diese Problemstellung behandelt der Evangelist am Beispiel des Sabbats, nicht die Sabbatproblematik als solche.19 Dass Jesus hier wie schon in 2,17.19.28 eine eigene Norm erhebt, ist für Markus die innerste Ursache seines Todes. Wenngleich Lukas sich in Lk 6,6–11 mit seiner Darstellung an die Markusvorlage anschließt, lassen sich bei ihm doch eine Reihe signifikanter Veränderungen beobachten. Diese betreffen zum einen stilistische Korrekturen und erläuternde H. Conzelmann, Die formgeschichtliche Methode, SThU 29 (1959), 54–62, 58. D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin / New York 1975, 52.53. 19 D. Lührmann, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, weist darauf hin, „dass die Auseinandersetzung um den Sabbat kein aktuelles Problem der Zeit des Mk mehr ist“ (66). Nach seiner Auffassung legitimieren die „einzelnen Streitgespräche (…) die von der jüdischen abweichende christliche Praxis in den angesprochenen Fragen; aber die ist nicht mehr strittig, wie sie es einst gewesen sein mochte“. Lührmann zieht daraus für die Interpretation auf der Ebene des Markus einen traditionsgeschichtlichen Schluss: Markus habe „die Streitgespräche mit den Pharisäern aus seiner Überlieferung übernommen“ (61). Näher liegt jedoch in Bezug auf Mk 3,1–6 eine inhaltliche Schlussfolgerung: Markus geht es mit der Perikope gar nicht um einen Sabbatkonflikt. Andernfalls muss man ihm unterstellen, er konfrontiere seine Leser historisierend mit einer Problematik, die sich ihnen gar nicht stellt. – Laut J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II / I, Neukirchen-Vluyn 1978, 129, wurde die Perikope in einer vormarkinischen Fassung von judenchristlichen Gemeinden dazu verwendet, „um in Auseinandersetzung mit dem Judentum Jesu Vollmacht und Stellung zum Sabbat zu rechtfertigen“. Markus benutze sie, „um den mit 2,1 ff. begonnenen Konflikt mit den pharisäischschriftgelehrten Gegnern wirkungsvoll zu einem vorläufigen Abschluß zu führen“. Sollte dies die markinische Absicht gewesen sein, ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, welchen Sinn eine solche Intention im Blick auf die Leser des Markusevangeliums gehabt haben sollte, da die „Auseinandersetzungen mit Pharisäern damals in Galiläa (…) für die Leser des Mk nicht mehr aktuell“ sind (Lührmann, Markusevangelium, [s. Anm. 19], 67). Vgl. auch Anm. 33. 17 18
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Zusätze. Beispiele dafür stellen die Erweiterungen in V. 6 und zu Anfang von V. 9 dar. Zu ihnen gehören auch die durchgängige Verwendung von σαββάτῳ im Singular, die Formulierung εὕρωσιν κατηγορεῖν αὐτοῦ am Ende von V. 7 sowie die Wendungen εἶπεν αὐτῷ und ὁ δὲ ἐποίησεν20 in V. 10. Von dem Interesse geprägt, dem Leser Klarheit zu verschaffen, ist die Einführung der γραμματεῖς und Φαρισαῖοι als Subjekt zu παρετηροῦντο in V. 7; und als Mittel zur Verlebendigung der Erzählung ist die Ergänzung in V. 6 zu verstehen, es habe sich um die rechte Hand des Mannes gehandelt. Darüber hinaus aber und für das Verständnis weitaus bedeutsamer sind zum anderen Änderungen, die sich als einer einheitlichen theologischen Intention entspringend erweisen. Sie betreffen das Jesusbild, das Lukas in dieser Perikope zeichnet. Es unterscheidet sich in charakteristischer Weise von dem des Markus. Die besondere Qualität Jesu erweist sich für Lukas bereits darin, dass er die Gedanken der Schriftgelehrten und Pharisäer kennt. Die Konstatierung der gehorsamen Reaktion des verkrüppelten Mannes, der Jesu Aufforderung unverzüglich Folge leistet, dient der Hervorhebung seiner Autorität (V. 8). Die Doppelfrage in V. 9 und die mit ihr verbundene Verschiebung der Problemstellung gegenüber V. 7 übernimmt Lukas aus der Markusvorlage.21 Dagegen tilgt er die zweideutig interpretierbare Äußerung über das Schweigen der Gegner Jesu (Mk 3,4) und in V. 10 entsprechend Jesu Reaktion darauf. Damit erhöht er gegenüber Markus den Grad der Einlinigkeit der Erzählung. Mit dem Schluss in V. 11 vollzieht Lukas die markanteste Abweichung von Markus. Zugleich tritt hier das Spezifikum seiner eigenen Interpretation am eindeutigsten hervor. Das Gewicht der Aussage von V. 11 liegt in erster Linie auf dem kommentierenden Urteil des Lukas über die Gegner Jesu: ἐπλήσθησαν ἀνοίας. Damit wird sichtbar, dass das Thema der Gesamtperikope für Lukas ein anderes ist als für Markus. Zwar hat er das Problem der Normenveränderung durch Jesus formal von Markus übernommen. Aber der Akzent seiner Aussage in V. 11 zeigt, dass dies nicht das ihn beschäftigende Problem darstellt. Bei Markus wird die Normenverschiebung als die innerste Ursache des Todes Jesu gedeutet. Der Schluss bei Lukas mit der Bewertung des Verhaltens der Gegner Jesu als unvernünftig zeigt, dass Lukas nicht das Normenproblem, sondern die Reaktion auf das Wunder reflektiert. Er ist bemüht, das ablehnende Verhalten der Schriftgelehrten und Pharisäer gegenüber Jesus, der sich doch soeben in eindrücklicher Weise als erfolgreicher Wundertäter erwiesen hat, verständlich zu machen. Als Erklärung dafür gibt er deren ἄνοια, d. h. ihren Unverstand, an. Bei Lukas hat 20 Hinter der Abwandlung des καὶ ἐξέτεινεν in ὁ δὲ ἐποίησεν könnte freilich über die Vermeidung des zweimaligen ἐκτείνειν hinaus auch das Interesse stehen, die prompte Reaktion des Verkrüppelten auf das Wort Jesu hervorzuheben und damit dem Leser einen Eindruck von der Wirkungskraft der Person Jesu zu vermitteln. Dies würde jedenfalls zu den weiteren Beobachtungen zur Darstellung Jesu in dieser Perikope passen. 21 Vgl. Mk 3,4 bzw. 3,2.
II.
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sich also die Thematik von der Normenproblematik weg zu einer Erklärung für die negative Reaktion der Umgebung auf den für Lukas mit außerordentlichen Fähigkeiten ausgestatteten Jesus hin verschoben. Damit hat gleichzeitig bei Lukas die Bedeutung der Wundertat zugenommen. Sie ist neben den in V. 8 festgestellten Qualitäten ein weiterer Beleg der Größe Jesu, vor deren Hintergrund die Ablehnung ihm gegenüber nur noch um so unverständlicher erscheint. Zudem hat sich die Funktion des Wunders verlagert. Außer dass es die Vollmacht Jesu zeigt, dient es bei Markus in erster Linie zur Auslösung des Konflikts, der schließlich zum Tode Jesu führen muss.22 Bei Lukas demonstriert es primär die Hoheit Jesu und wird unmittelbar zu einer Funktion der Christologie. Die Sabbatproblematik als solche stellt sich für Lukas ebensowenig wie für Markus.23 Die Diskrepanz zwischen dem Verhalten des mit überragenden Fähigkeiten ausgestatteten und souverän handelnden Jesus und der im Kontrast dazu stehenden Ablehnung seiner Umgebung wird von Lukas nicht theologisch bewältigt. Stattdessen qualifiziert der Evangelist die Opponenten Jesu ab, indem er ihnen ein intellektuelles Defizit bescheinigt.24 Ihr ablehnendes Verhalten Jesus gegen22 Damit soll keinesfalls ausgeschlossen werden, dass Mk 3,6 sich über Mk 3,1–5 hinaus auf den gesamten Abschnitt Mk 2,1–3,5 bezieht. 23 Vgl. Schmithals, Lukas (s. Anm. 11), 75: „Die (heiden‑)christliche Gemeinde des Lukas dürfte die jüdische Sabbatordnung längst nicht mehr beachtet haben.“ Damit stellt sich wie bereits für die markinische Fassung der Perikope (vgl. Anm. 19) die Frage nach der Bedeutung auf der vorliegenden Textebene. Auch in der Interpretation von F. Vouga, Jésus et la loi selon la tradition synoptique, Le Monde de la Bible, Genève 1988, 67, steht auf der Ebene der lukanischen Redaktion letztlich der historisch informierende Charakter der Perikope im Vordergrund. Neben einer allgemeinen Funktionszuschreibung, wonach sie dazu diene, die Gemeinschaft und ihre Ethik zu begründen, sieht Vouga ihre Absicht darin, die Weigerung und das Unverständnis der jüdischen Führer gegenüber Jesus und dem Christentum zu erklären. Vgl. auch Anm. 33. 24 ἄνοια bezeichnet den Unverstand, die Unvernunft, vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin 51971 (Nachdruck), 140; daneben auch Wahnsinn, Torheit, Gedankenlosigkeit, H. Menge / O. Güthling, Griechisch-deutsches und deutsch-griechisches Hand‑ und Schulwörterbuch. Teil I: Griechisch-deutsch von H. Menge, Berlin 91913, 69; vgl. auch H. G. Liddell / R. Scott, A Greek-English Lexicon. A new Edition, revised and augmented throughout by H. St. Jones with the assistance of R. McKenzie, New (ninth) edition completed, Oxford 1940, Reprinted 1951, 145, πολλῇ ἀνοίᾳ χρῆσθαι to be a great fool. – Der lukanische Akzent, der in der Wendung ἐπλήσθησαν ἀνοίας zum Ausdruck kommt, wird durch die Übersetzungen in den Kommentaren verwischt. Vgl. zur Stelle etwa E. Klostermann, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 21929, 76: „voll blinder Wut“; W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, ThHK III, Berlin 81978, 134: „voll blinden Ärgers“; E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, 73: „erfüllt von blinder Wut“; Schmithals, Lukas (s. Anm. 11), 75: „ganz wütend“; treffender Ernst, Lukas (s. Anm. 7), 204: „erfüllt mit Verblendung“. Aus dem lukanischen Vorwurf, die Ablehnung Jesu gründe in einem Erkenntnismangel, wird mit Ausnahme der Übersetzung von Ernst eine emotionale Regung. Lukas konstatiert aber nicht lediglich die emotionale Ablehnung Jesu durch seine Gegner, sondern reflektiert auf deren Ursache. – Im Übrigen verschiebt sich durch die genannten Übersetzungen die Interpretationsperspektive von der Ebene des Erzählers, der ein Urteil über die Gegner Jesu fällt, auf die Ebene der in der Erzählung handelnden Personen. Richtig wiedergegeben in der Einheitsübersetzung von 2016: „in ihrem Unverstand“.
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Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas
über liegt für Lukas in ihrer mangelnden Vernunft, nicht im Auftreten Jesu selbst begründet. Die lukanische Christologie erweist sich damit an dieser Stelle als zutiefst apologetisch. Lukas sucht argumentativ die Größe Jesu zu belegen. Gerade aufgrund dieses Jesusbildes aber bleiben die Ablehnung und der schließliche Tod Jesu theologisch für ihn letztlich unverständlich. Dem entspricht, dass er den Todesbeschluss aus Mk 3,6 in V. 11 zu einem allgemeineren τί ἂν ποιήσαιεν τῷ Ἰησοῦ abschwächt.25 Der lukanische Jesus in 6,6–11 erweist sich als weit über seinen Gegnern stehend. Deren Widerstand tut seiner Überlegenheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Ihr Verhalten entlarvt ihren eigenen Unverstand. Im Rahmen der Gesamtszene fällt ihnen damit die Rolle zu, einen negativen Kontrast zu dem überlegenen Handeln Jesu abzugeben. Die in Lk 6,6–11 bereits angedeutete Tendenz zur Vermeidung von Doppeldeutigkeiten und zur Verstärkung der Einlinigkeit der Handlung setzt sich in Lk 13,10–17 fort. Der Handlungsablauf dieser Erzählung ist gegenüber Mk 3,1–6 und Lk 6,6–11 insofern verändert als zunächst die Wunderheilung Jesu am Sabbat bis zur Konstatierung des Heilungserfolges samt dem abschließenden Gotteslob vollständig erzählt wird. Erst im Anschluss daran entzündet sich eine Auseinandersetzung zwischen dem ἀρχισυνάγωγος und Jesus. Wie in Lk 6,11 mündet der Streit in eine Aussage über die Gegner Jesu ein (13,17a). Sie wird an dieser Stelle erweitert durch eine Bemerkung über die Reaktion des ὄχλος (13,17b). In seinem Disput mit Jesus vertritt der ἀρχισυνάγωγος die Auffassung, dass am Sabbat nicht geheilt werden soll (V. 14). Diesmal nimmt die Antwort Jesu, der von Lukas an dieser Stelle mit dem Hoheitstitel ὁ κύριος bezeichnet wird (V. 15a), exakt Bezug auf die ablehnende Haltung seines Widersachers. Jesus entgegnet ihm mit einer rhetorischen Frage, die sein Verbot unter Hinweis auf die von den Juden selbst geübte Praxis der Sabbatheiligung zurückweisen soll (V. 15b).26 Ein Ebenenwechsel wie von Mk 3,2 nach 3,4 bzw. wie von Lk 6,7 nach 6,9 – wenn auch dort aufgrund der Markusvorlage eher automatisch mitvollzogen und durch das Ende der Perikope schon relativiert – findet nicht statt.
25 Lk 6,11 erscheint damit wie ein abgemilderter Kommentar zu Mk 3,6. Der Todesbeschluss wird abgeschwächt, weil hier das Interesse des Lukas an Jesu souveräner Überlegenheit dominierend ist. Anders Ernst, Lukas (s. Anm. 7), 204, für den dies „wohl mit Rücksicht auf die Leidensankündigungen Jesu während des Reiseberichts“ zu erklären ist. 26 Dabei ist charakteristisch, dass das Logion sachlich nur geringen Anhalt an der tatsächlichen „jüdischen Sabbatpraxis zur Zeit Jesu“ besitzt. Dort erfolgte die Viehtränke am Sabbat keineswegs so problemlos, wie dies hier im Munde Jesu vorausgesetzt wird; J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970, 67. Darauf, dass der Spruch von Lk 13,15 „wesentlich literarischer“ wirkt als das Logion in Lk 14,5, hat bereits M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 94, hingewiesen.
II.
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Jesus reagiert unmittelbar im Rahmen der Denkvoraussetzungen seines Gegenübers und tritt dessen Einwand argumentativ entgegen. Durch einen Schluss a minore ad maius zu Beginn von V. 16, in dessen Konsequenz sein Verhalten geradezu als Notwendigkeit erscheint, leitet der lukanische Jesus eine weitere Frage zur Verstärkung seiner Argumentation ein. Auch mit ihr bleibt er auf einer den Angesprochenen zugänglichen Gesprächsebene und versucht, sie im Rahmen ihres Verstehenshorizontes von der Notwendigkeit seines Tuns zu überzeugen. Gleichwohl ist die Zielrichtung der beiden Fragen in V. 15 und 16 eine unterschiedliche. Die erste Reaktion Jesu in V. 15 zielte auf die jüdische Praxis bei der Handhabung des Sabbatgebotes, wie sie sich dem lukanischen Jesus darstellte, und damit auf das Sabbatverständnis seines Gegners. In V. 16 argumentiert er dagegen im Hinblick auf die Notwendigkeit und Berechtigung seines eigenen Verhaltens. Wie in Lk 6,11 wird in 13,17a im Anschluß an die Szene aus der Erzählerperspektive auf das Verhalten der Gegner Jesu eingegangen. Als Konsequenz ihrer abwehrenden Haltung Jesus gegenüber ergibt sich, dass sie nun beschämt dastehen. Das heißt, aus der Sicht des Erzählers können sie sich der Wirkung der Argumente Jesu nicht entziehen. Jesus setzt sich in den Augen des Erzählers durch seine argumentative Gewandtheit durch. Seine Überlegenheit gegenüber seinen Opponenten spiegelt sich in deren Beschämung wider. Diese wird darüber hinaus kontrastiert und unterstrichen durch die Reaktion des ὄχλος, der namenlosen Masse (V. 17b).27 Die Freude der Menge zeigt, dass sie auf der Seite Jesu steht, und lässt den Abstand der Gegner zu Jesus um so nachdrücklicher hervortreten. Die Konstatierung der Freude des Volkes an dieser Stelle geht also nicht auf einen redaktionellen Eingriff zurück.28 Sie ist vielmehr genuiner Bestandteil der Erzählung und dient als ein erzählerisches Mittel, um durch die Betonung des Gegensatzes zwischen der freudigen Reaktion des ὄχλος und der beschämten Haltung der ἀντικείμενοι die Wirkung Jesu auf seine Kontrahenten noch hervorzuheben. Auf diese Weise wird die Größe Jesu gesteigert, von der der Erzähler mit der von ihm geschilderten Szene Zeugnis ablegen will. In Lk 13,10–17 verstärkt sich damit eine Tendenz, die bereits in der lukanischen Bearbeitung von Mk 3,1–6 in Lk 6,6–11 zu beobachten war. Lukas geht es darum, Jesus als den in Tat und Wort überlegenen κύριος zu erweisen. Diesem Zweck dient zunächst die Darstellung der Wunderheilung in V. 10–13. Die besondere Qualität Jesu ist dadurch schon vor der sich anschließenden Auseinandersetzung erwiesen. An dem ihm aus Mk 3,1–6 bekannten Motiv der Sabbat‑ heilung ist Lukas lediglich wichtig, dass es sich um ein konfliktträchtiges Thema handelt. Er greift es auf, nicht, um sich wie Markus zu einem normsetzenden 27 Vgl. R. Meyer, Art. ὄχλος, D. Der neutestamentliche Sprachgebrauch, ThWNT V (1954), 585–590, 586 f. 28 Vgl. Anm. 3.
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Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas
Jesus zu bekennen, der auch den Leser in die Verantwortung zwingt, sondern um Jesu Souveränität auch in einer Streitsituation zu belegen. Anders als bei Markus und deutlicher als in Lk 6,6–11 dient die Sabbatproblematik als Ausgangspunkt für die Entfaltung eines Jesusbildes auf der Basis einer Hoheitschristologie. Diese Jesusdarstellung wird wie in Lk 6,11 durch ein abschließendes Urteil des Erzählers gegenüber denen profiliert, die sich in Opposition zu Jesus befinden. Die Intention des Lukas zielt darauf, seine christlichen Leser der Stärke und Durchsetzungsfähigkeit Jesu zu versichern. Diese sei so evident, dass schließlich sogar seine Gegner sie beschämt erkennen müssten. Auch hier ist der apologetische Grundzug, der das lukanische Bemühen um die Vergewisserung seiner Adressaten im christlichen Glauben auf der Basis einer Hoheitschristologie kennzeichnet, unverkennbar. Die Geschichte von der Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat in Lk 14,1– 6 steuert noch direkter als Lk 6,6–11 und 13,10–17 ihrem Ziel, dem Aufweis der Überlegenheit Jesu über seine Gegner, zu. Die Gesamtszene ist gegenüber den drei vorher behandelten Perikopen deutlich gestrafft. Durch die Zeitangabe σαββάτῳ und den Hinweis, dass Jesus sich im Hause eines τῶν ἀρχόντων τῶν Φαρισαίων befindet, wird der Leser bereits in V. 1 auf den sich anbahnenden Konflikt vorbereitet, der ihm nach der Lektüre von Lk 6,6–11 und 13,10–17 bereits bekannt ist. Dieses Bemühen des Erzählers wird verstärkt durch die Verwendung des Verbs παρατηρεῖν, das dem Leser schon in Lk 6,7 (Mk 3,2) die feindliche Haltung der jüdischen Widersacher Jesu signalisiert hat. Nicht ausdrücklich mitgeteilt wird, warum diese ihn beobachten. Der Anlass für den folgenden Konflikt wird in V. 2 erst nachgeliefert. Der Verfasser geht in V. 3 jedoch davon aus, dass dem Leser der Konfliktpunkt, d. h. der Einwand bzw. Angriff der Pharisäer, deutlich ist. Er lässt Jesus nämlich antworten, ohne dass vorher eine Frage gestellt worden wäre. Jesus reagiert auf einen Einwand der νομικοί und Φαρισαῖοι ohne dass diese sich explizit geäußert hätten und bevor er, Jesus, irgendetwas getan hat. Das Problem, um das es auf der Ebene der Erzählung geht, lautet: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen oder nicht? Wie in Lk 13,10–17, aber bereits auch, wenngleich weniger deutlich, in Lk 6,6–11, jedoch im Unterschied zu Mk 3,1–6, wird, ohne dass zwei Gesprächsebenen aufeinanderprallen, der die Szene bestimmende Konfliktpunkt aus der Sicht der Pharisäer formuliert. Anders als in den vorhergehenden Perikopen wird die zu einer Auseinandersetzung führende Fragestellung zumindest verbal nicht von Juden an Jesus herangetragen. Der Erzähler lässt vielmehr in V. 3b Jesus selbst die zu verhandelnde Frage aussprechen, allerdings so, wie sie sich aus der Perspektive seiner jüdischen Kontrahenten darstellt. Jesus selbst macht sich die Anfrage seiner Gegner zu eigen und spricht sie aus. Deren Reaktion ist in Lk 14,4 wie in Mk 3,4 Schweigen. Allerdings schweigen die Pharisäer bei Markus auf der Ebene des Erzählers notwendigerweise aufgrund der von Jesus vorgenommenen Problemverschiebung. Bei Lukas
III.
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dagegen bleiben sie – ebenfalls aus dem Blickwinkel des Erzählers – letztlich angesichts ihrer eigenen Fragestellung, die lediglich im Munde Jesu vorgebracht wird, stumm. In V. 4b berichtet der Erzähler das Faktum der Heilung und Entlassung des Kranken, ohne nähere erzählerische Details beizubringen. Auf die neuerliche Frage in V. 529, mit der Jesus sein Verhalten begründet, erhält er wiederum keine Antwort. Wie die beiden anderen lukanischen Perikopen endet auch diese mit einem Urteil des Erzählers über die Gegner Jesu. Obwohl der lukanische Jesus sie mit ihrer ureigenen Fragestellung konfrontiert und ihre Ablehnung der Sabbatheilung bereits nach der Einleitung feststeht (V. 1), vermögen sie ihm nicht zu antworten (V. 6). Die Anfragen, die Jesus ihnen entgegensetzt, lassen sie verstummen. Seiner Argumentationsweise haben sie nichts entgegenzusetzen.30 Jesus erweist sich in Lk 14,1–6 in jeder Hinsicht als die Situation beherrschend. Er allein redet, er allein agiert. Seine Handlungen beziehen sich auf das Verhalten und die Gedanken seiner Gegner, ohne dass diese sie überhaupt aussprechen müssten. Die Szene führt einseitig Jesu Überlegenheit vor Augen. Die Gegner sinken zu Statisten herab, die die absolute Dominanz Jesu um so nachdrücklicher hervortreten lassen. Die Sabbatproblematik bildet lediglich auf der Erzählebene das äußere Thema der Perikope. Der Erzähler stellt sie in den Dienst seiner Intention, die Hoheit Jesu im Gegensatz zur Bedeutungslosigkeit und Unterlegenheit seiner Widersacher zu zeigen. Auch die Darstellung des Wunders dient dieser Absicht. Gerade in seiner unspektakulären Beiläufigkeit lässt es das eigentliche Ziel der Erzählung, die Überlegenheit Jesu über die zu verkünden, die sich ihm entgegenstellen, und das Aufzeigen ihrer Schwäche, um so deutlicher in den Vordergrund treten.
III. Als Fazit bleibt im Blick auf die behandelten Perikopen festzuhalten: Gegenüber Mk 3,1–6 vollzieht sich in Lk 6,6–11 eine Verlagerung des Schwergewichts in Richtung auf das Wunder. Für Lukas dient die Szene dem Erweis der Hoheit Jesu und der Überführung seiner Gegner. Der Evangelist nimmt damit implizit bereits eine Abkehr von der die Markus-Fassung kennzeichnenden Normenproblematik vor, die Markus mit seinem Bekenntnis zu einem eine eigene Norm aufrichtenden Jesus einer Lösung zuzuführen sucht. In Lk 13,10–17 rückt die Betonung noch stärker auf das Wunder. Indem es gleich zu Eingang geschildert 29 Zum Verhältnis der Logien Lk 14,5 und Mt 12,11 zueinander vgl. Lohse, Jesu Worte (s. Anm. 7), 86–87, und Roloff, Kerygma (s. Anm. 26), 66. 30 Richtig Ernst, Lukas (Anm. 7), 437: „In dem Unvermögen der Gegner (klingt) die hoheitliche Überlegenheit Jesu an.“
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Die Sabbatheilungen Jesu nach Markus und Lukas
wird, stellt es die Größe Jesu bereits vor Anbruch des Konflikts sicher. Die anschließende Auseinandersetzung findet direkt auf der Ebene des jüdischen Gegenübers Jesu statt. Sie dient innerhalb der Gesamtperikope nicht der Klärung der Sabbatfrage als solcher. Vielmehr bietet sie dem Erzähler neben dem Wunder einen weiteren Anknüpfungspunkt, um Jesu Überlegenheit über seine Gegner zu demonstrieren. Der in Lk 14,1–6 dargestellte Jesus beherrscht die Szene vollständig. Seine Gegner bleiben stumm. Jesus selbst formuliert das aus der Sicht seiner Widersacher vorliegende Problem und löst es sogleich, indem er den Kranken heilt und von sich aus unmittelbar die Begründung für sein Handeln liefert. Sabbatfrage und Wundertat greifen ineinander und dienen einzig dem Zweck, Jesu Souveränität zu erweisen. Damit lässt sich innerhalb der drei lukanischen Perikopen ein Prozess fortschreitender Erkenntnis beobachten. Dieser führt den Evangelisten zunehmend weiter von der Intention der ihm ursprünglich vorliegenden Markus-Perikope in Mk 3,1–6 weg. In 6,6–11 löst sich Lukas bereits von der ihm in Mk 3,1–6 vorgegebenen Problemstellung einer Orientierungsnorm für Christen und bewegt sich auf sein eigenes Thema, den Erweis der Überlegenheit Jesu über seine Gegner, zu. Lk 13,10–17 strebt quasi in einem zweiten Anlauf das gleiche Ziel an, diesmal ohne die direkte Vorlage eines Quellentextes. Lukas übernimmt dazu aus Mk 3,1–6 bzw. in Übereinstimmung mit seiner eigenen Version der Erzählung in Lk 6,6–11 die Motive einer Wunderheilung Jesu sowie die Sabbatproblematik. Dadurch kommt es zu einer zweiten – auf den ersten Blick noch konstruiert wirkenden31 – weiterentwickelten Fassung des durch Lk 6,6–11 eingeführten Themas. Die dritte Stufe der Reflexion stellt Lk 14,1–6 dar.32 Die Erzählung zielt unmittelbar auf das lukanische Thema: Jesus ist seinen Gegnern vollständig überlegen. Die Stichworte „Sabbat“ und „Wunderheilung“ und der damit verbundene Konflikt müssen gar nicht mehr ausgebreitet werden. Lukas setzt die Problematik beim Leser als bekannt voraus und benutzt sie nur noch als illustrierendes Hintergrundmaterial für seine Jesusdarstellung. Sowohl bei Markus als auch bei Lukas bildet also nicht das Problem der Einhaltung des Sabbatgebots das Thema der Erzählungen über Heilungen Jesu am 31 Vgl. Anm. 5. Bultmanns Urteil, die Komposition der Perikope sei „ungeschickt“, ist vor dem Hintergrund seiner Voraussetzung zu verstehen, die Perikope stelle das Ergebnis eines längeren Wachstumsprozesses ursprünglich eigenständiger Einheiten dar. Berücksichtigt man jedoch ihren Gesamtduktus mit dem Ziel in V. 17, lässt sich ein einheitliches, klar umrissenes Erzählinteresse wahrnehmen, das gerade durch den Blick auf Lk 6,6–11 eine durchdachte Entstehung in einem Zuge wahrscheinlich macht. Die etwas schematische Abfolge von Wunder und Auseinandersetzung erklärt sich daraus, dass Lukas sich in 13,10–17 noch im Prozess der Formulierung seiner Intention befindet und erst in 14,1–6 zu ihrer Vollendung gelangt. 32 Lk 14,1–6 ist also nicht einfach eine Dublette zu Lk 13,10–17. Gegen Schmithals, Lukas (s. Anm. 11), 157.
III.
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Sabbat.33 Den Evangelisten liegt vielmehr an der Entfaltung ihrer Christologie, die sich in ihren Jesusdarstellungen niederschlägt. Lukas zeichnet einen hoheitlich handelnden Jesus, dessen Größe in allen drei Fällen durch den besonderen Kontrast zu seinen Gegnern gesteigert ist. Markus dagegen verkündet seinen Adressaten mit seiner Erzählung einen Jesus, der für eine neue Orientierungsnorm eintritt.34 Diese sprengt den Rahmen verbindlich festgelegter Verhaltensregeln, wie Markus in 3,1–6 am Beispiel des Sabbatgebots ausführt. Sie führt zwangsläufig in einen Konflikt mit den Vertretern der geltenden Ordnung und leitet damit das menschliche Scheitern Jesu ein. Die Herausarbeitung der Jesusdarstellungen und der in ihnen implizierten christologischen Auffassungen sowie die Beobachtung einer einheitlich in den Schlüssen aller drei untersuchten lukanischen Perikopen greifbaren Aussageabsicht führt für Lk 13,10–17 und Lk 14,1–6 zu dem Ergebnis, dass beide Sondergut-Perikopen aus der Hand des gleichen Verfassers wie Lk 6,6–11 stammen, also lukanische Kreationen darstellen. In ihnen treibt der Evangelist in fortschreitender Reflexion ein Thema voran, das sich bereits in seiner Bearbeitung von Mk 3,1–6 andeutet und das in Lk 14,1–6 zu seiner klarsten Entfaltung gelangt.35
33 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, behandelt die Sabbatkonflikte auf einer der Endfassung der Texte in den Evangelien vorausliegenden Ebene. Nach seiner Auffassung ist ihr Gegenstand „die charismatische Tätigkeit der Christen“ in ihrer „Missionspraxis“ (309). „Denn in charismatischen Zeichenhandlungen und in charismatischer Schriftexegese am Sabbat bestand vornehmlich die älteste christliche Missionstätigkeit“ (107). Den Sitz im Leben dieser Überlieferungen sieht Berger in der „apologetischen Argumentation der Judenchristen“ (107), die damit ihre Praxis rechtfertigten. Berger verweist in diesem Zusammenhang neben Mk 3,1–6 par.; Joh 5,1–16; Lk 13,10–17 und Lk 14,1–6 auch auf Mk 1,21–28 par. Dort handelt es sich jedoch um einen Exorzismus, für den gerade charakteristisch ist, dass er keinen Sabbatkonflikt nach sich zieht. Vgl. dazu Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 19), 49.61.66. Im Übrigen ist gegenüber Berger einzuwenden: Zwar vermag er den Texten durch ihre Verortung in der judenchristlichen Apologetik eine Funktion auf einer der vorliegenden Textbasis vorangehenden Stufe zuzuweisen. Gleichwohl stellt sich aber damit wiederum die Frage (vgl. Anm. 19.23): Wenn für die markinische und lukanische Gemeinde die Rechtfertigung, die laut Berger das Thema der Perikopen ausmacht, gar nicht nötig war, reduziert sich dann nicht der Wert dieser Erzählungen für die christlichen Adressaten der beiden Evangelien auf die informierende Wiedergabe vergangener Probleme? Vgl. dazu Anm. 39. 34 W. Marxsen, Die Sache Jesu – Plädoyer für einen Begriff, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 9–27, spricht zur Unterscheidung eines innerhalb der synoptischen Tradition begegnenden „Jesus-Kerygma(s)“ (24) von dem „Christus-Kerygma“ der neutestamentlichen Briefliteratur von einem „funktionalen Moment des Kommens Jesu in seiner Sache“ (25/26) im Unterschied zu einer „‚personale(n)‘ Christologie“ (26). Mit dieser Sprachregelung lässt sich jedoch auch die Differenz veranschaulichen, die zwischen dem Jesusbild des Markus und dem des Lukas in den behandelten Perikopen vorliegt. 35 Die Frage, warum Lukas über die Aufnahme von Mk 3,1–6 in Lk 6,6–11 hinaus gerade die Sabbatproblematik noch zwei weitere Male zum Anlass seiner Jesusdarstellung gewählt hat, obwohl die Sabbateinhaltung selbst kein Problem für seine Gemeinde bedeutet, erklärt sich aus der Konfliktträchtigkeit des Themas. Sie bietet dem Evangelisten die Möglichkeit, Jesus als seinen Gegnern auch argumentativ überlegen zu erweisen.
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Als ein Fehlurteil hat sich die Auffassung erwiesen, die beiden Perikopen seien aus den Logien in V. 15 bzw. V. 5 erwachsen.36 Weder läßt sich ein Primat der Logien vor der Szene verifizieren37 noch behaupten, sie stellten die Pointen der Szenen dar. Allenfalls lässt sich sagen, dass Lukas traditionelles Spruchgut seiner Darstellung zuführt.38 Aus der Feststellung einer auf die Gegenwart des Erzählers bzw. seiner Adressaten zielenden Erzählabsicht in Lk 13,10–17 und 14,1–6, die mit der Intention von Lk 6,6–11 übereinstimmt, lässt sich die Schlussfolgerung ableiten, dass beide Texte nicht isoliert existiert haben. Auch lassen sich von ihnen keine Vorstufen mit ursprünglich anderen Intentionen als der in der vorliegenden Fassung erkennbaren Aussageabsicht abheben. Beide Erzählungen sind erst von Lukas zur Vermittlung seines christologischen Anliegens geschaffen worden.39
Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 10. Auch Vouga, Jésus (s. Anm. 23), 66, hält die Logien in Lk 13,15 und 14,5 für den Ausgangspunkt der Entstehung von Lk 13,10–17 und 14,1–6. – Fragen erheben sich auch gegenüber Bultmanns Behandlung von Mk 3,1–6 (vgl. Bultmann, Geschichte [s. Anm. 2], 9). Wieso ist dort die Pointe „die prinzipielle Frage nach der Sabbatheilung“? Die Botschaft von V. 4 zielt doch vielmehr auf die umfassende Aufhebung der Neutralität gegenüber Gut und Böse, die am Beispiel des Sabbatgebots lediglich illustriert wird. Und: Entspricht die Frageform in V. 4 „als die typische Form des Gegenarguments“ tatsächlich „dem in V. 2 enthaltenen Vorwurf“? Zu beobachten ist demgegenüber: Gerade die Nichtentsprechung zwischen V. 2 und V. 4 bildet die Pointe der Perikope: Dazu s. o. 153–155. 37 Gemeint ist: dass die Szenen auf die Logien hin komponiert worden seien, also im Sinne Bultmanns, Geschichte (s. Anm. 2), 40, „ideale Szenen“ darstellten. 38 Ähnlich ist auch für Lk 6,6–11 festzustellen gewesen, dass die Perikope nicht auf das Wort Jesu in V. 9 zielte. Zu Mk 3,1–6 vgl. Anm. 36. – Damit erweist sich die von Bultmann, Geschichte (s. Anm. 2), 8–10, vorgenommene Zuordnung dieser Texte zur Gattung „Streitgespräche“ im Rahmen der Obergattung „Apophthegmata“ als problematisch, da gerade die Logien im Munde Jesu das konstitutive Merkmal dieser Gattung darstellen. Auf ihnen liegt das Gewicht der Szenen. 39 Methodisch problematisch ist es daher, die Texte zunächst aus ihrem Gesamtzusammenhang herauszulösen, eine hypothetisch angenommene Vorstufe zu rekonstruieren und dieser dann einen „Sitz im Leben“ oder eine ursprüngliche Funktion zuzuweisen. Wie sich gezeigt hat (vgl. Anm. 38), präjudizieren die hinter der Gattungsbestimmung stehenden Vorentscheidungen bereits die späteren Ergebnisse. Im vorliegenden Fall wird die erzählerische Absicht des Lukas dadurch gerade verstellt. Darüber hinaus erweist sich dieses Vorgehen im Falle der behandelten Sabbatkonflikte als theologisch fragwürdig. Der Versuch, den Texten einen Ort und eine Funktion auf einer der überlieferten literarischen Ebene vorangehenden Stufe zuzuschreiben, hat nämlich dazu geführt, auf der vorliegenden Textebene lediglich noch ein historisierend-referierendes Interesse wahrzunehmen (vgl. o. Anm. 19, 23, 33). Eine unmittelbar auf die Gegenwart des Verfassers und seiner Gemeinde gerichtete Verkündigungsabsicht wird hingegen nicht mehr sichtbar. Das hieße jedoch, dass auf der Ebene des Evangeliums Überlieferungen tradiert würden, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift als theologisch irrelevant angesehen worden wären. 36
In Stufen zur Einsicht: Die Blindenheilung in Mk 8,22–26 Stages of Insight: Healing the Blind Man in Mk 8:22–26 Jesus needing two attempts to heal the blind man has always caused irritation in the interpretation of this pericope. Also, the prohibition of the return of the healed man to his village has caused astonishment. In this article, an approach to the narrative is proposed which interprets the episode as a part of the larger overall context in Mk 6–8. In this environment, the duality is of paramount importance. This phenomenon sheds light on Jesus’ two stage healing of the blind man. The directional changes in the narrated space of the story are also of importance to the content.
Wären die neutestamentlichen Wundergeschichten tatsächlich vornehmlich zu propagandistischen Zwecken erzählt worden und hätten ihren „Sitz im Leben“ in der Missionsverkündigung an nicht-christliche Adressaten besessen,1 hätte die frühchristliche Gemeinde mit der Erzählung von der Heilung eines Blinden in Mk 8,22–26 kaum Eindruck auf die Außenwelt gemacht. Denn die Schilderung schmeichelt Jesus in keiner Weise. Zwar gibt dieser einem Blinden sein Augenlicht wieder. Jedoch auf welche Art! Dass Jesus den sehbehinderten Menschen anfasst, mag noch angehen. Aber dann folgt seine eigentlich wunderwirkende Maßnahme: Jesus spuckt dem Blinden in die Augen. Solch ein unästhetisches Verhalten mochten nicht einmal moderne Bibelübersetzer ihrer Leserschaft zumuten. Sie kultivierten den Vorgang durch ihre Übersetzung. Jesus „tat Speichel auf seine Augen“ (Luther-Revision 1984), bzw. „bestrich seine Augen mit Speichel“ (Einheitsübersetzung 1979) und hoben damit Jesus aus der Ecke der Magiers in die Welt der Therapeuten. Wie mit einer Salbe bestreiche Jesus im Gestus eines Arztes den beschädigten Körperteil. Erst die Lutherübersetzung von 2017 übersetzt schnörkellos „spuckte in seine Augen“. Auch nach der Behandlung sieht der „Patient“ allerdings nur halbwegs. Jesus muss nachbessern. Erst nachdem er den Blinden im wahrsten Sinne des Wortes 1 So die R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970 (ursprünglich 1921) verpflichtete formgeschichtliche Auslegungstradition.
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„befingert“ hat, gelingt die Heilung zur Zufriedenheit. Keine sehr werbewirksame Szene für Jesus! Er erscheint als ein Heiler, der es erst im zweiten Versuch schafft. Bedrückender als dieser nur halbe Erfolg hat auf aufgeklärte moderne Betrachter die magische Praxis als solche gewirkt. So mochte man sich Jesus nicht vorstellen! Er agiert wie ein Zauberer, um zu einem zweifelhaften Erfolg zu gelangen. Leute dieses Schlages hat es zu allen Zeiten gegeben. Die zentrale Erlösergestalt des christlichen Glaubens sollte eigentlich andere Züge tragen. Nicht zuletzt deshalb hat sich in der form‑ und redaktionsgeschichtlich geprägten Forschung die Hypothese Anerkennung verschaffen können, wonach sich in der Erzählung Reste eines primitiven frühchristlichen Glaubens erhalten hätten, der schon zu Zeiten des Evangelisten Markus nicht mehr akzeptabel gewesen sei. Aus diesem Grund habe das Markusevangelium durch redaktionelle Überarbeitung und die Zuordnung zu einem neuen theologischen Kontext Abhilfe zu schaffen gesucht. Das Bild von Jesus als einem machtvollen Zauberer sei bereits im Markusevangelium als häretisch bekämpft worden.2 Das Wunderwirken Jesu, von dem die älteste Überlieferung berichte, sei als eine „uneigentliche“ Form von Offenbarung zu bewerten. Richtig verstanden werden könne Jesus nur christologisch, und zwar nicht unter dem Aspekt seiner Hoheit, sondern kreuzestheologisch. Entsprechend sei der Hinweis am Ende der Erzählung: „Geh nicht in das Dorf hinein“ (8,26) als Teil des sog. Messiasgeheimnisses3 im Markusevangelium zu interpretieren. Die „direkte“ Offenbarung des Gottessohnes aus seinen großartigen Taten heraus werde verschleiert und bis zu Kreuz und Auferstehung und d. h. bis zum Ende der markinischen Gesamterzählung unter Verschluss gehalten. Erst von dort her erschließe sich der glaubenden Leserschaft die wahre Erkenntnis des Gottessohnes.4 Bereits die antike Leserschaft hatte ihre Probleme mit dieser Geschichte. Lukas, der „Bildungsbürger“ unter den Evangelisten, orientiert seine Jesusdarstellung am philosophischen Ideal des vorbildlichen Lehrers. Im Umgang mit Menschen verhält sich Jesus zugewandt und agiert ethisch anspruchsvoll. Seine Dominanz angesichts von Anfeindungen und in Krisensituationen ist evident. Problemen begegnet er souverän. Seine überlegene Einzigartigkeit charakterisiert ihn bis zu seinem Tod am Kreuz und zeigt sich in seiner siegreichen Überwindung des Todes durch die Auferstehung und in der schließlichen Apotheose bei seiner Himmelfahrt, die sein Werk krönt. Feinsinn und Ästhetik kennzeichnen die 2 Klassisch Th.J. Weeden, Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlasst hat, in: R. Pesch, (Hg.), Das Markusevangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 238–258. 3 W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 41969. 4 Zur exegetischen Bearbeitung der Perikope im Einzelnen und zur Forschungsgeschichte zu diesem Text vgl. P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 233–242.
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lukanische Jesuserzählung. Ein spuckender, Mirakel wirkender Jesus, der zwei Anläufe braucht, um zum Erfolg zu kommen, hat in einem solchen Werk keinen Raum. So kann die Entscheidung des Lukas nicht verwundern. Er streicht die ihm von Markus vorgelegte Erzählung. So war Jesus nicht! – jedenfalls nach lukanischer Darstellung. Die Welt des Markusevangeliums ist durch die Logik mythischen Denkens bestimmt. In Bethsaida bringen Leute einen Blinden zu Jesus. Jesus soll ihn anrühren. Das heißt es besteht die Erwartung, dass über den körperlichen Kontakt heilende Kraft übertragen wird. Auf sechsfache Weise tritt Jesus in dieser kurzen Erzählung in Beziehung zu dem Blinden. Er nimmt ihn bei der Hand, führt ihn aus dem Dorf hinaus, speit ihm in die Augen, legt ihm die Hände auf, spricht ihn an und legt noch einmal die Hände auf ihn. Danach wird der Geheilte in sein Haus geschickt, mit der Aufforderung, nicht in das Dorf hineinzugehen. In seinem Heimatdorf ist der ehemals Blinde blind gewesen. Sein Zustand und sein Herkunftsort bilden eine Einheit. Soll der Zustand sich ändern, muss ein Ortswechsel erfolgen. Ein anderer Ort macht einen anderen Menschen. An der Hand Jesu, der ihn aus seinem Dorf herausführt, lässt der Blinde seinen Heimatort hinter sich. Was bedeutet ein palästinisches Dorf für einen Blinden? Zwischen den wenigen Lehmhütten einer solchen Ortschaft kennt ein Blinder sich aus. Von Kindheit an hat er jede Fuge abgetastet. Jede Ritze im Mauerwerk ist seinen Fingern vertraut. Durch jeden Spalt und Durchgang ist er gekrochen, alle Stimmen hinter den dünnen Wänden sind ihm vertraut. Hier im Dorf kennt er sich besser aus als die meisten Sehenden. Es ist ein Wagnis, den Blinden aus seinem bisherigen Lebenskontext herauszuführen. Außerhalb droht ihm der Verlust seiner Orientierung. Die Heilung vollzieht sich in Etappen. Neue Klarheit, hundertprozentige Sehfähigkeit stellt sich erst allmählich ein. Schließlich aber sieht der Geheilte alles scharf und genau. Das Verbot der Rückkehr in das Dorf kann nun nicht mehr verwundern. Die Rückkehr und ein Rückfall in alte Blindheit liegen dicht beieinander. Sehend geworden ist er außerhalb des Dorfes auf freiem Feld. Nun darf die neu gewonnene Sehfähigkeit nicht durch die Zurückwendung an einen Ort gefährdet werden, an dem er einstmals blind gelebt hat. Wer in ländlicher Umgebung aufgewachsen ist, weiß: In einem Dorf orientiert man sich an stabilen Vorstellungen. Die Werthaltungen sind relativ klar. Wer auf dem Dorf aufwächst, kennt die geltenden Spielregeln. Solange jemand sich dem Rahmen geltender Normen einfügt, lebt er in Harmonie mit der Umwelt. Einmal hinausgegangen, die Freiheit eines anderen Lebens in der Stadt kennengelernt, gibt es keine Rückkehr unter die alten Bedingungen. Auch das Stadtleben schützt freilich nicht vor einem provinziellen Lebensstil. Man kann in der Stadt wohnen und im Inneren ein Dörfler bleiben. Die innere Provinz aus verfestigten Denkgepflogenheiten und eingefahrenen Verhaltensmustern kann dem Zustand von Blindheit nahe kommen.
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Die mythische Erzählung von der Heilung eines Blinden durch Jesus führt vor Augen: Einsicht ist möglich. Im Kontext des Markusevangelium bedeutet das: Die Erkenntnis Jesu als des Christus, des Gottessohnes, der Menschen in eine heilvolle Gottesbeziehung führt, wird Menschen eröffnet. Aber das Glaubensverhältnis zu Jesus als dem Christus ist von Vorurteilen, Unverständnis und Rückfall bedroht. Der Kontext von Mk 8,22–26 erzählt davon in anschaulicher Weise. Dabei spielt die Zweizahl, die für den Weg stufenweiser Erkenntnis in der Erzählung signifikant ist, eine besondere Rolle. Wieder und wieder versucht Jesus, Menschen zur Erkenntnis seiner Person und Mission und auf diese Weise in die Gemeinschaft mit Gott selbst zu bringen. Wiederholt speist er große Volksmengen. Erst sind es 5000, beim zweiten Mal 4000. Sie erhalten Brot in Fülle – aber sie erkennen Jesus nicht. Schon beim ersten Gegenwind auf ihrer Fahrt über den See halten sie Jesus für ein Gespenst (6,45–52). Nach der zweiten Großspeisung gilt ihre primäre Sorge weiterhin ihren fehlenden Brotreserven. Dass sie jedoch das eine Brot bei sich im Boot haben, begreifen sie nicht (8,14–21). Der Verständnislosigkeit der Jünger Jesu korrespondiert die Reaktion einer zweiten Gruppe von Zeugen des großartigen Wirkens Jesu. Geradezu haarsträubend erscheint ihr Verhalten. Unmittelbar nachdem Jesus 4000 Menschen gesättigt hat, treten Pharisäer mit der Forderung an ihn heran: Gib uns ein Zeichen (8,11–13)! Auch der auf die Blindenheilung unmittelbar folgende theologische Höhepunkt des Markusevangeliums in 8,27–33 greift die Zweizahl auf. Zugleich spiegelt die Szene zwischen Jesus und Petrus theologisch das Geschehen der Blindenheilung. Auf dem Weg in die Dörfer bei Cäsarea Philippi erkundigt sich Jesus bei seinen Jüngern, für wen ihn die Leute halten, d. h. welchen Stand der Erkenntnis sie in Bezug auf seine Person besitzen. Es folgen drei – unzutreffende – Antworten, die das Nichtbegreifen dieser Menschengruppe dokumentieren. Anschließend befragt Jesus seine Jünger als „die andere Gruppe“. Petrus gibt die sachgemäße Antwort: „Du bist der Christus!“, wird dafür aber anders als in der Matthäusfassung der Überlieferung in Mt 16,16–19 nicht mit einem Lob bedacht, sondern mit einem Schweigegebot belegt. Jesus will nicht im Status der Erhöhung verkündet werden. Statt von sich als dem Christus spricht er vom „Menschensohn“, und dies unter dem Aspekt seines Leidens, Sterbens und Auferstehens. Dies lässt wiederum Petrus nicht gelten und widerspricht. Spannenderweise nimmt dazu er, Petrus, Jesus als den vermeintlich Blinden beiseite (8,32). Jesu schroffe Zurückweisung verbindet sich mit einer körperlichen Drehung. Petrus spricht das aus, was hinter Jesus liegt. Er verkörpert den Rückfall. Zwar hat Petrus Richtiges erkannt. Vollständige Klarheit aber, so Jesus, bedeutet, in österlicher Perspektive das Leiden zu integrieren.5 5 Auch J. E. Aguilar Chiu, Jésus ou le „Fils de Dieu“ (Mc 1,1) dans le cadre historique et la structure narrative de l’évangile de Marc, in: Ders. / K. J. O’Mahony / M. Roger (Ed.), Bible et
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Nicht dass Jesus über herausragende ärztliche Qualitäten verfügt, nicht die Sprengung der Kausalketten durch eine für undenkbar gehaltene Wunderheilung macht die Besonderheit der Erzählung von der Heilung eines Blinden aus. In der mythisch verfassten Welt des Markusevangeliums ist die spirituelle Behinderung des Menschen das Krankheitsbild, das sich in körperlichen und geistigen Deformationen niederschlägt. Das wunderbare Ereignis besteht darin, an einem exemplarischen Beispiel zu zeigen, wie Jesus es ermöglicht, verstockte und verblendete Menschen zur Christuserkenntnis gelangen und in die Gottesbeziehung zurückkehren zu lassen. Die geistliche Grunderkrankung, zu der in der mythischen Welt eine körperliche Seite gehört, zu heilen, ist der markinische Jesus unermüdlich im Einsatz.
Terre Sainte. Mélanges Marcel Beaudry, New York u. a. 2008, 219–232, 228, stellt die Verbindung zwischen Petrusbekenntnis und der Blindenheilung her. Petrus hat zu sehen begonnen, aber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt „sa vision est partielle“.
Die Dämonisierung der Epilepsie in Mk 9,14–29 parr. The Demonization of Epilepsy in Mk 9:14–29 parr. In the history of Christian faith, obsession and epilepsy have a long and disastrous correlation. This essay reflects the origins of this development. The recourse to the New Testament is pursued, as Origenes in particular pointed out, with reference to the Gospel of Matthew.
Unter den zahlreichen Erzählungen über Heilungswunder Jesu in den Evangelien ragt eine auf besondere Weise aus den übrigen hervor: Die Erzählung von der Heilung eines epilepsiekranken Kindes. Es handelt sich um den ältesten christlichen Text, in dem wir mit der Epilepsie konfrontiert werden. Wir finden ihn in Mk 9,14–29 und basierend auf der Markusversion auch im Matthäus‑ und Lukasevangelium. Die neutestamentlichen Erzählungen über Heilungswunder sind auf eine vergleichbare Weise aufgebaut.1 Fast alle Heilungserzählungen folgen einem ähnlichen Muster.2 Charakteristische Elemente sind die verwandte Struktur und ein vorgezeichneter Ablauf der Ereignisse. Die konstituierenden Bestandteile der Erzählung in Mk 9,14–29 sind die Begegnung zwischen Jesus und der erkrankten Person, der Hinweis auf den Ernst der Erkrankung und die Mitteilung über die bisherige Dauer des Leidens. Die Situation fordert die Hilfe Jesu heraus. Im Unterschied zu anderen Erzählungen, in denen Jesus mittels Berührung oder Speichel heilt, agiert er in dieser Szene ausschließlich verbal. Er wendet sich an das betroffene Kind bzw. den unreinen Geist, den er hier am Werk sieht. Schnell erweist sich der Erfolg seiner exorzistisch-heilenden Handlung. Während sonst 1 Vgl. A. Lindemann, Jesus und das epilepsiekranke Kind. Zur Auslegung der Wundererzählung Mk 9,14–29, in: Ders., Die Evangelien und die Apostelgeschichte. Studien zu ihrer Theologie und zu ihrer Geschichte, WUNT 241, Tübingen 2009, 93–108, 93. 2 So im Anschluss an R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 223–260, die Analysen auf formgeschichtlicher Grundlage. Vgl. entsprechend G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 61990, insbes. 57–83. Mit anderer Akzentuierung W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective, FRLANT 163, Göttingen 1994, hier 48–52.
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jedoch am Ende solcher Episoden in einem „Chor-Schluß“3 die Freude über den glücklichen Ausgang der Szene geschildert und Gott für das Wirken Jesu gepriesen wird, endet diese Erzählung verhaltener. Das Erlebte stellt die Jünger vor die Rückfrage nach der Grenze ihres eigenen Vermögens (V. 28). Auch in einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich Mk 9,14–29 von anderen Erzählungen über Heilungen.4 Dies betrifft in erster Linie die sehr detaillierte Information über den Verlauf des Leidens des Kindes. Aus der Menge heraus spricht ein Mann Jesus an und erzählt ihm von seinem Sohn. Nach seiner Auffassung leidet der Junge unter einem sprachlosen Geist. Die Jünger hätten ihm allerdings nicht helfen können. Für die moderne Leserschaft der Erzählung ist deutlich, dass das Kind erkrankt ist. Es leidet unter epileptischen Anfällen. Der Vater des Jungen gibt eine detaillierte Beschreibung, was seinem Sohn widerfährt, wenn er von dem sog. stummen Dämon ergriffen wird. Auf diese Weise erfahren wir etwas über die Symptome der Krankheit. Der Vater beschreibt den Verlauf der häufigen Attacken. Wo immer der stumme Geist den Jungen erfasst, reißt er ihn zu Boden; und der Junge schäumt und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Jesus ordnet daraufhin an, den Jungen zu ihm zu bringen. Dies geschieht, und im Moment der Begegnung erleidet der Junge einen Anfall und wird zu Boden geworfen. Markus erzählt es so: Als der Geist Jesus sah, riss er den Jungen, und der fiel auf die Erde und wälzte sich mit Schaum vor dem Mund (V. 20). Das Interesse des markinischen Erzählers an der Person Jesu und die Darstellung der Vorbereitung der Heilung lenken den Blick von dem Jungen zurück auf Jesus. Es wird erzählt, dass Jesus sich den Fall im Detail schildern lässt. Seine Fragen erinnern an die eines Arztes bei der „Anamnese“.5 „Wie lange hat er das schon?“ Der Vater des Jungen antwortet: „Von Kindheit an; und oft warf er ihn ins Feuer und ins Wasser, damit er ihn vernichte.“ Anschließend appelliert er an Jesu Fähigkeiten und bittet ihn um Hilfe und Erbarmen. Jesus herrscht daraufhin den nun als „unrein“ bezeichneten Geist an und gebietet ihm auszufahren und nicht wieder in den Jungen hineinzufahren. Dieser schrie laut, riss den Jungen heftig hin und her und fuhr aus. Die Darstellung 3 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 54. 4 E. G. Tsalampouni, Intratextual Strategies in the Gospel of Mark: The Resurrection Narrative and the Healing of the Possessed Boy Narratives (Mark 9:14–29), in: E. J. Pentiuc (Ed.), Studies in Orthodox Hermeneutics, FS Theodore G. Stylianopoulos, Brookline 2016, 274–291, 282–283 und 284–285, hebt darüber hinaus als Kontext der Erzählung innerhalb des Markusevangeliums auf die Beziehungen zwischen Mk 9,14–29 und Mk 5,21–24.35–43 und das Verhältnis beider Erzählungen zur markinischen Ostergeschichte in Mk 16,1–8 ab. 5 M. Hengel / R . Hengel, Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken, in: A. Suhl (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament, WdF 295, Darmstadt 1980, 338–373, 360 (ursprünglich in: R. Siebeck / P. Christian / D. Rössler [Hg.], Medicus viator, Tübingen / Stuttgart 1959, 331–361, 350).
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in V. 26 wirkt wie der Fortgang der Beschreibung des Anfalls, die in V. 20 zum Ende gekommen oder unterbrochen schien. Markus interpretiert das sichtbare Geschehen als das Ausfahren des bösen Geistes. Mit einem Schrei verlässt dieser den heftig krampfenden Jungen. Das Kind liegt wie tot da und viele Leute nehmen an, dass es gestorben ist. Es ist offenkundig, dass wir an dieser Stelle Zeuge der Erschöpfung werden, die einem epileptischen Krampfanfall folgt, dem Grand mal. M. Leutzsch rät allerdings zur Zurückhaltung gegenüber der „Epilepsie-Diagnose“. Diese „pass(e) weitgehend, aber nicht ganz.“6 Im Blick auf die Markusinterpretation gelte es zu sehen, dass für den Evangelisten klar die Besessenheitsproblematik im Vordergrund stehe.
In der Tat ist nach Auffassung des Markus der Junge offenkundig von einem bösen Geist besessen. Charakteristisch für die Erzählung im Markusevangelium ist freilich die exakte Information, die den Leserinnen und Lesern über die Symptome und den Verlauf des Anfalls vermittelt wird. Markus zeigt besonderes Interesse an und Sorgfalt bei der Beschreibung dieser „Besessenheit“7 und an Jesu Art der Reaktion. Insofern ist bei der Interpretation der Begebenheit zwischen dem Selbstverständnis des markinischen Erzählers und dem Krankheitsphänomen, auf das er sich bezieht, zu differenzieren. Bald nachdem das Markusevangelium nach dem Jahr 70 n. Chr. vollendet war, griff Matthäus die Erzählung von Markus für seine eigene Evangelienschrift auf und veränderte sie (Mt 17,14–20). Er ersetzte die lange Beschreibung vom Leiden des Jungen durch eine sehr kurze Diagnose: Der Junge ist „mondsüchtig“ (V. 15), und „mondsüchtig zu sein“ ist der zeitgenössische Ausdruck für die Erkrankung an Epilepsie. Für Matthäus ist Epilepsie eine Krankheit, die durch einen Dämon verursacht wird. Dessen Austreibung durch Jesus lässt den Jungen unverzüglich gesunden (V. 18). Wie Matthäus nimmt auch Lukas die markinische Erzählung in sein Evangelium auf (Lk 9,37–43). Wiederum schildert der Vater den Ablauf eines Anfalls. In Übereinstimmung mit der Matthäusversion wird jedoch auch bei Lukas die markinische Schilderung eines akut auftretenden Anfalls gestrichen. Bemerkenswert ist, dass Lukas wie Markus im Unterschied zu Matthäus nicht von Epilepsie oder überhaupt einer Erkrankung sprechen, sondern von einer Besessenheit 6 M. Leutzsch, Vermögen und Vertrauen, Dämonie und Exorzismus (Die Erzählung vom besessenen Jungen). Mk 9,14–29, in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 350–358, 354–355, Zitate 354. Anders R. von Bendemann, Heilige Krankheit? Epilepsie im Spannungsfeld physiologischsozialer und religiöser Deutungen im Neuen Testament und im rabbinischen Judentum, in: M. Roth / J. Schmidt (Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Theologie – Kultur – Hermeneutik, Band 10, Leipzig 2008, 11–44, 38, der aus den Analogien zu den antiken Krankheitsbeschreibungen schließt, dass bei Markus „die griechischrömische Epilepsie, die ‚heilige Krankheit‘“ „inszeniert wird“. 7 Vgl. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996, 214.
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durch einen unreinen Geist bzw. einen Dämon. Im Unterschied zu Markus weiß die Lukasfassung jedoch davon, dass es sich bei diesem Jungen um ein epilepsiekrankes Kind handelt. Dafür gibt es ein starkes Indiz. Am Ende der markinischen Fassung der Erzählung wird mitgeteilt, dass die Austreibung des Geistes von einem Schrei begleitet wurde (Mk 9,26). Lukas dagegen besitzt offensichtlich Kenntnis darüber, dass ein Epilepsiekranker am Beginn seines Anfalls schreit. Aus diesem Grund korrigiert er die markinische Beschreibung und nimmt eine Umstellung vor. Er eröffnet seine eigene Version des Anfallsverlaufs damit, dass der Vater Jesus erzählt: Ein Geist ergreift seinen Sohn, schreit plötzlich, reißt, d. h. krampft ihn, wobei Schaum auf seine Lippen tritt, lässt kaum von ihm ab, misshandelt ihn (V. 39). Zusammenfassend ist festzustellen: Markus beschreibt die Symptome der Epilepsie, einschließlich des einen Fehlers der zeitlichen Zuordnung des Schreis, und einen epileptischen Anfall in der Meinung, es handele sich bei dem Vorgang um die Besessenheit durch einen bösen Geist. Matthäus und Lukas wissen, dass dieser Junge epilepsiekrank ist. Beide sind überzeugt, dass Epilepsie als eine Krankheit augenscheinlich von einem Dämon verursacht wird. In der Antike war die Auffassung verbreitet, dass die Epilepsie göttlichen Ursprungs sei. Die Krankheit wurde seit Heraklit als ἱερὴ νοῦσος resp. νόσος oder auf Lateinisch als morbus sacer bezeichnet.8 Nicht so allerdings im Corpus Hippocraticum.9 Dort wird eine innerweltlich rationale Sicht der Dinge zur Geltung gebracht: Epilepsie ist nicht göttlicher als irgendeine andere Krankheit. Man muss nach ihren natürlichen Ursachen fragen, wie man das bei jeder anderen Krankheit auch tut.10 Vgl. dazu von Bendemann, Heilige Krankheit? (s. Anm. 6), 11. Zum Begriff vgl. auch M. Wohlers, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, MThSt 57, Marburg 1999, 122–126. 9 Vgl. Lindemann, Jesus und das epilepsiekranke Kind (s. Anm. 1), 102.104–105. 10 Hippocrates, De morbo sacro, in: W. Müri (Hg.), Der Arzt im Altertum, München 41979, 234–269. H. Heintel, Quellen zur Geschichte der Epilepsie, Hubers Klassiker der Medizin und der Naturwissenschaften, Band XIV, Bern / Stuttgart / Wien 1975, zitiert Hippokrates von Kos nach H. Grensemann (Hg.), „Über die heilige Krankheit“, Ars medica, Texte und Untersuchungen zur Quellenkunde der Alten Medizin, 2. Abt., Griechisch-lateinische Medizin, Band 1, Berlin 1968. „Kap.I,1–12. Mit der sogenannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: Um nichts halte ich sie für göttlicher als die anderen Krankheiten oder für heiliger, sondern sie hat eine (11) natürliche Ursache wie die übrigen Krankheiten, aus der sie entsteht. Die Menschen sind zu der Ansicht, daß sie göttlich sei, infolge ihrer Ratlosigkeit und Verwunderung gelangt; denn in nichts gleiche sie den anderen Krankheiten.“ (12) „Kap. 18,1–6. Die hier besprochene sogenannte heilige Krankheit entwickelt sich aus denselben Ursachen wie die übrigen, aus dem, was in uns hineingeht und aus uns weggeht, und durch Kälte, Sonne und Winde, die wechseln und immer in Bewegung sind. Diese Dinge aber sind göttlich, so daß man diese Krankheit nicht abtrennen und für göttlicher halten darf, sondern alle muß man für göttlich und alle für menschlich halten. Jede aber hat ihren natürlichen Ursprung und ihre spezielle Wirksamkeit, und gegen keine sind wir rat‑ und machtlos.“ (16; alle Seitenangaben nach Heintel). 8
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Ebenfalls nicht geteilt wurde diese Sicht der Dinge im frühen Christentum, dort allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Wer unter dieser Krankheit leidet, gilt als von einem bösen Geist besessen. Mag diese Auffassung auch eine außerchristliche ältere Vorgeschichte besitzen, hat sie über die synoptischen Evangelien Eingang in die frühchristliche Literatur gefunden. Damit sind die Anfänge einer Tendenz in das Neue Testament gelangt, die sich später im Christentum ausweiten wird: Die Dämonisierung der Epilepsie. Einen aufschluss‑ wie einflussreichen literarischen Beleg dazu gibt es aus dem dritten christlichen Jahrhundert. Die Polemik des Origenes in seinem Matthäuskommentar gegen die natürliche Erklärung der Epilepsie ist unter Rekurs auf „das Evangelium“ eine Invektive gegen eine aus vor‑ und außerchristlicher Literatur bekannte Auffassung:11 Ärzte mögen versuchen, eine natürliche Erklärung der Krankheit zu geben. „Wir aber glauben dem Evangelium auch, daß diese Krankheit als von einem unreinen, stummen und tauben Geist in den daran Leidenden bewirkt betrachtet wird“.12 Auf der Basis der Matthäusfassung der Erzählung „definiert“ Origines „die dämonologische Ätiologie (…) als christlichen Standpunkt“.13 Die wirkungsgeschichtlichen Folgen dieser Wertung für die von der Krankheit betroffenen Menschen sind im christlichen Kulturkreis im Laufe der Kirchengeschichte bis in die jüngere Gegenwart gravierend gewesen.14
11 Wohlers, Heilige Krankheit (s. Anm. 8), 126, stellt dar, dass die religiöse Deutung der Epilepsie nach dem 5. Jh. v. Chr. zurücktrat und neben sie andere Deutungsmuster traten. In den ersten drei Jahrhunderten n. Chr. habe sie „kaum noch eine Rolle“ gespielt – abgesehen von Mk 9,14 ff. und Origenes in seinem Matthäuskommentar. 12 Origenes, Der Kommentar zum Evangelium nach Mattäus. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von H. J. Vogt, Erster Teil, Bibliothek der griechischen Literatur, Band 18, Abt. Patristik, Stuttgart 1983, 248–249, Zitat der Übersetzung 249. (Vgl. Origenes, Matthäuserklärung, XIII,6, GCS X/1, Leipzig 1935). 13 Von Bendemann, Heilige Krankheit? (s. Anm. 6), 23. 14 Vgl. von Bendemann, Heilige Krankheit? (s. Anm. 6), 23–24.
William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie William Wrede’s Imperial-Era Theory of the Messianic Secret William Wrede’s theory of the messianic secret in the gospels is probably the most influential hypothesis in modern research on Mark’s gospel. Since its publication in 1901, it has become an integral part of the investigations of the Markan Christology, albeit with modifications. Behind Wrede’s theory are undiscussed dogmatic presuppositions from past Christological debates as well as contemporary-historical influences that extend to the use of the Messiah title. It is distinctive that the imperial-era rulers’ presentation of the late nineteenth century has an impact on Wrede’s depiction. With it he literally sets Jesus, according to the zeitgeist of his era, an individual monument (Individualdenkmal).
1. Die Kontextgebundenheit wissenschaftlicher Theorien Dass gesellschaftliche Verhältnisse in Theoriebildungen ihren Widerhall finden und Erklärungsmodelle auch Ausdruck eines jeweiligen Zeitgeistes sind, ist weithin anerkannt. Oft erst in der Rückschau erkennbar, spiegeln sich in Theorien Faktoren, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht sichtbar waren und die erst im zeitlichen Abstand deutlich werden. Die Ursache für die Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Erklärungen liegt darin, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit von den Einflüssen geprägt ist, denen ihre Beobachterinnen und Beobachter ausgesetzt sind. Das gilt nicht zuletzt für den Bereich literarischer wissenschaftlicher Untersuchungen. Diese vollziehen sich nicht in einem neutralen Raum, sondern stehen unter dem Vorzeichen vorangegangener Debatten zum Gegenstand. In ihre Ergebnisse fließen zum einen die methodischen Vorentscheidungen ein, unter denen die Resultate erzielt werden. Auch diese sind ihrerseits nicht perspektivenunabhängig, lassen sich aber nachvollziehbar verobjektivieren. Zum anderen nehmen auch die schwer greifbaren Strömungen der jeweiligen Epoche Einfluss auf die Ausarbeitung der Untersuchungen. Wichtig für die sachgemäße Würdigung von Studien ist daher, deren Erkenntnisbedingungen soweit wie möglich in die Beurteilung der Untersuchungsergebnisse einzubeziehen; denn zwischen den Beobachtungsresultaten, der angewandten
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Untersuchungsmethode und den unausgesprochenen Perspektivierungen besteht ein Korrespondenzverhältnis. Hinter dieser Einsicht steckt das Wissen, dass Erkenntnisgegenstände sich in der Hinsicht zeigen, zu der sie die Gegenstandskonstitution formt. Das oszillierende Wechselverhältnis zwischen konstruierendem Zugriff und dem Untersuchungsgegenstand, der sich unter den Erkenntnisvoraussetzungen des erkennenden Subjekts zeigt, bestimmt in einem hohem Maße gerade auch die Resultate der Interpretationswissenschaften, die sich mit dem Verstehen von Texten befassen. Texte werden lebendig im Akt ihrer Aneignung. Ein Text, der noch vor niemandes Auge geraten ist, bleibt tot bzw. unbekannt und wirkungslos. Einmal gelesen und interpretiert, lebt er als gelesener und als interpretierter Text in der damit vollzogenen Lesart und Interpretationsfassung.1 Entsprechend spiegeln Textwahrnehmungstheorien immer auch das Erkenntnisinteresse ihrer Benutzer wider. Unter veränderten Hinsichten zeigen sich die Texte entsprechend anders. In den Auseinandersetzungen um das angemessene Verständnis eines Textes treffen häufig konkurrierende Interpretationen aufeinander. In diesen Debatten begegnet der Text, auf den sich die unterschiedlichen Deutungen beziehen, in Gestalt der Lesarten seiner Interpretinnen und Interpreten. Ein zur Kenntnis genommener, lesend angeeigneter Text hat als eine neutrale Größe zu existieren aufgehört. Er kann nicht als beobachtungsunabhängige Instanz im Streit der Interpretationen oder als „objektives“ Entscheidungskriterium für „richtige“ oder „falsche“ Lesarten beansprucht werden. Sobald sich eine Leserin oder ein Leser auf einen Text bezieht, erhält dieser eine Tendenz, d. h. er begegnet unter Einschluss des subjektiven Anteils, der der Konstruktionsleistung des sich auf ihn beziehenden Bewusstseins innewohnt.2
2. Wredes Theorie vom Messiasgeheimnis William Wredes Theorie über „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“3 von 1901 gilt bis in die Gegenwart als ein Schlüssel zum Verständnis des Markus1 Vgl. P.-G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 87–91. 2 Mit dieser Einsicht ist keineswegs der Willkür im Vollzug der Interpretation Tür und Tor geöffnet. Ein Text kann nicht für jede Bedeutungszuschreibung funktionalisiert werden. Die Grenzen der Interpretation lassen sich zumindest auf dem Weg der Negativabgrenzung ausmachen. Vgl. U. Eco, Interpretation und Geschichte, in: Ders., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von R. Rorty, J. Culler, C. Brooke-Rose und S. Collini, München 22004, 29–51, 47–50; vgl. Klumbies, Herkunft und Horizont (s. Anm. 1), 68–70.92–93. 3 W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 41969 (ursprünglich 1901). Wredes briefliche Äußerungen
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evangeliums.4 Auch wenn die Theorie mittlerweile in Einzelheiten Kritik erfahren hat,5 steht sie als hermeneutischer Zugang zur ältesten Evangelienschrift nach wie vor in Geltung. Praktisch keine Veröffentlichung zur Christologie des Markusevangeliums kommt ohne den Hinweis auf Wredes Untersuchung aus. Auf der Grundlage einer Unterscheidung zweier Zeitstufen, die der Abfassung des Markusevangeliums vorausliegen – der Lebenszeit Jesu bis zu seiner Kreuzigung sowie der Phase der ersten christlichen Gemeindebildung, die auf Ostern und das Bekenntnis der Auferstehung Jesu zurückblickt – führt Wrede vornehmlich drei charakteristische Elemente, die er im Markusevangelium beobachten zu können meint, zu einer einheitlichen Theorie zusammen. Dabei handelt es sich um 1. die Schweigegebote Jesu an Dämonen, Jünger und Geheilte, die er an diversen Stellen des Markusevangeliums notiert6, 2. die verhüllende Absicht der „Parabeltheorie“ in Mk 4,10–127 und 3. die Unfähigkeit der Jünger, Jesus zu begreifen.8 Die Messiasgeheimnistheorie Wredes bewegt sich in einem gedanklichen Schema, für das die Koordinaten von Erhöhung und Erniedrigung konstitutiv sind. Die Beobachtungen, die Wrede an den synoptischen Evangelien und insbesondere am Markusevangelium macht, gelten schwerpunktmäßig den Themen offenbaren und verheimlichen, reden und verhüllen, sichtbar machen und schwei‑ gen, lehren und nicht verstehen. Der Hiatus zwischen der in der markinischen Darstellung vorausgesetzten Messianität Jesu und dem Unverständnis der Seinen dokumentiert eine Spannung, unter der die Jesusgestalt im Markusevangelium steht. Wrede entwickelt aus seinen Wahrnehmungen ein Modell, demzufolge hinter dem Markusevangelium noch das Zusammentreffen zweier frühchristlicher Zeitstufen zu beobachten ist.
zum Problem eines messianischen Selbstverständnisses Jesu haben H. Rollmann und W. Zager herausgegeben in: W. Zager, Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004, 35–89. 4 Vgl. W. Zager, Art. Wrede, William (1859–1906), TRE 36, 2004 (Studienausgabe 2006), 337–343, 341; vgl. A. Winn, The Purpose of Mark’s Gospel. An Early Christian Response to Roman Imperial Propaganda, WUNT II/245, Tübingen 2008, 6–9. 5 So durch H. Räisänen, Das „Messiasgeheimnis“ im Markusevangelium. Ein redaktionskritischer Versuch, SESJ 28, Helsinki 1976, 159–160, der gegen Wrede bestreitet, dass im Markusevangelium eine „einheitliche Geheimnistheologie“ vorliegt. Lediglich die Schweigegebote an Dämonen und Jünger machen „das eigentliche ‚Messiasgeheimnis‘“ (159) aus. Verschwiegen werden müsse, dass Jesus der Sohn Gottes, der Christus, sei. Vom Messiasgeheimnis zu unterscheiden seien hingegen „das Motiv der geheimen Heilungen“ (159), die Parabeltheorie sowie trotz einer losen Anknüpfung auch das Jüngerunverständnis (160). Zur Auseinandersetzung mit Wrede vgl. auch Winn, Purpose (s. Anm. 4), 9–12. 6 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 9–51. 7 Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 51–65, zum Begriff „Parabeltheorie“ Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 64. 8 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 101–110.
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Das Grunddatum, aufgrund dessen im frühen Christentum von der Messianität Jesu gesprochen worden sei, ist die Auferstehung Jesu.9 Dementsprechend war Jesus „während seiner irdischen Wirksamkeit noch nicht der Messias“. Ihm fehlen „die Herrscherwürde und ‑macht“.10 Die Auferstehung Jesu bildet „den Scheidepunkt zweier Perioden“.11 Aus dieser Konstellation resultierte für die nachösterliche Gemeinde, die aufgrund der Auferstehung an Jesus als den Messias glaubte, das Problem, wie es möglich gewesen sein konnte, dass Jesu Messianität nicht bereits vorösterlich zu seinen Lebzeiten sichtbar gewesen sei. Die Antwort, die sich auf diese Frage ergab, lautete: Während der Phase „seines Erdenlebens ist Jesu Messianität (…) Geheimnis (…); mit der Auferstehung aber erfolgt die Entschleierung“.12 „(B)is zur Auferstehung (hat Jesus) seine Messianität und Gottessohnschaft verborgen“.13 Wredes Kritik an der Evangelienforschung seiner Zeit richtet sich darauf, dass diese „aus dem Leben Jesu heraus denke“. Sie interpretiere das Markusevangelium aus der Perspektive der „handelnden Personen“. Dieses Verfahren sei jedoch „falsch“, da Markus „keine wirkliche Anschauung mehr vom geschichtlichen Leben Jesu“ besessen habe.14 Der Vorwurf zielt darauf, dass auf diese Weise Begebenheiten und Episoden aus der erzählten Welt für historisch erklärt und nicht als theologisch überformte Darstellungen erkannt werden. Die Person Jesu sei demgegenüber „(d)ogmatisch gedacht“, „ein höheres, übermenschliches Wesen“.15 Vom „wirklichen Leben Jesu“ bietet das Markusevangelium „keine historische Anschauung mehr“, allenfalls „blasse Reste (…) sind in eine übergeschichtliche Glaubensauffassung übergegangen“.16 Die Idee einer „bewusste(n) Selbstverhüllung“17 Jesu und der Gedanke seiner geheimen Messianität breitet sich im Gesamtaufriss des Markusevangeliums über viele Darstellungsfelder: Die „Worte Jesu, zahlreiche Wundergeschichten und überhaupt den gesamten Verlauf der Geschichtserzählung“.18 Es handelt sich bei dieser Thematik nicht um „ein geschichtliches Motiv“, sondern um „eine theologische Vorstellung“.19
Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 213. Beide Zitate Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 214. 11 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 71. 12 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 67. 13 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 208. 14 Zitate Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 129. 15 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 130. 16 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 131, setzt fort: „Das Markusevangelium gehört in diesem Sinne in die Dogmengeschichte.“ 17 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 65. 18 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 114. 19 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 66. 9 10
2. Wredes Theorie vom Messiasgeheimnis
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Der bei Markus vorliegende Messiasgedanke bzw. das Verständnis von Messianität ist laut Wrede keine Fortführung einer „jüdischen Messiaserwartung“. Das Motiv speist sich vielmehr aus den „dogmatischen Gedanken einer spätern Zeit (…), die im Leiden und Tode Jesu den paradoxen göttlichen Ratschluss findet“.20 Entsprechend bezeichnen auf der markinischen Ebene der Messias‑ wie der Gottessohntitel dasselbe.21 Die Theorie vom Messiasgeheimnis stellt nach Wrede keine „Erfindung des Markus“ dar. Sie ist „nicht das Werk eines Einzelnen“. Vielmehr handelt es sich um die „Anschauung“ größerer Kreise, auf die Markus sich bezieht.22 „Traditionelles und Eigenes“ mischten sich in seiner Darstellung.23 Die Ausgangssituation im Urchristentum, die nach Wrede hinter dem Markusevangelium zum Vorschein kommt, ist so, dass die Auferstehung Jesu als Beginn seiner Messianität gilt und von einem messianischen Anspruch Jesu auf Erden zunächst noch nicht die Rede ist. In dem Augenblick, in dem die klare Unterscheidung zwischen den beiden Phasen aufzuweichen begann, fing man an, erste Hinweise auf die Messianität Jesu in dessen Lebensgeschichte zu identifizieren. Dieses führte im Ergebnis zum „Zurücktragen der Messianität ins Leben Jesu“.24 Damit hatte Ostern auf das vergangene Leben Jesu zurückzustrahlen begonnen. Jesus war „zwar eigentlich schon auf Erden (der Messias), (…) aber er sagte es noch nicht“.25 Die Theorie vom Messiasgeheimnis ist also eine „Übergangsvorstellung“.26 An die Stelle der Vorstellung von zwei exakt voneinander zu trennenden Phasen – der vor‑ und der nachösterlichen – tritt die Überlagerung der für unmessianisch gehaltenen Phase des Lebens Jesu durch messianische Motive, die ihren Ausgangspunkt im nachösterlichen Messiasglauben besitzen. Retrospektiv wird die Messianität Jesu sukzessive in die Darstellung der zentralen Ereignisse seiner Lebensgeschichte hineingelesen und den „Thatsachen des vergangenen Lebens Jesu“27 eine Bedeutsamkeit aufgeprägt, die diese als solche nicht in sich trugen. Wrede setzt für die durch den Auferstehungsglauben eingeläutete nachösterliche Phase des urchristlichen Gemeindelebens voraus, dass sehr schnell neben das Wissen um die unmessianische Lebensgeschichte Jesu die Deutung seines Lebens im Licht des Osterglaubens getreten ist. Binnen kurzem setzte sich im Urchristentum die Auffassung durch, dass der Nachösterliche bereits vorösterlich seinen besonderen Status besessen haben müsse, sein hoheitliches Wesen aber erst mit dem Auferstehungsglauben zur Beide Zitate Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 110. Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 76–77. 22 Zitate Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 145. 23 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 146. 24 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 227. 25 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 228. 26 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 242. 27 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 217. 20
21 Wrede,
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Anschauung gelangt sei. Die Erklärung für diesen Vorgang liege, so nimmt Wrede für die frühe nachösterliche Gemeinde an, darin, dass Jesus selbst zu Lebzeiten seinen besonderen Charakter verborgen habe.28 Er habe bis Ostern ein Geheimnis über seine Person gebreitet, das erst mit seiner Auferstehung für die nachösterliche Gemeinde gelüftet worden sei. Faktisch hat sich nach Wredes Darstellung in der nachösterlichen Gemeinde sehr schnell die Auffassung durchgesetzt, dass Jesus von Anfang an der von ihr verehrte Messias gewesen sei; nur habe dies vor Ostern niemand durchschauen können. Entsprechend konstruiere die Gemeinde das im Markusevangelium vorzufindende Bild eines Jesus, der selbst dafür gesorgt habe, dass seine Messianität bis zur Auferstehung unsichtbar geblieben sei. Das Verschleiern des Hoheitsstatus Jesu sei nach Darstellung der nachösterlichen Gemeinde auf Jesus selbst zurückzuführen – so Wredes Skizze vom historischen Umbruch zwischen der Zeit Jesu und den Anfängen der nachösterlichen Phase des Gemeindelebens. Das unterschwellige christologische Thema bildet die unerkannte Hoheit Jesu. Die Niedrigkeit, in der Jesus nur noch für eine kurze Zeitspanne nach Ostern sichtbar geblieben ist, bildet in historischer Hinsicht ein Vorstadium, das schon bald unter der christologischen Überformung unkenntlich geworden ist. Für die wissende nachösterliche Gemeinde gilt diese vorösterliche Phase als überwunden. Das für Wredes Jesusdarstellung im Markusevangelium konstitutive Geheimnismotiv spielt bereits in Adolf Jülichers Gleichnisbuch von 1886/1899 eine wichtige Rolle.29 Wredes Darstellung wirkt in methodischer Hinsicht geradezu wie eine Übernahme der Grundgedanken Jülichers in die Markusexegese. Bereits bei Jülicher bildet wie später bei Wrede ein Zweistufengedanke die Basis der Theorie. Jülicher unterscheidet bei den Gleichnissen Jesu eine Grundschicht von deren anschließender Überarbeitung.30 Während jedoch Jülicher zwischen der auf Jesus zurückführenden Ebene und der Überformung der Gleichnisreden Jesu durch die Evangelisten differenziert,31 geht es bei Wrede um die Einfügung des für ursprünglich unmessianisch gehaltenen Lebens Jesu in den nachösterlichen Anschauungsrahmen der frühen Gemeinde noch vor der Entstehung der Evangelienschriften. Die Evangelisten sind für Wrede diejenigen, die das spannungsvolle Konzept des Ausgleichsprogramms der frühen Christen aufbewahren. Aus ihrer in Gestalt der Evangelien vorliegenden Enddarstellung lässt sich nach 28 Nach Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), 66, ist „die Idee des Messiasgeheimnisses (…) eine theologische Vorstellung“, die weder auf Jesus noch auf Markus zurückzuführen ist, sondern in das dazwischen liegende Stadium der frühchristlichen Theologieentwicklung hineingehört. 29 A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. Zwei Teile in einem Band, Tübingen 21910 (ursprünglich 1886/1899, Nachdruck Darmstadt 1976). 30 Präzise dargestellt von R. Banschbach Eggen, Gleichnis, Allegorie, Metapher. Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung, TANZ 47, Tübingen 2007, 1–40. 31 Vgl. Jülicher, Gleichnisreden (s. Anm. 29), 11.69.183–186.322.
3. Dogmatische Implikationen der Theorie Wredes
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Wrede der Prozess zwischen der vorösterlichen Phase und der nachösterlichen Reaktion der ersten Christen rekonstruieren. Dass dieser Zugriff ausgezeichnet anschlussfähig für die am Wachstum der Tradition interessierte Formgeschichte wie auch die spätere Redaktionsgeschichte war, liegt auf der Hand. Er erklärt das Überleben von Wredes Hypothese auch unter den theologiegeschichtlich veränderten Umständen nach dem Ersten Weltkrieg.
3. Dogmatische Implikationen der Theorie Wredes In Wredes Theoriebildung wirkt eine Entwicklung nach, die in der evangelischen Dogmatik eine lange Vorgeschichte besitzt. Seit dem frühen 17. Jahrhundert stellte die Frage nach den Majestätseigenschaften Jesu Christi im Stande seiner Erniedrigung einen Streitpunkt innerhalb der christologischen Debatten dar. Im Kenosis-Streit um „die Vollverwirklichung des ‚genus maiestaticum‘“32 votierte seinerzeit die Tübinger Fakultät dahin, dass Jesus Christus von seinen Majestätseigenschaften in statu exinanitionis nur verborgen, in verhüllter Form Gebrauch gemacht habe. Im Gegensatz dazu plädierte die Gießener Fakultät darauf, dass im Blick auf die menschliche Natur Jesus Christus sich seiner Majestätseigenschaften im Stande der Erniedrigung enthalten habe. Die Auseinandersetzung fand in der Decisio Saxonica von 1624 ihren Abschluss. Deren Entscheidung tendierte stärker in Richtung der Gießener Position, die die volle Leidensfähigkeit Christi besser zur Darstellung bringen konnte, während die Tübinger Auffassung eher dem Vorwurf des tendenziellen Doketismus ausgesetzt war.33 War damit die Auseinandersetzung auch offiziell beigelegt, wirkte die Frage in den christologischen Standortbestimmungen der späteren Zeit gleichwohl nach. Zum Verständnis der Theorie Wredes ist bedeutsam, dass Wrede mit seiner Geheimnistheorie nicht selbst unmittelbar den Befund in den Evangelientexten erläutern möchte. Vielmehr ist es nach seiner Darstellung die frühe Gemeinde nach Ostern, die sich rückschauend auf diese Weise verständlich zu machen sucht, aus welchem Grund Jesus zu Lebzeiten von seinen Zeitgenossen und insbesondere seinen Anhängerinnen und Anhängern nicht als Messias erkannt wurde. Wrede sieht also eine frühe Gemeindetheologie am Werk, die auf der Grundlage des Glaubens an den Auferstandenen ein Bild der Vorphase dieser Epoche gestaltet. Insofern unterstellt er der frühen Gemeinde eine Christologie, die – anachronistisch unter der Perspektive der altprotestantischen Orthodoxie formuliert – tendenziell näher bei der der Tübinger Fakultät liegt. Wredes eigene christologische Position dürfte demgegenüber eher durch die die volle Mensch W. Joest, Dogmatik, Band 1: Die Wirklichkeit Gottes, Göttingen 21987, 213. Vgl. Joest, Dogmatik, Band 1 (s. Anm. 32), 213; vgl. ebenfalls R. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr‑ und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, Göttingen 42009, 293. 32 33
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lichkeit Jesu stärker akzentuierende Gießener Auffassung abgebildet sein – falls Wrede nicht unter rein historischer Perspektive in Distanz zu jeder christologischen Bestimmung der vorösterlichen Lebensspanne Jesu stand.
4. Messiashoffnungen und Herrscherrepräsentation im 19. Jahrhundert Abgesehen von der theologiegeschichtlichen Einordnung der Messiasgeheimnistheorie ist Wredes Erklärungsversuch auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenszeit aufschlussreich.34 In der Messiasgeheimnistheorie spiegelt sich eine Denkfigur des 19. Jahrhunderts, die besonders im politischen Raum weit verbreitet war. Wrede interpretiert die Darstellung der Person Jesu im Markusevangelium in Kategorien, die in Übereinstimmung mit den Maßstäben der Herrscherrepräsentation in den monarchisch verfassten Gesellschaften Mitteleuropas vor dem Ersten Weltkrieg stehen. Schon die Verwendung des Begriffs „Messias“ resultiert bei Wrede nicht aus der Lektüre des Markusevangeliums. Näher gelegen hätte von dort her der Gebrauch der Termini „Christus“ oder „Gottessohn“. Aber bereits im ersten Satz seines Vorwortes spricht Wrede ebenso selbstverständlich wie beiläufig von der „evangelische(n) Überlieferung von Jesus als dem Messias“35. Zwar ließe sich dies durch Wredes Interesse an den frühen historischen Entwicklungen im aramäischsprachigen palästinischen Christentum rechtfertigen. Aber eine solche Erklärung für seine Begriffswahl unterbleibt bei Wrede signifikanterweise. Er scheint die Vertrautheit der Leserschaft mit der Terminologie vorauszusetzen. In der Tat gehören seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sowohl das Substantiv „Messias“ als auch das Adjektiv „messianisch“ dem allgemein verbreiteten Vokabular des öffentlichen politischen Diskurses an.36 D. Borchmeyer verweist am Beispiel Heinrich Heines auf eine Parallele, die im 19. Jahrhundert zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk gezogen wurde: „Beide sind von einer messianischen Idee erfüllt, und Heine, überzeugt von ihrer tiefen Seelenverwandtschaft, sucht die beiderseitigen Erlösergestalten auf einen Nenner zu bringen. Auch Deutschland ‚erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias 34 Wrede wurde 1859 in Bücken bei Hoya geboren und starb 1906 in Leipzig. Zu seiner Person vgl. den Lebenslauf in: G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987, 106–108; O. Merk, Art. Wrede, RGG4 8 (2005) (ungekürzte Studienausgabe 2008), 1713; Zager, Art. Wrede (s. Anm. 4), 337–338. 35 Wrede, Messiasgeheimnis (s. Anm. 3), V; ähnlich die Verwendung der Terminologie in der thematischen Eröffnung des Buches, 5. 36 Vgl. W. Hardtwig, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Ders. (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, 61–90, 71; vgl. W. Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien / Köln / Weimar 2010, 63.
4. Messiashoffnungen und Herrscherrepräsentation im 19. Jahrhundert
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[…] – einen König der Erde, einen Retter mit Szepter und Schwert und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret … O teurer, sehnsüchtig erwarteter Messias!‘“37 Zur Wirkungsgeschichte des Geniekults zählte in Deutschland bereits das gesamte 19. Jahrhundert hindurch die Errichtung von Denkmälern für herausgehobene Persönlichkeiten im öffentlichen Raum. Diese Monumente zielten darauf ab, „das individuelle Verdienst“ der dargestellten Personen abzubilden.38 Die schnelle Verbreitung der Sitte, Individualdenkmäler zu errichten, führte bereits bei den Zeitgenossen zu kritischen Äußerungen, die von der „‚Denkmalwut‘“, der „‚Denkmälerinflation‘“ und sogar der „‚Denkmalpest‘“ der Epoche sprachen. „(D)ie monumentalen Denkmäler dominierten den öffentlichen Raum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts“.39 Allein in Deutschland stieg die Zahl der Denkmäler zwischen 1800 und 1883 von 18 auf 800.40 Teil des „‚Denkmalkult(s)‘“41 war jeweils die intensive Auseinandersetzung über die „historisch ‚richtige‘ Gewandung der Dargestellten“.42 Einen Höhepunkt erreichte der zunehmend nationalistisch aufgeheizte Boom im Wilhelminischen Deutschland mit der Errichtung des Kyffhäuser-Denkmals 1896. Es „nimmt konkret auf die zu dieser Zeit omnipräsenten nationalmythisch-messianischen Hoffnungen Bezug, da (…) die zeitgenössische Meinung in Kaiser Wilhelm I. den erhofften nationalen ‚Messias‘ sah“.43 Wrede konnte damit eine im allgemeinen Sprachgebrauch liegende, nicht aus dem Text heraus entwickelte und von ihm auch nicht problematisierte Begrifflichkeit aufgreifen und als bekannt voraussetzen. Auch die Verknüpfung messianischer Erwartungen mit dem Motiv der Heimlichkeit und des Geheimnisses ist durch den gesellschaftlichen und politischen Kontext im 19. Jahrhundert vorbereitet. Wredes nur acht Jahre älterer Zeitgenosse Julius Langbehn44 veröffentlichte 1890 ein Buch über „Rembrandt als Erzieher“, das innerhalb von nur zwei Jahren vierzig (!) Auflagen erlebte und bis 1938 auf neunzig Auflagen kam. In diesem kulturpessimistischen Werk handelt Langbehn von dem „‚öffentliche(n) Geheimniß‘“ des geistigen Verfalls des deutschen Volkes, dessen „‚große (…) Koryphäen auf den verschiedenen Gebieten‘“ aussterben. Prägend für „den deutschen Geist in der Vergangenheit 37 D. Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 17, zitiert H. Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. M. Windfuhr, 16 Bände, Hamburg 1973–1997, Band V, 782 f.; Band IX, 291 ff., 1005. 38 Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 140–149, Zitat 141. 39 Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 299. 40 Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 142. 41 Die Bezeichnungen bei Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 142. 42 Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 143. 43 Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 149. 44 August Julius Langbehn wurde am 26. 3. 1851 in Hadersleben geboren. Er starb am 30. 4. 1907 in Rosenheim.
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(…) sei das Individualitätsprinzip“ gewesen, das für Langbehn bezeichnenderweise durch den Niederländer Rembrandt verkörpert wird.45 „Langbehns Ideen gipfeln in der von Hebbel inspirierten Idee einer idealen (…) Führergestalt: dem ‚heimlichen Kaiser‘, der nicht nur an den Barbarossa-Mythos, sondern auch an das ‚geheime Deutschland‘ des George-Kreises denken lässt. Was den heimlichen Kaiser auszeichnen soll, ist die deutsche Grundtugend der ‚Bescheidenheit‘. Nach dem ‚Gesetz des ergänzenden Gegensatzes zwischen Mann und Masse‘ müsse er vor allem ‚ein bescheidener Mann sein, den man als einigende und zusammenfassende Persönlichkeit auf deutschem Bildungsgebiet nunmehr zu erwarten hat.“46 „Langbehns ‚heimlicher Kaiser‘“ gehört laut Borchmeyer in das Spektrum verbreiteter „Konzeptionen einer charismatischen genialen Führergestalt, die seit der Jahrhundertwende in Umlauf waren“.47 Cum grano salis lässt sich die Theorie vom „Messiasgeheimnis in den Evangelien“ als ein literarisches Individualdenkmal für Jesus verstehen, den Wrede mit dem Schleier eines Geheimnisses gewandet. Der Stoff, aus dem dieses Kleid gewebt ist, führt auf die genannten christologischen Differenzierungen zurück. Das Gewand selbst reflektiert rückschauend betrachtet einen geistigen Modetrend um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
5. Der Zeitgeist in Wredes Jesusdarstellung Die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts verlieh in ihren Herrscherdarstellungen den Verhältnisbestimmungen zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Adel und Bürgerschaft, Regierenden und Regierten sichtbaren Ausdruck. Reiterstandbilder und Herrscherbüsten wurden im öffentlichen Raum auf Sockeln und Podesten präsentiert. Sie machten durch die Größenverhältnisse und die Blickachsen die Relation zwischen den Betrachtenden und den betrachteten Figuren sinnenfällig. Neben dem damit eingeübten Verhältnis von Unter‑ und Überordnung wurde gleichzeitig sorgsam auf die Beziehung zwischen Herrschern und Untertanen geachtet und die beide miteinander verbindende Relation als Grundlage für ein gelingendes Zusammenleben zur Anschauung gebracht. So wurde ein Herrscherbild geschaffen, das die Identifikation der Untertanen ermöglichte und die Projektionsfläche für eine positive Einstellung gegenüber dem Königs‑ resp. Kaiserhaus bot. 45 Die Darstellung zu Langbehn und die Zitate stammen von Borchmeyer, Was ist deutsch? (s. Anm. 37), 308–309, Zitate 309. 46 Borchmeyer, Was ist deutsch? (s. Anm. 37), 311. Die zweiten Anführungszeichen nach „‚ein bescheidener Mann‘“ fehlen bei Borchmeyer. 47 Borchmeyer, Was ist deutsch? (s. Anm. 37), 311/312. Ausdrücklich weist Borchmeyer, Was ist deutsch? (s. Anm. 37), 312, darauf hin, dass dieses „Bild (…) mit dem nationalsozialistischen ‚Führer‘ nur die Bezeichnung gemein“ hat.
5. Der Zeitgeist in Wredes Jesusdarstellung
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Mit dem Zerbrechen der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung und der hierarchischen Verhältnisse geht seit alters her der Denkmalsturz einher. Der auf Umstürze und Revolutionen folgende Wertewandel lässt eine positive Identifikation mit den in Stein oder Metall festgehaltenen Herrschern und den durch sie verkörperten Ordnungsverhältnissen nicht mehr zu. Der geschichtliche Wandel präjudiziert über kurz oder lang den Denkmalsturz insbesondere dort, wo die geltenden hierarchischen Verhältnisse von einer großen Menge der Bevölkerung zunehmend als bedrückend empfunden werden. Nach einem politischen Systemwechsel wird es für eine Gesellschaft unerträglich, sich weiterhin den öffentlich zur Schau gestellten Werten ausgesetzt zu sehen, von denen sie sich soeben gelöst hat.48 Unter geisteswissenschaftlicher Perspektive ist auch „(d)ie Verschränkung von Erinnern und Vergessen“49 zu gewärtigen. A. Assmann macht unter Bezug auf Robert Musil auf die Ambivalenz des Erinnerungskultes aufmerksam. Häufig verfehle die öffentliche Erinnerungskultur gerade ihren Sinn. Statt die Erinnerung lebendig zu halten, fördere sie das Vergessen.50
Im 19. Jahrhundert stellt die in Denkmälern, Bildern und Bauwerken vollzogene mediale Inszenierung von Herrschaft und der Beziehung zwischen Herrschenden und Untertanen die selbstverständliche Rahmenbedingung des gesellschaftlichen Lebens dar. Theologie vollzieht sich unter den Bedingungen der Monarchie, und die evangelische Theologie steht auf der Grundlage des landesherrlichen Kirchenregiments traditionell in enger Verbundenheit mit den Herrscherhäusern. Insofern kann es nicht erstaunen, dass dieser Kontext seinen Niederschlag auch in Denkbewegungen innerhalb von Theologie und Exegese findet. Unter den Prämissen der Herrscherrepräsentation kommt im Rahmen der Messiasgeheimnistheorie das Bild Jesu als das eines bescheidenen, zurückgenommenen Herrschers zur Geltung, der seinen besonderen Status nicht hervorkehrt, sondern diskret zu verhüllen trachtet. Auch seine Überlegenheit gegenüber seinen Anhängern betont er nicht. Da seine hoheitliche Stellung ihm von der Rückschau haltenden Urgemeinde ohnehin eingeräumt wird, ist dies auch nicht notwendig. Die glaubende Verehrung der Gemeinde für den Messias Jesus ist gerade die Voraussetzung, dass sie ihn, laut Wrede, als Herrscher ohne hoheitliche Attitüde zeichnen kann, und ihm in dieser Selbstverständlichkeit umso stärker den Hoheitsstatus zubilligt, den er aufgrund des Osterglaubens für sie besitzt. Dogmatisch gesprochen dominiert in Wredes Theorie der Jesus einge-
48 Vgl. A. Assmann, Formen des Vergessens, Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge Band 9, Göttingen 22016, 74. Zu „Denkmalsturz-Inszenierungen“ (90) vgl. 88–92. 49 Assmann, Formen des Vergessens (s. Anm. 48), 11. 50 Vgl. Assmann, Formen des Vergessens (s. Anm. 48), 69–73.
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räumte status exaltationis die Ausformulierung des Bildes des vorösterlichen Jesus, der in das Gewand des status exinanitionis gekleidet erscheint. Die nachhaltige Wirkungsgeschichte, die von Wredes Theorie ausgegangen ist und von den weitergehenden „Deutungen und Umdeutungen“ zeugt, demonstriert eindrücklich, wie die Messiasgeheimnistheorie selbst zu einem Denkmal in literarischer Gestalt geworden ist, das „wie die Monumente ständigen Uminterpretationen ausgesetzt“51 gewesen ist. Neben die zahlreichen „Individualdenkmäler“ für bedeutende Persönlichkeiten des Geisteslebens, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtet werden – in Deutschland für „Dürer, Luther, Gutenberg, Goethe, Wieland, Lessing und Kant“52 – setzt Wrede mit seiner Darstellung ein literarisches Individualdenkmal für Jesus.
6. Der markinische Jesus unter postmonarchischen Verstehensbedingungen Die Interpretation des Markusevangeliums unter den veränderten Verstehensbedingungen in Zeiten der Demokratie legt es nahe, die dem Kontext der Monarchie geschuldeten Implikationen der Theorie Wredes durch einen veränderten Zugriff auf die Inszenierung der Person Jesu im Markusevangelium zu ersetzen. Dass damit wiederum dem Zeitgeist in veränderter Gestalt Einlass gewährt wird, wird nur unter der Voraussetzung der Annahme eines wissenschaftlichen Objektivitäts‑ und Neutralitätsideals auf Kritik stoßen. Da es eine erkenntnis‑ und kontextunabhängige Zugangsweise zu den Texten und damit eine abschließende Textinterpretation jedoch nicht gibt, fließen in die veränderte Perspektive auf die Texte zwangsläufig Einflüsse ein, die dem gegenwärtigen Beobachterstandpunkt entstammen. Für jede Forschergeneration bleibt damit neu die Aufgabe eines interpretativen Zugriffs unter den für sie geltenden Erkenntnisbedingungen bestehen. Nachdenklich stimmt allerdings im Blick auf Wredes Theorie, dass sie mit wenigen Modifikationen von der Kaiserzeit bis in die demokratisch-postmoderne Gesellschaft überdauern konnte und die Herrscherrepräsentation wie die Idee des heimlichen Kaisers als ihr Kern undurchschaut und unhinterfragt geblieben ist. Was Wrede wie fast alle Markusforscherinnen und -forscher nach ihm als Problem für die Exegese des Markusevangeliums identifiziert haben, sind die zwei Ebenen, die bei Markus begegnen. Unter dem literarkritischen Paradigma hatte man diese auf zwei aufeinander folgende historische Zeitstufen aufgeteilt. Wredes Bemühung zielte darauf, ein vorösterliches Problem zu lösen, nämlich die aus Sicht der nachösterlichen Gemeinde unmessianische vorösterliche Erscheinungs Beide Zitate Telesko, 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 137. 19. Jahrhundert (s. Anm. 36), 147.
51
52 Telesko,
7. Der Verzicht des markinischen Jesus auf eine Vorrangstellung
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weise Jesu. In der anschließenden Epoche der Formgeschichte ging es dagegen darum, ein nachösterliches Problem zu lösen. Es wurde eine Antwort auf die Frage gesucht, wie das Bekenntnis von Kreuz und Auferstehung Jesu im Blick auf die Überlieferungen zur Geltung zu bringen ist, die den irdischen Jesus zu Lebzeiten und damit scheinbar vorösterlich zeichnen. Die theologisch motivierte Lösung bestand darin, das Passions‑ und Osterkerygma als den übrigen Überlieferungen vorgeordnet zu verstehen. Inhaltlich sei die Jesuserzählung auf der Ebene der Endfassung von ihrem Schluss, nämlich von Kreuz und Auferstehung Jesu, her zu verstehen. Aber auch in ihrer historischen Genese gehe die Traditionsbildung der nur vordergründig vorösterlich wirkenden Überlieferungen auf den Osterglauben der frühen Christen zurück. Nach Auffassung der von der Christologie geprägten dialektisch-theologisch durchdrungenen Formgeschichte hatte alle frühchristliche Traditionsbildung das Christuskerygma zur Voraussetzung.53 Für die Redaktionsgeschichte schließlich führte die Wahrnehmung von (mindestens) zwei Bearbeitungsstufen innerhalb des Markusevangeliums zu der These innergemeindlicher christologischer Spannungen, die in Auseinandersetzungen zwischen ersten mirakelgläubigen Jesusverehrern in einer frühen Phase des Überlieferungsprozesses und dem späteren am Osterkerygma orientierten Endredaktor Markus mündeten.54
7. Der Verzicht des markinischen Jesus auf eine Vorrangstellung Zweiheit – Dualität – ist offenkundig ein Thema bei Markus, das exegetisch bzw. interpretatorisch bewältigt werden muss. Auch wenn der literarkritisch initiierten diachronen Auslegung mit ihrem Paradigma übereinander gelagerter Textschichten der Abschied zugunsten einer narratologisch-synchronen Interpretation gegeben wird, bleibt das Grundproblem bestehen. Der Zweizahl und dem Phänomen der Dualität kommt auch innerhalb der als literarische Einheit wahrgenommenen Jesuserzählung bei Markus eine herausragende Bedeutung zu. Dies gilt sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch im Blick auf die formale Gestaltung des Erzählstoffs. Ob in Gestalt von textlichen Doppelungen und inhaltlichen Alternativsetzungen, ob als Richtungswechsel oder Perspektivänderung – Dualität ist für die erzählte Welt des Markusevangeliums kennzeichnend. Die erste Handlung des bei seiner Taufe mit dem Geist ausgestatteten Gottessohnes Jesus führt ihn in die Wüste zu einem Treffen mit dem Obersten der widergöttlichen Geister, dem Satan. Mit dieser Einstiegsszene breitet der Erzähler 53 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese, BZ NF 58 (2014), 21–45, 25–29. 54 Vgl. exemplarisch Th.J. Weeden, Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlaßt hat, in: R. Pesch (Hg.), Das Markus-Evangelium, WdF 411, Darmstadt 1979, 238–258.
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William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie
eine polare Weltsicht über das Markusevangelium. Die gesamte Erzählung ist von Jesu Bemühung um die Ausbreitung des göttlichen Geistes unter den Menschen und dem Kampf mit widergöttlichen Geistern geprägt. Unmittelbar wie mittelbar melden sich die dämonischen Kräfte zu Wort. Wiederholt treten sie Jesus personifiziert als unreine Geister direkt entgegen (1,21–28; 5,1–20). Häufiger noch geben sie sich im Gewand menschlicher Verhaltensweisen, die abzustellen Jesus sich bemüht, zu erkennen. Petrus verschließt seine Augen gegenüber der mit der Jesus-Nachfolge verbundenen Leidensdimension (8,32), die Jünger träumen von einer Verbindung des Reich-Gottes-Gedankens mit ihren persönlichen Karriereambitionen (9,33–35; 10,28–31; 10,35–45), Petrus nimmt Jesus im Licht seiner eigenen Größenphantasien wahr (8,29–33), und er überschätzt seine Hingabefähigkeit und Treue (14,29–31; 14,54.66–72). Die Geisteshaltung der Menschen, mit denen Jesus zusammentrifft, zeigt sich darüber hinaus in den Alltagsanforderungen des Lebens. Existenz‑ und Todesangst der Jünger werden bei einer Bootsfahrt in stürmischer See sichtbar (4,35–41). Erkrankungen vielfältiger Art verweisen auf ein Leben, das in der Entfaltung seiner Möglichkeiten beeinträchtigt ist.55 Menschen werden im Markusevangelium in anthropologischer Hinsicht als Besessene gezeichnet.56 Sie stehen entweder direkt unter der Herrschaft von Geistern, von denen Jesus sie befreit; oder sie unterliegen einer Geisteshaltung, die zu wenden Jesus sich einsetzt. Auf beide Weisen unternimmt es Jesus als Agent Gottes, dem göttlichen Geist, den zu verbreiten er angetreten ist, unter den Menschen Raum zu verschaffen. Für die Beobachtung der Zweizahl kommt der Passage Mk 6,30–8,33 besondere Bedeutung zu.57 In 6,30–44 und 8,1–9 wird von zwei wunderbaren Speisungen erzählt, anschließend von einem zweifachen Unverständnis auf Seiten der Pharisäer (8,10–13) und der Jünger (8,14–21), von einem doppelten Heilungshandeln Jesu im Zuge der Blindenheilung in 8,22–26 sowie von einer zweifachen Frage Jesu an die Jünger, für wen ihn die Leute halten (8,27.29). Der markinische Erzähler zeichnet einen Jesus, der sich „wieder und wieder“58 darum bemüht, Menschen zur Erkenntnis seiner Person zu bringen. Die Darstellung zielt darauf, Menschen in die Jesus-Christus-Gemeinschaft zu führen. Das gilt für die Personen, die innerhalb der erzählten Welt auftreten. Es schließt Leserinnen und 55 Vgl.
2,1–12; 5,21–43; 7,31–37; 8,22–26; 9,14–29; 10,46–52. Vgl. G. Klein, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349, 340–342. 57 Vgl. im Einzelnen P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 235–242. 58 Das bei Markus gehäuft auftretende Adverb πάλιν (28-mal) wirkt wie eine mitlaufende Kommentierung der unentwegten Bemühung Jesu, die Augen für seine Person und sein Anliegen zu wecken. Vgl. dazu Klumbies, Mythos (s. Anm. 57), Kapitel 3.3.8: πάλιν: Die Wiederkehr des Gleichen bei Markus (140–143). 56
7. Der Verzicht des markinischen Jesus auf eine Vorrangstellung
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Leser ein, denen die Brotthematik in den Speisungserzählungen den Blick für die sakramentale Gemeinschaft mit Christus öffnet.59 Im Blick auf die Inszenierung der Person Jesu im Markusevangelium ist die Zweiheit des Wechselspiels von Erhöhung und Erniedrigung konstitutiv. Anders als in Wredes Theorie vom Messiasgeheimnis geht es dabei nicht um die Verheimlichung eines vorausgesetzten Hoheitsstatus Jesu. Weder bildet die verborgene Messianität Jesu das Zentralthema noch handelt es sich beim Markusevangelium um ein „Buch der geheimen Epiphanien“.60 Die Schweigegebote zielen nicht auf die Verheimlichung und Verschleierung eines mit der Person Jesu verbundenen Geheimnisses, welches inhaltlich in einem verborgenen status exaltationis besteht.61 Vielmehr dienen die Aufforderungen an die Jünger, an etliche Geheilte sowie die Dämonen dazu, Erhöhungsversuche der Person Jesu abzuweisen.62 Die wiederholten Versuche, Jesus durch Erhöhung aus dem Kreis der ihn umgebenden Menschen herauszuheben und über sie zu stellen, werden auf diese Weise erzählerisch als unangemessen qualifiziert. Die Abweisung der Statuserhöhung steht im Dienst eines inkarnatorischen Anliegens. Jesus wird als Person nicht mit einem formal besonderen Status ausgezeichnet und damit seiner normalen Menschlichkeit beraubt. Unter dem Statusgesichtspunkt bleibt er ein Mensch unter anderen. Der Erzähler überführt Jesu soteriologisches Bemühen nicht unmittelbar in eine personale Qualität. Die Besonderheit Jesu besteht innerhalb der erzählten Welt darin, dass er Menschen in die Gottesgemeinschaft zurückführt, ohne dass daraus eine Statuserhöhung seiner Person abgeleitet würde. Die erzählerische Absicht richtet sich darauf, die verheerende Wirkung der Popularisierung Jesu und das Gefahrenpotential herauszustellen, das mit der zunehmenden Erlangung seines Prominentenstatus verbunden ist. Zwar lässt der Erzähler Jesus defensiv agieren und so handeln, dass die Erhöhung seiner Person nach Möglichkeit vermieden oder zumindest minimiert wird. Aber mit weitergehendem Handlungsablauf beginnt sich das Bedrohungspotential, das der Besonderheit Jesu innewohnt, herauszuschälen. Die Schlüsselstelle für den Umschlag der Erzähldynamik ist das Christusbekenntnis des Petrus in Mk 8,29. Der Sinn der abwehrenden Reaktion Jesu auf die als solche ja nicht falsche Aussage Petri erschließt sich spätestens in der Szene des nächtlichen Verhörs vor dem Hohenpriester nach der Verhaftung Jesu. Mk 8,29 und 14,61 bilden im Erzählablauf einen inneren Dialog. In dem Augenblick, in dem der Hohepriester in Mk 14,61 Jesus mit den identischen Worten des Petrus aus 8,29 konfrontiert – σὺ 59 Vgl.
Klumbies, Mythos (s. Anm. 57), 242. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, mit einem erweiterten Nachtrag von G. Iber, hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 61971, 232. 61 Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 57), 310. 62 Vgl. auch die Kritik von G. Ó Floinn, The Motif of Containment in the Gospel According to Mark. A Literary-Critical Study, London 2018, 21–27.257–269. 60
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William Wredes kaiserzeitliche Messiasgeheimnistheorie
εἶ ὁ χριστός – und Jesus zum ersten Mal in der gesamten Erzählung verhalten zustimmend darauf reagiert, fällt das Todesurteil gegen ihn. Im dramaturgischen Verlauf der Gesamterzählung stirbt Jesus an dem als (Selbst‑)Erhöhungsaussage interpretierten Christusbekenntnis.63 Der unterstellten Erhöhung aus dem Kreis der allen Menschen in gleicher Weise eignenden Menschlichkeit folgt auf dem Fuße die Erniedrigung. Dem Akt der Erhöhung wohnt im Keim bereits die gegen sie gerichtete Aggression inne. Dem Monumental‑ resp. Individualdenkmal – in diesem Fall: der christologischen Exponierung der Person Jesu – droht der Denkmalsturz.
8. Exegese unter zeitgeschichtlichem Einfluss Es liegt auf der Hand, dass auch das Egalitätsideal, welches hinter der hier vertretenen Interpretation steht, zeitgeschichtlich vorgeprägt ist. Mit der Abkehr vom Ideal einer beobachterunabhängigen Exegese ist diese Einsicht freilich nicht als das notwendige Übel einer um wissenschaftliche Exaktheit bemühten Auslegung anzusehen. Auch geht es nicht um eine Aufwertung subjektiver Zugänge gegenüber einer am Objekt orientierten wissenschaftlichen Arbeit, d. h. hier der textnahen Interpretation. Transparent zu machen ist vielmehr der Zirkel zwischen der Annäherung an den Gegenstand und dem Untersuchungsobjekt selbst. Inwieweit der hier gegenüber Wredes kaiserzeitlicher Messiasgeheimnistheorie vorgetragene Zugang, der sich einem demokratisch-egalitär vorgeprägten setting am Anfang des 21. Jahrhunderts zuordnen lässt, Bestand haben wird, hängt nicht zuletzt auch von den zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ab, unter denen zukünftige Exegetinnen und Exegeten ihre Interpretationsaufgabe am Markusevangelium wahrnehmen werden.
63 Zur Einzeldurchführung und weiteren Begründung des Gedankens vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 57), 256–267.
Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie The Interpretation of Mark by Willi Marxsen and its Consequences for Christology Willi Marxsen’s soteriological-theological explication of New Testament Christology found only little understanding during his lifetime. Marxsen’s exaltation of the theological quality of the narrative synoptic gospels received only limited resonance in an epoch which focused on the conceptual development of the Christian proclamation. The appreciation of the narrative development of Christology, especially by Mark, led Marxsen to an independent formulation of the Kerygma conceptualized by Bultmann. In Mark's presentation of Jesus as the bearer of the divine rule, according to Marxsen, a soteriological Christology of narrative form, which corresponds to personal Christology, is expressed.
1. Die Themenstellung Im Jahr 1956 erschien Willi Marxsens Untersuchung „Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums“ in erster Auflage im Druck.1 Das bereits 1954 in Kiel als Habilitationsschrift vorgelegte Werk hat exegetisches Neuland erschlossen. Bis heute wird es als Meilenstein der Markusforschung im 20. Jahrhundert in den Literaturverzeichnissen der meisten dem Markusevangelium gewidmeten Monographien aufgeführt. Im Nachfolgenden geht es darum, die von Marxsen im Zuge seiner Markusinterpretationen gewonnenen Einsichten zu vergegenwärtigen und in die forschungsgeschichtliche Entwicklung der neutestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert einzuzeichnen. Nach knappen biographischen Vorbemerkungen, die den Kontext von Marxsens wissenschaftlicher Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung rufen, wird zunächst auf den Stand der Markusforschung in der ersten Jahrhunderthälfte verwiesen. Anschließend werden die zentralen Gedanken des Buches rekapituliert. Dabei werden die Impulse der Studie hervorgehoben, die in den Debatten der Folgezeit relevant geworden sind. 1 W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 21959 (ursprünglich 1956).
192 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie Auch wenn es nicht immer Marxsens Arbeit selbst gewesen ist, die Entwicklungen späterer Jahre angestoßen hat, klingen in seinen Ausführungen Einsichten an, die erst unter veränderten Zeitumständen zu voller Entfaltung gelangten. In der Rückschau zeigt sich, dass Marxsens redaktionsgeschichtliches Verfahren Erkenntnisse freigesetzt hat, die in den späteren literaturwissenschaftlichnarratologischen Zugängen zum Markusevangelium weiterentwickelt wurden. In seiner eigenen Wirkungsperiode waren historisch-philologische und formgeschichtliche Paradigmen noch derart dominant, dass Marxsens Stimme nur in eng begrenztem Maße durchdrang und seine Forschungsbeiträge später teilweise wieder vergessen wurden. Die Ergebnisse, zu denen Marxsen in seinen Markusstudien gelangte, bildeten die Grundlage für seine weiteren Veröffentlichungen zu Kernthemen neutestamentlicher Wissenschaft. In besonderer Weise sichtbar werden die Konsequenzen seiner Markusinterpretation in Marxsens Beiträgen zur Christologie des Neuen Testaments. Die Auseinandersetzung zwischen der Dialektischen Theologie, für die die Verkündigung des Heilsgeschehens von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi im Zentrum der Theologie gestanden hat, und der Liberalen Theologie mit ihrer Hochschätzung der Verkündigung Jesu als Grundlage des christlichen Glaubens, war in den 1950er Jahren nach wie vor virulent. Auch ohne einem der beiden Schülerkreise von Karl Barth oder Rudolf Bultmann anzugehören, schaltete sich Marxsen in die Debatte um das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und dem verkündigten Christus und die Diskussion um die Osterthematik ein.
2. Der berufsbiographische Kontext Biographisch und inhaltlich fiel Marxsen mit seinem beruflichen Wirken „aus der Zeit“. Altersmäßig2 stand er als Kriegsteilnehmer des Geburtsjahrgangs 1919, der unmittelbar nach dem Abitur 1938 Soldat wurde und das Theologiestudium nach Kriegsende begann, in der Generationenfolge zwischen den älteren Professoren, die ihre theologische Ausbildung bereits vor dem Krieg abgeschlossen hatten und nach 1945 in vorgerücktem Lebensalter auf Professuren gelangt waren, und der Riege derer, deren Kindheit und Schulzeit in den 1940er Jahren lag und die später als Professorenkollegen entsprechend jünger waren. Marxsen wirkte in den 1950er und 1960er Jahren in eine kirchliche Situation hinein, die vor einer doppelten Herausforderung stand. Einerseits bemühte sich die Evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg, entkirchlichten und säkularisierten Kreisen der Gesellschaft den christlichen Glauben in aufgeklärter und 2 Geboren wurde Willi Marxsen am 1. September 1919 in Kiel. Er starb am 18. Februar 1993 in Münster.
2. Der berufsbiographische Kontext
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zeitentsprechender Weise zu vermitteln. Andererseits sah sie sich dem Druck fundamentalistischer Gruppierungen innerhalb der Landeskirchen ausgesetzt, die nicht zuletzt unter dem Eindruck von Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung für einen massiven Realismus eintraten, der die theologischen Aussagen des Neuen Testaments als historische Fakten ansah, und die ihre eigene Sichtweise in den Bekenntnisstand erhoben. Marxsen gehörte keinem der in den 1950er bis 1970er Jahren dominierenden theologischen Lager in der exegetischen Zunft an und konnte für seine Auffassungen nicht auf das natürliche Netzwerk eines Schülerkreises und die Unterstützung geistesverwandter Kollegen bauen. Unter diesen Bedingungen blieb die Reichweite seiner Gedanken innerhalb der Fachwissenschaft begrenzt. Auffallend bei heutiger Lektüre der Publikationen Marxsens ist, dass er von Anfang an gegenüber ganz unterschiedlichen theologischen Richtungen und kirchlichen Milieus um Verständnis für seine Gedanken warb. In theologischer Hinsicht gilt dies insbesondere gegenüber den Rudolf Bultmann verpflichteten wissenschaftlichen Positionen. Gleichzeitig argumentiert Marxsen wiederholt gegen die bei ihm unter dem Namen „Harnack“ zusammengefassten Auffassungen der Liberalen Theologie und ebenso gegenüber konservativ-neopietistischen Teilen der kirchlichen Öffentlichkeit. Letzteren stellte sich Marxsen insbesondere innerhalb der Evangelischen Kirche von Westfalen in vielen Gemeindevorträgen. Die Folge war, dass Marxsen relativ allein zwischen Richtungen stand, die sich ihrerseits untereinander ausschlossen. Historisch orientierte Liberale Theologie, christologisch verpflichtete neutestamentliche Wissenschaft unter dialektischtheologischem Einfluss und evangelikale Gemeindefrömmigkeit bezogen sich wechselseitig polemisch aufeinander, sofern sie Notiz voneinander nahmen. Dass Marxsen in allen drei geistigen Lagern Anknüpfungspunkte für das Gespräch suchte und jeweils exakte Verhältnisbestimmungen zu seinen eigenen Auffassungen vornahm, zeigt sein hohes theologisches Differenzierungsvermögen. Dies verhalf seiner Position zu Alleinstellungsmerkmalen. Es begrenzte aber zugleich die Rezeptionsbereitschaft in seiner zeitgenössischen Umgebung, zumal wenn bei den Standortbestimmungen Polemik und Abgrenzungsinteressen ins Spiel kamen. Eine gewisse Prominenz erlangte Marxsen dadurch, dass einige seiner Formulierungen zu Schlagworten wurden. Aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelöst führten sie jedoch zu weiteren Polarisierungen, die einer reflektierten Rezeption von Marxsens Anliegen im Wege stand. In die Forschungsgeschichte eingegangen ist Marxsen im Rahmen seiner Markusinterpretation als der Schöpfer des Terminus „Redaktionsgeschichte“.3 In privaten Äußerungen ließ Marxsen gegen Ende seiner aktiven Dienstzeit als Professor für Neutestamentliche Einleitungswissenschaft und Theologie an der Universität Münster gelegentlich durchblicken, dass er sich im Laufe der 3 Marxsen,
Evangelist (s. Anm 1), 11.
194 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie Jahre innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft häufig auf dieses Faktum reduziert gefühlt habe. Seine späteren Publikationen zur Christologie, zu den Thessalonicherbriefen und zur neutestamentlichen Ethik hätten daneben vergleichsweise wenig Resonanz erfahren. Charakteristisch für das gesamte theologische Wirken Marxsens war die entschiedene Wahrnehmung theologischer Verantwortung im Rahmen der exegetischen Arbeit.4
3. Die Markusexegese im Zeitalter von Literarkritik und Formgeschichte Nachdem in den 1830er Jahren die bahnbrechenden Arbeiten von Carl Lachmann5 und Christian Hermann Weisse6 zu einer konsensfähigen Hypothese hinsichtlich der synoptischen Quellenlage geführt hatten, schien der Weg frei für die historische Jesusforschung. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatten die Bemühungen gedauert, um über die Traditions-, die Urevangeliums‑ sowie die Fragmenten‑ und Diegesenhypothese zu einer stabilen Benutzungshypothese zu gelangen. Jetzt, nach der Durchsetzung der Zweiquellentheorie, wurden die Kräfte gebündelt, um ein verlässliches Jesusbild zu erarbeiten. Diese große Bemühung in der neutestamentlichen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiterte bekanntlich mit Albert Schweitzers 1905/06 geäußerter Kritik, derzufolge der Fragmentcharakter der Quellen es nicht erlaubte, das Bild Jesu als einer historischen Persönlichkeit zu entwickeln, noch dazu unter den Maßstäben des 19. Jahrhunderts, die an das Genre einer biographischen Darstellung angelegt wurden.7 Zudem sei es durch die Lücken in der Überlieferung unausweichlich gewesen, dass jeder Forscher die weißen Flächen seiner Jesusbiographie durch Imagination schloss.8 Die Literarkritik hatte es in methodischer Hinsicht trotz der durch sie praktizierten Scheidung von Tradition und Redaktion nicht vermocht, eine Textgrundlage bereitzustellen, die zu einer konsensfähigen historischen Jesusdarstellung geführt hätte. Mit dem gesellschaftlichen und politischen Umbruch infolge des Ersten Weltkriegs vollzog sich in Deutschland und Europa in allen Bereichen des geistigen 4 Vgl. unter programmatischem Titel dazu die Beiträge in: W. Marxsen, Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament, Gütersloh 1968. 5 C. Lachmann, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, ThStKr 8, Tübingen 1835, 570–590. 6 Ch.H. Weisse, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet I.II, Leipzig 1838. 7 So war es nicht möglich, angesichts der austauschbaren Reihung der Einzelperikopen ein verlässliches Bild von der Entwicklung der Persönlichkeit Jesu zu zeichnen. 8 Vgl. A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2 Bände, Gütersloh 31977, 48.50.
3. Die Markusexegese im Zeitalter von Literarkritik und Formgeschichte
195
Lebens eine kulturelle Umwälzung. Mit dem Wechsel des theologischen Paradigmas von der Liberalen zur Dialektischen Theologie war im Bereich der exegetischen Disziplinen ein grundlegender methodischer Wandel verbunden. Die Formgeschichte, von Hermann Gunkel maßgeblich schon vor dem Ersten Weltkrieg vorbereitet, hatte sich auf breiter Front in der alt‑ und der neutestamentlichen Wissenschaft etabliert. Die formgeschichtliche Arbeit entsprach insofern dem expressionistischen Grundton der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als sie die durch das Grauen des Krieges sinnfällige Erfahrung der Fragilität und des fragmentarischen Charakters des Lebens in die wissenschaftliche Methodik bei der Erforschung der biblischen Überlieferungen hineinnahm.9 Der Grundsatz der Formgeschichte nach 1918 lautete dementsprechend: Am Anfang steht das Fragment. Aus kleinen Überlieferungssplittern bilden sich nach Überzeugung der Formgeschichtler erst im Laufe der Zeit größere Zusammenhänge. Der Gedanke der Kontinuität, der für das Lebensgefühl bis 1914 in Deutschland und Österreich prägend war10 und der exegetisch-methodisch seinen Niederschlag in der Suche der Literarkritik nach zusammenhängenden älteren Texteinheiten in jüngeren Textcorpora fand, war zerbrochen. Die Sicherheit, dass die Tradition auf einen goldenen Anfang zurückführte, dass historische Forschung aus ihren Quellen den Ursprung der die Gegenwart leitenden Überzeugungen ans Licht bringen konnte, dass das Althergebrachte eo ipso in die Wahrheit führe, kurz: die Begründung gegenwärtiger Gewissheit aus vergangenem Geschehen heraus, war mit dem Untergang der Monarchie in Deutschland und Österreich versunken. Die Bedeutung der Vergangenheit als der tragenden Zeitstufe für das Gegenwärtige war dahin, die Hinwendung zur Zukunft als der erlösenden Zeit war jedenfalls in breiten Kreisen von Theologie und Kirche nach 1918 keine Option. Was blieb, war die Gegenwart als regierende Zeit und deren Bewältigung. Das Bestehende bzw. aus älterer Zeit noch Vorhandene begegnete als ein Anspruch, dem es sich unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen zu stellen galt. Was theologisch steil als eschatologische Forderung des Augenblicks bezeichnet wurde, war in profanen Zusammenhängen die Notwendigkeit, vor der jeder einzelne Mensch durch die Umstände, in die er oder sie hineingeworfen sich vorfand, stand und die eine Stellungnahme und Lebenshaltung dazu forderten. Die Formgeschichte richtete soziologisch angeregt ihr Augenmerk auf den „Sitz im Leben“, in dem eine frühchristliche Überlieferung ihr Zuhause besaß. Sie fragte nach den Funktionen und Aufgaben, die von Seiten einer Gemeinde 9 Zersplitterte Überlieferungen waren das Thema in allen Wissenschafts‑ und Kunstbereichen. Die Malerei, die Musik, die Literatur, die Philosophie spiegeln die Erschütterung ehemals geltender Gewissheiten wider. 10 Vgl. dazu das literarisch festgehaltene Stimmungsbild für jene Zeit bei S. Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1985 (Erstausgabe Stockholm 1944) oder auch J. Roth, Radetzkymarsch, Zürich 2010 (Erstausgabe Berlin 1932).
196 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie der Frühzeit zu erfüllen waren und nahm analytisch die Bestimmung der verwendeten Textgattungen vor. In einer geschichtlichen Epoche, in der nach dem Ende der Monarchie in den Turbulenzen der Republik in Deutschland alles im Fluss war, lag es auch exegetisch nicht fern, im Zuge der Überlieferungs‑ und Traditionsgeschichte nach Wandel und Entwicklung biblischer Motive zu fragen.
4. Willi Marxsen: Der Evangelist Markus Wie die Anregungen für die Entwicklung der Formgeschichte nach dem Ersten Weltkrieg aus der alttestamentlichen Wissenschaft, namentlich von Herrmann Gunkel, stammten,11 so gingen nach dem Zweiten Weltkrieg die Impulse für die Ausbildung der Redaktionsgeschichte ebenfalls auf einen Alttestamentler zurück: Marxsen verweist im Vorwort seines Markusbuches auf die Vorarbeiten von Gerhard von Rad. Als Gesamtperspektive seiner vorliegenden noch punktuellen Ausarbeitungen zum Markusevangelium erklärt Marxsen die „Interpretation des Evangeliums als Gesamtwerk“12 zum Ziel künftiger Markusexegese. In seiner einleitenden Verhältnisbestimmung zwischen „Formgeschichte und Redaktionsgeschichte“13 erhebt Marxsen gegenüber der Formgeschichte die methodisch kritische Rückfrage, ob es tatsächlich sachgemäß gewesen sei, in einem ersten Schritt die Tradition zu rekonstruieren, ehe man die Analyse der redaktionellen Bearbeitung der traditionellen Überlieferungen vornehme. Angesichts der Tatsache, dass die Tradition nur in Gestalt der von den Redaktoren geprägten Form vorliege, könne es nicht „die erste Aufgabe sein, an den Evangelisten vorbei zur Erforschung des synoptischen Traditionsgutes vorzustoßen“. Stattdessen gelte es eine Doppelaufgabe zu bewältigen: Die „Gewinnung der Redaktion und der Tradition“.14 Neben die formgeschichtliche Analyse der Einzelüberlieferungen habe eine Formgeschichte der Gesamtwerke zu treten. Um eine „Verwirrung“ aufgrund tautologischer Begrifflichkeit zu vermeiden, führt Marxsen für diese Aufgabe den Terminus „Redaktionsgeschichte“15 ein. Unter Rekurs auf Johannes Weiß16 erläutert er, dass nach seiner Auffassung die Redaktionsgeschichte keinesfalls zwingend aus der Formgeschichte hervorgeht. Prinzipiell hätte sie auch unmittelbar auf die Literarkritik folgen können, zumal seinerzeit bereits theologische Motive wie etwa das Messiasgeheimnis als auf den Evangelisten zurückgehende Beiträge identifiziert worden waren. 11 Vgl. die Darstellung bei K. Hammann, Hermann Gunkel. Eine Biographie, Tübingen 2014, 173–184. 12 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 5. 13 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), Teil A, 7–16. 14 Zitate Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 10. 15 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 11. 16 J. Weiß, Die Schriften des Neuen Testaments, 1. Band (Die drei ältesten Evangelien; Die Apostelgeschichte), Göttingen 1906, 62.
4. Willi Marxsen: Der Evangelist Markus
197
In der Rückschau lässt sich Marxsens Verwunderung über diesen Gang der Entwicklung damit erklären, dass er als Zeitgenosse noch zu sehr Teil der Geschehnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, um mit Distanz sehen zu können, dass es nach der Ära der Literarkritik mit ihrem Interesse an durchlaufenden Erzählfäden und zwei Weltkriegen eines weiteren Jahrzehnts bedurfte, bis jenseits der Feststellung von Zersplitterung wieder über Kontinuität und übergreifende Gesamtzusammenhänge nachzudenken war. In dieser Hinsicht partizipiert die Redaktionsgeschichte an dem auf neue Kontinuität ausgerichteten Klima der Nachkriegsgesellschaft seit den 1950er Jahren in Deutschland.17 Die Leistung des Redaktors ist nach Marxsen weniger in der Bearbeitung des Stoffes als in der Gestaltung des Rahmens zu fassen. Zur redaktionellen Leistung zählt Marxsen gleichwohl in einem weiten Sinn über „das Itinerar und die szenischen Verknüpfungen“ hinaus „die Umgestaltungen im Text, soweit solche erkennbar sind“.18 Indem Marxsen diesen Rahmen innerhalb der Redaktionsgeschichte in formgeschichtlicher Terminologie auf seinen „Sitz im Leben“ hin befragt, verwendet er diesen terminus technicus in einem uneigentlichen Sinn. Dazu beruft er sich auf Joachim Jeremias.19 In klassischer formgeschichtlicher Diktion ist für die Verwendung des Ausdrucks „Sitz im Leben“ die Wiederholbarkeit innerhalb der Lebensvollzüge einer in der Vermittlung des christlichen Glaubens engagierten Urgemeinde konstitutiv.20 Jeremias sprach dagegen von einem dreifach gegliederten „Sitz im Leben“, dessen erste Stufe eine Situation im Leben Jesu darstellt. Die Aneignung des Stoffes in der Urgemeinde erfolge an dessen „‚zweite(m) Sitz im Leben‘“. Die redaktionelle Arbeit des Evangelisten schließlich stelle den „‚dritten Sitz im Leben‘“ der Überlieferung dar.21 Entsprechend richtet sich bei der Redaktionsgeschichte das Augenmerk auf die „Situation der Gemeinde, in der die Evangelien entstanden sind“22. Die Redaktion ist „aus der Gegenwart des Evangelisten heraus“23 zu verstehen. Auf diese Weise wird die soziologische Orientierung formgeschichtlichen Vorgehens um einen „‚individualistischen‘ Zug“ ergänzt.24 In vier Einzelstudien nimmt Marxsen seine redaktionsgeschichtlichen Untersuchungen vor.25 Studie eins behandelt die redaktionelle Arbeit des Markus an-
Vgl. dazu P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001,
17
16.
18 Marxsen,
Evangelist (s. Anm. 1), 12. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 12, Anm. 3 unter Verweis auf J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 21952, 16. 20 Vgl. J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 1976, 23. 21 Zitate Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 12. 22 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 13. 23 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 85. 24 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 13. 25 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), Teil B, 17–140. 19
198 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie hand der Überlieferung von Johannes dem Täufer.26 Dieser besitzt bei Markus „nicht in sich selbst eine Bedeutung; (…) vielmehr sind die Täuferaussagen christologische Aussagen“27, die das Jesusgeschehen interpretieren. Im Anschluss an Ernst Lohmeyer stellt Marxsen fest, dass ἐν τῇ ἐρήμῷ als ein vom „Erzähler“28 redaktionell eingefügtes alttestamentliches Zitat die Wendung aus V. 3, wo Jes 40,3 LXX zitiert wird, aufgreift. Dadurch bezeichnet der Hinweis auf die Wüste keinen geographischen Ort, sondern ist Ausdruck einer theologischen Intention. Der Täufer als „Erfüller alttestamentlicher prophetischer Vorhersage (…) wäre auch dann der, der ‚in der Wüste‘ auftritt, wenn er in seinem ganzen Leben nie in der Wüste gewesen wäre“29. Die zeitliche Anordnung des johanneischen Auftretens vor dem Jesu steht ebenfalls jenseits eines chronologischhistorischen Nacheinanders im Dienst einer theologischen Aussageabsicht. Die „Kompositionsrichtung“ enthält die sachliche Aussage, dass der Täufer der Vorläufer Jesu ist.30 In konsequenter Durchführung seiner Einsicht, dass die Komposition des Markusevangeliums von der Passionsgeschichte aus nach rückwärts erfolgte und Markus unter redaktionsgeschichtlicher Perspektive von hinten nach vorn zu lesen ist, während die dargestellte Handlung von vorn nach hinten abläuft,31 stellt Marxsen zu 1,1 fest, dass hier nicht der Ausgangspunkt für die folgende Darstellung liegt. Vielmehr benennt Markus mit dem Wort ἀρχή „den Anfangspunkt, auf den hin etwas Bestehendes zurückverfolgt werden kann“32. Die ἀρχή ist „nicht Ausgangspunkt eines ablaufenden Geschehens, sondern der Punkt, bis auf den hin dieses Geschehen zurückzuverfolgen ist“33. Mit der Einsicht in den Charakter der ἀρχή als eines Ursprungsgeschehens eröffnet Marxsen einen Zugang zur mythischen Dimension des Begriffs. Wie Kerygma und Glaube unter dem gegenwartsprägenden Aspekt in den Blick treten, wird auch die ἀρχή in Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 17–32. Evangelist (s. Anm. 1), 19. 28 Marxsen verwendet den Ausdruck „Erzähler“ ganz selbstverständlich, ohne die in der narratologischen Exegese späterer Jahre getroffene Verhältnisbestimmung zwischen Autor und Erzähler vorwegzunehmen. Signifikant ist freilich, dass der Autor bei Marxsen in seiner Rolle als Erzähler wahrgenommen wird. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 21. 29 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 22. 30 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 23. 31 Vgl. 17.23–26.32.35.60–61.100.142.146. Vgl. auch W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 41978, 140: „Es durchdringen sich also im Werk zwei Richtungen: die von der Passionsgeschichte ausgehende Erweiterung des Kerygmas nach rückwärts – und die von Johannes dem Täufer aus ablaufende Geschichte nach vorwärts.“ (Kursivierungen von W. M.). Dargestellt und positiv rezipiert von G. Sellin, Einige symbolische und esoterische Züge im Markus-Evangelium, in: D.-A. Koch / G. Sellin / A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum. Beiträge zur Verkündigung Jesu und zum Kerygma der Kirche, FS Willi Marxsen, Gütersloh 1989, 74–90, 89–90. 32 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 24. 33 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 88. 26
27 Marxsen,
4. Willi Marxsen: Der Evangelist Markus
199
ihrer konstituierenden Bedeutung für die gegenwärtige Evangeliumsverkündigung des Evangelisten erfasst. Ohne dass es bei Marxsen schon Thema würde, ist damit ein Zugang zu einem dem Mythos verpflichteten Verständnis von ἀρχή eröffnet,34 das die markinische Evangelienschrift in Gänze als das fundierende Ursprungsdokument – die Schöpfungsgeschichte – der markinischen Gemeinde zur Zeit des Evangelisten begreift.35 Die Umgestaltungen, die Matthäus und Lukas an der Markusfassung vornehmen, werfen ihrerseits ein Licht auf die älteste Evangelienschrift. Dies gilt bereits für die Verwendung des Wüstenmotivs.36 In Mt 4,1 und Lk 4,1 wird im Unterschied zu Markus, wo die „Wüste“ ihre geographische Bedeutung verloren hat, diese „zur Ortsangabe umgebaut“37. Anstelle der markinischen ἀρχή bietet Matthäus eine Genealogie und schafft „eine zeitlich zu verstehende Vorgeschichte“38. Lukas entwickelt im Rahmen einer historisierenden Darstellung gegenüber Markus eine eigenständige theologisch-heilsgeschichtliche Konzeption.39 Studie zwei ist dem geographischen Aufriss des Markusevangeliums gewidmet.40 In diesem Zusammenhang sticht auf der redaktionellen Ebene die herausragende Bedeutung Galiläas hervor, die das Territorium in der vormarkinischen Tradition mutmaßlich noch nicht hatte. Wenn Markus „das ‚galiläische Evangelium‘“41 schreibt, ist das dann nicht ein Hinweis auf den Entstehungsort der Schrift? – so Marxsens Frage.42 Wichtiger als historische und geographische Erwägungen ist jedoch das theologische Gewicht Galiläas als Ort der Parusie. Mk 16,7 steht im Dienst der Interpretation des Evangelisten, der seine Gegenwart deutet. Er spricht nicht von der Erscheinung des Auferstandenen, sondern dessen erwarteter Parusie.43 34 In die gleiche Richtung weist auch der „repraesentatio“-Gedanke, den Marxsen bei Markus ausmacht. In 14,9 begegnet das „Gedächtnismotiv“, das auf eine „Vergegenwärtigung des Tuns“ abzielt. „Wo eine Tat verkündigt wird, da ist die Tat da; (…) wo eine Verkündigung geschieht, da wird das Verkündigte Gegenwart“ (Marxsen, Evangelist [s. Anm. 1], 86); vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 99. Die Vorstellung der Wiederkehr eines Erstereignisses ist im Rahmen einer mythischen Weltanschauung konstitutiv für die Gattung der historischen Arché. Für diese ist kennzeichnend, dass die Differenz zwischen vergangenem und gegenwärtigem Geschehen verschwindet. Der Urvorgang wird unmittelbar Gegenwart. Vgl. dazu K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135–144.151–158; vgl. auch Klumbies, Mythos (s. Anm. 17), 94–95. 35 Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 17), 147–159.303–304.312–314. Am Umgang der synoptischen Evangelienschriften mit dem Begriff εὐαγγέλιον wird ihre unterschiedliche Verhältnisbestimmung der Zeitstufen von Vergangenheit und Gegenwart deutlich. Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 95. 36 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 26. 37 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 28. 38 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 30. 39 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 31. 40 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 33–77. 41 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 41; ebenfalls Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 59. 42 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 40–41. 43 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 54.59–61.
200 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie Zeitlich stellt Marxsen die Parusieerwartung in einen möglichen Zusammenhang mit dem Auszug der Urgemeinde aus Jerusalem nach Pella ab dem Jahr 66 n. Chr.44 In der Krise der Kriegsjahre von 66–70 n. Chr. habe der Evangelist die Christen zu einer Sammlung in Galiläa aufgerufen, um hier die Parusie zu erwarten. Nachdem diese Überlegung in der Forschung weitgehend auf Ablehnung stieß, nahm Marxsen eine Korrektur seiner These vor. In der vierten Auflage seiner „Einleitung in das Neue Testament“ schlägt er 1978 eine Spiritualisierung der Parusieerwartung vor. Nicht die apokalyptische Naherwartung, sondern die existentielle Erwartung des wiederkommenden Herrn im Glauben sei das entscheidende Moment. In diesem Sinne beziehe sich das angekündigte Sehen in Mk 16,7 auf die Parusie.45 Für das Verständnis von εὐαγγέλιον ist nach Studie drei46 bei Marxsen „das Motiv der Repräsentation“ von Bedeutung, „denn die Verkündigung des Evangeliums bewirkt die Vergegenwärtigung seines Inhalts“47. Durch den Begriff εὐαγγέλιον „wird die Art und Weise ausgedrückt, in der der Herr in seiner Gemeinde gegenwärtig ist“48. Das εὐαγγέλιον ist bei Markus „eine Größe, die Vergangenheit und Gegenwart umschließt“49. In die synoptische Tradition eingebracht wurde der Begriff durch Markus. Er weist deutliche Bezüge zur Verwendung bei Paulus auf, ohne dass „an eine unmittelbare Übernahme gedacht zu werden braucht“50. Gleichzeitig entwickelt Markus das paulinische Verständnis weiter und liefert so eine Art Kommentar zur Verwendung des Begriffs bei Paulus.51 Die bei Paulus vorliegende theologische Füllung ersetzt Markus durch die Tradition, die er verarbeitet. „Markus verbindet Theologie und Tradition.“52 Er führt zwei Überlieferungsströme des frühen Christentums zusammen: einen „begrifflich-theologisch(en)“ und einen „kerygmatisch-anschaulich(en)“. „(A)ls ‚Schriftsteller‘ (…) (ist er) ganz im Dienst seiner theologischen Konzeption“ tätig.53 Die Rezeption der markinischen Evangelienschrift durch Matthäus und Lukas lässt eine unterschiedlich ausgeprägte, aber deutliche Historisierungstendenz gegenüber der Markusvorlage erkennen. Die Verwendung desselben Begriffs „Evangelium“ als Gattungsbezeichnung für alle drei synoptischen Werke nivelliert daher die Differenzen zwischen diesen Werken. Strictu sensu gibt es gar „keine ‚Gattung‘ Evangelium, jedenfalls nicht in einem mehr als sehr äußerlichen 44 Marxsen,
Evangelist (s. Anm. 1), 70. Marxsen, Einleitung (s. Anm. 31), 144–145. 46 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 77–101. 47 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 86; vgl. auch Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 90. 48 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 90. 49 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 95. 50 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 98. 51 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 98. 52 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 99. 53 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 99. 45 Vgl.
4. Willi Marxsen: Der Evangelist Markus
201
Sinne“54. Die gebräuchliche Bezeichnung „Evangelium“ orientiert sich „am Inhalt, aber nicht an der Gattung dieser Werke“55. Als „Evangelist (…) im vollen Sinne dieses Wortes“56 ist aufgrund seiner Konzentration auf die Vergegenwärtigung Jesu allein Markus zu bezeichnen. An Mk 13 demonstriert Marxsen in seiner vierten Studie57, wie die konsequente Ausrichtung auf die Eschatologie zur Integration apokalyptischer Vorstellungen in die Verkündigung des Evangelisten führt.58 Traditionsstoff wird auf die Gegenwart bezogen, die „Naherwartung der Parusie bestimmt (…) den Tenor“.59 In den „Schlußbemerkungen“60 des Buches stellt Marxsen zusammenfassend im Blick auf Markus eine doppelte Tendenz fest. Einerseits schließe das Werk mit 16,8 ab, andererseits „weist es über diesen Abschluß hinaus. Gerade in dieser abgeschlossenen Unabgeschlossenheit liegt das innere Ziel des ganzen Evangeliums.“ Galiläa und die dort erwartete „Parusie bilden das Gestaltungsmotiv“.61 Das auf die Gegenwart des Evangelisten bezogene Verkündigungsinteresse steuert die Darstellung.62 „Galiläa“ stellt „die Identität des – gegenwärtig – Auferstandenen mit dem Irdischen (her), wie andererseits die erwartete Parusie – auch in Galiläa! – die Identität mit dem Wiederkommenden sichert“63. Mindestens drei Themenkreise der Untersuchung Marxsens beschäftigen die Forschung über die Entstehungszeit des Werkes hinaus. In methodischer Hinsicht nimmt Marxsen in seiner Beschreibung der Aufgabe redaktionsgeschichtlicher Arbeit eine Relationsbestimmung vorweg, die in der narratologischen Analyse späterer Jahrzehnte in der Unterscheidung zwischen „erzählter Welt“ und „Erzählwelt“ wiederkehrt. Bereits für die Redaktionsgeschichte gilt der Grundsatz: „Eben weil jedes Evangelium ganz ‚Kind seiner Zeit‘ ist, ist es für eben diese Zeit eine Quelle von hervorragender Bedeutung. Erst in zweiter Linie aber ist es eine Quelle für das in ihm berichtete Geschehen.“64 54 Marxsen,
Evangelist (s. Anm. 1), 69. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 77. 56 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 85.92–98.100–101; Zitat 101. Marxsen selbst formuliert den Unterschied so: Markus schreibt wirklich ein Evangelium; Matthäus bietet in seinem Buch eine ätiologisch mit dem Leben Jesu verknüpfte Evangeliensammlung; Lukas schreibt eine vita Jesu (Marxsen, Evangelist [s. Anm. 1], 92–98). 57 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 101–128. 58 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 101–128, besonders 128: „Markus baut die Apokalyptik um zur Eschatologie.“ 59 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 139.140. 60 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), Teil C, 141–147. 61 Zitate Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 142. 62 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 40.74.85.139. 63 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 146. 64 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 72. Marxsen bezieht sich dabei auf ein englischsprachiges Diktum Bultmanns von 1926 über Wellhausen, vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 13. Zur Unterscheidung zwischen Erzählwelt und erzählter Welt vgl. Klumbies, Das Markusevangelium als Werk des achten Jahrzehnts, s. o. 7–12. 55
202 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie In inhaltlicher Hinsicht ist für Marxsens Bild der neutestamentlichen Christologien das Verhältnis zwischen Markus und Paulus von besonderer Bedeutung.65 Nachdem dieses Thema in der neutestamentlichen Wissenschaft nicht zuletzt unter dem Einfluss der These Martin Werners aus dem Jahr 1923,66 demzufolge von einem paulinischen Einfluss im Markusevangelium keine Rede sein könne,67 über einen langen Zeitraum weitgehend erledigt zu sein schien, fällt auf, dass angesichts der Neubesinnung auf diese Problematik auch Marxsens Untersuchung wieder genannt wird.68 In der Bearbeitung des christologischen Themas kündigt sich bei Marxsen sowohl die Verhältnisbestimmung zu Rudolf Bultmanns Auffassung von der neutestamentlichen Christologie als auch die gegenüber Adolf von Harnacks Ansatz bei der Verkündigung des historischen Jesus an.69 Bultmanns wie Harnacks Standpunkt verwendet Marxsen in seinen späteren Veröffentlichungen wiederholt als Horizont, um seinen eigenen Standpunkt in der christologischen Frage zu markieren. Deutlich ist, dass Marxsens Verortung der christologischen Thematik auf der Auseinandersetzung mit den geistigen Voraussetzungen der Liberalen Theologie wie denen der dialektisch-theologisch durchdrungenen Kerygmatheologie beruht. Sein Interesse ist auf die Aufarbeitung einer Polarisierung gerichtet, die durch den schroffen Widerspruch der auf die nachösterliche Christusverkündigung fokussierten dialektisch-theologisch geprägten Forschung gegenüber der auf die Verkündigung des historischen Jesus konzentrierten Liberalen Theologie entstanden war.
5. Die Christologie des Neuen Testaments 5.1 Marxsens Widerspruch gegen Harnack und Bultmann Das Erbe der Liberalen Theologie, als deren paradigmatischen Exponenten Marxsen wiederholt Harnack nennt, besteht nach Marxsen in der christologi65 Vgl.
Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 83–84.98–99. Der Einfluß paulinischer Theologie im Markusevangelium. Eine Studie zur neutestamentlichen Theologie, BZNW 1, Gießen 1923. Zu Werner vgl. J. Marcus, Mark – Interpreter of Paul, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 29–49, 29–35. 67 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 145. Marxsen kritisiert, dass sich Werner bei seinem Vergleich auf die Traditionen im Markusevangelium bezieht, jedoch nicht auf die Ebene des Redaktors. 68 Vgl. M. P. Theophilos, The Roman Connection: Paul and Mark, in: O. Wischmeyer / D. C. Sim / I. J. Elmer (Ed.), Paul and Mark. Comparative Essays Part I. Two Authors at the Beginnings of Christianity, BZNW 198, Berlin / Boston 2014, 45–71, 55.63. H. Omerzu, Paul and Mark – Mark and Paul. A Critical Outline of the History of Research, in: E.-M. Becker / T. Engberg-Pedersen / M. Müller (Ed.), Mark and Paul. Comparative Essays Part II. For and Against Pauline Influence on Mark, BZNW 199, Berlin / Boston 2014, 51–61, 54.56. 69 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 84.85. 66 M. Werner,
5. Die Christologie des Neuen Testaments
203
schen Frage darin, den historischen Jesus als Verkünder und Bringer des Evangeliums vom Reich Gottes und damit einer auf Gott bezogenen nicht-christologischen Predigt präsentiert zu haben. Demgegenüber habe Bultmann unter dem Einfluss der Dialektischen Theologie darauf insistiert, den christlichen Glauben seinem Ursprung nach im Osterereignis zu verankern und die Evangeliumsverkündigung mit einer personalen Christologie, deren Inhalt der Glaube an Jesus Christus ist, identifiziert. Marxsens Widerspruch gegen die liberaltheologische Position richtet sich dagegen, die Person Jesu auf die historisch rekonstruierten Inhalte ihrer Verkündigung zu reduzieren. Die Absage an Bultmann betrifft dessen ausschließliche Reservierung des Kerygmaaspekts für die nachösterliche Christusverkündigung. Indem Bultmann „Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus“70 zur Ausgangskonstellation einer sachgemäßen Relationierung zwischen der vor‑ und der nachösterlichen Phase des Christentums erklärt, hat er aus Sicht Marxsens zwei nicht kompatible Ebenen in Beziehung zueinander gesetzt. Durch sein Verständnis von „Ostern“ als dem Datum einer Zäsur setze er einen Bruch voraus, der die vorausgesetzte Diskontinuität nachträglich selbst bestätigt. Marxsen weist den von Bultmann formulierten Zirkel als eine nicht sachgemäße Problemformulierung zurück. Im Kern prolongiere dieser strukturell lediglich unter umgekehrtem Vorzeichen die durch die Liberale Theologie vorgezeichnete Konstellation. Die Liberale Theologie hatte zwischen einer mit dem Tod Jesu beendeten historischen und einer durch das Bekenntnis seiner Auferstehung eröffneten „dogmatischen“ Phase unterschieden und unter dem normativen Aspekt alles Gewicht auf die in der vorösterlichen Phase erfolgte Verkündigung Jesu gelegt. Die dialektisch-theologisch geprägte Kerygmatheologie verschob demgegenüber den Akzent auf die durch „Ostern“ initiierte Christusverkündigung und erklärte die Verkündigung Jesu zu einer Vorstufe der späteren theologischen Explikation. Bultmann hatte diese Überzeugung den Ausführungen seiner „Theologie des Neuen Testaments“ programmatisch vorangestellt: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT“.71 „Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit“ der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus „als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt“ wird. „Das geschieht erst im Kerygma der Urgemeinde, nicht schon in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus“.72 Nach Marxsen ist es demgegenüber der Sache entsprechender, wenn die Verkündigungsdimension, also der kerygmatische Aspekt, der sowohl bei Harnack als auch bei Bultmann von zentraler Bedeutung ist, zum Vergleichspunkt erhoben 70 So der Aufsatztitel von R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967 (ursprünglich Heidelberg 1960), 445–469. 71 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 1. 72 Zitate Bultmann, Theologie (s. Anm. 71), 2.
204 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie wird. Dann träte Botschaft neben Botschaft. Allerdings erfordert die Form des Vergleichs gegenüber der liberaltheologischen Ausgangsbasis eine Erweiterung des Verkündigungsgedankens über die pure Wahrnehmung der Wortbeiträge Jesu hinaus. Der tatsächliche „Bruch“ liegt „in der Tatsache der aus Glauben erwachsenen Verkündigung selbst“73. Er vollzieht sich „da, wo ein Glaubender Jesu Wort und Tat verkündigt.“ Der Bruch ist also „schon in dem Augenblick da, wo man (…) von einem Pol der Relation Jesus-Glaubender aus eine Aussage über Jesus macht“74. Er ist unabhängig vom Osterereignis ein Geschehen in der Glaubensgeschichte eines Menschen. 5.2 Jenseits der Alternative zwischen Verkündiger und Verkündigtem Jesus begegnet bei Markus keineswegs exklusiv in seiner historischen Rolle als Verkündiger. Vielmehr macht die Art, wie der Evangelist ihn in seinem Verkündigungswirken darstellt, ihn bereits zum Inhalt der Evangeliumsbotschaft. „Als Wirkender wird Jesus verkündigt; und er wird so verkündigt, daß er Menschen zugemutet hat, ihm den jetzigen Einbruch der Königsherrschaft zu glauben, wie er sie inmitten dieser Menschen lebte.“75 Die über die historische Rekonstruktion seiner Verkündigung hinausgehende umfassende Wahrnehmung Jesu in Wort und Tat basiert bei Marxsen im Unterschied zur liberaltheologischen Position nicht auf einer historischen Grundlage.76 Für den Redaktor Markus – und dieser bildet die Referenzebene für Marxsen – stellt sich die von der historischen Frage geleitete Alternative, ob Jesus der Bringer oder der Inhalt des Evangeliums ist, nicht. Nach Marxsens Wahrnehmung ist Jesus in seiner Funktion als Bringer des Evangeliums selbst Inhalt und Gegenstand der Verkündigung, des Kerygmas. Seine Verkündigung wird also nicht von ihm als Person abgelöst. Will man diesen Vorgang als „implizite Christologie“ bezeichnen, dann heißt das, dass „nicht (…) die Verkündigung Jesu, sondern (…) sein Verkündigen eine Christologie impliziert“77. Damit vollzieht Marxsen eine Vorverlagerung des Kerygma-Begriffs, den Bultmann für die als „nachösterlich“ bezeichnete Phase reserviert, und verwendet ihn für die Jesusdarstellung des Evangelisten. Diese ist nicht von einem historischen Interesse gesteuert, sondern steht vollständig im Dienste des markinischen Verkündigungsanliegens. Die Brücke zu Harnack besteht bei Marxsen 73 W. Marxsen,
Anfangsprobleme der Christologie, Gütersloh 41966, 51. Zitate Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 51. 75 W. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 61. 76 Darüber hinaus ist es nach W. Marxsen, Das Neue Testament als Buch der Kirche, Gütersloh 21967, 72, eine Selbsttäuschung der Liberalen Theologie zu meinen, „daß das älteste Jesusbild undogmatisch war“. „Auch die älteste erreichbare Jesusüberlieferung (…) unterliegt bereits einer ganz bestimmten dogmatischen Konzeption“. 77 Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 35 (Kursivierungen von W. M.). 74
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lediglich in dem formalen Rekurs auf Jesus. In seiner Wahrnehmung der Art und Weise der „Aneignung“ Jesu durch den Evangelisten ist Marxsen vom Bultmannschen Kerygma-Gedanken geleitet. Zur Bezeichnung der spezifischen Verkündigungsabsicht des Markus nimmt er eine Differenzierung innerhalb von Bultmanns Kerygma-Begriff vor. Wenn Bultmann vom Kerygma spricht, meint er konkret das Christus-Kerygma. Davon unterscheidet Marxsen im Blick auf Markus das „Jesus-Kerygma“78. 5.3 „Evangelium“ und „Kerygma“ Die Kritik Marxsens an Bultmanns Weichenstellung bezieht sich darauf, dass, wie schon bei Harnack, eine historische und eine theologische Ebene zueinander in Beziehung gestellt werden, mit dem Unterschied, dass die theologische Bewertung unter umgekehrten Vorzeichen erfolgt. In Differenz zu dem an der Historie orientierten Kirchengeschichtler Harnack legt Bultmann von seinem theologischen Vorverständnis her alles Gewicht auf das christologische Kerygma. Während nach Harnack das, was als „Evangelium“ zu bezeichnen ist, aus der Verkündigung des historischen Jesus resultiert, ist für die Kerygma-Theologie „Evangelium“ im Vollsinn erst mit der durch und nach Ostern einsetzenden Christologisierung gegeben.79 Damit wird jedoch nach Marxsen nur der alte Streit fortgesetzt, welche Relevanz historische Erkenntnisse für die Theologie besitzen.80 Während für Harnack die Christologie die Verkündigung Jesu überfremdet und nach Bultmann „das Kerygma (…) sich an die Stelle des historischen Jesus gesetzt“81 hat, geht Marxsens Plädoyer im Widerspruch zu beiden dahin, unter Wahrnehmung der redaktionellen Leistung des Evangelisten Verkündigung neben Verkündigung treten zu lassen. Die Differenz liegt dabei im Inhalt des Kerygmas. Auf der einen Seite steht Jesus in Wort und Tat in seiner Rolle als Bringer und Inhalt, „als Subjekt und Objekt des Evangeliums“82, auf der anderen Seite begegnet der personale Christus als die Personifikation des Heils, von dem die Verkündigung zeugt und in welcher Christus wiederum selbst als wirksam geglaubt wird. Ein Gegensatz zwischen der Haltung, wie Jesus oder an Jesus zu glauben, besteht aus Marxsens Perspektive nicht.83 Die Rede vom JesusKerygma verbindet beide Zugangsweisen miteinander.84 78 W. Marxsen, Seit wann gibt es christlichen Glauben? In: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 28–45, 32.33. Vgl. ebenso Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 46–63, 59. 79 Vgl. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 55–56. 80 Vgl. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 48–53. 81 Bultmann, Verhältnis (s. Anm. 70), 468. 82 Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 88. Vgl. auch Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 90 und 92.99. 83 Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 47. 84 Das Jesus-Kerygma „sagt aus, daß Jesus ein Geschehen ausgelöst hat, auf das Menschen sich eingelassen haben, weil sie an Jesus erlebten, wie er sich auf einbrechende Gottesherrschaft
206 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie Im Unterschied zu den beiden exegetischen Lagern, mit denen Marxsen sich auseinandersetzt, dem liberal-theologisch und dem dialektisch-theologisch orientierten, stehen die Begriffe „Evangelium“ und „Kerygma“ nicht für eine Diskontinuität zwischen der Wirkphase des historischen Jesus und dem Beginn der Christusverkündigung. Beide Termini werden bei Marxsen zu Ausdrucksformen der Kontinuität zwischen der Jesus-Zeit und dem frühen Christentum. 5.4 „Ostern“ als theologisches Interpretament Das Markusevangelium stellt Jesus in seinen einzelnen Sequenzen unter einem Verkündigungsaspekt dar, ohne dass darin, so Marxsen, etwas von dem sog. Osterereignis erkennbar würde. Zwar gilt für das Markusevangelium auf der redaktionellen Ebene, dass es „Ostern“ als ein Datum voraussetzt und auf dieses zurückblickt. Für die Einzelüberlieferungen ist das aber nicht als selbstverständlich anzunehmen. Gleichwohl zeichnen auch diese Traditionen Jesus nicht in historischer Distanziertheit oder Neutralität. Auch bei ihnen ist eine Betroffenheitsperspektive erkennbar,85 eine Haltung des Glaubens, die sich auf Jesu Reden und Wirken als Person richtet. Obwohl im historischen Sinne „Jesus ‚nur‘ der Verkündiger war, ist es dennoch legitim, ihn als Inhalt des Evangeliums zu verkündigen“86 und auf diese Weise die dogmatische Ebene zu beschreiten. Damit scheidet für Marxsen im Blick auf „Ostern“ die Deutung, für die „Ostern“ primär eine Kategorie des Bruches bedeutet, aus. Der unter den Schülern Bultmanns prominente Gedanke, dass der Verkündiger zum Verkündigten wird, bleibt nach Marxsen in der von Harnack vorgezeichneten Konstellation eines nicht vermittelten Umschwungs stecken.87 Mit dieser Entgegensetzung unterstreicht die Kerygma-Theologie in historischer Hinsicht die Gegenüberstellung der beiden Phasen, die die Liberale Theologie vorgenommen hatte. Ihre Eigenprofilierung vollzieht sie in dogmatischer Hinsicht, indem sie den christlichen Glauben exklusiv als „Glaube an Jesus Christus“88 definiert. Dieses dogmatische Verständnis richtet sie anschließend als ein historisches Urteil gegen die Liberale Theologie. Wenn christlicher Glaube und das Evangelium den nachösterlichen Glauben an den Verkündigten voraussetzen, kann konsequenterweise bei Jesus weder Evangelium noch „Kerygma“ zu finden sein.89 für sie einließ“. W. Marxsen, Jesus von Nazareth – ein Ereignis, in: Ders., Christologie – praktisch, Gütersloh 1978, 36–57, 56/57. 85 Vgl. Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 19.50. Vgl. auch Marxsen, Jesus von Nazareth – ein Ereignis (s. Anm. 84), 47: „Die Einzeltraditionen haben kerygmatischen Charakter. (…) Das heißt, daß diese Einzeltraditionen von einer immer wieder und immer neu gemachten Erfahrung herkommen und zugleich auf eine immer wieder und immer neu zu machende Er‑ fahrung aus sind.“ (Kursivierungen von W. M.). 86 Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 53. 87 Vgl. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 52–53. 88 Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 55. 89 Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 56.
5. Die Christologie des Neuen Testaments
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Jenseits des Prinzipienstreits der beiden großen theologischen Bewegungen der Liberalen und der Dialektischen Theologie ist für Marxsen offenkundig, dass die Einzeltraditionen innerhalb des Markusevangeliums nicht von historischem Interesse getragen, sondern wie die redaktionelle Ebene von einem Verkündigungsanliegen geleitet sind. Insofern stellen auch sie „Kerygma“ dar, sind kerygmatische Jesusverkündigung, eben „Jesus-Kerygma“.90 Den Unterschied bildet lediglich ihr Inhalt. „In beiden Fällen ist Jesus bzw. Jesus Christus Inhalt der Kerygmata. Beim Christus-Kerygma ist er es als der Verkündigte und als der Geglaubte; beim Jesus-Kerygma ist er es jedoch (immer noch) als Verkündiger bzw. als Wirkender und als der, der zum Glauben ruft.“91 Durch seine Modifizierung des Kerygma-Begriffs stellt Marxsen an die Stelle der bei Bultmann herrschenden Diskontinuität zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Verkündigung die Kontinuität des Kerygmas. Damit gerät auch die Osterthematik in eine veränderte Perspektive. Marxsen hält Bultmann eine Verengung des Oster-Verständnisses vor. Die einseitige Wahrnehmung von „Ostern“ als eines chronologischen Datums, das den abrupten Umschlag vom Verkündiger Jesus zum verkündigten Christus bewirkt habe,92 impliziere ein Glaubensverständnis, das „Glauben“ vorschnell mit „Osterglauben“ und „Christusglauben“ in eins setze. In den synoptischen Einzeltraditionen begegne jedoch ein Glaube, der von „Ostern“ nichts erkennen lasse und dennoch die persönliche Ergriffenheit eines Glaubens „an“, in diesem Falle an Jesus dokumentiere. Unter diesem Blickwinkel kommt einem chronologisch datierbaren Ostergeschehen keine Glauben stiftende Relevanz zu.93 Die Bedeutung von „Ostern“ liegt vielmehr darin, dass es nach der Hinrichtung Jesu zu einer Weiterverkündigung dessen kommt, was mit Jesus seinen Anfang genommen hat. Das „Daß dieser Verkündigung geht auf Ostern zurück“94. „Ostern“ liegt damit beim Jesus-Kerygma und beim Christus-Kerygma „an je einer anderen Stelle“95. Nach der Katastrophe der Hinrichtung Jesu wird „Ostern“ zum Ausdruck dafür, dass die „Sache Jesu“ weitergeht. Schon vor Ostern aber sind es Glaubende, die Jesus in seiner Bedeutung für ihren Glauben verkündigen. Der Übergang von der impliziten zur expliziten Christologie ist fließend. „Jesus (ist) immer der Verkündigte (…) – auch wenn er Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 59. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 59. 92 Zur Darstellung dieser Debatte vgl. P.-G. Klumbies, Die Verknüpfung von Auferweckungsbekenntnis und leerem Grab in Mk 16,1–8, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 106–128, 108–112. 93 „Daß“ der Verkündiger „zum Verkündigten wird, hängt weder mit Ostern zusammen, noch darf man damit sofort verbinden, daß der Verkündiger nun auch der Geglaubte wäre“. Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 50. 94 Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 51. Vgl. auch W. Marxsen, Zur Frage nach dem historischen Jesus, ThLZ 87 (1962), 575–580, 579: „Ostern (erscheint) im Jesuskerygma als das Daß der Verkündbarkeit der Jesus-Tradition“. 95 Marxsen, Frage nach dem historischen Jesus (s. Anm. 94), 578. 90 91
208 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie selbst als Verkündiger erscheint.“ Dieser Ausgangslage wohnt eine Tendenz zur Ausgestaltung inne, die den Übergang zur personalen Christologie erklärt. Jesus in seiner „Funktion (…), nämlich: zum Glauben zu rufen, in die eschatologische Relation hineinzustellen, wird je länger um so mehr personal ausgedrückt“96. „Ostern“ stellt für Marxsen primär eine theologisch-inhaltliche Kategorie dar und ist erst in zweiter Linie als ein chronologisches Datum von Interesse. Das Reden von der Auferstehung Jesu bezeichnet Marxsen als ein „Interpretament“ des Glaubens, „das das Zustandekommen des Faktums“97 des leeren Grabes erklären will. In existentieller Hinsicht und als Chiffre für die Entstehung von Glauben verstanden kann „Ostern“ – ohne dass Marxsen das so formulierte – sich der Sache nach bereits vor der Hinrichtung Jesu vollziehen, u.z. dort, wo ein „durch Jesus erweckte(r) Glaube“98 entsteht. „Wo christlich geglaubt wird, da geschieht (schon) Auferweckung von den Toten.“99 Der gegenwärtige Sinn des Glaubens an die Auferstehung Toter stellt sich entsprechend ein, sobald die apokalyptische Vorstellung in die Haltung eschatologischer Erwartung umgeschmolzen wird. Dann wird aus den „Vorstellungen“ eine „Einstellung“.100 Wie das Reden von der Auferstehung Bedeutung in funktionaler Hinsicht im Blick auf das Rechnen „mit Gottes Angebot seiner Gegenwart“101 besitzt, ist auch das Faktum der Kreuzigung Jesu als solches nicht von soteriologischer Wichtigkeit. Seine Verhaftung, Verurteilung und anschließende Hinrichtung waren ein Risiko, das Jesus einging.102 Die Kreuzigung als solche fügt seinem Wirken nichts hinzu. Das Jesus-Kerygma mit seinem Fokus auf Jesu Handeln in Wort und Tat, mit seiner eschatologischen Ausrichtung und mit seiner Predigt von einem der einbrechenden Basileia Gottes gemäßen Leben gewinnt und verliert nichts durch die Tatsache des gewaltsamen Todes Jesu. In der Bejahung seiner „Sache“ durch
96 Beide Zitate Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 52. „Der Anfang der Christologie (…) liegt da, wo erstmalig die Relation Jesus / Glaubender sichtbar wird.“ (Marxsen, Christologie [s. Anm. 73], 20). Vgl. auch W. Marxsen, Die Auferstehung Jesu als historisches und als theologisches Problem, Gütersloh 41966, 28: „Das funktionale Jesuskerygma wird personales Christuskerygma.“ (Kursivierungen von W. M.). 97 Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 15. Vgl. auch Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 24–26. 98 Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 50. „So ist also die Frage nach der Auferstehung Jesu zuletzt keine Frage nach einem Ereignis nach Karfreitag, sondern es ist die Frage nach dem irdischen Jesus und (…) die Frage, wie seine Sache später erfahrene Wirklichkeit wurde und heute erfahrbare Wirklichkeit werden kann.“ Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 35. 99 W. Marxsen, Christlicher Glaube als Auferweckung von den Toten, in: Ders., Christologie – praktisch, Gütersloh 1978, 58–80, 59. 100 W. Marxsen, Wie kann man heute (noch) von „Auferstehung der Toten“ reden?, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 102–121, 118–121, Zitate 118. 101 Marxsen, Auferstehung der Toten (s. Anm. 100), 121. 102 W. Marxsen, Die Heilsbedeutung des Kreuzes – der Kreuzesweg der Nachfolge, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 83–101, 90–93.
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die Glaubenden, die „sich auf die von ihm angesagte einbrechende Gottesherrschaft ein(…)lassen“103, ereignet sich die Vergegenwärtigung Jesu. Die Klammer, die Marxsen in seiner Theologie um Kreuz und Auferstehung Jesu legt, hat den Eindruck entstehen lassen, dass er in dieser Hinsicht der Liberalen Theologie nahesteht. Auch die Formulierung „Die Sache Jesu geht weiter“104 brachte ihm den Vorwurf ein, Jesus zum Vertreter eines von seiner Person ablösbaren Programms gemacht zu haben. Zwar betonte er durchgängig das gegenwartsbezogene und untrennbar an die Person Jesu gebundene Verkündigungsinteresse, das er im Markusevangelium ausmachte und persönlich teilte, und versuchte, mit der sloganartigen Formulierung „Er kommt auch noch heute“105, diesem – aus seiner Sicht – Missverständnis seines Anliegens entgegenzuwirken.106 Das änderte allerdings wenig an der Außenwirkung. Inhaltlich wird man Marxsen allerdings schwerlich gerecht, wenn man ihn wegen seiner Haltung in der Osterfrage in die Nähe der Liberalen Theologie rückt. Näher steht er unter Berücksichtigung der genannten Modifikationen der Kerygmatheologie. 5.5 Die Brücke zwischen historischer und theologischer Erkenntnis Im wirkungsgeschichtlich fassbaren Nachhall der Person Jesu, der in der Rezeptionsgeschichte Gestalt gewonnen hat, verbinden sich neohistorische Bemühungen mit narratologisch grundgelegten Interpretationen. Die Nachwirkung steht dem interpretierenden Zugriff offen. Marxsens Verknüpfung des durch Bultmann etablierten Kerygma-Begriffs mit der Jesusüberlieferung der synoptischen Evangelien resp. deren Präsentation durch Markus als Redaktor und der damit verbundene Gedanke vom verkündigten Jesus weist auf eine Entwicklung voraus, die vom new literary criticism bzw. dem narrative criticism realisiert wurde: die Fokussierung Jesu unter dem Gesichtspunkt von dessen wirkungsgeschichtlicher Ausstrahlung, und dies unter Rekurs auf die in der Erzählung angelegte Wirkabsicht. In gewisser Weise entspricht dieses Verfahren auch dem Vorgehen der sog. third quest. Obgleich diese Forschungsrichtung im Unterschied zu den narratologischen Zugängen gerade auf die historische Faktizität hinter den neutestamentlichen Texten abzielt, spielt in normativer Hinsicht die Orientierung an Jesus als derjenigen Gestalt, die zur Legitimierung späterer christlicher Verhaltensweisen verwendet wird, eine teils 103 Zitat W. Marxsen, Die Sache Jesu – Plädoyer für einen Begriff, in: Ders., Die Sache Jesu geht weiter, Gütersloh 1976, 9–27, 26. Vgl. auch Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 26 und 35. Vgl. im Zusammenhang auch W. Marxsen, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 21978, 128–131. 104 Vgl. den gleichlautenden Buchtitel. 105 Es geht „um die Präsenz Jesu im Kerygma seiner Zeugen, um die lebendige Präsenz des gekreuzigten Jesus“. Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 25; vgl. auch Marxsen, Die Auferstehung Jesu (s. Anm. 96), 26.35. Marxsen, Die Sache Jesu (s. Anm. 103), 10. 106 Vgl. Marxsen, Jesus von Nazareth – ein Ereignis (s. Anm. 84), 36.
210 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie unausgesprochene, teils explizite Rolle.107 Neohistorische Jesusforschung und Studien zum erzählten Jesus haben hier ihren Berührungspunkt. Beide richten den Blick auf die Wirkungen, die von Jesus ausgehen. Sie suchen in der historischen Rückverfolgung resp. in der Interpretation der Texte dieser Ausstrahlung nachzugehen und damit einen fundierenden oder legitimierenden Ausgangspunkt für den christlichen Glauben zu formulieren.108 Mit der Kategorie des verkündigten Jesus hat Marxsen eine Brücke gebaut, um den Graben zwischen der klassischen historischen Jesusforschung und der am verkündigten Christus orientierten kerygmatischen Theologie zu überwinden. Gegenüber der Illusion einer voraussetzungslosen Forschung und der Idee von sog. historischer Objektivität oder Neutralität liegt bei Marxsen ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Intentionalität jeder Darstellung vor. Wie es keine absichtslose Präsentation Jesu im frühen Christentum gab und die Exegese vor der Aufgabe steht, die planmäßige Gestaltung der Tradition durch die Evangelisten zu erfassen,109 ist auch die Exegese von Interessen und Zielen bewegt, die die Auslegung formen.110 Marxsens Insistieren darauf, dass auch die vermeintlich „rein“ historischen Aussagen über Jesus interessegeleitet, d. h. in seiner Diktion Ausdruck einer vorgängigen Relation zu Jesus sind,111 nimmt die konstruktivistische Einsicht vorweg, dass jede Gegenstandskonstitution ein Verhältnis zum Gegenstand zur Voraussetzung hat, welches den Gegenstand stets im Licht dieser Beziehung zeigt. 5.6 Marxsen als Vermittler zwischen theologischen Gegensätzen Marxsen trat mit seinem Bemühen um Vermittlung in den Raum zwischen dem christologischen Desinteresse der Liberalen Theologie und der theologischen Niedrigbewertung historischer Erkenntnisse durch die dialektisch-theologisch 107 Vgl. P.-G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, 48–49. 108 Vgl. J. Schröter, Von der Historizität der Evangelien. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um den historischen Jesus, in: J. Schröter / R. Brucker (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin / New York 2002, 163–212, 164, und J. Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften, ThLZ 128 (2003), 855–866, 855. 109 Vgl. Marxsen, Evangelist (s. Anm. 1), 9–13. 110 Man kann „das Historische (…) nicht durch Eliminierung erreichen, sondern (…) höchstens durch Interpretation. (…) Ich kann nicht scheiden zwischen historischen und tendenziösen Stoffen. Alle sind tendenziös. Das Moment des Historischen ist ein metatendenziöses.“ Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 18 (Kursivierung von W. M.). „Das Historische liegt also nicht vor dem Christologischen, kann nicht am Christologischen vorbei erfragt werden, sondern immer nur durch das Christologische hindurch, denn Jesus begegnet immer (…) als der vom Glauben her Ausgesagte.“ Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 18. 111 Vgl. Marxsen, Christologie (s. Anm. 73), 19–20.
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beeinflusste Theologie Bultmannscher Provenienz. Zusätzlich setzte er sich mit einer christologische „Orthodoxie“ einfordernden fundamentalistischen Gemeindetheologie auseinander. Bei dieser Konstellation ergaben sich zwangsläufig Komplikationen. Sie resultierten bereits nach Marxsens eigener Wahrnehmung daraus, dass es in allen drei Lagern unreflektierte Vorentscheidungen gab, die einem sachorientierten Gespräch im Weg standen. Die Hochschätzung des christologischen Bekenntnisses machte eine Schnittmenge zwischen der dialektisch-theologischen Position und der evangelikalen Gemeindeposition aus. Daran zu partizipieren nahm auch Marxsen für seine Position in Anspruch, freilich mit der für seine Auffassung signifikanten Differenzierung im Kerygma-Begriff. Bei aller Gegensätzlichkeit zur Liberalen Theologie besaß die dialektisch-theologisch geprägte Kerygmatheologie kein Problem damit, historische Forschung in freier Weise zu betreiben. Ihr Einspruch galt lediglich dem Versuch, aus historischen Befunden theologisch normative Aussagen abzuleiten. Zwischen der liberaltheologischen Position und der konservativen Gemeindehaltung bestand nach Marxsens Darstellung ebenfalls eine Übereinstimmung, die nur auf den ersten Blick überraschen konnte. Sowohl die aufgeklärt liberale als auch die fundamentalistische Position hatten das Interesse, die zentralen Verkündigungsanliegen historisch in der Lebensgeschichte Jesu zu verankern.112 Auf die Verquickung von „orthodoxer“ Dogmatik mit historischkritischer liberaler Jesusforschung hatte bereits Ernst Käsemann hingewiesen.113 Was theologiegeschichtlich eine Alternative zweier aufeinander folgender Positionen darstellte, wurde in selektiver Rezeption von der Gemeindefrömmigkeit zur Sicherung der „rechten“ Lehre miteinander verknüpft. Marxsens Gesprächsangebot an die auf Jesus und zugleich auf die Christologie ausgerichtete gemeindliche Frömmigkeit bestand darin, unter dem Verkündigungsaspekt zu einem ausbalancierten Verhältnis zwischen aufgeklärt liberaler und dialektischtheologischer Position zu gelangen. Dem diente sein Bezug auf den irdischen Jesus, der im Markusevangelium bereits vorösterlich in einer Verkündigungsperspektive präsentiert wird, die sachlich dem Osterglauben entspricht. Da Marxsen sich freilich dem krassen Realismus der Heilstatsachen verschließen musste und stets auf die konstruktivistischen Implikationen theologischer Aussagen hinwies, musste dieses Verständigungsangebot scheitern. Wenig bewirkt hat auch das Gesprächsangebot in Richtung Bultmann-Schule. Die Grundopposition gegen den Jesusbezug der Liberalen Theologie, die auf einer starken Christologie basierte, vertrug offensichtlich die Binnendifferenzierung im Kerygma-Begriff noch nicht. Für heutige neohistorische Jesusannäherungen ist Marxsens Zugang ebenfalls Vgl. Marxsen, Jesus – Bringer oder Inhalt des Evangeliums (s. Anm. 75), 54–58. Vgl. E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster Band, Göttingen 1960, 187–214, 189, sowie E. Käsemann, Neutestamentliche Fragen von heute, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Zweiter Band, Göttingen 1964, 11–31, 15. 112 113
212 Die Markusinterpretation Willi Marxsens und ihre Konsequenzen für die Christologie unattraktiv, weil der kerygmatische Grundzug ihn in den Augen dieser Richtung zu sehr an die Seite Bultmanns stellt, der wiederum als der Hauptopponent gegen die historische Jesusforschung wahrgenommen wird. So bedurfte Marxsen zur Explikation seines Propriums vieler Ausdifferenzierungen und Präzisierungen in mehrere Richtungen gleichzeitig. Das hat seine Rezeption erschwert. In der Summe lässt sich sagen: Marxsen hat in seinen Veröffentlichungen den herrschenden Realismus in Theologie und Gemeindefrömmigkeit auf den Prüfstand gestellt und auf seine konstruktivistischen Anteile hin befragt. Den Grundbestand an theologischem Realismus hat er dabei nicht preisgegeben. Das gegenwärtige heilvolle Wirken Gottes stand für ihn außer Frage.114 Dessen Unanschaulichkeit und die Tatsache, dass die Aussagen über das heilvolle Gotteswirken eine Tendenz zur Verfestigung und Verselbstständigung beinhalten, haben ihn zum Kritiker vermeintlicher Realismen und „vorletzter“ Wahrheiten werden lassen. Gegenüber scheinbar realistischen Identifikationen christlicher Sprachfiguren mit der göttlichen Offenbarung selbst setzte er auf das verstehende Neuformulieren des Text gewordenen Wortes. Die Transzendierung des Gegebenen und die Relationierung mit dem Dargestellten erschlossen ihm den Zugang zu einer Wirklichkeit, die ihm als gottbestimmt galt. Für Marxsen bedeutete das heilvolle extra nos des Glaubens den unhintergehbaren Horizont seiner exegetischen und theologischen Arbeit. Vor diesem Hintergrund machte er den konstruktiven Charakter der neutestamentlichen Aussagen bewusst und stellte zugleich deren Gottesbezug heraus. Seine Leistung für die Evangelische Theologie besteht darin, den Verweischarakter der im Neuen Testament versammelten Versprachlichungen auf die als zugrundeliegend geglaubte Gottesbeziehung zum Ausdruck gebracht zu machen.
114 „Entscheidend bleibt immer: Gott kommt nicht erst später (…): Gott ist schon in diesem Leben dabei, soweit dieses Leben eschatologisches Leben ist (…). Der kommende Gott ist also ein gegenwärtiger Gott.“ Marxsen, Auferstehung der Toten (s. Anm. 100), 119.
Das Markusevangelium im Religionsunterricht The Gospel of Mark in Religious Education The reading of the Markan gospel requires a preliminary decision to read the work either as a collection of sources or as a narrative overall design. This preliminary decision also touches the judgment on the question of the genre of the oldest gospel. In content, the Gospel of Mark draws Jesus as the agent of God who spreads the divine spirit among men. The tension between elevation and humiliation marks the narrow line Jesus walks. In religious education, the events of his life can be a bridge for pupils to relate their own biographical experiences to.
1. Markus lesen: Eine theoretisch-methodische Vorentscheidung Bereits die Frage: Wie wird das Markusevangelium gelesen? beinhaltet eine Vorentscheidung im Umgang mit der ältesten Evangelienschrift. Zwei Ansätze stehen in der gegenwärtigen Debatte einander gegenüber. Der eine liest das Markusevangelium in der Tradition historisch-kritischer Exegese als einen Quellentext, der Aufschluss über Vorgänge zur Zeit Jesu gibt. Mittels Literarkritik, Form‑ und Redaktionsgeschichte wird dabei die Entstehung des Endtextes als das Ergebnis eines Wachstumsprozesses von einem mündlichen Überlieferungsstadium bis zur schriftlichen Endfassung nachvollzogen. Erkenntnisleitend ist die Überzeugung, dass ein Text aus der Geschichte seiner Überlieferung zu verstehen sei. Der alternative Ansatz nimmt die Endfassung des Markusevangeliums in 1,1–16,8 zum Ausgangspunkt.1 Ungeachtet möglicher Hypothesen über die Entstehungsgeschichte des Textes bezieht sich dieser Zugang auf die Form des Textes, in der er über die Jahrhunderte hin rezipiert wurde. Das Auslegungsinteresse richtet sich auf die erzählte Welt des Gesamtwerks. Dessen Gestaltung und erzählter Inhalt bestimmen die Untersuchung. Unterschieden wird zwischen der erzählten Welt, deren Inhalt die Lebensgeschichte Jesu Ende der zwanziger Jahre des ersten Jahrhunderts ist, und der Erzählwelt der 70er Jahre, der das Werk als Ganzes entstammt. Auf der Basis erzähltheoretischer Einsichten wird die Erhebung des Sinnpotentials des Textes mit der Bedeutungszuschreibung durch die Leserinnen und Leser bzw. Hörerinnen und Hörer verwoben. 1 Der
sog. sekundäre Markusschluss in Mk 16,9–20 stammt erst aus dem 2. Jahrhundert.
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Das Markusevangelium im Religionsunterricht
Für die Behandlung des Markusevangeliums im Religionsunterricht empfiehlt es sich, im Vorhinein zu entscheiden, in welchem Verhältnis historisch-rekonstruierendes und literarisch-interpretierendes Verfahren zueinander stehen sollen. Als Kriterium kann im Kontext der Schule die Überlegung dienen, welche Methoden der Textbearbeitung die Schülerinnen und Schüler in der jeweiligen Klassenstufe im Religions‑ und Deutschunterricht, den Philologien und im Geschichtsunterricht bereits erlernt haben und in der Auslegung des Markusevangeliums neu zur Anwendung bringen können.
2. „Evangelium“ als Gattung Der Begriff „Evangelium“ bezeichnete im frühen Christentum ursprünglich die mündliche Verkündigung von Jesus Christus. Mit Mk 1,1 wurde der Begriff in den Zusammenhang einer schriftlichen Darstellung der Lebensgeschichte Jesu gestellt. Unter „Evangelium“ wurden nun sowohl die mündliche Jesus-ChristusVerkündigung als auch die Jesuserzählung des Markusevangeliums verstanden. Die Herkunft der Literaturgattung „Evangelium“ und ihr Verhältnis zu anderen Gattungen der antiken Literatur werden kontrovers diskutiert. Nach wie vor vertreten wird die These von der Analogielosigkeit der Gattung „Evangelium“. Gemeint ist, dass mit dem einzigartigen Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus auch eine neue literarische Gattung in die Welt gekommen sei.2 Freilich dominieren die Versuche, die Evangeliengattung aus antiken literarischen Vorbildern abzuleiten. Dazu wird auf alttestamentliche Vorgaben wie die Prophetenbiographie3 und die „Biographie des Gerechten“4 Bezug genommen. In der Mehrzahl wird auf Vorlagen aus der hellenistisch-römischen biographischen und historiographischen Literatur verwiesen. D. Frickenschmidt5 gelten alle Evangelien als Jesus-Biographien, V. Robbins6 und F. Fendler7 rechnen Markus bei unterschiedlicher Bestimmung der traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Gattung „Biographie“ zu. M. Ebner und D. Dormeyer verweisen darauf, dass das Markusevangelium in der Welt des 1. Jahrhunderts n. Chr. insgesamt „als 2 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 400, bezeichnet das Markusevangelium als „eine original christliche Schöpfung“. Ebenso U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002: „Der Evangelist Markus schuf diese neue Gattung“ (177). 3 K. Baltzer, Die Biographie der Propheten, Neukirchen-Vluyn 1975. 4 D. Lührmann, Biographie des Gerechten als Evangelium. Vorstellungen zu einem Markuskommentar, WuD 14, 1977, 25–50. 5 D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997, 501.508. 6 V. K. Robbins, Jesus the Teacher. A Socio-Rhetorical Interpretation of Mark, Minneapolis 1992, 10. 7 F. Fendler, Studien zum Markusevangelium. Zur Gattung, Chronologie, Messiasgeheimnistheorie und Überlieferung des zweiten Evangeliums, GTA 49, Göttingen 1991, 78–80.
2. „Evangelium“ als Gattung
215
Vita wahrgenommen“8 wurde. Es stelle einen Gegenentwurf zu der auf den flavischen Kaiser Vespasian bezogenen Herrscherpropaganda dar.9 Auch die antike Philosophenvita wird als Vorbild genannt.10 Nach W. Eckey ist durch das Zusammenlaufen griechischer und römischer sowie alttestamentlich-jüdischer Traditionsstränge ein Werk der Geschichtsschreibung entstanden, das Züge der antiken Biographie trägt und zugleich ein christliches Werk eigener Herkunft darstellt.11 Konzentriert man sich anstelle der Zuordnung zur biographisch-historiographischen antiken Literatur auf die Darstellung der erzählten Welt des Markusevangeliums, tritt der literarische Charakter des Werks als einer Erzählung in den Vordergrund. B. L. Mack12 und E. S. Malbon13 haben das Augenmerk auf mythisch-narrative Elemente im Markusevangelium gelenkt.14 Bei Berücksichtigung der mythischen Prägung des Werks kommt dem ersten Wort der Schrift in 1,1: „ἀρχή“ besondere Bedeutung zu.15 Eine ἀρχή ist eine mythisch durchformte antike Textsorte. Sie führt gegenwärtige Naturzustände wie geschichtliche Konstellationen auf Ursprungsereignisse zurück, bei denen Gestalten aus der Götterwelt sich in innerweltliche Vorgänge eingeschaltet haben.16 Mk 1,1 kündigt eine Erzählung vom Anfang des Evangeliums von Jesus Christus im Leben und Wirken des Menschen Jesus an. Um das Jahr 70 n. Chr. präsentiert das Werk die Schöpfungsgeschichte des christlichen Glaubens in Gestalt einer schriftlichen So M. Ebner, Das Markusevangelium, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, KStTh 6, Stuttgart 2008, 154–183, 168, im Anschluss an D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBS 43, Stuttgart 1999, wobei Abweichungen im Einzelnen in Rechnung zu stellen seien. Für E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 410, stellt das Werk „einen eigenen Typus von Prä-Historiographie dar“. 9 M. Ebner, Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier. Eine politische Lektüre des ältesten „Evangeliums“, BiKi 66 (2011), 64–69; D. Dormeyer, Vom zweiten wieder auf den ersten Platz. Forschungsgeschichtlicher Überblick zum Markusevangelium, BiKi 66 (2011), 109–112, 111. Vgl. so schon G. Theißen, Evangelienschreibung und Gemeindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markusevangeliums, in: B. Kollmann / W. Reinbold / A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und Frühes Christentum, FS Hartmut Stegemann, BZNW 97, Berlin / New York 1999, 389–414, 397. 10 K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen 2005, 419. 11 W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 31–37, spricht von einem „opus sui generis“ (34). 12 Nach B. L. Mack, A Myth of Innocence. Mark and Christian Origins, Philadelphia 1988 (paperback edition 1991), XII, handelt es sich bei den Evangelien um „myths of origin“. 13 E. S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, BiSe 13, Sheffield 1991 (first published in 1986), 2, stellt die literarische Bedeutung der Raumangaben bei Markus heraus. 14 Statt einer Gegenüberstellung biographisch-historiographischer und mythischer Elemente tritt A. Herrmann, Versuchung im Markusevangelium. Eine biblisch-hermeneutische Studie, BWANT 197, Stuttgart 2011, 41–46, für eine Synthese ein. Die markinische Jesusdarstellung wolle als „Ur-Bild“ (43) ihre Leserschaft prägen. 15 Deutsch: Anfang, Ursprung, Herrschaft. 16 Vgl. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135–148. 8
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Das Markusevangelium im Religionsunterricht
Jesuserzählung.17 Offen ist, in welchem Umfang historische Reminiszenzen in diese Erzählung einfließen. Hinsichtlich der Gattungszuschreibung ist ein doppelter Ursprung zu konstatieren: In formaler Hinsicht greift die markinische Erzählung die Vorgaben einer mythisch geprägten Arché auf. Der inhaltliche Bezug auf das Christus-Evangelium und die Person Jesu verleiht ihr zugleich ihre geschichtliche Dimension.
3. Verfasser, Ort und Zeit der Entstehung, Gliederung Im Blick auf die historischen Hintergründe der markinischen Evangelienschrift ist nichts sicher. Papias von Hierapolis notiert in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts unter Bezug auf den Presbyter Johannes, dass Markus, der Jesus nicht mehr persönlich kennengelernt habe, später Dolmetscher des Petrus war und aus dem Gedächtnis die Worte und Taten Jesu aufgeschrieben habe. Papias’ Interesse, aus Gründen der Authentizitätssicherung die frühchristlichen Überlieferungen an bedeutende Persönlichkeiten des ältesten Christentums zu binden, macht seine Aussagen jedoch in historischer Hinsicht zweifelhaft. Der Verfasser der ältesten Evangelienschrift bleibt unbekannt.18 Gleiches gilt für den Ort der Abfassung. Die gelegentliche Überlegung, einige der Latinismen innerhalb des Markusevangeliums deuteten auf Rom, bleibt genauso spekulativ wie die Annahmen, der Verfasser müsse in Syrien, Antiochia, Galiläa, der Dekapolis oder Kleinasien gesucht werden.19 Aussagen lässt sich lediglich, dass die Art der Textsorte und die Kenntnis mythischer Erzählweise auf einen Autor verweist, der mit hellenistisch-römischen Erzählgepflogenheiten vertraut ist und versucht, seiner Leserschaft jüdische religiöse Regeln und sprachliche Ausdrücke verständlich zu machen.20 Hinsichtlich der Datierung wird diskutiert, ob das Werk nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im jüdisch-römischen Kriegs 70 n. Chr. – so unter Bezug auf Mk 13 die Mehrzahl der Forscher21 – oder kurz zuvor im Jahr 69 entstanden ist.22
P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin / New York 2001, 303–314.
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18 Vgl. U. H. J. Körtner, Papias von Hierapolis. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Chris-
tentums, FRLANT 133, Göttingen 1983, 207–212. Ungewiss bleibt auch, ob der Name „Markus“ durch eine Verbindung zu 1 Petr 5,13 erklärbar ist. 19 Vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 2), 242–244. 20 Schnelle, Einleitung (s. Anm. 2), 246. 21 Vgl. I. Broer, Einleitung in das Neue Testament, Band I und II. Studienausgabe Würzburg 2006, 85–86; Ebner, Markusevangelium (s. Anm. 8), 170–171; Schnelle, Einleitung (s. Anm. 2), 244–245. 22 So M. Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H. Cancik (Hg.), Markus-Philologie, WUNT 33, Tübingen 1984, 1–45, 43.
4. Themen der markinischen Jesuserzählung
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4. Themen der markinischen Jesuserzählung 4.1 Der Konflikt der Geister Der markinische Jesus tritt als Agent Gottes für die Ausbreitung der Gottesherrschaft auf der Erde ein. Bei der Taufe in 1,9–11 wird ihm vom Himmel der göttliche Geist verliehen. Gott selbst apostrophiert ihn als „geliebter Sohn“. Ausgestattet mit göttlichem Geist macht sich Jesus daran, diesen unter den Menschen auszubreiten. Dabei gerät er von Anfang an in Konflikte mit den Trägern des widergöttlichen dämonischen Geistes. Gleich die erste Szene nach der Taufe führt ihn in 1,12–13 zu einem „Duell in der Wüste“. Dort trifft er auf den obersten der gegengöttlichen Geister, den Satan. Im Verlauf der weiteren Erzählung gerät er wiederholt in Auseinandersetzungen mit dessen Trabanten. Der Konflikt der Geister ist eine der charakteristischen Erzähllinien im Markusevangelium. In 1,21–28 und 5,1–20 kommt es zu exemplarischen Konfrontationen mit Dämonen, die in anthropologischer Hinsicht aufschlussreich sind, da sie den Menschen als Besessenen zeigen.23 Geistige Verrücktheit und teuflisch-satanische Einwirkungen spielen auch in den Auseinandersetzungen Jesu mit seiner Familie (3,20 f.31–35), mit Schriftgelehrten (3,22–30) und Petrus eine Rolle (8,33). Seinen Höhepunkt und Abschluss findet das Thema in der Sterbeszene Jesu in 15,33–39. Im Moment seines Todes haucht Jesus den ihm bei der Taufe vertikal von oben verliehenen Geist aus (ἐκπνέω V. 37.39), dieser beginnt sich horizontal unter die Menschen auszubreiten.24 Ausgerechnet der römische Centurio als der unwürdige Leiter des Hinrichtungskommandos ist es, der das Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu ausspricht, ein in theologischer Hinsicht „österliches“ Ereignis. Am markinischen Karfreitag fallen Ostern und Pfingsten in einem Datum zusammen.25 4.2 Ethische Normen Die Kennzeichen des Geistes, dem Jesus entgegentritt, sind Ausgrenzung, Leidensabwehr26 und das Bedürfnis nach Statuserhöhung27. Die Geistthematik besitzt damit eine ethische Dimension. Die fünf Erzählungen des Zyklus von 2,1–3,6 präsentieren aus der Perspektive der Erzählwelt des beginnenden achten 23 Vgl. G. Klein, Der Mensch als Thema neutestamentlicher Theologie, ZThK 75 (1978), 336–349. 24 Zur Bedeutung dieses Vorgangs vgl. J. E. Aguilar Chiu, A Theological Reading of ἐξέπνευσεν in Mark 15:37, 39, CBQ 78 (2016), 682–705. 25 Vgl. J. Schreiber, Die Sonne im Markusevangelium. Hinweise zur Eschatologie und Schöpfungslehre des Markus, in: M. Evang/H. Merklein/M. Wolter (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, FS Erich Gräßer, BZNW 89, Berlin/New York 1997, 355–374, 363. 26 Mk 8,29–32. 27 Dieses äußert sich im Geltungswunsch der Jünger Jesu (9,33–37; 10,35–45) wie in den Bemühungen von Geistern, Jesus eine hoheitliche Position einzuräumen (1,24; 5,7).
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Jahrzehnts in Gestalt ätiologischer Erzählungen die in der Gegenwart geltenden theologischen und ethischen Leitlinien. Diese beziehen sich auf die Vergewisserung der bleibenden Gottesgemeinschaft (2,1–12),28 die soziale Integration der Desintegrierten (2,13–17), die Situationsangemessenheit von Normen (2,18–22), das menschliche Wohl als Kriterium im Umgang mit Regeln (2,23–28) sowie die Unmöglichkeit der Neutralität angesichts der ethischen Forderung (3,1–6).29 4.3 Christologie in der Spannung zwischen Erhöhung und Erniedrigung Exakt in der Mitte des Evangeliums, in 8,27–33, macht der Erzähler die Bedeutung der Person Jesu zum Thema. Nachdem Jesus bis dahin sämtliche an ihn herangetragenen Erhöhungsversuche abgewiesen hat, führt seine Frage an die Jünger, für wen die Leute ihn halten (8,27), zum Christusbekenntnis des Petrus.30 Statt Petrus für seine an sich richtige Erkenntnis zu loben,31 fordert Jesus Stillschweigen und füllt den Christustitel mit den Aspekten seines Leidens, seiner Verwerfung und seines Sterbens und Auferstehens (vgl. die Leidensweissagungen in Mk 8,31; 9,31; 10,32). Daran entzündet sich der Widerspruch des Petrus, dem Jesus mit einer Attacke begegnet, bei der er die Zuschreibung des hoheitlichen Status als satanischen Ursprungs zurückweist. Das Gefahrenpotential der Erhöhungsaussage „Du bist der Christus“ (8,29) wird spätestens in 14,61–64 beim Verhör Jesu durch den Hohenpriester sichtbar. Dieser trägt die gleichen Worte wie Petrus an Jesus heran, und als Jesus die mit dem Christustitel verknüpfte Erhöhungsanfrage nicht entschieden abweist, wird das in der Dramaturgie der Erzählung zum Auslöser des Todesurteils gegen ihn (14,64). Am Schicksal Jesu wird die Gefahr von Statuserhöhungen mit ihrem Risiko des anschließenden Sturzes gezeigt. Nicht geht es darum, den Hoheitsstatus Jesu, seine sog. Messianität, unter ein Geheimnis zu stellen.32 Gerade umgekehrt wird Jesus als der präsentiert, der Erhöhungsbestrebungen für seine Person abweist. Er lehnt es ab, aus der Gemeinschaft der Gleichen herausgehoben zu werden. Redet er von sich, wählt er als Selbstbezeichnung den schlichten Ausdruck „Sohn des Menschen“.33 Angesichts 28 R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1–12, in: G. Thomas / I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227–246. 29 Vgl. Klumbies, Mythos (s. Anm. 17), 160–188. 30 Zur Bedeutung der Frage im Markusevangelium vgl. R. Zimmermann, Fragen bei Sokrates und Jesus. Wege des Verstehens – Initiale des Weiterfragens, in: H. Lindner / M. Zimmermann (Hg.), Schülerfragen im (Religions)Unterricht. Ein notwendiger Bildungsauftrag heute?!, Neukirchen-Vluyn 2011, 33–59, zur Christusfrage in Mk 8 vgl. a. a. O., 51–54. 31 So Jesus in Mt 16,17–19. 32 Gegen W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 41969. 33 Vgl. 2,10.28; 8,31.38; 9,9.12.31; 10,33.45; 13,26; 14,21.41.62. Zum Traditionshintergrund und Bedeutungsspektrum der Menschensohnterminologie vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 470–480.
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der Notwendigkeit, das Leben vor dem Hintergrund der Realität von Leidenserfahrungen zu bewältigen, weist Jesus das Statusstreben als bedeutungslos zurück. 4.4 Soteriologisches Handeln in Wort und Tat Tritt in der Christologie auf der einen Seite der personale Status Jesu zurück, wird auf der anderen Seite sein Einsatz für Heil und Wohl der Menschen zu seinem Qualitätsmerkmal. Die Soteriologie gibt der Christologie ihre Richtung. Wieder und wieder bemüht sich der markinische Jesus durch Wort und Tat, Menschen in eine gelingende Gottesbeziehung zurückzuführen. Sein gleichnishaftes Reden von der Herrschaft Gottes (4) und sein wundertätiges Handeln greifen ineinander. Beides wird zum Ausdruck der Bemühung, eine Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen zu verkünden, die durch die Widerfahrnisse eines gefährdeten und teilweise auch misslingenden Lebens nicht zerstört ist. Die Vergewisserung der bleibenden Gottesgemeinschaft (2,5) führt Menschen in das gemeinsame Gotteslob zurück (2,12).
5. Das Markusevangelium im Religionsunterricht Das gesamte Markusevangelium als Erzählung im Religionsunterricht zu lesen, mag im Ausnahmefall möglich sein.34 In jedem Fall lassen sich thematisch verknüpfte Themenfolgen als durchlaufende Zusammenhänge wahrnehmen. Jesu Konflikte mit Dämonen, die Besessenheits‑ und die Erhöhungsthematik, die Normenerzählungen (2,1–3,6) und die Sequenzen von wundersamen Begebenheiten mit ihren Kontexten bieten sich zum durchgehenden Lesen (6,30–8,34) an. Der vom Ende der Erzählung auf den Anfang verweisende Kreislauf von Galiläa (16,7) nach Galiläa (1,14) und die geographischen Verknüpfungen im mythischen Raum legen nahe, den Weg Jesu und die markinische „Geographie in Kreuzform“35 nachzuvollziehen. Als längerer Textkomplex eignet sich Jesu gleichnishaftes Reden von der Herrschaft Gottes in 4,1–34 zur Lektüre, ebenso der wiederkehrende Rekurs auf das Leiden und die Leidensabwehr samt menschlicher Statusfragen (8,31–33; 9,30–37; 10,32–45; 14–15). Die Wahrnehmung der Raumsemantik und der Lichtverhältnisse und Tageszeiten eröffnen wichtige Beobachtungen für die Interpretation. Exemplarisch lässt sich die Darstellung 34 Dafür plädiert P. Müller, Mit Markus erzählen. Das Markusevangelium im Religionsunterricht, Stuttgart 1999, 7.38.111–115. Vgl. H.-J. Venetz, Auf dem Weg nach Galiläa. Der Erzählentwurf des ältesten Evangeliums, BiKi 62 (2007), 145–151, 145, sowie das Plädoyer für die Lektüre des Gesamtwerks von L. Schenke, Szenische und liturgische Lesung der Evangelien als Gesamttext, BiKi 62 (2007), 175–179. 35 P.-G. Klumbies, Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium, in: M. Ebner u. a. (Hg.), Heiliges Land, JBTh 23, 2008, Neukirchen-Vluyn 2009, 101–121, 119.
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des Sterbens Jesu in 15,33–39 unter Berücksichtigung des Wechsels von Helligkeit und Dunkelheit sowie der Richtungen im erzählten Raum untersuchen. Die Ostererzählung in 16,1–8, in der die Frauen in ihre Heimat Galiläa als dem Ort der Begegnung mit dem Auferweckten zurückverwiesen werden,36 kann als Brücke aus der erzählten in die Welt der Leserschaft interpretiert werden. Mittels der Chiffre „Heimat“ lassen sich Schülerinnen und Schüler einladen, den Ort der Begegnung mit dem Auferweckten in ihren persönlichen Biographien und sozialen Kontexten aufzusuchen37 und Verbindungen zwischen eigenen Erfahrungen und der erzählten Lebensgeschichte Jesu zu entdecken.
36 Vgl. A. Wypadlo, „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39). Überlegungen zur Funktion des Centuriobekenntnisses im christologischen Entwurf des Markusevangeliums, BZ NF 55 (2011), 179–208, 187. 37 P.-G. Klumbies, Mk 16,1–8 als Verbindung zwischen erzählter und außertextlicher Welt, in: Ders., Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas, BThSt 114, Neukirchen-Vluyn 2010, 129–143, 135.
Nachweis der Erstveröffentlichungen Die Jesuserzählung nach Markus als Werk des achten Jahrzehnts. In: Christof Landmesser / Ruben Zimmermann (Hg.), Text und Geschichte. Geschichtswissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Faktizitäts-Fiktionalitäts-Geflecht in antiken Texten, VWGTh 46, Leipzig 2017, 226–266 (Evangelische Verlagsanstalt). Die älteste Evangelienschrift als ätiologische Erzählung. Ursprünglich erschienen unter dem Titel: Die älteste Evangelienschrift als aitiologische Erzählung. In: Christiane Reitz / Anke Walter (Hg.), Von Ursachen sprechen. Eine aitiologische Spurensuche. Telling Origins. On the Lookout for Aetiology, Spudasmata 162, Hildesheim / Zürich / New York 2014, 143–162 (Georg Olms Verlag). Das Konzept des „mythischen Raumes“ im Markusevangelium. In: Martin Ebner u. a. (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie 23, 2008, Heiliges Land, Neukirchen-Vluyn 2009, 101–121 (Neukirchener Verlag). Die ätiologisch-narrative Begründung geltender Normen in Mk 2,1–3,6. In: Ulrich Volp / Friedrich W. Horn / Ruben Zimmermann (Hg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics VII, WUNT 356, Tübingen 2016, 169–188 (Verlag Mohr Siebeck). Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas. In: Christof Landmesser / Andreas Klein (Hg.), Kreuz und Weltbild. Interpretationen von Wirklichkeit im Horizont des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2011, 47–65 (Neukirchener Verlag). Die Grenze form‑ und redaktionsgeschichtlicher Wunderexegese. In: Biblische Zeitschrift 58/Heft 1 (2014), 21–45 (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn).
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Register Stellen Hebräische Bibel und Septuaginta Genesis Gen 1,3 Gen 1,9
108 108
Exodus Ex 15,26 Ex 23,20
140 28, 29
1. Samuel 1 Sam 16,7
140
1. Könige 1 Kön 8,39
140
Ps 44,22 Ps 103,3 Ps 139,2–4
140 140 140
Sprüche Spr 15,11
140
Jesaja Jes 40,3
28, 198
Jeremia Jer 11,20 Jer 17,9–10
140 140
2. Könige 2 Kön 4,34–35a 128
Daniel Dan 7,9
141
1. Chronik 1 Chron 28,9
140
Maleachi Mal 3,1
28, 59
Psalter Ps 7,10 Ps 22 Ps 22,2 Ps 31,6
140 102 10 107
Jesus Sirach JesSir 38,15
140
Psalmen Salomos PsSal 14,8 140
Neues Testament Matthäus Mt 4,1 Mt 9,1–8 Mt 9,1 Mt 9,2 Mt 9,3 Mt 9,4
199 134, 147 147 148 148 148
Mt 9,5 Mt 9,6 Mt 9,7 Mt 9,8 Mt 12,9–14 Mt 12,11 Mt 16,16–19
148 148 148 149 152 161 168
242 Mt 16,17–19 Mt 17,14–20 Mt 17,15 Mt 17,18 Mt 27,54 Mt 28,4 Mt 28,8 Markus Mk 1,1 Mk 1–10 Mk 1–9 Mk 1–4 Mk 1,1–20 Mk 1,2 Mk 1,3 Mk 1,4 Mk 1,4–8 Mk 1,5 Mk 1,8 Mk 1,9 Mk 1,9–11 Mk 1,10 Mk 1,11 Mk 1,12 Mk 1,12a Mk 1,12b Mk 1,12–13 Mk 1,13 Mk 1,14 Mk 1,15 Mk 1,16–20 Mk 1,21–28 Mk 1,21 Mk 1,23 Mk 1,28 Mk 1,29–31 Mk 1,29 Mk 1,32–34 Mk 1,39 Mk 1,45 Mk 2,1–3,6 Mk 2,1–12 Mk 2,1–5
Register
218 172 172 172 148 148 148 198, 215 69 64 61 52 28, 29, 30, 31, 59 28, 29, 30, 31, 59, 60 60 29 60, 136 136 31, 60 32, 39, 68, 103, 217 60, 104 60, 103, 136, 137 32, 59, 60, 137 136 137 50, 217 32, 59, 60 31, 219 30, 31, 89 60 32, 34, 36, 62, 64, 83, 89, 135, 151, 188, 217 63, 89 89 60 135 135 135 60, 62 61 35, 51, 61, 74, 78, 79, 91, 126, 217, 219 35, 51, 80, 92, 122, 123, 124, 126, 132, 134, 135, 136, 138, 141, 143, 146 1, 122, 124
Mk 2,1(3)–5 Mk 2,1 Mk 2,2 Mk 2,3–12 Mk 2,3–6 Mk 2,3–5b Mk 2,3–5 Mk 2,3 Mk 2,4 Mk 2,5 Mk 2,5a Mk 2,5b Mk 2,5b–10 Mk 2,6–10 Mk 2,6–9 Mk 2,6 Mk 2,7–12 Mk 2,7 Mk 2,8 Mk 2,9–11 Mk 2,9 Mk 2,10 Mk 2,11 Mk 2,11–12 Mk 2,12 Mk 2,12a Mk 2,12b Mk 2,13–17 Mk 2,13 Mk 2,15–17 Mk 2,16 Mk 2,17 Mk 2,17a Mk 2,17b Mk 2,18–22 Mk 2,18 Mk 2,19–22 Mk 2,19 Mk 2,20 Mk 2,21 Mk 2,22
137 64, 139, 141, 147 124, 126, 135, 136, 141, 147, 149 146, 218 135 141 135, 137 122, 141, 147 139, 147 34, 81, 84, 125, 136, 141, 219 122, 141, 146 123, 126, 143, 146 122, 142 137, 138, 141, 143 81, 123 71, 136 146 34, 71, 80, 136 136, 140 148 126, 135 81, 122, 123, 126, 136, 140, 141, 143, 144 80, 81, 122, 126, 136, 137, 141 124, 137, 138, 142 34, 40, 80, 81, 82, 91, 122, 125, 126, 132, 137, 139, 141, 144, 150, 219 136 137, 138 35, 51, 82, 84, 86, 92, 218 61, 83 83 34, 71, 83 155 83 84 35, 84, 86, 92, 218 86, 97 85, 86 85, 86, 155 85, 86 85, 86 85, 86
Stellen
Mk 2,23–28 Mk 2,23 Mk 2,24 Mk 2,25 Mk 2,26 Mk 2,27 Mk 2,28 Mk 3,1–6 Mk 3,1–5 Mk 3,1 Mk 3,2 Mk 3,3 Mk 3,4 Mk 3,4a Mk 3,5 Mk 3,6 Mk 3,7–4,1 Mk 3,7 Mk 3,8 Mk 3,20 f. Mk 3,22–30 Mk 3,22 Mk 3,31–35 Mk 3,31–34 Mk 4 Mk 4,4 Mk 4,10–12 Mk 4,15 Mk 4,35–41 Mk 5 Mk 5,1–20 Mk 5,1–17 Mk 5,20 Mk 5,21–43 Mk 6–8 Mk 6,1–6 Mk 6,8 Mk 6,14–26 Mk 6,30–8,34 Mk 6,30–8,33 Mk 6,30 ff. Mk 6,40–44 Mk 6,45–52 Mk 6,45 Mk 6,53
36, 87, 89, 90, 92, 218 59, 88, 90 71, 88 88 88 88 88, 155 36, 40, 62, 66, 89, 90, 92, 151, 152, 153, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 218 157 89 153, 154, 158, 160 66, 164 153, 154, 156, 158, 160 154 155 40, 71, 91, 153, 154, 155, 157, 158 92 61 61 217 217 58, 71 217 71 61, 219 59 177 59 188 64 32, 34, 36, 188, 217 61 61 61 165 62, 71 59 62 219 188 62 35, 62, 188 131, 168 62 62
Mk 6,55 Mk 7 Mk 7,1 ff. Mk 7,1 Mk 7,24 Mk 7,29 Mk 7,30 Mk 7,31 Mk 7,37 Mk 8 Mk 8,1–33 Mk 8,1–21 Mk 8,1–10 Mk 8,1–9 Mk 8,3 Mk 8,4 Mk 8,10–13 Mk 8,10 Mk 8,11 Mk 8,11–34 Mk 8,11–13 Mk 8,11–12 Mk 8,12 Mk 8,13–21 Mk 8,14–21 Mk 8,14 Mk 8,15 Mk 8,22–26 Mk 8,22 Mk 8,25 Mk 8,26a Mk 8,26b Mk 8,27–33 Mk 8,27 Mk 8,29–33 Mk 8,29 Mk 8,30–32 Mk 8,31 Mk 8,31–33 Mk 8,32 Mk 8,32–33 Mk 8,33 Mk 9,2–8 Mk 9,7 Mk 9,14–29 Mk 9,20 Mk 9,26
243 62 65 71 58 62 62 62 62 34 218 132 131 62, 63 188 59 63 188 63 71 35 131, 168 63 131 63 34, 168, 188 131 71 35, 63, 127, 128, 129, 131, 132, 165, 188 127 128 128 128 131, 168, 218 59, 188, 218 188 52, 66, 188, 189, 218 37 218 219 34, 131, 168, 188 52 34, 63 63 63 170, 171 171 171, 172
244 Mk 9,28 Mk 9,30–37 Mk 9,30–31 Mk 9,31 Mk 9,33–37 Mk 9,33–35 Mk 9,33 Mk 9,34 Mk 9,38–50 Mk 10,1 Mk 10,3 Mk 10,17 Mk 10,21–34 Mk 10,28–31 Mk 10,32–45 Mk 10,32 Mk 10,35–45 Mk 10,46–52 Mk 10,46 Mk 10,52 Mk 11 Mk 11,1 Mk 11,8 Mk 11,11–25 Mk 11,11–22 Mk 11,18 Mk 11,27–33 Mk 12 Mk 12,13 Mk 12,14 Mk 13 Mk 13,3 Mk 13,27 Mk 14–15 Mk 14,10–11 Mk 14,13 Mk 14,16 Mk 14,17 Mk 14,28 Mk 14,29–31 Mk 14,32–52 Mk 14,39 Mk 14,40 Mk 14,53–54 Mk 14,53 Mk 14,54 Mk 14,55–65 Mk 14,60
Register
171 219 64 218 52, 64 34, 188 59, 64 59 64 64 52 59 64 188 219 218 34, 36, 188 35 59, 64 59 64, 65, 69 38, 65 59 65 40 40 65 65 71 59 215 65 38, 49, 71 219 65 65 65 65 65 188 66 67 67 37, 66 66 188 66 66, 67
Mk 14,61–64 Mk 14,61 Mk 14,62 Mk 14,62b Mk 14,64 Mk 14,66–72 Mk 14,66 Mk 14,71 Mk 15 Mk 15,13 Mk 15,21 Mk 15,33–39 Mk 15,33 Mk 15,34 Mk 15,35 Mk 15,36 Mk 15,37 Mk 15,38 Mk 15,39 Mk 15,40 Mk 15,41 Mk 15,43 Mk 16,1–8 Mk 16,1 Mk 16,2 Mk 16,5 Mk 16,6 Mk 16,7 Mk 16,8 Mk 16,11 Lukas Lk 4,1 Lk 6,6–11
218 37, 63, 189 63 37 52, 218 37, 66, 188 188 37 101 67 69 40, 67, 70, 101, 217, 220 38, 49, 101, 103 101, 102, 103 50, 67, 103, 106 67, 103, 106 50, 66, 68, 70, 103, 217 40, 103, 104 33, 50, 67, 68, 70, 103, 105, 217 69 69 69 52, 69, 71, 220 69 69 69 70 38, 39, 49, 52, 70, 199, 219 39, 201 69
198 151, 152, 153, 155, 158, 159, 160, 161, 162, 164 Lk 6,6 156 Lk 6,7 156, 158, 160 Lk 6,8 156 Lk 6,9 158 Lk 6,10 156 Lk 6,10–13 159 Lk 6,11 156, 158, 159, 160 Lk 9,37–43 172 Lk 13,10–17 151, 152, 153, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164 Lk 13,14 158
245
Stellen
Lk 13,15 Lk 13,15a Lk 13,15b Lk 13,16 Lk 13,17 Lk 13,17a Lk 13,17b Lk 14,1–6 Lk 14,1 Lk 14,3b Lk 14,4 Lk 14,4b Lk 14,5 Lk 14,6 Lk 16,16 Lk 23 Lk 23,44–49 Lk 23,44 Lk 23,45 Lk 23,46 ff. Lk 23,46 Lk 24,30 Lk 24,31 Lk 24,48 Lk 24,49 Lk 24,50
151, 159, 164 158 158 159 162 158, 159 151, 158, 159 151, 152, 153, 161, 162, 163, 164 160 160 160 161 161, 164 160, 161 140 93 106 106 106 107 106 108 108 108, 109 109 108
Johannes Joh 5,1–18 Joh 5,1–16 Joh 5,5 Joh 5,9b–16 Joh 5,14 Joh 5,17 Joh 5,18 Joh 9,2
149 163 149 149 140 150 150 140
Apostelgeschichte Apg 1,24 140 Apg 17,28 109 Römer Röm 8,27
140
1. Thessalonicher 1 Thess 2,4 140 Jakobus Jak 5,14–15
150
Offenbarung Apk 2,23
140
Alte Kirche Evangelium nach Nikodemus EvNik 5,1 149
EvNik 6 EvNik 6,1
134, 149 150
Jüdische Literatur Josephus A. J. 18.5.2
62
Griechische Autoren Philostrat Vit. Ap. 1,19 Vit. Ap. 4,18 Vit. Ap. 7,9
140 140 140
Polybios Historiae 10,21,2–8 14
Namen und Sachen Abendmahl 109 Arat 109 Aristoteles 108 Ätiologie, ätiologisch 26, 35, 39, 41, 42, 45, 47, 53, 61, 75–79, 91, 92, 126, 147, 174, 218 Apophthegma 79, 85, 88, 115, 133, 152, 164 Arché / ἀρχή 10, 26–28, 30, 42, 47, 48, 77, 78, 91, 198, 199, 215, 216, 218 Aristeasbrief 108 Autor 3, 4, 10, 15, 16, 24, 96, 107, 176, 198, 216 Bekenntnis 33, 37, 40, 50, 51, 53, 63, 66, 68, 69, 70, 71, 105, 108, 123, 132, 147, 161, 169, 177, 187, 189, 190, 193, 203, 207, 211, 217, 218, 220 Biographie 15, 22, 26, 40, 46, 194, 214, 215, 220 Chaos 58 Christologie 6, 12, 14, 16, 21, 31, 32, 33, 41, 63, 64, 98, 99, 106, 107, 108, 109, 112, 114, 115, 117, 123, 125, 127, 128, 132, 139, 153, 157, 158, 160, 163, 177, 181, 187, 192, 194, 202–205, 207, 208, 211, 218, 219 christologisch 12, 24, 31, 40, 41, 57, 63, 66, 70, 85, 88, 89, 98, 106, 107, 119, 121, 123, 125, 128, 129, 132, 142, 143, 144, 146, 147, 163, 164, 166, 180, 181, 184, 187, 190, 193, 198, 202, 205, 210, 211, 220 Christus‑Kerygma 13, 163, 187, 203, 205, 206, 207, 210 Christustitel 218 Dämon 32, 34, 36, 50, 51, 60, 62, 103, 135, 139, 149, 171, 172, 173, 177, 189, 217, 219 dämonisch 52, 66, 69, 174, 188, 217
Decisio Saxonica 181 Dialektische Theologie 2, 20, 21, 192, 195, 203, 207 Diachronie 4, 5 Elia 33, 103 Elisa 128 Entmythologisierung 75, 100, 113, 118–120, 132 Erhöhung 36, 37, 51, 52, 66, 131, 168, 177, 189, 190, 217, 218, 219 Erinnerung 16, 19, 20, 100, 185 Erkenntnisinteresse 176 Erniedrigung 52, 66, 177, 181, 189, 190, 218 Erzähler 1, 3, 10, 12, 15, 24, 25, 26, 28, 29, 37, 40, 41, 48, 49, 51, 52, 53, 55, 56, 60, 61, 70, 76, 77, 91, 101, 102, 103, 104, 106, 108, 109, 121, 122, 124, 125, 127, 131, 132, 137, 139, 146, 147, 153, 154, 157, 159, 160, 161, 162, 164, 171, 172, 187, 188, 189, 198, 218 Erzählüberlieferung 17, 85 Evangelium 1, 21, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 45, 47, 48, 49, 57, 77, 83, 95, 147, 164, 191, 200–206, 214, 215, 218 Exegese – diachron 4, 5, 187 – synchron 3, 4, 5, 45, 76, 187 expressionistisch 115, 195 Formgeschichte 2, 7, 13, 22, 24, 75, 78, 81, 85, 94, 99, 111, 113, 115, 116, 117, 118, 132, 137, 142, 158, 181, 187, 194, 195, 196 formgeschichtlich 3, 5, 23, 35, 36, 79, 81, 82, 84, 87, 124, 126, 127, 128, 136, 137, 144, 155, 165, 170, 195, 196, 197 Fragment 2, 100, 115, 116, 194, 195
Namen und Sachen
Galiläa 18, 19, 37, 38, 39, 40, 49, 52, 53, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 68, 69, 70, 71, 155, 199, 200, 201, 216, 219, 220 Gattung 4, 10, 14, 15, 16, 25–28, 42, 45, 46, 48, 76, 77, 79, 81, 116, 117, 118, 127, 128, 132, 133, 137, 141, 143, 164, 196, 199, 200, 201, 214, 216 Geheimnis 178, 180, 183, 189, 218 Geist 29, 32, 33, 34, 43, 50, 51, 52, 58, 60, 61, 62, 64, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 83, 89, 104, 105, 108, 134, 135, 170, 171, 172, 173, 174, 183, 187, 188, 217 Gottesherrschaft 22, 52, 120, 205 Gottessohn siehe Sohn Gottes Gottessohnschaft 51, 108, 178, 217 Heilsgeschehen 192 Heraklit 173 Herrscherrepräsentation 182, 185 Hippocrates 173 Historischer Jesus 44, 114 Historisierung 21, 69, 113, 200 Hoheitstitel 158 Horaz 108, 109 Identität 10, 36, 47, 49, 201 Individualdenkmal 183, 184, 186, 190 Institutionen 43 Jerusalem 22, 23, 37, 38, 40, 49, 53, 56, 57, 58, 60, 61, 63–68, 69, 70, 71, 102, 104, 200, 216 Jesus-Kerygma 163, 205, 207, 208 Jesusüberlieferung 44, 204, 209 Josephus 22, 62
247
Literarkritik 2, 7, 74, 75, 100, 111, 112, 114, 115, 116, 194, 196, 197, 213 Logion / Logien 25, 75, 76, 79, 81, 85, 88, 112, 115, 122, 141, 142, 144, 151, 158, 161, 164 Logienquelle 2 Logos / λόγος 27, 124, 126, 226 Magie 128, 130, 165 Markuspriorität 1, 44 Medien 12 Menschensohn 37, 49, 81, 89, 123, 124, 132, 141, 142, 144, 168 Messiasgeheimnis 36, 63, 128, 166, 175, 176, 177, 179, 180, 182, 184, 185, 186, 189, 190, 196 Monarchie 185, 195, 196 Mythologie 97, 119 Mythos 13, 19, 27, 37, 39, 40, 68, 79, 80, 91, 93, 99, 100, 101, 109–110, 118, 119, 120, 124, 125, 132, 133, 145, 184, 199 Naherwartung 200, 201 Narratologie 120 Norm 35, 48, 51, 53, 61, 74, 78, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 126, 154, 155, 156, 157, 161, 162, 163, 167, 217, 218, 219 Normenkonflikt 89 Origenes 87, 174 Ostergeschehen 207 Osterglaube 2, 13, 40, 69, 179, 185, 207, 211 Ostern 33, 51, 84, 105, 177, 179, 180, 181, 203, 205, 206, 207, 208, 217
Kausalität 78 Kerygma 13, 46, 94, 99, 145, 158, 163, 187, 191, 198, 203, 204, 205, 206, 207, 209, 211 Kerygmatheologie 128, 209, 211 Kreuzestheologie 93, 101 Kunst 115, 184
Parabeltheorie 36, 197 Parusie 199, 200, 201 Passionsgeschichte 64, 71, 198 Perikopenüberlieferung 115 Philostrat 46, 140 Plato 98 Plutarch 14 Pseudo-Longinus 108
Leidensankündigungen 34, 63, 64, 158 Liberale Theologie 2, 17, 21, 119, 192, 193, 195, 202, 203, 206, 207, 209, 210, 211
Qualität 28, 32, 57, 59, 60, 70, 86, 108, 114, 120, 128, 132, 140, 156, 157, 159, 169, 189, 219 Quellenkritik 44, 74, 75, 117
248
Register
Rationalismus 44, 112, 114, 119, 120 Raum 4, 18, 21, 37, 38, 49, 50, 55–59, 61, 63, 64, 66, 67, 68, 70–73, 86, 89, 90, 91, 96, 99, 101, 104, 105, 107, 119, 129, 130, 138, 139, 219, 220 reader-response-criticism 8 Redaktionsgeschichte 3, 7, 8, 16, 22–24, 75, 82, 94, 100, 112, 116–118, 127, 132, 139, 181, 187, 191, 193, 196, 197, 201, 213 Reich Gottes 188, 203 Religion 63, 71 Repräsentation 182, 185, 200 Satan, satanisch 32, 34, 50, 52, 60, 131, 187, 217, 218 Schweigegebot(e) 36, 63, 128, 168, 177, 189 Sequenz, mythische 79, 132, 146 Sitz im Leben 2, 82, 128, 142, 163, 164, 165, 195, 197 Sohn Gottes 33, 36, 40, 48, 49, 50, 51, 67, 69, 89, 96, 101, 105, 108, 140, 144, 166, 168, 177, 178, 179, 182, 178, 217, 220 Sokrates 100 Soteriologie 98, 109, 110, 139, 219 soteriologisch 40, 65, 67‑ 70, 86, 102, 105, 127, 132, 139, 140, 147, 189, 208, 219 Sprache 4, 11, 94, 120 status exaltationis 186, 189 status exinanitionis 181, 186 Streitgespräch 78, 81, 122, 123, 141, 142, 155 Symbol 22, 57 symbolisch 59, 120, 130, 198
Synagoge 18, 23, 60, 83, 89, 135 Synchronie 4, 5 Szene – ideale 116, 164 Tempel 23, 40, 53, 56, 65, 68, 103, 104, 106, 107, 216 Traditionsgeschichte, traditionsgeschichtlich 23, 155, 196, 214 Überlieferung – mündliche 2, 7, 26, 45, 48, 74, 77, 141, 152, 213, 214 Überlieferungsgeschichte 116, 123 Unverständnis 13, 36, 157, 168, 177, 188 Urgemeinde 3, 48, 57, 75, 185, 197, 200, 203 Urliteratur 45 Verschachtelung 66 Vollmacht / ἐξουσία 65, 81, 123, 124, 126, 134, 142, 144, 147, 148, 149, 155, 157 Werk 1, 3, 4, 5, 7, 8, 11, 15, 18, 22, 24, 25, 26, 28, 29, 30, 32, 39, 42, 45, 48, 53, 68, 74, 76, 77, 79, 94, 100, 108, 121, 126, 138, 145, 147, 166, 200, 201, 215, 216 Wortüberlieferung 17, 76, 101, 123 Wunder 38, 81, 106, 112, 113, 117, 118, 119, 120, 126, 131, 133, 144, 145, 149, 151, 152, 156, 157, 161 Zweiquellentheorie 1, 194 zyklisch 41, 52
Autorinnen und Autoren Ágel. V. 4 Aguilar Chui, J. E. 32, 33, 50, 168, 217 Alkier, S. 113, 144 Arnold, G. 30, 32 Assmann, A. 30, 32 Auffarth, Ch. 64 Backhaus, K. 55 Baltzer, K. 46, 214 Banschbach Eggen, R. 180 Barthes, R. 3 Baumgärtner, I. 56, 105 Bauspieß, M. 12 Beck, J. U. 12, 32, 37, 53, 66, 67 Becker, E.-M. 14, 15, 16, 22, 24, 25, 27, 28, 32, 47, 90, 202, 215 Becker, J. 119 Becker, M. 90 Becker, W. 78 Behrends, O. 71, 72 Bendemann, R. von 84, 119, 131, 172, 173, 174 Berger, K. 132, 133, 163, 215 Blumenthal, Ch. 29 Böcher, O. 139 Bolt, P. G. 139 Borchmeyer, D. 182, 183, 184 Bösen, W. 56 Bosenius, B. 24, 26, 31, 33, 34, 38 Breytenbach, C. 33, 62 Broer, I. 216 Brook-Rose, C. 176 Buch-Hansen, C. 32 Budesheim, Th.L. 123, 142 Bultmann, R. 2, 13, 14, 17, 75, 76, 78, 79, 82, 85, 93, 94, 95, 100, 113, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 124, 126, 127, 128, 137, 139, 142, 144, 151, 152, 162, 164, 165, 170, 177, 191, 192, 193,
201, 202, 203, 204, 205, 207, 209, 211, 214 Burian, J. 71 Busse, U. 152 Cassirer, E. 59, 72, 100, 120, 130 Cebulj, Ch. 61, 64 Cohn-Sherbok, D. M. 87 Collins, A. Y. 141 Conzelmann, H. 94, 95, 96, 155 Delling, G. 27 Dibelius, M. 2, 23, 78, 99, 113, 115, 117, 137, 142, 158, 171, 189 Dihle, A. 27 Dormeyer, D. 10, 26, 46, 77, 97, 136, 137, 214, 215 Doughty, J. 141 Drewermann, E. 120 Dschulnigg, P. 137 du Toit, D. 26 Ebeling, G. 43, 95, 97, 98 Ebner, M. 14, 15, 16, 18, 21, 22, 23, 46, 67, 117, 122, 126, 214, 215, 216, 219 Eckey, W. 28, 31, 46, 81, 85, 102, 122, 127, 139, 215 Eco, U. 176 Eisen, U. E. 129 Elliott, J. K. 27 Englisch, B. 57 Ernst, J. 29, 37, 59, 152, 157, 158, 161, 170, 211 Esser, D. 46 Fabricius, E. 72 Fantuzzi, F. 27, 48 Feldmeier, R. 41 Fendler, F. 214
250
Register
Flavius Josephus 62 Fludernik, M. 76, 121 Fowler, R. M. 8 Frenschkowski, M. 127 Frey, J. 12, 113, 128 Freyne, S. 62 Frickenschmidt, D. 46, 214 Fuhrmann, M. 109 Gerber, J. 27, 48 Gerhardsson, B. 14 Gnilka, J. 82, 88, 123, 124, 127, 139, 142, 155 Goertz, H.-J. 11 Greeven, H. 105 Grønbech, V. 27, 77 Grundmann, W. 153, 157 Gruson, P. H. 60 Gunkel, H. 115, 195, 196 Güthling, O. 157 Guttenberger, G. 63 Güttgemanns, E. 78, 111 Haase, M. 71 Haenchen, E. 154 Hahn, F. 7, 24, 96, 111 Hammann, K. 120, 196 Hardtwig, W. 182 Harnack, A. von 43, 193, 202, 203, 204, 205, 206 Harvey, P. D. A. 56 Heil, Ch.P. 15 Heimberg, U. 71 Heine, H. 182, 183 Heininger, B. 117, 122, 126 Heintel, H. 173 Hengel, M. 171, 216 Herrmann, M.-L. 32 Herzer, J. 119 Higgins, A. J. B. 123, 142 Hippocrates 173 Hirsch, E. 152 Hommel, P. 27 Hooker, M. D. 33 Horstmann, M. 40 Hübenthal, S. 24 Hübner, K. 27, 47, 59, 63, 71, 72, 77, 78, 100, 120, 199, 215
Huck, A. 105 Hultgren, A. J. 123, 141 Hunter, R. 27, 48 Jackson, H. M. 33 Jahnow, H. 139 Jannidis, F. 3, 4 Jeremias, J. 14, 152, 197 Joest, W. 181 Johnson, S. E. 142 Jülicher, A. 39, 180 Kahl, W. 117, 127, 128, 133, 142, 170 Kampling, R. 68 Karrer, M. 33, 105 Käsemann, E. 14, 211 Kee, H. C. 141 Kelber, W. H. 7, 37, 57, 111 Kenney, G. C. 32 Kertelge, K. 128, 142 Kingsbury, J. D. 4 Klauck, H.-J. 141 Klein, A. 34, 124 Klein, Ch. 9, 10 Klein, G. 34, 51, 113, 118, 119, 143, 188, 217 Kline, M. G. 46 Klostermann, E. 157 Klumbies , P.-G. 4, 5, 8, 9, 11, 14, 18, 25, 26, 27, 31, 33, 34, 36, 37, 38, 40, 47, 49, 51, 53, 56, 61, 62, 63, 65, 67, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 82, 86, 90, 91, 100, 105, 107, 108, 109, 111, 120, 124, 127, 130, 133, 140, 141, 142, 166, 176, 187, 188, 189, 190, 197, 199, 201, 207, 210, 216, 218, 219, 220 Knoppe, Th. 59 Koch, D.-A. 61, 82, 83, 91, 118, 123, 128, 144, 155, 198 Kollmann, B. 22, 112, 132, 172, 215 Körtner, U. H. J. 131, 216 Kuhn, H. W. 123 Kuhnen. H. P. 72 Kümmel, W. G. 44 Lachmann, C. 44, 194 Lahn, S. 76, 138 Landmesser, Ch. 34, 120, 124
Autorinnen und Autoren
Lang, F. G. 64 Lecoq, D. 56 Leisten, T. 72 Leonhardt, R. 181 Lessing, G. E. 113, 186 Leutzsch, M. 58, 172 Liddell, H. G. 157 Lindemann, A. 25, 26, 79, 82, 83, 87, 88, 90, 91, 94, 95, 133, 170, 173 Lohmeyer, E. 37, 57, 58, 64, 69, 70, 198 Lohse, E. 152, 161 Lotman, J. 129, 130 Luz, U. 145 Lüdemann, G. 182 Lührmann, D. 29, 87, 89, 139, 155, 163, 214 Mack, B. L. 215 Maisch, I. 123 Malbon, E. S. 4, 8, 37, 38, 58, 69, 140, 215 Marcus, J. 202 Martínez, M. 9, 10, 11 Marxsen, W. 37, 57, 82, 83, 91, 100, 116, 117, 163, 191, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212 Meiser, M. 141 Meister, J.Ch. 76, 138 Mell, U. 84 Menge, H. 157 Merk, O. 43, 182 Merz, A. 18, 63, 218 Meyer, R. 159 Meyers, E.-M. 56, 62 Michie, D. 4, 8 Minette de Tillesse, G. 142 Motyer, S. 33 Müller, K. W. 94 Müller, M. 22, 25, 32, 202 Müller, P. 219 Müllner, I. 121 Neirynck, F. 87 Nestle, W. A. 100, 120 Neumann, N. 58, 117 Nünning, V. 9 Ó Floinn, G. 189 Omerzu, H. 25, 202
251
Origenes 174 Ostmeyer, K. H. 58 Pellegrini, S. 107 Pesch, R. 28, 29, 61, 86, 118, 141, 142, 143, 166, 187 Petersen, N. R. 24, 27 Rader, O. B. 56 Räisänen, H. 177 Reinmuth, E. 25 Rhoads, D. 4, 8 Ricœur, P. 9, 122, 146 Riesner, R. 14 Robbins, V. K. 214 Röder, J. 8, 9 Roloff, J. 158, 161, 197 Rose, Ch. 96 Roth, J. 195 Roth, M. 172 Scheffel, M. 11, 76, 121, 122, 129 Schelbert, G. 111 Schenke, L. 128, 219 Schille, G. 142 Schleiermacher, F. D. E. 43 Schmeller, Th. 14, 15, 26, 62, 63, 70, 71 Schmidt, E. D. 8, 9, 12 Schmidt, J. 172 Schmidt, K. L. 2, 115, 116 Schmidt, K. M. 25, 40, 56 Schmithals, W. 76, 82, 95, 115, 153, 157, 162 Schneider, G. 152 Schnelle, U. 33, 46, 96, 97, 214, 216 Scholtissek, K. 64, 66, 141 Schreiber, S. 46, 215, 217 Schröder, M. 182 Schröter, J. 9, 12, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 44, 46, 87, 132, 210 Schubert, Ch. 71, 72, 73 Schulten, A. 72 Schulzki, H.-J. 49, 72 Schürmann, H. 152 Schweitzer, A. 2, 13, 44, 177, 194 Schweizer, E. 54, 157 Schwöbel, Ch. 98 Scott, R. 157
252 Sellin, G. 198 Sick, F. 105 Skoven, A. V. 24 Söding, Th. 36, 87, 119, 132 Sonnabend, H. 14 Strange, J. F. 56 Strauß, D. F. 13, 112, 177 Taeger, J.-W. 152 Talbert, R. 56 Taylor, V. 141 Telesko, W. 182, 183, 186 Theißen, G. (ebenso Schreibweise Theissen) 16, 18, 21, 22, 23, 26, 72, 80, 81, 113, 170, 215, 218 Theophilos, M. P. 23, 202 Tilly, M. 56 Tolbert, M. A. 4, 8 Tsalampouni, E. G. 171 Ulansey, D. 33 van Eck, E. 37, 57, 59 van Iersel, B. 58, 92 Van Oyen, G. 128 Venetz, H.-J. 219 Vogt, J. 76, 121, 174 Vouga, F. 82, 83, 87, 88, 157, 164 Waldner, K. 27 Weber, Th.M. 61
Register
Weder, H. 30, 39 Weeden, Th.J. 118, 123, 128, 143, 166, 187 Weimer, W. 77 Weinrich, H. 78 Weiß, J. 116, 196 Weiss, W. 85, 142 Weisse, Ch.W. 194 Weissenrieder, A. 133 Wendling, E. 127 Wengst, K. 13, 19, 20, 21 Wenning, R. 61 Werner, M. 202 Wichelhaus, M. 40 Wiggermann, F. 127 Winn, A. 177 Wohlers, M. 173, 174 Wong, E. K. C. 26 Wrede, W. 13, 36, 116, 166, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 218 Würzbach, N. 56 Wypadlo, A. 40, 220 Zager, W. 13, 177, 182 Zimmermann, R. 10, 34, 35, 36, 77, 79, 81, 82, 90, 91, 92, 113, 118, 124, 125, 126, 127, 131, 137, 138, 218 Zipfel, F. 9, 10, 12 Zweig, S. 195 Zwick, R. 75, 78