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German Pages 697 [700] Year 2011
De Gruyter Lexikon Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen
Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen Linguistische Typologien der Kommunikation
Herausgegeben von Stephan Habscheid
De Gruyter
ISBN 978-3-11-018902-5 e-ISBN 978-3-11-022930-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Habscheid, Stephan. Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen : linguistische Typologien der Kommunikation / edited by Stephan Habscheid. p. cm. ⫺ (De Gruyter Lexikon) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-018902-5 (alk. paper) 1. Written communication. 2. Structural linguistics. I. Title. P211.H24 2011 410⫺dc22 2011015389
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung Das halbe Leben. Ordnungsprinzipien einer Linguistik der Kommunikation – Zur Einleitung in den Band ................................ 3 Stephan Habscheid I.
Kommunikationstypologie zwischen Sprach-, Gesellschafts- und Kulturtheorie
Textartenklassifikationen. Ein Problemaufriss..................................... 33 Konrad Ehlich Zur Bedeutung der Sprachspielkonzeption für eine kommunikationsorientierte Linguistik .................................... 47 Jan Georg Schneider Texttypen, Kapitalien, soziale Felder ................................................... 70 Tom Karasek Discourse Communities and Communicative Genres .......................... 98 Noelle Aplevich Kulturspezifik, Inter- und Transkulturalität von Textsorten............... 123 Jin Zhao Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien ...................... 144 Werner Holly Die Typologisierung multimodaler Kommunikationsangebote – Am Beispiel der visuellen Aspekte seitenbasierter Dokumente......... 164 Martin Steinseifer Fachtextsorten und Wissenstransfer ................................................... 190 Jan Engberg Organisationale Kommunikationstypen ............................................. 206 Christine Domke Der Erwerb kommunikativer Praktiken und Formen – Am Beispiel des Erzählens und Erklärens.......................................... 231 Friederike Kern
VI II.
Inhalt
Basiskonzepte, Theorien, Methoden
Textlinguistische Typologisierungsansätze........................................ 257 Margot Heinemann Kommunikative Gattungen, mediale Gattungen ................................ 275 Ruth Ayaß Konstruktionen in der gesprochenen Sprache .................................... 296 Susanne Günthner Genre .................................................................................................. 314 Peter Muntigl Sprachliche Oberflächen: Musterhinweise......................................... 337 Wolfgang Kesselheim Textsortennetze .................................................................................. 367 Kirsten Adamzik III. Kommunikationstypologien exemplarischer Handlungsbereiche Besondere Formen des Erzählens in Interaktionen: Vom Klatsch über den Bericht bis zum Witz und spaßigen Phantasien .................................................................... 389 Helga Kotthoff Kommunikationstypologien des Handlungsbereiches Medizin ......... 414 Florian Menz und Marlene Sator Kommunikationstypologien des Handlungsbereiches Politik............ 437 Martin Reisigl Sprachliche Handlungsmuster und soziale Ordnungsstrukturen in der Gerichtskommunikation........................................................... 473 Karin Luttermann Kommunikationstypologien des Handlungsbereichs Wirtschaft ....... 491 Martin Nielsen Kunstkommunikation ......................................................................... 509 Heiko Hausendorf Texte im Handlungsbereich der Religion........................................... 536 Alexander Lasch
VII
Inhalt
IV. Ausgewählte Anwendungsaspekte Wissenschaftliches Schreiben............................................................. 559 Helmut Gruber „das, was wir in der Tagesschau den Rausschmeißer nennen“: Altro- und Ethno-Kategorisierung von Textsorten im Handlungsfeld journalistischer Fernsehnachrichten........................... 577 Martin Luginbühl und Daniel Perrin Kreatives Schreiben und (literarische) Gattungen.............................. 597 Thomas Möbius Kommunikationstypologien in Beratung und Training ...................... 621 Martin Hartung Textoptimierung ................................................................................. 638 Gerd Antos, Ursula Hasler und Daniel Perrin Texttechnologie und technisches Schreiben....................................... 659 Vasco Alexander Schmidt V.
Index ..........................................................................................683
Einleitung
Das halbe Leben. Ordnungsprinzipien einer Linguistik der Kommunikation – Zur Einleitung in den Band Stephan Habscheid (Siegen) 1. 2. 3. 4.
Anlass und Aufgabe Kontroversen und Traditionen Zum Aufbau des Bandes Literaturverzeichnis
Überhaupt ist das Erstellen von sachangemessenen Typologien im Allgemeinen das Ergebnis, nicht jedoch die Anfangsphase einer analytischen Praxis. Ehlich (1986:59) Wenn man diese empirische Rekonstruktionsarbeit ernst nimmt, dann hat man in der linguistischen Beschäftigung mit Textsorten bisher häufig den zweiten Schritt vor dem ersten getan. Gülich (1986:19)
1. Anlass und Aufgabe „Kommunikationstypologie: Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen“: Unter diesem Titel stand vor rund einem Vierteljahrhundert eine Jahrestagung am Mannheimer Institut für deutsche Sprache (vgl. Kallmeyer 1986). Bereits die Begrifflichkeit erscheint heute als „Indikator und Faktor“ (Koselleck 2006) einer wissenschaftshistorischen Entwicklungslinie, die charakterisiert ist durch den Versuch einer Verflechtung (und nicht bloß Anreicherung) sprachwissenschaftlicher Theoriebestände mit Konzepten der verstehenden Sozialforschung und sprachpsychologischen Kommunikationstheorie. Der Ansatz zielte darauf, den Grenzverschiebungen linguistischer Erkenntnisinteressen und Gegenstände, die sich unter der Perspektive der „Pragmatik“ zu etablieren begonnen hatten, interdisziplinär beizukommen, auch „grundlegende Defizite“ der damals vorherrschenden Text(sorten)forschung „sowohl in methodologischer als auch in empirischer Hinsicht“ (Gülich 1986:16) zu überwinden. Wenn daher heute aus Anlass einer Handbuchreihe erneut nach dem Stand der Kunst gefragt wird, trägt dies der etablierten Norm wissenschaftlicher Selbstverständigung Rechnung, wonach „die wichtigsten Forschungsfragen einer Disziplin – und die Kommunikationstypologie gehört für die Linguistik mit Sicherheit dazu – in regelmäßigen
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Abständen aufgerufen werden sollten“ (Kallmeyer 1986:8). Entsprechend den empirischen Interessen der hier vertretenen Forschungsrichtungen sollen die konzeptuellen und methodischen Grundlagen linguistischer Kommunikationsforschung nicht nur erörternd dargestellt, sondern nach Möglichkeit auch exemplarisch veranschaulicht, vorgeführt und anhand von Daten erprobt werden. Nun waren (und sind) die Traditionen des sprachwissenschaftlichen Diskurses derartigen Konzeptionen insgesamt nicht nur förderlich (vgl. Ehlich 1986:49), was dazu geführt haben mag, dass auf dem Feld einer auch sprachtheoretisch fundierten Kommunikationstypologie immer noch Wesentliches zu tun bleibt und dass nach wie vor mancher methodologische Holzweg beschritten wird (vgl. Ehlich, in diesem Band). Dies und der Umstand, dass weite Teile der Sprachwissenschaft sich von Problemen der Kommunikationstypologie nicht eben betroffen sehen (vgl. u. Abschnitt 3), mag auch dazu beitragen, dass die Sprach- als Kommunikationswissenschaft, trotz ihres vielfach nachgewiesenen genuinen Erkenntnispotenzials, im öffentlichen Diskurs zu diesem Schlüsselthema der Gegenwart noch immer vergleichsweise wenig präsent ist (vgl. Schneider, in diesem Band). Dabei waren bereits seit den Anfängen der Textlinguistik in den 1960er Jahren Probleme der Texttypologie als wesentliches Element dieser Teildisziplin, wenn nicht der Sprachwissenschaft überhaupt, erachtet worden (vgl. Hartmann 1964, 1968; dazu Adamzik 2004: Kap. 1.1., 2008:148). Früh wurden Konzepte der Linguistischen Pragmatik integriert, zunächst im Sinne einer additiven Konzeption von Sprache „im Gebrauch“, so dass zur Typologisierung textueller Zeichen unter anderem ‚textexterne‘ Kriterien (Textfunktion, „Handlungsbereich“, Rollenkonstellation etc.) herangezogen wurden. Dagegen verwies das Thema der IDS-Tagung 1985 insofern auf ein grundlegend verändertes Verständnis linguistischer Gegenstände, als hier nicht primär Textklassen, sondern komplexe „kommunikative Handlungsspiele“ (Schmidt 1973:234) oder „activity types“ (Levinson 1979), also über das Sprachliche hinaus reichende Sinn-Einheiten des Handelns und der Interaktion ins Blickfeld genommen werden sollten (vgl. Gülich 1986; Ehlich 1986). Zwar standen im Sinne linguistischer Erkenntnisinteressen die sprachlichen Elemente derartiger Prozesse nach wie vor im Mittelpunkt, Text und Kontext wurden aber als systematisch miteinander vermittelt gedacht, und zwar bereits auf der Ebene der Kompetenz, die in dieser Perspektive wesentlich eine ‚Kontextualisierungskompetenz‘ einschließt (vgl. Nothdurft 1986; Feilke 2000 und weiter unten in diesem Abschnitt). Die Frage, wozu linguistische Text- und Handlungstypologien dienen und wie sie beschaffen sein sollen, steht bis heute auf der Agenda
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des Faches (vgl. z. B. Adamzik 2008; Hausendorf & Kesselheim 2008:171–185). Neue Forschungsrichtungen und Gegenstandsbereiche sind hinzu gekommen, etwa das verstärkte Interesse an der individuellen und sozial ‚verteilten‘ Verarbeitung von Textsortenwissen in Produktions- und Rezeptionsprozessen (vgl. die Beiträge in Kapitel IV dieses Bandes), an kognitiven und sozial-kommunikativen Aspekten des Erwerbs sprachlicher Praktiken (vgl. Kern, in diesem Band), an ihrer Kulturspezifik und Historizität (vgl. Zhao, in diesem Band), an der Vernetzung von Textsorten in institutionellen Handlungszusammenhängen und öffentlichen Verständigungsprozessen (vgl. Adamzik, in diesem Band), an ihrer Mitbedingtheit durch je spezifische mediale, materiale und situative Voraussetzungen (vgl. Holly, in diesem Band), weit über die recht grobe Unterscheidung von „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ hinaus, oder an ideologischen Faktoren der temporären Stabilisierung, Dynamisierung und Hybridisierung kommunikativer Genres und ihres „Marktwertes“ als einer wesentlichen Dimension soziokultureller Diskurse (vgl. z. B. Gruber et al. 2006; Karasek und Muntigl, in diesem Band). Nach wie vor stellen die Textsorten-, Gattungs- und Genreforschung (vgl. zu Terminologie und Theorietraditionen die Beiträge in Kapitel II dieses Bandes) also zweifellos höchst „lebendige“ Arbeitsgebiete der Sprachwissenschaft dar. Dafür können gute Gründe innerhalb und außerhalb der Disziplin geltend gemacht werden, die ein Handbuch zu diesem Gegenstandsbereich zusätzlich relevant erscheinen lassen: 1. Erkenntnisse zur Typologie kommunikativer Sinneinheiten und der mit ihnen verknüpften Kontextualisierungshinweise sind von zentraler Bedeutung, wenn es – etwa im Rahmen der interpretativen Soziolinguistik und empirischen Kulturwissenschaft – darum geht, den Zusammenhang von sprachlichem Handeln und gesellschaftlich-kultureller Ordnung zu rekonstruieren. Mitglieder einer Gesellschaft, so die zugrunde liegende Annahme (in Begriffen der Wissenssoziologie), erwerben je individuell ein kollektiv geteiltes Wissen über typisierte Handlungs- und Sinnzusammenhänge1 und über die sprachlich-phäno————— 1
Goffman (1977) spricht von ‚Rahmen‘. Freilich erfahren auch elementarere Elemente von Kommunikationsereignissen (Prozeduren, Sprechakte, Sequenzen etc.) eine Typisierung. Gleichwohl wird der Gegenstandsbereich der Kommunikationstypologie üblicherweise auf komplexere, in lebensweltlichen Erfahrungen verankerte Routinen und Sinnzusammenhänge, handlungsschematische Ordnungen von Texten und Gesprächen eingegrenzt (vgl. Soeffner 1986:87; Kallmeyer 1986:7). Dabei spielen die „Auswahl und Verwendungsweise […] elementarer Formen […] für die Typik von Kommunikationsereignissen eine große Rolle, und dementsprechend impliziert die typologische Beschreibung komplexer Ereignisse die Kenntnis der elementaren Formen“ (Kallmeyer 1986:7).
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menalen Mittel und Formen, mit denen man in der Kommunikationssituation auf deren je aktuelle Relevanz verweisen kann: Wer über dieses implizite Wissen und über Mittel verfügt, mit deren Hilfe man sich als Kenner alltäglicher und kollektiver Handlungs- und Situationstypen zu erkennen geben kann, verfügt zugleich sowohl über ein Typenrepertoire als auch über Darstellungsmittel, in denen Hinweise auf eine spezifische Verwendung und Deutung von Typen in der Interaktion gegeben werden. (Soeffner 1986:76)
So kann der Interpret auf der Basis seines in der Sozialisation erworbenen kommunikationstypologischen Wissens „sprachliche Erscheinungsformen als typische Lösungen wiederkehrender kommunikativer Problem- und Aufgabenstellungen“ wiedererkennen und deuten: „Sie signalisieren das Muster, zu dem die fraglichen sprachlichen Erscheinungsformen gehören“ (Hausendorf & Kesselheim 2008:29; vgl. auch Luckmann 1986). Ehlich & Rehbein (1986) sprechen von Mustern als überindividuellen Instanzen, die zwischen wiederkehrenden Bedürfnissen und ihrer Befriedigung durch Handlungen vermitteln und im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen vorstrukturiert und organisiert sind.2 Im Unterschied zu einer unspezifischen Verwendung der Bezeichnung Muster, wie sie in weiten Teilen der kommunikationstypologischen Forschung zu beobachten ist, wird Wert darauf gelegt, dass von Mustern nur in Bezug auf „Tiefenkategorien“ die Rede ist, die sich zwar in konkreten sprachlichen Oberflächen manifestieren, nicht aber unmittelbar, ausschließlich und umfassend an diesen abgelesen werden können (vgl. Ehlich 1996:188). Zudem werden in einer konkreten Kommunikationssituation die sozial geteilten – und damit epistemisch objektivierten – Handlungsund Sinnhorizonte oftmals nicht einfach reproduziert, sondern, je nach Handlungs- und Aushandlungsspielraum, auf der Basis komplexer Anzeigehandlungen und Deutungshinweise zu neuen kohärenten Einheiten verbunden (vgl. Soeffner 1986:76f.). Diese bilden den Kontext, der – in Verbindung mit der Wahrnehmung nicht-sprachlicher Aspekte der Situation – den Verstehenshintergrund für sprachlich-mediale Äußerungen darstellt:
————— 2
Dementsprechend nennt Kallmeyer (1986:10) als einen Aspekt des Gegenstandsbereichs der Kommunikationstypologie „das Verhältnis zwischen dem Typenbestand und der Ausdifferenzierung von Institutionen und gesellschaftlichen Funktionsbereichen mit der in ihnen vorgenommenen Spezialisierung bei der Bearbeitung von Belangen des sozialen Lebens“. Auf das Verhältnis von ‚Institution‘ und ‚Organisation‘ kommen wir in Abschnitt 2 zurück.
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Ein lesbares Etwas ist für die Signalisierung seiner Textualität nicht nur auf Sprachlichkeit [im Sinne von Lexik und Grammatik, SH] angewiesen, sondern kann in gleichem Maße auf Wahrnehmbarkeit und Vertrautheit zurückgreifen: Die Situation, in der ein Text gelesen wird, und der Kontext, in dem die Lektüre steht, stehen für den Leser wahrnehmungs- und wissensabhängig zur Verfügung. (Hausendorf & Kesselheim 2008:31ff.)
Vor diesem Hintergrund erscheinen Texte einerseits als Teil eines weitaus „umfassenderen gesellschaftlichen Handlungs-, Deutungs-, Gegenstands-, Werte-, Formierungs- und Sinnsystems“ (Soeffner 1986:73; vgl. auch Heinemann & Viehweger 1991:22). Anhand von textuell protokollierten Handlungsprozessen (z. B. Transkripten verbaler Interaktion) oder von Textprodukten als Repräsentanten ‚gefrorener Handlungen‘ lassen sich so vom Text her Schlüsse auf einen auch außertextlichen Handlungsraum und allgemeineren Handlungssinn ziehen. Andererseits können Handlung, Kontext und Situation gar nicht unabhängig von Sprache und Kommunikation erfasst werden, vielmehr sind sie als symbolische Vollzugswirklichkeit zu denken und zu rekonstruieren (vgl. Feilke 2000:78). So weist Werner Kallmeyer (1986:7f.) in seiner Begründung des Themas der eingangs erwähnten IDS-Tagung darauf hin, dass „die Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens […] wesentlich eine Kommunikationsordnung“ darstellt. Dies wird uns etwa in interkulturellen Konstellationen bewusst, wenn wir „mit ‚fremdem‘ und dadurch möglicherweise schärferem Blick auf das sehen, was für andere Selbstverständlichkeit, für den fremden Betrachter aber neu ist“ (Fix, Habscheid & Klein 2001:8; vgl. zur Kontrastiven Textsortenforschung den Überblick von Zhao, in diesem Band). Nicht nur kulturelle Großräume sind in dieser Hinsicht kommunikativ verfasst, sondern auch die verschiedenen Funktionssysteme und Fachgebiete moderner Gesellschaften (vgl. Engberg, in diesem Band, und die Beiträge in Kapitel III). Es liegt auf der Hand, dass durch die sprachlich-symbolische „Bindung von Handlungszusammenhängen“ (vgl. Mass & Wunderlich 1972), die ihrerseits an soziale Kollektive gebunden sind, Fragen der Kommunikationstypologie eng mit solchen der Identität verknüpft sind (vgl. z. B. zu Discourse communities bzw. Communities of practice Aplevich, in diesem Band). Die vorgetragenen Überlegungen in wissenssoziologischer Tradition berühren sich mit sprachtheoretischen Positionen, wie sie im Kontext des Linguistic turn in der analytischen Philosophie entwickelt wurden (vgl. z. B. zur Sprachspielkonzeption Wittgensteins Schneider, in diesem Band), und führen vor diesem Hintergrund ins Zentrum aktueller kulturwissenschaftlicher Debatten. Die sprachphilosophischen Theorien stehen nämlich ihrerseits in einem Verhältnis der „Familienähnlichkeit“
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zur allgemeinen Medientheorie (so Krämer 2008):3 In beiden Fällen, der pragmatischen Sprach- wie der allgemeinen Medientheorie, geht es um eine Reflexionsfigur, die darauf zielt, Phänomene des Transitorischen und Sekundären gerade in ihrer Opazität und Eigengesetzlichkeit zu rekonstruieren, also zu zeigen, dass etwas, was als abgeleitet und nachrangig galt, sich realiter als eine strukturprägende und ordnungsstiftende Kraft erweist. […] Die Instanz, der man eine solche Schaffenskraft zuschreibt, wird zum archimedischen Punkt unseres Weltverständnisses geadelt und damit ebenso fundamental gedacht wie unhintergehbar gemacht (Krämer 2008:23).
Dabei findet, im Rahmen einer ‚kulturorientierten Medienkonzeption‘ (vgl. z. B. Posner 1985, 1986), der Medienbegriff auch auf Textsorten und kommunikative Gattungen Anwendung. – Nebenbei bemerkt: Die jeweils postulierte „Unhintergehbarkeit“ von sprachlichen bzw. anderen Medien wird in jüngerer Zeit, auch im Rahmen der linguistischen Gesprächs- und Textforschung, durch das Interesse an Sprache in intermedialen Konstellationen (Sprache und Stimme bzw. Schrift, Sprache und Bild, primäre und sekundäre ‚Audiovisualität‘) wechselseitig relativiert (vgl. dazu Krämer 2008:24) – eine Entwicklung, die auch die Kommunikationstypologie herausfordert (vgl. unten zu 3.). 2. Im Zuge der so genannten „kognitiven Wende“ kommt verstärkt der Aspekt ins Blickfeld, dass Texte in Prozessen der Formulierung (z. B. Antos 2000) bzw. des Verstehens (z. B. Scherner 1984) durch individuelle Sprecher und Schreiber, Hörer und Leser konstituiert werden. Freilich waren schon viel früher Ansätze entwickelt worden, die einschlägige mentale Tätigkeiten (Definition von Zielen, Interpretation von Situationen, Entwicklung von Plänen, Bewertung von Zwischenprodukten etc.) in die textlinguistische Gegenstandskonstitution einbezogen (vgl. z. B. Rehbein 1977). Vor dem Hintergrund praktischer Aufgaben, von der Didaktik des Sprachunterrichts und der Sprachförderung über das akademische, journalistische und technische Schreiben bis zum Textdesign für neue Medien (vgl. Kapitel IV), hat dieses Forschungsfeld in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse auf sich gezogen. In derartigen Perspektiven stellt Textsortenwissen „eine Reihe von Heuristika für die Produktion, Vorhersage und Verarbeitung von textuellen Erscheinungen“ bereit, dient als „Entscheidungsinstanz für Effizienz, Effektivität und Angemessenheit“ (de Beaugrande & Dressler 1981:189). Neben der Frage nach der Strukturiertheit dieses Wissens und seiner Verarbeitung in Artikulations- bzw. Wahrnehmungs- und Verstehensprozessen richtet sich das Forschungsinteresse daher auch ————— 3
Auch wenn dort das Medium ‚Sprache‘ bisher wenig Aufmerksamkeit fand, so wie umgekehrt die Sprachtheorie in ihrem Mainstream den medialen Charakter sprachlicher Zeichen übersah und übersieht (vgl. Jäger 1997).
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auf die Frage, wie Textsortenwissen erworben, in Schreibprozessen genutzt, in Kooperationszusammenhängen externalisiert und durch Lernen verändert wird (vgl. z. B. Jakobs 1997; Gruber et al. 2006). Jeder Versuch, das Wissen zu modellieren, das menschliche Individuen von komplexen typisierten Handlungszusammenhängen haben und nutzen (vgl. z. B. Schank & Abelson 1977; Herrmann 1982), hat freilich in Rechnung zu stellen, dass kommunikatives Handeln nicht mit Konzepten über kommunikative Handlungen zur Deckung kommt (Nothdurft 1986) und dass Reden nicht einfach die „Aufführung einer Grammatik“ darstellt (Knobloch 1984:138). Vielmehr geht es in der Kommunikationspraxis stets darum, unter Berücksichtigung der jeweiligen ‚Verständigungsfähigkeit‘ des Kommunikationspartners Handlungs- und Situationstypen dadurch in Erinnerung zu bringen, dass sie für Prozesse des Verstehens erkennbar in die sprachliche Rede eingebaut werden; insofern kann sprachliche Kommunikation – wie bereits dargelegt – als ‚sprachliches Operieren mit Typisierungen von Welt‘ gedacht werden (vgl. Nothdurft 1986; unter Bezug auf Wegener 1885). In dieser Perspektive geht es bei der Beschreibung von Prozessen der Sprachproduktion und des Sprachverstehens nicht nur um den isolierten, formalen Zuschnitt mentaler Repräsentationen des Menschen (z. B. eher statischen Strukturen von Schemata, Skripts etc.), sondern um das je situierte sprachlich-multimodale Handeln, um die Produktion und Verstehbarkeit intersubjektiver, weil typisierter Zeichen. Akzentuiert werden damit Merkmale einer prozessorientierten Handlungskonzeption (wie Situiertheit, Indeterminiertheit, Sequenzialität, Interaktivität, Interpretationsabhängigkeit etc.), die wesentlich den reflexiven Umgang mit typisiertem Handlungswissen betrifft. Fasst man Kommunikationstypen in diesem Sinne als Interpretationskonstrukte, die die Beteiligten über das Denken, Wollen und Handeln ihrer selbst und ihrer Kommunikationspartner auf der Ebene der Kommunikation nachvollziehbar herstellen, so hat dies methodisch den Vorzug, dass die Typen einer Beobachtung zugänglich und ohne Rekurs auf von außen herangetragene Verhältnisse interpretierbar sind. In dieser Perspektive schafft sich nämlich das Sprechen […] im Sprechen durch die Re-Organisation von Wissen und Erfahrung seine eigenen Verstehensvoraussetzungen – und nicht etwa durch eine kognitive Kopplung von Rede mit extern bestimmbaren situativen Umständen (Nothdurft 1986:106).
Mit anderen Worten: Nur insoweit die Kommunikationspartner ihre Mutmaßungen und Schlussfolgerungen dadurch „sichtbar“ und für die Kommunikation erkennbar relevant machen, dass sie einander wechselseitig darüber orientieren, werden sie auch für Analysierende empirisch rekonstruierbar.
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3. Mit dem Aspekt der semiotischen Oberflächen ist eine Strukturebene kommunikativer Gattungen angesprochen, die traditionell im Mittelpunkt genuin sprachwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen steht. Spätestens an dieser Stelle sollte evident werden, dass kommunikationstypologische Probleme nicht nur für die Wissenssoziologie, die Sprachpsychologie oder die kulturwissenschaftliche Medientheorie von Interesse sind, sondern auch für eine an sprachlich-semiotischen Strukturen und Relationen interessierte „Kernlinguistik“. Holen wir dazu etwas weiter aus: In der bisherigen Argumentation stand die Überlegung im Mittelpunkt, dass kommunikative Gattungen durch soziale Zwecke gebunden und determiniert sind (vgl. auch Bhatia 1993); damit einher gehen weitere kontextuelle Bindungen, etwa an Diskursgemeinschaften (vgl. oben), Typen von Produzenten und Rezipienten, Rollen- und Beziehungskonstellation etc. (vgl. Gruber et al. 2006). Insofern menschliches Verhalten für die Mitglieder der Species aber grundsätzlich mehrdeutig ist (Plessner 1975), bedarf es in der Kommunikation aber auch vielfältiger Orientierungen und Deutungshilfen. Akteure sind zugleich Inszenierende ihrer Handlungen, und sie bringen nolens volens vielfältige Hinweise hervor (vgl. im Einzelnen Kesselheim, in diesem Band), die eine thematische, handlungsspezifische oder typendifferenzierende Einbzw. Ausgrenzungsfunktion für die Zergliederung eines Handlungs- und auch eines Textuierungsprozesses nach unterschiedlichen Relevanzen übernehmen (Soeffner 1986:74).
Auch in der frühen Sprechakttheorie findet sich die Einsicht, dass kommunikative Handlungen im Kontext nicht nur vollzogen, sondern zugleich phänomenal in Erscheinung gebracht werden müssen, um als solche wahrgenommen und verstanden werden zu können; auch etymologisch stehen performativity (Vollzug) und performance (Aufführung) miteinander in Beziehung (vgl. Buss 2009:12f.; zu Austin 1962/1972). Mit anderen Worten: Kommunikative Handlungen müssen durch den kommunikativen Aufgaben adäquate pragmatisch-semantische Mittel und Formen, auch durch Verknüpfung von Ressourcen verschiedener Zeichensysteme, zugleich vollzogen und aufgeführt werden (vgl. auch Hausendorf, in diesem Band). Gruber et al. (2006) sprechen von einem „Realisierungsimperativ“, der die auch sinnliche Rezipierbarkeit des produzierten Textes gewährleistet. Texte weisen daher neben ihrer sozialen Zweckgebundenheit auch strukturelle Merkmale und Bedingungen auf, die den symbolischen, indexikalischen und ikonischen Mitteln und Formen geschuldet sind, die zu ihrer Realisierung genutzt werden (vgl. ebd.). Zeichen werden wahrnehmbar auf der Basis von Medien, die ihrerseits dem Zeichenhandeln je spezifische kommunika-
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tionsstrukturelle, materiale und perzeptive Bedingungen auferlegen (vgl. im Einzelnen Holly, in diesem Band). Die Struktur einer Textsorte resultiert so einerseits aus der sozialen Zweckgebundenheit, andererseits aus seiner sprachlich-medialen „Formbestimmtheit“ (Ehlich 1986), also der je spezifischen semiotischen Gebundenheit und den allgemeinen Parametern, die menschliches Zeichenhandeln steuern (Ikonizität, Indexikalität, Transparenz, das Prinzip der guten Gestalt, vgl. Dressler 2000). Gruber et al. (2006) sprechen auf dieser Ebene von ‚Textsorten‘, in Abgrenzung zu abstrakteren Typen der Kommunikation).4 Daher kann eine sorgfältige Analyse von Oberflächen, Beteiligungs- und Sequenzstrukturen der Kommunikation zu eigenständigen Erkenntnissen über die soziale Funktion einer kommunikativen Gattung verhelfen (vgl. etwa, im Blick auf Klatscherzählungen, die Studie von Bergmann 1987). Im Blick auf die Kommunikationstypologie ist dabei zu bedenken, dass die Mittel und Formen selbst typisiert und auf einer bestimmten Ebene des Wissens konventionell mit kommunikativen Zwecken verbunden sind. Die Erkenntnisinteressen kommunikationstypologischer Forschung im Rahmen der Sprachwissenschaft zielen also nicht zuletzt auch darauf, sprachliche Strukturen in natürlichen Verwendungszusammenhängen zu denken und so „die pragmatische Funktionalität der Sprache selbst“ systematisch zu erhellen (Feilke 2000:67). Damit ist die genuin linguistische Frage aufgeworfen, welcher pragmatische Mehrwert im Sinne eines kommunikativen ‚Kontextualisierungspotentials‘ ————— 4
Weitere terminologische Unterscheidungen schlägt Heinemann (2000a, 2000b) vor: ‚Textsorten‘ (zu denen jeweils ‚Textsortenvarianten‘ existieren) sollen zunächst zu ‚Textsortenklassen‘ und auf einer noch abstrakteren Ebene zu ‚Texttypen‘ zusammengefasst werden, während textsortenbezogenes Wissen unter dem Begriff ‚Textmuster‘ gefasst wird. Hier wird bereits deutlich, dass ein Handbuch wie das vorliegende, das unterschiedliche Theorietraditionen zusammenführt, unweigerlich mit dem Problem terminologischer Polysemie konfrontiert wird, das gerade in der Text(sorten)linguistik besonders ausgeprägt ist (vgl. bereits Gülich 1986). Nicht nur werden üblicherweise im Rahmen einer Textsortenkonzeption verschiedene Kategorien gebildet, z. B. Textsorte, Textsortenklasse und Kommunikationsart (Gülich & Raible 1973), Textsorte und Kommunikationsform (Ermert 1979), Textsorte und Texttyp (Zimmermann 1978), Diskurstyp, Redetyp und Texttyp (Schmidt 1973), Redekonstellationstyp und Textsorte (Steger et al. 1974), Textmuster, Handlungsmuster und Textsorte (Sandig 1983); außerdem konkurrieren zum Zweck der Klassifikation sprachlicher Äußerungen diverse elementare Termini miteinander, z. B. bereits in den 1970er Jahren Komponentensorten (Stempel 1972), Textemtypen (Zimmermann 1978), Texteigenschaften (Wienold 1972), Situationstypen und Soziolekte (Sitta 1973; Beck 1973). Umso wichtiger erscheint es im Blick auf das vorliegende Handbuch, dass in den Beiträgen Termini, die bestimmten Forschungsrichtungen oder Schulen verpflichtet sind, in ihrem theoretischen Zusammenhang erläutert und gegebenenfalls von konkurrierenden, mit der gleichen Benennung verbundenen Bedeutungen abgegrenzt werden.
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(Gumperz 1982; Auer & di Luzio 1992) welchen sprachlichen Einheiten der verschiedenen Strukturebenen zukommt (vgl. z. B., im Blick auf Kollokationen, die Untersuchungen von Feilke 1994, 1996; zu grammatischen Konstruktionen Günthner, in diesem Band). Derartige Zusammenhänge darf man sich freilich nicht zu schematisch denken: Produzenten und Rezipienten kombinieren nicht einfach fest vorgegebene FormFunktions-Strukturen, sondern stellen durch einen je situierten Gebrauch sprachlich-multimodaler Zeichen im Kontext in einer flexiblen und entwicklungsoffenen Weise verstehend kommunikativen Sinn her. 4. Schließlich können – über theoretische Gründe hinaus – für das (linguistische) Interesse an Kommunikationstypologien forschungspraktische Motive angeführt werden. So werden, oft ohne allgemeine texttheoretische Ambitionen, in allen Textwissenschaften Gruppen gebildet, die Texte mit je relevanten gemeinsamen Merkmalen bündeln (z. B. Sprache, Autorschaft, Entstehungszeit, Aufbewahrungs- oder Fundort etc.), um auf der Basis rationaler Kriterien Gegenstandsbereiche einzugrenzen oder systematisch zu erschließen, Korpora zu bilden und intern zu gliedern etc.; ähnliche Sortierpraktiken finden auch im außerwissenschaftlichen Umgang mit Texten Anwendung (vgl. Adamzik 2008:162). Auch anwendungsorientierte Bereiche der Sprachwissenschaft lassen sich oftmals von diesem Prinzip leiten, etwa wenn es darum geht, Kommunikationsprobleme der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche (Medizin, Politik, Recht etc.) nach und nach vergleichend zu bearbeiten (vgl. Ehlich 1986). Dabei kann die phänographische Strukturierung eines Gegenstandsbereich vor allem dort, wo sie auf der Basis detaillierter und präziser Beschreibungen eine ‚innere‘ Ordnung nachvollzieht, im Blick auf den Erkenntniszuwachs durchaus äußerst fruchtbar sein, wie Ehlich (1986) am Beispiel der evolutionstheoretischen Dynamisierung der biologischen Systematik durch Aufdeckung einer Diachronie der Daten bei Darwin vor Augen führt. 2. Kontroversen und Traditionen Darüber, wie ertragreiche Typologien der Kommunikation auszusehen haben, besteht in der Sprachwissenschaft ein erheblicher Dissens. Kommunikationstypologische Fragestellungen reizen, aufgrund ihrer grundlegenden Bedeutung und ihrer Stellung im Schnittpunkt verschiedener Disziplinen, in besonderer Weise zu einer Standortbestimmung (vgl. Kallmeyer 1986:12). Der Dissens betrifft zunächst nichts weniger als die elementare methodologische Frage, wozu Typologien dienen und wie sie beschaffen sein sollen.
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Im Gegensatz zu den „an authentischen Texten interessierten Textwissenschaften“ (Adamzik 2008:162), die aus textlinguistischer Sicht oft mit einer „ganz und gar unspezifischen Auffassung des Begriffs ‚Textsorte‘“ operieren (ebd.:146), stand (und steht nach wie vor?) im Mittelpunkt linguistischer Typologisierungsansätze über weite Strecken der Versuch, die Beliebigkeit und Inkonsistenz alltäglicher Sortierungen zu überwinden und einen ‚objektiven‘ Überblick „über das Universum der Texte zu gewinnen“ (ebd.:153). Wie in anderen Wissenschaften steht also auch in weiten Teilen der Kommunikationslinguistik das Bemühen um theoretische Begrenzung und definitorische Schärfung, um Systematisierung und Stabilisierung des eigenen Gegenstandsbereichs hoch im Kurs (vgl. Habscheid 2009). Die Frage, aus welchen Elementen ein Untersuchungsfeld besteht, steht am Anfang vieler Einzelstudien, und sie wird zum eigenständigen Ziel wissenschaftlicher Arbeit, wenn es darum geht, im Sinne der Grundlagenforschung Theorien und Modelle über Wesen und Typen sprachlicher Kommunikation zu entwickeln. Pointiert formuliert, sind – in Übereinstimmung mit klassischen Traditionen der Sprachphilosophie und der Sozialwissenschaften – auch viele Text- und Kommunikationslinguisten „eifrig darum bemüht, präzise, gut gewählte, ausgeklügelte Begriffe zu produzieren, um mit ihnen zu sagen, was die Akteure sagen“ (Latour 2005/2007:54), denen zur Reflexion ihrer Praxis in dieser Perspektive nur die „irreführenden“ und „inkonsistenten“ Kategorien der Alltagssprache zur Verfügung stehen. Dabei soll, so der Stand der Kunst in dieser Tradition (vgl. Adamzik 2008; Heinemann, in diesem Band), anhand der wesentlichen Merkmale von Texten bzw. sprachlichen Handlungen (vgl. z. B. Rolf 1993) ein Klassifikationssystem gebildet werden, das aufgrund der Komplexität des Gegenstandsbereichs mehrdimensional sein, also mehrere Typologien umfassen muss (Isenberg 1983:333f.). Jede dieser Typologien soll idealiter charakterisiert sein durch x x x
Exhaustivität: Alle zu typologisierenden Elemente werden erfasst; Homogenität: Die Typologie basiert einheitlich auf einem Kriterium; Monotypie: Die zu typologisierenden Elemente werden den Typen eindeutig zugewiesen; x Finitheit: Die Zahl der Texttypen ist begrenzt. Während in eher induktiven Ansätzen einer allgemeinen texttypologischen Theoriebildung Raster von Kriterien aus Merkmalen empirischer Texte gebildet werden (vgl. z. B. Sandig 1972), die – ihrer empirischen Ausgangsbasis zum Trotz – den zu typologisierenden Phänomenen gleichfalls ‚vorkonstruiert‘ sind, werden konsequent deduktiv gewonnene Klassifikationen stets erst post festum auf die Empirie angewandt
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(vgl. kritisch Ehlich 1986). Empirische Untersuchungen werden so in erster Linie als „Anwendungen“ der Theorien und Modelle konzeptualisiert, die kaum Wesentliches zur Theoriebildung beizutragen haben. Während empirische Arbeiten vielfach ihren Ausgangspunkt bei Aufgaben und Problemen kommunikativer Praxis nehmen, resultieren „objektive“ Typologien aus genuin wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, etwa aus der Notwendigkeit zu klären, ob anhand von Texten gewonnene Regeln für alle Texte oder nur für bestimmte Textsorten gültig sind oder ob sich intuitiv unterschiedene, vorfindbare Textsorten oder Gattungen auch mit Hilfe systematischer linguistischer Kriterien unterscheiden lassen (Gülich 1986:18).
Kritisch zu bedenken ist hier freilich, dass die zu untersuchenden Daten nicht einfach vorhanden sind, sondern stets erst auf der Basis von (methodisch reflektierten) Wahrnehmungen und Interpretationen des Analysierenden gebildet werden (Luckmann 1986).5 Dabei sind, wie wir gesehen haben, all die „inhaltlichen“ Bestandteile von Kommunikationsvollzügen bereits – durch die Kommunizierenden selbst – etabliert (Performativität), bevor Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran gehen, sprachliches Handeln interpretierend zu analysieren;6 dies gilt auch für zentrale Kategorien der Texttypologie wie Textfunktion, Kommunikationsbereich, Themenentfaltungsmuster (Erzählen, Argumentieren etc.), Thementyp, Textwelt, Situation etc. (Überblick: Adamzik 2008). – Kommt es also nicht in der Kommunikationstypologie in erster Linie darauf an, das (seinerseits reflexive) in alltägliche Praxisvollzüge eingelassene Handlungs- und Kontextwissen der Beteiligten selbst aufzunehmen, in eine wissenschaftliche ‚Metasprache‘ zu überführen7 und auf Basis der empirischen Rekonstruktionsarbeit verstehend zu erklären (vgl. Luckmann 1986; Ehlich 1986), und zwar im Wesentlichen in dieser Reihenfolge? In zahlreichen Beiträgen des vorliegenden ————— 5
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Daraus kann im Blick auf die methodologische Anlage von Texttypologien eine gewisse Orientierungslosigkeit resultieren: „Als Fazit aus diesen Erläuterungen zu dem, was theoretisch befriedigende Typologien von Texten […] leisten und was sie nicht leisten, ergibt sich Folgendes: Homogene Typologien siedeln sich auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau an und führen, wenn man sie als Sortierungswerkzeug benutzt, jeweils zu wenigen sehr heterogenen Klassen. Eine Kombination sämtlicher potenziell relevanter Texteigenschaften zu einer komplexen Textklassifikation ist angesichts ihrer Menge kaum denkbar und jedenfalls nicht sinnvoll“ (Adamzik 2008:167). Vor diesem Hintergrund wird dafür plädiert, Texttypologien nicht als Sortierwerkzeug zu konzipieren, sondern als eine Folie, vor deren Hintergrund Texte unter verschiedensten Aspekten beschrieben werden können. Aber welche Beschreibungen sind jeweils sinnvoll? Freilich handelt es sich bei Wahrnehmung, Beobachtung, Rekonstruktion und Erklärung keineswegs um ein triviales Geschäft, vgl. Luckmann (1986). Die freilich im Interesse der gesellschaftlichen Relevanz oder gar Anwendbarkeit an Alltagsperspektiven anschlussfähig sein sollte.
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Bandes kommt eine solche Skepsis zum Ausdruck, nicht selten auch eine programmatische Abkehr von positivistischen Positionen. Vor diesem Hintergrund kann es sich auch für die Wissenschaft als überaus hilfreich erweisen, dass die Akteure, wie oben ausgeführt, selbst über Verfahren und Mittel verfügen, die „reflexive“ Rückbezüge und -verweise auf ihr Handeln ermöglichen (Performanz). Zu denken ist hier an Mittel expliziter Performativität, aber auch an die bereits erörterten kommunikationstypologischen Kontextualisierungshinweise, die eine selbstreferentielle „Ausstellung“ sprachlicher Interaktion im Vollzug gewährleisten. Darüber hinaus geht es um Ressourcen „praktischer Sprachreflexion“ (Paul 1999), wie sie sich im Zuge von Formulierungsprozessen (vgl. z. B. Schwitalla 1997:113ff.), von Reformulierungen und anderen Formen bearbeitender Bezugnahme, von Redeerläuterung, Redekommentierung und Redebewertung im Rahmen performativer Textherstellung herausbilden (vgl. Gülich & Kotschi 1996). Vor diesem Hintergrund kann mit der Betonung einer vorgängigen, systematischen Theoriebildung über die Typen sprachlicher Kommunikation die Gefahr einhergehen, das wissenschaftliche Vokabular „mit den eigenen reichen Idiomen der Akteure zu verwechseln“ oder „die beiden Metasprachen durcheinanderzubringen“ (Latour 2005/2007:54; vgl. Habscheid 2009). Auch kann die Annahme einer stabilen, vorgängigen Struktur hinter den Kommunikationsereignissen (z. B. eine deduktiv abgeleitete Menge an sprachlichen Handlungsspielen) die Analysierenden dazu verleiten, die Rekonstruktion dynamischer und offener Kommunikationsvollzüge unter Verweis auf die vorgängig und von außen gesetzte Ordnung abzubrechen, sobald die theoretisch hergeleiteten Elemente (z. B. die Handlungstypen oder Bruchstücke, Kombinationen und Ausgestaltungen davon) im Material identifiziert wurden (vgl. Latour 2005/2007:43ff., 426ff.). So verstanden, hätte die Empirie in der Tat wenig Wesentliches zum Erkenntnisprozess beizutragen, wie umgekehrt die wissenschaftlichen Kategorisierungen nur schwer an die Alltagsphänomene (in der Perspektive der Beteiligten) anschlussfähig wären. Dagegen zeigen erfolgreiche wissenschaftliche Klassifikationsbemühungen, z. B. in der Chemie oder der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie, „daß dem Erfolg jahrhundertelange Beobachtungserfahrungen und Ethnosystematisierungen vorausgegangen sind“ (Ehlich 1986:59). Dies dürfte für den Gegenstandsbereich der Kultur um so mehr gelten, als er nicht nur von außen, sondern bereits durch die Beteiligten selbst sinnhaft und empirisch nachvollziehbar geordnet wird. In diesem Sinne forderte Elisabeth Gülich (1986), anknüpfend an Untersuchungen zu Textklassifikationen in der Alltagssprache (Dimter 1981; vgl. auch Rolf 1993), für die Textsortenlinguistik eine konsequente Orientierung an denjenigen Erscheinungsformen, die von den
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Kommunizierenden in der alltäglichen Kommunikationspraxis auf der Basis bestimmter (Bündel von) Eigenschaften als unterschiedlich und unterscheidungsbedürftig behandelt und definiert werden. Textsorten und die jeweiligen Kriterien zu ihrer Differenzierung sind demnach keine wissenschaftlich vorgegebenen Kategorien,8 vielmehr kommt es darauf an, was die Beteiligten selbst als ‚Textsorten‘ behandeln und welche konzeptuellen Merkmale sie zur Unterscheidung heranziehen. Auch wenn der alltägliche Bedarf an (kognitiver) Typisierung und die darauf bezogene Textsortenkompetenz (Lux 1981) sich nicht mit dem alltäglichen Bedarf an und der Fähigkeit zu (kommunikativer) Explizierung der Typisierungen deckt (Gülich 1986:39), gilt doch hier in besonderer Weise, dass „die Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens […] wesentlich eine Kommunikationsordnung“ darstellt (Kallmeyer 1986:7f.): Typisieren und Typologisieren sind für unsere Kommunikationspraxis und für die Strukturen des sozialen Lebens von zentraler Bedeutung (ebd.:7).
Daher erscheint ein ‚rekonstruktionslogischer‘ Ansatz auch in medientheoretischer Perspektive besonders plausibel: In jedem Kommunikationsprozess treten nämlich unvermeidlich ‚Störungen‘ auf, die durch die Beteiligten artikuliert und bearbeitet werden müssen. Diese Störungen sind häufig unspektakulär, harmlos und alltäglich, sie bringen den Verständigungsprozess voran. Ludwig Jäger (2004:41) spricht in hermeneutischer Tradition von der Störung „als Produktivitätsprinzip sprachlicher Sinngenese“. Gleichwohl veranlassen Störungen die Beteiligten oftmals dazu, den instrumentellen Handlungsvollzug durch kurze „Time-out-Phasen“ zu unterbrechen und Aushandlungsbühnen zu schaffen für eine ‚Re-Lektüre‘ der Kommunikationssituation im Medium der Sprache. Dabei kommt es auch zu Äußerungen […], die sich […] auf die Zugehörigkeit sprachlicher Äußerungen zu Textsorten beziehen, […] mit denen Vorstellungen, Erwartungen oder Annahmen bezüglich bestimmter Textsorten expliziert oder Kriterien zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Textsorten thematisiert werden (Gülich 1986:22).
In methodischer Hinsicht, speziell für eine ethnomethodologisch inspirierte, rekonstruktionslogische Kommunikationstypologie, sind derartige alltägliche Typisierungen, Bewertungen und Kommentierungen „in ————— 8
Auch wenn wie in allen hermeneutischen Rekonstruktionen ein gewisses Vorverständnis des Analysierenden unvermeidlich zum Tragen kommt. Zudem kann sich an die Rekonstruktion der alltäglichen Typisierungspraktiken im Interesse einer ‚de-klassifizierenden‘ Verallgemeinerung der Erkenntnisse die Bildung abstrakterer, wissenschaftlicher Typen anschließen. Vgl. auch, zum Wechselspiel von Empirie und Theoriebildung Ehlich (1986).
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situ“ besonders aufschlussreich: Kommunikationsmedien, in unserem Beispiel Textsorten und kommunikative Gattungen, werden hier durch die Beteiligten auf der Basis ihrer eigenen Relevanzsysteme sprachlich dargestellt und diskursiv bearbeitet; auf diese Weise wird Medialität – als eine im Regelfall transparente Kommunikationsgrundlage – interaktiv relevant und zum Thema der Kommunikation, aus einem „Looking through“ wird ein semantisiertes „Looking at“ (Jäger 2004), das eine Rekonstruktion alltäglicher Kategorisierungen erlaubt. Dies gilt auch im Blick auf die Merkmale und Merkmalskombinationen, anhand deren Kommunizierende Texte als Exemplare einer bestimmten Gattung wissensbasiert wiedererkennen und (in bestimmten Situationen) bezeichnen oder beschreiben. Ähnlich wie auf den Feldern von Flora und Fauna kommen potentiell vielfältige phänomenale Merkmale für die Unterscheidung in Frage, und doch ist nicht jedes Merkmal, das in einer systematischen Mehrebenen-Klassifikation erfasst werden kann, für die alltägliche Kategorisierung gleichermaßen relevant. Je nach Textsorte treten also unterschiedliche Merkmale und Merkmalskombinationen in den Vordergrund, seien es Typographie oder Textthema, Themenentfaltung oder Handlungsstruktur; auch mit Mustermischungen ist zu rechnen (vgl. Hausendorf & Kesselheim 2008:171–185). Eine solche methodologische Position ist durchaus umstritten. Soweit in empirischen Untersuchungen kommunikativer Gattungen davon abgesehen wird, vorgängig elaborierte Theorien zu entwickeln oder zu nutzen, drängt sich die Kritik auf, die Analysekategorien seien in unsystematischer Weise an den Phänomenen orientiert und entbehrten einer theoretisch hergeleiteten, konsistenten Bestimmung und Benennung der wesentlichen Bestandteile sprachlicher Kommunikation (vgl. zu Belegen aus der kommunikationslinguistischen Literatur Habscheid 2009). Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass sich der systematische Charakter alltäglicher Sprachreflexion nicht durch eine Beschreibung der Theorien als Produkte erschließt, sondern nur durch einen Nachvollzug der alltäglichen sprachreflexiven Verfahren und Erfahrungen; erst im Rahmen von Performativität und Performanz, von Handlungs- und Aufführungsvollzug, lässt sich die Systematik alltäglicher Reflexionspraktiken rekonstruieren (vgl. Paul 1999). In dieser Hinsicht steht die kommunikationstypologische Forschung nach Jahrzehnten durchaus noch am Anfang. Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Frage, wer – die fachwissenschaftliche Community einmal ausgenommen – ein wie auch immer geartetes praktisches, politisch-ideologisches, philosophisches oder ästhetisches Interesse an derartigen Beschreibungsperspektiven haben könnte (vgl. Habscheid 2009). Denn, so könnte man argumentieren: Es
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ist doch erst die von einem spezifischen Problemhintergrund abgeleitete, vorgängige Fokussierung stabilerer kommunikativer Strukturen (wie Textsorten, Gattungen, Diskurse etc.), die weiträumigere „Kommunikationsverhältnisse“ in Geschichte oder Gegenwart ins Blickfeld bringen, denen ein gesellschaftliches Interesse gilt. Dies gilt unabhängig davon, ob das analytische Interesse ‚kritisch‘ motiviert ist (und z. B. auf die Analyse ideologischer Machtstrukturen zielt) oder ob es sich auf eine ‚Optimierung‘ kommunikativer Praktiken (z. B. des Wissenstransfers) richtet. Dementsprechend ist es erklärtes Ziel vieler Untersuchungen, kommunikatives Handeln nicht nur zu systematisieren und zu erklären, sondern auch zu bewerten, sei es von einem gesellschaftskritischen Standpunkt aus als (teilweise opake) sprachliche Manifestationen von Herrschaft, Dominanz, Disziplinierung, (Selbst-)Kontrolle etc., sei es aus der Perspektive von Managern und Ingenieuren als Kommunikation entlang rationaler Kalküle wie Effizienz, Verständlichkeit, Konsistenz, Erfolgsmessung etc.9 Hier kommen nicht selten die Rationalitätskriterien einer positivistischen Textwissenschaft den Rationalisierungsvorstellungen der organisationalen Praxis entgegen, geht es doch in beiden Fällen darum, „das Chaos der Phänomene so zu manipulieren, dass es als zähmbar erscheint“ (Ehlich, in diesem Band). Zieht man freilich in Betracht, dass Gegenstände im Bereich der Kultur bereits in hoch komplexer Weise sprachlich-semantisch und im kollektiven Wissen geordnet sind, so tut man gerade hier gut daran, zuerst diese „Ordnungen in den Dingen aufzuspüren und so den Dingen auf die Spur zu kommen“ (ebd.), bevor man sie einem rationalen Zugriff zu unterwerfen versucht. ————— 9
Derartige Fragen führen auf das Feld der Organisation, das (anders als in der linguistischen Tradition) analytisch von dem der Institution abgegrenzt werden kann (vgl. Domke, in diesem Band): So verstanden sind Institutionen – z. B. die Wirtschaft einschließlich der dort üblichen kommunikativen Praktiken – gleichsam auf der „Makroebene“ der gesellschaftlichen Ordnung oder sozialen Struktur angesiedelt. Institutionelle Handlungsmuster ermöglichen ‚sinnhaftes‘ Handeln, und sie werden umgekehrt insoweit vollzogen, wie Handelnde und Interagierende sich auf der „Mikroebene“ an ihnen orientieren. In Bezug auf ein solches Modell nehmen Organisationen eine Zwischenstellung ein: Als koordinierte Zusammenschlüsse von Handelnden haben sie mit der „Mikroebene“ gemeinsam, dass es um konkrete, kollaborative Handlungsvollzüge geht, die durch institutionelle Muster ermöglicht werden. Andererseits begründen Organisationen ihrerseits Normen für das Handeln und die Interaktion ihrer Mitglieder: Wer in eine Organisation eintritt, z. B. als Mitarbeiter eines Call Centers, verzichtet damit bis zu einem gewissen Grad auf individuelle Handlungsautonomie zugunsten eines Autonomiegewinns der Organisation (vgl. Barnard 1938). Er kann z. B. in aller Regel nicht auf das gesamte sprachliche Muster- und Formenrepertoire zurückgreifen, das gesellschaftlich für diesen Kontext zur Verfügung steht; vielmehr wird sein Handeln zusätzlich reguliert durch formale Vorgaben, die das Ergebnis organisationaler Entscheidungen sind und die durch Bürokratie, technische Systeme und Anweisungen auf der Basis von Hierarchien durchgesetzt werden (vgl. Cameron 2000; Fairclough 2003).
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Angewandte Sprachwissenschaft in diesem Sinne kann zu einer Erhöhung von Komplexität beitragen, indem sie auf empirischer Basis die Perspektiven der Beteiligten für organisationale, technologische, didaktische etc. Gestaltungsentscheidungen zugänglich macht (vgl. Domke, in diesem Band). Im Rahmen dezidiert ‚kritischer‘ Perspektiven lenken zum Beispiel rhetorische Ansätze der Text- und Schreibforschung den Blick besonders auf kontextuelle Faktoren wie Kultur, Ideologie, Institution, Organisation, Situation (vgl. im Rahmen der New Rhetoric z. B. Freedman & Medway 1994; Bazerman 1988; Berkenkotter & Huckin 1995),10 Gattungen des sprachlichen Handelns werden hier als Ergebnis (agonaler) historischer Entwicklungstendenzen betrachtet, als ‚stabilized-for-now or stabilized-enough site of social action‘ (Schryer 1994). Dem Spannungsfeld zwischen (auch) diskursiv gestützten Machtverhältnissen, individuellen Handlungschancen und Identitäten der Handelnden in einem sozialen ‚Feld‘ (vgl. Karasek, in diesem Band) gilt auch das Interesse eines Ansatzes, der sich in Großbritannien unter der Bezeichnung Academic literacies etabliert hat (vgl. z. B. Barton & Hamilton 2000). Vor diesem Hintergrund entwickeln Gruber et al. (2006) ein Analysemodell, das neben Konzepten der New Rhetoric und Academic literacies auch die stärker an sprachlichen Strukturen interessierte GenreTheorie der Systemic Functional Linguistics (Halliday 1994; Martin & Veel 1998) und Erkenntnisse der natürlichen Stilistik aufgreift (vgl. Abschnitt 1). In diesem Modell wird die Wahl sprachlicher Mittel und Formen im Schreibprozess sowohl durch semiotische als auch durch soziokulturelle, institutionelle (Macht-)Faktoren erklärt. Aus der Sicht ihrer Kritiker ergibt sich in beiden Fällen – der kritischen wie der auf Optimierung zielenden Wissenschaft – die Gefahr, dass über die Köpfe der Beteiligten hinweg empirisch „leere“ Deutungen und Wertungen vorgenommen werden, die an einer von außen gesetzten gesellschaftstheoretischen Perspektive ausgerichtet sind. Im ungünstigsten Fall werden auf diese Weise die in den Daten erfassbaren Spuren performativer Sinnvollzüge verwischt oder verdeckt, mögliche Einwände der Beteiligten als naive Sichtweisen ins Unrecht gesetzt und die Perspektiven der Wissenschaftler ungewollt in den Rang absoluter Wahrheiten erhoben (vgl. Latour 2005/2007:433). Methodologisch steht dahinter auch das Problem, ob und wie gesellschaftliche Strukturen jenseits epistemisch objektiver Kommunikations- und Wissensverhältnisse, wie sie im Mittelpunkt dieses Bandes stehen, in eine Diskursanalyse einbezogen werden können, etwa die Korrelation von Habitus ————— 10 Vgl. aus textlinguistischer Sicht auch die Beiträge in Fix, Habscheid & Klein (2001) zur ‚Kulturalität‘ von Textsorten.
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mit sozioökonomischen Positionen, außerdiskursiven Machtressourcen etc. (vgl. Karasek, in diesem Band). Von all diesen Fragen und Problemen der Kommunikationstypologie bleibt der Mainstream der Sprachwissenschaft indessen völlig unberührt. Ein Grund für diese Situation kann darin gesehen werden, dass eine Kommunikationstypologie im Sinne der zuletzt beschriebenen Ansätze dem vorherrschenden Verständnis und der Forschungspraxis der Linguistik zunächst nicht entsprach und daher im Fach eher schlechte Bedingungen vorfand (so Ehlich 1986). Zwar erschlossen die Philologien im 20. Jahrhundert neue Gegenstandsbereiche und lösten sich von traditionellen Restriktionen (etwa einer satz- und assertionszentrierten Sprachanalyse oder der Beschränkung auf Texte aus dem Bereich der Hochkultur), auch führten Impulse von Seiten der Ordinary language philosophy (Wittgenstein, Austin, Grice, Searle) und der phänomenologischen Soziologie zu einem verstärkten Interesse an sprachlicher Kommunikation (vgl. Abschnitt 1). Die Entwicklung einer autonomen modernen Sprachwissenschaft brachte aber auch in ihren Hauptströmungen neue bzw. verschärfte Begrenzungen mit sich (vgl. Ehlich 1986; Feilke 2000): x die Isolierung des sprachlichen Zeichens vom sozialen und kulturellen Zusammenhang (im Rahmen einer verkürzenden Saussure-Rezeption); x die Abbildung von Sprechakten, vorzugsweise Assertionen, auf satzförmige Äußerungen (mit einem besonderen Interesse an einer „expliziten Umsetzung des Handelns in den Diskurs“, vgl. Akrich 2004:255); x die Verengung der Intention auf die Mikroebene individueller Absichten bzw. vom gesellschaftlich-historischen Zusammenhang entkoppelter Regeln, Handlungsbedingungen und Interaktionsmechanismen; x die Beschränkung der Pragmatik auf diejenigen residualen Bereiche, die von der Grammatik und kontextfreien Semantik nicht mehr erfasst werden (Deixis, konversationelle Implikatur, Präsupposition, Sprechakte, Konversationsstruktur); x die „Medienvergessenheit“ der kognitiven Sprachtheorie, die elementare mentale Strukturen und Mechanismen des Menschen von Interaktion, Kommunikation und Kultur abkoppelt (vgl. Jäger 1994). Gleichwohl gab und gibt es, wie dieser Band belegt, kontinuierlich starke Nebenströmungen, die institutionell einigermaßen gefestigt und (zunehmend?) in transdisziplinären Forschungszusammenhängen verankert sind. ***
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Ein abschließendes Wort zum Umfang des Gegenstandsbereichs: Anders als im Fall der eingangs erwähnten Mannheimer Tagung werden kommunikationstypologische Untersuchungen in der Forschungspraxis oftmals auf bestimmte Kommunikationsformen eingegrenzt, z. B. ‚Diskurse‘ im Hier und Jetzt und von Angesicht zu Angesicht im Unterschied zu aus einer Sprechsituation entbundenen ‚Texten‘ (vgl. Ehlich 1983) oder mündliche im Unterschied zu schriftlichen Äußerungen: „Man hat dann zwei getrennt zu typologisierende Bereiche, die sich medial schon so grundlegend unterscheiden, dass – bleibt man bei einem – im Weiteren Medialitätsfragen marginalisiert werden können“ (Holly, in diesem Band). Quer dazu lassen sich freilich sinnvoll weitere Grenzen ziehen (vgl. auch Adamzik 2008:157f.): So kann Kommunikation strukturiert sein als wechselseitige ‚symbolische Interaktion‘ – diese kann synchron oder asynchron sein, an einem Ort oder auf mehrere Orte verteilt – oder als unidirektionale Aufzeichnung, Übermittlung und Rezeption symbolisch codierter „Botschaften“ (vgl. Krämer 2008). Zum ‚Hier und Jetzt‘ und ‚Hier, Dort und Dann‘ kommen also weitere kommunikationsstrukturelle Konstellationen, z. B. das ‚Hier, Dort und Jetzt‘ (Telefonat, Chat), das ‚Hier und Dann‘ (Schwarzes Brett, Schild) etc. Noch einmal quer dazu liegen Unterscheidungen anhand der jeweils verwendeten natürlichen, technischen und kulturellen Medien (z. B. Stimme und Schrift, Buchdruck und Computer, gesprochene und geschriebene Sprache, aber auch statische und bewegte Bilder, Töne, Musik etc.) oder anhand komplexer Stilformationen (z. B. konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit). Sicher gibt es für eine Begrenzung bzw. Binnengliederung des Gegenstandsbereichs entlang des einen oder anderen Kriteriums jeweils gute Gründe, auch die Frage, welche der situationsentbundenen Kommunikate sinnvollerweise als ‚Texte‘ (bzw. als Gegenstand der Sprachwissenschaft) betrachtet werden sollten, fordert argumentativ untermauerte Positionierungen heraus. Andererseits greifen aber, wie wir gesehen haben, die verschiedenen strukturellen Konstellationen, Materialitäten und Zeichenformationen der Kommunikation in praxeologischer Hinsicht vielfältig ineinander, und dass nicht erst seit dem gegenwärtigen Medienumbruch auf der Basis „multimedialer“ Computer und Computernetze. Wenn es also darum geht, bei der Erstellung von Kommunikationstypologien an die Kategorien der Beteiligten anzuknüpfen, die in lebensweltlichen Erfahrungen verankert sind, erscheint es sinnvoll, auch auf derartige vorgängige Eingrenzungen und Gliederungen zunächst zu verzichten. In diesem Sinne umfasst der Band, dessen Orientierung am besten als ‚soziopragmatisch‘ charakterisiert werden kann, kommunikationstypologische Ansätze der Text-, Diskurs-, Gesprächs- und Medienlinguistik gleichermaßen.
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3. Zum Aufbau des Bandes Dem von Anfang interdisziplinären Charakter des Gegenstandsbereichs entsprechend (vgl. Abschnitt 1) widmen sich die Beiträge des ersten Kapitels den Eckpunkten einer theoretischen und wissenschaftshistorischen Grundlegung im Grenz- und Übergangsbereich von Sprach-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Darüber hinaus spannt das erste Kapitel einen Horizont elementarer Analysedimensionen auf, die im Rahmen soziopragmatischer Kommunikationsanalysen systematisch ins Blickfeld kommen, wobei Praxis-, Zeichen- und Medientheorie programmatisch ineinander greifen. Probleme der Typologisierung implizieren, wie wir bereits gesehen haben (vgl. Abschnitt 2), grundlegende erkenntnistheoretische Fragen, und die Frage nach ihrer historischen Tiefe weist im Fall der Beschäftigung mit Texten über die moderne Sprachwissenschaft hinaus in die Traditionen der Philologie und Literaturwissenschaft, Theologie, Rhetorik, Volkskunde, Soziologie und Anthropologie (Ehlich). Die weitere Beschäftigung mit der noch nicht befriedigend geklärten Frage nach einer genuin sprachtheoretischen Explikation und Verortung des Gegenstandsbereichs (ebd.) findet wichtige Anknüpfungspunkte unter anderem in Wittgensteins Begriff des Sprachspiels (Schneider), kulturtheoretischen Konzeptionen einer Sprach- als Medientheorie (Holly) und der Rekonstruktion von an Medien gebundenen Zeichen unter dem Aspekt ihrer sozialen Gestalthaftigkeit (Steinseifer). Dabei stehen, wie wir bereits gesehen haben (vgl. Abschnitt 1), Sprachtheorien im Geiste des Linguistic turn und kulturwissenschaftliche Medientheorien insofern in einem Verhältnis der „Familienähnlichkeit“ zueinander (Krämer 2008), als ihr Interesse strukturell analogen Problemen gilt: Erschien es im Blick auf die Bearbeitung „philosophischer Probleme“ zunächst als zentral, darüber zu reflektieren, wie unsere Alltagssprache diese Probleme erst hervorbringt, so wird dieses Programm in der allgemeinen Medientheorie ausgeweitet, wobei oft die Sprache aus dem Blickfeld gerät; umgekehrt übersehen viele Sprachwissenschaftler, dass sprachliche Zeichen in der Kommunikation in vielfältiger Weise an andere Medien gebunden sind, die ihren Strukturen nicht äußerlich bleiben, sondern Form- und Sinnpotentiale prägen (Jäger 1997; Holly, in diesem Band). In praxistheoretischer Hinsicht geht es im Zusammenhang mit einer Konzeption sprachlichen Handelns auch darum, wie dessen Verflechtung mit kulturellen Ordnungen und sozialen Strukturen zu denken ist. Zu den relevanten Dimensionen, die im Rahmen einer interdisziplinär fundierten soziopragmatischen Textsortentheorie zu reflektieren sind,
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gehören demnach Machtverhältnisse, Kapitalien und sozialer Status (Karasek), Gruppenzugehörigkeiten und soziale Identitäten (Aplevich), Institutionen und Organisationen (Domke), Wissensrepräsentation und Wissenstransfer (Engberg), Inter- und Transkulturalität (Zhao), Sozialisation und Spracherwerb (Kern). Auf dem Feld linguistischer Kommunikationstypologie treffen regelmäßig verschiedene Traditionen und Schulen aufeinander, die ihre zentralen Gegenstände in unterschiedlicher Weise theoretisch herleiten und terminologisch bestimmen. Entsprechende Basiskonzepte, ihre theoretischen und methodologischen Hintergründe und ihre wissenschaftshistorischen Genealogien stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels: Traditionen der Textlinguistik und ihre Weiterentwicklung im Licht der Diskurs- und Medientheorie (Heinemann, Adamzik), ‚Kommunikative Gattungen‘ der interpersonalen und öffentlichen Kommunikation, anknüpfend an die Gattungstheorie Thomas Luckmanns und Jörg Bergmann (Ayaß) und Genretheorien, wie sie in der Tradition der Systemic functional linguistics Michael Hallidays und den verschiedenen Richtungen der Critical discourse analysis vertreten werden (Muntigl, vgl. auch Reisigl in Kapitel III). Dem besonderen Interesse der Linguistik an den Binnenstrukturen verfestigter Rede- und Textformen und dem kommunikationstypologischen Kontextualisierungspotential grammatischer und lexikalischer Einheiten tragen die Beiträge über Textoberflächen (Kesselheim) und Konstruktionen der gesprochenen Sprache (Günthner) Rechnung. Die Beiträge im dritten Kapitel konkretisieren das Anliegen kommunikationslinguistischer Forschung im Blick auf exemplarische gesellschaftliche Funktionsbereiche und fragen danach, wie man auf der Basis empirischer Forschung durch die Rekonstruktion handlungsrelevanter Typisierungen (der Beteiligten) und deren abstrahierende Typologisierung (durch die Wissenschaft) zu einer mehr oder weniger weit reichenden Verallgemeinerung von Erkenntnissen gelangt. Neben verbreiteten Formen der Alltagskommunikation (Kotthoff, am Beispiel verschiedener Gattungen des Erzählens: Klatsch, Bericht, Witz, spaßige Phantasien) geht es um Institutionen der Medizin (Menz & Sator), der Politik (Reisigl), des Rechts (Luttermann), der Wirtschaft (Nielsen), der Kunst (Hausendorf) und der Religion (Lasch). Dabei zielen die Beiträge in der Regel weniger auf eine umfassende und gleichsam neutrale Katalogisierung kommunikativer Formen als auf die problemorientierte Frage, was eine linguistische Analyse zu einem grundlegenden Verständnis der für die jeweilige Institution charakteristischen Kommunikationsweisen beitragen kann. Dass Erkenntnisse zur Kommunikationstypologie nicht nur vielfältig relevantes Orientierungswissen bereitstellen, sondern auch ganz
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unmittelbar praktisch genutzt werden können, führen exemplarisch die Beiträge im vierten Kapitel vor. Dabei treten neben eher klassische Fragen der Angewandten Sprachwissenschaft – Didaktik des Sprachunterrichts in Mutter- und Fremdsprachen, an Schule und Hochschule, in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, wobei Probleme der schriftlichen Textproduktion im Mittelpunkt stehen (Gruber, Luginbühl & Perrin, Möbius) – auch jüngere Anwendungsfelder: Kommunikationsberatung und -training in organisationalen Kontexten (Hartung), Textdesign und Textoptimierung für neue Medien (Antos, Hasler & Perrin), Texttechnologie und Technische Redaktion (Schmidt). Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der organisationalen Praxis treffen freilich Versuche, das (vermeintliche) „Chaos“ alltäglicher sprachlicher „Phänomene so zu manipulieren, dass es als zähmbar erscheint“ (Ehlich, in diesem Band) stets auf die komplexen Ordnungen in den Phänomenen selbst, die es zunächst – als wesentlichen Bestandteil der „Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens“ (Kallmeyer 1986:7) – zu rekonstruieren gilt. *** Mein Dank gilt dem Verlag für die Anregung zu diesem Buch und die stets professionelle verlegerische Betreuung, der Universität Siegen für förderliche Rahmenbedingungen und meinen studentischen Hilfskräften für vielfältige organisatorische Unterstützung. Ganz besonders danke ich Frau Dominic Sarah Loos, B. A., die dank Kompetenz und starker Nerven auch komplexere Herausforderungen bei der Erstellung der Druckvorlage stets souverän gemeistert hat. 4. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen 2004. Adamzik, Kirsten: „Textsorten und ihre Beschreibung.“ In: Textlinguistik. 15 Einführungen. Hg. v. Nina Janich. Tübingen 2008, 145–176. Akrich, Madeleine: „Vom Objekt zur Interaktion und zurück. Eine Diskussion mit Madeleine Akrich, Antoine Hennion und Vololona Rabeharisoa (Centre de Sociologie de l’Innovation, Paris) – moderiert durch Lorenza Mondada.“ In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 5 (2004) H. 2, 239–271. Antos, Gerd: „Ansätze zur Erforschung der Textproduktion.“ In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Textlinguistik Halbbd. 1. Hg. v. Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u. Sven Frederik Sager. Berlin, New York 2000, 105–112.
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I.
Kommunikationstypologie zwischen Sprach-, Gesellschaftsund Kulturtheorie
Textartenklassifikationen. Ein Problemaufriss Konrad Ehlich (Berlin, München) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Klassifikation Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte Sprechen über Sprache und Texte Wissenschaftliches Sprechen über Texte Desiderate der Textartenklassifikation Literaturverzeichnis
1. Klassifikation Klassifikation schafft Ordnung. Ordnung kann das Leben erleichtern – nicht zuletzt in der Wissenschaft. Ganze Disziplinen und Disziplinphasen, ganze Etappen der Wissenschaftsgeschichte sind geradezu auf solcherart Ordnung fixiert. Ordnung in der Wissenschaft und für ihre Zwecke herzustellen, kann zweierlei bedeuten: Einerseits kann es darum gehen, das Chaos der Phänomene so zu manipulieren, dass es als zähmbar erscheint. Andererseits kann es bedeuten, Ordnungen in den Dingen aufzuspüren und so den Dingen auf die Spur zu kommen. Das erste Verfahren (A) geschieht mittels elaborierter Methodologie; das zweite Verfahren (B) bleibt darauf verpflichtet, mit der Geduld des Forschens und der Überraschung durch die Volten, die die Phänomene schlagen, mit den Unzulänglichkeiten und Unberechenbarkeiten der Empirie und der listigen Unterordnung unter die verborgenen Unordnungen und Ordnungen der Dinge eine adaequatio mentis ad rem anzustreben und, wenn es gut geht, zu erreichen, die über die Theoretisierung solcher adaequatio in der Semiotik deutlich hinausgeht. Die Wirklichkeit des Forschungsprozesses kennt extreme Beispiele für beides. Beides weist je eigene Gefahren auf: für das zuerst genannte die schließliche Ersetzung der Dinge durch die ihnen oktroyierte Ordnung; für das zweite das Sich-Verlieren gegenüber einer Wirklichkeit, die sich dem erkennenden Zugriff immer wieder entzieht. Angesichts des Stellenwertes, des Primats der Methodologie über die Dinge unter (A) finden sich hier die expliziteren Beschreibungen der klassifikatorischen Methodik – freilich immer mit der Tendenz hin zu jenem quid pro quo, durch das schließlich die methodologisch erzeugten Artefakte ganz vor das treten, das es zu erkennen galt. In diesem Prozess verliert sich die Wirklichkeit schließlich in den Ordnungsphantasien der Wis-
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senschaft, ja, das Konzept der Wirklichkeit selber gerät aus dem Blick bzw. wird aus ihm entfernt oder ihm entzogen. Entsprechende Gnoseologien können sowohl nominalistischer wie idealistischer Art sein (vgl. Hempfer 1973). Die Tendenzen zur Konstruktion – oder auch zur Dekonstruktion – lösen die Ordnungskonstrukte von ihrem Bezug zu dem, was zu ordnen sie vorgeben. Sowohl in einer nominalistischen wie in einer idealistischen Form konkretisieren sie sich. Die sprachliche Vor-Verfasstheit der meisten unter den jeweils eingesetzten Kategorien bleibt dabei weithin unbeachtet, ein blinder Fleck, der in der naiven ethnozentrischen Gleichsetzung von eigener Sprache und Sprache schlechthin seine schwer erfassbare Basis hat. Beide sind als metaphysische Grundkonstrukte dazu angetan, sich als notwendig ausgebende Bedingungen der Möglichkeit von Klassifikation überhaupt darzustellen. Den nominalistischen Verfahrensweisen ist aufgrund ihres prinzipiellen Agnostizismus die Beliebigkeit grund-eingeschrieben und damit zugleich eine vermeinte Definitionsmacht in die Hand gegeben, die in Freiheit über Parametrisierungen verfügen kann. Die idealistischen Konstruktionen verlassen sich hingegen auf Abschattungen eines Jenseits der Empirie und brauchen sich in dieser Weise um die Komplexität des Konkreten nur eingeschränkt zu kümmern. Demgegenüber behauptet die konkrete Wirklichkeit so lange ihren Eigensinn, entzieht sich dem klassifikatorischen Bemühen, wie es nicht gelungen ist, in die inneren Erzeugungszusammenhänge eben jener Konkretion einzudringen. 2. Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte Die Wissenschaftsgeschichte zeigt exemplarisch Misslingen und Gelingen im Umgang mit dieser gefährlichen Konfiguration. Die Mechanik einerseits, die Chemie andererseits können als Beispiel dienen. Um die Ordnung der Erscheinungen gnoseologisch herauszuarbeiten, sind die Wege, die sich als erfolgreich erwiesen, in beiden durchaus unterschiedlich. Die Mechanik verlangte die Reduktion ihres Objekts in die völlige Abstraktion. Ihr blieb lediglich die Ausgedehntheit des Körpers erhalten, und von der res extensa aus konnte das innere System rekonstruiert werden. Die Chemie hingegen erforderte eine Modellierung der Komplexion des Gegebenen im Auffinden gerade der Differenzen der Stoffe und – in diesem Auffinden der Differenzen – im Auffinden einer sie durchgehend bestimmenden Kombinatorik. Auch hier ist Abstraktion erforderlich, aber diese Abstraktion erfolgt auf andere Weise. Beide Klassifikationen konsolidierten sich erst, indem diese spezifischen Wege entdeckt, von anderen abgegrenzt und erfolgreich gegangen waren.
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Sprache ist weder Mechanik noch Chemie. Die Attraktivität gelungener Klassifikation legt aber Übertragungen nahe. In Bezug auf die Sprache geschieht dies vor allem in einer Physik-Analogisierung, die im Konstrukt eines abstrakten Erzeugungsmechanismus resultiert. Diesem sind Texte ebenso gleichgültig wie deren mögliche Klassifikation. 3. Sprechen über Sprache und Texte Sprache hat in sich bereits Möglichkeiten, über Sprache zu sprechen. Die Möglichkeit ist in vielen der gegenwärtig lebendigen Sprachen vielfältig realisiert. Das betrifft vor allem das Reden über Texte, und zwar aus mindestens zweierlei Gründen: Die Befassung mit Sprache als Sprache ist oft angeleitet von der vorgängigen Verdinglichung von Sprache als Schrift. Zum anderen hat die westliche, aber auch die fernöstliche Kultur ein Interesse an Sprache gewonnen über die Befassung mit herausgehobenen, ja mit auratischen Texten, denen in der einen oder anderen Weise eine Fundierungsfunktion für die Gesellschaften zukommt, in denen über Sprache geredet wird. Das Reden von Textarten oder Textsorten (dazu gleich) setzt immer schon ein bestimmtes Verständnis von Text voraus (vgl. zum Textbegriff Ehlich 2007; Knobloch 1990 und Scherner 1996). Dieses Verständnis wird in der neueren Diskussion durch das ungeklärte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit tangiert. Die einfache Identifikation von Text mit Schriftlichkeit, die häufig vorgenommen wird, ermöglicht ein problemloses Anknüpfen an der literaturwissenschaftlichen Befassung mit Texten und der darauf bezogenen Gattungstheorie. Zwar wird periodisch nach einem „neuen Textbegriff“ (Fix et al. 2002) gerufen. Solange eine systematische Ableitung von Text nicht geleistet wird, verfängt dies wenig. Diese systematische Ableitung hätte im Licht der Fragestellung nach Textarten und deren Klassifikation zugleich die Aufgabe, auch diese in den systematischen Ableitungszusammenhang aufzunehmen. Die Textartenproblematik ist somit in die Problematik einer systematischen Sprachtheorie eingebunden und ist eine spezifische Erscheinungsform von ihr. 4. Wissenschaftliches Sprechen über Texte Der Ressourcencharakter von Sprache betrifft deren unterschiedliche Bereiche. Aufgrund der Geschichte des Redens über Sprache (mit Ausdrücken wie „Wort“, „Satz“, „Laut“ u. a.) und der Nutzung dieses Redens in der Geschichte der Wissenschaft von der Sprache ist die Erfas-
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sung dieser Bereiche, ihrer Strukturen und ihrer Formalität nach wie vor ausgesprochen restriktiv und mit abnehmender Intensität durchgeführt. Sprachwissenschaft findet weithin noch immer ihre zentrale Grenze am Satz als maximaler Einheit. So ist es nicht erstaunlich, dass linguistisch die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns in Bezug auf alles, was diese Grenze übersteigt, lange zögerlich und tentativ blieb. Dies macht sich bis heute als eine nur schwer bearbeitbare Schwierigkeit beim Versuch, Textarten zu bestimmen und zu klassifizieren, bemerkbar. Diese Schwierigkeit wird dadurch verstärkt, dass in der Tradition der wissenschaftlichen Befassung mit Texten die Arbeitsteilung zwischen Linguistik, Philologie und Rhetorik Texte als Arbeitsgebiet und Gegenstand der Sprachwissenschaft eher entzogen hat. Die weitgehende Verselbständigung dieser drei sprachbezogenen Disziplinbereiche gegeneinander und – daran anschließend – die diffusen Quer-Transpositionen, Übertragungen und Analogisierungen im Transfer zwischen ihnen erhöht die Diffusität der Ergebnisse wie der Methodologien. Insbesondere die Entmündlichung der Rhetorik auf ihrem Weg zu einer literarischen (!), also schriftbezogenen Rhetorik (vgl. exemplarisch Lausberg 1960) hat sich hier ausgewirkt. In diesem Prozess ergaben sich erhebliche Überschneidungen mit der Philologie im engen Sinn, die ihrerseits weithin eine parallele Arbeit zu der der Linguistik leistet – freilich eingegrenzt auf ihren jeweiligen auratischen Textbereich, d. h. als theologische Philologie, als auf „klassische“ Texte, also solche griechischer und lateinischer Autoren bezogene, oder als Philologie von Texten, die in je spezifische Klassizitäten eingerückt sind bzw. z. B. in ideologischen Begründungszusammenhängen bei der Herstellung von identitätsstiftenden Ursprungstexten eingerückt wurden (mittelalterliche, neuzeitliche literarische Philologie). Die auratische Qualität dieser Texte konkretisiert sich in ihrer jeweiligen Kanonisierung. Diese wiederum schlägt unmittelbar zurück in die Textartenbestimmung und ihre Klassifikation. Die Auratisierung bedeutet für einen großen Teil dieser Texte ihre Entfunktionalisierung in Bezug auf die genetischen Zusammenhänge, in denen und für die sie entstanden sind. An die Stelle dieser primären Zusammenhänge setzen die Prozesse der Kanonisierung sekundäre, also z. B. die, als Fundierungsmythos zu dienen. In diesem Prozess wird der Zusammenhang zwischen den primären und diesen sekundären Funktionsbereichen gekappt, zum Verschwinden gebracht und durch Mystifizierungen des sekundären Funktionszusammenhangs ersetzt. Dies geschieht etwa in der Lehre der Verbalinspiration, wie sie sowohl das junge Christentum (2. Petrus 1,20; 2. Tim 3,15f.) wie der Islam (vgl. Scheller 2009:288f.) wie schon die Subsumption des alttestamentlichen Gesetzeswerkes unter die direkte Rede Gottes zu Mose (Ex ff.) zeigt.
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Die Fixierung des Interesses am Text auf schriftliche Texte und die Eingrenzung dieser Texte auf auratische Texte resultiert in einer Ontologie der Textartenklassifikation, wie sie klassisch Goethe in seinem Konzept der „Naturformen der Poesie“ entwickelte, ein Konzept, das von A. W. Schlegel weiter ausgebaut wurde und die deutschsprachige Literaturwissenschaft tief beeinflusst hat. Eine solche Grundeinteilung in Epik, Lyrik und Dramatik bleibt naturgemäß gegenüber der Konkretion der tatsächlichen Textarten selbst im schriftlichen literarischen Text abstrakt. Damit wird ein fundamentaler Widerspruch zwischen Klassifikation und empirisch vorfindlicher Konkretion in besonderer Deutlichkeit eklatant. Goethe behalf sich, indem er von den Naturformen der Poesie die historischen „Dichtarten“ unterschied. Schlegel hingegen versuchte eine Ableitung aller solcher „Nebenarten“ aus den drei Naturformen. Dieser Widerspruch zwischen Klassifikation und der Fülle der Erscheinungen bleibt für jede idealistisch-deduktive Textartenklassifikation ein erhebliches Problem. Croces Ausflucht in die nominalistische Beliebigkeit hilft demgegenüber nicht wirklich. Auch die in der Folgezeit entwickelten Konkretionen einer Textartenklassifikation sind in den Zwiespalt so lange eingespannt, wie es nicht gelingt, aus der Sache heraus zu solchen Bestimmungen zu gelangen, die es gestatten, in der Bestimmung des Allgemeinen zugleich die Bestimmungen für das Besondere aufzufinden und dieses in seinen Erscheinungsweisen im Einzelnen aufzuspüren. Es sind beim Versuch der Textartenklassifikation also zwei fundamentale Schieflagen, die eine Erkenntnis der empirischen Faktizität von Texten als Ausdruck und Exemplar übergreifender Bestimmungen behindern, wenn nicht verhindern: die Schrift-Schiefe und die LiteraturSchiefe. In Bezug auf letztere trieben Prozesse der Dekanonisierung nach dem Verlust der sekundären Funktionalität des Kanons als Grundlage eines bürgerlichen Weltbildes über die Schiefe hinaus, nämlich in der Thematisierung trivialer Literatur als eines legitimen Gegenstandes der literaturwissenschaftlichen Forschung. Schon zuvor hatte die schnelle Abfolge literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden zu einer Rekonstruktion all jener Handlungszusammenhänge beigetragen, jedenfalls aber dazu aufgefordert, sich auf sie, die in der Eliminierung der primären Funktionszusammenhänge von Literatur ausgeblendet worden waren, einzulassen. Diese Problematik erfuhr zudem eine starke Beförderung jenseits der literaturwissenschaftlich-philologischen Textanalyse, nämlich innerhalb der theologisch-philologischen durch die hermeneutisch begründete Rekonstruktion der Textzusammenhänge, wie sie insbesondere in einer reichen Fülle im Alten Testament sichtbar wurden. Gegenüber der synchronistisch-flächigen Inanspruchnahme der Texte sowohl in der
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christlichen wie in der jüdischen Theologie wurde zunehmend deutlich, welche unterschiedlichen Textarten in den Dokumenten des Alten Testaments/des Tenachs vorliegen. In einer stark historistisch bestimmten Zeit entwickelte sich so eine historisch-kritische Textartenlehre, in deren Mittelpunkt unter dem Kürzel „Formen und Gattungen“ (vgl. Kuhl & Bornkamm 1958) durch Forscher wie Gressmann und Gunkel (s. exemplarisch Gunkel & Begrich 1933) wichtige kategoriale Innovationen zur Texttheorie entwickelt wurden (s. Wonneberger 1985a, 1985b; Klatt 1969; Ehlich 2000). Diese führten zur Entdeckung des „Sitzes im Leben“ von einzelnen Textarten wie „Klage“, „Lob“ usw. Die Konfrontation literaturwissenschaftlicher Ergebnisse mit Erfordernissen des Textumganges, wie die Völker- und Volkskunde ihn praktizierten, führte wenig später zur Entwicklung eines Konzeptes „einfacher Formen“, die aus einer je unterschiedlichen „Geistesbeschäftigung“ deduziert wurden (Jolles 2006), damit zugleich die Naturdeduktion einer prästabilierten Morphologie der Texte mit einer teilweise neuen Begründung ausrüstend. Die so gewonnenen Textartenklassifikationen verbleiben in einer durchaus überschaubaren Zahl. Der Rückgriff auf empirisch vorkommende Textartenbezeichnungen zeigt demgegenüber, in welcher starken Weise auch diese erweiterten Konzepte gegenüber der textuellen Wirklichkeit zurückbleiben. Dies hat exemplarisch Nies in seiner Untersuchung über „nichtkanonische Literatur“ vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart demonstriert, der für die, wie er sagt, „genres mineurs“ weit mehr als hundert unterschiedliche Bezeichnungen dieser Art insbesondere für die französische Literatur zusammengestellt hat. Der Übergang zur Trivialliteratur erweitert das Feld der Textarten, auf die die Aufmerksamkeit sich richtet, erneut. Vollends geschieht dies aber, wenn auch die erste Schiefe bearbeitet wird, indem die Mündlichkeit zusätzlich in den Blick kommt. Dies freilich geschieht zunächst unter einer den Textbegriff ins Uferlose vortreibenden Subsumption sprachlichen Handelns insgesamt unter den Textbegriff. Die Spezifik dessen, was einen Text ausmacht, geht dabei fast notwendig verloren. Alle sprachlichen Äußerungen werden zum Text. Als Klassifikationsraster bietet sich dafür die Metapher der „Sorte“ an. Mit der beginnenden Textlinguistik seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts wird so eine Textsortenlehre als Teil der Textlinguistik entwickelt (Raible, Gülich, Weinrich, S. J. Schmidt u. a.). Die Klassifikation, die so entsteht, ergibt sich durch eine Kombinatorik kreuzklassifikatorisch eingesetzter Parameter. In diese Parametrisierung wird dem als Fixum gehandhabten Text vieles von dem attribuiert, was in der Ausweitung der Blickrichtung auch für die einzelne sprachliche Handlung unter den Stichworten „Kontext“ und „Situation“ als der Aufmerksamkeit wert
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prinzipiell benannt wird, ohne doch analysepraktisch tatsächlich auf systematische Weise umgesetzt zu werden. Eine innere Ordnung des so Klassifizierten ergibt sich dann allenfalls noch entlang extrahierter solcher Parameter. Diese sind zudem überschaubar, beliebig expandierbar oder kontrahierbar. Für die tatsächliche Bestimmung dessen, was als „Textsorte“ gilt, wird häufig auf die in der Alltagssprache bereits vorliegende, verallgemeinerte Terminologie zum Sprechen über Texte bzw. über Sprache zurückgegriffen. Diese Textartenbezeichnungen werden zugleich in anderen Disziplinen ähnlich genutzt, so in der Massenkommunikationswissenschaft, besonders mit Blick etwa auf die Zeitungslehre (vgl. Dovifat 1931, 1968/69). Derartige Klassifikationen von Texten bleiben prinzipiell ihrerseits der Textart der Liste verpflichtet. Demgegenüber hat die Metapher der „Gattung“ besonders nach ihrer Nutzung in Systemen wie denen der Botanik seit dem 17. Jahrhundert immer bereits eine Tendenz zur Einbeziehung einer zweiten, taxonomischen Ordnungsstruktur. Sie sieht die Gattung als Oberbegriff zu einer spezifischen Menge von Arten, und dieses duale System lässt sich erweitern. Als Kriterium gilt die Identifikation der spezifischen Differenz (differentia specifica) innerhalb des genos, der „Gattung“ (Aristoteles). Damit ist das klassifikatorische Bemühen zurückgebunden an Unterschiede in der Sache selbst, die (Verfahren B) als solche herauszuarbeiten, zu identifizieren und dann zu klassifizieren sind. Dies führt auf die Notwendigkeit zurück, von der oben bereits gesprochen wurde, aus den Zellformen des sprachlichen Handelns heraus eine Ableitung von Text und den Erscheinungsformen, in denen Texte vorfindlich sind, zu erarbeiten. Die Forschungspraxis des vergangenen Vierteljahrhunderts hat sich in vielen ihrer bis zur Handbuchausarbeitung gesteigerten Erzeugnisse (vgl. Brinker et al. 2000) auf diese Aufgabe nur relativ selten wirklich systematisch eingelassen. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass (insbesondere in der Halliday-Schule) unter dem Stichwort „Genre“ mit Belehnung eines im Englischen als französisches Fremdwort gekennzeichneten literaturwissenschaftlichen Konzeptes versucht wird, der Thematik Herr zu werden. Dem entspricht ein Revirement des Terminus „Gattung“ innerhalb der Luckmann-Schule (vgl. dazu Ayaß, in diesem Band), ohne dass eine systematische Kritik und Rekonstruktion der damit weitertransportierten Konzepte angestrebt oder gar geleistet würde. Vielmehr praktizieren diese Verfahren den Rückgriff auf Ausdrücke der alltäglichen Wissenschaftssprache, die gerade in ihrer Diffusität eine Verständigung zu ermöglichen scheinen, indem sie auf das Vorverständigtsein in den Ablagerungen insbesondere literarisch bezogener früherer Theoriekonzeptionen sich verlässt. Sie sind so Teil einer terminologischen
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Zirkulation, in der wesentliche Aufgaben einer systematischen Durchdringung an eben jenes Vorverständnis zurücküberwiesen werden, von dessen Ungenügen die verschiedenen Bemühungen um systematische Klassifikation ihren Ausgang genommen hatten. Die Inanspruchnahme des Kritisierten als Metakritik der Kritik ist freilich durchaus eine Figur, die sich in der jüngeren sprachwissenschaftlichen Theoriebildung häufiger findet, die dadurch aber nicht weniger problematisch wird. In Bezug auf die Erarbeitung leistungsfähiger Textartenklassifikationen zeigt sich so ein eigenartiges Auf-der-Stelle-Treten. 5. Desiderate der Textartenklassifikation Die im ganzen Bereich der Textartenklassifikation zu beobachtende terminologische Zirkulation ist zugleich eine, die die Kategorien selbst betrifft. Die Übertragung von in einzelnen mit Texten befassten Disziplinen erarbeiteten Kategorien – besonders deutlich am Konzept der literarischen Gattung zu beobachten – geschieht als eine Übertragung, in der die für einzelne Textbereiche gewonnenen Grundbestimmungen unerkannt mit in andere Textbereiche eingetragen werden. Zugleich ist die Erstreckung dessen, was als Text gilt, selbst diffus. Die oben beschriebenen Ausweitungen von „Text“ erfordern eine systematisch ausgearbeitete Eingrenzung von Text. Diese verlangt eine klare Differenzierung von sprachlichen Handlungen, als deren Resultat Texte erzeugt und rezipiert werden. Die Textartenklassifikation ist so auf eine Klassifikation sprachlicher Handlungen angewiesen und setzt sie im gelingenden Fall fort. Dabei sind Rückgriffe auf andere Disziplinen, z. B. die der Logik (vgl. Juilland & Lieb 1968), kein wirklicher Ausweg. Ein Ausgangspunkt können alltägliche Textartenbezeichnungen sein. Diese bilden aber eigentlich eher ein Geflecht als einen Punkt, denn in ihnen sind auf diffuse Weise frühere Ausschnitte aus der Geschichte des wissenschaftlichen Redens über Texte und Textarten abgelagert. Sie enthalten z. B. rhetorische oder literaturwissenschaftliche Bestimmungen; sie enthalten aber auch Kategorisierungen einer Ethnosemantik des Textfeldes. Eine systematische Erhebung der Textartenbezeichnungen in einzelnen Sprachen steht aus. Beiträge wie die von Nies (1978) sind ohne Nachfolger geblieben. Nicht zuletzt aus einer komparatistischen Perspektive ergäben sich aber interessante Differenzierungspunkte für eine zukünftige Textartenklassifikation. Der einzelne Text ist, wie die einzelne sprachliche Handlung, kein in sich beliebiges Unikat jenseits aller Strukturen, die ihm vorausliegen. In der Formbestimmtheit realisiert vielmehr die einzelne sprachliche
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Handlung wie der einzelne Text jene Ressourcen, die als das Ergebnis vorausliegender gesellschaftlicher Arbeit Sprache überhaupt erst zur Sprache ausbilden und so für das je einzelne Handeln von Sprecher wie Hörer, von Autor wie Leser kommunikativ wirksam werden lassen (vgl. auch Kesselheim, in diesem Band). Selbst dort, wo Sprache und Text dadaistisch zerschlagen werden, wird dieses Zerschlagen nur auf der Folie solcher gesellschaftlicher Verbindlichkeit überhaupt erst erkennbar. Ginge auch dieser Zusammenhang verloren, verlöre sich Sprache im bloßen Geräusch. Eine präzisere Fassung des Textbegriffs grenzt die Aufgabe der Textartenbestimmung und Textartenklassifikation in mindestens zweierlei Richtung ab von ähnlichen, teils parallelen, teils komplementären Aufgaben, nämlich der der Klassifikation sprachlicher Handlungen einerseits, der der Klassifikation von Diskursen andererseits. Ausgangspunkt für all diese drei Aufgaben ist die sprachliche Handlung. Eine systematische Sprachtheorie entwickelt das Konzept von Sprache aus der Analyse des sprachlichen Handelns heraus. Sie ist also pragmatisch. Die Zellformen des sprachlichen Handelns finden sich in der Sprechhandlung mit ihren drei konstitutiven Akten, dem Äußerungsakt, dem propositionalen Akt und dem illokutiven Akt, sowie in den Prozeduren, aus denen sich diese sprachlichen Handlungen zusammensetzen. Dabei kommt den Prozeduren insofern systematisch eine grundlegendere Bedeutung zu, als es selbstsuffiziente Prozeduren gibt, die der Expansion zur Sprechhandlung nicht bedürfen (deiktische wie „da“ und expeditive wie „ach!“). Prozeduren wie Sprechhandlungen sind in sich strukturiert. Sie weisen eine jeweils spezifische Formcharakteristik auf. Sprachliches Handeln ist als Form je spezifisch bestimmt. Die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns erlaubt analytisch die Extraktion der Bestimmung der Formmerkmale. Diese baut auf der handlungspraktischen Aneignung der sprachlichen Formen durch die Sprecher auf. Die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns ist Ausdruck und notwendige Voraussetzung für Sprache als Ressource für das sprachliche Handeln. Das, was sprachliches Handeln ist, erschließt sich über die Zwecke, für deren Bearbeitung sprachliche Formen ausgebildet wurden und werden. Die Systematik des sprachlichen Handelns realisiert sich als eine Systematik der Zwecke der einzelnen sprachlichen Handlungen, der Zwecke der in sie eingehenden sprachlichen Prozeduren und der Zwecke, für die spezifische Kombinatoriken sprachlicher Handlungen kommunikativ entwickelt, unterhalten, genutzt und verändert werden. In diesen Zusammenhang gehören auch Textarten als spezifische, zweckbezogene Ressourcen, über die in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft ein hinreichendes Verständigtsein der Interaktanten
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hergestellt ist, so dass auf die entsprechenden Formen interaktiv zurückgegriffen werden kann. Diskurse sind der Mündlichkeit verpflichtete spezifische Verkettungen und Sequenzen sprachlicher Handlungen. Sie sind weithin in institutionelle Kommunikationszusammenhänge eingebunden und bilden Konfigurationen sprachlicher Handlungen, deren Notwendigkeit und Möglichkeit sich aus den Zwecken der Institutionen ergeben (vgl. Habscheid 2010). Texte sind demgegenüber spezifischer. Sie resultieren aus einer Grundproblematik der sprachlichen Handlung, die sich aus deren Bindung an die Erzeugungsvergänglichkeit des Äußerungsaktes ergibt. Für zahlreiche kommunikative Zwecke ist eine Verdauerung der flüchtigen sprachlichen Handlung unabdingbar, die über die unmittelbare Memorierbarkeit im Bewusstsein der in der gemeinsamen Sprechsituation präsenten Interaktanten hinausgeht. Text bearbeitet Diatopie wie Diachronie, wie sie für die Zerdehnung von Sprechsituationen charakteristisch sind. Aus dieser Funktionalität heraus ergibt sich die Ablösungsmöglichkeit des Textes bis hin zu seiner visuellen und elektronischen Verdinglichung. Die unterschiedlichen Arten von Texten unterscheiden sich in ihrer kategorialen Qualität also deutlich von den Diskursen und den für sie charakteristischen Diskursarten. Dort, wo der Textbegriff nicht präzise, sondern extensiv ist, verschwimmen diese Unterschiede, was sich als Hypothek für die Textartenklassifikation recht unmittelbar bemerkbar macht. Aus dem Überlieferungszweck der sprachlichen Handlung heraus ergeben sich sowohl für mündliche wie für schriftliche Texte spezifische Strukturerfordernisse. Diese können sowohl prozedural wie illokutiv wie propositional näher bestimmt werden. Die frühen Versuche der Textlinguistik machen von diesen Möglichkeiten unterschiedlichen Gebrauch, indem z. B. Kohärenz- und Kohäsionsmerkmale erarbeitet und zu Bestimmungsgrößen für Text ernannt werden (z. B. bei de Beaugrande & Dressler 1981 oder Halliday & Hasan 1976). Eine systematische Textartenbestimmung und Textartenklassifikation steht vor der Aufgabe, diese verschiedenen Aspekte systematisch zusammenzuführen und so die Diffusität und teilweise die Beliebigkeit der bisherigen Herangehensweisen zu überwinden. Dabei wird die in anderen Disziplinen bewährte Mehrfachanwendung der Erfassung von differentiae specificae die Zusammenfassung zu unterschiedlichen Typen ermöglichen. Insgesamt sind für die Textartenklassifikation wahrscheinlich n-dimensionale Matrizes erforderlich, in denen die verschiedenen Aspekte von Funktionalität, Diachronie, Diatopie und die je spezifischen Überlieferungserfordernisse als textartencharakteristische Konstellationen rekonstruiert werden. Form und Formbestimmtheit ist da-
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bei nicht akzidentiell, sondern als wesentliche Konsequenz der jeweiligen Textzwecke zu rekonstruieren. Die Überlieferungserfordernisse, die Textarten aus sich herausgesetzt haben, sind Erfordernisse in jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften. Diese werden durch je unterschiedliche Strukturen bestimmt, Strukturen, in die sie handelnd und verändernd eingreifen. Die Systeme der Textarten, die in Textartenklassifikationen zu rekonstruieren sind, nehmen innerhalb dieser Kommunikationsgemeinschaften je spezifische Aufgaben wahr. Eine herausragende Gruppe davon betrifft die Nutzung von Textarten für die Konstituierung und Erhaltung der jeweiligen Gruppe, also deren kommunitäre Funktion (vgl. auch Aplevich, in diesem Band). Besondere Aufmerksamkeit erfordern dabei Prozesse einer Rekursion in der erneuten Nutzung von bereits zu sekundärer Funktionalität verarbeiteten Textarten. Textlinguistik ist so notwendig immer auch Textsoziologie. Die textuelle Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften macht diese Aufgabe nicht einfach. Aber auch weniger differenziert strukturierte Gesellschaften ermöglichen keineswegs automatisch leichter zu bearbeitende Klassifikationsaufgaben. Dies macht sich etwa am Auf-der-Stelle-Treten der alttestamentlichen Forschung in Bezug auf das bemerkbar, was in ihr unter dem Stichwort „Formen und Gattungen“ (fast einem zum hen dia dyoin geronnenen Begriffspaar) behandelt wird. Jedenfalls aber erfordert die gesellschaftliche Bindung der Textarten die systematische Berücksichtigung von deren Geschichtlichkeit. Diese realisiert sich auch im Transfer von Textarten durch verschiedene Kommunikationsgemeinschaften hindurch. Gerade Textarten sind weithin interkulturelle Strukturen, wobei dieser Interkulturalität eine die Analyse durchaus erschwerende Komplexion innewohnt (vgl. dazu Zhao, in diesem Band). Die einzelne Kommunikationsgemeinschaften übersteigende Qualität religiöser Kommunikation ist dafür exemplarisch. Die Geschichtlichkeit der Textarten verhindert es, dass eine substanzialistisch-ontologische Deduktion einer Textartenklassifikation als ein sinnvolles Ziel angesehen werden kann. Die Empirie der Textartenbestimmung erfordert unabdingbar also den Einbezug dessen, was in der frühen Textartenanalyse der religionsgeschichtlichen Schule bei Hermann Gunkel mit der Metapher des „Sitzes im Leben“ benannt wurde – benannt, aber keineswegs ausgeführt (vgl. Ehlich 2000). Gerade der Bezug auf die Geschichtlichkeit hat eine Spezifizierung dieser Kategorie in ihrer systematischen Relevanz für die Textartenklassifikation bisher leider eher verhindert als befördert. Eine im genannten Sinn historisch sensible Textartenklassifikation greift also in eine Rekonstruktion der Kommunikationspraxen der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaften aus. Die sprachsoziologische
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Dimension, die die Textartenklassifikation so erfordert, erleichtert zwar einerseits die Arbeit nicht, ermöglicht ihr andererseits jenen Abstand von den Engführungen der ethnozentrischen Fixierung einer implizit universalisierten Synchronie des Hier und Jetzt textueller Praxis. Textartenklassifikationen sind so freilich kaum monodisziplinär tatsächlich erarbeitbar. Das ist eine Barriere für die Arbeit, die nur schwer zu überwinden ist. Das Nebeneinander von aus unterschiedlichen Ausgangspunkten und mit Nutzung der aus der diffusen kategorialen Zirkulation jeweils mehr oder minder willkürlich entnommenen Kategorien entstehenden Textartenklassifikationen wird voraussichtlich auch für die nähere Zukunft der klassifikatorischen Arbeit eine erhebliche Problematik bereiten. Textartenklassifikation wäre ein notwendig transdisziplinäres Unternehmen auf der Grundlage einer verlässlichen Vorverständigung über die Sprachlichkeit von Text. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich solche Transdisziplinarität in absehbarer Zeit herstellt. So wird für Klassifikationen in der Naturwüchsigkeit der Forschungsprozesse voraussichtlich weiter mit unterschiedlichen Erwartungen, theoretischen und analysepraktischen Voraussetzungen und unter mehr oder weniger beliebigen Perspektiven bzw. holzwegartigen Teilsystematisierungen gearbeitet werden. Textartenklassifikation bleibt so – wie die Klassifikation von Sprechhandlungen und Diskursen – eine regulative Idee, die freilich als solche unabdingbar ist. 6. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten (Hg.): Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübingen 2000. de Beaugrande, Robert-Alain u. Wolfgang Ulrich Dressler: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. Brinker, Klaus, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u. Sven Frederik Sager (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Textlinguistik Halbbd. 1. Berlin, New York 2000. Dimter, Matthias: Textklassenkonzepte heutiger Alltagssprache. Kommunikationssituation, Textfunktion und Textinhalt als Kategorien alltagssprachlicher Textklassifikation. Tübingen 1981. Dovifat, Emil: Zeitungswissenschaft. Berlin, New York 1931. Dovifat, Emil: Handbuch der Publizistik. 3 Bde. Berlin, New York 1968/69. Ehlich, Konrad: „Die Entwicklung von Kommunikationstypologien und die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns.“ In: Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für deutsche Sprache. Hg. v. Werner Kallmeyer. Düsseldorf 1986, 47–72 (ebenfalls abgedr. in: Ehlich 2007, Bd. 1, 167–192).
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Zur Bedeutung der Sprachspielkonzeption für eine kommunikationsorientierte Linguistik Jan Georg Schneider (Landau) 1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 5.3 6. 7. 7.1 7.2
Einleitung Zur Genese des Sprachspielbegriffs Zur systematischen Bedeutung der Spielanalogie Regel und Öffentlichkeit – zur Radikalität des wittgensteinschen Ansatzes Die Sprachspielkonzeption in der Linguistik Pragmatik (Sprechhandlungstheorie, Ethnomethodologie/ Konversationsanalyse) Textlinguistik/Text und Bild Grammatiktheorie/Systemlinguistik Schlussbemerkung – Sprachkompetenz als Sprachspielkompetenz Literaturverzeichnis und verwendete Abkürzungen Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen Literaturverzeichnis
1. Einleitung Die naturgemäß enge Verbindung von Sprache und Kommunikation ist in den heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften keine Selbstverständlichkeit. Kommunikationswissenschaftler haben eher einen publizistischen, psychologischen oder soziologischen Hintergrund als einen linguistischen oder sprachphilosophischen. Auch hat die linguistisch und philosophisch geprägte Medialitätsforschung in der Kommunikationswissenschaft kaum Fuß fassen können. – Dass es dennoch große Schnittmengen zwischen den Gegenstandsbereichen der Sprach-, der Kommunikations- und auch der Medienwissenschaft gibt, zeigt z. B. die Konzeption des vorliegenden Bandes: In „linguistischen Typologien der Kommunikation“ ist eine starre Trennung der genannten Disziplinen weder durchhaltbar noch gewollt noch wünschenswert. Wie es in Abschnitt 1 der Einführung zu diesem Band heißt, soll hier, anknüpfend an einen IDS-Band aus dem Jahre 1986, u. a. der „Zusammenhang von sprachlichem Handeln und gesellschaftlich-kultureller Ordnung“ rekonstruiert werden. Es geht nicht um Textmuster für sich betrachtet, sondern um ihre Einbettung in „Handlungsspiele“ (Schmidt 1973:234), „activity types“ (Levinson 1979) oder „kommunikative Praktiken“ (Fiehler 2000) und ihre Wechselwirkung mit ihnen. Insofern erscheint es naheliegend, die Relevanz der wittgensteinschen Sprachspielkonzep-
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tion, die die Verwobenheit von verbalem und nichtverbalem Handeln betont wie kaum ein anderer Ansatz, in einem solchen Kontext und vor dem Hintergrund einer veränderten linguistischen Forschungslandschaft neu auszuloten. Nach einer kurzen Darstellung der Genese des Sprachspielbegriffs (Abschnitt 2) wird seine Bedeutung im Gesamtkontext der Spätphilosophie Wittgensteins herausgearbeitet (Abschnitt 3 und 4), um dann im fünften Abschnitt zu zeigen, auf welchen Wegen die Sprachspielkonzeption – historisch betrachtet – in die linguistische Theoriebildung gelangte und welche Rolle sie hier in Zukunft spielen könnte. Dies wird am Beispiel von drei sprachwissenschaftlichen Forschungsgebieten bzw. Disziplinen gezeigt: der linguistischen Pragmatik (5.1), der Textlinguistik (5.2) und der Grammatiktheorie (5.3). 2. Zur Genese des Sprachspielbegriffs Das Wort Sprachspiel taucht bei Wittgenstein erstmals in einem Typoskript von 1932 auf (TS 211:578). In den folgenden fast zwanzig Jahren bis zu seinem Tode 1951 entwickelt er diesen zentralen Begriff seiner Spätphilosophie weiter, wobei im Laufe der Zeit unterschiedliche Gesichtspunkte im Vordergrund stehen.1 Ein durchgängiges Motiv ist die Betonung der prinzipiellen Kontextgebundenheit sprachlicher Ausdrücke. – Diesen auf Frege zurückgehenden Gedanken hatte Wittgenstein schon im Tractatus ansatzweise formuliert: „[…] nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung“ (Tlp 3.3). Im Spätwerk erweitert und radikalisiert Wittgenstein diese Idee nun immer mehr. Von der Einsicht geleitet, dass die Kenntnis eines Satzes nicht genügt, um die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ermitteln zu können, entwickelt er zunächst den Gedanken des Satz-Sy stems (WWK:64ff., 89ff.; PB:59) und beschäftigt sich in den frühen Dreißigerjahren zunehmend mit den Begriffen ‚Regel‘ und ‚Kalkül‘. Der Ausdruck Kalkül betont die Relevanz des Kontextes, in welchem ein sprachlicher Ausdruck eine bestimmte Funktion hat. In seiner mittleren Schaffensperiode zieht Wittgenstein dabei wiederholt die Schachspiel-Analogie heran, um den Systemcharakter der Sprache zu illustrieren und den Umstand hervorzuheben, dass die Verwendung sprachlicher Ausdrücke regelgeleitet ist. 2 Eine Zeit lang verwendet Wittgenstein die Ausdrücke Kalkül und Sprachspiel synonym (Glock ————— 1 2
Zu den ‚Etappen‘ des Sprachspielbegriffs vgl. Schulte (1989:138ff.). Vgl. u. a. WWK (103ff.) – Auch in den Philosophischen Untersuchungen taucht die Schachspiel-Analogie an mehreren Stellen auf (PU 31, 108, 561–568).
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2000:325); er bemerkt allerdings schon recht früh, dass der Kalkülbegriff möglicherweise irreführende Assoziationen hervorruft: Zwar vergleichen „wir in unsern Diskussionen die Sprache beständig mit einem Kalkül, der sich nach exakten Regeln vollzieht“; dies sei aber – so Wittgenstein weiter – eine sehr einseitige Betrachtungsweise. In der Praxis gebrauchen wir die Sprache sehr selten als einen derartigen Kalkül. Nicht nur, daß wir nicht an Regeln des Gebrauchs – an Definitionen etc. – denken, wenn wir die Sprache gebrauchen; in den meisten Fällen sind wir nicht einmal fähig, derartige Regeln anzugeben, wenn wir danach gefragt werden. Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ‚Definition‘ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen (BlB:49).
Wittgenstein verdeutlicht hier den Unterschied zwischen expliziter und impliziter Regelkenntnis, zwischen Knowing-that und Knowing-how. Der Kalkülbegriff ist insofern einseitig, als er die Notwendigkeit einer expliziten Kenntnis von Anwendungsregeln suggeriert und außerdem die Vorstellung nahelegt, die betreffenden Ausdrücke müssten exakt definiert werden (Schulte 1989:139). Dies ist wohl einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Wittgenstein den Kalkülbegriff in den 1953 posthum erschienenen Philosophischen Untersuchungen eher distanziert und eng verwendet (PU 81, 136, 559, 565), die Spiel-Metapher dagegen emphatisch auf die gesamte Sprache ausdehnt (PU 7, 23; vgl. Glock 2000:325). Anders als ein Kalkül folgt ein Sprachspiel zwar bestimmten Regeln, ist aber nicht vollständig durch diese festgelegt (PU 84). Die Analogie zum Spiel ist (nicht nur) hier suggestiv und assoziationsreich: Obwohl es Spiele gibt, die kalkülartig funktionieren, also durch Regeln festgelegt sind (z. B. Schach), gilt dies keineswegs für alle Spiele. Ballspielende Kinder verfahren in den meisten Fällen wohl nicht nach strengen Regeln. Bei vielen Spielen ist es sogar möglich, die Regeln im Zuge wiederholter Anwendungen zu verändern: „Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ‚make up the rules as we go along‘? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along“ (PU 83). 3. Zur systematischen Bedeutung der Spielanalogie Der Sprachspielbegriff ersetzt den Kalkülbegriff aber nicht nur deshalb, weil Wittgenstein hiermit eine veränderte Auffassung davon zum Aus-
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druck bringen will, was es heißt, einer Regel zu folgen3 , sondern er dient auch zur Betonung einiger weiterer Aspekte: (1) Ebenso wie viele sonstige Spiele sind auch Sprachspiele sozial geteilte Praktiken, in denen verbale und nichtverbale Tätigkeiten regelmäßig miteinander verbunden sind, was sich schon an solch einfachen Sprachspielen wie einem Einkauf im Bioladen veranschaulichen lässt: Ich betrete den Laden, begrüße den Verkäufer, lege die Waren in den Einkaufswagen, frage vielleicht noch nach dem einen oder anderen Lebensmittel, das ich nicht auf Anhieb finde, suche mir aus dem Regal hinter der Ladentheke ein Brot aus, das ich mir vom Verkäufer geben lasse, lege die Waren auf die Theke. Der Verkäufer tippt die Preise ein, nennt mir den Endpreis, ich bezahle, erhalte Rückgeld, packe die Waren in eine Tüte, wir plaudern vielleicht noch etwas und verabschieden uns: Alle diese verbalen und nichtverbalen Tätigkeiten gehören zum Sprachspiel, ebenso die Dinge, die wir zum ‚Spielen‘ benötigen: Waren, Einkaufswagen, Kasse, Geld, Tüte usw. – In PU (7) heißt es dementsprechend: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen“ (PU 7). (2) Ebenso wie viele Spiele sind auch Sprachspiele prinzipiell offen und erweiterbar. Am pointiertesten formuliert Wittgenstein diesen zentralen Gedanken in PU (23): Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt u n z ä h l i g e solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.
Eine Sprache ist für Wittgenstein kein geschlossenes, starres System, sondern eine offene Menge veränderlicher Sprachspiele. (3) Ebenso wie Spiele müssen auch Sprachspiele als kulturelle Praktiken in irgendeiner Weise gelernt werden. Hierbei ist nicht in erster Linie daran zu denken, wie Erwachsene eine Fremdsprache erlernen, sondern daran, wie Kinder ihre Muttersprache erwerben. Wittgensteins Auffassung nach ist das „Lehren der Sprache“ hier nämlich „kein Erklären, sondern ein Abrichten“ (PU 5). Mit dem drastischen, oft missverstandenen Begriff der ‚Abrichtung‘ ist eines der wichtigsten Argumente für die von Wittgenstein konstatierte prinzipielle Unhintergehbarkeit des Sprachzeichengebrauchs verbunden: „Hinweisende Definitionen“ können nicht konstitutiv für den Sprach————— 3
Zum Regelaspekt vgl. unten Abschnitt 4.
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erwerb sein, da das Kind „schon etwas wissen (oder können)“ muss, um diese zu verstehen (PU 30). Der Spracherwerbsprozess läuft also zunächst nicht über explizit gemachte Regeln ab, sondern das Kind wird in eine bestimmte Praxis eingeübt. Der in der Abrichtung eingeübte Gebrauch lässt sich normalerweise nicht sinnvoll in Frage stellen. Natürlich kann ein Kind z. B. fragen „Warum heißt diese Farbe grün?“ – eine befriedigende Antwort darauf wird es allerdings nicht erhalten. Sätze wie Grün ist eine Farbe nennt Wittgenstein „grammatische“ bzw. „grammatikalische Sätze“ (PU 251, 458). Solche Sätze sind dadurch charakterisiert, dass sie sich weder sinnvoll begründen noch bestreiten lassen; vielmehr kommen in ihnen semantische Regeln zum Ausdruck: Der Satz Grün ist eine Farbe erläutert den Gebrauch des Wortes grün; in ihm wird eine jener kulturspezifischen Selbstverständlichkeiten offengelegt, die unserem alltäglichen Handeln zugrunde liegen. Natürlich geht es dem Philosophen Wittgenstein mit der Einführung des Abrichtungsbegriffs nicht um empirische Spracherwerbsforschung; vielmehr dient er ihm zur Entfaltung eines erkenntnistheoretischen Grundarguments: In der Abrichtungssituation ist für Wittgenstein der „harte Fels“ erreicht, wo sich der „Spaten zurückbiegt“ (PU 217), wo die philosophischen Erklärungen am Ende sind. Da jede Erklärung sich bereits innerhalb einer entwickelten Sprache abspielt, können wir letztlich weder den Spracherwerbsprozess noch die Sprache als ganze erklären bzw. begründen. Wir können uns nicht außerhalb ihrer aufstellen und sie und die „Welt“ von einer Metaebene miteinander vergleichen – hierin liegt die eigentliche Pointe des Abrichtungsbegriffs: Wenn ich über Sprache (Wort, Satz etc.) rede, muß ich die Sprache des Alltags4 reden. Ist diese Sprache etwa zu grob, materiell, für das, was wir sagen wollen? U n d w i e w i r d d e n n e i n e a n d e r e g e b i l d e t ? […] Daß ich bei meinen Erklärungen, die Sprache betreffend, schon die volle Sprache (nicht etwa eine vorbereitende, vorläufige) anwenden muß, zeigt schon, daß ich nur Äußerliches über die Sprache vorbringen kann. Ja, aber wie können uns diese Ausführungen dann befriedigen? – Nun, deine Fragen waren ja auch schon in dieser Sprache abgefaßt; mußten in dieser Sprache ausgedrückt werden, wenn etwas zu fragen war! (PU 120)
Mit diesen Überlegungen wendet sich Wittgenstein gegen seine eigene frühere Sprachauffassung, die noch von der Idee getragen war, die Logik der Sprache ließe sich in äußerster „Kristallreinheit“ darstellen (PU 107). Wittgenstein ist nun der Ansicht, dass auch eine logische ‚Idealsprache‘ letztlich nur aus der kontingenten Grammatik einer natürli————— 4
Der Ausdruck Sprache des Alltags ist hier nicht im Sinne einer bestimmten Varietät (etwa einer ‚Umgangssprache‘ o. ä.) zu verstehen, sondern als Gegenbegriff zu einer ‚Idealsprache‘, wie sie Wittgenstein im Tractatus postuliert und entwickelt hatte.
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chen Einzelsprache hergeleitet werden könne und dass ein Verstehen von Sprache nur möglich sei, wenn man auch „die Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“ (PU 7), die nichtverbalen Äußerungsumstände und ‚Domänen‘, berücksichtigt. Und dies gelte nicht nur für die Beschreibung des tatsächlichen Sprachgebrauchs, sondern auch für die Konstruktion fiktiver Sprachspiele (wie etwa in PU 2 und 8), denn: „Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (PU 19).5 Die Lebensform- bzw. Kulturbedingtheit unserer Sprachspiele wird uns meistens erst dann wirklich bewusst, wenn wir mit fremden Kulturen konfrontiert werden, in denen möglicherweise ganz andere „Gepflogenheiten“ (PU 199) gelten. Gerade mit der Erfindung fremdartiger Sprachspiele lässt Wittgenstein dem Leser das Selbstverständliche als weniger selbstverständlich erscheinen, wobei stets der Zusammenhang von sprachlicher Äußerung und anderem Handeln ins Blickfeld gerückt wird: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (PU 23). 4. Regel und Öffentlichkeit – zur Radikalität des wittgensteinschen Ansatzes Sprachspiele sind veränderliche, kulturell gewachsene und erworbene Praktiken mit verbalen und nicht verbalen Anteilen. Die eigentliche Pointe der Spiel-Metapher liegt jedoch in der revidierten, innovativen Regelauffassung des späten Wittgenstein, die wiederum auf das Engste mit der Idee des öffentlichen Charakters von Sprache verbunden ist. Bekanntlich ist zwar der vieldiskutierte Versuch unternommen worden, Wittgensteins Argumentationen zum Regelfolgen von denjenigen zur Unmöglichkeit einer privaten Sprache abzutrennen und ihm einen „Regelskeptizismus“ zu unterstellen.6 Ein solcher Regelskeptizismus wurde jedoch von Wittgenstein explizit zurückgewiesen und als Missverständnis bezeichnet (PU 201f.). Viel plausibler ist es daher, die Argumentationen zu Regelfolgen und Privatsprache als Einheit zu begreifen. Man kann sogar die gesamten Philosophischen Untersuchungen als eine Sammlung von Argumenten, Beispielen, Szenarien und Geschichten – Wittgenstein selbst spricht im Vorwort von „Landschaftsskizzen“ (PU 231) – verstehen, die letztlich allesamt dazu dienen, die logische Unmöglichkeit einer Privatsprache und damit den per se öffentlichen, sozialen, interaktiven Charakter von Sprache zu erweisen und aufzuzeigen. ————— 5 6
Zu Wittgensteins Begriff der Lebensform vgl. Schulte (1989:142ff.). Kripke (1982); kritisch hierzu J. G. Schneider (2002:86–92).
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Einer der eindrucksvollsten und zu Recht meistzitierten Gedanken, die Wittgenstein zur Stützung seiner Auffassung vom öffentlichen Charakter der Sprache formulierte, ist das Tagebuchszenario in PU 258. Der Leser wird darin aufgerufen, sich folgenden Fall vorzustellen. Jemand möchte über das Wiederkehren einer bestimmten Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu „assoziiert“ er diese Empfindung mit dem „Zeichen“ E und notiert täglich, wenn er die Empfindung hat, dieses Zeichen. Eine Definition des Zeichens lässt sich – so Wittgenstein – nicht aussprechen, denn E soll ja ein privates Zeichen sein, das nicht Teil einer öffentlichen, intersubjektiv verstehbaren Sprache ist. Die Frage ist also: Kann der Tagebuchschreiber, völlig losgelöst von einer Sprechergemeinschaft, das Zeichen E durch eine private Ostension definieren, auf diese Weise eine mehr oder weniger stabile mentale Brücke zwischen dem Zeichen E und der Empfindung aufbauen? Dies soll dadurch geschehen, dass er das Zeichen hinschreibt und dabei seine Aufmerksamkeit auf die Empfindung konzentriert, somit „im Inneren“ auf sie „zeigt“. Wittgenstein argumentiert nun, dass auf diese Weise keine sprachliche Bedeutung festgelegt werden kann: Sich die Verbindung zwischen E und der Empfindung durch „Konzentrieren der Aufmerksamkeit“ einzuprägen könne doch nur heißen: Dieser Vorgang bewirkt, dass ich mich in Zukunft richtig an die Verbindung erinnere. Im Falle der privaten Hinweisdefinition habe man aber kein von der Sprecherperspektive unabhängiges Kriterium für die Richtigkeit: „Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ‚richtig‘ nicht geredet werden kann“ (PU 258). Der Tagebuchschreiber verwickelt sich in einen logischen Zirkel: Um zu wissen, was das Zeichen bedeutet, müsste er die richtige Erinnerung an die Empfindung hervorrufen; um diese Erinnerung hervorrufen zu können, müsste er aber schon wissen, was das Zeichen bedeutet (vgl. Kenny 1974:27). Diesem Zirkel kann er nur durch das Vorhandensein mindestens eines anderen Sprechers entgehen, mit dem er den Zeichengebrauch teilt und der ihn gegebenenfalls korrigieren kann. Das heißt nicht, dass das Zeichen dann exakt definiert würde – was normalerweise auch gar nicht nötig ist –, sondern nur, dass sich ein sozial geteilter Gebrauch einspielen könnte. Einige Abschnitte weiter vergleicht Wittgenstein den Sprecher der vermeintlichen Privatsprache mit einer Person, die mehrere Exemplare der heutigen Morgenzeitung kauft, um sich zu vergewissern, dass sie die Wahrheit schreibt (PU 265). – Damit ein sprachliches Zeichen als Einheit von Signifiant und Signifié entstehen kann, bedarf es einer Sprechergemeinschaft, die den Gebrauch korrigieren und sanktionieren kann und es somit ermöglicht, das Zeichen in Differenz zu anderen Zeichen zu verwenden (vgl. hierzu Abschnitt 5.3 dieses Aufsatzes).
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Damit sind die logische Unmöglichkeit einer Privatsprache und der prinzipiell soziale Charakter von Sprache argumentativ erwiesen. Gleichzeitig wird der enge Zusammenhang zum Regelbegriff deutlich: Die Bedeutung eines Wortes kennen heißt die Regeln seines Gebrauchs beherrschen, und diese Regeln existieren nur im Gebrauch der Sprache, im Sprachspiel, sind diesem also nicht vorgeordnet. Einer Regel folgen ist eine normative Praxis (PU 202), bei der man etwas falsch machen kann, eine Praxis, die misslingen kann. Letztes Kriterium der Richtigkeit ist nicht die private Ostension, sondern der öffentliche Sprachgebrauch: Der „Käfer in der Schachtel“ kürzt sich weg; letztlich haben wir nur die Schachteln zum Kommunizieren (PU 293). Die Radikalität dieses Ansatzes liegt also darin, dass wir uns immer in und zwischen Sprachspielen bewegen, dass es für uns kein Außerhalb aller Sprachspiele gibt. Daher verbleibt jede Erklärung der Bedeutung innerhalb der Sprache: „Die Bedeutung eines Wortes ist“ nichts anderes als „das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt“ (PU 560) 7 . Die Sprachspiele bilden jedoch kein Gefängnis, aus dem wir lieber ausbrechen sollten; eher handelt es sich – so eine Metapher von Hans Julius Schneider – um erweiterbare Gerüste, in denen wir herumklettern, die wir erweitern und verändern können (1995:115); dies relativiert sozusagen die „Abrichtung“: Wir wachsen in unsere Sprachspiele und Lebensformen hinein, ohne sie uns aussuchen zu können, haben aber dann die Möglichkeit, sie gestaltend zu verändern.8 Die Tragweite des Sprachspielbegriffs ist jedoch immer wieder verkannt worden. Zum Beispiel von Peter Sloterdijk, der zwar zu Recht den Übungscharakter des wittgensteinschen Philosophierens betont und die „Sprachspieltheorie“ treffend als „Trainigstheorie“ charakterisiert (2009:228), im selben Atemzug aber auch die These vertritt, Wittgenstein sei als Kind der Moderne philosophisch im Jahr 1918, also beim Tractatus, stehengeblieben (228) und habe dann, obwohl er eigentlich ————— 7
8
Zu dieser programmatischen Bemerkung, die Tugendhat nicht zu Unrecht als den Grundsatz der sprachanalytischen Philosophie bezeichnet hat (1994:197ff.), findet sich im sogenannten Big Typeskript eine interessante Variation: „Die Grammatik erklärt die Bedeutung der Wörter, soweit sie zu erklären ist. Und zu erklären ist sie soweit, als nach ihr gefragt werden kann; und nach ihr fragen kann man soweit, als sie zu erklären ist. Die Bedeutung ist das, was wir in der Erklärung der Bedeutung eines Wortes erklären“ (BT:37). Dies bedeutet natürlich nicht, dass einzelne Sprecher die Sprachspiele, geschweige denn die Sprache als ganze, willentlich verändern können; jedoch wird hier die Auffassung vertreten, dass Parole und Langue in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen und dementsprechend auch beide am Sprachwandel beteiligt sind: Intentionale Sprech- und Schreibhandlungen sind die Basis sprachlicher Veränderungen und führen diese sozusagen indirekt, im Sinne eines Invisible-hand-Prozesses, herbei. Vgl. hierzu Keller (2003).
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einen ethischen Elitismus à la Nietzsche im Auge hatte (222), nur noch die „pseudo-neutrale Sprachspiellehre“ (226) zustande gebracht. In diesem Sinne spricht Sloterdijk von einer „subtilen Verlogenheit der Sprachspiel-Theorie“ (224). Damit geht er der Spielmetapher auf den Leim, glaubt in ihr eine gewisse Seichtheit ausmachen zu können. Wie die Darstellung der wittgensteinschen Konzeption zeigen sollte, ist dies gewiss unangemessen. Viel eher kann man wiederum Hans Julius Schneider (1995:116) zustimmen, wenn er schreibt: „Die Grenzen eines Sprachspiels können sich sehr wohl auch an blutigen Nasen zeigen. Diese Grenzen namhaft zu machen kann aber nicht anders als aus einer bestimmten Sicht geschehen.“ – Die Sprachspiel-Metapher verdeutlicht die prinzipielle Perspektivität menschlicher Kommunikation. Letztlich haben wir nichts als unsere Zeichen, um uns zu verständigen, aber dies ist – positiv gewendet – eine ganze Menge: Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll e r wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen‘. (PU 504)
Vor dem Hintergrund der ‚Privatsprachen-Argumentation‘9 lässt sich diese Formulierung als Grundsatz einer linguistischen Medialitätstheorie bzw. einer performanzorientierten Linguistik begreifen. Kommunikative Inhalte sind stets medial vermittelt, da sie sich in Zeichen materialisieren müssen. Was in der sprachlichen Kommunikation in Erscheinung tritt und daher auch Gegenstand der linguistischen Analyse sein sollte, sind gesprochene, geschriebene und gebärdete Sprachzeichen. Wittgensteins medialitätstheoretischer Grundsatz steht in der Tradition der humboldtschen Sprachphilosophie und befindet sich im Einklang mit der von Linz und Jäger formulierten erkenntnistheoretischen Basisannahme, dass Medialität insofern als notwendige Bedingung für das Mentale zu betrachten sei, als „sich das ‚interne‘ mentale System nur über seine ‚externe‘ Zeichenspur als mentales System zu konstituieren vermag“ (2004:11). Wittgenstein liefert mit seinen Argumentationen zur Unmöglichkeit einer privaten Sprache den Nachweis dafür, dass sogar die Bezugnahme auf Mentales in einem öffentlichen Sprachgebrauch verankert sein muss.
————— 9
Ich setze den gängigen Ausdruck Privatsprachen-Argumentation in Anführungszeichen, da es sich bei der sogenannten ‚Privatsprachen-Argumentation‘ in Wirklichkeit um eine ganze Reihe unterschiedlicher Argumentationen und Szenarien handelt, die einander kreuzen und überschneiden, sich jedoch keineswegs auf ein einziges Argument reduzieren lassen.
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5. Die Sprachspielkonzeption in der Linguistik Wittgensteins Würdigung durch die heutige Disziplin Germanistische Sprachwissenschaft steht in keinem angemessenen Verhältnis zu seiner tatsächlichen Bedeutung für das Fach. Symptomatisch hierfür ist, dass er in linguistischen Einführungen meistens nur am Rande (Linke, Nussbaum & Portmann 2004) oder auch gar nicht (Meibauer et al. 2007) erwähnt wird. Dies mag zum einen daran liegen, dass Wittgensteins Konzeptionen und Begriffe, so wie sie vorliegen, kaum operationalisierbar sind; zum anderen daran, dass seine sprachphilosophischen Überlegungen von anderen, in der Linguistik früher und stärker rezipierten Theorien überlagert wurden, obwohl diese Theorien neuer sind und eindeutige Parallelen zu Wittgensteins Arbeiten aufweisen: Dies gilt insbesondere für die Sprechhandlungstheorien Austins und Searles, aber z. B. auch für die Prototypensemantik. In den folgenden Unterabschnitten sollen a) einige Wege skizziert werden, auf denen die Sprachspielkonzeption in die linguistische Theoriebildung gelangte, und b) Anstöße gegeben werden, in welchen Gebieten sie künftig eine prominentere Rolle spielen könnte. 5.1 Pragmatik (Sprechhandlungstheorie, Ethnomethodologie/Konversationsanalyse) Am deutlichsten und historisch nachvollziehbarsten ist sicherlich Wittgensteins Bedeutung für die linguistische Pragmatik. In Meibauers Einführung in die Pragmatik wird er allerdings mit keinem Wort erwähnt, in Levinsons internationalem Standardwerk Pragmatik immerhin an zwei Stellen: einmal bei der Erläuterung des philosophischen Hintergrunds der Sprechhandlungstheorie (2000:248f.), dann noch einmal bei den Einflüssen derselben auf die „Ethnographie des Sprechens“ à la Hymes und Gumperz (303–305). Wenn auch nur am Rande, so betont Levinson doch immerhin die „Wirksamkeit von Wittgensteins Begriff des Sprachspiels“, auch im Vergleich zum Begriff des Sprechakts (304f.). Der Sprachspielbegriff sei umfassender, er mache die Vielfalt der „Sprechereignisse“ deutlicher. Auch wenn Levinson also die Relevanz der Sprachspielkonzeption durchaus im Blick hat und die Parallelen zur austinschen Variante der Sprechhandlungstheorie hervorhebt (248f.), stellt er – m. E. mindestens voreilig – die These auf, Austin sei von Wittgensteins späteren Arbeiten „sicher nicht beeinflusst“ worden (249). Dabei bezieht sich Levinson insbesondere auf Furberg (1971:50ff.) und hebt dabei hervor, dass beide Philosophen ihre späteren Theorien etwa zur selben Zeit erarbeiteten; Austin hielt die Vorlesungen, auf deren Grundlage „How to Do Things with Words“ entstand, letztmalig im Jahre 1955, die Philosophi-
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schen Untersuchungen erschienen 1953, und „Wittgensteins Ideen aus den späten dreißiger Jahren lagen nur als Manuskripte vor“ (Levinson 2000:249, FN 2). Hierzu ist historisch anzumerken, dass die Sprachspielidee bereits in den frühen Dreißigerjahren entwickelt wurde, z. B. im „Blauen Buch“, einem Typoskript, das – entgegen Wittgensteins Willen – kurz nach seiner Niederschrift in Cambridge vervielfältigt und in Umlauf gebracht wurde. Monk berichtet in seiner WittgensteinBiographie, dass bis Ende der Dreißigerjahre zahlreiche Mitglieder der philosophischen Fakultät Oxford, wo bekanntlich zu dieser Zeit auch Austin lehrte, im Besitz des Buches waren (1994:359). Von daher gesehen kann man zwar weder beweisen, dass Austin die Konzeption kannte, noch dass er sie nicht kannte; aber Ersteres erscheint doch wahrscheinlicher, zumal er in der 8. Vorlesung von „How to Do Things with Words“ auch mehrfach auf die ‚Gebrauchstheorie‘ der Bedeutung, die damals bereits im Schwange war und Wittgenstein zugeschrieben wurde, Bezug nahm: Darüber hinaus zeigt sich hier, daß man den Ausdruck ‚Gebrauch der Sprache‘ oder ‚Gebrauch eines Satzes‘ verschieden gebrauchen kann; ‚Gebrauch‘ ist ganz hoffnungslos mehrdeutig oder allgemein, ganz wie auch das Wort ‚Bedeutung‘, über das man sich jetzt gern lustig macht. ‚Gebrauch‘, der Nachfolger, ist da nicht viel besser dran. Wir können für eine bestimmte Gelegenheit den ‚Gebrauch eines Satzes‘ im Sinne des lokutionären Aktes vollständig erklären, ohne seinen Gebrauch im Sinne des illokutionären Aktes auch nur zu streifen. (Austin 1979:118)
Hier zeigt sich, dass Austin mit der Grundidee einer ‚Gebrauchstheorie‘ der Bedeutung schon einverstanden war, diese aber als zu undifferenziert und unterminologisch empfand – genau hier liegt m. E. eine Möglichkeit, die beiden Konzeptionen zusammenzuführen. Austin arbeitet verschiedene Aspekte von Sprechhandlungen genau heraus; eine Differenzierung, die später von seinem Schüler Searle mit kleinen Modifikationen übernommen wurde. Bereits bei Searle war allerdings eine immer stärkere Fixierung auf den einzelnen Sprecher und auf den illokutionären Akt erkennbar, eine Tendenz, die sich in der Rezeption der Sprechhandlungstheorie, z. B. bei Habermas, aber auch in der Germanistischen Linguistik der ‚pragmatischen Wende‘ fortsetzte. Betrachtet man Austin (nicht Searle) heute noch einmal neu10 und zwar von Wittgensteins Sprachspielkonzeption her, so sieht man in der Tat starke Parallelen. Was Wittgenstein die „Rolle“ einer Äußerung im Sprachspiel nennt (PU 21), hat große Ähnlichkeiten mit Austins „illocutionary ————— 10 In Rolf (2009) wird Austins Begriff der performativen Äußerung aus verschiedenen theoretischen Perspektiven neu beleuchtet und seine systematische Relevanz für die heutige Sprachwissenschaft herausgearbeitet.
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force“ (1975:100). Auch hat Austin den Aspekt der Interaktivität, der mit der Kategorie des perlokutionären Aktes und dem „securing of uptake“ 11 (Verständnissicherung) erfasst werden soll, durchaus noch im Blick. – Wittgensteins umfassenderes Bild vom Sprachspiel würde für eine moderne, revidierte Sprechhandlungstheorie, welche die Perlokution stärker berücksichtigt, einen geeigneten Rahmen bilden: Sprechhandlungen sind einzelne Züge in interaktiven Sprachspielen. Eine solche ‚Wittgenstein-Lesart‘ der Sprechhandlungstheorie würde diese auch anschlussfähiger machen im Hinblick auf ethnomethodologische und konversationsanalytische Ansätze, die die Sprecherfixiertheit des searleschen Ansatzes zu Recht bemängeln. Parallelen zwischen Wittgenstein und Garfinkel werden z. B. von Auer in seinem Buch Sprachliche Interaktion herausgearbeitet (1999:128ff.). Ebenso wie Wittgenstein empfiehlt Garfinkel, das sprachliche Handeln, die konkrete Performanz, möglichst genau zu beschreiben, anstatt nach psychologischen oder metaphysischen Erklärungen des ‚Dahinterliegenden‘ zu suchen.12 Beide Autoren interessieren sich für die „Struktur des Alltagslebens“ (Auer 1999:128). Die wichtigsten Dinge bemerkt man nicht, weil man sie – so Wittgenstein – „immer vor Augen hat“; sie sind uns nicht durch ihre Kompliziertheit und Mystizität, sondern durch „ihre Einfachheit und Alltäglichkeit“ verborgen. Daher ist eine Phänomenologie von Alltagserscheinungen 13 im Sinne der Ethnomethodologie eine Vorgehensweise, die Wittgenstein sicher begrüßt hätte und die sich theoretisch zusätzlich auf ihn stützen kann. Der Ethnomethodologie zufolge sind die Sinngebungsverfahren und Kategorien, mit denen die Mitglieder einer Gemeinschaft umgehen, der eigentliche Gegenstand der Soziologie und auch der Konversationsanalyse. Erst auf solchen Sinngebungsverfahren, solchen „primären Konstrukten“ werden wissenschaftliche Kategorien als „sekundäre Konstrukte“ aufgebaut (Auer 1999:129): Ethno-Methoden der Sinngebung sind demnach für jedes soziale Handeln maßgeblich, und insofern ist es letztlich gleichgültig, an welcher Stelle man mit dem Forschen anfängt und an welcher man es wieder abbricht (Prinzip der ‚ethnomethodologischen Indifferenz‘). Auf diese Weise entledigt sich die Ethnomethodologie eines theoretischen und methodologischen Systemzwangs. Auch hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu Wittgensteins Methode des Beispielgebens: Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie
————— 11 Austin (1975:117) (Hervorhebung im Original). 12 Vgl. etwa Garfinkel (1967). 13 Zu Recht verweist Levinson auch auf den engen Zusammenhang zwischen Sprachspielund Frame-Begriff (2000:305).
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nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die s i e s e l b s t in Frage stellen. – Sondern es wird nur an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht e i n Problem. (PU 133)
5.2 Textlinguistik/Text und Bild In der Textlinguistik wurde und wird u. a. Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit rezipiert, der eng mit dem Sprachspielkonzept verbunden ist. Mit dem Begriff der Familienähnlichkeit (PU 65ff.) richtet sich Wittgenstein gegen die traditionelle ‚Wesensmetaphysik‘, die davon ausgeht, dass alle Gegenstände, die unter einen Begriff fallen, mindestens ein gemeinsames Merkmal aufweisen müssen. Wittgenstein macht dagegen geltend, dass ein solches gemeinsames Wesensmerkmal für den sinnvollen und angemessenen Gebrauch sprachlicher Ausdrücke weder notwendig noch hinreichend ist; es genüge, dass die Erfüllungsgegenstände von Begriffen „familienähnlich“, d. h. über „Zwischenglieder“ (PU 122) miteinander verwandt seien. Wittgenstein veranschaulicht dies wiederum am Beispiel des Wortes Spiel: Viele, aber nicht alle Spiele sind unterhaltend; bei vielen, aber nicht bei allen Spielen gibt es ein Gewinnen und ein Verlieren; bei vielen, nicht bei allen Spielen gibt es Konkurrenz; Geschick spielt bei unterschiedlichen Spielen eine unterschiedliche Rolle, usw. (PU 66). – Nach dieser Analyse des Begriffs ‚Spiel‘ gelangt Wittgenstein zu folgendem Schluss: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie. (PU 66f.)
Das Familienähnlichkeitskonzept gelangte auf indirektem Wege in die Textlinguistik. Barbara Sandig bediente sich der Prototypentheorie, die am Familienähnlichkeitskonzept orientiert ist, um die Aporien einer ‚Wesensdefinition‘ des Begriffs ‚Text‘ zu entgehen. Sie fasst ‚Text‘ als ein „prototypisches Konzept“ (2000a) auf und überträgt dieses Konzept dann auch auf „Sprache-Bild-Texte“, z. B. Werbeplakate und Zeitschriftenartikel (2000b). Diese Idee wird in Stöckls stark rezipiertem Buch Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache (2004) aufgegriffen, indem er prototypische Textualitätskriterien wie Kohärenz, Kohäsion und Intentionalität/Funktion auch auf Bilder für sich betrachtet anwendet. Stöckl beschreibt das Zusammenspiel von Sprache und Bild im massenmedialen
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Text und gelangt dabei – ähnlich wie Scholz (2004) und in Anlehnung an Wittgenstein – zu einer Art Gebrauchstheorie der Bilder: Ein konkretes Bild zu gebrauchen bedeutet, es zeichenhaft in einer sozialen wie kommunikativen Handlung einzusetzen. Dies impliziert die ebenfalls in Analogie zum Funktionieren von Sprache entwickelte Vorstellung von piktorialen Sprechakten […]. In diesem Sinne und in Anlehnung an das Wittgenstein’sche Diktum von den Sprachspielen (auch Zeichenspielen) kann man davon sprechen, dass sich die Bedeutung eines Bildes nur im Gebrauch zeigt. (Stöckl 2004:54)
Stöckl und Scholz können sich mit ihren pragmatischen Bildtheorien in der Tat auf die Sprachspielkonzeption stützen. Wittgenstein lädt förmlich dazu ein, den Gebrauch von Bildern mit dem von Sprache zu vergleichen; auch finden sich in den Philosophischen Untersuchungen einige Textstellen, wo bildliche Darstellungen in Sprachspielen verwendet werden. 14 An diesen Textstellen wird deutlich, dass Wittgenstein Vergleiche zwischen Sprache und Bild, wie Stöckl sie anstellt, für sinnvoll und fruchtbar hielt (v. a. PU 522). Beispielsweise ist die Rede davon, dass Bilder wie auch Worte etwas „mitteilen“ können (PU 280). Verbales und Bildliches sind in Sprachspielen auf unterschiedliche Weisen miteinander verwoben (PU 8, 23, 86); auch deutet Wittgenstein an, dass bildliche Darstellungen, z. B. Zeichnungen, in Sprachspielen manchmal an die Stelle von verbalen Beschreibungen treten können (PU 23). 15 Scholz (2004:158f.) führt verschiedene „Bildspiele“ (z. B.: nach einer Zeichnung etwas herstellen) und „Sprache-Bild-Spiele“ (z. B.: ein Bild beschreiben) an und verdeutlicht damit die Nähe zu Wittgensteins Ansatz. Auch versucht er, ebenso wie Stöckl, die Kategorie des Sprechakts, nun in der Gestalt des piktorialen Aktes bzw. „Bildaktes“, in die Sprachspielkonzeption zu integrieren. Eine solche Herangehensweise ist vor allem im Hinblick auf stark konventionalisierte Bilder, insbesondere Piktogramme wie Toilettenschilder oder Hundewarnschilder, plausibel: Mit dem Hundebild kann man ebenso warnen wie mit der sprachlichen Warnung; es kann dieselbe Rolle im Sprachspiel erfüllen (vgl. Scholz 2004:159f.; vgl. auch Liebert 2007). In ihrer Monographie über Handlungstheorien des Bildes (2009) kritisiert Silvia Seja sowohl Scholz’ als auch Stöckls Ansatz: Anders als Muckenhaupt (1986) unterschieden beide nicht zwischen dem Gebrauch als Bild und dem Gebrauch von einem Bild, oder, anders ausgedrückt, zwischen den Fragen: ‚Wann wird ein Gegenstand als Bild gebraucht?‘ ————— 14 PU 8, 22, 23, 86, 280, 291, 522, 526; PU:309. – Man denke auch an Wittgensteins Diskussion des berühmten Hasen-Enten-Kopfes sowie anderer Zeichnungen in PU II:519ff. 15 Vgl. Scholz (2004:158, FN 33).
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und ‚Wie kann man Bilder gebrauchen?‘ (Seja 2009:52f.). Im zweiten Fall sei nämlich schon entschieden, dass es sich bei den betreffenden Gegenständen um Bilder handelt. Bei Bildern müsse, anders als bei Sprache (u. a. 57f., 72), zwischen dem Herstellungs- und dem Verwendungszusammenhang differenziert werden: Die Frage nach dem Bildstatus entscheide sich – so Seja mit Muckenhaupt – schon bei der Herstellung; wie dieses Bild dann gebraucht werde, in der konkreten Verwendungssituation (57). – Abgesehen davon, dass auch Scholz fein säuberlich zwischen Herstellungs- und Verwendungszusammenhang unterscheidet und dabei überzeugend verdeutlicht, dass letztlich der Verwendungszusammenhang über den Bildstatus entscheidet (Scholz 2004:154ff.), übersieht Seja hier die Analogie zwischen Bild und Schrift: Sie scheint lediglich gesprochene Sprache im Blick zu haben und vernachlässigt die Ähnlichkeit zwischen dem Herstellungszusammenhang bei Bildern und geschriebener Sprache. Eine Schrift, die wir nicht mehr entziffern können, ist für uns keine Schrift, ebenso wie ein Bild, das wir nicht als Bild erkennen. Anders als in der gesprochenen Sprache sind Herstellung, Verwendung und Verstehen bei der Schriftsprache zeitlich und räumlich in der Regel voneinander getrennt – gerade hier lassen sich interessante Ähnlichkeiten zwischen (Schrift-)Sprache und Bild herausarbeiten.16 Auch bei Scholz bleibt das Thema ‚Schrift‘ allerdings merkwürdig unterbelichtet, obwohl die Bezugnahme auf die geschriebene Sprache seine Argumentation eindeutig stützen würde und durch seinen Ansatz eigentlich auch nahegelegt wird. Dennoch wählt Scholz einen m. E. vielversprechenden Weg, indem er die wittgensteinsche Sprachspielkonzeption mit der Sprechhandlungstheorie und der goodmanschen Symboltheorie (vgl. Goodman 1998) verbindet. Auf dieser Basis entwickelt er eine pragmatisch orientierte Theorie des Bildverstehens.17 Auch liefert die Sprachspielkonzeption m. E. eine geeignete theoretische Basis ————— 16 Auch Sejas zweiter Einwand gegen Stöckl und Scholz läuft ins Leere: Sie ist der Auffassung, dass Sprechhandlungstheorie und Sprachspielkonzeption nicht zusammenpassten, da Sprachspiele dazu dienten, „Worten einen Sinn zu verleihen“, Sprechakte dagegen würden „mit bereits sinnvollen Ausdrücken vollzogen“ (71). Hier vermischt die Autorin ihre Interpretation der – in der Tat wenig hermeneutischen – Konzeption Searles mit der g e n e r e l l e n Frage nach der Tragfähigkeit des Sprechhandlungskonzeptes. Wie in Abschnitt 5.1 gezeigt wurde, kommt Austins Ansatz demjenigen Wittgensteins recht nahe. – Was spricht dagegen, Sprechhandlungen als einzelne Züge in Sprachspielen zu betrachten? Der Sinn der geäußerten Worte muss i m m e r verstanden und interpretiert werden, dabei ist auch die Frage zu beantworten, welche Sprechhandlung jeweils vollzogen wurde. Wäre die Sprechhandlungstheorie wirklich so starr und mechanisch, wie Seja sie darstellt, dann wäre systematisch kaum etwas mit ihr anzufangen. 17 Kritikwürdig ist auch, dass Seja die Neuauflage (2004) von Scholz’ Buch, in welcher diese Theorie viel ausführlicher entwickelt wird, nicht berücksichtigt.
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für die Analyse multimodaler bzw. multimedialer Artefakte (z. B. Werbespots18) – Stöckl würde von multimodalen ‚Texten‘ sprechen –, da in Wittgensteins Modell Sprache und andere Medien wie Bild und Musik von vornherein miteinander interagieren.19 5.3 Grammatiktheorie/Systemlinguistik Am wenigsten naheliegend ist vielleicht Wittgensteins Bedeutung für die Grammatiktheorie bzw. für die Systemlinguistik. Zwar verwendet er die Wörter Grammatik und grammatisch recht häufig, jedoch in einem ganz anderen Sinne als in der modernen Linguistik üblich. Er trennt nicht zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik: Wenn man die Grammatik eines Wortes ermitteln möchte, so muss man die Regeln seines tatsächlichen Gebrauchs möglichst genau beschreiben (vgl. u. a. PU 90, 199, 664). Den intrinsischen Zusammenhang von Syntax, Semantik und Pragmatik verdeutlicht Wittgenstein u. a. mit der Erfindung der „primitiven Sprache“ in PU 2 und PU 8, mittels derer ein „Bauender“ A und ein „Gehilfe“ B miteinander kommunizieren.20 Die Grundform dieser ‚Sprache‘ besteht nur aus den „Wörtern“ Würfel, Säule, Platte, Balken. Ruft A eines dieser „Wörter“, so bringt B „den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen“ (PU 2). Von Verständigung im engeren Sinne kann hier nicht die Rede sein, eher verhalten sich A und B wie Automaten (Stetter 1997:553), die nach einem einfachen Code funktionieren. Es handelt sich um ein kalkülartiges, abgeschlossenes System, um eine „vollständige primitive Sprache“, wie Wittgenstein es ausdrückt. ‚Vollständig‘ in dem Sinne, dass diese ‚Sprache‘ nur aus vier Signalen besteht, die ihren – wenn auch sehr begrenzten – Zweck erfüllen. Für Phantasie und auch für Irrtum ist hier kein Platz. Natürlich könnte B aufgrund einer technischen Fehlfunktion einen ‚falschen‘ Stein apportieren. Der ‚Sprecher‘ A dagegen könnte keine sprachlichen Fehler machen: Egal, welches der vier Signale er ausruft, B kann immer angemessen darauf reagieren. Dass hier nichts misslingen kann, hängt offenbar mit der Tatsache zusammen, dass diese Sprache keine Syntax hat. Dies ändert sich in PU 8, wo Wittgenstein die ‚primitive Sprache‘ um weitere Kategorien – er spricht auch von „Wortarten“ (PU 17) – erweitert. Neben den genannten vier ‚Benennungen‘ gibt es nun auch „Zahlwörter“ (a, b, c, …, z), ‚Zeigewörter‘ (dieses, dorthin) sowie eine ————— 18 Vgl. hierzu Schneider & Stöckl (2011). 19 Dies gilt sogar schon für die „primitive Sprache“, die Wittgenstein in PU 2 und PU 8 entwirft: Dort werden rudimentäre ‚Sprachzeichen‘ beim Kommunizieren mit „Farbmustern“ kombiniert. 20 Zum Folgenden vgl. die ausführlichere Darstellung in J. G. Schneider (2008:76ff.).
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Reihe von Farbmustern, sodass sich, anders als in PU 2, verschiedene syntaktische Kombinationsmöglichkeiten ergeben: z. B. d-Platte-dorthin bei gleichzeitigem Deuten auf eine Stelle des Bauplatzes und Hochhalten eines Farbmusters. (Die angemessene Reaktion des Gehilfen bestünde in diesem Beispielfall also darin, vier Platten des vorgezeigten Musters zu der besagten Stelle zu bringen.) Die fiktive „Sprache“ des Bauenden A und des Gehilfen B ist ein Beispiel dafür, wie Wittgenstein die „Erscheinungen der Sprache an primitiven Arten ihrer Verwendung“ studiert, um das Funktionieren unserer tatsächlichen, komplexen Sprache klarer sehen zu können (PU 5). Das Modell, welches Wittgenstein in PU 2 entwirft und in PU 8 erweitert, besagt im Hinblick auf moderne linguistische Grammatiktheorien vor allem Folgendes: Die Herausbildung formal-semantischer Kategorien 21 und die Entstehung einer Syntax sind zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs, zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zwar haben Linguisten Methoden entwickelt, von dieser Einheit zu abstrahieren, indem sie Syntax, Semantik und Pragmatik ex post voneinander isolieren und begrifflich auseinanderdividieren; faktisch jedoch wirken diese Aspekte in der Kommunikation immer zusammen. Faktisch gibt es keine autonomen syntaktischen Strukturen: Semantische Kategorien können sich nur in Differenz zueinander, d. h. im Rahmen einer Syntax herausbilden, und umgekehrt. Das Ganze immer eingebettet in kulturell eingespielte Handlungszusammenhänge. Darüber hinaus zeigt sich hier, dass die Herausbildung syntaktischer Kategorien offenbar mit der Möglichkeit einhergeht, sich semantisch zu irren, wobei Irrtum einfach besagt, dass auf bestimmte Ausdrücke – hier z. B. vielleicht auf den Ausdruck a-b – nicht angemessen reagiert werden kann und sie insofern misslingen, als sie nicht zum Spiel passen. Dies kann sich aber potentiell mit der Zeit ändern, die Regeln können im Gebrauch modifiziert werden (vgl. PU 17–19). Die Argumentation zur Einheit von Syntax, Semantik und Pragmatik lässt sich auch auf das Problem der privaten Sprache beziehen: Bei den „Wörtern“ Würfel, Säule, Platte, Balken in PU 2 handelt es sich nicht um ‚Benennungen‘, es handelt sich gar nicht um sprachliche Zeichen, sondern lediglich um Signale. Nach einer Benennung kann ein Kind nämlich erst dann sinnvoll fragen, wenn es sich bereits in einem differentiellen Sprachsystem bewegt; von ‚Benennungen‘ kann erst dann die Rede sein, wenn es andere semantische Kategorien gibt, von denen sie sich unterscheiden lassen (PU 30f.). ————— 21 Zum Begriff der formalen Semantik vgl. Tugendhat (1994:35ff.).
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Dieses Prinzip der Differenz verdeutlicht Wittgenstein auch an anderen Stellen der Philosophischen Untersuchungen (v. a. PU 20, 199) sowie im Braunen Buch (BrB:118) und im Big Typescript (BT:93). Die Grundfrage lautet hier: Was meinen wir, wenn wir sagen, dass das Wort ‚Platte‘ in unserer Sprache eine ganz andere Bedeutung hat als in Wittgensteins „primitiver Sprache“? – Im Unterschied zu A und B können wir das Wort in verschiedenste syntaktische Kontexte einbetten und dementsprechend Verschiedenstes damit tun und meinen. Im Braunen Buch findet sich hierzu folgende Variation der entsprechenden Ausführungen aus den Philosophischen Untersuchungen: Denken wir uns folgende Fragestellung: ‚Wenn jemand den Befehl gibt ‚Bring mir eine Platte!‘, muß er ihn als Satz von vier Wörtern meinen; kann er ihn nicht auch als e i n (langes, zusammengesetztes) Wort meinen, dem einen Worte ‚Platte!‘ entsprechend?‘ – Wir werden geneigt sein, zu antworten, daß er die v i e r W ö r t e r meint, wenn er ‚Bring mir eine Platte!‘ im Gegensatz zu andern Sätzen gebraucht, welche diese Wörter in andern Zusammenstellungen enthalten; wie etwa ‚Bring mir 2 Platten!‘, ‚Bring mir einen Würfel!‘, etc. etc. – Aber was heißt es, den einen Befehl im Gegensatz zu diesen andern gebrauchen? (BrB:118; vgl. PU 20)
Den Befehl „im Gegensatz zu diesen andern gebrauchen“ heißt – so Wittgenstein weiter –, dass in unserer Sprache „jene andern Kombinationen vorkommen“ (ebd.). 22 Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese anderen Kombinationen, diese anderen Syntagmen, uns bewusst sind oder „vorschweben“ (PU 20), sondern dass wir sie im Sinne eines Knowing-how beherrschen (PU 199) und daher in der Lage sind, einen Befehl wie Bring mir eine Platte! nicht nur als Befehl, sondern auch als Satz von vier Wörtern meinen und verstehen zu können.23 Das differentielle Zeichensystem Sprache eröffnet uns – so drückt es Ferdinand de Saussure in seinen erst 1995 entdeckten „Gartenhaus-Notizen“ aus – immer verschiedenste „Bedeutungsräume“ (2003:148), Spielräume des Gebrauchs, die gleichermaßen sozial und individuell sind, die sich permanent verändern und dennoch Spielräume bleiben. Ebenso wie der Saussure der Quellentexte (vgl. Jäger 2003 und 2010) betrachtet auch der späte Wittgenstein Zeichendifferenzen im Gebrauch – man kann bei beiden von einer Pragmatisierung des Differenz-Prinzips sprechen (vgl. Schneider 2008:148ff.). Folgt man heute als Sprachwissenschaftler diesem Gedanken, so hat es wenig Sinn, die ‚Systemlinguistik‘ starr von der ‚Pragmalinguistik‘ abzutren————— 22 Im Big Typescript heißt es dementsprechend: „Einen Satz verstehen heißt, eine Sprache verstehen. Jeder Satz einer Sprache hat nur Sinn im Gegensatz zu anderen Wortzusammenstellungen derselben Sprache“ (BT:93; vgl. PU 199). 23 Diese pragmatische Wendung des Gedankens, dass wir einen Satz als ‚aus Teilen bestehend‘ meinen können, verweist implizit auf das linguistische Problem syntagmatischer und paradigmatischer Relationen.
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nen: Die Grammatikschreibung und die Grammatiktheorie bedürfen einer pragmatischen Fundierung. Hier zeigt sich die große Nähe zwischen Wittgensteins Ansatz und den aktuellen Usage-Based Theories, die in der Spracherwerbsforschung und in der Grammatiktheorie zunehmend an Bedeutung gewinnen. So ist es kaum verwunderlich, dass Michael Tomasello, einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung, jedes Kapitel seines Buches Constructing a Language (2003) mit einem Wittgenstein-Zitat als Motto beginnen lässt. Ebenso wie Wittgenstein ist auch Tomasello der Auffassung, dass es keine semantisch leeren Sprachregeln gibt (2003:99) und dass syntaktische Muster sich stets im diskursiven Gebrauch einspielen müssen. Das Programm der Grammatikalisierungsforschung „Grammatik ist geronnener Gebrauch“ (Haspelmath 2002) hätte Wittgenstein so unterschrieben. Wie in Abschnitt 4 gezeigt wurde, führt die ‚Privatsprachen-Argumentation‘ auf geradem Weg zu einer performanz- und medialitätsorientierten Sprachwissenschaft. Aus dieser Perspektive betrachtet rückt die Medialitätsforschung, insbesondere die Forschung um Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ins Zentrum der ‚Systemlinguistik‘, denn nach Wittgenstein haben wir letztlich nichts anderes als unsere gesprochenen, geschriebenen und gebärdeten Performanzen. Eben weil Sprache ein Medium ist, hat sie auch notwendigerweise eine materielle Seite. Diese Materialität ist aber kein Mangel, sondern konstitutiv für unsere Sprach- und Kommunikationsfähigkeit. Dem gegenüber steht das metaphysische Postulat ‚medienneutraler Reinheit‘, welches von Wittgenstein immer wieder in Frage gestellt und kritisiert wird: Ist es, quasi, eine Verunreinigung des Sinnes, daß wir ihn in einer bestimmten Sprache, mit ihren Zufälligkeiten, ausdrücken, und nicht gleichsam körperlos und rein? (PG:108; vgl. auch PU 105–107)
In diesem Sinne kann sich gerade auch die aktuelle GesprocheneSprache-Forschung, die sich um genaue Transkriptionen und Beschreibungen tatsächlicher Performanzen bemüht und sich als eine Linguistik der „lebendigen Rede“ (Günthner 2003) versteht, theoretisch auf Wittgenstein berufen – und auch von ihm profitieren. Auers Idee der Online-Syntax (2000, 2005) steht im genauen Einklang mit Wittgensteins medialitätstheoretischem Grundsatz (PU 504) und konkretisiert diesen im Hinblick auf die gesprochene Sprache und ihre zeitliche Prozessierung. Syntaktische Projektionen in „Echtzeit“ führen an vielen Stellen zu andersartigen syntaktischen Konstruktionen als offline erzeugte schriftsprachliche Sätze. Aber auch eine Schrifttheorie, die die geschriebene Sprache als ein eigenständiges Medium begreift und nicht bloß als eine sekundäre Darstellung der gesprochenen Sprache, ist mit der Sprachspielkonzeption kompatibel: Sprachspiele können natürlich auch mit Schriftzeichen gespielt werden.
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6. Schlussbemerkung – Sprachkompetenz als Sprachspielkompetenz „Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.“ (PU 108)
Was Wittgenstein einer heutigen kommunikationsorientierten Linguistik vor allem geben kann, ist ein ‚holistischer‘ Blick auf unsere menschliche Sprache und unser menschliches Sprachvermögen. Sprachkompetenz lässt sich in seinem Sinne als Sprachspielkompetenz begreifen: Sie erschöpft sich nicht im Beherrschen syntaktischer Regeln, sondern ist – so ließe es sich vielleicht zusammenfassen – die menschliche Fähigkeit, (gesprochene, geschriebene oder gebärdete) sprachliche Ausdrücke in Differenz zueinander und in konkreten, mehr oder weniger regelgeleiteten kommunikativen Praktiken situationsangemessen verwenden zu können.24 Der späte Wittgenstein stand Theorieentwürfen bekanntlich äußerst reserviert gegenüber; er entwickelte einen Stil und eine Methode, die er selbst treffend als das Entwerfen von „Landschaftskizzen“ beschrieb, „die auf langen und verwickelten Fahrten entstanden sind“ (PU 232). Auf diesem Gebiet hat er es zu einer Meisterschaft gebracht, die einzigartig ist und die nachzuahmen ein hoffnungsloses Unterfangen wäre. Trotz Wittgensteins expliziter ‚Theorie‘-Abstinenz können Linguisten jedoch – so zumindest meine Auffassung – seine Theoriebausteine und Metaphern nutzen, um darauf eigene Theorien und empirische Forschungen aufzubauen. Wittgenstein ist ein wenig wie der Igel, der immer schon da ist, wenn der Hase wieder seine Runden gedreht hat. Was dieser Igel uns lehren kann, ist u. a. dies: Sprache ist nicht ‚eigentlich‘ System und wird dann ‚auch noch‘ gebraucht; Linguistik ist nicht eigentlich Systemlinguistik, und dann kommt auch noch etwas Pragmalinguistik hinzu. Vielmehr haben wir es de facto mit einer Einheit von Pragmatik, Semantik und Syntax zu tun. Die Beschreibung des Sprachzeichengebrauchs muss uns daher als Basis dienen – diese prinzipielle Performanzorientierung ist durch Wittgensteins Privatsprachenargumentation gut legitimiert und logisch begründet. Dennoch sind begriffliche und disziplinäre Unterscheidungen sinnvoll und für die empirische Forschung auch nötig. Ähnlich wie Wilhelm von Humboldt und ————— 24 In J. G. Schneider (2008:176–245) wird ein solches Modell entwickelt und dabei drei Aspekte von Sprachspielkompetenz unterschieden: Typenbildungskompetenz (als die Fähigkeit, medialitätsbezogene syntaktische Typen zu erzeugen), Projektionskompetenz (als die Fähigkeit, sprachliche Muster ad hoc auf Situationen abbilden zu können) und transkriptive Kompetenz (als die Fähigkeit, sich in und zwischen Medien bewegen zu können); vgl. auch die Kurzfassung in J. G. Schneider (2009).
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Ferdinand de Saussure erinnert uns Wittgenstein immer daran, dass wir bei unseren theoretischen und begrifflichen Bemühungen jedoch keinen Gegenstand Sprache in seine Teile zerlegen, sondern neue Aspekte an diesem übermächtigen Gesamtphänomen entdecken und beleuchten. 7. Literaturverzeichnis und verwendete Abkürzungen 7.1 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen BlB
Ludwig Wittgenstein: „Das Blaue Buch.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 5. Frankfurt/Main 1984. BrB Ludwig Wittgenstein: „Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch).“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 5. Frankfurt/Main 1984. BT Ludwig Wittgenstein: Ludwig Wittgenstein, Wiener Ausgabe. Bd. 11 The Big Typescript. Wien 2000. [Zitiert mit Angabe der Seitenzahlen des Original-Typoskripts (rechter Randapparat).] PG Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Grammatik.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 4. Frankfurt/Main 1984. PB Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Bemerkungen.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 2. Frankfurt/Main 1984. PU Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 1. Frankfurt/Main 1984. [Der erste Teil wird als PU mit Angabe der Abschnittsnummer (ohne Seitenzahl), der zweite Teil als PU II mit Angabe der Seitenzahl zitiert.] Tlp Ludwig Wittgenstein: „Tractatus logico-philosophicus.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 1. Frankfurt/Main 1984. [Der Tractatus wird, wie üblich, mit der Dezimalnummerierung zitiert.] TS 211 Ludwig Wittgenstein: Ludwig Wittgenstein, Wiener Ausgabe. Bd. 8/1 Typoskript 211. Wien 2000. WWK Friedrich Waismann u. Ludwig Wittgenstein: „Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche aufgezeichnet von Friedrich Waismann.“ In: Werkausgabe in 8 Bänden Bd. 3. Frankfurt/Main 1984.
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Texttypen, Kapitalien, soziale Felder Tom Karasek (Hannover) 1. 2. 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 4. 5.
Problemaufriss Begriffshintergründe und Definitionen Feldanalysen zu Textsorten und kommunikativen Gattungen Textsorten und kommunikative Gattungen im literarischen Feld Möglichkeit 1: Die Wahl der Gattung und die Position des Autors passen zusammen Möglichkeit 2: Aufwertung und Enteignung Möglichkeit 3: Um- und Abwertung Möglichkeit 4: „Usurpation“ und Dissidenz Textsorten und kommunikative Gattungen im journalistischen Feld Ein makroskopischer Blick auf das journalistische Feld Spezifika des journalistischen Feldes Die Basisdichotomie zwischen Nachricht und Meinung, Information und Unterhaltung Journalistische Texte als Wahl strategischer Möglichkeiten Journalistische Texte als orchestriertes intertextuelles Gebilde Journalistische Texte als Reproduktionsort gesellschaftlich dominierender Deutungsformen am Beispiel des Normalismus Erörterung, kritische Würdigung, weiterführende Überlegungen Literaturverzeichnis
1. Problemaufriss Textsorten werden üblicherweise anhand der Konfiguration von textinternen und textexternen Merkmalen klassifiziert. Als erster Ausgangspunkt könnte folgende Formel gelten, die Heinemann (2007:11) einleitend, das Feld der klassifikatorischen Problematik aufspannend, vorgestellt hat. Eine Textsorte (Ts) sei, in einem ersten klassifikatorischen Entwurf, eine Textklasse (Tk), d. h. eine Teilmenge von Texten aus der Menge aller Texte, mit einer Menge von Gemeinsamkeiten (G), oder, formal ausgedrückt: Ts ĺ (G) Tk. Das für die Definition einer Textsorte entscheidende gemeinsame „G“ könne nun im Wesentlichen durch grammatische, semantische, situative und kommunikative Eigenschaften bestimmt werden (ders.:12–25). Diese Darstellung findet sich in ähnlicher Form auch an anderer Stelle (vgl. Brinker 2005:144), wobei den pragmatisch-kommunikationsorientierten Merkmalen mehr Chancen eingeräumt werden, Textsorten zu definieren, als den sprachsystematischen. Die entscheidenden Merkmale
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seien die Textfunktion, der Textinhalt und die Kommunikationssituation, wobei die Textfunktion, ablesbar an der Dominanz und der Struktur von illokutionären Akten („Informieren“, „Appellieren“, „Deklarieren“ usw.) als leitendes Basiskriterium gilt. Auch in der Literaturwissenschaft, in der sich die Frage nach der Definition von Textsorten als Gattungsfrage stellt, werden Funktionen der Sprache zur Systematisierung von Gattungen genutzt (vgl. Müller-Deyes 1999:332). Diese Perspektive bezieht jedoch das Textsortenwissen der an der Textproduktion und -rezeption beteiligten Akteure wenig ein. Ein phänomenologischer Ansatz versucht dagegen je nach Textsorte diejenigen Merkmalsbündel zu rekonstruieren, die in der Perspektive der Beteiligten für diese Textsorte relevant sind. Sobald die Perspektiven der Beteiligten ins Spiel kommen, öffnet sich, wie im Folgenden deutlich werden wird, der Raum für zahlreiche Fragen, etwa: Nach welchen Prinzipien werden je nach Akteur bestimmte Merkmale in einem Text erwartet? Welche Konsequenzen hat das unterschiedlich verteilte Wissen über Textsorten und die für sie als konstitutiv angenommenen Merkmale? Welche Effekte lassen sich wiederum durch dieses ungleich verteilte Wissen erzielen? Kurz: Es stellt sich die Frage nach der objektiven Funktion des Sprachgebrauchs in einem (gesamt)gesellschaftlichen Kontext. An dieser Stelle soll nicht die artifizielle, im wissenschaftlichen Feld kultivierte Trennung zwischen einer subjektivistischen, phänomenologischen Sicht und einer von „außen“, d. h. von einer höheren „Warte“ blickenden objektiven, strukturalistischen Sicht reproduziert werden. Beide sind idealerweise in einer praxeologischen Sicht (vgl. dazu Saalmann 2009:196–199) zu verbinden, welche die realen Handlungen der Akteure an abstrahierte Strukturen rückbindet. Wie Bourdieu in einem Interview aus den 1980er Jahren ausdrückt, verfügt der „General“, der auf dem Hügel steht, über einen Blick für die objektiven Zusammenhänge, die seinem wortwörtlichen Standpunkt geschuldet sind. Somit sieht er Dinge, die dem „Soldaten im Getümmel“ (Bourdieu 1993:41) entgehen, dessen Perspektive wiederum genau so richtig ist. Die Verbindung der Perspektive des „Soldaten“ mit der Perspektive des „Generals“ wird auch im Folgenden betrieben.1 Ein faktengesättigter Text in einer Tageszeitung, der das Thema der Lohnhöhe im internationalen Vergleich behandelt, ließe sich mit Hilfe der eingangs vorgestellten Merkmale in den Grenzen der notwendigerweise mit einer Klassifikation einhergehenden analytischen Unschärfe recht eindeutig einer der (je nach gewähltem theoretischen Fokus mehr oder minder) zahlreichen Textsorten zuweisen, die im Alltagswissen von Akteuren verankert sind. Selbiges gilt für eine politische Rede, die mit ————— 1
Zur Frage der Dominanz einer dieser Perspektiven siehe der Abschnitt „Begriffshintergründe und Definitionen“.
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Appellen an die Wähler gespickt ist, in den nächsten Jahren angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage „Zumutungen“ zu ertragen. Das Beispiel der politischen Rede zeigt bereits die Grenzen eines Blickwinkels auf, der die Textsorte zu einem großen Teil über die Textfunktion und den darunter liegenden illokutionären Akten bestimmt. Zwischen tatsächlicher, realisierter und intendierter Textfunktion können (u. U. bewusst kalkulierte) Differenzen liegen. Beide dieser Seiten sind analytisch unscharf. Das bekannte Problem indirekter illokutionärer Akte, für deren Funktionieren bereits in der oralen Kommunikation kaum befriedigende theoretische Angebote vorliegen, führt vor, dass die Intention, die hinter einem Sprechakt steht, auch dann verstanden wird, wenn die notwendigen Illokutionsindikatoren nicht präsent sind. Hierfür werden komplexe Schlussprozesse angenommen, mit denen die Intention des Sprechers rekonstruiert wird. Das gleiche Phänomen ist auch in der Erforschung massenmedialer Kommunikation bekannt: Konstative Sprache, mit der vermeintlich bloß das „Faktische“ dargestellt wird, kann performativ in einem ganz anderen Sinne, z. B. hortativ oder persuasiv eingesetzt werden: „This form of report is what we might call ‘hortatory report’: descriptions with a covert prescriptive intent, aimed at getting people to act in certain ways on the basis of representations of what is“ (Fairclough 2003:96). Der Appell, Zumutungen zu ertragen, ließe sich so, möglicherweise gar mit besserer Erfolgsaussicht, auch im nüchternen Faktenbericht unterbringen, der keinerlei appellativen Elemente enthält.2 Neben der Tatsache, dass damit das problematische Gebiet der (bewussten oder unbewussten) Täuschung und der Manipulation betreten wird, verweist dieses klassifikatorische Dilemma auf die grundsätzliche Frage, welche objektive Funktion Sprache und Sprachgebrauch in einer gesellschaftlichen und kulturellen Ordnung haben, wenn man sich folgende Bedingungen vor Augen führt: In jeder Gesellschaft verfügen Akteure über ungleich verteilte Handlungschancen, und sie bewegen sich immer in Kontexten und Situationen, die von Machtasymmetrien und institutionellen Zwängen geprägt sind. Situations- und diskursadäquate Kommunikation setzt notwendigerweise kommunikative Fähigkeiten voraus, die wiederum, ————— 2
Klein (2007:38f.) schlägt vor, für die Lösung dieser Problematik den „Indem-Operator“ einzusetzen. Für das o. g. Beispiel ließe sich somit feststellen: Ein Text FORDERT AUF, etwas zu tun oder zu unterlassen, indem er über Sachverhalte BERICHTET. Damit wird das Problem aber lediglich verschoben. Der Mechanismus, mit dem aus einem Bericht eine indirekte Aufforderung werden kann, bleibt damit immer noch unklar, ebenso die Frage, weshalb sich bestimmte Faktenkombinationen offenbar dazu eignen (oder als geeignet angesehen werden), Menschen zum Handeln oder Unterlassen zu animieren, andere dagegen nicht, und welchen Status diese Fakten im Gefüge aller gesellschaftlich bekannten Fakten besitzen.
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etwa in Form des Repertoire- und des Textsortenwissens, aber auch in Form eines ungleich verteilten Wissens über die Regeln von Spezialdiskursen, ungleich verteilt sind. Welches Repertoire wann und wie eingesetzt werden kann und muss, ist von diesen Bedingungen abhängig und ist Produkt einer historischen Entwicklung. Auch das Repertoire selbst und dessen linguistisch erfassbare Beschaffenheit lässt sich als Produkt einer langwierigen und konfliktbehafteten historischen „Stabilisierung“ (vgl. Freedman 1994) bzw. als vorläufiger „Endzustand“ eines Kampfes auffassen, wobei in den kommunikativen Mustern und Institutionen die Widersprüche und Konflikte, unter denen sie entstanden sind, nicht aufgelöst sind, sondern – auf Zeit mehr oder weniger stabilisiert – weiter bestehen bleiben. Diese objektive Sicht auf Sprache und Sprachgebrauch kennt viele theoretische Fundierungen und wortführende Protagonisten. Reinhart Koselleck brachte sie auf die griffige Formel Indikator und Faktor: „Sprache ist sowohl rezeptiv wie produktiv, sie registriert und sie ist zugleich ein Faktor der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Wissens“ (vgl. Koselleck 2006:62). Wunderlich (1976:57) wies etwa darauf hin, dass Sprechakte über eine objektive Seite verfügen, indem sie Konsequenzen für die (sprachlich) handelnden Akteure nach sich ziehen, die von den institutionellen Kontexten abhängen, in denen diese Handlungen stattfinden. Bezogen auf orale Kommunikation ist der Zusammenhang zwischen sprachlichen Handlungen und den darauf folgenden Konsequenzen deutlich auszumachen: Ein Marschbefehl setzt reale Soldaten in Bewegung, und kommunikatives Versagen, etwa aufgrund mangelnden Repertoire- und Textsortenwissens, kann in „Schlüsselsituationen“ (Goffman), etwa während eines Bewerbungsgesprächs oder einer öffentlichen Rede, gar lebenslange Konsequenzen nach sich ziehen. Auch bestimmte Textsorten, etwa Verträge und Gesetze, ziehen direkte Folgen nach sich, und ein Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs kann schließlich zum temporären oder dauerhaften Ausschluss aus der scientific community führen, wenn er den für diesen Diskurs gültigen Erwartungen an die sprachlichen Mittel, Zwecke, Handlungsstrukturen und Themen widerspricht. Insbesondere Studierende aus bildungsfernen Schichten müssen mitunter „schmerzhaft“ lernen, das theoretisch freie Ausdrucksrecht an der Universität bzw. in der Wissenschaft zu bremsen (vgl. Gruber et al. 2006) – ein Schmerz, der mitunter doppelt wiegt, wenn die Hochschule zuvor als idealisierter „Hort des herrschaftsfreien Diskurses“ gesehen wurde. Vor allem das letzte Beispiel verweist jedoch auf ein Problem: Je „opaker“ der Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und sozialen Folgen ist, desto undurchsichtiger wird aus linguistischer Sicht auch der Mechanismus, der diesen Zusammenhang hervorbringt. Der Zusam-
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menhang zwischen einem politischen Flugblatt (sprachliche Handlung) und einer in Folge stattfindenden Demonstration (soziale Folge) ließe sich, unter Ausblendung aller analytischen Schwierigkeiten, die man sich mit dieser simplen Gegenüberstellung einhandelt, noch nachvollziehen, indem man annimmt, dass der Text seine anhand der typischen Merkmale ablesbare Appell- und Kontaktfunktion erfolgreich (aus welchem Grund auch immer) realisieren konnte.3 In anderen Fällen lässt sich der Zusammenhang zwischen sprachlicher Handlung und sozialen Folgen linguistisch nicht sinnvoll erklären: Kontrafaktisch zu den Thesen Kuhns, Feyerabends oder Flecks, welche die mannigfaltigen institutionellen und strukturellen Zwänge der Wissensproduktion in den Vordergrund gestellt haben, lässt sich wissenschaftliche Arbeit im Idealfall als Suche nach Wahrheit auffassen. Der wissenschaftliche Diskurs wäre mehr oder minder ein herrschaftsfreier, und ein gültiger Beitrag müsste nur den Kriterien intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und Falsifizierbarkeit genügen. Die Realität ist jedoch eine andere. Im günstigsten Fall muss ein Beitrag, der diesen idealisierten Kriterien genügen würde, lediglich nachbearbeitet werden (etwa um die Wortwahl zu glätten, bestimmten Institutionen, Personen oder „Großtheorien“ Rechnung zu tragen usw.). Im ungünstigsten Fall scheiden sie vollständig aus oder werden – analog etwa zur „Selbstzensur“ im journalistischen Feld – gar nicht erst produziert. Zwar kennt der wissenschaftliche Diskurs zahlreiche Institutionen, die direkt oder mittelbar einen „Zensureffekt“ wie den o. g. ausüben können (Drittmittelgeber, Hochschulpolitik, nichtstaatliche Akteure und Institutionen), doch selbst die Fälle, in denen sich die sprachliche Praxis an den Erwartungen dieser Akteure und Institutionen ausrichtet, geschieht dies in der Regel nicht auf deren direkte Anordnung hin – und dies gilt auch für die meisten anderen Felder der (sprachlichen) Praxis. Es wäre somit die Frage zu stellen, wie sich der Zusammenhang zwischen sprachlichen Handlungen und ggf. „globalen“ sozialen Folgen sinnvoll begründen lässt, der z. B. auch innerhalb der (kritischen) Diskursanalyse einen entscheidenden analytischen Pfeiler darstellt, ohne auf potenziell fragwürdige (massen)psychologische Konzepte („Betrug“, „Manipulation“) zurückzugreifen oder auf abstrakte Machtasymmetrien zu verweisen (deren Existenz hier nicht bestritten wird, die ————— 3
Mit Blick auf die folgenden Abschnitte muss korrekterweise hinzugefügt werden, dass dies nicht nur auf „opake“ Zusammenhänge zutrifft. Das, was den Soldaten nach einem Marschbefehl marschieren lässt, kann nicht als illokutionäre Kraft in den Begriffen, sondern nur in den Akteuren, den Institutionen und dem aufgespannten Beziehungsgeflecht gefunden werden. Selbiges gilt für den Zwang, in Bewerbungsgesprächen oder im wissenschaftlichen Diskurs Elemente der richtigen kommunikativen Repertoires zu aktivieren.
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jedoch konkretisiert werden müssen). Einen lohnenswerten Ausgangspunkt stellt die Sprachtheorie Pierre Bourdieus dar, die aufgrund der „praxeologischen“ Sicht objektive und subjektive Perspektiven miteinander verbindet. Deren Instrumentarium wird in Folge an zwei miteinander verschränkten Teilfeldern des kulturellen Feldes dazu eingesetzt, um herauszuarbeiten, welche Relevanz Textsorten und/oder sprachliche Gattungen innerhalb der dort stattfindenden kommunikativen Praxisformen für die jeweiligen Akteure besitzen, d. h. welche Handlungsmöglichkeiten sie eröffnen/verschließen und welche Rolle sie bei den dort stattfindenden Kämpfen und der Definition der Felder selbst spielen. Es handelt sich hierbei um das Feld des Journalismus und das Feld der Literatur, wo die Frage nach Textsorten in Fragen zur Definition literarischer Gattungen überführt werden kann. 2. Begriffshintergründe und Definitionen Die mittlerweile „klassischen“ Kategorien wie „Feld“, „Habitus“ oder „Kapital“ stellen zum einen geeignete Scharnierbegriffe dar, mit denen sich (sprachliche) Praxis auf sozialstrukturelle Bedingungen zurückführen lassen. Zum anderen fasst Bourdieus Sprachtheorie – geschuldet der Position Bourdieus zwischen der geistigen Tradition der (nun mittlerweile „klassischen“) Moderne und einem Relativismus, der häufig als Postmoderne etikettiert wird (vgl. Schwingel 2000:145) und nach den „Regeln des Diskurses“ fragt – Sprache und ihren Gebrauch als zentrales Element einer symbolischen (und damit mittelbar: realen, d. h. sozialen) Ordnung auf. Sprachliche Handlungen mit objektiven Folgen sind demnach nicht nur die bereits erwähnten Marschbefehle oder, auf Textsorten übertragen, Verträge und Gesetze, vielmehr konstruieren alle sprachlichen Handlungen sämtlicher Akteure ein symbolisches Universum, einen mit dem sozialen Raum verbundenen symbolischen Raum, den die meisten Akteure aufgrund ihrer eigenen Position in beiden dieser Räume, wenige diskursmächtige Persönlichkeiten und Institutionen ausgenommen, kaum kontrollieren können: Die kommunikativen Praxisformen, die Sprechern und/oder Schreibern zur Verfügung stehen, die Themen, derer sie sich annehmen können, das Repertoire, das sie dazu verwenden können – all diese Aspekte sind Teil eines historisch entstandenen und umkämpften Beziehungsgeflechts und einer aus diesem Geflecht hervorgegangenen Konjunktur. Auf das journalistische Feld bezogen wäre die Frage zu stellen: Was ist ein „Bericht“ z. B. in einer Tageszeitung? Was kann „berichtsfähig“ werden, was nicht? Welche sprachlichen Mittel sind dabei erlaubt, welche nicht? Welche Strategien können/müssen Akteure – basierend auf ihrer eige-
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nen Position innerhalb des sozialen und symbolischen Raumes – verfolgen und welche Konsequenzen hat der „Verstoß“ gegen implizite und explizite Regeln? In welchen größeren gesellschaftstheoretischen Zusammenhang kann man diese Praktiken und ihre historische Entwicklung stellen? Obgleich an dieser Stelle angenommen wird, dass einzelne Akteure realiter wenig direkten Einfluss auf die Gesetzmäßigkeiten dieses symbolischen Universums verfügen, so werden sie dennoch nicht als „Opfer“ objektiv gegebener Strukturen wahrgenommen, die sie in ihrem Sprachhandeln mit minimalem Spielraum bloß „marionettenhaft“ ausfüllen können. Denn da die symbolischen Systeme die soziale Welt konstituieren, also nicht bloß ein Abbild derselben sind, sind die performativen Sinnvollzüge der Beteiligten ursächlich für die Produktion der sozialen Welt. Diese Sinnvollzüge sind habituell gefiltert und unterliegen häufig, je nach Kommunikationssituation, objektiven Zwängen, stellen jedoch den Ursprung für soziale Veränderungen dar. Analytisch fassbar werden sie dort, wo die überkommenen symbolischen Strukturen unterlaufen werden, was im Gegenzug zur Modifikation der gegebenen „Regeln“ führen kann. Der Begriff der Konjunktur verweist an dieser Stelle bereits auf die im Folgenden genutzte These, den „Ort“ des sprachlichen Geschehens als Markt zu betrachten (mit allen typischen Eigenschaften, die Märkte auszeichnen, d. h. unterschiedliche Zugangsbedingungen, unterschiedliche „Preise“ usw.). Erst auf dem sprachlichen Markt, wo soziales Sprachhandeln „getauscht“ wird, erfahren orale oder schriftliche Äußerungen ihren Sinn und Wert, indem sie in Relation zu anderen Äußerungen gesetzt werden. Sprachliche Handlungen müssen somit, wollen sie erfolgreich sein, auf die historisch gewachsenen, machtbasierten Bedingungen zugeschnitten werden, die auf dem sprachlichen Markt vorherrschen. Sie müssen an den Reaktionen der Empfänger ausgerichtet sein – „man akzeptiert, sich akzeptabel zu machen“ (Bourdieu 1990:57). Nicht alle Akteure verfügen über die gleichen Bedingungen, um am sprachlichen Markt teilzunehmen. Diese Asymmetrie bezieht sich nicht nur darauf, wie Bourdieu häufig in kritischer Absicht entgegnet wurde (siehe Abschnitt 4), dass zwischen einer „legitimen“ und „illegitimen“ Verwendung von Sprache unterschieden wird (d. h. letztendlich etwa zwischen „hohem“ und „niedrigem“ Stil), sondern (grundlegender) darauf, dass auf dem sprachlichen Markt Bezeichnungen für das damit Bezeichnete durchgesetzt werden, die von Akteuren für die Beschreibung der Welt habitualisiert werden. In der Schaffung von Bezeichnungen und Deutungsformen liegt die Macht, Dinge zu schaffen, die von Akteuren auf eine bestimmte Art und Weise gesehen werden.
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3. Feldanalysen zu Textsorten und kommunikativen Gattungen 3.1 Textsorten und kommunikative Gattungen im literarischen Feld Bourdieu konzeptualisierte das literarische Feld zum einen als „Feld von Kräften, die sich auf all jene, die in es eintreten, und in unterschiedlicher Weise gemäß der von ihnen besetzten Stellen auswirken“, zum anderen als „ein Feld der Konkurrenzkämpfe, die nach Veränderung oder Bewahrung dieses Kräftefeldes streben“ (Bourdieu 1997:34). Literarisch tätig zu werden bedeutet, sich als Autor zu erkennen zu geben und eine Position einzunehmen, d. h. sich selbst einen Platz zu geben und (indirekt) andere auf ihre Plätze zu verweisen. Diese Positionierung vollzieht sich vor dem Hintergrund des sprachlichen Habitus des Autors und den „strategischen Möglichkeiten“ (Michel Foucault), die sich dem Autor zum gegebenen Zeitpunkt im literarischen Feld eröffnen. Als vieldimensionales Koordinatensystem entscheiden im literarischen Feld zahlreiche interdependente Merkmale über die Position einer literarischen Äußerung, allen voran die vertikalen Strukturprinzipien, die Wahl der sprachlichen Mittel aus dem gesamten zur Verfügung stehenden, hierarchisch gegliederten sprachlichen Universum sowie die Relation zu Rezipienten, anderen Feldteilnehmern und der von ihnen getroffenen Auswahl. Eine dieser Wahlmöglichkeiten betrifft die Wahl der literarischen Gattung aus dem Raum aller zur Verfügung stehenden Gattungen. Synchrone Position und diachrone Entwicklung von Feldteilnehmern, Rezipienten und Gattungen sowie die dadurch ausgedrückten Relationen zu anderen Feldelementen spannen allein für die Wahl der Gattung durch einen Akteur ein dichtes Beziehungsnetz auf, das es erlaubt, typische Phänomene und Kämpfe im literarischen Feld zu beschreiben.4 Literarische Gattungen sind hierarchisch: Nicht jede Gattung ist in der zu einem Zeitpunkt gültigen Logik des Feldes im Ansehen der Rezi————— 4
Im Folgenden werden literarische Gattungen nicht-essentialistisch verstanden, in dem Sinne, dass es keine feste Zugehörigkeit eines Textes zu einer literarischen Gattung gibt, die sich an der Konfiguration sprachlicher Merkmale ablesen ließe. Ob ein Text zu einer Gattung gehört und wie eine Gattung definiert wird ist historisch variabel und Teil der feldinternen Definitionskämpfe, die mit jedem Vertreter, der als Teil einer Gattung wahrgenommen oder als solcher bezeichnet wird, ausgefochten wird. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht können Gattungen, die als Bündel gleicher oder ähnlicher sprachlicher Merkmale aufgefasst werden, im Wesentlichen nur dazu genutzt werden, die Vielfalt der Texte zwecks wissenschaftlich-systematischer Beschäftigung zu klassifizieren. Für die Rezipienten sind Gattungen wiederum mit (aus der Geschichte der feldinternen Kämpfe hervorgegangenen) Konventionen und Erwartungen verbunden, die ein (vermeintlicher/realer) Vertreter einer Gattung erfüllen oder durchkreuzen kann. Im Bereich der Literatur ist dieser Klassifizierungsprozess weitgehend abgeschlossen, anders als im Bereich der alltäglichen „Gebrauchstexte“.
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pienten und auch in der Gunst der (wenigen) literarischen Institutionen, die konsekrationsfähig sind, gleich viel wert. Der Wert einer Gattung lässt sich nicht essentialistisch erklären. Er hängt nicht von deren konkreten sprachlichen Eigenschaften („Komplexität“, „hoher Stil“ usw.) ab, sondern von den zu einem Zeitpunkt gültigen dominanten Beurteilungskategorien für sprachliche Äußerungen, der Position des Akteurs oder der Institution, die sprachliche Äußerungen klassifiziert und den Rezipienten, auf die eine Äußerung bezogen ist. Im Zuge der Entwicklung des literarischen Feldes hat sich daraus als dominante Feldregel eine „umgekehrte Ökonomie“ herausgebildet, die sich als Strukturprinzip auf alle Handlungen der Akteure des Feldes legt, und die im Wesentlichen besagt: Wer ökonomisch „verliert“, der „gewinnt“ in der Logik des Feldes.5 Eine in der Feldlogik künstlerisch „wertvolle“, aber ökonomisch notorisch erfolglose Gattung dürfte etwa – ohne Anspruch auf empirische Verifikation – die Lyrik sein. Einen weiteren maßgeblichen Anteil an der Position einer Gattung im Raum aller literarischen Gattungen hat auch die Position der dominanten Produzenten dieser Gattung. Der Wert von Gattungen unterliegt zudem diachron betrachtet einem permanenten Auf- und Abwertungsprozess, der durch die Praktiken aller Akteure und die damit zusammenhängenden Attraktions- und Repulsionseffekte bei der Wahl oder Ablehnung von Gattungen entsteht. Makroskopisch betrachtet sind Gattungen ein historisch variabler Gegenstand. Ihre Beschaffenheit und ihr feldinterner Positionswert ist synchron betrachtet der vorläufige Endpunkt einer diachronen Entwicklung, an der alle Teilnehmer des literarischen Feldes mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Kräften gemäß ihrer strategischen Interessen mitgewirkt haben. Transformationen von Gattungen vollziehen sich zum einen auf jede einzelne Gattung bezogen, zum anderen bezogen auf das Ensemble aller existierenden Gattungen, wobei sich der Wandel dadurch vollzieht, dass eine Gattung an die Stelle einer ————— 5
Diese Logik, die das Erlesene, Seltene, nicht für die „Massen“ bestimmte, nicht unmittelbar Zweckmäßige („l’art pour l’art“) in den Vordergrund stellt, lässt sich als dominantes Distinktionsmerkmal auf allen Handlungsfeldern wiederfinden, die für den Lebensstil von Akteuren konstitutiv sind und sie einem bestimmten Milieu zuordnen. Dass diese Formel für die wenigen Konsekrationsinstanzen im literarischen Feld nach wie vor gilt, zeigt die Vergabepraxis des Nobelpreises für Literatur, des wohl bekanntesten Preises für Literatur überhaupt. Dieser Preis „belohnt“ niemals das massenhaft ökonomisch erfolgreiche (was jedoch nicht ausschließt, dass Nobelpreisträger-Literatur nach Vergabe des Preises massenhaft erfolgreich wird, dann nämlich, wenn eine Leserschaft, die aus habitueller „Beflissenheit“ auf Preisträger-Literatur abonniert ist, Werke für sich entdeckt, die ohne diese Auszeichnung nicht in Betracht gezogen worden wären). Als „Gütesiegel“ für „Literatur schlechthin“ führt dieser Preis die Kategorien vor, mit denen feldintern legitime und illegitime Literatur definiert wird, festigt so das dominante „Hochkulturschema“, das den „lesenden Massen“ überdeutlich vor Augen führt, dass „ihre“ Literatur eigentlich gar keine „richtige“ ist.
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anderen tritt (d. h. feldlogisch gesprochen: auf-, ab- oder umgewertet wird), neu entsteht (gänzlich oder durch Hybridisierung mehrerer Gattungen) oder verschwindet (etwa wenn die tragenden Rezipientenkreise und Institutionen verschwinden oder sich Gattungen aufgrund ihrer starren Regeln nicht den veränderten Bedingungen anpassen können; vgl. Wenzel 2001:205f.). Transformationen von Gattungen sind einerseits ein Beispiel für die Brechungsleistung des literarischen Feldes, das äußerliche Effekte nicht direkt in das Feld eindringen lässt, sondern in die dort herrschende Logik überführt. Die Art und Weise, wie viel Widerstand das literarische Feld äußeren Einflüssen bietet, verdeutlicht dabei den Autonomiegrad des Feldes. Das literarische Feld der Gegenwart verfügt über eine hohe (historisch erkämpfte) Autonomie, so dass tief greifende, strukturelle Veränderungen des literarischen Feldes sich nur langsam und im Zuge gesamtgesellschaftlicher Umwälzungen vollziehen. Die Transformation von Gattungen verdeutlicht andererseits auch die feldinternen Kämpfe, die um Gattungen geführt werden: Welcher Text Teil einer Gattung ist, was die Merkmale sind, durch die eine Gattung konstituiert wird, wird in der Praxis der Akteure im Feld permanent neu ausgefochten und strukturiert die Wahl für oder gegen eine Gattung, die schließlich für den Erfolg innerhalb des Feldes und für die Positionierung am ökonomischen oder künstlerischen „Pol“ relevant ist. Die Wahl der Gattung eröffnet damit ein Feld der Möglichkeiten und Grenzen und ist somit unmittelbar handlungsanleitend. Welche Möglichkeiten und Grenzen bei der Wahl der Gattung gegeben sind, hängt vom allgemeinen Stand der Kämpfe innerhalb des Feldes ab, der Position und historischen Entwicklung der angestrebten Gattung und der Position und historischen Entwicklung des Autors, der sich einer Gattung „annehmen“ will. Grenzen ergeben sich für Autoren dadurch, dass bestimmte Gattungen de facto oder (seltener) de jure bestimmten Akteuren vorbehalten sind und die Wahl für eine dieser Gattungen nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich die feldinternen Verhältnisse bereits im Umbruch befinden. Dies markiert auch das breite Spektrum der Möglichkeiten, die sich Autoren durch die Wahl einer Gattung bieten. Bedenkt man diese Bedingungen, so lassen sich folgende, miteinander verknüpfte Relationen zwischen Autoren und der gewählten Gattung feststellen. Die Hinwendung zu einer Gattung bleibt nie ohne Folgen für deren konstitutiven Merkmale (wobei es vom Spiel der Relationen und den gattungsspezifischen Regeln abhängt, ob eine Gattung dies zulässt). Alle im Folgenden genannten Bewegungen schließen automatisch z. B. die Inkorporierung neuer Themen und Stile mit ein, die wiederum, wie die Gattung selbst, hierarchisch gegliedert sind und Auf- und Abwertungsprozessen unterliegen.
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3.1.1 Möglichkeit 1: Die Wahl der Gattung und die Position des Autors passen zusammen In diesem Fall wählt ein Autor eine Gattung aus, die für ihn „bestimmt“ ist, er verhält sich „standesgemäß“. Dies sagt noch nichts über das Prestige der gewählten Gattung aus – Gattungen können allein oder gemeinsam mit ihren Vertretern „herabgesunken“ sein, die Wahl für diese Gattung bleibt dann nach wie vor „standesgemäß“. Ein Beispiel für eine „standesgemäße“ Wahl der Gattung stellen etwa Autobiographien wichtiger Persönlichkeiten, Gattungsexperimente etablierter Autoren (etwa wenn Romanciers sich erstmals am Drama oder der Lyrik versuchen) oder aber auch Liebesromane und Groschenhefte dar, die in der Regel von Autoren verfasst werden, die selbst aus den Milieus stammen, auf die diese Gattungen bezogen sind. 3.1.2 Möglichkeit 2: Aufwertung und Enteignung Bei der Aufwertung besteht ein „Missverhältnis“ zwischen der Position des Autors und der gewählten Gattung. Nimmt sich ein etablierter Autor einer ehemals untergeordneten Gattung an, kann diese „geadelt“ werden und dadurch an Legitimität gewinnen. Wie erfolgreich ein Autor mit dieser Aufwertung sein kann, hängt vom allgemeinen Zustand des Feldes und seiner eigenen Position darin ab. Zwar genießen etablierte Autoren die Freiheit, sich nahezu jeder Gattung, auch der banalsten, mehr oder minder sanktionsfrei annehmen zu können, gleichzeitig sind sie dennoch Teil eines komplexen Spiels, dessen Regeln auch sie nicht überdehnen dürfen. Die Aufwertung kann wiederum die Attraktivität einer Gattung für andere Feldteilnehmer erhöhen, die entweder bereits etabliert sind oder „nach oben“ streben und sich dieser aufgewerteten Gattung bedienen. Gleichzeitig kann dieser Prozess letztendlich dazu führen, dass die vormals typischen Produzenten dieser Gattung „enteignet“ werden. So ist etwa der Liebesroman eigentlich eine der feldintern am wenigsten geschätzten Gattungen, die jedoch allein durch die Position des Autors „aufgewertet“ werden kann. Geschieht dies gleichzeitig durch die Wahl anderer sprachlicher Mittel, verfügt die bewertende Literaturkritik über ein reales Substrat für diese Beurteilung, andernfalls gelingt es ihr, das sonst als Stigma vergebene Urteil der „Leichtigkeit“ und „Beschwingtheit“ als Auszeichnung zu vergeben.6
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Dieser Mechanismus wurde von Dörner & Vogt (1994:204–211) jenseits von Gattungsfragen am Beispiel Johannes Mario Simmels expliziert, dessen Texte im Laufe der Entwicklung der feldinternen Struktur mal als Trivialkunst, mal als tiefsinnige Hochkultur bewertet wurden.
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3.1.3 Möglichkeit 3: Um- und Abwertung Literarische Gattungen können durch die zu zahlreiche Wahl, durch die begleitende Beurteilung der Literaturkritik und durch den permanenten Wandel des Feldes um- und abgewertet werden, insbesondere wenn es sich um die „falschen“, d. h. nicht legitimierten Akteure und beurteilenden Institutionen handelt. Um- und Abwertungen entstehen zunächst allein durch die permanente strukturelle Veränderung des Feldes – jedes Werk und jede daran gebundene Leserschaft „altert“ und erhält im Zuge der Verdrängungen innerhalb des Feldes eine andere Position. Ein Positionswechsel kann zudem auch Folge einer gezielten feldinternen „Usurpation“ junger Feldteilnehmer sein (siehe nächster Abschnitt) oder durch feldökonomische Interessen motiviert sein (dann etwa, wenn Autoren gezielt auf die Gattungen setzen, die gegenwärtig feldinterne Profite in Form von Geld oder literarischer Anerkennung versprechen). So ist es durchaus möglich, dass zukünftig etwa die Gattung des „postmodernen Romans“, der seinen feldinternen Wert seiner Randständigkeit und der Existenz einer gebildeten Leserschaft verdankt, durch zunehmende Verbreitung, die wiederum durch gesamtgesellschaftliche Phänomene wie die Bildungsexpansion und den Anstieg akademisch ausgebildeter Leserschichten beschleunigt wird, insgesamt an Wert verliert oder näher zum ökonomischen Pol des Feldes rückt. Im Gegenzug kann etwa „realistisches Erzählen“ wieder an Wert gewinnen. Bildlich gesprochen: Sobald zu viele „Anleger“ einen Teilbereich eines sprachlichen Marktes betreten, sinken dort für alle die „Erlöse“, und es werden andere, vormals verlassene Märkte attraktiver. Die Wahl einer Gattung, die dieser Abwertung unterliegt, führt zugleich die Allodoxia nicht-etablierter, neuer Feldteilnehmer vor, die, im Glauben, durch die Wahl einer Gattung auch die bisher damit verbundene Position im Gesamtgefüge zu erreichen, „auf das falsche Pferd setzen“ – wenn die Mehrzahl der Autoren „postmodern“ erzählt, fallen keine Profite durch Exklusivität ab. Diese Entwicklung markiert zugleich den Punkt, wo neue Avantgarde-Bewegungen entstehen, die sich entweder ein anderes Betätigungsfeld suchen, in diesem Beispiel etwa zum „realistischen Erzählen“ zurückkehren und sich auf „Klarheit“ und den Verzicht auf „Zurschaustellung von Bildung“ besinnen könnten, oder zu den ursprünglichen „Wurzeln“ der Avantgarde zurückkehren und das in die Tat umsetzen, was die alte Avantgarde (vermeintlich) mal ausgezeichnet habe und nur durch Vermassung verloren wurde – „[…] die literarische oder künstlerische Häresie findet gegen die Orthodoxie statt, aber zugleich auch mit ihr: im Namen dessen, was diese einst war“ (Bourdieu 1999:405).
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3.1.4 Möglichkeit 4: „Usurpation“ und Dissidenz Obgleich das literarische Feld keine zentralen Sanktionsinstanzen besitzt, ist das „Usurpieren“ von Gattungen für nicht-etablierte Autoren eine riskante Unternehmung. Der Versuch, sich als neuer oder hierarchisch tief stehender Feldteilnehmer einer etablierten Gattung zu bemächtigen, ist nur dann erfolgreich, wenn die Regeln und Strukturen des literarischen Feldes sich im Umbruch befinden und/oder externe gesellschaftliche Veränderungen in das Feld „gebrochen“ werden, d. h. wenn die Positionen, welche durch diese Taktik angestrebt werden, virtuell bereits existieren, aber noch nicht ausgefüllt sind. Das Usurpieren von Gattungen stellt generell eine der wichtigsten Strategien dar, mit denen neue Feldteilnehmer sich zu etablieren versuchen und ist, siehe oben, ggf. Teil einer neuen Avantgarde-Bewegung, die (explizit oder implizit) mit dem Anspruch antritt, eine Gattung wieder zu ihrem „reinen“ Ursprung zurückzuführen, sie zu modernisieren, „gegen den Strich“ zu interpretieren oder ihre impliziten und expliziten Konventionen bewusst zu ignorieren. Dies erklärt etwa den Erfolg junger, autobiographisch geprägter Erinnerungsliteratur wie Generation Golf und anderer „Generationen-Literatur“ im schmalen Zeitfenster zur Hochzeit der New Economy (zumindest in Deutschland), obwohl die Gattung „Autobiographie“ üblicherweise älteren, „verdienten“ Feldteilnehmern vorbehalten ist: Feldexterne Effekte, schlagwortartig zusammengefasst mit der „Berliner Republik“, dem „dritten Weg“ oder der „new economy“, führten zur Neuausrichtung leitender Diskurse und (dadurch) zu Verschiebungen in den wichtigsten Institutionen des literarischen Feldes (Feuilleton, Literaturkritik). Gemeinsam mit dem Rückgriff auf einen feldintern ohnehin hoch im Kurs stehenden dissidenten Gestus, der die Dissidenz der Popliteratur der 1960er Jahre aufgriff und transformierte, gelang es neuen Feldteilnehmern – in Komplizenschaft mit dem Feuilleton, der Literaturkritik und einen eher zu den Cultural Studies neigenden Zweig der Literaturwissenschaft – einen Gegenentwurf zur (vermeintlich) dominierenden „Kritiker-Literatur“ aufzubauen und ihr einen „ewigen Gültigkeitsanspruch“ zu unterstellen, der nicht zur Flexibilität der Gegenwart passte. Dies eröffnete neue Konfliktlinien und neue Positionen im Feld, die in Folge von jungen Autorinnen und Autoren, häufig aus dem Feld des Journalismus stammend, ausgefüllt, aber auch nach dem Wegfall dieser Konfliktlinien und dem erneuten Wandel der Diskurse wieder verlassen wurden (ablesbar etwa am Verlust der massenmedialen Aufmerksamkeit bei Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing, Alexander Graf von Schönburg usw.).
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3.2 Textsorten und kommunikative Gattungen im journalistischen Feld 3.2.1 Ein makroskopischer Blick auf das journalistische Feld Nähert man sich dem journalistischen Feld7, so lautet die grundsätzliche Frage: „Was eigentlich ist Journalismus? Was tun Journalistinnen und Journalisten? Wie handeln sie, für welchen Zweck und nach welchen Regeln und mit welchem Sinn?“ (Neverla, Grittmann & Pater 2002:26). Für diese Frage zirkuliert im weiten Feld der Medienwissenschaft und/oder Journalismusforschung eine geradezu unüberschaubare Menge sich ergänzender oder konkurrierender Lösungen, die, mal mehr zum normativen Pol ausschlagen, d. h. im weitesten Sinne ideologiekritisch argumentieren, oder eher deskriptiv verfahren. Deskriptiv betrachtet lässt sich Journalismus – lässt man systemtheoretische Ansätze beiseite – folgendermaßen grob definieren: (a) Es ist größtenteils unidirektionales, auf die Öffentlichkeit bezogenes kommunikatives Handeln, das sich unter den Bedingungen der Massenkommunikation und der Eigenlogik der Massenmedien vollzieht. Es ist zudem (b) im weitesten Sinne auf Verständigung ausgerichtet, bietet soziale Orientierung und (durch Einbindung der Rezipienten in aktuelle Diskurse) auch Teilhabemöglichkeiten (vgl. Brosda 2007:307). „Öffentliche Aufgabe des Journalisten ist in der Demokratie, die permanente gesellschaftliche Diskussion […] zu artikulieren“, fasst etwa Straßner (2000:3) die Aufgabe der Journalisten zusammen. Eine normative, ideologiekritische und diskurstheoretische Perspektive würde nicht nur danach fragen, welche Rolle die o. g. „Teilhabemöglichkeiten“ an der gesellschaftlichen Integration haben, sondern würde den Blick auf die sozioökonomischen und diskursiven Kontexte werfen, in denen sich Journalisten objektiv betrachtet bewegen und danach fragen, was zu einem bestimmten Zustand der Diskurse überhaupt journalistisch verarbeitet werden kann und welche Mittel dabei erlaubt sind. Denn Journalistisches Handeln verfügt über eine (für die handelnden Akteure auch psychologisch belastende) „eingebaute Schizophrenie“ (Weischenberg, Scholl & Malik 2006:170): In der „Theorie“, im langjährig kultivierten Selbstverständnis der Akteure und in den Augen der Rezipienten soll journalistisches Handeln der „Aufklä————— 7
Im Folgenden wird häufig abstrahierend auf „den“ Journalismus in seiner Totalität verwiesen. Dies stellt natürlich eine Vereinfachung eines deutlich facettenreicheren gesellschaftlichen Phänomens dar. Je nach Teilfeld und je nach Medium (Zeitung, Fernsehen, Internet usw.) sind Akteure sicherlich mit unterschiedlichen Regeln konfrontiert. Dennoch verfügt das gesamte Feld über elementare Regeln, die sich auf die Handlungen sämtlicher Akteure in allen Teilbereichen des journalistischen Feldes und der journalistischen Tätigkeit auswirken.
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rung“8 verpflichtet sein, die Kriterien der historisch erkämpften bürgerlichen Meinungsfreiheit erfüllen und den Rezipienten zur selbständigen Meinungsbildung verhelfen. In der Praxis ist journalistisches Handeln aber professionelle Dienstleistung im Rahmen eines gewinnorientierten Medienbetriebs, das zwar auch über Handlungsspielräume für gegenläufige Taktiken verfügt, die sich jedoch durch die Besitzverhältnisse im Feld der Massenmedien (Medienkonzentration), durch die Rationalisierung der Textproduktion und die damit verbundene Deprofessionalisierung der Journalisten und durch Gatekeeping-Effekte (kontrollierte Zugänge zu politischen Akteuren, „runden Tischen“ usw.) immer stärker verengen. Die Öffentlichkeit, die Journalisten anzusprechen gehalten sind, ist in freien, funktional hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften zudem stark fragmentiert. Dies hat zur Konsequenz, dass Massenmedien, wollen sie erfolgreich sein, gesamtgesellschaftlich tragfähige Deutungsmuster ansprechen müssen, was in letzter Konsequenz dazu führt, dass sie ein sehr geringes Repertoire legitimer Ausdrucks- und Deutungsformen ausbilden und damit zu einer strukturell begründeten Monophonie neigen, ohne dass es dafür zentraler Zensurinstanzen bedürfte (vgl. Knobloch 1998).9 Dies bedeutet nicht, dass der Medienbetrieb lediglich die „offiziöse Sicht“ darstellen kann und muss – es besteht aufgrund der kommerziellen Orientierung der Massenmedien und ihrer objektiven Funktion geradewegs die Notwendigkeit, bis zu einem gewissen Grad „dissidente“ Stimmen, Argumentationsmuster usw. aufzugreifen. Zum einen liegt dies an der Selbstdarstellung und -wahrnehmung des journalistischen Handelns, das als objektiv gilt und alle relevanten Positionen darstellen ————— 8
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Das Bild der „vierten Macht im Staate“ stellt einen Mythos dar, den sich das journalistische Feld zur eigenen Legitimation selbst geschaffen hat, und es kann angenommen werden, dass es die meisten Akteure, die es heute propagieren, nicht wirklich für voll nehmen, sondern aus strategischen Interessen einsetzen. Nicht die Medien und die Medienschaffenden, allen voran Journalisten, verfügen über Macht, sondern die Besitzer von Medien. Der Wandel dieses Selbstverständnisses, das angesichts der o. g. „Schizophrenie“ journalistischen Handelns stets zweifelhaft war, deckt sich auch mit den Beobachtungen, die Weischenberg, Scholl & Malik (2006) gemacht haben: Demzufolge versteht sich nur noch eine Minderheit der Journalisten als „Anwalt“ der Öffentlichkeit, während sich die Mehrheit als Dienstleister begreift, der „Informationen“ verbreitet – wodurch sich der Kreis zu den Ursprüngen des Journalismus, dem Berichten darüber, was „an den Höfen“ geschieht, tendenziell wieder schließt. Die gegenwärtigen Probleme der großen „Qualitätszeitungen“, ihren Ort im Spiel der Massenmedien zu definieren, dürften zu einem großen Teil auch auf diese Fragmentierung der Öffentlichkeit zurückzuführen sein – wenn selbst den oberen Mittelschichten und dem klassischen Bürgertum der gesellschaftliche Abstieg droht, schwindet der bürgerliche Resonanzboden, auf den die großen Tages- und Wochenzeitungen angewiesen sind.
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soll. Zum anderen ist dies der Tatsache geschuldet, dass auch Journalisten sich am allgemeinen Zustand der Diskurse orientieren müssen, wenn sie kommunikativ und damit ökonomisch erfolgreich sein wollen, mit dem langfristigen Effekt, dass dissidente Argumentationsmuster dadurch abgeschwächt, absorbiert und modifiziert werden. Die gegenwärtig dominierende Sicht auf Subjekte als monadische „Arbeitskraftunternehmer“, die sich „frei“ im Wirtschaftskreislauf bewegen, wäre ohne den in den 1960er und 1970er Jahren errungenen diskursiven Sieg von „Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“ höchstwahrscheinlich nicht möglich gewesen. 3.2.2 Spezifika des journalistischen Feldes So wie das literarische Feld lässt sich auch das journalistische Feld insgesamt als Feld von ökonomischen und symbolischen Kräften definieren, in dem spezifische Regeln herrschen und in dem die Menge und die Struktur von Kapitalien über Positionen und Perspektiven entscheiden. Als Subfeld des gesamten Feldes kultureller Produktion ist es insgesamt am Pol der Massenproduktion angesiedelt.10 Die entscheidenden Kapitalien innerhalb dieses Subfelds sind ein spezifisches kulturelles Kapital, das „journalistische Kapital“, das an den Idealen des Feldes gemessen wird (Autonomie, geringe ökonomische Einflüsse, geringe Abhängigkeit von Werbung, journalistisches „Ethos“), und das ökonomische Kapital (ökonomischer Erfolg). Je nach Struktur dieser Kapitalien verfügen Journalisten über ein unterschiedliches Rollenverständnis, wobei die Nähe zu den legitimen, offiziösen politischen Strömungen umso größer ist, je stärker das ökonomische Kapital dominiert („rechter“ Pol; vgl. Bourdieu 1999:203). Das journalistische Feld verfügt über eine multiple interne Struktur: Zum einen nehmen die darin enthaltenen Organe eine Position ein (z. B. FAZ vs. Süddeutsche Zeitung), zum anderen auch – anders als das Heer unsichtbarer Journalisten – einzelne exponierte Akteure, die wiederum selbst als Mitglied eines Organs (einer Zeitung, eines Fernsehsenders ————— 10 Daher wundert es auch nicht, dass zahlreiche Wechselwirkungen zwischen dem literarischen und journalistischen Feld bestehen. So ist der Journalismus seit der Entwicklung des literarischen Feldes der typische „Brotberuf“ nicht-etablierter Autoren. Bestimmte Positionen im literarischen Feld lassen sich zudem leichter aus dem journalistischen Feld kommend erreichen als von anderen Positionen, etwa das weite Feld populärsoziologischer „Stichwortgeberliteratur“ zu den „drängenden Fragen der Gegenwart“, die „auf Geschichte und Journalismus herumreite[t] [und] etwas von Biographie und Soziologie [hat], vom Tagebuch und vom Abenteuerroman, von filmischem Aufbau und von einer Zeugenaussage vor Gericht“ (Laffont 1974, zit. n. Bourdieu 1999:248). Schließlich stellt der Journalismus in Form der Literaturkritik, aber auch in Form von Gastbeiträgen den Resonanzboden für Autoren dar.
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usw.) über eine Position innerhalb der Hierarchie dieses Organs verfügen. Das journalistische Feld kennt zahlreiche Relationen, die sich zwischen diesen Positionierungen entfalten – feldinterne Stichwortgeber, die über die Grenzen ihrer eigenen Domäne gehört werden (z. B. Frank Schirrmacher oder Heribert Prantl) oder atypische Redaktionsmitglieder, die z. B. quer zur Linie einer Zeitung stehen (beispielsweise der bekennende Sozialist Dietmar Dath, der ehemals für die FAZ tätig war) und dort als Repräsentanten für Pluralismus fungieren. Gleichzeitig ist das journalistische Feld homolog zu seinen Rezipienten strukturiert, die es, wenn man es in die Terminologie des politischen Diskurses übersetzt, von „links“ nach „rechts“ bedient: Journalisten orientieren sich an den Erwartungen der Rezipienten, die ihrerseits habituell auf eine bestimmte Nachfragehaltung abonniert sind, wodurch es zu jener „magischen“ Übereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage kommt (vgl. Bourdieu 1999:262).11 Auch das journalistische Feld besitzt, wie das literarische Feld, über keinerlei „Zentralinstanz“, die über die notwendige Macht verfügt, die journalistische Produktion als solche zu regulieren. Institutionen wie etwa der deutsche Presserat, der lediglich „Rügen“ aussprechen, aber niemanden des Feldes verbannen kann, spielen jedoch eine strategische Rolle: Sie spiegeln die Grundregeln wider, die sich das Feld als (illusionäres) Ideal auferlegt und werden in den symbolischen und ökonomischen Kämpfen zwischen den Feldteilnehmern eingesetzt, etwa im Kampf „Qualitätspresse“, die sich an die „Regeln“ hält, vs. „Boulevard“, der sich unlauterer Methoden bedient. ————— 11 Dies gilt unbeschadet auch dann, wenn man sich offensichtliche Missverhältnisse zwischen der politischen Einstellung von Rezipienten und der politischen Einstellung einer Zeitung vor Augen führt. Denn der Zusammenhang zwischen den Produkten und den Rezipienten kann erst dann voll hergestellt werden, wenn man auch den Wert mit berücksichtigt, den das Zeitunglesen für die betrachteten Gruppen grundsätzlich besitzt. Die „persönliche Meinung“, die man sich mit der Zeitung „bildet“, ist ethnozentrischer Mythos, denn nur für wenige ist die Zeitung tatsächlich ein Meinungsorgan. Die politische Richtung einer Zeitung muss nicht mit der Richtung ihrer Leser übereinstimmen (was auch erklärt, weshalb z. B. sowohl ein „linkes“, gewerkschaftlich organisiertes Arbeitermilieu als auch ein „rechtes“ Kleinbürgermilieu die Bildzeitung liest). „Es hat alles den Anschein, als bestünde umso geringere Interdependenz zwischen der politischen Meinung der Leser und der erklärten politischen Position der Zeitung, je stärker sich jene aus den unteren Rängen der sozialen Hierarchie rekrutieren“ (Bourdieu 1987:691) – denn gerade solche Blätter sind nur eingeschränkt politisch in dem offiziellen Sinne, wie es die „Qualitätszeitungen“ sind, die ihren Lesern das Gefühl vermitteln, ein freies Subjekt zu sein, das sich seine politische Meinung selbst bildet, so dass der Zusammenhang zwischen eigener politischer Überzeugung und der von einer Zeitung vertretenen „Linie“ umso stärker ist, je höher der gesellschaftliche Status ist (ders.:704). „Was über die jeweilige Lektüre dieser beiden Kategorien von Presseorganen tatsächlich vermittelt wird, das ist ein jeweils grundlegend andersartiges Verhältnis zur Politik“ (ders.:695).
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Die eingangs beschriebene Diskrepanz zwischen journalistischem Ideal und gelebter Realität, die sowohl den meisten Rezipienten als auch den Produzenten journalistischer Texte bewusst ist, spiegelt sich auch im Kontext von Textsorten und kommunikativen Gattungen wider und taucht dort als grundlegende funktionale Dichotomie zwischen „Meinung“ und „Nachricht“ sowie „Information“ und „Unterhaltung“ auf (vgl. Burger 2005:23). Sämtliche der im Folgenden diskutierten Phänomene lassen sich im journalistischen Feld auf diese Dichotomie rückbeziehen, so dass es sich lohnt, diesen grundlegenden Konflikt näher zu betrachten. 3.2.3 Die Basisdichotomie zwischen Nachricht und Meinung, Information und Unterhaltung Es gehört zum expliziten (vermittelt z. B. über den Presserat) und impliziten Ethos des journalistischen Feldes und dem Großteil der darin enthaltenen professionellen Journalistenmilieus, sich positiv auf das oben skizzierte Ideal zu beziehen. Auch wenn Journalisten sich nicht (mehr) als Anwälte der Allgemeinheit oder der „kleinen Leute“ sehen (wollen), so entzünden sich feldinterne Konflikte und Rügen häufig dort, wo die Linie zwischen (sachlicher) Nachricht und (ideologisch gefärbter) Meinung übertreten wird (was in zahlreichen Dokumentationen über die Bildzeitung ersichtlich wird, der vorgeworfen wird, Meinungsjournalismus zu betreiben). Dennoch ist das Ideal der Trennung zwischen Nachricht und Meinung diachron betrachtet jüngeren Datums, die im Zuge der reeducation Nazideutschlands zur Auflage wurde, faktisch jedoch allenfalls grafisch eingehalten wurde und sich außerhalb der Qualitätspresse niemals durchsetzen konnte. Es ist anzunehmen, dass dieses Ideal ebenso paradoxe Anforderungen an die Akteure stellt wie das Ideal des l’art pour l’art im literarischen Feld – es schwebt als gültige Regel über den Köpfen der meisten Akteure des Feldes, kann jedoch realiter so gut wie nie eingehalten werden und wird eher von den ökonomisch unabhängigeren Positionen des Feldes befolgt. Diese Trennung korrespondiert mit der Unterscheidung verschiedener Textsorten mit jeweils unterschiedlicher Textfunktionen, so dass das Missverhältnis zwischen gewählter Textsorte und Textfunktion eines der wichtigsten ideologischen Motive innerhalb des Feldes sein dürfte, das von allen Feldteilnehmern (je nach beruflichem Ethos) und auch von den Rezipienten besonders kritisch beäugt wird – etwa wenn Meinungen als Sachverhalte dargestellt werden oder Nachrichten appellativen Charakter bekommen. Allerdings lässt sich feststellen, dass mit wachsender Eigenleistung bei der Textproduktion auch die Perspektivengebundenheit, d. h. der (ideologische) „Meinungscharakter“ durchschlägt (vgl. Burger 2005:225ff.). Gerade die Leitmedien sind durch die
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Verwischung dieser ohnehin fragwürdigen Grenze gekennzeichnet, da sie auf eine Rezipientenschicht bezogen sind, die etwa von „ihrem“ Blatt erwartet, so bedient zu werden, dass sie das Gefühl bekommt, sich die eigene Meinung frei gebildet zu haben. Ebenso lässt sich empirisch nachweisen, dass gerade die Leitmedien sich insgesamt – im Sinne eines invertieren „trickle-down-Effekts“ – immer stärker den Praktiken des Boulevards annähern (vgl. Burger 2005:205–232). Weitere basale ideologische Effekte betreffen nicht die Verwischung der Textsorten, sondern die Aufmerksamkeit, die z. B. eine Zeitung einem bestimmten Sachverhalt widmet und die sich in der dafür für würdig gehaltenen Textsorte deutlich ablesen lässt. Unzählige „vergessene Nachrichten“, aber auch Fehlerkorrekturen, die allenfalls als Randnotiz publiziert werden, führen deutlich den Fokus und die Auswahlkriterien des journalistischen Feldes vor. Im Gegenzug zeigt die Wahl der Textsorte, die verknüpft ist mit der feldinternen Position des jeweiligen Textproduzenten, wie Debatten erzeugt und aufrecht erhalten werden können. Eine Debatte12 wie die zwischen Peter Sloterdijk, Axel Honneth und Christoph Menke im Herbst 2009 hätte ohne die Möglichkeiten zur Selbststilisierung, welche die Wahl der Textsorte „Essay“ den beteiligten Akteuren, inklusive der Rezipienten, erlaubt, nicht funktioniert. Die Reaktion der anderen Feldteilnehmer wurde durch das Ensemble der Positionen im journalistischen Feld (die Position Sloterdijks, der FAZ und der Textsorte) geradezu erzwungen. Dies verdeutlicht zum einen, dass die Aufmerksamkeits- und „Empörungsökonomie“ feldintern nach wie vor meist von den besonders hoch bewerteten und formal komplexen Textsorten (Leitartikel, Kommentar, Essay) ausgeht, zum anderen führt es vor, dass die großen Debatten trotz Medienkonkurrenz noch immer in den großen Tageszeitungen losgetreten oder dort verarbeitet werden müssen, um zu gesamtgesellschaftlichen Debatten zu werden. 3.2.4 Journalistische Texte als Wahl strategischer Möglichkeiten Auch innerhalb des journalistischen Felds spannt die Wahl der Textsorte ein Kontinuum von Möglichkeiten und Grenzen auf. Möglichkeiten eröffnen sich den Akteuren dadurch, die impliziten Regeln von ————— 12 Vereinfacht ausgedrückt aktivierte Sloterdijk eines der massenmedial erfolgreichsten Deutungsmuster: das von der Auszehrung der leistungsorientieren Mitte (vgl. Kreft 2001). Die bürgerlichen Leistungsträger seien durch ihre Steuerlast Opfer der allgemeinen „Anspruchsmentalität“. Als „Lösung“ schlug Sloterdijk ein Sozialsystem vor, das statt auf Zwangsabgaben auf Freiwilligkeit basiert. Die naheliegenden Assoziationen zum „Suppenküchen-Sozialstaat“, wie er etwa in den USA existiert, wurden in Folge von Axel Honneth und Christoph Menke aufgegriffen. In Folge entwickelte sich eine öffentliche Debatte, die allen Beteiligten die Gelegenheit zur Selbststilisierung gab.
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Textsorten zu durchkreuzen und sie so – ggf. unbemerkt – „gegen den Strich“ zu verwenden. Das journalistische Feld hat diese Möglichkeit des kreativen Spiels mit der Textsorte und den Rezipientenerwartungen in Form der „Glosse“ allerdings bereits institutionalisiert, und andere Formen dieses Spiels lassen sich auf die identifizierte „Basisdichotomie“ zurückführen und als Zeichen der allgemeinen Tendenz zur Hybridisierung von Textsorten deuten (siehe der folgende Abschnitt). Anders als das literarische Feld verfügt das journalistische Feld jedoch auch über deutlichere Grenzen bei der Wahl der Textsorte: Bestimmte Textsorten wie etwa der Leitartikel, der Kommentar oder das Interview mit wichtigen Persönlichkeiten sind sowohl feldintern als auch organisationsintern (d. h. innerhalb einer Redaktion) nur wenigen Akteuren vorbehalten. Anders als im literarischen Feld wird auch die situative Angemessenheit einer Textsortenwahl kritisch bewertet. Zum einen verfügt das journalistische Feld über explizitere Zensurmechanismen, etwa in Form des Chefredakteurs, der andere Redakteure „auf Linie“ bringt, aber auch in Form externer Mächte, z. B. Anzeigenkunden, die mittelbar auf die Textproduktion und damit auch die Textsortenwahl einwirken – ob zu einem Ereignis ein Leitartikel, ein Interview oder bloß eine Randnotiz verfasst wird, spiegelt dann sowohl die Position des jeweiligen journalistischen Organs innerhalb des Feldes als auch den Stand dominanter gesellschaftlicher Diskurse wider. Ebenso bietet das journalistische Feld den Rezipienten im geringen Umfang die Möglichkeit, auf die Textproduktion einzuwirken (z. B. durch Leserbriefe, die sich über die unangemessene Wahl der Textsorte beschweren, wenn ein nüchterner „Bericht“ erwartet, aber ein wertender „Kommentar“ verfasst wurde).13 3.2.5 Journalistische Texte als orchestriertes intertextuelles Gebilde Straßner (2000) beschreibt vierzehn typische journalistische Textsorten, die er anhand einer jeweils eigenen Konfiguration sprachlicher Merkmale auf unterschiedlichen Analyseebenen (graphische Elemente, Themenentfaltung, Semantik usw.) definiert – vom „Aufsatz“ bis zur „Story“. Eines der wichtigsten Merkmale journalistischer Texte ist jedoch auch ihre intertextuelle Konfiguration: Innerhalb eines journalistischen Textes werden zahlreiche unterschiedliche Quellen miteinander orchestriert ————— 13 Gleichwohl wäre zu fragen, ob die Trennung zwischen „Bericht“ und „Meinung“ aus Rezipientensicht überhaupt nachvollzogen wird. Die in Leserbriefen häufig verwendete Bezeichnung „Artikel“ oder „Beitrag“ lässt darauf schließen, dass auch Rezipienten die illusorische Trennung zwischen (sachlicher) „Information“ und bloßer „Meinungsbekundung“ nicht vornehmen.
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(vermischt, eingebettet, aneinandergereiht usw.), die sich auf unterschiedliche kommunikative Praktiken anderer Akteure zurückführen lassen, seien es Dinge, die an anderer Stelle gesagt oder geschrieben wurden, seien es bestehende Diskurse oder das gemeinsam geteilte Weltwissen (vgl. Fairclough 2003; Burger 2005:224–239). Die Art und Weise, welche expliziten und impliziten Bezüge ein Text herstellt und welche nicht sowie die Frage, welche Transformationen die ursprünglichen Quellen dabei erfahren, wenn sie Teil des neuen Textes werden, lässt Rückschlüsse auf die damit verbundenen ideologischen Effekte zu, insbesondere dann, wenn es sich um Repräsentationen sozialer Akteure und deren Praktiken handelt. Kurz: Journalistische Texte zeichnen sich allgemein durch Hybridisierung, durch Genre-Mixing aus (ders.). Deskriptiv gesprochen ließe sich dies als allgemeines Zeichen eines Medienwandels lesen, der vor allem durch das Internet induziert wurde. Burger geht hier etwa von Tendenzen der Annäherungen journalistischer Texte an Hypertexte aus, was zu Multimedialität und De-Linearisierung führe (Burger 2005:232–237). Solcherlei Texte, die z. B. häufig in Infotainment-Magazinen zu finden sind, seien, vergleichbar mit einer Webseite, aus zahlreichen unterschiedlichen Textsorten, großformatigen Diagrammen, Fotos und Schaubildern zusammengefügt und erlaubten die nicht-lineare Rezeption einzelner Teile. Diese Sicht beschränkt sich jedoch zum einen auf den einfachen Fall der Aneinanderreihung unterschiedlicher Textsorten zu einem heterogenen Gebilde. Zum anderen bedeutet Hybridisierung nicht, dass alle Genres unterschiedslos miteinander verbunden werden: Es lassen sich sowohl dominante Genres aufspüren, die überproportional häufig in andere inkorporiert werden, als auch Genres, die nahezu alle anderen Genres kolonialisieren und so auch mit ihren spezifischen sprachlichen Mustern und Deutungsformen überziehen. So lässt sich etwa (vgl. Fairclough 1995) eine wachsende Dominanz werbender Genres nachweisen, die eine Vielzahl ehemals nicht davon betroffener Genres mit der Logik, sich „verkaufen“ zu müssen, durchdringt und so hybride Formen zwischen Journalismus und Werbung hervorbringt (mittlerweile hat sich ein eigener Berufszweig gebildet, der sich eigens auf die Zusammenstellung solcher Texte spezialisiert hat). Ein weiteres, eng mit dieser Tendenz verknüpftes Beispiel betrifft sämtliche „informierenden“ Genres, die durch Elemente der Unterhaltung, des Dramas und der Konversation überformt werden. Dies lässt sich etwa am Beispiel des Wandels von Fernsehnachrichten illustrieren, die „hard facts“ mit dramatisierenden und polarisierenden Elementen verknüpfen und sich – etwa in eingefügten Interviews oder in humorvollen Überleitungen zum Co-Moderator („happy talk“; vgl. Wittwen 1995:83), zum Wetter oder Programmhinweis – auch der kon-
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versationellen Genres bedienen, die sich bis in die körperliche Hexis der einzelnen Akteure eingeschrieben hat (Gestik, Mimik). Schließlich lässt sich beobachten, dass sich, wie in der Einleitung bereits angedeutet, insbesondere innerhalb der massenmedialen wirtschaftspolitischen Debatten über „Globalisierung“ oder den „Standort Deutschland“, der Charakter der appellativen, hortativen bzw. allgemein „regulativen“ Texte verändert hat und sich nicht (mehr) klar an der Textfunktion „Auffordern“ oder „Anweisen“ erkennen lässt. Solche Texte verfügen, um in einer fragmentierten Gesellschaft möglichst jeden Rezipienten anzusprechen, über eine hochgradig heterogene intertextuelle Konfiguration, weite Assoziationsräume und extensional grenzunscharfe Terminologie. Sie verknüpfen basale narrative Elemente wie Zeitlichkeit, Rationalität, Emotionalität (die in der klassischen Sicht mit „Kontaktfunktion“ übersetzt wäre) und Alltagswissen und sind so Beispiel für einen besonders heterogenen Genre-Mix, der persuasiv wirkt, dessen persuasive Intention aber nicht über die Textfunktion oder andere klassifikatorische Merkmale greifbar ist, sondern sich nur aus den Regeln des Diskurses und den Bedingungen innerhalb des journalistischen Feldes ableiten lässt (vgl. Karasek 2007). Die Dominanz einzelner Genres ist nicht das Produkt einer allgemeinen, quasi-natürlichen oder „demokratisierenden“ Tendenz, die Grenzen zwischen den kommunikativen Praktiken einzureißen, sie lässt sich auch nicht ausschließlich auf technische Veränderungen wie Hypertextualität zurückführen, sondern sie ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, die sich in korrespondierenden Veränderungen kommunikativer Praktiken niederschlagen und somit auch den mit ihnen verbundenen Deutungsformen zu mehr Geltung verhelfen. 3.2.6 Journalistische Texte als Reproduktionsort gesellschaftlich dominierender Deutungsformen am Beispiel des Normalismus Eine dominante Deutungsform der Gegenwart, die seit 1989 weiter an Bedeutung gewonnen hat, stellt die diskurstragende Kategorie des „Normalismus“ (Link 2006) dar. Der Normalismus lässt sich definieren als „materielle und ideelle Infrastruktur“ aus „Maßnehmenbündel[n], Regelwerke[n] und Artefakte[n]“ (Keller 2004:55), die Diskurse (re-)produziert und „Realitätseffekte“ erzeugt. Der Normalismus operiert mit einer „gaußoiden“ Logik (Minimum – Optimum – Maximum), mit Statusparametern sowie Minimal- und Maximalwerten, aus deren Beobachtung „rationale“ Schlüsse für die Steuerung von Gesellschaften und Akteuren gezogen werden. Diese Logik durchzieht in westlichen Industrienationen sämtliche Diskurse und ist in typischen Formen der Narration (z. B. Aufstiegs-, Abstiegs- und Gleichgewichtsgeschichten) und Sym-
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bolik (Fahrzeugoperationen wie Beschleunigungen, Bremsmanöver, Unfälle) eingebettet. Sie überformt insbesondere die journalistische Textproduktion bis zur Stereotypie und ist gleichzeitig das Strukturparadigma für das journalistische Feld als solches, das in politisch „mittige“ (normale) und „randständige“ (unnormale) Bereiche unterteilt ist (der gesamte Bereich der „Gegenöffentlichkeit“ ließe sich darunter zusammenfassen).14 Die Dominanz des Normalismus bleibt deshalb nicht ohne Konsequenzen für die Textsorten, die im journalistischen Feld verfügbar sind. Tatsächlich stellen etwa die zuvor als „hypertextuell“ bezeichneten Gebilde aus Grafiken, Infotexten und Schaubildern einen charakteristischen Phänotypen eines Textes dar, der nach normalistischer Logik produziert wurde. Aber auch jenseits solcher Text-Bild-Kompositionen ist die normalistische Logik das Produktionsprinzip informierender Textsorten – Nachrichten, Reportagen, Berichte, „Infotainment“. Normalistische Symbolik und Narration ist zum einen konstitutives Merkmal einer als objektiv geltenden Nachricht oder eines rational unterfütterten Berichts oder Kommentars. Zum anderen sind die normalistischen Skalen als solche Generator von Nachrichten – Verschiebungen auf den wichtigsten Skalen (Arbeitslosenstatistik, BIP, Exportquote, demographische Entwicklung usw.) erhalten Nachrichtenwert, sie sind die Nachricht und provozieren politische Entscheidungen. So lässt sich hier der Kreis zur eingangs aufgeworfenen Frage – Was tun Journalisten eigentlich? – schließen: Akteure handeln auf Grundlage ihrer (habituell differenzierten) Erkenntnisse über die soziale Welt. Diese Erkenntnisse beziehen sie in westlichen Industrienationen durch Sozialisationsinstanzen, aber auch zu einem großen Teil aus den Massenmedien, dem Ort, an dem die allgemein gültige Deutung der Realität produziert und reproduziert wird. Die sprachliche Praxis von Journalisten, die den Regeln und Zwängen des Feldes unterworfen sind, die auf Grundlage dieser Regeln aus dem Strom täglicher „Ereignisse“ das herausfiltern, was „Information“ oder „Nachricht“ sein kann (und darf) und es mit einem begrenzten Repertoire sprachlicher Mittel abbilden können, konstruiert und zerstört kontinuierlich Repräsentationen der sozialen Welt (mental, verbal, graphisch, dramatisch), die als Vorstellungen von dieser sozialen Welt und von den darin existierenden Akteuren in den Köpfen der jeweiligen Akteure existieren. Damit kommt ————— 14 So folgert Jürgen Link: „Zöge man diesen Komplex etwa aus dem Diskurs der deutschen mediopolitischen Klasse seit 1989 heraus, so könnte dieser Diskurs keinen Augenblick länger ‚tragen‘“ (Link 2006:15). Oder anders formuliert: Der Journalismus wäre eines seiner wichtigsten Deutungsmuster beraubt, mit der er das gesellschaftlich gültige Bild der Realität beschreibt.
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der Basisdichotomie zwischen „Fakt“ und „Meinung“, den begrenzten Möglichkeiten bei der Wahl der Textsorte sowie dem intertextuellen und normalistischen Charakter dieser Textsorten eine entscheidende Bedeutung bei der Produktion der gesellschaftlichen Realität zu. 4. Erörterung, kritische Würdigung, weiterführende Überlegungen Den größten Kritikpunkt an Bourdieus Sprachtheorie stellt, neben dem Vorwurf der Ahistorizität15, die Reduktion des sprachlichen Handelns auf ihre „objektive Funktion“ als Distinktions- und Machtinstrument im symbolischen Kampf dar (vgl. im Folgenden Rehbein 2009a:355–358). Bourdieus Theorie sei zu sehr auf die Aspekte „Kampf“, „Macht“ und „Distinktion“ verengt, die „Marktmetapher“ suggeriere einen Ökonomismus, einen bewussten „Einsatz“ der Sprecher und Schreiber, die aktiv16 um Distinktion bemüht seien. Sprachhandeln werde bei Bourdieu auf illokutionäre und perlokutionäre Akte reduziert, ohne „die anderen Komponenten“ (Rehbein 2009a:358) zu bedenken. Allerdings wäre hier wiederum zu entgegnen, dass mit diesem Einwand Bourdieus Sprachtheorie zu stark auf die enthaltenen (und auch wichtigen) Komponenten „Distinktion“, „aktive Abgrenzung“ und die Kämpfe um „legitime/ illegitime Sprache“ reduziert wird, d. h. auf die „(lebens)stilistischen“ Aspekte des Sprachgebrauchs. Diesen Komponenten übergeordnet ist jedoch der symbolische, konstruktive Aspekt des Sprachgebrauchs – in erster Linie ist Sprache bei Bourdieu das Instrument, mit dem ein mannigfaltiges symbolisches Universum konstruiert wird, das die Beurteilungskategorien sämtlicher Akteure bereitstellt, mit denen Akteure die soziale Realität erkennen und damit anerkennen. Distinktionskämpfe, ————— 15 Bourdieus Theorie laufe darauf hinaus, dass Sprache letztendlich zur Reproduktion des Bestehenden führt (vgl. Rehbein 2009a:358), während die Entstehung sprachlicher Praxisformen und deren Veränderung im Dunkel bleibe. Im Falle des literarischen Feldes wurde die Entwicklung der Praxisformen jedoch historisch rekonstruiert, und auch die Entwicklung neuer Strukturen lässt sich am Beispiel von Medienkonzentration, der Durchdringung der öffentlichen Sphäre durch nicht-staatliche Akteure und der damit einhergehenden tendenziellen „Monophonie“ erklären. Letztendlich lässt sich die Frage nach der Variabilität sprachlicher Strukturen nur dadurch entscheiden, wie viel Handlungsmöglichkeiten man Akteuren unterstellt. Angesichts der o. g. Medienkonzentration und der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die ökonomische Rationalität ist es jedoch durchaus legitim anzunehmen, dass der Spielraum, sprachliche Praktiken zu verändern, für nicht diskursmächtige, nicht institutionell angebundene Akteure gering ausfällt. 16 Jedoch: Aktive Distinktion distinguiert nicht, sondern entlarvt gerade jene, die zur Distinktion nicht fähig sind (vgl. Rehbein 2009b:77).
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mit denen Akteure, Gruppen oder „Klassen“ sich selbst und andere symbolisch (und mittelbar: faktisch) „auf ihre Plätze verweisen“, stellen ein wichtiges, aber eben nicht das einzige Treibmittel dieses symbolischen Universums dar. Das Beispiel Globalisierungs- und Reformdiskurs verdeutlicht, dass über die Manipulation dieses symbolischen Universums, vermittelt über eine habituelle Aneignung (wobei dem Feld der Massenmedien und dem Bildungssystem die tragende Rolle zukommt), die dann in (neue) Praxis mündet, neue Habitusformen und damit neue symbolische und faktische Realitäten produziert werden können, die nicht auf bloße lebensstilistische Abgrenzung reduziert werden können. Dies gilt auch für das Feld der Literatur. Insbesondere Texte wie Generation Golf sind in diesem Sinne „integrativ“, da sie dominante symbolische Darstellungen und damit verbundene Beurteilungskategorien mit geringer literarischer Verfremdung verarbeiten und mit der Fokussierung auf die gehobene Mittelschicht auf Rezipienten bezogen sind, die sowohl eines der wichtigsten Objekte als auch Subjekte innerhalb des symbolischen Kampfes darstellen. Der Distinktionsaspekt legt sein Augenmerk auf die Differenz zwischen legitimer und illegitimer Sprache, beispielsweise auf den impliziten Zwang, sich in einigen Kommunikationssituationen „zurücknehmen“, „zensieren“ zu müssen (etwa im wissenschaftlichen Feld oder im literarischen Feld). Hier liegt etwa eine Nähe zum „gewählten Ausdruck“ vor (indirekte Formulierungen, Höflichkeitsformeln usw.). Die Akteure wissen hierbei meistens, dass auch eine andere kommunikative Praxis prinzipiell möglich wäre bzw. verfügen über die habituelle Disposition, sich in dieser Situation „zurückzuhalten“. Der „symbolische“ Aspekt stellt dagegen die Gleichförmigkeit und die kognitiven Auswirkungen der Beurteilungskategorien und der aus ihnen abgeleiteten sprachlichen Praxisformen in den Vordergrund – bestimmte Sachverhalte können, will man sich nicht der Ridikülisierung aussetzen, nur auf eine bestimmte Art beurteilt werden (insbesondere in der öffentlichen Sphäre, aber auch in der alltäglichen Kommunikation). Dies sind gerade die gesellschaftlichen Bereiche, die mit Begriffen aus dem „Glossar der Gegenwart“ (Bröckling, Krassmann & Lemke 2004) belegt werden („Aktivierung“, „Chance“, „Evaluation“, „Flexibilität“, „Nachhaltigkeit“ usw.). Die Effekte solcherlei kommunikativer Praxisformen werden etwa im Rahmen der Analyse der „Gouvernementalität“ (vgl. Bröckling, Krassmann & Lemke 2000) thematisiert. Bourdieus Sprachtheorie bleibt jedoch ergänzungsbedürftig. Tatsächlich scheinen, wie eingangs erwähnt, sämtliche heterogenen sprachlichen Praktiken unterschiedslos, ungeachtet ihrer (linguistisch fassbaren) Eigenschaften, dem (symbolischen) Machtaspekt untergeordnet zu sein, konkrete sprachliche Praktiken scheinen bloße „Stilfrage“ zu
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sein, deren tatsächliche Beschaffenheit für diesen Machtaspekt unerheblich zu sein scheint: Wie symbolische Macht letztendlich sprachlich ausgeübt wird, welche Mittel dort aus welchen Gründen besonders aussichtsreich sind, sprich: die sprachlichen Details, bleiben dabei größtenteils außen vor. Pierre Bourdieus Sprachtheorie lässt sich daher vor allem als heuristischer Einstiegspunkt für den Zusammenhang zwischen Sprachpraxis und sozialer und kultureller Ordnung nutzen. Damit qualifiziert sie sich letztendlich für das gesamte Spektrum qualitativer Sozialforschung, indem sie eine Möglichkeit eröffnet, sprachliche Praxis auf die gesellschaftliche Ordnung, auf Machtverhältnisse sowie Grenzen und Möglichkeiten der Praxis zu beziehen. Solcherlei Studien bleiben damit stets soziologisch „geerdet“.17 Feldanalysen können in einem ersten Schritt explorativ zur Gewinnung von Fragestellungen und zur Identifizierung von Akteuren, Institutionen und Beziehungen genutzt werden. In einem zweiten Schritt sind dann aber konkretere Analysewerkzeuge notwendig. Besonders aussichtsreich scheinen durch Bourdieu inspirierte Weiterentwicklungen (z. B. die Theorie der „Aufmerksamkeitsökonomie“ nach Franck 1998), die (kritische) Diskursanalyse in den forschungspraktischen Ausführung von N. Fairclough (2003) und/oder S. Jäger (2009) sowie die Normalismustheorie (Link 2006) zu sein. Diese Anknüpfungspunkte lassen sich auch im Bereich der Literaturwissenschaft nutzen, um den Zusammenhang zwischen literatursoziologischen Fragestellungen und konkret textbezogenen Arbeiten herzustellen. 5. Literaturverzeichnis Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt 1987. Bourdieu, Pierre: Was heißt Sprechen? Wien 1990. Bourdieu, Pierre: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Frankfurt/Main 1993. Bourdieu, Pierre: „Das literarische Feld.“ In: Streifzüge durch das literarische Feld. Hg. v. Louis Pinto u. Franz Schultheis. Konstanz 1997, 33–149. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Frankfurt/Main 1999. Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Berlin 2005. Bröckling, Ulrich, Susanne Krassmann u. Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main 2000.
————— 17 In der Literaturwissenschaft lassen sich zahlreiche Studien aufspüren, welche die Fruchtbarkeit der Feld-Konzeption belegen (etwa Joch & Wolf 2005; Ohlerich 2005; Wölfel 2005; Karasek 2008).
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Bröckling, Ulrich, Susanne Krassmann u. Thomas Lemke: Das Glossar der Gegenwart. Frankfurt/Main 2004. Brosda, Carsten: Diskursiver Journalismus: Journalistisches Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang. Wiesbaden 2007. Burger, Harald: Mediensprache. Berlin, New York 2005. Dörner, Andreas u. Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Opladen 1994. Fairclough, Norman: Critical discourse analysis. Boston 1995. Fairclough, Norman: Analysing discourse. New York 2003. Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Frankfurt/Main 2007. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt/Main 2008. Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München 1998. Freedman, Aviva u. Peter Medway: Genre and the New Rhetoric. London 1994. Friedrich, Hans-Edwin: „Vom Überleben im Dschungel des literarischen Feldes. Über Pierre Bourdieus ‚Die Regeln der Kunst‘.“ In: IASL Online vom 8. Mai 2001. (Stand: 01.12.2010). Gruber, Helmut, Christine Czinglar, Peter Muntigl, Martin Reisigl, Markus Rheindorf u. Karin Wetschanow: Genre, Habitus und wissenschaftliches Schreiben. Münster 2006. Heinemann, Wolfgang: „Textsorten. Zur Diskussion um Basisklassen des Kommunizierens. Rückschau und Ausblick.“ In: Textsorten. Reflexionen und Analysen. Hg. v. Kirsten Adamzik. Tübingen 2007, 9–31. Jäger, Siefried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster 2009. Jarren, Ottfried: Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Ko-Orientierung: Die Leitmedien der modernen Gesellschaft. Ein Leitmedien-Konzept aus publizistischer und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. Vortrag, gehalten im Rahmen der Jahrestagung des Forschungskollegs „Medienumbrüche“ zum Thema „alte & neue Leitmedien“. Siegen 15.11.2007. Joch, Markus u. Christian Wolf: Text und Feld: Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005. Karasek, Tom: „Globalisierung und Reform. Die Hegemonie des Globalisierungsund Reformdiskurses am Beispiel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.“ In: Einigkeitsdiskurse. Zur Inszenierung von Konsens in organisationaler und öffentlicher Kommunikation. Hg. v. Stephan Habscheid u. Clemens Knobloch. Wiesbaden 2007, 71–117. Karasek, Tom: Generation Golf. Die Diagnose als Symptom. Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur. Bielefeld 2008. Keller, Reiner: Diskursforschung. Wiesbaden 2004. Klein, Josef: „Intertextualität, Geltungsmodus, Texthandlungsmuster. Drei vernachlässigte Kategorien der Textsortenforschung.“ In: Textsorten. Reflexionen und Analysen. Hg. v. Kirsten Adamzik. Tübingen 2007, 31–45. Knobloch, Clemens: Moralisierung und Sachzwang. Duisburg 1998. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Frankfurt/Main 2006. Kreft, Ursula: „Tiefe Risse, bedrohliche Verwerfungen. Soziale Ordnung und soziale Krise in den deutschen Printmedien.“ In: Infografiken, Medien, Normalisierung. Hg. v. Ute Gerhard, Jürgen Link u. Ernst Schulte-Holtey. Heidelberg 2001, 127–146.
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Discourse Communities and Communicative Genres Noelle Aplevich (Siegen) 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5.
The discourse community and the speech community Delineating the discourse community “A discourse community has a broadly agreed set of common public goals” “A discourse community has mechanisms of intercommunication among its members” “A discourse community uses its participatory mechanisms primarily to provide information and feedback” “A discourse community utilizes and hence possesses one or more genres in the furtherance of its aims” “In addition to owning genres, a discourse community has acquired some specific lexis” “A discourse community has a threshold level of members with a suitable degree of relevant content and discoursal expertise” Discourse communities and communicative genres “A genre is a class of communicative events” “The principal criterial feature that turns a collection of communicative events into a genre is some shared set of communicative purposes” “Exemplars or instances of genres vary in their prototypicality” “The rationale behind a genre establishes constraints on allowable contributions in terms of their content, positioning and form” “A discourse community’s nomenclature for genres is an important source of insight” Further developments Research articles and the language of publication The place discourse community Competence and agency Genre chains and sets Repurposing genre Works Cited
In his widely received contribution to the Cambridge Applied Linguistics Series in 1990, Genre Analysis: English in academic and research settings, John Swales adopts the term discourse community to describe the contexts in which communicative genres are employed by networks of people to further common, in this case, research-driven or academic goals. Swales is an applied linguist, discourse analyst, and teacher of English for academic purposes to non-native speakers of English. He is interested in theorizing and teaching a rhetorical consciousness with an eye for the conventions of academic texts, grouped into genres, classes of communicative events, in order to provide international graduate stu-
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dents with the necessary skills to help them gain access to the communities of research in their fields of interest. These communities he describes in Genre Analysis as discourse communities. In later publications, Swales reconsiders the discourse community, preferring the more narrowly defined place discourse community. Through his involvement in the Michigan Corpus of Academic Spoken English (MICASE) he broadens his focus to include increased analysis of academic speech and comes to recontextualize genre as existing within complex networks “in which switching mode from speech to writing (and vice versa) can – and often does – play a natural and significant part” (Swales 2004:2). Further, he comments on individual agency and expands on the problem of identifying communicative purpose. Also, a simple analytical model described in Genre Analysis has been adopted for the analysis of research article introductions in languages other than English. 1. The discourse community and the speech community Swales defines the discourse community by distinguishing it from the speech community. Originally defined as a community of speakers whose speech is governed by the same rules of linguistic performance such as, for example, the English-speaking world, the speech community came to be revised in the field of sociolinguistics as a unit of analysis that gives meaning to linguistic variation. For example, in a seminal analysis of New York City speech published in 1966, William Labov disproved the common assumption of the time: that there was no consistency to the speech of New Yorkers. They came from a variety of linguistic and ethnic backgrounds, moved frequently, and it was impossible to predict how or why they would speak as they did when they did. It was known, for example, that college-educated New Yorkers tended to pronounce /r/, but otherwise, it was generally thought that people spoke without pronouncing it. In linguistic interviews and specially designed linguistic tests, Labov was able to observe, among other things, that the variable /r/ occurred more frequently in more formal speech and less frequently in spontaneous speech, more frequently in the speech of upper middle class speakers and less frequently or not at all in lower socio-economic classes. In all, Labov identified and analyzed five variables that carried information about the social stratification of New York speech across nine socio-economic categories. Speakers were shown to be aware of a prestige standard of speech and spoke in such a way (whether consciously or not) as to position themselves in relation to the speakers of this prestige variation, and in relation to speakers of other socio-economic classes,
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whether more or less allied with the prestige variation: “For a working class New Yorker, the social significance of the speech forms that he or she uses, in so far as they contain the variables in question, is that they are not the forms used by middle class speakers, and not the forms used by upper middle class speakers” (Labov 1966:6). Further, New Yorkers were shown to evaluate the speech of other New Yorkers according to the same standard. In this way, Labov was able to disprove the assumption that New York speech was characterized by free variation. He attributed the high level of speech differentiation, persisting in spite of the corrective influence of a prestige speech standard set from above, to the existence of covert prestige. He defined covert prestige as an expression of identification with a certain group of speakers, not as an indication of isolation between groups or a lack of awareness of the prestige standard: The forces which preserve the structure of social differentiation of New York City are probably related to the need for self-identification with particular sub-groups in the social complex. This structure of social differentiation is not supported by the isolation of social groups, nor by their relative ignorance of each other’s norms. We observe the process of increased differentiation of language behavior despite close contact of the social groups concerned, and their participation in a relatively uniform set of social norms (Labov 1966:298).
Labov identified the speech community on a smaller scale than that of the English-speaking world as a whole, developing a methodology that enabled sociolinguistics to describe the social stratification of variation in groupings defined by social and geographic boundaries. The ethnographer Dell Hymes defined the speech community according to more criteria than simply a uniform set of shared norms. Interested, as Labov also came to be, in the lagging school performance of minority children from lower socio-economic backgrounds, he defined communicative competence as an ability to produce and interpret speech appropriately according to the communicative situation in which it occurs. In other words, schools were testing language performance based on criteria that did not apply to the situations in which these children spoke with the group of the speakers with whom they identified. In Labov’s terms, such children were orienting toward their own “sub-groups in the social complex”. Hymes turned his attention away from the orientation toward the standard variety and uniform social norms, defining the speech community with a stronger focus on situational heterogeneity. In a programmatic 1972 paper on the taxonomy of linguistic units for the study of language in social life, he defined the speech community as follows: Tentatively, a speech community is defined as a community sharing rules for the conduct and interpretation of speech, and rules for the interpretation of at least one linguistic variety. Both conditions are necessary (Hymes 1972a:54).
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In the situations in which speakers interact, competence is an awareness of the forms generally appropriate to the context, and the ability to conduct and interpret speech in these contexts. Hymes’ second condition, knowledge of shared rules for the interpretation of at least one variety, allows that speakers may possess the competencies of a group whose norms for speech differ from those of others who communicate in a language sharing the same grammatical rules. Hymes’ speech community is a smaller grouping than that of Labov’s, forming an integral social unit and characterized as a speaker’s local unit of primary interaction (Hymes 1972a:55) wherein mutual norms of interpretation of the community’s variety are learned in interaction: The difference between knowledge of a variety and knowledge of speaking does not usually become apparent within a single community, where the two are normally acquired together […] The non-identity of the two kinds of rules (or norms) is more likely to be noticed when a shared variety is a second language for one or both parties. Sentences that translate each other grammatically may be mistakenly taken as having the same functions in speech […] (Hymes 1972a:54).1
As further distinct from Labov, Hymes emphasizes the possibility of personal expression for people who have internalized knowledge of what is appropriate and expected: Especially when competence, the ability of persons, is of concern, one must recognize that shared ways of speaking acquire a partial autonomy, developing in part in terms of an inner logic of their means of expression. The means of expression condition and sometimes control content. For members of the community, then, ‘freedom is the recognition of necessity’; mastery of the way of speaking is prerequisite to personal expression (Hymes 1972a:59-60).
Variation in the speech community for Labov does not extend this far: “The common understanding that unites the field what I have called the central dogma of sociolinguistics is that language is located in the speech community, not the individual” (Labov1966:398). However, for both Labov and Hymes there is a focus on speech in face-to-face interaction between speakers. Swales distinguishes the discourse community from the speech community in three ways: first of all, at the time of the publication of Genre Analysis, Swales was focusing on academic writing. While speech communities might well and certainly do engage in communication ————— 1
Hymes operates with a wide definition of speech: “as a surrogate for all forms of language, including writing, song and speech-derived whistling, drumming, horn-calling and the like” (Hymes 1972a:53-54). Variety refers to linguistic variety: two people might both speak what can grammatically be identified as English, and yet not recognize that a statement made by the other might count as a request, that a silence is of normal duration, etc., due to differing local rules for the conduct and interpretation of speech.
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through writing as well as speech, a primary focus on literacy in the discourse community “takes away locality and parochiality” (Swales 1990:24). In focusing on academic writing, he is describing an institutionalized standard, not the vernacular locally influenced speech that Labov and Hymes had in mind. Nonetheless, he is dealing with a form of linguistic variation in that his aim is to uncover the highly differentiated conventions that come to light as structuring the communicative genres that exist in discourse communities. In Genre Analysis, Swales’ members of discourse communities, however, do not have to communicate face-to-face at all, meaning that they can be widespread, perhaps even living and writing very far away from one another, and may well be reacting in their writing to things that were written after a considerable amount of introspection some time ago. Second, Swales describes discourse communities as “sociorhetorical networks that form in order to work towards sets of common goals” (Swales 1990:9). Because discourse communities are goal-driven, the communication that occurs is shaped and constrained by its function in furthering these goals. Communication in the speech community, “a sociolinguistic grouping”, not necessarily a sociorhetorical one, is constrained by the needs of the group, rather than by a common aim. The needs of the group might be socialization or a sense of group solidarity. While both of these may also occur within a discourse community, these are not the primary constraints on its communicative mechanisms. Third, Swales makes a distinction between the ways in which each community acquires new members. People are typically born (or adopted) into a speech community; whereas, a discourse community “recruits its members by persuasion, training or relevant qualification” (Swales 1990:24). The speech community tends to absorb people; the discourse community is a separation into a special-interest group. 2. Delineating the discourse community Swales provides a list of six characteristics that must be present in a discourse community. 2.1 “A discourse community has a broadly agreed set of common public goals” That the discourse community is goal-driven is one of Swales’ initial distinctions between the speech community and the discourse community. He specifies that the goals should be public, regardless of whatever personal agenda individuals might be following in becoming a member such as “hopes of commercial or romantic advancement” (Swales 1990:25).
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Specifying that broad agreement should exist leaves room for the negotiation of change that necessarily occurs in a community that regenerates itself. He gives an example of what might well be highly adversarial discourse communities: “In a Senate or a Parliament there might well exist overtly adversarial groups of members, but these adversaries may broadly share some common objective as striving for improved government” (Swales 1990:25). In his short illustration of a concrete discourse community, a hobby group of specialized stamp collectors called the “Hong Kong Study Circle”, the aim of the group is, “to foster interest in and knowledge of the stamps of Hong Kong (the various printings, etc.) and of their uses (postal rates, cancellations, etc.)” (Swales 1990:27). 2.2 “A discourse community has mechanisms of intercommunication among its members” While it is not necessary for members to meet face-to-face, it is necessary that a discourse community exhibit established means of communication. At the time of writing2, the Hong Kong Study Circle (HKSC) members were in touch primarily through their bi-monthly journal and newsletter, they had scheduled meetings (attended by very few members, many of whom did not live in the same country), correspondence and telephone calls (Swales 1990:28). Established means of communication are the channels of member participation, and constitute the next requirement for a functioning discourse community. 2.3 “A discourse community uses its participatory mechanisms primarily to provide information and feedback” Swales doesn’t suggest that members have to be equally active in terms of intensity of communicative participation; in fact, his description suggests that reading received information might even be enough: “Individuals might pay an annual subscription to the Acoustical Society of America but if they never open any of its communications they cannot be said to belong to the discourse community, even though they are formally members of the society” (Swales 1990:26). The possible (hoped for?) trajectory from apprentice to expert member suggests varying levels of communicative participation. Perhaps some forms of participation require being an established member already; Swales reports that his own early attempts to publish in the stamp collecting journal met with sparse negative feedback. Also, he names some of the conventions and taboos of communicative style he had to learn over time; for example, he learned “not to comment directly on the monetary value of ————— 2
A quick internet search reveals that the HKSC now has a web-site, for example.
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[philatelic] items” (Swales 1990:28). The furtherance of the common goal of the discourse community he lists as a secondary goal of the information exchange. 2.4 “A discourse community utilizes and hence possesses one or more genres in the furtherance of its aims” Swales writes that the discoursal expectations of a discourse community are created by its genres. These can be: “appropriacy of topics, the form, function and positioning of discoursal elements, and the roles texts play in the operation of the discourse community” (Swales 1990:26). Communicative mechanisms in general are not enough. Members might talk to each other regularly, engaging in conversation. Conversation, however, is for Swales a pre-genre. It is so pervasive, almost a ‘way of life’, that it provides the background against which distinctly structured genre forms can be distinguished. Alternately, he refers to correspondence in general as a “supra-generic assembly of discourse”; it does not represent “a coherent set of shared purposes”. These sets of communicative purposes (related to the aims of the community), are primary in the distinction of genre as classes of communicative events. The existence of communicative genre also indicates that a loosely connected budding collective has evolved into a discourse community. This is not to suggest, however, that either genre or community are static: “discourse communities will vary to the extent to which they are norm-developed, or have their set and settled ways” (Swales 1990:31). 2.5 “In addition to owning genres, a discourse community has acquired some specific lexis” As Swales points out, “it is hard to imagine attending perchance the convention of some group of which one is an outsider and understanding every word” (Swales 1990:26). He cites abbreviations as particularly symptomatic of evolution to discourse community status. Inductees to the Hong Kong Study Circle would know to refer to the “HKSC”, and start at and go beyond deciphering “PPC as ‘picture post card’” and “CIP as ‘Chinese Imperial Post’”. Special lexis might also include technical vocabulary, etc. 2.6 “A discourse community has a threshold level of members with a suitable degree of relevant content and discoursal expertise” Regeneration of the community implies continuity as well as change in membership, including a continuing evolution, refinement, or adjustment of its aims and purposes or communicative conventions; “[h]owever, survival of the community depends on a reasonable ratio between novices and experts” (Swales 1990:27).
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As for the relationship between a discourse community and a speech community, a discourse community cannot exist uncoupled from a speech community; it is the existence of specific communicative genres that distinguishes the discourse community from the speech community. The boundaries of a discourse community might exist within those of a speech community or extend beyond it. For example, Swales discusses at some length the increased importance of publishing research in the English language and related implications for non-native speakers and, especially, for researchers in less central locations. In the application of his method he is attempting to induct students into a research world dominated by English-language publications, suggesting a wide-reaching international network of participants, within the contexts of more narrowly defined field-related discourse communities. His students, therefore, have their roots in speech communities other than English ones and are attempting to develop an academic communicative competence to enable participation in English-language (academic) discourse communities. Because Swales requires that six characteristics be present to identify a discourse community one of which is active participation through its communicative mechanisms, it is hard to imagine that discourse communities can exist on the same scale as the speech communities Labov describes; however, Swales does not specify restrictions on size. His examples range from an academic class taught at a university to national and international communities of researchers. In reviewing the description of preferences for two rhetorical styles in academic Korean writing, he sees evidence of a national and an international discourse community, “one deriving from traditional rhetoric and the other much influenced by English” (Swales 1990:66-67). The international group, influenced by English, is “an elite group of US educated scholars who are members of the international community of researchers in their specialization”, while the other is “a larger national community using traditional Korean rhetoric” (Swales 1990:67). On a smaller scale, under ideal conditions an academic class might turn into a discourse community: Except in exceptional cases of well-knit groups of advanced students already familiar with much of the material, an academic class is unlikely to be a discourse community at the outset […] Somewhere down the line, broad agreement on goals will be established, a full range of participatory mechanisms will be created, information exchange and feedback will flourish by peer-review and instructor commentary, understanding the rationale of and facility with appropriate genres will develop, control of the technical vocabulary in both oral and written contexts will emerge, and a level of expertise that permits critical thinking will be made manifest. Thus it turns out that providing a relatively constrained operational set of criteria for defining discourse communities also
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provides a coign of vantage, if from the applied linguist’s corner, for assessing educational processes and for reviewing what needs to be done to assist non-native speakers and others to engage fully in them (Swales 1990:32).
In a sense, achieving these conditions is the subject of Swales’ book; beyond providing working definitions for discourse community and genre, he applies the concept of pedagogical task to helping non-native speakers to engage fully in a discourse community through analyses of communicative genres. 3. Discourse communities and communicative genres Swales provides a list of five criteria for the identification and description of communicative genres. 3.1 “A genre is a class of communicative events” Swales defines a communicative event in a general way as “one in which language […] plays both a significant and an indispensable role” (Swales 1990:45), excluding activities in which talk is incidental (such as doing household chores, or driving). As was pointed out earlier, conversation might be a communicative event (or even one of the mechanisms of communication employed by a discourse community) but it cannot be considered as belonging to the same class of events as communicative genres; rather, it might serve as the background from which the patterns of genre distinguish themselves. Genre is therefore a distinct communicative event. In terms of meeting requirements for class formation, Swales does not say that a communicative event has to have a high frequency of occurrence; events might be very common or rare. If an event occurs very infrequently, “it must be noteworthy” in order to warrant class formation (Swales 1990:46). As for communicative events in general, while language is indispensable, it is not the only relevant component: a communicative event is here conceived of as comprising not only the discourse itself and its participants, but also the role of that discourse and the environment of its production and reception, including its historical and cultural associations (Swales 1990:46).
The environment of a communicative event classed as a communicative genre is partly shaped by the discourse community to which it belongs, especially as the community’s discourse is shaped by its sociorhetorical goals. The role of discourse in a communicative event might not be evident in the semantic meaning it conveys, but perhaps in what it does,
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or in what is done with it in the community. Swales explains the importance of role through the example of a textbook: “It may be relevant to know in addition [to text-analysis alone] how the instructor uses the textbook. Is it replete with central truths to be laboriously assimilated and acquired by the class? Or is it a tired straw man to be challenged, updated or modified in the lecture material? Or it is sometimes one, and sometimes the other?” (Swales 1990:7). An understanding of text-role is important to skill development for the achievement of academic communicative competence: “The kinds of answers we reach will doubtless affect, among other things, the amount of time and attention we might give to critical reading as opposed to reading for information” (Swales 1990:7-8). The historical and cultural associations that comprise a communicative event might include the influence of antecedent genres on newly evolving ones. Without the concept that antecedent genres influence emerging ones, it would be difficult to reconcile the fact, on the one hand, that the first leaders of the United States incorporated monarchical forms into key early public statements and the fact, on the other, that one of their prime purposes was to reject the tyranny and trappings of a monarchical system (Swales 1990:43 paraphrasing a rhetorical analysis by Jamieson, 1975).
3.2 “The principal criterial feature that turns a collection of communicative events into a genre is some shared set of communicative purposes” A communicative genre is a way of getting something done through language. In the context of the discourse community, its communicative genres are the means of furthering its aims. The possibility of ascribing purpose, or in many cases, sets of purposes, is the primary distinguishing feature of a communicative genre. Therefore, it is through an analysis of its genres that a sense of the aims of a discourse community can be gained, as well as an understanding of the expectations that govern discourse within the community in general: “these discoursal expectations are created by the genres that articulate the operations of the community” (Swales 1990:26). Genres carry a double generative function: the expression and furtherance of the discourse community’s aims and the establishment and evolution of rhetorical conventions. Among the many genres he refers to (abstracts, research presentations, grant proposals, theses and dissertations, etc.) that serve to make sense of academic communication, Swales’ main interest at the time of writing Genre Analysis, and the genre to which he devotes the most attention is the research article. As he points out, it is a gargantuan genre, with many discipline-related variations. His analysis of one component
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of the research article, its introduction, gives evidence of considerable rhetorical work fulfilling multiple sets of purposes. As a general schematic framework, Swales suggests that introductions function to “create a research space” for the contribution and involve considerable rhetorical work positioning this contribution with respect to existing ones. Characteristics of the research article introduction are: the need to re-establish in the eyes of the discourse community the significance of the research field itself; the need to ‘situate’ the actual research in terms of that significance; and the need to show how this niche in the wider ecosystem will be occupied and defended. It follows that the amount of rhetorical work needed to create such a space depends on the existing ecological competition, on the size and importance of the niche to be established, and on various other factors such as the writer’s reputation (Swales 1990:142).
Genre analysis (implying an analysis that includes but goes beyond textual analysis) can reveal the communicative purpose or sets of purposes of a genre. Information about purpose is not necessarily transparent, and often it is difficult to recognize: The shared set of purposes of a genre are thus recognized at some level of consciousness by the established members of the parent discourse community; they may be only partly recognized by apprentice members; and they may be either recognized or unrecognized by non-members (Swales 1990:53).
Communicative purpose in a genre or, in the example of the research article introduction, in one of its components, provides the rationale for deciding exactly how a community member will shape a contribution or why certain possible options are preferred over others. 3.3 “Exemplars or instances of genres vary in their prototypicality” The prototypicality of a genre is a characteristic that describes items belonging to a distinguishable class that can be defined by reliable salient features. However, Swales warns that the usefulness of focusing on genre does not lie in a tradition of taxonomic classification, but rather as a means of reaching communicative goals and, consequently, through analysis of existing genres, of finding out what these goals are. Nonetheless, being able to define what you are looking at as distinct from other means of communication and identifying commonalities is fundamental to making sense of all the different kinds of academic communication that exist and to the identification of the skills needed in order to participate in a discourse community. At the same time, descriptions and categorizations have to maintain a certain flexibility in order to reflect the development and continuing evolution of discursive conventions, however subtly these may evolve. As a pedagogical strat-
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egy, Swales proceeds by identifying assumptions about the purposes, form, etc. of a genre in the form of a simplified schema, and adapting, correcting, and constantly readjusting this schema through inside-out analyses of existing examples. He notes, for example, that most people seem to underestimate the amount of rhetorical work actually done in the introduction to a research article before a research program comes to be named. A prototypical example of an item is one that is especially typical. For US Americans, a robin is a prototypical bird, the one identified most quickly as exhibiting relevant characteristics in a most typical way: “its body and legs are average size, and it flies, perches in a tree and sings” (Swales 1990:53). While communicative purpose is the primary distinguishing characteristic of a genre, “[o]ther properties such as form, structure and audience expectations operate to identify the extent to which an exemplar is prototypical of a genre” (Swales 1990:52). 3.4 “The rationale behind a genre establishes constraints on allowable contributions in terms of their content, positioning and form” The primary characteristic of a communicative genre is its communicative purpose or sets of communicative purposes. Recognition of purpose “provides the rationale, while rationale gives rise to constraining conventions” (Swales 1990:53). This rationale, in turn, is privileged information within a discourse community, in which differentiated information about communicative purpose is not fully available to apprentice members. Text analysis alone will not provide information about the rationale behind the constraints placed on different genres; interviewing writers (especially those who are established, full members of the discourse community) about the choices they make while writing, or enquiries and observations about the role of certain genres in the situations in which they are used provides essential, perhaps privileged information that can assist the learning writer to make decisions and judgments when producing texts. Swales gives the example of citation use in scientific writing: how does a writer decide when to cite another author; how often are citations made; why do people cite themselves? He interviews writers about their citation use and refers to explanations of citation conventions from analysts in different fields, suggesting that raising this issue in this way can start students “towards developing a high-level sense of where and why citational support for their statements may be advisable” (Swales 1990:7). Further, considering the importance Swales assigns to text-role (he shows that text-books, for example, might be used in different ways by instructors in classes), one might extend the example by asking the question: How are citations then seen and inter-
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preted in the situation in which the text is read? This might provide information from a different angle about discourse community expectations and rationale for citation use. Because use in different situations might be very local, in order to accommodate a heterogeneity of local variations in academic discourse (across different fields, in different kinds of communicative situations), and in order to accommodate a heterogeneity of academic fields within the non-native speaker English classroom, Swales encourages his students to “become ethnographers themselves”; they are encouraged to “drop in out of the blue” in a class that is ongoing and write up what they observe in a “mini-ethnography” (Swales 1990:218-219). 3.5 “A discourse community’s nomenclature for genres is an important source of insight” Swales points out that active community members possess the most information about genre purpose and rhetorical convention, and therefore their names for communicative events might be helpful in defining useful categories for discribing the community’s discourse. At the same time, he expresses caution: names for academic forms of communication “tend to be institutional labels rather than descriptive ones” (Swales 1990:55). Depending on instructional style, a lecture may resemble a monologue or, in fact, exhibit strong interactional characteristics traditionally assumed to be typical of a tutorial. 4. Further developments While Genre Analysis (1990) offers a widely accepted definition of discourse community and methodology for the analysis of communicative genres, Swales has continued to reflect on and revise definitions and methodology; in more recent publications, he provides a working definition for place discourse community, comments on individual agency, conceives of genres as existing within complex networks of genre chains and sets, and offers a model for repurposing communicative genres. Also, a fairly simple model for a functional analysis of introductions to English-language research articles outlined in Genre Analysis has enabled comparative analyses of research article introductions in other languages. 4.1 Research articles and the language of publication In Genre Analysis and later publications, Swales comments at length on the (ever more rapidly) increasing importance of English as a language of publication in many fields, referring to its developing status as a
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lingua franca (Swales 2004:43). Within this context, Swales advocates a reconsideration of the privileged status long awarded the native speaker as authoritative reference on issues of grammaticality and appropriateness. For example, “if, then, these disciplinary collectivities are willing to accept in print, say, the usages of researches and equipments as plural forms of countable nouns, then traditional native-speaker demurrals at this countable status should be taken as simple opinions or preferences rather than as legislative fiats” (Swales 2004:55). Swales switches his terms of reference to the junior researcher and the senior researcher, rather than the native speaker and non-native speaker aspiring academic. While there is evidence of increased levels of non-anglophone journal publication in English, competition for access to central journals is high. Evidence of jostling for position is also provided by analyses of introductions to research articles using the create-a-research-space (CARS) model described in Genre Analysis, and reconsidered in Research Genres. The model is designed for a functional analysis of the research article introduction in terms of three categories of rhetorical moves: M1 Establishing a territory Ļ M2 Establishing a niche Ļ M3 Occupying a niche In the earlier publication Genre Analysis, the CARS-model contributes to an awareness of the extent of rhetorical work required by writers before arriving at a statement of purpose in their research article introductions. As Swales points out, “it is often believed that straightforward research reports begin with a straightforward thesis statement or statement of purpose” (Swales 1990:147); what is actually required is a careful strategic positioning of the research undertaken within the discourse community to whom it is addressed. Swales lists the following as characteristics of research article introductions: the need to re-establish in the eyes of the discourse community the significance of the research field itself; the need to ‘situate’ the actual research in terms of that significance; and the need to show how this niche in the wider ecosystem will be occupied and defended. It follows that the amount of rhetorical work needed to create such a space depends on the existing ecological competition, on the size and importance of the niche to be established, and on various other factors such as the writer’s reputation (Swales 1990:142).
Swales credits the model’s success to its simplicity and perhaps also the accompanying metaphor of “ecological competition for research space in a tightly contested territory” (Swales 2004:226). This jostling for
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position would appear to be typical of research publications in anglophone journals, especially those Swales describes as participating in “big science”: “it [CARS] primarily reflects research in a big world, in big fields, in big languages, with big journals, big names, and big libraries” (Swales 2004:226). These conditions do not necessarily exist (or exist in the same way) for research published in smaller languages. Based on the results of contrastive analyses using and modifying the CARS-model for the analysis of research article introductions in other languages, Swales constructs an alternative model, an “open a research option model” (OARO) in which writers perform the following moves: “0 [Attracting the Readership]; 1 Establishing Credibility; 2 Offering a Line of Inquiry; 3 Introducing the Topic” (Swales 2004:244). Within the context of German-language research articles, Winfried Thielmann provides an eloquent and in-depth contrastive analysis of academic research writing in German and in English in Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich (2009). He points out that German-language research journals are declining rapidly. Thielmann selects a corpus for a contrastive analysis by choosing a German-language article on a particular topic that makes reference to a recent English-language article on the same topic and then compares the two. Anglophone articles, needless to say, rarely cite German-language articles. Thielmann describes the research article introduction as locating new knowledge within existing community knowledge. He refers to the historical development of scientific communities through the establishment of national scientific academies such as the Royal Society of London in 1660 or the Berlin Academy of the Sciences founded by Leibniz in 1700 (Thielmann 2009:48). He sees the development of scientific writing and the shaping of textual communicative purpose as occuring within this ‘dynamic and purposeful constellation’ of learned societies [Germ.: dynamische Zweckkonstellationen (Trans.: N. Aplevich)] (Thielmann 2009:48). He refers to the modern readership of research articles as a community which he glosses as “the academic target group” [Germ.: “community, d.h. der wissenschaftlichen Zielgruppe”] (Thielmann 2009:52). As he points out, research article introductions are constrained by external purposes: they should be brief, direct the reader’s attention to the new information introduced in the main body of the article, and at the same time, relate this information to an existing body of knowledge (Thielmann 2009:52). Thielmann pairs these external purposes with Swales’ three-move create-a-research-space (CARS) model: Move 1 (establishing a territory) serves the purpose of identifying a research area and providing the reader with a short summary of existing knowledge; Move 2 (establishing a niche) localises a zone of ‘knowledge that is
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lacking’ [Germ.: eine Zone definitiven Nichtwissens] (in Swales’ terms, a ‘gap’), which is then filled by new knowledge through Move 3 (occupying the niche) (Thielmann 2009:53). While Thielmann concludes that the introductions he analyzes in both languages fulfill the general purpose of leading the reader to the main topic and thereby orienting the new information in an existing field of knowledge, he shows that there are systemic differences in the way this is done in each language. This difference is a reflection of audience orientation: readers in the respective languages come to the texts with differing expectations and with community-specific knowledge of texts that have grown and developed with the community itself. Thielmann’s initial point of reference for his analysis however, is that of text as a suspended speech act, the possibility of communicating without speakers who are in each other’s presence. Like Hymes and Labov who focus on speech in face-to-face interaction between speakers, for Thielmann discourse involves co-presence of speaker and hearer. Text, however is in suspension, it carries a potential for further engagement. He gives the following examples of what text can be: a message engraved in the mind of the messenger; a message recorded on an answering machine; a written text (Thielmann, personal communication). Reading a written text, for example, textual reception, involves engaging with and carrying through what in their suspension are incomplete speech acts. Thielmann shows that German-language introductions are to be understood as patterned on a specific speech act complex. Following Ehlich/Rehbein (1979) he sees communicative exchanges as shaped by underlying patterns recognized within society and shaped by social life (Thielmann 2009:70). Examples of such patterned forms of exchanges with relevance to academic language might be those shaping the making of assertions (with the aim of transferring knowledge), question-and-answer-patterns (with the aim of filling a speaker’s gaps in knowledge), and justifying (giving reasons for a claim [Germ.: das Begründen]). It is this last pattern, justifying a claim, that shapes the introduction in a German-language research article. As such, the reader must have knowledge gained from interacting in the language of the way this speech pattern is shaped and be able to recognize and engage with it as it occurs in the academic introduction. This act of justifying of a claim involves, for example, relating research to social life. The constraints on the text derive from but also go beyond a close circle of specialists in the field. As such, Thielmann’s German-language-based community is, in one sense, wider and more heterogeneous than those of anglophone research articles (Thielmann, personal communication). Anglophone research articles do not, for example, require the positioning of research in a context that extends beyond the research field itself. Further, as
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Thielmann shows, anglophone research article introductions show strong linearity and a high-level of text-internal coherence; German-language research article introductions require that readers create this coherence by recognizing and engaging with the communicative pattern that gives it shape. Swales’ three move CARS-model enables Thielmann to expose systemic differences underlying research article introductions in the two languages, but does not describe German-language research article introductions themselves. In Einstiege im Wandel (Peter Lang Verlag, in press) [Engl.: Introductions in Evolution] Michael Szurawitzki performs a diachronic and constrastive analysis of the introductions to papers published in the Finnish journal of linguistics Virittäjä and the German linguistics and literature journal, Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. His corpus includes articles from 1897, the year of the inception of the Finnish journal, to 2003. Szurawitzki modifies and extends Swales’ three-move CARS-model for his own comparative and diachronic analysis of introductions in Finnish and German. 4.2 The place discourse community Swales describes his commitment to the concept of discourse community over the years as having “waxed and waned” (Swales 1998:21). As a result of various definitional problems with the concept, it came to seem more useful for validating the existence of groupings that already shared a complex of ideas and sentiments, and less useful for seeing how such groupings were initiated and nurtured, or for assessing the precise characteristics of any purported collectivity (Swales 2004:21).
Nevertheless, in Other Floors, Other Voices: A Textography of a Small University Building, Swales undertakes an analysis of the textual production of the employees of a single university building (working in four distinct fields), coupled with interviews about their text production as well as some description of the historical evolution of life and work in the building, all in order to “have another look at discourse community” (Swales 1998:22). The investigation and the results of the study lead to an adaptation and extension of discourse community that draws, in particular, on two discussions of the concept: in J. E. Porter, Audience and rhetoric: An archaelogical composition of the discourse community [Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 1992] and M. J. Killingsworth and M. K. Gilbertson, Signs, genres, and communities in technical communication [Amityville, NJ: Baywood, 1992]. Swales, following Porter, sees the discourse community as an investigative tool suited for discoursal or rhetorical analysis. The discourse community is an entity that is made up of “various kinds of principles and practices, linguistic,
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rhetorical, methodological, and ethical” (Swales 1998:199). It is not defined with respect to its materiality, its structure, or with a focus on a member’s individual agency, exclusions that tend to disqualify it for historical or sociological investigation, for example (Swales 1998:200). Following Killingsworth and Gilbertson, Swales distinguishes between local communities, which he refers to as place discourse communities and supra-local communities. These he labels focus discourse communities, borrowing a term from Porter. The two types of communities can “come into conflict as they compete for the loyalties of individual members of both” (Swales 2004:201). This type of conflict can occur in academia, between a more local orientation due to the responsibilities of teaching and administration, and a wider-reaching orientation due to the requirements of published research and conference presentations. It is the place discourse community which Swales describes in the study Other Floors, Other Voices, and for which he provides an extensive working definition: A place discourse community (PDC) is a group of people who regularly work together (if not always or all the time in the same place). This group typically has a name. Members of the group (or most of them) have a settled (if evolving) sense of their aggregation’s roles and purposes, whether these be group decision making, group projects, routine business, or individual enterprises endorsed (tacitly or otherwise) by most of the other members. During its existence, the PDC has evolved a range of spoken, spoken-written, and written genres to channel, develop, and monitor those roles and purposes; either at least one of these genres will be tailor-made, and/or there will be something distinctive about the relationships among them. To ‘old-timers’ and perhaps others, these genres have self-evident discoursal and rhetorical characteristics; further, to such people, these genres are seen as an interactive system or network that additionally validates the PDC’s activities outside its own sphere. A PDC has reached some degree of consensus regarding such things as rhythms of work, levels of productivity, horizons of expectation, and the roles of and relationships between ‘theory’ (however conceived) and practice. In the furtherance of its communicative practices, a PDC has developed some specific lexis, such as abbreviations and other shorthands, and has evolved a specific set of values for what it considers to be good and less good work (cf. Becher, 1989). It will also have evolved a sense of what does not need to be discussed – a sense of its ‘silential relations’ (Becker 1955). Last but not least, a place discourse community has a sense of its history, and tries to communicate its traditions and modi operandi to its newcomers just as it tries, by legitimate peripheral participation, to inculcate them into ‘appropriate’ discoursal practices (Swales 1998:204).
Swales emphasises that this working definition describes a functioning place discourse community; it need not, however, be free of various kinds of conflict. It is not construed as a utopian or idealist construct:
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“such a PDC does not have to be “congenial” or “supportive” or “democratic” or “close-knit” (Bex 1996), or “egalitarian” or “consensual” (Eckert & McConnell-Ginet 1992), or even particularly successful, or free of gender, racial, and other kinds of prejudice. However, if fissures fester, the ensuing dysfunctionality will preclude PDC status” (Swales 1998:204). Swales makes use of the term “legitimate peripheral participation” to describe the inculcation of newcomers into a place discoure community. Anthropologist Jean Lavé and Étienne Wenger, who turned from tutoring systems and artificial intelligence to study learning as an intrinsically social activity, refer to legitimate peripheral particpation to describe situated learning, deriving from studies of learning as a form of apprenticeship, within what is termed a community of practice in their co-authored book, Situated Learning. Legitimate peripheral participation (1991). A community of practice is an aggregation of people who engage with one another in a common endeavour (two of the examples given are women entering into traditional midwifery, and apprentice tailors). In so doing, people engage in the common practices that shape the work that they do, or the way that they communicate with one another, for example. Legitimate peripheral participation describes the situation of the apprentice who is accepted as a learning member gradually taking on more and more tasks as he or she learns more and more of the community’s practices. The theoretical model “community of practice” was introduced to the field of sociolinguistics as a network of units within a speech community to describe practices used to index gender among teenagers in high schools in and around the Detroit area of the United States by Penelope Eckert, in, for example, Linguistic Variation as Social Practice (2000). Eckert noted differences in the use of phonological variables in the speech of teenagers who associated with the local neighbourhood and those who aspired to increased mobility, finding differences among girls and among boys, but also between girls and boys. The community of practice model is also used (in other fields) as a generative model to encourage community formation to foster learning. While he adopts the term legitimate peripheral participation to describe learners accepted into a place discourse community, Swales also criticizes the community of practice model as describing an ideal learning situation, one that blends out various mechanisms of exclusion. In Research Genres (2004), also published in the Cambridge Applied Linguistics Series, Swales continues to refer to the discourse community (especially p. 245) as a contextual descriptor for communicative genres, but broadens his terminology of reference considerably. For example, when Swales refers to a model of areas of knowledge that
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“impinge on communicative expertise” in Writing in the Real World (1998) by A. Beaufort, he lists a multiplicity of terms to describe the context that binds these areas of knowledge: Furthermore, all four [areas of knowledge] are themselves bounded by what [Beaufort] calls ‘discourse commmunity knowledge’ (p. 64); what followers of Lave and Wenger (e. g., 1991) refer to as experience of the ‘community of practice’; what Hyland (2000) calls ‘disciplinary culture’; or what Bourdieu (1990) terms ‘habitus’ (Swales 2004:62).
4.3 Competence and agency Academic communicative competence means possession of the skills necessary to communicate according to the discourse conventions generated by the community’s genres, along with recognition of a genre’s communicative purpose or sets of purposes and an understanding of the rationale behind choices of form, structure, and content – an understanding that can be arrived at in the English for academic purposes classroom through an analysis of genre that includes but must extend beyond textual analysis. In terms of the extent to which this competence involves close conformation to convention, as opposed to the importance of individual innovation (presumably a parallel feature of research in many fields), Swales describes the situation in a differentiated way. First of all, like Labov with reference to language in the speech community, Swales identifies discourse, specifically genre, as a property of the community, not the individual, in an explanation of the relationships between discourse community and communicative genres: Discourse communities are sociorhetorical networks that form in order to work towards sets of common goals. One of the characteristics that established members of these discourse communities possess is familiarity with the particular genres that are used in the communicative furtherance of those sets of goals. In consequence, genres are the properties of discourse communities; that is to say, genres belong to discourse communities, not to individuals, other kinds of grouping or to wider speech communities (Swales 1990:9).
Because genres are a group’s means to communicative ends, Swales sees a certain amount of flexibility for the individual who participates in a community: it is not obligatory to identify completely with the group or its views. After all, individuals participate with varying levels of attachment or intensity in multiple communities. For some, however, a shared world view is integral to the definition of discourse community: “canonical knowledge regulates the world views of group members, how they interpret experience” (Bizzell 1994:222). While this is not his main focus, there is room in Swales’ description for personal expression. Presumably, juggling the need to conform to convention to achieve acceptance into a discourse community with the
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aspiration to contribute to further research through innovation is the mark of a high level of academic communicative competence, and might conform in a general way with Hymes’ position that “mastery of the way of speaking is prerequisite to personal expression” (Hymes 1972a:60). Swales’ aim is to enable the acquisition of such a high level of competence, whose starting point is near-native speaker-like competence in English, before the added competencies required for participation in the communicative mechanisms of a discourse community can be acquired. In the later publication Research Genres (2004), Swales in fact does away with the native/non-native speaker dichotomy and refers, instead, to junior and senior researchers, regardless of linguistic heritage. The graduate student moving toward fuller participation in a field acquires competency in what Swales refers to as sets of genres (these can be spoken or written genres; in the area of written genres the student begins with course assignments and term papers and moves gradually toward research articles and a dissertation, for example). Thereby, the successful student develops a writing style that conforms to expectation but also allows for some individual expression: It should not be thought that the foregoing account of graduate education is describing, and certainly not advocating, some kind of heedless and slavish apprenticeship. As graduate students and junior researchers develop their understanding of their disciplinary and departmental circumstances, they gain a more nuanced and more exact set of understandings of their genres sets and of the individual genres that comprise them, especially when they have opportunities to iterate several exemplars of a particular genre. In so doing, they learn to experiment with options and learn to recognize their generic strengths and weaknesses, and so begin to develop something of an individual profile and something of an individual voice (Swales 2004:20-21).
Swales remains, however, moderate in terms of his views on the role of English for academic purposes in educating students to criticize and actively seek to change the communities they would like to enter. In a discussion on enhancing individual agency through critical pedagogy he writes: “this does not mean that we may not on occasion act as advocates for any of our students who we feel have been treated unfairly by their departments, but here we are more ombudspeople than general agitators for change” (Swales 2004:248). 4.4 Genre chains and sets While in his 1990 publication Genre Analysis Swales’ main focus had been the production of written texts, in Research Genres (2004) he considers academic spoken discourse in greater detail, including, for example, a genre analysis of the American Ph. D. defense. Swales bases
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many of his observations of academic spoken discourse on transcribed materials collected in The Michigan Corpus of Academic Spoken English (MICASE), a project for which he was one of the initiators. It is an online database of close to two hundred hours of recorded and transcribed academic speech from within and beyond classrooms at the University of Michigan, available online to anyone interested (University of Michigan 2007). Swales credits MICASE with his shift in focus to spoken discourse, as well as “my current attempt to see genres no longer as single – and perhaps separable – communicative resources but as forming complex networks of various kinds in which switching mode from speech to writing (and vice versa) can – and often does – play a natural and significant part” (Swales 2004:2). A genre chain can be built in terms of chronological ordering. The generic chain Swales describes for the American Ph. D. thesis shows the written dissertation itself as embedded in a chain of written and oral genres that prepare and lead up to the writing of the dissertation: writing a Proposal for the Dissertation and the Defense of the Proposal (which is typically an oral examination by the advising committee based on a written submission). After the dissertation is written there is the Approval for the Dissertation Defense; the Defense (before the examining commitee and, typically, a small audience); Revisions to Dissertation; Sign-off and Award of Degree. Other genre chains might also include what Swales refers to as occluded genres, ones which are only available to an insider audience. An occluded genre in the genre chain surrounding the dissertation and its oral defense, for example, could be the discussions between examiners before reporting back to the candidate. A genre set is a range of genres typically mastered by an actor in a given field. Swales gives the example of genres mastered over time by graduate students moving through the academic system. These include both speech genres and written genres: In terms of speech genres, we can often see a progression from class participation, to teaching a discussion section, to giving a seminar presentation, to having independent control of a class, and on to giving conference presentations at increasingly important fora. In written terms, the genre set expands from course assignments, term papers, seminar research papers (or prelim papers), posters (in an increasing number of fields), texts of conference presentations, research articles, and on to the dissertation (Swales 2004:20).
Further, Swales identifies the existence of genre hierarchies where some genres are valued more highly than others, and describes these hierarchies, genre chains, and genre sets as existing within a framework he calls a network, in which overlap and intertextuality between genres can be observed.
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4.5 Repurposing genre The relationship between a discourse community and its communicative genres is primarily defined by the common shaping feature of communicative purpose. Swales describes the discourse community as a sociorhetorical network, one shaped less by the social needs of the group than by the common goals (in this case research-related goals) that it exists to pursue. Achieving the status of discourse community means having its own genres to further these goals. It is this focus on communicative purpose and goal-driven behavior that distinguishes the discourse community from the speech community. The identification of communicative purpose is not, however, necessarily a straightforward enterprise. In Research Genres (2004) Swales readdresses and problematizes the question of communicative purpose. He provides two step-by-step procedural models in which initial presumptions about a genre’s purpose are tentative in an initial phase and later revised. He terms this “repurposing” a genre. One model begins with the identification of a communicative situation and questions pertaining to the analysis of context including goals pursued, then a repurposing through the identification and analyis of known genre repertoires. The other model, the linguistic approach, begins with textual analysis, followed by the identification of a genre, and draws on contextual information to reconsider the initial assessment of the genre’s purpose. Swales provides the following diagram for the text-driven approach: 1. Structure + style + content + “purpose” ↓ 2. “Genre” ↓ 3. Context ↓ 4. Repurposing the Genre ↓ 5. Realigning the genre network Fig. 1: A text-driven procedure for genre analysis (Swales 2004:72)
His own analysis of the Ph. D. dissertation in Research Genres, for example, locates the thesis within a generic chain (see 4.4 Genre chains and sets), gives an overview of existing genre analyses of the thesis, and comments on structure and style in dissertations, before making a first tentative identification of communicative purpose. In so doing, he cites Shaw (1991) who draws on interviews with thesis writers about the audience for whom they were writing. Swales cites Shaw’s identification of the dissertation as a pseudo-communicative task: “[Dissertation
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writers] were often required to do something rather unnatural like pretending that they were writing to inform sophisticated nonspecialists, while being uneasily aware that really the aim is to persuade an expert that they are worthy to join a community of scholars” (Shaw 1991:194, in Swales 2004:112-3). Swales then continues with an analysis of rhetorical and linguistic features in dissertations, case studies of individual experiences, and then a reconsideration of the question of purpose. He demonstrates that a catch-all assignment of purpose to this communicative genre is difficult: it all depends. He lists four areas of influence that shape a candidate’s dissertation (Swales 2004:135-6): the strictures imposed by the institution (format requirements, for example) and the expectations of the graduate school; the conventions of the particular division of the discipline (science, not social science, for example); the subfield and its particular methodologies and approaches; and the nature of relationships to an advisor, evaluative committee, a support group of any kind (including access to sufficient financing). He concludes as follows: “Sometimes then dissertations are more and sometimes they are less of an ‘occasioned academic product’; sometimes more and sometimes less a recognized contribution to the research literature; sometimes more and sometimes less a collaborative (indeed coauthored) enterprise; and sometimes more and sometimes less a waystage to an academic career” (Swales 2004:138). The identification of communicative purpose, or in such procedure a generic ‘repurposing’, is the aim of analysis: Swales terms it, “an analyst’s privilege and an analyst’s reward for investigative endeavor” (Swales 2004:137). 5. Works Cited Bex, Tony: Variety in Written English. Texts in Society: Societies in texts. London 1996. Bizzell, Patricia: “What is a Discourse Community?” In: Academic discourse and critical consciousness. Pittsburgh 1994, 222–237. Eckert, Penelope u. Sally McConnell-Ginet: “Think practically and look locally: Language and gender as community-based practice.” In: Annual Review of Anthropology 21 (1992), 461–490. Ehlich, Konrad u. Jochen Rehbein: „Sprachliche Handlungsmuster.“ In: Interpretatorische Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Hg. v. Georg Soeffner. Stuttgart 1979, 243–274. Hymes, Dell: “Models of the Interaction of Language and Social Life.” In: Directions in Sociolinguistics. The Ethnography of Communication. Hg. v. John J. Gumperz u. Dell Hymes. New York 1972a, 35–71. Hymes, Dell: “On Communicative Competence.” In: Sociolinguistics. Hg. v. John B. Pride u. Janet Holmes. Harmondsworth 1972b, 269–293.
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Kulturspezifik, Inter- und Transkulturalität von Textsorten Jin Zhao (Shanghai) 1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 5. 6.
Problemaufriss Wissenschaftshistorische Hintergründe Forschungstradition Forschungsstand und Entwicklungstendenz Begriffshintergründe und Definitionen Zur Kulturspezifik Zur Interkulturalität und Transkulturalität Methodologie und Vorstellung einer exemplarischen Studie Zusammenfassung und weiterführende Überlegungen Literaturverzeichnis
1. Problemaufriss Lesen wir zunächst einen Brief von einer chinesischen Studentin an einen deutschen Vermieter, der ein Inserat aufgegeben hatte1: Sehr geehrter Inserent, ich komme aus China und werde in diesem Semester an der Bonn-Universität das Recht studieren. Zur Zeit wohne ich noch bei meiner einen Freundin. Aber es kann auch nicht mehr länger dauern. Deshalb wende ich mich an Sie und hoffe, daß Sie mir dabei helfen können. In China habe ich mich schon über zehn Jahre mit Deutsch beschäftigt und kann auch gut Deutsch sprechen, ich bin auch sicher, daß ich mich mit einer deutschen Familie gut vertragen kann. Ehrlich gesagt, möchte ich ein Zimmer von ca. 15 m2 bekommen, das sich auf jeden Fall in einer ruhigen Lage und besser nicht weit von der Universität entfernt befindet, und auch gerne mit einzelnem Bad und einer Toilette. Ich werde mich sehr freuen, wenn eine kleine Küche auch dabei ist, weil ich kochen mag und gut kochen kann. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen sogar die chinesische Spezialitäten anbieten. Übrigens kann ich höchstens bis 400 DM per Monat für die Kaltmiete bezahlen. Vielen Dank für Ihre Hilfe! Hochachtungsvoll
Neben sprachlichen Fehlern und stilistischen Unebenheiten, die bei Nichtmuttersprachlern oft auftreten, wirkt dieser auf Deutsch geschrie————— 1
Beispiel aus Fluck & Jia (1997:28).
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bene Brief in der angegebenen kommunikativen Situation unangemessen. Denn er entspricht zwar der allgemeinen formalen Struktur des deutschen Briefes, aber nicht der kommunikativen Konvention. Der Brief ist sehr persönlich geschrieben, und die Studentin kommt nicht direkt zum Thema. Stattdessen werden zuerst Hintergrundinformationen über die eigene Person, den Grund für das Mietgesuch, die eigene Sprachfähigkeit gegeben sowie die Zuversicht zum Ausdruck gebracht, mit der deutschen Familie gut zusammenleben zu können. Der Grund dafür liegt höchst wahrscheinlich darin, dass das chinesische Textmuster dieser Textsorte unmittelbar aufs Deutsche übertragen worden ist. Andererseits klingt die direkte Angabe der aus Sicht der Studentin noch akzeptablen maximalen Höhe der Miete nicht sehr chinesisch, sondern zeigt Spuren antizipierter deutscher Denkweise. Dieser Brief ist deswegen ein Mischprodukt, ein Ergebnis der Begegnung zweier verschiedener Kulturen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Textsorten, die durch ähnliche situative bzw. funktionale Merkmale gekennzeichnet sind, in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften durchaus unterschiedliche Textstrukturen und Sprachstile aufweisen können. Beim Leserbrief z. B. verfügt das Ungarische über lange metakommunikative Einstiegssequenzen, während diese im Deutschen komprimiert dargestellt werden. Der polnische Leserbrief ist nicht nur emotional, sondern enthält auch das Textsegment der Danksagung, welche im Ungarischen nur sporadisch und im Deutschen überhaupt nicht erscheint. Außerdem haben die Emittent-Rezipient-Konstellationen im polnischen und ungarischen Leserbrief einen direkten, persönlichen und dialogischen Charakter, während sie im Deutschen distanziert und indirekt sind (vgl. Drewnowska-Vargáné 2001). Bei wissenschaftlichen Rezensionen wird im Deutschen mehr Wert auf eine kritische Auseinandersetzung gelegt, und die sprachliche Realisierung der Kritik fällt direkter und konfrontativer aus als im Amerikanischen (vgl. Hutz 2001). Solche Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Textsorten kulturell geprägt sind. Das Nicht-Verfügen über Kenntnisse einer bestimmten Textsorte in einer anderen Kultur kann zu großen Orientierungsschwierigkeiten, wie der Beispieltext oben schon anschaulich gezeigt hat, führen. Nicht zuletzt können dadurch auch Verständigungsprobleme entstehen. Die Kulturprägung von Textsorten kommt nicht von ungefähr. Wenn Textsorten „in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt“ sind und „zum Alltagswissen der Sprachteilhaber“ gehören (Brinker 2001:135), besitzen sie unvermeidlich stilistische Merkmale bzw. kulturelle Besonderheiten dieser Gemeinschaft. In der Tat sind Textsorten als „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen“ (Brinker 2001:135) selbst ein Teil der Kultur, nicht nur weil der
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Sprache zugesprochen wird, dass sie im Sozialisationsprozess eine spezifische Kultur und Weltanschauung vermittelt (vgl. Humboldt 1963a, 1963b), sondern weil Textsorten als Handlungsmuster auch Aussagen organisieren und pragmatische Deutungsformen einer Kultur darstellen (vgl. Warnke 2001:245). 2. Wissenschaftshistorische Hintergründe Die Auseinandersetzungen mit der Kulturprägung von Texten waren und sind nicht rein an einen sprachwissenschaftlichen Ansatz gebunden. Sie finden ihre Ursprünge in verschiedenen Disziplinen. Seit den 1960er Jahren und zunehmend seit dem Beginn der 1980er Jahre haben sich u. a. die Fremdsprachendidaktik, die Übersetzungswissenschaft, die Fachsprachenforschung, die kontrastive Textlinguistik und seit den 1990er Jahren auch der Forschungsbereich Interkulturelle Kommunikation damit beschäftigt. Auch heute stellt die interdisziplinäre Zusammenarbeit ein Kennzeichen der Erforschung dieser Problematik dar. Im Folgenden wird versucht, die Forschungstraditionen und -entwicklung zu erläutern und die damit verbundenen grundlegenden Arbeiten vorzustellen. 2.1 Forschungstradition Ein Vorläufer der Beschäftigungen mit der Kulturprägung der Texte stellt die didaktisch motivierte Untersuchung von Robert Kaplan (1966) dar. Aufgrund der Beobachtung im Unterricht English as a Second Language an Universitäten in den USA, dass sich englischsprachige Aufsätze von Nichtmuttersprachlern von denen der Muttersprachler insbesondere auf der Textebene unterschieden, hatte Kaplan 600 englischsprachige Prüfungsaufsätze ausländischer Studierender auf ihre Absatzstrukturierung hin untersucht. Daraus haben sich fünf typische Absatzstrukturen ergeben, die nach ihm den fünf Sprachgruppen Englisch, Semitisch2, Orientalisch3, Romanisch4 und Russisch zugeordnet werden könnten. Kaplan zufolge sind englischsprachige Texte linear aufgebaut, während die semitischen parallel konstruiert sind. Dagegen werden die orientalischen Texte als ein sich nach innen bewegender Kreis und somit indirekt und spiralförmig angesehen. Die romanischen Texte enthalten nach Kaplan vom Thema abweichende, die Linie des Hauptthemas allerdings nicht beeinträchtigende Textteile, während die ————— 2 3 4
Zu dieser Gruppe wurden arabische und hebräische Texte zusammengefasst. Zu dieser Gruppe wurden chinesische und koreanische Texte zusammengefasst. Zu dieser Gruppe wurden französische und spanische Texte zusammengefasst.
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russischen durch Abweichungen gekennzeichnet sind, die sich oftmals als unwichtig erweisen. In letzterem Fall wird die Linie des Hauptthemas unterbrochen. Obwohl die Untersuchung von Kaplan später auch viel Kritik bezüglich des zugrundegelegten Datenmaterials, der Untersuchungsmethode sowie des Inhalts erhält5, hatte er durch seine Pionierarbeit doch darauf aufmerksam gemacht, dass verschiedene Sprachkulturen unterschiedliche Vertextungsmuster aufweisen und Texte unterschiedlicher kultureller Herkunft kulturspezifische Denkweisen bzw. Merkmale enthalten. In der Übersetzungswissenschaft wurde längst festgestellt, dass der systematische Vergleich textsortenspezifischer Merkmale für Übersetzungsdidaktik und Übersetzungspraxis von Bedeutung ist (vgl. Wilss 1977:145ff.). Insofern gibt es schon seit Anfang der 1970er Jahre Versuche, durch den interlingualen Vergleich bestimmter Textsorten empirische Ergebnisse für ein textsortengerechtes Übersetzen bereitzustellen (vgl. Schmidt 1996:430f.). Bekannt wurden solche Forschungstätigkeiten bzw. die Diskussion darüber aber erst nach der Einführung des Begriffs „Kontrastive Textologie“ von Reinhart R. K. Hartmann (1980) und Bernd Spillner (1981). Dabei wird verlangt, dass man „die Charakteristika von Textsorten auf allen Sprachebenen interlingual vergleicht“ (Spillner 1981:243). Zu diesem Forschungszweck hat Reiner Arntz (1990) drei Methodenschritte dargestellt, nämlich die Analyse von Texten in Sprache A, die Analyse von Texten in Sprache B und der Vergleich der Analyseergebnisse aus den ersten zwei Schritten. Verglichen werden in diesem Zusammenhang nicht nur die textinternen (strukturellen), sondern auch die textexternen (kommunikativen) Aspekte. Dieser in der Übersetzungswissenschaft verankerte Ansatz wurde schließlich von anderen Disziplinen wie der Textlinguistik, der Fachsprachenforschung und später auch der Interkulturellen Kommunikationsforschung ————— 5
Lehker (1996:163–171) hat die Kritik in methodischer und inhaltlicher Hinsicht zusammengefasst: In Bezug auf die Methode ist das Datenmaterial zahlenmäßig zu klein, um umfassende Aussagen über Texte aus einzelnen Sprachfamilien treffen zu können. Außerdem wurden das Untersuchungskorpus und das Analyseinstrumentarium nicht detailliert dargestellt, so dass eine Überprüfung der Analyseergebnisse nicht möglich ist. Darüber hinaus wurden die Analyseergebnisse nicht einheitlich an L2-Texten dargestellt, sondern z. T. an ins Englisch übersetzten L1-Texten. Inhaltlich gesehen ist unzulässig, generelle Aussagen über ganze Kontinente oder Sprachfamilien zu äußern, denn die Strukturierungsunterschiede von Texten sind lediglich auf Unterschiede zwischen Kulturen zurückzuführen. Zudem ist es nicht korrekt, L2-Texte zu untersuchen, um die Kulturspezifik in der Muttersprache zu analysieren. Denn inwieweit ein Transfer von muttersprachlichen zu fremdsprachlichen Texten stattfindet, hängt von vielen Faktoren ab. Deswegen sollten zu diesem Zweck eher muttersprachliche Texte analysiert und verglichen werden.
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aufgegriffen und für die Untersuchung der Kulturgebundenheit der Textsorte fruchtbar gemacht, da er im Grunde genommen den Ausgangspunkt für eine kulturwissenschaftliche Textanalyse darstellte. In der Sprachwissenschaft war zu Beginn der 1970er Jahre die kontrastive Linguistik noch stark mit dem strukturalistischen Aspekt verwoben und wurde aufgrund ihrer Festlegungen auf die phonetischphonologische, morphologisch-syntaktische oder semantische Sprachebene auch als „Kontrastive Grammatik“ bezeichnet (vgl. Baumann & Kalverkämper 1992:10). Erst am Ende der 1970er Jahre wurde die methodologische Öffnung in die Dimension der Texte vollzogen (vgl. Baumann & Kalverkämper 1992:13). Allerdings sind selbst nach der Einführung des Begriffs „Kontrastive Textologie“ in die Sprachwissenschaft nur wenige vergleichende Textforschungsarbeiten in den 1980er Jahren entstanden, die auf die Kulturgebundenheit der Texte eingingen. Bezüglich der Fachtexte gab es in den 1980er Jahren dagegen die Diskussion über die Universalität oder Kulturgebundenheit, die nicht nur in der kontrastiven Linguistik, sondern auch in der Fachsprachenforschung angeführt wurde. Das von Henry G. Widdowson (1979) eingebrachte Universalienkonzept besagt, dass der wissenschaftliche Diskurs eine universelle Gattung und nicht an einzelne Sprachen gebunden sei. Den Grund dafür sah er darin, dass in den Fachtexten die gleichen intellektuellen und methodischen Handlungen ausgeführt, geteilte Begriffssysteme verwendet sowie das gleiche Instrumentarium der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung erprobt werden. Andere Vertreter des Universalienkonzeptes wie Viliam Schwanzer (1981) und Jan M. Ulijn (1982) hingegen beschrieben die Universalia in den wissenschaftlichen Fachsprachen v. a. durch Vergleiche syntaktischer und lexikalischer Erscheinungen und sahen die Universalität z. B. in dem Gebrauch künstlicher Symbole, in der Sachbezogenheit, der Entpersönlichung des Ausdrucks sowie der ökonomischen Darstellung. Dieses Konzept ist aber aufgrund des Mangels an empirischer Fundierung und aufgrund der eurozentrischen Sichtweise (vgl. Gläser 1992:83–86) aus heutiger Sicht „mit Zurückhaltung zu beurteilen“ (Baumann & Kalverkämper 1992:18). Die Gegenposition zu dem Universalienkonzept in der Fachsprachenforschung betonte dagegen die kulturellen Besonderheiten der Einzelsprachen, die man durch kontrastive Fachtextuntersuchungen nachzuweisen versuchte (vgl. Gläser 1992:86f.). Bezugspunkt dafür ist die Hypothese von Johan Galtung (1983), die verschiedene intellektuelle Stile postuliert. Galtung unterschied zwischen einem sachsonischen, einem teutonischen, einem gallischen und einem nipponischen intellektuellen Stil. Dabei steht die sachsonische Struktur für die englischsprachigen Länder mit England und den USA als Vertretern und wird meta-
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phorisch als ‚auf dem soliden Boden der Empirie errichtete kleine Pyramiden‘ beschrieben. Der teutonische Stil erstreckt sich von Deutschland bis nach Osteuropa einschließlich der ehemaligen Sowjetunion und wird als ‚gigantische Pyramidenkonstruktionen‘ beschrieben. Die gallische Wissenschaft umfasst die romanischen Länder und Rumänien und wird als eine ‚von Symmetrie gekennzeichnete Hängematte‘ charakterisiert, während sich die nipponische Kultur auf Japan bezieht und sich als ‚buddhistisches Rad‘ verstehen lässt. Diese unterschiedlichen Denk- und Formulierungsstile sollen die Wissenschaftler aus einem bestimmten Kulturkreis beeinflussen, insofern können die Fachtexte, deren sich die Wissenschaftler als Kommunikationsmittel bedienen, auch nicht universal sein. Während Galtung seine These ohne empirische Untermauerungsversuche noch essayartig formulierte, versuchte der deutsch-australische Fachsprachenforscher Michael Clyne (1981, 1984, 1987, 1991), anhand empirischer Untersuchungen die kulturspezifischen Differenzen in der Organisation wissenschaftlicher Texte nachzuweisen. Durch Untersuchung von 52 englisch- und deutschsprachigen wissenschaftlichen Texten aus den Bereichen Linguistik und Soziologie kam er zu dem Ergebnis, dass englische Texte linear und weniger abschweifend sind, während deutsche Texte eine eher asymmetrische und leicht bis sehr digressive Struktur aufweisen.6 D. h., auch die wissenschaftlichen Texte erhalten in ihrem strukturellen Aufbau durchaus eine kulturelle Prägung7. 2.2 Forschungsstand und Entwicklungstendenz Mit dem Aufkommen der Interkulturellen Kommunikationsforschung und mit der Einführung der interkulturellen Perspektive in die verschiedenen Disziplinen in den 1990er Jahren, erlebt die interlinguale Textforschung einen Aufschwung. In der Text(sorten)linguistik erfährt der ————— 6
7
Gabrielle Graefen (1994) setzt sich kritisch mit den Begriffen „Linearität“, „Digression“, „räumliche Verteilung“ sowie „Vektorialität“ eines Textes in Clynes Untersuchungen auseinander und weist darauf hin, dass diese formalen Strukturunterschiede letztendlich auf inhaltliche Differenzen in der Planung und Gewichtung von Textteilen zurückgeführt werden können. Insofern plädiert sie dafür, bei der kontrastiven Untersuchung deutscher und englischer Wissenschaftstexte als Methode in zunehmendem Maße die verwendeten sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel in der Herstellung einer Verständigung zwischen Autor und Leser in deutschen und englischen Texten zu untersuchen. Zwar weist Gabriele Graefen (1994:149–151) kritisch darauf hin, dass diese interkulturelle Differenz der Textstrukturen in Clynes Untersuchungen nicht eigens den wissenschaftlichen Texten vorbehalten ist, sondern die allgemeinen Unterschiede der englischen und deutschen Schreibkonventionen auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre darstellt. Aber m. E. sind die Untersuchungen von Clyne von besonderer Bedeutung, da sie eine kulturelle Einbindung gerade auch der wissenschaftlichen Texte gezeigt haben.
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soziale (kulturelle) neben dem sprachlichen und kognitiven Aspekt bei der Textsortenuntersuchung vermehrt Beachtung (vgl. Fix 2008:103), dabei wird die Kulturalität als zusätzliches Kriterium der Textualität angesehen (vgl. Fix 2008:134). Was konkrete Forschungen betrifft, so widmen sich viele textlinguistische Arbeiten eigens dem Thema der Kulturspezifik von Textsorten (z. B. die Beiträge in Fix, Habscheid & Klein 2001). Analysiert werden einerseits die Makrostruktur und andererseits die kommunikativen Muster der Textsorte, so dass Aussagen über die Unterschiede bzw. die Besonderheiten derselben Textsorte oder die unterschiedliche Realisierung derselben Kommunikationsfunktion in verschiedenen Sprachen formuliert werden können. Die verglichenen Sprachen sind nicht mehr nur auf Deutsch, Englisch, Französisch oder andere europäische Sprachen beschränkt. Beispielsweise ist auch Chinesisch zunehmend vertreten (z. B. Liang 1991; Lehker 1997; Yin 1999). Interessanterweise wurde zu Anfang des neuen Jahrtausends in der Textlinguistik die Bezeichnung „Kontrastive Textologie“ wieder belebt und man begann mit dem Versuch, diese als selbstständige linguistische Teildisziplin zu etablieren. Allerdings wird der Vergleichsrahmen weiter abgesteckt. Denn es geht in diesem Zusammenhang nicht lediglich um die Untersuchung der kulturellen Geprägtheit von Textsorten bzw. kommunikativen Mustern allein, sondern auch um die Erforschung der unterschiedlichen Strukturen von Textsortennetzen und Diskurssystemen, in denen sich die Einzelkulturen ebenfalls niederschlagen. Der Zweck dabei ist, die Kluft zwischen Textsorten und kulturellen Denkund Lebensformen (vgl. auch Schneider, in diesem Band) zu überbrücken (vgl. Adamzik 2001a:37f.). Während Textsorten in der linguistischen Forschung den eigentlichen Untersuchungsgegenstand darstellen, dienen sie in der Interkulturellen Kommunikationsforschung als Mittel zum Zweck, um die tieferliegenden kulturellen Unterschiede herauszufinden oder die allgemeinen kulturspezifischen Denkstrukturen aufzuzeigen. Dabei beschränken sich die Forschungen nicht mehr auf die z. B. von Wolfgang Pöckel (1999) angeführten Textsorten mit hohem bis mittlerem Standardisierungsgrad wie Lebenslauf, Kochrezept oder Anzeige. Viel mehr werden auch komplizierte Textsorten auf ihre verbalen (lexikalischen, syntaktischen und rhetorisch-stilistischen Vertextungsmittel, Makrostrukturen, funktionalen und thematischen Elemente usw.), paraverbalen (Typographie, Satzanordnung, Spaltenanordnung, Interpunktion, Schriftart, Schriftgröße usw.), nonverbalen (Format, Papierqualität, Farbe, Layout, Bilder usw.) und extraverbalen (Zeit, Raum, soziale Variablen usw.) Merkmale hin untersucht. Denn diese unterschiedlichen Vertextungselemente innerhalb eines Kultursystems und im Rah-
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men der Realisierung einer Textsorte bilden schließlich einen in sich homogenen Verweisungszusammenhang (vgl. Bolten et al. 1996:415). Jürgen Bolten et al. (1996) haben z. B. amerikanische, britische, deutsche, französische und russische Geschäftsberichte aus der Automobilbranche auf diesen verschiedenen semiotischen Ebenen analysiert und die Hypothese von Galtung (1983) über die unterschiedlichen intellektuellen Stile weitgehend bestätigt. Jin Zhao (2008) hat deutsche und chinesische Imagebroschüren aus der pharmazeutischen und Textilindustrie ebenfalls auf diesen vier Ebenen zum Zweck der Erforschung der deutschen und der chinesischen Kulturstile verglichen, dabei werden Bilder als eines der wichtigsten Vertextungsmittel dieser Textsorte hinsichtlich der Bildtypen, der Bildstruktur, des Bildinhalts und der Bildfunktion detailliert untersucht. Im Ergebnis hält sie fest, dass der chinesische Kulturstil mit seiner hierarchischen Denkweise und indirekten emotionalen Kommunikationsform sowie der gegenwärtigen Technikvorliebe im Unterschied zum Deutschen steht, der durch die Gleichberechtigung aller Menschen, Sachlichkeit und Innovationsanstrengungen gekennzeichnet sei. In der Forschung zur Kulturgeprägtheit der Textsorten zeigt sich nun verstärkt die Tendenz der interdisziplinären Zusammenarbeit. Während die Untersuchungsergebnisse aus der Text(sorten)linguistik weiterhin der Fremdsprachendidaktik und der Übersetzungswissenschaft zur Verfügung gestellt werden, bedienen sich diese Disziplinen der text(sorten)linguistischen Untersuchungsmethode direkt, um sie einem praktischen Anwendungszweck zuzuführen (z. B. Venohr 2007; Reinart & Schreiber 1999). Darüber hinaus lässt sich bei der Textsortenanalyse eine Verschiebung des reinen Sprachvergleiches zu einem multimodalen Textverständnis erkennen, wobei Erkenntnisse aus der Semiotik und Medienwissenschaft herangezogen werden (z. B. Androutsopoulos 2001). 3. Begriffshintergründe und Definitionen 3.1 Zur Kulturspezifik In der obigen Darstellung ist nicht schwer zu erkennen, dass in der allgemeinen Diskussion und in der Forschung zur kulturellen Geprägtheit der Textsorten in verschiedenen Disziplinen die Kulturspezifik oft mit der Sprachspezifik bzw. Nationalspezifik oder Ethniespezifik gleichgesetzt wird. Um den Begriff der Kulturspezifik von Textsorten besser zu verstehen, ist es jedoch wichtig, auf die Diskussion über die Bedeutungsbestimmung bzw. über die Bezugsgröße und die diachronische Dimension der Kultur einzugehen.
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„Kultur“ ist ein so facettenreicher und vielschichtiger Begriff, dass in der Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Definitionen aus verschiedenen Perspektiven entstanden sind8. Im ethnographischen Sinne wird Kultur z. B. als „jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten [verstanden], welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“ (Tylor 1871:1, zitiert nach Hansen 2003:37). In der Anthropologie definiert man Kultur dagegen als „Artefakte, Institutionen, Ideologie und die gesamte Breite gebräuchlicher Verhaltensweisen, mit denen eine Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer besonderen Umwelt ausgestattet ist“ (Cohen 1974:46, zitiert nach Vivelo 1995:51). Im Rahmen der Forschung zur Interkulturellen Kommunikation greift Jürgen Bolten (2001:12) auf eine Bedeutungsvariante des lateinischen Ursprungswortes colere von „Kultur“ zurück und bezeichnet Kultur als „die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, die wir uns durch unser Zusammenleben geschaffen haben und ständig neu schaffen“. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion nennt Klaus P. Hansen (2003:39) Kultur „Standardisierungen, die in Kollektiven gelten“. In diesen Definitionsbemühungen zum Kulturbegriff werden als Bezugsgröße der Kultur „Gesellschaft“, „Lebenswelt“ oder „Kollektive“ erwähnt, d. h., dass sich Kultur immer auf eine bestimmte Gruppe bezieht. Allerdings ist diese „Gruppe“ nicht zwangsläufig fest an „Sprachgemeinschaft“, „Nation“ oder „Ethnie“ gebunden.9 Die Sprachgemeinschaft oder die Nationen sind zwar die wichtigsten Bezugsgrößen der Kultur, insbesondere in einer Zeit, in der die Begegnung der Menschen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Muttersprachen immer häufiger stattfindet. Aber das sprachliche und das politische Kriterium sind und bleiben nicht die einzige Möglichkeit, die Gruppe oder die Lebenswelt zu definieren, auf die sich die Kultur bezieht. Hans-Jürgen Lüsebrink (2005:12f.) hat z. B. territorial-geographische (kontinentale Kultur, regionale Kultur, lokale Kultur usw.), soziale bzw. soziokulturelle (Kultur des Bürgertums, der Arbeiterschaft, ————— 8 9
Nach Bolten (2001:10) haben amerikanische Forscher bereits in den 1960er Jahren über 250 unterschiedliche Bedeutungen von „Kultur“ ausfindig gemacht. Auch in der interkulturellen Kommunikationsforschung bzw. -praxis wird Kultur oft mit „Nation“, „Staat“ oder „Land“ gleichgesetzt, wie die folgenden Publikationen beispielsweise zeigen: Interkulturelle Kommunikation Deutsch-Chinesisch (Zhu, Fluck & Hoberg 2006), Interkulturelle Kommunikation im deutsch-amerikanischen Arbeitsalltag (Kremer 2004), Interkulturelle Kommunikation in der deutsch-französischen Wirtschaftskooperation (Guérin-Sendelbach 2001), Deutsche und Italiener: der Einfluß von Stereotypen auf interkulturelle Kommunikation (Mazza Moneta 2000) oder Interkulturelle Kommunikation in Geschäftsbeziehungen zwischen Russen und Deutschen (Rösch 1999) usw. Dabei bedeutet Kultur die deutsche, die chinesische, die amerikanische, die französische, die italienische oder die russische Kultur.
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der Nomaden usw.) und religiöse Bezugsgrößen (Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum usw.) vorgeschlagen. Ähnlich weist Jürgen Bolten (2001:13ff.) auf unterschiedliche Sichtweisen zur Bestimmung der Lebenswelt hin, die jeweils mit Vor- und Nachteilen verbunden sind: Neben der politischen Perspektive nennt er auf der Makroebene noch die geographische (wie ostasiatische Kultur, westeuropäische Kultur), die sprachliche (wie frankophone oder anglophone Kultur), geistesgeschichtliche (wie romanische Kultur) und diverse soziale Kategorien (wie bayerische Kultur, Unternehmenskultur). Da Kulturen nach diversen Kriterien Bezug auf unterschiedliche Lebenswelten oder Gruppen nehmen können, schlägt Klaus P. Hansen (2003) den Terminus „Kollektive“ zur Bezeichnung der kulturellen Bezugsgrößen vor. Dieser Terminus kann als Oberbegriff alle denkbaren menschlichen Gruppierungen umfassen, die jeweils eine bestimmte Summe von Mitgliedern mit einem Kollektivgefühl enthalten. Mit diesem Begriff wird außerdem auch die Grenze zwischen Kulturen und Subkulturen überwunden, eine Unternehmenskultur muss z. B. nicht mehr zwangsweise als Subkultur einer Nationalkultur bezeichnet werden. Dennoch lassen sich die Kollektive gemäß Hansen (2003:203ff.) nach der Anzahl der offerierten Identitätsangebote differenzieren. Mit den Begriffen „Monokollektive“, „Multikollektive“, „Super- bzw. Dachkollektive“ und „Globalkollektive“10 besagt er, dass ein komplexes Kollektiv Unterkollektive umfasst, während die Unterkollektive unter dem kulturellen Einfluss ihres Dachkollektivs stehen und somit in einer spezifischen von ihrem Dachkollektiv geprägten Form vorkommen. In diesem Sinne bedeutet dann Kulturspezifik gleichsam Kollektivspezifik. Somit kann man auch von einer Kulturspezifik gruppenspezifischer Ausdrucksformen wie Fankulturen sprechen, die von Kommunikatoren in verschiedenen Sprachgemeinschaften gezielt aufgegriffene „Markenzeichen“ aufweist und interlinguale Konvergenzen bezüglich der Gestaltung einer Textsorte, ihrer visuellen Umgebung sowie des Trägermediums und der kommunikativen Praktiken rund um dieses Medium besitzt (vgl. Androutsopoulos 2001:47). ————— 10 Während Monokollektive nach Hansen (2003:205) eng angelegt sind und kein anderes Kollektiv umfassen können, bergen Multikollektive Untergruppierungen in sich. Die Besonderheit von einem Superkollektiv im Vergleich zu einem Multikollektiv bestehe darin, dass es eine feste politische und juristische Einheit bilde. Globalkollektive hielten sich hingegen nicht mehr an die Grenzen der Superkollektive und seien somit transnational und weltumspannend. Allerdings ist diese Teilung meiner Meinung nach relativ, sie hängt von einer bestimmten Sichtweise ab und besitzt keine absolute Trennschärfe. Beispielsweise geht das Gebiet „Ostasien“ bereits über politische Grenzen hinaus, ist aber auf keinen Fall global. Auch ein multinationales Unternehmen ist in dem jeweiligen Land als ein Multikollektiv in einem Superkollektiv zu verstehen, obwohl es an sich bereits weltumspannend ist.
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Allerdings bleibt die Kultur einer Gemeinschaft historisch nicht statisch, sondern sie ist einer geschichtlichen Veränderung unterworfen. D. h., Kultur weist auch eine diachronische Dimension auf. Der Grund liegt nach Jan Assmann (1988:13) wohl in der Rekonstruktivität des kulturellen Gedächtnisses11. Zwar verfügt jede Epoche potentiell über die Gesamtheit des Wissensvorrats, aber jede Gegenwart setzt sich zu ihm in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehungen. Dadurch kann der gesamte Wissensvorrat modifiziert, angereichert aber auch reduziert werden. Zum Wandel der Kultur beitragen können z. B. Entdeckungen eines neuen Wirklichkeitssegmentes, technische Erfindungen, tiefgreifende technologische Innovationen, entscheidende historische Ereignisse, aber, was sehr wichtig ist, auch die Kommunikation zwischen verschiedenen Kollektiven. Aufgrund dieser historischen Dynamik der Kultur ist die Epochenspezifik von Textsorten ebenfalls als Kulturspezifik zu verstehen. Angelika Linke (2001) hat z. B. in einer Untersuchung der Textsorte „Todesanzeige“ in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s herausgefunden, dass diese Textsorte nicht mehr zwingend der traditionellen Form verhaftet ist, in der über den Tod eines Menschen sowie Ort und Datum der Beerdigung informiert wird. Oft wird die moderne Todesanzeige sowohl in der sprachlichen Form als auch in der illokutiven Potenz als „Brief der Hinterbliebenen an den Verstorbenen“ oder als Traueranzeige zum Zweck des öffentlichen Ausdrucks der Trauer formuliert, was mit dem kulturellen Wandelprozess der Individualisierung eng verbunden ist. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, bei der Untersuchung der Kulturspezifik von Textsorten die historische Dimension einzubeziehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die textlinguistische Beschäftigung mit Fragen der Kulturspezifik die Sprache zwar als wichtiges Kriterium der Abgrenzung jeweiliger Kulturen nehmen kann, aber sich nicht darauf beschränken darf. Viel mehr soll sie auch die Sozialgruppen- und die historische Bedingtheit der Textsorte berücksichtigen. 3.2 Zur Interkulturalität und Transkulturalität Im Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung und Internationalisierung werden die Begriffe „Interkulturalität“/„interkulturell“ und „Transkulturalität“/„transkulturell“ sowohl in der Wissenschaft als auch in der ————— 11 Das kulturelle Gedächtnis ist „als Sammelbegriff für alles Wissen [zu verstehen], das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“ (Assmann 1988:9).
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Praxis seit Jahren inflationär verwendet, ohne auf ihre genauen Bedeutungen oder ihre genauen Konzepte einzugehen. Im Folgenden wird versucht, die Hauptmerkmale beider Begriffe zu erläutern. Dem Begriff „Interkulturalität“ ist vor allem Alois Wierlacher nachgegangen. Wierlacher (2000:280) versteht „Interkulturalität“ als einen Beziehungsbegriff, der sich auf zwei Kulturen bezieht. Aus dem Formativ „inter“, das ursprünglich „zwischen“, „wechselseitig“ bzw. „zusammen“ bedeutet, haben Wierlacher & Hudson-Wiedenmann (2003:227– 231) fünf Bedeutungsebenen konstruiert. Diese sind: x x x
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Reziproker Wechseltausch kulturdifferenter Perspektiven; Modus kooperativer Erkenntnisarbeit; Eine partielle Gemeinschaft zwischen dem einen und dem anderen, die für beide eine erhebliche Veränderung ihrer selbst mit sich bringt, und sie zugleich in eine sich verändernde und zugleich verbindende hermeneutische Situation rückt; Die kulturelle Zwischenposition, die Interdependenzen zwischen den agierenden Identitäten als Alteritäten stiftet, insofern die Veränderung ihrer selbst eine partielle Gemeinschaft und Teilhabe an dieser Gemeinschaft stiftet; The third culture, die mehr und anders ist als die Addition von Perspektiven.
Aus dieser Erläuterung ist zu ersehen, dass das Konzept von „Interkulturalität“ eher von kulturellen Divergenzen ausgeht, obwohl dabei immer versucht wird, die Unterschiede nicht als Gräben und Gegensätze zu betrachten. Erforderlich ist dagegen, die möglichen Missverständnisse bzw. Konflikte aufgrund der Unterschiede abzubauen bzw. zu vermeiden, indem man sich für die Unterschiede sensibilisiert und die kulturelle Begegnung als Chance kooperativer Erkenntnisarbeit und zur Bereicherung der eigenen Arbeit ergreift. Angestrebt wird zusätzlich eine Synergie in dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen, die das Zustandekommen von qualitativ Neuem darstellt. Die Untersuchung der Interkulturalität von Textsorten bedeutet in diesem Zusammenhang, die Textsorte bezüglich ihrer kulturspezifischen Unterschiede zu untersuchen und die kulturellen Interdependenzen bei der Textsortengenese zu analysieren. Zu Letzterem hat Ingo Warnke (2001:250) das Beispiel angeführt, dass die Ausformulierung der Tochterrechte im Rahmen der Stadtrechte in Deutschland auf die Rezeption der Mutterrechte in Osteuropa zurückzuführen ist. D. h., die interkulturelle Rezeption von Texten kann zur Entstehung neuer Textsorten führen, die in keiner der Ausgangskulturen ursprünglich vorhanden waren.
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Das andere Konzept „Transkulturalität“ wird vor allem von Wolfgang Welsch (2000) vertreten. „Trans“ bedeutet nach ihm zweierlei: Im Blick auf den Mischungscharakter der kulturellen Determinanten hat „trans“ den Sinn von „transversal“ und besitzt im Blick auf die Zukunft sowie im Vergleich mit der früheren Verfassung der Kulturen12 den Sinn von „jenseits“ (ebd.:335f.). Denn Kulturen sind nach seinem Verständnis längst nicht mehr durch Homogenität und Separiertheit gekennzeichnet, sondern weitgehend durch Mischungen und Durchdringungen. Dieses über den traditionellen Kulturbegriff hinaus- und durch die traditionellen Kulturgrenzen hindurchgehende Konzept sieht über die Divergenzen der Kulturen nicht hinweg, betont aber eher die Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten, die im Zusammentreffen verschiedener Kulturen bestehen. Es wird davon ausgegangen, dass die transkulturellen Netze stets einige Elemente gemeinsam haben, so dass eine gemeinsame Lebensform gebildet werden kann. Wenn Textsorten als Teil der menschlichen Kultur verstanden werden, die durch die Kommunikation zustande kommen, sind sie aufgrund der Abhängigkeit und gegenseitigen Beeinflussung der Kulturen nicht voneinander isoliert. D. h., dass dieselbe Textsorte in verschiedenen kulturellen Erscheinungen Gemeinsamkeiten aufweisen kann. Die Untersuchung der Transkulturalität der Textsorte bedeutet dann, die Gemeinsamkeiten derselben oder ähnlicher Textsorten in verschiedenen Kulturen nicht außer Acht zu lassen, zumal diese als Grundlage des gegenseitigen Verstehens dienen können. In praktischen Forschungsarbeiten werden in der Tat oft auch Gemeinsamkeiten beim kulturellen Vergleich von Textsorten herausgefunden, wie z. B. in der Untersuchung von Eva Cassandra Trumpp (1998), die verschiedene Textsorten im Bereich der Sportwissenschaft in Englisch, Französisch und Deutsch kontrastiv analysiert hat. Beim Vergleich z. B. der sportwissenschaftlichen Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Kongressberichtsbänden werden eher interlinguale Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Makrostruktur und der funktionellen Teiltextsegmente sowie bezüglich der Gliederungssignale bzw. metadiskursiven Verfahren gefunden, während die wenigen Unterschiede lediglich in der funktionalen Verwendung von topic sentences sowie in Kennzeichen der Darstellungshaltung der Autoren bestehen (ebd.:112). ————— 12 Welsch (2000:329) setzt sich mit diesem Konzept stark von dem Herder‘schen Kulturbegriff ab, der durch drei Bestimmungsstücke gekennzeichnet ist: durch soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung und interkulturelle Abgrenzung.
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4. Methodologie und Vorstellung einer exemplarischen Studie „Vergleich“ wird als eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden in den Wissenschaften angesehen, etwa in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im 19. Jh., in der kontrastiven Linguistik im 20. Jh., aber auch in der Übersetzungswissenschaft, wo der Vergleich bei der Übertragung von einer Sprache in die andere eine Selbstverständlichkeit darstellt, oder in der Fremdsprachenlerntheorie, weil der Lernende den Blick zwischen den beiden Sprachsystemen ständig schweifen lässt. In der Untersuchung der Kulturspezifik bzw. Interkulturalität/Transkulturalität von Textsorten wird der Vergleich ebenfalls als ein wichtiges erkenntniserwerbendes Instrument angewendet, denn durch die Methode des Vergleichs werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den zu untersuchenden Objekten aufgedeckt und die Erkenntnisse über diese Objekte zu deren Wesensmerkmalen geführt. Zur Durchführung des Vergleiches hat Bernd Spillner (1997:209) sieben Komponenten genannt: x „Aufstellung des ‚tertium comparationis‘; x Ermittlung der Realisierung(en) in A; x Ermittlung der Realisierung(en) in B; x (metasprachliche) Deskription der Realisierung(en) A; x (metasprachliche) Deskription der Realisierung(en) B; x expliziter Vergleich (Ermittlung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten); x Befund/Interpretation“. Dabei ist das tertium comparationis die wichtigste Komponente. Es bezieht sich auf diejenigen Aspekte, unter denen A und B verglichen werden. Für die Untersuchung der interkulturellen Divergenzen und transkulturellen Konvergenzen der Textsorte dienen je nach Fragestellung z. B. die Makrostrukturen, Textthemen und deren Entfaltung, die syntaktische Analyse wie Satztyp, -länge, -komplexität usw., die Wortschatzanalyse wie Wortlänge, -arten, -bildung, -varianz, -konnotation usw. als tertium comparationis. Bei der erweiterten Untersuchung mit dem Einbezug des Mediums sollen darüber hinaus die paraverbalen, nonverbalen bzw. extraverbalen Aspekte berücksichtigt werden. Diese methodische Vorgehensweise wird im Folgenden durch die Vorstellung der Untersuchungsarbeit von Matthias Hutz (2001) über die Kulturspezifik wissenschaftlicher Rezensionen im Deutschen und Englischen exemplifiziert. Rezensionen sind eine wichtige Textsorte in der wissenschaftlichen Kommunikation, denn sie informieren über Neuerscheinungen, setzen sich mit dem Inhalt kritisch auseinander und gewähren damit Einblicke
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in neue Forschungstendenzen. Da sie ein öffentliches Forum für die inhaltliche Diskussion über Texte anderer Forscher darstellen und durch eine bewertende Komponente geprägt sind, ist es besonders interessant und sinnvoll, die kulturspezifischen Denkweisen und Darstellungsformen zu untersuchen, die in den Texten in Erscheinung treten. Zu diesem Zweck sind auch schon einige kontrastive Forschungsarbeiten zustande gekommen (z. B. Liang 1991; Fiedler 1992). In der Untersuchung von Hutz wurden jeweils 30 deutschsprachige und 30 englischsprachige (von amerikanischen Verfassern) Rezensionen einbezogen, die außerdem zur Hälfte aus dem Bereich Linguistik und zur anderen Hälfte aus dem Bereich Psychologie gewählt wurden, um zu überprüfen, ob die Fachrichtung auch eine Rolle im Blick auf die Kulturspezifik spielt. Die zentrale Fragestellung bei dieser Untersuchung lautet, ob und wie die kulturspezifische Kritik textstrukturell und sprachlich realisiert wird. Analysiert wurden einerseits die Makrostrukturen, indem variante und invariante Teiltextstrukturen ermittelt wurden, dabei fungieren der Umfang und die Abfolge einzelner Teiltexte als tertium comparationis. Andererseits wurde die sprachliche Realisierung von Kritik untersucht, wobei die Verwendung von kritikabschwächenden und von kritikverstärkenden Ausdrücken sowie die Selbsterscheinung der Rezensenten bei der Kritikäußerung als tertium comparationis betrachtet wurden. Bei der strukturellen Analyse wurden zuerst Voruntersuchungen durchgeführt, indem Teiltexte bzw. Teiltextsegmente ermittelt wurden, die in Rezensionen vorkommen können. Durch quantitativen Vergleich, indem die Vorkommenshäufigkeit einzelner Teiltextsegmente in den jeweiligen Sprachen und Branchen statistisch berechnet und tabellarisch dargestellt wurden, ist Hutz zu dem Ergebnis gekommen, dass der Grad der Übereinstimmung in Bezug auf die Häufigkeit der einzelnen Teiltextsegmente sehr hoch sowie die Makrostruktur in beiden Sprachen recht variabel ist und somit keine festen Abfolgemuster aufweist. Bezüglich der Bewertung hat er außerdem herausgefunden, dass die Einzelaspekte insgesamt mehr negativ beurteilt werden, während bei der Gesamtbewertung in beiden Sprachen die positiven Gesamturteile überwiegen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in den deutschsprachigen Rezensionen mehr bewertet wird, während die amerikanischen Rezensionen eher dazu tendieren, den Inhalt wiederzugeben. Zur sprachlichen Realisierung der Abschwächung und Verstärkung von Kritik stehen viele sprachliche Formen zur Verfügung. Deswegen ist es wichtig, je nach Korpus und empirischer Vergleichbarkeit sowie Durchführbarkeit zu entscheiden, welche sprachlichen Mittel tatsächlich als Vergleichskategorien berücksichtigt werden sollten. Hutz hat sich z. B. in seiner Untersuchung zu kritikabmildernden Ausdrücken für
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Modaladverbien, approximative Partikeln bzw. Abtönungspartikeln und im Blick auf kritikintensivierende Ausdrücke für Adverbien und Partikeln entschieden. Die Ermittlung dieser sprachlichen Formen jeweils in beiden Teilkorpora und der konkrete Vergleich haben ergeben, dass die Zahl der kritikverstärkenden Begriffe in den deutschen Texten signifikant höher (26,6 %) als in den amerikanischen Texten (21,1 %) war, insbesondere in den linguistischen Texten war dieser Unterschied groß. Dagegen waren 39,6 % aller kritischen Einwände in den englischsprachigen Texten mit kritikabmildernden Begriffen versehen, während das lediglich bei 22,1 % der deutschsprachigen Texte der Fall war. Bei der Untersuchung der Selbstnennung des Autors, die im Kontext der Kritik oft ein Indiz dafür liefern kann, inwieweit man eine subjektive oder eine objektive Perspektive einnimmt, ist Hutz zum Ergebnis gekommen, dass in den englischsprachigen Texten Selbstnennungen der Verfasser mehr als doppelt so häufig vorkommen wie in den deutschsprachigen Texten. D. h., im Gegensatz zu den englischsprachigen Rezensionen bevorzugen die deutschen Rezensenten unpersönliche kritische Formulierungen. Diese Untersuchungsergebnisse hat Hutz schließlich so zusammengefasst bzw. interpretiert, dass sich die interlingualen Unterschiede der deutschen und amerikanischen Rezensionen, insbesondere hinsichtlich der Kritik, weniger in dem Textaufbau als in der sprachlichen Realisierung niederschlagen. Die direkten aber zugleich unpersönlichen Kritikformulierungen der deutschen Texte hat Hutz als eine hohe Sachorientierung in der deutschen Denkweise ausgelegt. 5. Zusammenfassung und weiterführende Überlegungen Da „Textsorten als kulturelle Artefakte und Instrumente zugleich anzusehen“ sind (Fix 2008:103), kann an der Kulturbestimmtheit von Textsorten nicht mehr gezweifelt werden. Textsorten differieren zwischen verschiedenen Kommunikationsgemeinschaften, insbesondere zwischen verschiedenen Sprachen, und unterliegen historischen Veränderungen. Außerdem kann man Textsorten in der modernen Kommunikation nicht mehr als rein sprachliche Handlungsmuster verstehen, vielmehr ist Sprache auch in ihren paraverbalen, nonverbalen und extraverbalen Vernetzungen zu betrachten. Insofern sind folgende Punkte in zukünftigen Forschungen zu Kulturspezifik sowie Interkulturalität/Transkulturalität von Textsorten besonders zu beachten: x Neben dem interlingualen Vergleich sind auch die anderen interkollektiven Dimensionen bezüglich der Erforschung der Kulturspezifik von Textsorten in den Blick zu nehmen. So sind verschiedene so-
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ziale Gruppen zu berücksichtigen, zum Beispiel Altersgruppen, Geschlechtsgruppen, Berufsgruppen, Gruppen verschiedener sozialer Schichten etc. Texte einer Textsorte oder ähnlicher Textsorten werden durch den spezifischen Sprach- und Handlungsstil des jeweiligen Kollektivs charakterisiert und dadurch voneinander differenziert. Die Untersuchung der Kollektivspezifik als Kulturspezifik ist leider noch ein Desiderat. Bei der Untersuchung der Kulturspezifik von Textsorten sollte mehr auf die Textsortengenese eingegangen werden. Vergleiche entlang der diachronen Achse können nämlich die Epochenspezifik und den Entwicklungsprozess der Textsorte sichtbar machen und möglicherweise auch die interkulturelle Begegnung als Ursache des Textsortenwandels erschließen. Bei der Erforschung der Interkulturalität/Transkulturalität von Textsorten darf man sich das Ermitteln von Unterschieden nicht zum einzigen Ziel setzen, man sollte auch auf die Gemeinsamkeiten derselben Textsorte in verschiedenen Kulturen aufmerksam machen. Die transkulturellen Konvergenzen der Textsorte bilden schließlich den gemeinsamen Boden für die interkulturelle Verständigung, die eine wechselseitige Veränderung von Textsortendifferenzen und nicht zuletzt die Textsortenmischung und -entwicklung erleichtern bzw. vorantreiben können. Denn jede interkulturelle Begegnung der Textsorte stellt ein Kettenglied in der diachronischen Entwicklung der jeweiligen Textsorte dar. Der Aufruf von Kirsten Adamzik (2001b:15), von der Untersuchung hoch standardisierter Kleinformen der Textsorte (wie Kochrezept, Wetterbericht usw.) abzukehren, gilt ebenfalls für die Forschung zur Kulturalität von Textsorten. Insbesondere in der Zeit, zu der sich der Textbegriff gemäß einem modernen weiten Konzept auch auf die multimediale bzw. multimodale Kommunikationswirklichkeit der modernen Massenmedien anwenden lässt. In diesem Sinne sollte die spezifische Medialität zugleich als Kulturalität einer Textsorte aufgefasst werden.
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Keine Kommunikation ohne Medialität Wissenschaftsgeschichte: Textsorten, Kommunikationsformen, Medien Begriffe: Medialität, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien Medialität Kommunikationsformen und Situation: Modalität, Kodalität, Zeit und Raum Kommunikationsformen als kulturelle Praktiken, Textsortenfamilien Intermedialität von Kommunikationsformen: Transkriptivität Fazit Literaturverzeichnis
1. Keine Kommunikation ohne Medialität Auch wenn wir manchmal mehr oder weniger scherzhaft die Übereinstimmung zweier Menschen für telepathisch halten: ‚Gedankenübertragung‘ gibt es nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir im Alltag davon sprechen, also ohne Äußerung von Zeichen und ohne deren Wahrnehmung. Kein Hirn greift unmittelbar auf ein anderes zu. Stattdessen sind wir auf die Äußerung und Wahrnehmung von Zeichen und dabei auf Medialitäten verschiedenster Art angewiesen, ja ihnen geradezu ausgeliefert. Äußerungen und Wahrnehmung von Äußerungen in ihren jeweiligen Medialitäten sind konstitutiv für Kommunikation. Ohne Medialität keine Kommunikation. Kein Wunder, dass auch unsere alltäglichen Sortierausdrücke für kommunikative Ereignisse in großer Zahl Mediales thematisieren: VierAugen-Gespräch, Brief, Telefonanruf, Schrieb, Fernsehsendung, Hörbuch, Flugblatt, Diavortrag, Aufkleber, Ansichtskarte, Telegramm, Flaschenpost, Merkzettel, Loseblattsammlung usw. Sie alle enthalten Elemente, die darauf verweisen, dass wir beim Kommunizieren auf sinnlich Wahrnehmbares zurückgreifen, also auf etwas, das auch immer über eine gewisse Materialität verfügt. Materiell sind aber nicht nur die physikalischen Substrate des Wahrgenommenen, sondern auch die menschlichen Organe der Zeichenproduktion und Wahrnehmung und die technischen Medien, die der Herstellung, Verbreitung, Übermittlung und Rezeption von Zeichen dienen, ganz zu schweigen von deren institutionellen Ausprägungen. Das Mediale und auch das Materiale erscheinen in der Kommunikation demnach ebenso vielfältig wie unumgänglich. Es lässt sich nun angesichts des Umfangs und der Hetero-
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genität der beteiligten Medialitäten schon ermessen, dass es keine simplen und wohlgeordneten Übersichten darüber geben kann, was denn medial zwischen den Köpfen alles im Spiel ist. Was das chaosversierte Alltagswissen locker verarbeitet, scheint der peniblen Wissenschaft Mühe zu bereiten. Dort gilt: Viele Bäume, aber für viele kein Wald. Die Vielfalt der Phänomene hat gerade bei Linguisten Marginalisierungs- und Ausblendungstendenzen befördert. Die Sprachwissenschaft hat sich – besonders in ihrer medialitätsvergessenen Traditionslinie – mit dem Medialen und entsprechend auch mit den Typologien des Medialen durchaus schwer getan und sich damit bisher, wenn überhaupt, dann nur ein bisschen und manchmal auch ein bisschen hilflos beschäftigt. Dafür gibt es – wie wir schon in Andeutung gesehen haben – vor allem Gründe der Komplexität. Weitere sollen hier zunächst in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive zur Sprache kommen, bevor dann systematischer einige Termini und Dimensionen der Medialität diskutiert und entwickelt werden. Dabei soll es immer um die Frage gehen, welche Rolle Mediales in Kommunikationstypologien spielen könnte. 2. Wissenschaftsgeschichte: Textsorten, Kommunikationsformen, Medien Die Sprachwissenschaft wollte zunächst nicht Kommunikationsereignisse generell, sondern Texte typologisieren, eine Aufgabe, die sich nach der Erweiterung ihres Gegenstandes über die Satzgrenze hinaus wie von selbst stellte, wobei sich mit der zeitgleichen pragmatischen Orientierung auch ein Interesse ergab, Handlungen und Kommunikationen zu fokussieren, nicht nur grammatische und semantische Fragen. Zugleich waren auch verstärkt mündliche Sprach-Ereignisse im Blick und damit eine wesentliche mediale Differenz, die für viele Linguisten bis heute die einzige medial relevante ist, die von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Entsprechend hat man bald nicht nur Texte (z. B. Gülich & Raible 1975; s. auch Adamzik 1995, 2000; Heinemann 2000a), sondern auch sogenannte „Redekonstellationstypen“ zu typologisieren versucht (dazu Schwitalla 2001:897f.). Das Medialitätsproblem führt in dieser linguistischen Perspektive zunächst zu der Frage, ob man Gesprochenes und Geschriebenes gemeinsam, z. B. unter einem weitgefassten Textbegriff, behandeln solle oder doch lieber in zwei verschiedenen Teildisziplinen, einer Text- und einer Gesprächslinguistik, wie dies noch die beiden Teilbände des einschlägigen Handbuchs der HSK-Reihe tun (Brinker et al. 2000/2001). Man hat dann zwei getrennt zu typologisierende Bereiche, die sich medial schon so grundlegend
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unterscheiden, dass – bleibt man bei einem – im Weiteren Medialitätsfragen marginalisiert werden können. Zugleich kann man sich bei der kontrastiven Herausarbeitung der Spezifika des sprachlich Medialen, also von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, auf Prototypisches konzentrieren: Mündlichkeit wird nach dem Modell des intimen Face-to-faceGesprächs als „Sprache der Nähe“, Schriftlichkeit als Verdauerung und auch räumliche Zerdehnung, als „Sprache der Distanz“ konzeptualisiert (so z. B. die berühmt gewordene Unterscheidung von Koch & Österreicher 1985). Wenn man damit auch wesentliche Züge erfasst, so wird diese bipolare Profilierung doch der medialen Vielfalt tatsächlicher Kommunikationen nicht gerecht. Es bedarf also genauerer Differenzierungen in der Beschreibung der medialen Verhältnisse, vor allem, wenn man zu Typologien kommen will. Auf der anderen Seite wurde Medialität ohnehin meist nur als ein Teil des pragmatischen Rahmens aufgefasst, als ein Faktor der ‚Situation‘, der also selbst nicht zum Kern des linguistisch Relevanten und sprachlich prominent zu Untersuchenden gehört: Wesentlich mehr Beachtung fand die Kategorie der sprachlichen ‚Handlung‘, die durch die paradigmaprägende Sprechakttheorie ins Zentrum des Interesses gerückt war. Entsprechend sind bis heute Textsortenbegriffe primär an funktionalen Gesichtspunkten ausgerichtet, während situationelle und auch thematische Faktoren dann eher binnendifferenzierend (in Mehrebenentypologien) herangezogen werden. Es gibt aber durchaus Typologien, welche Textsorten von Faktoren der Situation bestimmt sehen, so genannte „Situationsmodelle“ (Heinemann 2000b:531). Dabei ist schon der Begriff der Situation (wie der des Medialen) ein weites Feld. Was Situation alles umfassen kann, reicht – so die Liste bei Heinemann (ebd.:531f.) – vom unmittelbaren „räumliche(n) und zeitliche(n) Umfeld von Kommunikationsereignissen“ (i), der „Partnerkonstellation“ (ii) über Medium, Kanal, Kommunikationsrichtung (iii) bis hin zu „gesellschaftlich-kommunikative(n) Rahmenstrukturen“ (iv). Während die ersten drei für das, was hier medial heißen soll, zweifellos durchaus einschlägig sind, kann man die vierte Situationsdimension, die häufig unter dem Terminus ‚Kommunikationsbereich‘ geführt wird, ebenso gut für eine thematische Rahmung halten. Es zeigt sich hier die in allen Typologisierungsfragen anzutreffende und unumgängliche Problematik von Grenzziehungen und Zuordnungen. Außerdem findet man in der zusammengefassten Dreiheit von „Medium, Kanal, Kommunikationsrichtung“ beides: einen eingeschränkten – vermutlich technisch gemeinten – Medienbegriff und den Reflex darauf, dass als medial relevant noch anderes dazugehört, nämlich ‚Kanal‘ und ‚Kommunikationsrichtung‘. Dennoch scheinen diese „Faktoren der Umgebungssituation und des medialen Rahmens“ zwar
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für „Grobdifferenzierungen (Face-to-face-Kommunikation, Schriftkommunikation, Tele-Kommunikation)“ auszureichen – so resümiert Heinemann (2000b:540) –, aber: „Weitaus wichtiger für situativ geprägte Texttypisierungen ist das Bezugnehmen auf die Rahmen-Einordnungsinstanz ‚Kommunikationsbereich‘“ (ebd.:540f.). Entsprechend folgt der erwähnte HSK-Band zur Textlinguistik in seinem Abschnitt zur Typologie einer Gliederung von „Kommunikationsbereichen und ihren konstitutiven Textsorten“ (Brinker et al. 2000:VIII), während das Mediale wieder einmal aus dem Blick gerät. Wie die insgesamt vorhandene Vielfalt mehr oder weniger sinnvoller und vielleicht notwendiger Faktoren der Typologisierung in einer zufriedenstellenden Weise deduktiv gehandhabt werden könnte, scheint kaum vorstellbar. Das macht vielleicht auch das Unbehagen aus, das alle solchen wackeren Versuche – auch die mit mehreren hierarchischen Ebenen – hinterlassen und das Adamzik (2004:101) etwas resignativ für „eine unspezifische Lesart von Textsorte“ plädieren und dabei folgern lässt: „dann können wir unter den Begriff Textsorte alle Ausdrücke für irgendwelche Mengen von Texten mit gemeinsamen Merkmalen fallen lassen“. Etwas anders sieht die Sache aus, wenn man nicht abstrakt deduktiv typologisiert, sondern von alltäglichen Wissensbeständen ausgehend bestimmte Textphänomene rekonstruierend beschreiben will. Hier kommt man nicht um die Tatsache herum, dass es von den Beteiligten selbst entlang der kommunikativen Bedürfnisse sozial und kulturell geprägte Bezeichnungen gibt (s. Dimter 1981), die primär weder Handlungen noch Kommunikationsbereiche fokussieren, sondern die situationalen und medialen Aspekte ihrer Praktiken ins Zentrum rücken. Auf diese Weise kam Ermert (1979) bei seinem Versuch, Briefsorten zu klassifizieren, zu der Feststellung, dass Briefe – anders als manchmal im selben Atemzug genannte „Textsorten“ wie ‚Wetterbericht‘, ‚Interview‘ oder ‚Kochrezept‘ – eben nicht identische „Verfasserintentionen“ haben und folgerte daraus: „Der Brief als solcher ist noch keine Textsorte“ (Ermert 1979:59), sondern müsse „unter situationalen und medialen Aspekten“ (ebd.:66) beschrieben werden. Dann wird – unter Berufung auf den Begriff ‚Kommunikationsart‘ von Gülich & Raible (1975:155) – der Brief als Kommunikationsform bezeichnet. Dieser Ausdruck wurde gewählt, um die Rolle des Briefes als M e d i u m sprachlich kommunikativen Handelns zu bezeichnen. Weitere Kommunikationsformen sind Telefongespräch, Zeitungsartikel, Rundfunk- und Fernsehsendung, direktes (Face-toface-)Gespräch und Buch. Sie alle sind durch Gegebenheiten der kommunikativen Situation gekennzeichnet und unterschieden (ebd.: Hervorhebungen im Original).
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Auch wenn hier noch gar nicht klar ist, ob und wie die Begriffe ‚Medium‘ und ‚Kommunikationsform‘ und die „situationalen und medialen Aspekte“ unterschieden werden können oder sollen, wurde der Begriff von anderen aufgenommen, zunächst von Brinker (1985:126f.), der nun – anders als Ermert – eine Kommunikationsform wie den ‚Brief‘ selbst nicht mehr als Medium versteht, dafür aber die ‚Schrift‘: Die Kommunikationssituation wird entscheidend durch das Medium bestimmt, das zur Übermittlung von Texten eingesetzt wird. Wir können im wesentlichen fünf Medien unterscheiden: Face-to-face-Kommunikation, Telefon, Rundfunk, Fernsehen und Schrift. Jedes dieser Medien ist durch spezifische Gegebenheiten der Kommunikationssituation gekennzeichnet; […] Für diese Kommunikationsformen ist charakteristisch, daß sie – im Unterschied zu den Textsorten – allein durch situative bzw. mediale Merkmale definiert, in kommunikativ-funktionaler Hinsicht also nicht festgelegt sind. (ebd.)
Es scheint aber so zu sein, dass Medien, wenn sie überhaupt von Kommunikationsformen unterschieden sind, hier überwiegend, wenn auch nicht konsequent (Face-to-face-Kommunikation! Schrift?), in einem technischen Sinn verstanden werden. Eine solche Eingrenzung des Medienbegriffs sollte aber nicht isoliert und implizit vorgenommen werden, weil sonst der gesamte Bereich des Medialen und der Situation reduktionistisch ausfällt. Vor allem besteht die Gefahr, dass Medien lediglich als „Übermittler“ und die Situation als „gegeben“ verstanden werden. Während im ersten Fall die Bedeutung des Medialen auf eine bloße Transportfunktion eingeschränkt wird, was die Prägekraft des Medialen zweifellos unterschätzt, wird im anderen Fall das Situationelle als rein externer Faktor hypostasiert, so dass die kommunikative Herstellung der Situation, wie sie mit dem Konzept der „Kontextualisierung“ (Gumperz 1982; Auer 1986) beschrieben worden ist, aus dem Blick gerät. In einer sich allmählich herausbildenden Medienlinguistik wurde der Begriff der Kommunikationsform gelegentlich deutlicher von einem technisch verstandenen Medienbegriff unterschieden (z. B. Holly 1997; Schmitz 2004; Dürscheid 2005), etwa in der Formel: Medien (z. B. Rundfunk) sind Kommunikationsmittel. Ihre technischen Bedingungen ziehen jeweils bestimmte Kommunikationsformen (z. B. Rundfunksendung) nach sich […] (Schmitz 2004:57, Anm. 114).
Diese terminologische Differenzierung muss aber gerade nicht – wie Schneider (2006:85) befürchtet – zu einer Verkennung der „sinnmiterzeugenden“ Funktion von Medien (Krämer 1998:73) führen, die ja im Anschluss an McLuhans Idee vom „Medium als Message“ (McLuhan 1964) gerade im Zentrum des medienlinguistischen Interesses steht. Natürlich geht die dispositive Kraft der Medialität und der Medien in die
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Kommunikationsformen ein. Wie also lässt sich die fundamentale Medialität der Kommunikation in Typologien der Kommunikation fassen? 3. Begriffe: Medialität, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien 3.1 Medialität Die Vielfalt und Vagheit der Medienbegriffe soll hier nicht erneut thematisiert werden (s. dazu z. B. Habscheid 2000). Natürlich muss man aber bei allen kommunikativen medialen Phänomenen gerade die Sinngenese als ihren eigentlichen Zweck ansehen. Deshalb geht Medialität auch nicht in Materialität auf. Die Idee der Medialität von Kommunikation besagt allerdings, dass aufgrund der anthropologischen Verfasstheit, die Sinn an Sinne knüpft, Bedeutungen – also Sinn – nicht ohne die Bindung an Materiales entstehen können. Das gilt schon für die kleinsten Sinneinheiten, die Zeichen. Folgt man Saussures Zeichentheorie, wie Jäger sie in zahlreichen Arbeiten gegen die Verfälschungen des „Cours“ rekonstruiert hat (z. B. Jäger 1976, 2001, 2003, 2009), dann besteht der Witz sprachlicher Zeichen ja gerade darin, dass sie nicht durch die Verbindung von Materialem mit einer vorgängigen Bedeutung entstehen, sondern dass die Bedeutung sich erst in der Benutzung des materialen Zeichens in der Differenz zu anderen Zeichen einstellt; die Bedeutung kommt gewissermaßen „von der Seite“. Das scheinbar bloß mentale, nicht material wahrnehmbare Operieren mit Sprache im Denken suggeriert die Existenz „reiner Bedeutungen“, ohne Medialität und Materialität. Die Genese von Zeichen ist aber nicht monadisch und amateriell, sondern immer auf Interaktion gegründet. Zwar funktioniert Sprache nicht nur als kommunikatives, sondern auch als kognitives „Medium“, wo sie nicht mehr „auf sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsformen und so etwas wie eine ‚Oberfläche‘ angewiesen“ erscheint (Hausendorf 2009:198). Aber auch die Mentalität der kognitiven Operationen ist nicht ganz ohne das materiale Fundament der Zeichen möglich. Die Medialität der Sprache liegt ja gerade darin, dass sie ohne interaktive Grundlegung und damit Materialität nicht denkbar ist. Jäger (2009) legt dar, dass Saussures Sprachidee „performativ“ genannt werden kann, weil dieser – wie Wittgenstein – Zeichenbedeutung an Gebrauch und darüber hinaus an das Diskursive bindet: Auch Saussure hält das Zeichen für eine mentale Einheit, jedoch für eine solche, deren Genese fortwährend von den Bedingungen seiner interaktiven Prozessierung abhängt (Jäger 2009:225).
Diese interaktive Prozessierung setzt aber ein sinnlich wahrnehmbares materiales Strukturpotenzial voraus. Die Medialität von Zeichen meint
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eben, dass Materiales zu etwas Sinnhaftem geformt werden kann, und zwar im interaktiven Gebrauch. So wie die lautlichen Strukturen das Sprachzeichen erst ermöglichen und bedingen, gibt es nun weitere Strukturen, die als Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation an der Genese von Sinn beteiligt sind. Auch sie formen als Sets struktureller Arrangements Sinnpotenziale, indem sie als Dispositive den Gebrauch von Zeichen prägen. Eine solche dispositive Macht hat man häufig und zu Recht den technischen Medien zugeschrieben, aber manchmal ist es schon die Anordnung der interagierenden Personen im Raum, ihre mehr oder weniger gemeinsame Fokussierung, dann auch die Hinzuziehung einfacher technischer Hilfsmittel, die solche strukturellen Arrangements ausmachen, die man dann Kommunikationsformen nennen kann. 3.2 Kommunikationsformen und Situation: Modalität, Kodalität, Zeit und Raum Zeichengebrauch ist wegen der verschiedenen möglichen Zeichenmedialitäten immer von der Situation abhängig. So würde man nur in sehr speziellen Situationen und zu bestimmten Zwecken einem anwesenden Gegenüber schreiben, wenn man doch einfacher mit ihm sprechen kann. Es ist also nahezu trivial festzustellen, dass der kommunikative Gebrauch bestimmter Zeichenarten jeweils nur im Rahmen bestimmter situativer Gegebenheiten möglich oder sinnvoll ist. Dennoch kommt es gar nicht selten vor, dass dieser Rahmen verkannt wird und beispielsweise gesprochene Vorträge ohne Blickkontakt zum Publikum vorgelesen oder Radionachrichten unangemessen schriftsprachlich verfasst werden oder nicht selbsterklärende Fernsehbilder rätselhaft bleiben und damit das Rezeptionspotenzial des Adressaten überfordern. Welche der situativen Gegebenheiten insgesamt und im Einzelnen wie genau relevant sind, ist deshalb praktisch wie theoretisch schon weniger trivial und in verschiedenen Zusammenhängen auch unterschiedlich beschrieben worden. Seit Ermert (1979) ist nach dem Vorbild der strukturalistischen Semantik die Notation von Merkmalen der Kommunikationsform in einer Matrix üblich geworden. Dabei variieren die festgehaltenen Merkmale auf den ersten Blick erheblich. Während es bei Ermert (ebd.:60) noch 20 sind, z. T. zusammengefasst, so dass neun Gruppen von Merkmalen zur Unterscheidung von sieben Kommunikationsformen entstehen, verwendet Schmitz (2004:58) neun Merkmale in vier Gruppen, um dreizehn mediale Kommunikationsformen zu unterscheiden, Brinker (1985:126f.) hat acht Merkmale in drei Gruppen für sechs Kommunikationsformen; Diewald (1991) definiert fünf „Grundtextsorten“ anhand
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von drei Merkmalsachsen. Als bisher umfangreichste Zusammenstellung ist hier die Liste von Schmitz (2004:58) wiedergegeben: I Sein
II Sprache
flüchtig
mündl. schriftl.
Ton
Bild
Buch
–
–
+
–
Presse
–
–
+
–
Hörfunk
+
+
–
+
Fernsehen
+
+
(+)
+
Video/DVD
–
+
–
+
Kino
+
+
–
+
Telefon
+
+
–
+
Fax
–
–
+
–
SMS
(–)
–
+
–
Computer
III Modus
IV Nutzung
Film
öffentl.
Einweg
Ein/ Aus
(+)
–
+
+
+
+
–
+
+
+
–
–
+
+
+
(+)
+
+
+
+
(+)
+
+/–
+
+
(+)
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+
+
+
–/+
–/+
–
–
+
+
–
–
(–)
+
(–)
–
–
–
+
+/–
(+)
+
+
+
+
+/–
+/–
+
Hypermedia
(+)
(–)
+
+
+
+
+
+
+
Chat
+
–
+
–
–
–
(+)
–
+
E-Mail
–
–
+
–
(+)
–
–
(–)
+
NebenbeiMedien
–
–
+
(–)
+
–
+
+
–
Abb. 1: Mediale Kommunikationsformen (Schmitz 2004:58)
Versucht man diese Varianten anhand von Gemeinsamkeiten zu ordnen, endet man bei drei Arten von Merkmalen: sie betreffen 1. Modes und Kodes, also die verfügbaren Sinneskanäle und Zeichenarten; 2. die Strukturierung des kommunikativen Raumes, also die Frage der Kopräsenz, der Wechselseitigkeit oder Adressierung; 3. die zeitliche Struktur, also den Aspekt der Flüchtigkeit bzw. Verdauerung, was auch die Funktionsweise von Medien (Speicherung, Übertragung) betrifft. Auf den ersten Aspekt beziehen sich bei Schmitz die Spalten in II und III, auf den zweiten die Spalten unter IV, auf den dritten die Spalte I. Außerdem fasst er unter IV eine eigene Spalte „Ein/Aus“, die es ihm erlaubt, so genannte „Nebenbeimedien“ wie Plakate oder sonstige ortsgebundene Kommunikate im öffentlichen Raum auszudifferenzieren. Derlei Matrixlisten haben zweierlei Schwächen. Zum einen sind sie insofern redundant, als sowohl der Faktor Zeitlichkeit als auch Raummerkmale wieder bei der Unterscheidung von Kodes impliziert sind, denn die akustischen Zeichen sind grundsätzlich temporär, es sei denn man hält diese Flüchtigkeit durch Tonaufnahmen für aufgehoben. Den-
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noch sind sie in jedem Fall linear, anders als die in der Fläche wirkenden Schrift- und Bildzeichen; dies gilt allerdings nicht in gleicher Weise für Filmbilder, die zugleich flächig und für die Rezeption linear und flüchtig sind. Grundsätzlich sind gespeicherte visuelle und akustische Zeichen für Nicht-Kopräsenz disponiert. Kopräsenz impliziert Wechselseitigkeit, zumindest im Allgemeinen; es sei denn man meint solche Fälle von Kopräsenz mit, in denen durch spezielle räumliche und technische Arrangements nicht alle Anwesenden dieselben Reichweiten haben, etwa weil ihnen Podien oder Mikrofone nicht zur Verfügung stehen. Vor allem erfassen diese Merkmalslisten nicht die feinen Unterschiede, die durch bestimmte technisch-mediale und kulturelle Unterschiede erreicht werden; so werden Zeitungen von Büchern bei Ermert nur durch ein weiteres Merkmal ‚Periodizität‘ unterscheidbar. Andererseits kann eine vollständige Ersetzung der Kategorie ‚Kommunikationsform‘ durch einen technischen Medienbegriff die Multifunktionalität mancher Medientechnik nur unzureichend abbilden. So können etwa die zeichenmedial klar unterscheidbaren Kommunikationsformen ‚Telefon‘, ‚SMS‘, ‚MMS‘ (und inzwischen sogar Fernsehen) alle durch Mobiltelefone bedient werden. Manche strukturellen Variationen von Kommunikationsformen erfordern nun feinere Unterscheidungen als in solchen Listen. Dies kann man sich an einer Gegenüberstellung der beiden Kommunikationsformen ‚Brief‘ und ‚E-Mail‘ veranschaulichen, die sich in der Liste von Schmitz (s. o.), der allerdings den Brief weglässt, nicht unterscheiden würden, die aber aufgrund einer Reihe von Faktoren als so verschieden wahrgenommen werden, dass die Veränderungen – anders als frühere Modernisierungen beim Briefeschreiben und -versenden – die neue Bezeichnung E-Mail provoziert haben. Deshalb ist in der untenstehenden Tabelle auch die technisch-mediale Basis aufgenommen. In der neuen Kommunikationsform ‚E-Mail‘ sind die technischen medialen Grundlagen von der Zeichenherstellung über den Zeichenträger bis zur Zeichenübermittlung durchweg elektronisch, was ihren größten Vorzug, die Geschwindigkeit und Bequemlichkeit, ausmacht. Was sich durch die neuen technisch-medialen Grundlagen am stärksten verändert, ist also die Art der Übermittlung und damit der zeitliche Charakter. Die empfindlichste Schwäche aller Speichermedien, die nicht auf Dokumentation, sondern auf möglichst rasche Kommunikation zielen, ist das Ausmaß der zeitlichen Versetzung, dem die Rezeption gegenüber der Produktion der Botschaft unterworfen ist. Dies kann nun durch die neue Technik bis auf Beinahe-Gleichzeitigkeit reduziert werden. Hier liegt sicherlich der größte Fortschritt für die individuelle Schriftübermittlungskommunikation.
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Medien, Kommunikationsformen, Textsortenfamilien
technisch-mediale Basis
E-Mail
Brief
PC, Internet
Papier, Schreibgeräte, Post
Zeichen/Kodes
Schrift, (Grafik, Bilder)
Kanäle/Modes
visuell
Kommunikationsrichtung Funktionsweise Übermittlung Zeitlichkeit Kommunikationspartner sozialer Status
potenziell bidirektional Speicherung/Übermittlung elektronisch
materieller Transport
gering versetzt
stark versetzt 1:1
privat/institutionell (nicht öffentlich)
Abb. 2: Kommunikationsformen ‚E-Mail‘ und ‚Brief‘ im Vergleich
Was man einer Matrix-Übersicht von situativen Merkmalen nicht entnehmen kann, aber für den Erfolg und die Wirkungsweise der neuen Kommunikationsform entscheidend ist, betrifft die Implikationen des medialen Arrangements, nämlich die bequeme Art der Nutzung für Produzent und Rezipient, die – den Zugang und das einfach zu erwerbende Know-how einmal vorausgesetzt – nur noch einen geringen Aufwand treiben müssen, um Botschaften zu senden und zu empfangen. Deshalb kann man Beschleunigung und Nutzerfreundlichkeit für die beiden bedeutendsten kulturellen und sozialen Implikationen der neuen Kommunikationsform halten. Sie kombiniert die Vorzüge der schriftlichen Kommunikation, die wegen ihres nicht zu unterschätzenden Grades an Präzision, Reflektiertheit, Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit unverzichtbar ist, mit einer starken Annäherung an die Unmittelbarkeit, die sonst nur der direkten oder telefonisch vermittelten Mündlichkeit zukommt. Am Übergang beider Prinzipien, Unmittelbarkeit vs. Reflektiertheit, kann der Produzent nun bestimmen, wie viel Zeit er sich nehmen will, um dennoch rasch eine Botschaft zu übermitteln. An derselben Grenze kann der Rezipient entscheiden, wie schnell er reagieren will, um nicht vorschnell, aber dennoch rasch – wenn überhaupt – die Kommunikation fortzusetzen. Im Effekt bedeutet dies für beide Seiten eine enorm gesteigerte Verfügbarkeit über Beschleunigung bzw. Verzögerung dokumentierbarer Kommunikation. Die Bedienungsfreundlichkeit steigert diesen Effekt noch einmal. Dies hat jedoch erhebliche Folgen für die wahrnehmbare Gestalt, die sprachlichen Formen, vor allem für die Stilerwartungen an E-Mails, denen man gelegentlich einen Status zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit zuweist, was jeden-
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falls die konzeptionelle, natürlich nicht die materielle Seite angeht (Androutsopoulos 2007). Immerhin berücksichtigt die Übersicht von Schmitz die vielgestaltigen Formen von (nicht nur) ortsgebundenen Kommunikaten im öffentlichen Raum, die auf unsere Aufmerksamkeit zielen, auch wenn wir ihre Rezeption nicht gezielt wählen. Sie gehören einer Sphäre an, die zwischen der ‚intimen‘ Mikrokommunikation, als deren Prototyp das Face-to-face-Gespräch gilt, und der makrokommunikativen Massenkommunikation, die – auch wenn sie privat rezipiert wird – eine möglichst große Öffentlichkeit anzielt; man kann diese Sphäre deshalb dem Bereich der ‚Mesokommunikation‘ zuordnen, die einerseits öffentlich ist, andererseits nur jeweils räumlich begrenzte, weil ortsgebundene Rezipientengruppen adressiert, z. B. die Textwelten auf Bahnhöfen oder Flughäfen (s. dazu Domke 2010; Domke i.V.). Während in der Mikrokommunikation Raum eher im Sinne eines kommunikativ hergestellten gemeinsamen Wahrnehmungs- und Verweisraums verstanden wurde und in der Makrokommunikation gerade die Illusion herrscht, Raum und Entfernung spielten keine Rolle (s. Meyrowitz 1985), ist der MesoBereich vor allem durch das lokale Arrangement bestimmt. Weitere Kommunikationsformen dieses Meso-Bereichs sind bisher von der systematischen linguistischen Betrachtung weitgehend ausgeklammert, zumal sie auch kaum das Interesse der Sozial- und Medienwissenschaften erregt haben (s. aber in Keppler 1994 das Kapitel über einen Diaabend); es handelt sich vor allem um die vielfältigen Formen von Veranstaltungskommunikation, die zwar wegen der Kopräsenz der Beteiligten ‚direkt‘ erscheinen, aber doch meist auf Unterstützung durch technische (Hilfs-)Medien zurückgreifen oder diese in Kombination einbeziehen: Vorträge, Podiums- und Gruppendiskussionen, Lehrsituationen wie Vorlesungen oder Seminare (Goffman 1981, über „Lecture“), Theater und andere Bühnenereignisse, Versteigerungen (Heath & Luff 2009) usw. Sie alle stützen sich auf technische Medien, z. T. einfacher Art wie Pulte, Podien, Licht, Tafeln, z. T. sind sie technisch anspruchsvoller wie Mikrofone, Lautsprecher, Projektoren, Beamer, Computer usw. Ebenfalls mit großer Bedeutung für räumliche Arrangements sind die Formen von Präsentationskommunikation, die individuell rezipiert werden können, also etwa Ausstellungen (s. dazu vom Lehn & Heath 2007; Kesselheim & Hausendorf 2007) oder Schwarze Bretter und andere informativen Arrangements, die man im Unterschied zu den oben erwähnten Nebenbei-Kommunikaten gezielt rezipiert. Diese kurzen Andeutungen mögen zeigen, dass das Spektrum der Kommunikationsformen über die bisher beachteten weit hinausgeht, so dass man sagen kann, dass ihre systematische Erforschung gerade einmal in den Anfängen steckt.
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3.3 Kommunikationsformen als kulturelle Praktiken, Textsortenfamilien Die Vielgestaltigkeit des sich ständig erweiternden Spektrums von technisch-medialen Optionen zeigt, dass die Erfassung der Kommunikationsformen im Matrixformat nur sehr grob und rudimentär möglich ist. Völlig unberücksichtigt bleibt bei solchen formal-strukturellen Überlegungen das beträchtliche Ausmaß, in dem kulturelle Faktoren die Kommunikationsformen prägen; Kommunikationsformen sollen deshalb hier als ‚medial bedingte kulturelle Praktiken‘ verstanden werden. Dass Mediales und Kulturelles in jeweils historisch spezifischer Weise zusammenkommt, beweist die Herausbildung immer neuer und sehr differenzierter Kommunikationsformen, die auch kulturell diversifiziert genutzt und entwickelt werden: Sie sind schon deshalb etwas Eigenständiges, weil sie nicht allein aus den technisch-medialen Möglichkeiten resultieren und auch nicht allein aus den sozialen Bedürfnissen, wie z. B. Textsorten oder ‚Gattungen‘, die als „historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme“ (Luckmann 1986:256) entstehen, sich aber verschiedener Kommunikationsformen bedienen können. Der strukturelle Ort, wo beide elementaren Prägekräfte der Kommunikation, Medialität und Kulturalität, sich verbinden, sind die Kommunikationsformen. Sie sind demnach die medial, historisch und kulturell verankerten kommunikativen Dispositive, die sich auf der Basis verfügbarer technischer Möglichkeiten und sozialer Bedürfnisse allmählich herausbilden und weiterentwickeln, bis sie – wie das Beispiel von ‚Brief‘ und ‚E-Mail‘ anschaulich macht – durch neue technische und soziale Entwicklungen obsolet oder so stark verändert werden, dass das Ergebnis als ‚neu‘ empfunden wird. Nicht erst die Kulturgeschichte des Briefes zeigt auf, wie stark die Interdependenzen von technischer und kultureller Entwicklung wirken. Die Mediengeschichte ist voller Beispiele, in denen die Herstellung von eindeutigen Kausalitäten zwischen beiden Faktoren schwer fällt. Hat die Erfindung beweglicher Lettern den Bücherkonsum eines breiten Publikums hervorgebracht oder hat der gestiegene Bücherbedarf die Erfindung des Buchdrucks provoziert? Ist die politisch-kulturell motivierte Installation eines dualen Fernsehsystems mit öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Kanälen oder der gestiegene Anteil an Freizeit für den jeweiligen quantitativen und qualitativen Wandel der Kommunikationsform Fernsehen verantwortlich oder sind es eher die technischen Neuerungen in der Produktions- und Übertragungstechnik durch MAZ (Magnetische Aufzeichnung), Farbe, Satelliten- und Kabelempfang, Digitalisierung usw., die wiederum kulturelle Produktions- und Rezeptionsmuster erst ermöglichen?
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Die Mediengeschichte lehrt auch, dass erst eine bestimmte kulturelle Umgebung darüber entscheidet, ob und wie technische Optionen entwickelt, verbreitet und genutzt werden. Um dies am Beispiel Fernsehen zu exemplifizieren: Die Fernsehtechnik war im Prinzip schon zu Ende des 19. Jahrhunderts verfügbar und hätte auch die Nutzung als Bildtelefon erlaubt; dennoch hat es fast ein weiteres halbes Jahrhundert gedauert, bis ausstrahlendes Fernsehen als Kommunikationsform etabliert war, und zwar – trotz aller globaler Tendenzen und amerikanischer Hegemonialerscheinungen – bis heute in verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich (während Bildtelefone immer noch kaum verbreitet sind). Auch international kommerziell verwertete Fernsehformate, die sich in den verschiedenen Kulturen oft bis in Details zu gleichen scheinen, werden doch jeweils den unterschiedlichen kulturellen Erwartungen angepasst. Selbst ein global agierender Sender wie MTV ist nach einer Versuchsphase mit universeller Programmierung zu lokalen Varianten übergegangen, die besser auf kulturelle Besonderheiten eingehen können. Wenn international gelegentlich gewisse Züge von Einheitlichkeiten zu beobachten sind, dann spricht dies nicht ausschließlich für die ungebremste Dominanz kulturunabhängiger technischer Dispositive, sondern ist wohl eher auf Parallelen von Werten und Bedürfnissen in verschiedenen Kulturen zurückzuführen, wobei sich bei genauerer Betrachtung dann doch immer wieder kulturspezifische Hybridisierungen und Einfärbungen herausbilden. Umgekehrt kann man feststellen, dass sozial und kulturell motivierte Textsorten und Gattungen mit der Entwicklung neuer Kommunikationsformen auf diese übertragen werden und dort spezifische Varianten ausprägen. Kaum eine Gattung entsteht völlig neu. Was auf den ersten Blick kommunikationsformspezifisch originell hervorgebracht scheint, ist in der Regel aus anderen übertragen und meist noch eine Weile lang nach einem „stilistischen Trägheitsprinzip“ (Bausinger 1972:80f.; Straßner 1980:332) von den Vorläufern zumindest inspiriert, bis sich die Potenziale der neuen Kommunikationsform spezifischer auf die Gestaltung der Gattung übertragen haben. Glichen die politischen Fernsehdiskussionen der 1960er und 1970er Jahre noch weitgehend Podiumsdiskussionen, die man in Sälen direkt vor dem Zielpublikum veranstaltet, und wirkten einfach abgefilmt, hat sich das Genre inzwischen zu eigenständigen Polit-Talkshows fortentwickelt, die sehr viel stärker fernsehspezifische Regeln der visuellen, speziell der Kamerainszenierung befolgen (Holly i.V.). So existieren manche Textsorten und Gattungen in einer Vielzahl von kommunikationsformspezifischen Varianten und können je nach Situation und verfügbarer Technik differenziert eingesetzt werden. Besonders anschauliche Beispiele liefern hier die Gattungen der kommer-
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ziellen Warenwerbung, die zum selben Zweck – um zu verkaufen – alle nur erdenklichen Kommunikationsformen nutzen: persönliche Gespräche in Läden und bei Vertreterbesuchen, Telefonmarketing, Vorträge im öffentlichen Raum vor Passantengruppen und bei privaten Einladungen, Eventinszenierungen auf Messen und in anderer Veranstaltungsform, Durchsagen in Kaufhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln, Printmedien der unterschiedlichsten Form (Plakate, Zeitungen, Zeitschriften, Buch(umschlag)seiten, Broschüren, Flyer, Prospekte, Kataloge, Werbebriefe, Aufdrucke auf Verpackungen, Stoffen und anderen Materialien, Aufnäher, Aufkleber, Anstecker, Karten und Postkarten, Bedienungsanleitungen, Schilder, Aufsteller, Fahnen und Transparente, Baustellenzäune und Stoffverkleidungen), Leuchtreklamen mit und ohne Bewegungen, Einprägungen in verschiedenste Materialien, Häuserbemalungen, Kinofilmchen, Radio- und Fernsehspots und Product-Placement, SMS-Botschaften, Websites, E-Mails. So lassen sich alle Kommunikate, die eine gemeinsame Funktion, z. B. die der kommerziellen Werbung, verbindet, die sich aber verschiedenster Kommunikationsformen bedienen, als ‚Textsortenfamilie‘ zusammenfassen, wobei die einzelnen kommunikationsformspezifischen Varianten jeweils eine Textsorte darstellen. Voraussetzung für eine solche Terminologie ist allerdings, dass man den Textbegriff sehr weit fasst und ihn nicht auf Geschriebenes beschränkt. Da sich die einzelnen Varianten in ihren Möglichkeiten und in ihrem stilistischen Potenzial aber sehr stark unterscheiden können, erscheint es durchaus berechtigt, sie als jeweils gesonderte Textsorten zu fassen und nicht als eine einzige. Die Textsortenfamilien sind dann dadurch gekennzeichnet, dass sie quer zu den Kommunikationsformen verlaufen, aber eine gemeinsame Funktion haben. Umgekehrt eignen sich die einzelnen Kommunikationsformen auf sehr unterschiedliche Weise für bestimmte funktionsgeprägte Textsorten. Manche Kommunikationsformen haben ein breites funktionales Potenzial, andere scheinen eher „One-trick-ponies“ zu sein, so dass sie leicht mit funktionsgeprägten Textsorten verwechselt werden. Nicht ohne Grund wurden Chats oder SMS-Botschaften zunächst für Textsorten gehalten, da sie anfänglich hauptsächlich eine einzige Funktion zu haben schienen. Inzwischen ist auch da die funktionale Streuung der Textsorten breiter geworden und man hat deutlicher vor Augen, dass etwa ein im Fernsehen angekündigter Chat mit dem Bundespräsidenten andere Zwecke verfolgt als eine Kontakt- oder Flirtveranstaltung unter jungen Leuten. Auch hier ließe sich ein Kollektiv-Terminus für alle Textsorten finden, die innerhalb einer Kommunikationsform laufen, etwa ‚Textsortengruppe‘. In der alltäglichen Bezeichnungspraxis wird die Gemeinsamkeit eher durch die erste Komponente in Komposita
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hergestellt, wenn man z. B. für Fernsehsendungen von Fernsehquiz, -nachrichten, -werbespot, -krimi, -kommentar, -interview, -talkshow, -dokumentation, -seifenoper, -kolleg, -sportreportage spricht. Andere wie Castingshow oder Sitcom, hält man ohnehin für fernsehspezifisch, so dass sich bei ihnen dieses Verfahren zu erübrigen scheint; es ist aber durchaus erwartbar, dass sich nach einer Weile wie z. B. bei Talkshows Imitate oder Übertragungen als spezifische Varianten in anderen Kommunikationsformen finden, z. B. auf Bühnen oder im Internet. 4. Intermedialität von Kommunikationsformen: Transkriptivität Spezielle Konstellationen liegen vor, wenn eine Kommunikationsform quasi als Plattform für eine andere fungiert, wenn also Postkarten in Zeitschriften eingeklebt werden, Telefongespräche im Radio oder Fernsehen übertragen werden oder wenn neuerdings Websites den mühelosen Switch zu E-Mail-Nachrichten oder Chats erlauben. Es scheint geradezu ein Merkmal moderner Medien zu sein, dass sie solche Crossover-Bewegungen hervorbringen oder zumindest befördern (s. auch Bolter & Grusin 1999) und Inhalte durch ‚remediation‘ immer neu und anders verfügbar zu machen. Einen enormen Schub in diese Richtung hat die gemeinsame digitale Basis der Chiptechnik gebracht, die es ermöglicht, Daten verschiedenster Art gleichermaßen und reduziert materialisiert in Nullen und Einsen zu speichern und zu übertragen. Bei dieser gemeinsamen Zeichenvielfalt könnte man schon von einer Form von ‚Multimedialität‘ oder ‚Intermedialität‘ sprechen, deren Erscheinungsformen aber weit darüber hinaus reichen. Im Grunde ist nahezu jede Kommunikation insofern intermedial, als sie sich zugleich verschiedener Kodalitäten und Modalitäten bedient. Auch eine nur gehörte mündliche Äußerung enthält neben der Bedeutung der lexikalisch, syntaktisch und semantisch zu beschreibenden verbalen Anteile zeichenhafte Elemente, die prosodisch zu beschreiben sind, darüber hinaus symptomhafte performative Stimmeigenschaften, die ebenfalls als bedeutsam interpretiert werden können. Auch die komplexen Arrangements der Kommunikationsformen sind auf ihre Intermedialität hin zu untersuchen, da sie in der Regel mehrere mediale Bedeutungsträger kombinieren und deren Zusammenspiel systematisch organisiert werden muss. Dies gilt schon für die Ur-Kommunikationsform, das direkte Face-to-face-Gespräch, das insofern ‚primär audiovisuell‘ ist, als es neben den – wie gerade dargelegt – selbst schon komplexen auditiven Sprachzeichen weitere mediale Op-
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tionen durch eine vielfältig ausdifferenzierte visuell kommunizierte Körpersprache mit Mimik, Gestik, Proxemik und Kinesik vorsieht, die sich wiederum so aufeinander und auf das Auditive beziehen können, dass sich ein reichhaltiges Gewebe von nach jeweils autochthonen Regeln gestalteten Semantiken ergibt. Die Kombinationen und Koordinationen der verschiedenen Modi und Kodes bilden dabei häufig musterhafte Cluster aus, die man nur im Zusammenhang beschreiben kann, will man die durch wechselseitige Bezugnahme entstehenden Effekte nicht verpassen (s. dazu die Beiträge in Schmitt 2007). Während die primäre Audiovisualität aber nach impliziten Regelhaftigkeiten automatisiert und ad hoc intuitiv performiert wird, muss mit technischen Medien alles explizit aufeinander bezogen werden. ‚Sekundär audiovisuell‘ sind dann alle diejenigen Kommunikationsformen, welche die reichhaltigen Möglichkeiten der Face-to-face-Kommunikation und vieles darüber hinaus nicht nur durch Technik speichernd und übertragend verfügbar machen, sondern all dies auch durch technische Herstellung in ganz neuer Weise der inszenierenden Gestaltung unterwerfen. Hilfreich für die Beschreibung intermedialer Verhältnisse kann die Theorie der ‚Transkriptivität‘ sein, die Jäger vorgeschlagen hat (z. B. 2002, 2004, 2007). Sie geht – in absichtlich skripturaler Metaphorik – davon aus, dass jede Bedeutungsgenerierung erst durch ‚Transkriptions‘-Verfahren der Paraphrase, Explikation, Erläuterung, Kommentierung oder Übersetzung zustande kommt, die ein ‚Präskript‘ „anders lesbar“ oder „überhaupt lesbar“ oder – in verschleiernder oder verrätselnder Absicht – vielleicht auch „weniger lesbar/unlesbar“ und damit zu einem ‚Skript‘ machen. Für unseren Zusammenhang ist nun interessant, dass solche Transkriptionen nicht nur ‚intramedial‘ im gleichen Modus oder Zeichensystem vorkommen, sondern auch ‚intermedial‘, d. h. zwischen verschiedenen Modi und Zeichensystemen. Eine Typologie der Kommunikationsformen kann sich nun an der Beschreibung des intermedialen Transkriptivitätspotenzials entlang orientieren. Monomodale, also etwa auditive wie Telefon und Radio oder visuelle wie Fotografie, Stummfilm, Printmedien oder SMS, sind grundsätzlich von bimodalen, d. h. in der Regel audiovisuellen wie Face-to-face-Kommunikationen, Tonfilm, Tonvideo oder Fernsehen, zu unterscheiden. Die zweite Dimension der Differenzierung bezieht sich dann auf die verwendbaren Kodes, also Sprache, Körpersprache, Töne, Geräusche, Musik, Bilder, Bewegtbilder usw. Man kann sich die Entwicklung der Kommunikationsformen auch als eine schrittweise Ausdifferenzierung des intermedialen Potenzials denken. Der Ausbau von Technik ist nicht selten durch die Ergänzung monomodaler oder monokodaler Arrangements motiviert, so dass Intermedialität möglich wird. Stummfilme wurden zunächst durch Schrift
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und Live-Musik begleitet, bis die technische Entwicklung zum Tonfilm die Einseitigkeit besser behob. Primär akustische mündliche Vorträge werden nicht selten und bis heute mit unterschiedlichen und immer raffinierteren Möglichkeiten der Visualisierung sprachlicher und bildlicher Elemente kombiniert, von Schultafeln und Schautafeln bis zu Dias, Overhead-Projektoren und Powerpoint-Präsentationen. Im lange Zeit nur optisch gestalteten öffentlichen Raum von Kaufzonen oder Restaurants werden heute manchmal angeblich konsumanimierende oder Behaglichkeit erzeugende Atmosphären durch akustische Elemente von musica ambiente geschaffen. Weitaus älter ist die Kombination der Zeichensysteme von Bild und Schrift, die eine gemeinsame Genese haben, nach ihrer Trennung aber in immer neuen Techniken und Formen der Bikodalität zu einem vielfach nutzbaren Potenzial an transkriptiven Bezugnahmen entwickelt wurden. Viel interessanter als die typologisierende Einteilung wäre aber eine konsequente Beschreibung der Kommunikationsform-Vielfalt mit ihren technischen und historisch-kulturellen Hintergründen. Bisher hat sich das Hauptinteresse auf die massenmedialen Formen und einige Arten der 1:1-Formen beschränkt. Eine umfassendere Kommunikationsgeschichte unter dem Aspekt der Kommunikationsformen steht noch aus. 5. Fazit Kommunikationstypologien, die den Namen verdienen, sollten den Anspruch erheben, dem Aspektreichtum unserer alltäglichen Bezeichnungspraxis von Kommunikationsereignissen ebenbürtig zu sein. Die Sprachwissenschaft, die sich lange Zeit stillschweigend und unreflektiert auf Schrift beschränkt, dann sich immerhin auch mit Rede und Interaktion beschäftigt hat, kann heute mit den digitalen Möglichkeiten der Dokumentation endlich die Chance nutzen, eine reduktionistische Sicht auf Sprache zu erweitern und zu einer Beschreibungspraxis vorzustoßen, die das tatsächliche performative Spektrum der Sprachgebräuche erfasst; dazu muss sie „Sprache und mehr“ untersuchen. Dazu muss sie vor allem die Vielfalt der medial und kulturell verankerten Kommunikationsformen in den Blick nehmen, die unter realistischer Betrachtung den Prototyp von Mündlichkeit, das Gespräch, und den Prototyp von Schriftlichkeit, die Bleiwüste, als vergleichsweise seltene Formen erscheinen lässt. Man kann sicher sein, dass erst der Kontrast zu anderen Zeichenarten und die genauere Erfassung des Zusammenspiels von sprachlichen mit anderen Zeichen einen Eindruck davon geben können, was genau die spezifische Leistung der sprachlichen Zeichen und was der Einfluss der medialen Dispositive ist, denen jede
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Kommunikation und jedes mentale Operieren mit Zeichen unterworfen ist. Soll die Untersuchung dieser realistischen Konzeptualisierung von Sprache nicht allein theoretisch bleiben, wäre eine empirische Erfassung der Kommunikationsform-Vielfalt sicherlich hilfreich. 6. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten (Hg.): Textsorten – Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster 1995. Adamzik, Kirsten: Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübingen 2000. Adamzik, Kirsten (Hg.): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen 2004. Androutsopoulos, Jannis: „Neue Medien – neue Schriftlichkeit.“ In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 54 (2007), 72–97. Auer, Peter: „Kontextualisierung.“ In: Studium Linguistik 19 (1986), 22–47. Bausinger, Hermann: Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprache Bd. 2. Frankfurt 1972. Bolter, Jay David u. Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge/Massachusetts 1999. Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin 1985. Brinker, Klaus, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u. Sven Frederik Sager (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2 Halbbde. Berlin, New York 2000/2001. Diewald, Gabriele Maria: Deixis und Textsorten im Deutschen. Tübingen 1991. Dimter, Matthias: Textklassenkonzepte heutiger Alltagssprache. Kommunikationssituation, Textfunktion und Textinhalt als Kategorien alltagssprachlicher Textklassifikation. Tübingen 1981. Domke, Christine: „Der Ort des Textes. Überlegungen zur Relevanz der Platzierung von Kommunikaten am Beispiel von Flughäfen.“ In: Mediale und semiotische Re- und Transkodierungen – Metamorphosen zwischen Sprache, Bild und Ton. Heidelberg 2010. Domke, Christine: „Texte im öffentlichen Raum. Überlegungen zur Ausdifferenzierung medienvermittelter Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen und Innenstädten.“ In: Mediengattungen. Hg. v. Thomas Gloning u. Katrin Lehnen. Frankfurt/Main i.V. Dürscheid, Christa: „Medien, Kommunikationsformen, kommunikative Gattungen“. In: Linguistik online 22 (2005), 1. (Stand: 01.12.2010). Ermert, Karl: Briefsorten. Untersuchungen zur Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen 1979. Goffman, Erving: Forms of Talk. Philadelphia 1981. Gülich, Elisabeth u. Wolfgang Raible: „Textsorten-Probleme.“ In: Linguistische Probleme der Textanalyse. Jahrbuch 1973 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf 1975, 144–197. Gumperz, John: Discourse Strategies. Cambridge 1982.
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Die Typologisierung multimodaler Kommunikationsangebote – Am Beispiel der visuellen Aspekte seitenbasierter Dokumente Martin Steinseifer (Gießen) 1. 2.
2.1 2.2 2.3
3.
3.1 3.2
4. 5. 6.
Einleitung – Die konstitutive Mediengebundenheit von Ausdrucksformen Modalitätskonzepte – Zugänge zur Medialität von Zeichenprozessen Das systemorientierte Modalitätskonzept der Social Semiotics Multimodalität in handlungs- und rezeptionsorientierter Perspektive Transkriptionstheorie und pragmatische Zeichentheorie Ansatzpunkte der Typologisierung bei statischen Dokumenten Makroeinheiten – Kommunikationsangebote, Texte, Dokumente Mikroeinheiten: Cluster – am Beispiel von Text-Bild-Zusammenstellungen Schluss Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung – Die konstitutive Mediengebundenheit von Ausdrucksformen Wenn von ‚Multimodalität‘ die Rede ist, wird darauf hingewiesen, dass die Kommunikationsangebote, mit denen Rezipienten im gesellschaftlichen Alltag konfrontiert sind, nicht nur aus sprachlichen Zeichen bestehen, sondern auch aus anderen zeichenhaften Bestandteilen – aus wahrnehmbaren Elementen verschiedener Art, die in der Kommunikation zum Ausgangs- und Zielpunkt sozial stabilisierter Funktions- und Bedeutungszuschreibungen werden können. Als programmatisches Fahnenwort ersetzt ‚Multimodalität‘ in linguistischen Publikationen zunehmend das Wort ‚Multimedialität‘ (Lemke 1998; Blum & Bucher 1998; Fix 2001), das in anderen disziplinären Kontexten weitgehend synonym verwendet wird. Das Phänomen, zu dessen Bezeichnung beide Ausdrücke verwendet werden, ist nicht neu, und so wird immer wieder darauf hingewiesen, alle ‚Texte‘, ja alle kommunikativen Äußerungen, seien grundsätzlich multimodal (vgl. Kress & van Leeuwen 1998; Matthiessen 2007). Neu ist allerdings das Interesse an multimodalen Konfigurationen – jedenfalls in der Linguistik. Es wird zumeist als Reaktion auf technisch bedingte Veränderungen im gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt präsentiert: Das Aussehen schriftlicher Texte habe sich etwa aufgrund neuer technischer Möglichkeiten in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, so dass unter den Bedingungen computer-
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gestützter, digitaler Textproduktion sowohl von den Produzenten wie den Rezipienten zunehmend auch design- und bildbezogene Kompetenzen erwartet würden, die über eine sprachlich zu bestimmende Textkompetenz hinausgingen. Das Feld, das der pragmatischen Linguistik mit der multimodalen Orientierung erschlossen wird, ist jedoch erheblich weiter: Es umfasst neben der Verbindung alphabetschriftlicher und bildlicher Anteile, und damit unterschiedlicher visueller Modalitäten auf ‚Sehflächen‘ (Schmitz & Renner 2005; Schmitz 2010, s. u. 3.1), wie sie sich typischerweise bei hand- und druckschriftlichen Kommunkationsangeboten finden (Kress & van Leeuwen 1996; Lemke 1998; Roth & Spitzmüller 2007; Bateman 2008; Steinseifer 2010), auch die Verbindung von lautlichen mit mimischen, gestischen und anderen körperbezogenen Anteilen, und damit auditiver und visueller ‚Modalitäten‘ in der Face-to-face-Interaktion (Schmitt 2007; Fricke 2007; Fricke i. Ersch.). Und es umfasst die komplexe und dynamische Kombination von klanglichen, lautlichen, schriftlichen, diagrammatischen und statischen sowie dynamischen bildlichen Anteilen in den elektronischen Kommunikationsangeboten von Film, Fernsehen (Holly 2010) und World Wide Web (Meier 2008) ebenso, wie in ‚Präsentationen‘ als visuell unterstützten Formen des Vortrags (Schnettler & Knoblauch 2007; Lobin 2009). Dieses Feld ist erst in Ansätzen erschlossen, so dass ein resümierender Überblick derzeit nicht möglich ist und angesichts der Heterogenität und Dynamik der existierenden theoretischen und methodischen Ansätze auch kaum sinnvoll wäre. Neben dem stark systemfunktional geprägten Handbook of Multimodal Analysis (2009) hat allerdings Hans-Jürgen Bucher (2010) einen ersten Systematisierungsversuch multimodaler Theorie- und Methodenkonzepte vorgelegt, auf den im Folgenden mehrfach rekurriert wird. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich nach einer Problemeröffnung (1.) auf die Darstellung unterschiedlicher konzeptueller Akzentuierungen des Multimodalitätsbegriffs (2.), sowie auf die Diskussion einiger Probleme, die sich daraus für die Typologisierung statischer, seitenbasierter ‚Texte‘ (Stöckl 2004) oder ‚Dokumente‘ (Bateman 2008) ergeben (3.). Seitenbasierte Dokumente bilden nicht nur einen wichtigen Teilbereich visuell zu rezipierender Kommunikationsangebote, im Hinblick auf sie wurde auch bereits seit längerem die Frage nach dem Verhältnis des schriftlichen Anteils zu nichtsprachlichen grafischen, diagrammatischen und insbesondere bildlichen Elementen diskutiert – wenn auch eher in der Semiotik (zusammenfassend Nöth 2000:481–486) als in der Linguistik (vgl. aber Muckenhaupt 1986). Von der damit verbundenen Erweiterung oder Problematisierung des Textbegriffs (vgl. Steinseifer 2009b) hat auch die aktuelle Multimodalitätsdiskussion ihren Ausgang ge-
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nommen (Kress & van Leeuwen 1996; Schmitz 1997; Blum & Bucher 1998; Fix & Wellmann 2000; Stöckl 2004), bevor sie auf die weiteren o. g. Bereiche ausgedehnt wurde. In der Frage nach kommunikativen Musterbildungen und ihrer theoriegestützten Bestimmung und Typologisierung, die im Zusammenhang dieses Handbuchs im Mittelpunkt steht, konvergieren bei multimodalen Kommunikationsangeboten zudem zwei Varianten des aktuellen linguistischen Interesses für Oberflächenphänomene (vgl. Linke & Feilke 2009). Eine Variante besteht in der Betonung des pragmatischen Signalwerts von sprachlichen Musterbildungen an der ‚Oberfläche‘ konkreter Äußerungen, die andere darin, ausgehend von den an der materiellen ‚Oberfläche‘ wahrnehmbaren Eigenschaften von Kommunikationsangeboten nach Bedingungen der Artikulation von Bedeutung zu fragen – und damit nach der konstitutiven Mediengebundenheit von Ausdrucksformen (vgl. Jäger 2000). Die zuerst genannte Variante kann als Reaktion auf die Kontextund Funktionsorientierung im Rahmen der sogenannten pragmatischen Wende der Linguistik während der 1970er Jahre angesehen werden (vgl. Feilke 2000). Denn im Zeichen der pragmatischen Wende standen Versuche im Mittelpunkt, die typischen Eigenschaften von Textexemplaren über eine Reihe von Abstraktionsebenen (Textsorten, Textklassen, Texttypen) auf die kommunikativen Kontexte und die Funktionen zurückzuführen, denen sie dienen, und damit gleichsam die Oberfläche einseitig von der Tiefe her zu verstehen. Eine Reaktion auf diese Tiefenorientierung der pragmatischen Wende bestand dann darin, in umgekehrter Richtung von Typisierungen der Oberfläche wie idiomatischen Prägungen her nach der Funktion von „Sprache als soziale[r] Gestalt“ (Feilke 1996) zu fragen, und diese insbesondere in der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit ‚gleichsinniger‘ Kommunikation durch (a) Kontextualisierung (Auer 1986) und (b) Herstellen von (metakommunikativem) Einverständnis diesseits des Verstehens zu finden. Mit dieser „Wende der Wende“ (Feilke 2003:217) ging auch ein zunehmendes Interesse für die jeweiligen Besonderheiten von mündlichen und schriftlichen Ausdrucksformen einher, die nicht mehr einfach als unterschiedliche Realisierungen der Möglichkeiten eines Systems verstanden wurden. In dem Moment nun, wo der Zugriff auf diese Ausdrucksformen nicht auf den grammatischen Vergleich sprachlicher Zeichenstrukturen beschränkt bleibt, sondern auch die ‚Materialität der Kommunikation‘ (vgl. Gumbrecht & Pfeiffer 1988) mit einbezieht, greift die zweite Variante der Oberflächenorientierung, und man könnte in Analogie zu Feilkes Formulierung von einer Hinwendung zur ‚medialen Gestalt‘ von Ausdrucksformen sprechen (vgl. Steinseifer 2009a). Diese Hin-
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wendung ist im Rahmen kommunikationstypologischer Fragen insofern von besonderem Interesse, als neben der ‚sozialen‘ gerade diese ‚mediale‘ Gestalt in hohem Maß dafür verantwortlich ist, dass komplexe Kommunikationsangebote als Ganze mit großer Zuverlässigkeit und Schnelligkeit kontextualisiert werden können, noch bevor – gleichsam Stück für Stück – das Zusammenspiel ihrer Elemente und damit ihre Komplexität verstanden wird (vgl. Hausendorf & Kesselheim 2008:33; für die Typographie Wehde 2000:119ff.) – ja auch ohne dass ein solches Verständnis überhaupt in jedem Fall der Kontextualisierung folgt. Das können die folgenden Ausschnitte verdeutlichen:
Abb. 1–6: Sechs Ausschnitte aus Dokumenten, digital bearbeitet (Quellenangaben am Ende des Beitrags)
Die Abbildungen zeigen Ausschnitte verschiedener Dokumente. Sie wurden nicht nur stark beschnitten, sondern auch mit einem Unschärfefilter so bearbeitet, dass die Textzeilen nicht mehr lesbar sind. Dennoch dürfte allein aufgrund der Anordnung und Auszeichnung von Text- und Bild-Blöcken in den meisten Fällen sofort klar sein, zu welcher Domäne die Beispiele gehören, und wahrscheinlich auch, um ‚was für eine Art‘ von Kommunikationsangebot bzw. Dokument es sich jeweils handelt. Schon dieses einfache Beispiel zeigt damit, dass neben der sprachlichen Musterbildung aus pragmatischer Perspektive Formen der wahrnehmungsbezogenen, medialen Musterbildung zu berücksichtigen sind.
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Es gibt allerdings unterschiedlich starke Annahmen hinsichtlich der Beziehung zwischen sprachlicher und medialer Gestalt. Für die Linguistik charakteristisch ist die Annahme einer relativen Unabhängigkeit, bei der dieselbe sprachliche Äußerung (derselbe Text) in verschiedenen medialen Realisierungen vorliegen kann. Diese relative Unabhängigkeit kennzeichnet das viel diskutierte Modell von Koch und Österreicher (1985, 1994) mit seiner konstitutiven Unterscheidung von Medium und Konzeption. Eine noch weitergehende Abkopplung findet sich in den Multimodalitätskonzeptionen, die in der Tradition der systemisch funktionalen Linguistik (Systemic functional linguistics) stehen (Kress & van Leeuwen 1996; Matthiessen 2007; O’Halloran 2004 u. 2008), wenn sie im Anschluss an Halliday (1985) zwischen einer Inhalts- und einer Ausdrucksebene (content stratum und expression stratum), die jeweils intern systemisch strukturiert sind, unterscheiden und den Anspruch haben, deren jeweilige ‚Grammatiken‘ als paradigmatische Wahlmöglichkeiten (language as choice) zu beschreiben. In dieser Perspektive kann dieselbe kulturelle Bedeutung in unterschiedlicher – mono- oder eben auch multimodaler – Form realisiert werden. Aus medientheoretischer wie pragmatischer Sicht interessanter ist allerdings die wechselseitige Beeinflussung von medialer Form und semiotischer Strukturbildung. Denn schon sprachliche Äußerungen sind in ihrem Aufbau immer auch auf die entsprechenden materiellen Möglichkeiten und Anforderungen des Artikulationsmediums hin konzipiert. Ein einfaches und unauffälliges Beispiel dafür ist die syntaktische Struktur von Listen (vgl. Adamzik 1995), wie sie sich etwa auf dem oben bereits abgebildeten Beipackzettel finden (Abb. 7). Die Syntax der Aufzählung ist auf die visuelle Anordnung der flächig-grafisch markierten Listeneinträge bezogen und würde in einem Fließtext so nicht vorkommen. Ein visuell wie syntaktisch auffälligeres Beispiel wären Überschriften. Die medialen affordances (Kress 2009:54f.; zuerst Gibson 1977) bilden einen konstitutiven Teil der jeweiligen kommunikativen Konstellation und können nicht vollständig auf andere Parameter zurückgeführt werden. Die mediale Gestalt von Ausdrucksformen spielt allerdings in der Text- und Textsortenlinguistik weithin nur am Rand eine Rolle (vgl. etwa die knappen Hinweise bei Adamzik 2004:145) – und wenn, dann vornehmlich an den ‚Rändern‘ der Texte. Denn was einen Text als Ganzheit konstituiert, wo ein Text aufhört und ein anderer anfängt, ist analytisch anhand von sprachlichen Kriterien allein kaum befriedigend zu bestimmen. Das Fehlen oder die Uneindeutigkeit der entsprechenden sprachlichen Abgrenzungssignale hat kommunikationspraktische Gründe. Zur Abgrenzung dienen zusätzlich nicht nur paraverbale Elemente wie der Satzspiegel, sondern auch materiale Eigenschaften des Textträgers (Hausendorf & Kesselheim 2008:39ff.). Diese ‚paratextuellen‘
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Abb. 7: Beipackzettel Nasivin (Ausschnitt)
(Genette 1982; Stanitzek 2004) Aspekte sorgen dafür, dass ein Text für die Rezipienten im Alltag zumeist auch ein Objekt ist, das als zusammenhängend wahrgenommen werden kann. Geht man allerdings von der medialen Gestalt aus und setzt bei der visuellen Wahrnehmbarkeit an, dann lässt sich die Perspektive geradezu umkehren: Der lineare sprachliche Text, der für die Textlinguistik im Mittelpunkt steht, erscheint als ‚paravisueller‘ Teil eines seiten- bzw. flächenbasierten Dokuments. Im Blick auf Multimodalitätskonzepte stellt sich damit die Frage, wie sie die beiden Perspektiven aufeinander beziehen. 2. Modalitätskonzepte – Zugänge zur Medialität von Zeichenprozessen Die Attraktivität des Fahnenwortes ‚Multimodalität‘ für eine Erweiterung des Gegenstandsfeldes der Linguistik hat nicht nur mit den angedeuteten Veränderungen im gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt zu tun, sondern auch damit, dass das mit diesem Fahnenwort verbundene Konzept – der Multimodalitätsbegriff – einige Neufokussierungen und Präzisierungen in jenem Gegenstandsbereich verspricht, der ansonsten durch den notorisch unscharfen Medienbegriff abgedeckt wird. Das lässt sich anhand der Aspekte verdeutlichen, die nach Siegfried J. Schmidt (2000:94f.) für Medien konstitutiv sind. Sie müssen bei einer Analyse der Verwendung des Begriffs ‚Medium‘ unterschieden werden und sind von jeder Medientheorie zu berücksichtigen. Für Schmidt bestehen Medien aus der Verbindung von (1) semiotischen Kommunikationsinstrumenten, (2) technischen Dispositiven oder Tech-
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nologien und (3) sozialen Institutionalisierungen, die die Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung einzelner (4) Kommunikationsangebote prägen. Während die Medienwissenschaften in ihrer Konzentration auf Einzelmedien und deren Wechselbeziehungen häufig entweder die Verbindung technischer Dispositive mit semiotischen Kommunikationsinstrumenten (so bei Einzelmedien wie Fotografie und Film) oder von technischen Dispositiven mit sozialen Institutionalisierungen (so bei den klassischen Massenmedien Presse und Rundfunk) fokussiert haben – Fokussierungen, die auch mit den unterschiedlichen Ausgangspunkten in den Philologien einerseits und den Sozial- und Kommunikationswissenschaften andererseits zusammenhängen –, fokussiert der Begriff der Multimodalität insbesondere die Tatsache, dass in einzelnen Kommunikationsangeboten immer schon und immer wieder verschiedene ‚semiotische Instrumente‘ bzw. Ressourcen zusammenkommen und zum Sinn(potential) beitragen. Die verschiedenen semiotischen Ressourcen der Sinnbildung werden dann als Modalitäten (modes) bezeichnet. Eine restriktivere Unterscheidung von Medialität als technischer Infrastruktur, Codalität als semiotischer Struktur und Modalität als Sinnesbezug (insbesondere akustisch, visuell, vgl. Weidenmann 1995), hat sich nicht durchgesetzt, wohl auch, weil die begriffliche Präzisierung allein wenig zur Bestimmung der Codalitäten in ihren Relationen zu materialen Affordances und kommunikativ relevanten Wahrnehmungsschemata beiträgt. Wenn eine konstitutive Mediengebundenheit von Ausdrucksformen behauptet wird, dann wird nämlich genau diese Verbindung von Materialität und Semiotizität, von Wahrnehmbarkeit und Interpretierbarkeit (vgl. Antos & Spitzmüller 2007:41f. im Anschluss an Keller 1995:108ff.) zur zentralen Problematik. Je nach Zugang zu dieser Problematik lassen sich in der aktuellen Diskussion Konzeptionen unterscheiden, die eher systemorientiert (2.1), eher handlungs- und rezeptionsorientiert (2.2), oder eher auf semiotische Prozesse der Bedeutungskonstitution (2.3) bezogen sind. 2.1 Das systemorientierte Modalitätskonzept der Social Semiotics Eher systemorientiert ist das Vorgehen der Social Semiotics, für das die folgende Bestimmung von Modalitäten als sozial geprägten, semiotischen Ressourcen durch Gunther Kress charakteristisch ist: Social action and affordances of material […] together produce semiotic resources which are the product of the potentials inherent in the material, of a society's selection from these potentials and of social shaping over time of the features which are selected (Kress 2009:55).
Als Beispiele für Modalitäten werden u. a. Sprache, Foto, Film, Farbe, Sound, Geste, Layout, Typographie und Design genannt. Blickt man auf diese Liste, fällt dem typologisierenden Blick sofort deren Heterogenität
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auf. Es finden sich einmal Modalitäten, aus denen semiotisch mehr oder weniger eigenständig rezipierbare Teile kommunikativer Angebote gebildet werden. Dazu zählen Sprache und Bild, bei denen jeweils wieder Varianten zu unterscheiden sind: Sprache gibt es gerade nicht als Abstraktum, sondern nur in mündlicher, schriftlicher oder gebärdender Form – wobei diese Unterscheidung selbst noch stark vergröbert, insofern z. B. handschriftlich beschriebene Zettel, Buchdruck, Siebdruck auf Schildern, bedruckte Verpackungen etc. ganz unterschiedliche mediale Bedingungen aufweisen; und auch im Bereich der Bilder ist das in der Liste genannte fotografische Bild nur eine, wenn auch prominente, Variante des gegenständlichen Bildes – neben Tafelbild oder Zeichnung, die wiederum auch nichtgegenständliche Varianten haben – und einer Vielzahl diagrammatischer Formen, bei denen fraglich ist, inwieweit sie als Bilder anzusprechen sind (vgl. aber Sachs-Hombach 2003:201–207). Neben diesen relativ autonomen Modalitäten finden sich in der Liste mit Farbe, Typographie, Layout und Geste – in manchen Varianten der redebegleitenden Gestik und Mimik – heteronome Modalitäten, die notwendig an eine andere Modalität gebunden sind. Die semiotischen Größen, die die klassischen Gegenstände der Sprach- und bildwissenschaftlichen Theoriekonzepte bilden, erscheinen auf dieser Basis als Kombinationen von autonomen und heteronomen Modalitäten, wobei der ‚parasitäre‘ Charakter (Bucher 2010:131) der heteronomen Modalitäten einen wichtigen Anteil daran haben dürfte, das sie nicht selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Disziplinen geworden sind. Neben diesen beiden Formen von Modalitäten enthält die Liste mit dem Film schließlich eine noch komplexere Größe, eine hochgradig multimodale Modalität: Denn der (Ton-)Film ist nur als eine Kombination aus bewegten Bildern, Farbe, Sprache und Sound zu begreifen. Dass trotz dieser Unterschiede dennoch alle genannten Größen im Rahmen der Social Semiotics als Modalitäten gelten, ergibt sich aus der Kombination von zwei Ausgangspunkten ihrer Bestimmung: Eine rekonstruktive Bestimmung – „socially, a mode is what a community takes to be a mode and demonstrates that in its practices” (Kress 2009:58f.) – wird ergänzt oder überformt durch eine theoriegeleitete Bestimmung, bei der der Modalitätsstatus an die Erfüllung der drei kommunikativen Metafunktionen Hallidays geknüpft wird: In a social semiotic theory any communicational resource has to fulfill three functions: to be able to represent what ‘goes on’ in the world – states, actions, events: the ideational function; to represent the social relations of those engaged in communication: the interpersonal function; and to represent both these as message entities – texts – coherent internally and with their environment: the textual function. If music or colour or layout meet these requirements, they are modes; if they do not, then not. (Kress 2009:59)
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Diese Bestimmung über die Metafunktionen führt allerdings nun gerade weg von einer Phänomenologie der materialen Qualitäten und ihrer kommunikativen Indienstnahme und erleichtert daher die problematische Abstraktion einer letztlich homogenen Bedeutungsebene (content stratum). Denn während sich die relative Autonomie der Modalitäten Bild und Sprache gerade darin äußert, dass sie zum Zweck der Darstellung verwendet werden können bzw. eigenständige Aussagen über die Welt ermöglichen (repräsentationaler bzw. propositionaler Charakter), besteht die Heteronomie der anderen Modalitäten darin, dass ihre konkreten materialen Qualitäten dazu beitragen, solche Darstellungen und Aussagen oder Aussagenzusammenhänge als Ganze auf die eine oder andere Weise zu ‚qualifizieren‘. Autonomie und Heteronomie sind insofern keine Eigenschaften von einzelnen Zeicheneinheiten, sondern von Gebrauchsweisen. Vor dem Hintergrund der Peirceschen Semiotik kann man dies auch so ausdrücken, dass im einen Fall symbolische Momente dominieren, im anderen ihr Zusammenspiel mit indexikalischen und insbesondere ikonischen Momenten der Semiose. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass sich in bestimmten Gebrauchszusammenhängen die Dominanzen verschieben und etwa bestimmte Schriftarten zu einer Form des sozialen Stils (vgl. Spitzmüller 2009) werden und als solche kontext- bzw. situationsübergreifend ‚gleichsinnig‘ verstanden werden. Eine konsequent pragma-semiotische Sichtweise vermeidet nur die Reduktion des zeichenhaften Charakters von Kommunikationsangeboten und ihren Elementen auf konventional konstituierte symbolische Momente. Denn eine solche Reduktion, führt dazu, aus theoretischen Gründen stabile Bedeutungen von Zeichengebilden auch dort zu unterstellen, wo eher von flexiblen Prozessen der Sinnkonstitution auszugehen ist, die durch die jeweils wahrnehmbaren materialen Eigenschaften ikonisch motiviert sind (vgl. Steinseifer 2010). Die Problematik einer solchen Reduktion zeigt sich deutlich, wenn im Rahmen der Social Semiotics auch das Design, verstanden als der Raum der Integration verschiedener semiotischer Ressourcen, als Modalität mit eigenen symbolischen Ordnungsformen und ‚grammatischen‘ Stukturen konzeptionalisiert wird. Denn dann muss auch die Platzierung bestimmter Elemente im Zusammenhang eines multimodalen Dokuments die Metafunktionen erfüllen. Das führt bei den Analysen von Zeitungsseiten durch Kress und van Leeuwen (1998) u. a. dazu, dass sie nicht typische Platzierungen von Elementen mit einer spezifischen Funktion rekonstruieren, sondern bestimmten Bereichen der Seite selbst einen stabilen Wert im Sinne der ideationalen Funktion zuweisen: Oben steht das Ideale (ideal), unten das Wirkliche (real) und – entsprechend der Leserichtung – links das Bekannte (given), rechts das Neue (new). Einer unabhängigen empirischen Überprüfung halten diese
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Generalisierungen allerdings nicht stand (vgl. Bateman 2008:45), so dass eine „Grammatik dieser Kompositionsprinzipien […] normative Züge“ hat (Bucher 2010:33). Aus pragmatischer Sicht führt die Systemorientierung der Social Semiotics leicht zu einer „Hypostasierung der Bedeutung gegenüber dem, was in der Kommunikation mit der Verwendung eines bestimmten Designs gemeint sein könnte“ (Bucher 2010:34). Die kommunikativen Werte der Platzierung lassen sich nicht als abstrakte Bedeutung fassen, die auf der Ebene des Designs als eines systemisch organisierten mode dem platzierten Element zusätzlich zukommt. Sondern entsprechende Sinnrelationen ergeben sich relativ variabel aus dem konkreten Zusammenspiel von Textteilen, Diagrammen und Bildern im Rahmen einer (Zeitungs-)Seite. 2.2 Multimodalität in handlungs- und rezeptionsorientierter Perspektive Nimmt man statt einer systemorientierten eine rezeptionsorientierte Perspektive ein, dann wird neben der Kompositionalität die Präsentation von Elementen in der Fläche, die Non-Linearität des Kommunikationsangebots, zum entscheidenden Charakteristikum der Multimodalität, wie es Bucher (2007, 2010) sehr deutlich herausarbeitet. Die NonLinearität macht in ganz anderer Form als bei einem linearen sprachlichen Text Entscheidungen darüber erforderlich, was überhaupt als zusammengehörig rezipiert wird. Das Design ist daher aus Buchers Sicht weniger auf der kommunikativen Ebene der Mitteilung relevant, als auf der operationalen Ebene der „Identifizierung und Gruppierung bedeutungstragender Elemente“. Auf dieser Ebene, die besonders in hypertextuell organisierten Kommunikationszusammenhängen hervortritt, aber auch bei der Nutzung von Zeitungen oder Büchern relevant wird, unterscheidet Bucher (2010:17f.) eine ganze Reihe von Teilproblemen der Erschließung: Das Problem der Identifizierung der Art des Kommunikationsangebots, das Problem der Orientierung über den bisherigen Kommunikationsverlauf und im Kommunikationsangebot, das Problem Hierarchisierung verschiedener Teile des Angebots, das Problem der Navigation zwischen zusammengehörigen Teilen, das Problem der Rahmung und Relevantsetzung, und schließlich das Problem der Sequenzierung sowie der strategischen, funktionalen oder thematischen Einordnung der relevanten Elemente. Zwar benennt Bucher jeweils eine Reihe von typischen Ausdrucksmitteln, durch die Lösungsmöglichkeiten für diese Probleme in den Kommunikationsangeboten nahegelegt werden. Er grenzt sich aber zugleich von der Annahme ab, dass sich der Sinn eines Kommunikationsangebots in erster Linie bottom-up über die Bedeutung von salienten, auffälligen Einzelelementen rekonstruieren lasse, und geht – gestützt auf die Ergebnisse von Blickaufzeichnungen –
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davon aus, dass er „dem Angebot vom Rezipienten im Rahmen seiner Aneignungsabsichten ‚top-down‘ zugewiesen“ (2010:43) werde. Erst in Bezug auf diesen Rahmen werden für den Rezipienten einzelne Elemente zu relevanten Hinweisen auf Verstehensmöglichkeiten, und damit zu Faktoren in einem Verstehensprozess, den Bucher als ‚Interaktion‘ zwischen Rezipient und Dokument auffasst: Der Deutungsprozess folgt dem Muster einer antizipierten kontrafaktisch unterstellten Interaktion, in der sich sowohl der Kontext des zu deutenden Elements als auch der Wissensstand des Rezipienten fortlaufend verändern. Analog zu einer dialogischen Kommunikation ‚erhält‘ er vom Kommunikationsangebot jeweils die Information, die dem jeweiligen Kommunikationsstand entspricht. (2010:150)
Anhand der Aufzeichnungen von Blickbewegungen verschiedener Rezipienten, denen zuvor unterschiedliche Rezeptionsziele gesetzt wurden, kann Bucher die Selektivität empirisch bestätigen. Dass diese Selektivität der Sinnbildung und die konkreten Erschließungspfade nicht nur nicht vollständig von den Produzenten planbar, sondern auch nicht mitlaufend kontrollierbar sind, ist allerdings einer der charakteristischen Unterschiede zwischen Distanzkommunikation und Interaktion. Der Blick auf die sozial vorkonfigurierten Formen der Kompensation wird daher eher verstellt, wenn das Kommunikationsangebot selbst zum Akteur in einer quasi-dialogischen Situation erklärt wird. 2.3 Transkriptionstheorie und pragmatische Zeichentheorie Die Betonung der Rolle von Selektionsleistungen der Rezipienten unterscheidet den Ansatz Buchers von einem weiteren prominenten Versuch, für das sinnkonstitutive Zusammenspiel von Modalitäten eine konzeptuelle Fundierung zu liefern: von der Theorie der Transkriptivität Ludwig Jägers (2002). Beide Ansätze verbindet freilich die Kritik an einer Vorstellung der Addition monomodaler Bedeutungsanteile, die naheliegt, wenn man wie die Social Semiotics von jeweils bereits intern systemisch strukturierten Modalitäten ausgeht, die in multimodalen Kommunikationsangeboten zusammenkommen. Das Transkribieren einer mündlichen Äußerung wird für Jäger gerade deswegen zur Leitmetapher einer allgemeinen Theorie der kulturellen Semantik, weil das Transkript den Sinn des Transkribierten auf entscheidende Weise mitkonstituiert, indem es Aspekte des Ausgangsmaterials, die für sich betrachtet unklar bleiben, in einer bestimmten Form fixiert und so in einem neuen Zusammenhang ‚lesbar‘ macht. Das legt eine Anwendung auf Sprache- bzw. Text-Bild-Konstellationen nahe, bei der sprachliche Elemente als Zuschreibungen verstanden werden, die unklare Aspekte von Bildern lesbar machen – zumal diese für sich betrachtet keine klare propositionale Struktur haben (vgl. Jäger 2002:34). Ein Beispiel dafür
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findet sich auf der oben bereits unscharf verwendeten Titelseite der Bildzeitung aus dem Jahr 1975. Unter der Titel-Schlagzeile „So wurde Berlins CDU-Chef entführt“ wird u. a. ein Bild des Entführungsortes präsentiert, dessen Betrachtung allein allerdings den angekündigten Aufschluss über den Tathergang nicht zu geben vermag (Abb. 8). Erst durch die Unterschrift werden die sichtbaren Objekte und ihre Konstellation in dieser Weise verständlich: „An dieser Ecke im Berliner VillenViertel Zehlendorf geschah es: Der Lastwagen kam aus der Seitenstraße und versperrte den Weg. Der rote Fiat auf dem Bild ganz rechts neben der großen Birke rammte den Mercedes von Lorenz. Die Falle fiel zu.“
Abb. 8: BILD-Zeitung, 28.02.1975, S. 1 (Ausschnitt)
Eine Einseitigkeit der Klärung des Bildsinns durch den Text wird durch die sprachbezogene Metapher des Transkribierens nahegelegt, ist aber nicht zwingend. Denn prinzipiell können bei multimodalen Kommunikationsangeboten die Modi wechselseitig als Transkripte und Skripte fungieren, wie es etwa Werner Holly (2006, 2010) für filmische Sprache-Bewegtbild-Sequenzen vorgeführt hat, in denen der sprachliche Teil ohne Transkription im Bild unklar bleibt. Und es kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Im gleichen Zug mit der Konstitution durch das Transkript wird nämlich das Skript ‚interventionsfähig‘. Die jeweilige Lesart kann mit dem Skript verglichen werden und sich dabei als mehr oder weniger zutreffend erweisen. In pragmatischer Hinsicht hängt die Plausibilität einer Transkription also davon ab, inwiefern sie durch Eigenschaften des Skripts gedeckt ist (vgl. Steinseifer 2010, s. u. 3.2).
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Insofern liefert die Transkriptionstheorie einen mediensemiotischen Rahmen, der die konstitutive wechselseitige Bezogenheit unterschiedlicher Modalitäten ebenso erfassen kann, wie die Prozesshaftigkeit der Sinnkonstitution. Allerdings wird von ihren Vertretern nicht klar genug zwischen individuell zu rekonstruierenden Prozessen der Konstitution von Sinn und relativ stabilen Bedeutungen einzelner Zeichenformen als Resultaten solcher Prozesse auf einer sozialen Ebene unterschieden. Wenn davon die Rede ist, dass sich Text(teil)e und Bilder wechselseitig transkribieren, rückt leicht aus dem Blick, dass die multimodale Konstitution von Sinn nicht zwischen Zeichensystemen stattfindet, sondern immer Handlungen des In-Beziehung-Setzens voraussetzt. Eine entsprechende handlungstheoretisch motivierte Kritik (vgl. Bucher 2010:135–137, 145f.) steht aber umgekehrt in Gefahr, durch eine Konzentration auf die Variabilität individueller Rezeptionsprozesse die immer mitlaufende soziale Schematisierung der Verständigungsresultate und damit den Zeichencharakter der Kommunikationsangebote zu stark in den Hintergrund treten zu lassen. Eine pragmatische Multimodalitätskonzeption muss jedoch beide Aspekte verbinden. Der einmal erschlossene Sinn des wahrgenommenen Elements eines multimodalen Kommunikationsangebots kann in späteren ‚gleichsinnigen‘ Verwendungen diskursiv indiziert und dabei bis zu einem gewissen Grade als Bedeutung einer Reihe von Formen stabilisiert werden. Das so im kommunikativen Gebrauch etablierte Zeichenschema funktioniert dann als Orientierungsregel des Verstehens und sichert die Interpretierbarkeit des jeweils materialbezogen Wahrgenommenen. Als Regularitäten – oder im Sinn von Peirce: als symbolisch-drittheitliche Dimension der Semiose – gehen die Schemata den Selektionen individueller multimodaler Verstehens- bzw. Interpretationsprozesse voraus, auch wenn sie für diese Prozesse nicht mehr sind, als sozial präferierte Varianten der Sinnbildung, denen gefolgt werden kann oder nicht. 3. Ansatzpunkte der Typologisierung bei statischen Dokumenten Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass mit der Frage, wie in Kommunikationsprozessen, die sich auf multimodale Angebote beziehen, ‚Gleichsinnigkeit‘ des Verstehens ermöglicht und sichergestellt wird, auch das Problem der Typologisierung virulent wird – eher implizit geblieben sind aber die verschiedenen Ebenen, auf denen das der Fall ist. Zu unterscheiden sind hier mindestens die MakroEbene des gesamten Angebots oder Dokuments und die Mikro-Ebene von Konfigurationen einzelner Teileinheiten unterschiedlicher Modalitäten. Diese komplexen multimodalen Einheiten der Mikro-Ebene können als Cluster bezeichnet werden (vgl. Bateman 2008:33f., nach Schri-
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ver 1997:343; anders Meier 2008:256ff., bei dem Cluster als Terminus für die komplexe Einheit der Webseite verwendet wird). Ob und welche Ebenen dazwischen anzusetzen sind, ist damit nicht vorentschieden, ihre empirische Bestimmung und Typologisierung setzt aber einen konzeptionellen Rahmen voraus, in dem die Größen Kommunikationsangebot, Dokument, Seite und Cluster in Relation zu Einheiten wie Text und Bild selbst hinreichend klar bestimmt sind. Dass dies keine triviale Aufgabe ist, wird schon bei einem kurzen – und daher sehr vergröberten – Blick auf die Geschichte der linguistischen Ansätze zur Texttypologisierung deutlich: Hier zeigte sich bald nach der programmatischen Anfangseuphorie der pragmatischen Wende, dass sich der Anspruch einer einheitlichen Typologisierung von Texten (vgl. zu den Kriterien einer solchen idealen Typologie und ihren Problemen Isenberg 1983) nicht einlösen ließ, und man ist mehrheitlich dazu übergegangen, Texte in einer mehrdimensionalen Matrix von – ihrerseits prototypisch abgestuften – Texteigenschaften zu verorten (vgl. Adamzik 2008). Damit scheint die Textsortenlinguistik gut und flexibel genug gerüstet, um sich auch multimodalen Kommunikationsangeboten, die dann auch als ‚Texte‘ bezeichnet werden, durch eine entsprechende Übertragung oder Erweiterung der Matrix zu stellen (vgl. Stöckl 2004:122ff.). Eine entsprechende Bestimmung multimodaler ‚TextBild-Sorten‘, die die Textsortendefinition von Klaus Brinker um ‚visuelle Merkmale‘ erweitert, findet sich bei Ulrich Schmitz (2010:15f.): Text-Bild-Sorten sind konventionell geltende Muster für komplexe semiotische Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen, kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und visuellen) Merkmalen beschreiben.
Die Situation ist jedoch komplizierter, als es dieser von Schmitz selbst als vorläufig gekennzeichnete Integrationsvorschlag suggeriert. Die Einheitenbildung in den verschiedenen Dimensionen (pragmatisch, grammatisch, visuell) führt nämlich nicht unbedingt zu konvergierenden Ergebnissen. 3.1 Makroeinheiten – Kommunikationsangebote, Texte, Dokumente Besonders auffällig ist die Problematik auf der Ebene der multimodalen Makroeinheiten, wie man sich am Beispiel einer Zeitungsausgabe verdeutlichen kann. Sie erscheint aus textlinguistischer Perspektive als eine Sammlung von Texten, die aufgrund ihrer Funktion und ihrer Ausdrucksform unterschiedlichen Textsorten (Meldung, Bericht, Kommentar, Interview, Reportage etc.) bzw. Texttypen (vgl. Schröder 2003:198ff.) zugeordnet werden können. Man kann dann, je nach Interesse, jeden dieser Texte als eigenständiges Kommunikationsangebot auffassen, oder
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aber komplexere Einheiten: das können thematisch bestimmte Cluster von Texten, wie etwa Meldungen, Berichten und Kommentaren, sein oder solche von schriftlichen Text(en) und Bild(ern), die man – um eine a-modale Verwendung und Überdehnung des Textbegriffs zu vermeiden – auch als Beiträge bezeichnen könnte; es können aber auch alle Beiträge sein, die zu einer Rubrik zusammengefasst sind, wenn man sie als lose zusammenhängendes Mitteilungsangebot auffasst, dass die entsprechende Redaktion in einer Ausgabe macht. Das Kommunikationsangebot wäre dann eine in erster Linie thematisch oder funktional bestimmte Makro-Einheit, die häufig mehrere Texte oder Beiträge umfasst. Orientiert man sich dagegen an der wahrnehmbaren Form, erscheint als Makro-Einheit zunächst die gesamte Zeitung als mehrlagiger Stapel von gefalztem und bedrucktem Papier. Diese objekthafte Einheit kann als Dokument bezeichnet werden, das für die Rezeption zur Verfügung steht. Als kompaktes Objekt ist sie allerdings zwar wahrnehmbar, nicht aber rezipierbar. Rezipiert werden Dokumente wie die Zeitung ausgehend von kleineren visuellen Einheiten, den Doppelseiten und Seiten, bzw. den noch kleineren Clustern von Seitenelementen (vgl. Bucher & Schumacher 2007:515, siehe dazu unten 3.2). Den wahrnehmungsbezogenen Einheiten Dokument und Seite entsprechen nun aber im Fall der Zeitung nicht nur keine einzelnen Texte, sondern oft auch keine einheitlichen Kommunikationsangebote. Beiträge und Beitragscluster können sich über mehrere Seiten erstrecken, und wichtiger noch: auf einer Zeitungsseite als Flächeneinheit finden sich neben den redaktionellen Angeboten meist auch solche, die für Produkte werben. Letztere haben nicht nur eine andere kommunikative Funktion, eine andere thematische Ausrichtung und Struktur, sie nutzen meist auch andere sprachliche sowie visuelle Ausdrucksformen. Eine integrierende multimodale Typologisierung unter dem Dach des Textbegriffs erweist sich daher als problematisch. Sieht man sich die aktuellen Zugänge an, dann zeichnen sich zwei Tendenzen ab, wie mit diesem Problem umgegangen wird: Eine erste Tendenz besteht darin, sich trotz eines programmatisch umfassenden Typologisierungsanspruchs praktisch auf eine kleine Auswahl überschaubarer Untersuchungsgegenstände zu beschränken. Diese Tendenz ist ebenfalls aus der Geschichte der Textlinguistik vertraut, die, wie Kirsten Adamzik kritisch bemerkt, ihre Modelle immer wieder anhand einer recht kleinen Auswahl von Textsorten plausibilisiert hat, „darunter nicht zuletzt solche, die, jedenfalls für sich betrachtet, keineswegs besonders komplexen kommunikativen Aufgaben entsprechen. Das gilt etwa für diverse Kleinanzeigen, Horoskope, Wetterberichte, Lebensläufe, Kochrezepte, Beipackzettel zu Medikamenten, Leserbriefe“ (Adamzik 2007/i. Ersch.:6). ‚Überschaubarkeit‘ ist aber nun nicht mehr in
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erster Linie auf die eher geringe Komplexität der jeweiligen kommunikativen Funktion zu beziehen, sondern durchaus wörtlich zu verstehen. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Kommunikationsangebote, die auf einer begrenzten und daher als ein Ganzes überschaubaren Fläche präsentiert werden – ein Faktor, der übrigens auch auf einige der von Adamzik angeführten Textsorten zutrifft. In dieser Weise geht etwa Ulrich Schmitz vor, wenn er die Idee eines ‚Text-Bild-Sorten-Atlas‘ (2007a) im Rahmen einer ‚Sehflächenforschung‘ verortet und dabei Einheiten wie die folgenden im Blick hat: Briefmarken, Firmenlogos, Werbeflyer, Leuchtreklamen, Schaltpläne, Landkarten, T-Shirts, PizzaVerpackungen, Bilderbücher, Bildbände, Plakate und Verkehrsanzeigetafeln (Schmitz 2010:15). Bilderbücher und Bildbände fallen mit ihrer Vielzahl an Seiten aus der Reihe eher heraus, denn sonst weisen die Ziel-Objekte nur eine sehr kleine Zahl dominanter Flächen auf. Für die auf diesen Sehflächen zu findenden Text-Bild-Cluster lässt sich recht häufig eine dominante Funktion angeben und sie bilden in aller Regel ein Kommunikationsangebot – wobei allerdings selbst unter den wenigen Beispielen sofort wieder die Zuordnungsfragen auf der Dokumentebene auftauchen: Denn Briefmarken und Firmenlogos werden typischerweise nicht allein, sondern im Zusammenhang von Briefen bzw. Briefbögen, Werbeanzeigen oder Verpackungen verwendet. Zur Attraktivität der Sehflächen als überschaubarem Untersuchungsgegenstand dürfte aber neben der begrenzten Komplexität ebenso die Attraktionsfunktion beitragen, die sie in der kommunikativen Verwendung übernehmen. Für Werbung – sei es in Form von Flyern, Plakaten (vgl. O’Halloran 2008; Schmitz 2007b) oder den Anzeigen, die als Teile größerer Dokumente erscheinen – wie für viele weitere der genannten Einheiten gilt nämlich, dass sie produziert und verwendet werden, um Aufmerksamkeit zu binden bzw. Interesse an einem Kommunikationsangebot zu wecken. Um dies zu erreichen, muss für die potentiellen Rezipienten – relativ unabhängig von ihrer situativen Einbettung – mit dem ersten Blick auf die Sehfläche klar werden können, mit was für einem Dokument oder Kommunikationsangebot sie es zu tun haben. Diese Zuordnungs- und Kontextualisierungsleistung setzt Musterbildung und eine entsprechende pragmatische Schematisierungskompetenz auf Seiten der Rezipienten voraus, die an bestimmte Eigenschaften der medialen Ausdrucksformen anschließt: Die zentrale Größe hierbei ist das Layout, der bildlich-grafische Aufbau und die (ästhetische) Gestaltung der Gesamtfläche, sowie die typografische Gestaltung der Schriftzüge und Textteile – wobei sich die druckschriftlichen und bildlichen Anteile bisweilen stark miteinander verschränken. Hinzu kommen aber auch spezifisch bildbezogene Prägungen kompakter sprachlicher Ausdrucksformen (vgl. Stöckl 2004:309ff.), die gerade auf Sehflächen optisch
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gegenüber umfangreicheren, linear zu rezipierenden Textteilen dominieren. Das Phänomen layoutbasierter Token-Type-Zuordnungen – als multimodale Form der Architextualität (Genette 1982) – findet sich allerdings auch bei komplexeren Dokumenten, wie die Beispiele der verfremdeten Seitenausschnitte im ersten Teil andeuten, und es erfasst auch nur einen Aspekt des Beitrags, den das Layout zur Funktionalität und zur Sinnhaftigkeit multimodaler Einheiten leistet. Eine zweite Tendenz besteht darin, inhalts- und ausdrucksbezogene Analyseebenen möglichst konsequent zu trennen, und erst auf Grundlage ebenenbezogener Analysen Konvergenzen und Divergenzen der Grenzen von Kommunikationsangeboten, Texten und den relevanten ‚Sehflächen‘ von Dokumenten zu bestimmen. Diese Tendenz findet sich besonders in Konzeptionen, die auf die multimodalen Strukturen von komplexen Dokumnetationen zielen. John Bateman hat mit seiner Studie Multimodality and Genre (2008) den bisher differenziertesten Vorschlag zu einer solchen „Foundation for the Systematic Analysis of Multimodal Documents“ (Untertitel) gemacht. Seine visuell bestimmte Hauptbezugseinheit ist die Seite als Teil eines Dokuments, und er unterscheidet zu ihrer Analyse zwischen: layout-base (die Layoutelemente einer Seite und die Relationen zwischen ihnen), rhetorical base (die unter Rückgriff auf eine modifizierte rhetorical structure theory (RST) in Form hierarchisch eingebetteter Relationen modellierte Inhaltsstruktur) und navigation base (die Struktur der Elemente, die klar zur Navigation auf der Seite und im Dokument beitragen). Diese drei unabhängigen Ebenen werden von zwei weiteren Ebenen gerahmt: base layer („the basic elements physically present on a page“, 108) und genre base. Während die BasisEbene alle möglichen Einheiten der anderen Ebenen unabhängig von ihrer Funktion auflistet, findet auf der Genre-Ebene die Integration der anderen Ebenen statt. Die Einheiten von base layer und layout base sind visuell fundiert, da ein Rezipient sich die Struktur des Dokuments über visuelle Hinweise erschließen muss; semantisch bzw. rhetorisch-funktional bestimmte Einheiten sollen auf die anderen Ebenen beschränkt werden. So sollen mögliche Divergenzen, insbesondere zwischen Layout- und Inhaltsstruktur, bei der Analyse nicht schon durch Vorabfestlegungen ausgeblendet werden und empirisch gestützte Urteile über die Angemessenheit des Layouts möglich werden (vgl. ebd.:166–174). Zugleich werden aber auch texttechnologische Bezüge des Modells deutlich: Denn Layout, Inhaltsstruktur und Navigation funktionieren gegenüber den Einheiten der Basis als Auszeichnungsebenen und können beim – zwar anvisierten, aber weithin noch ausstehenden – Aufbau multimodaler Korpora in entsprechende Annotationen umgesetzt werden. Genres sind in diesem Modell typische Formen der Vermittlung von Inhaltsstruktur mit Navigations- und Layoutstruktur. Um beim
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Beispiel der Zeitung zu bleiben: Frühe Zeitungen mit ihrer einfachen Reihung von Textnachrichten haben eine deutlich andere Genrestruktur als aktuelle Zeitungen mit ihrer starken Nutzung der Fläche sowie einer Vielzahl an Navigationselementen, und sie legen entsprechend andere Zugriffe auf die präsentierten Inhalte nahe. Die korpusgestützte Bestimmung von Genre-Typen soll ebenso der Modellierung von Variationsmöglichkeiten (multimodal genre space, 225ff.) für die Gestaltung von Dokumenten dienen, wie sie zusammen mit Blickaufzeichnungsdaten eine sinnvolle Vorstrukturierung von Erschließungspfaden erlaubt, und auf ihrer Basis sollen letztlich auch Voraussagen über die Entwicklung von Genres möglich werden. So berechtigt der Anspruch einer analytischen Trennung von sichtbarer Form und Funktion gerade in einer Rezeptionsperspektive erscheint, ganz durchhalten lässt er sich nicht, insbesondere dann, wenn es auf der Layoutebene nicht nur darum geht, einzelne Layout-Elemente zu identifizieren, sondern auch deren Verbindungen zu Clustern zu erfassen. Zwar gibt es typische grafische Formen der Clusterbildung wie Blockbildung und Rahmung, die mit visuellen Methoden wie dem Einsatz von Unschärfefiltern oder einer Vergröberung der Auflösung verdeutlicht werden können (ebd.:67ff.), aber es gibt auch Fälle, in denen schon die Frage, welche Textblöcke etwa auf ein Bild zu beziehen sind, sich allein anhand von Kontrastwerten auf der Seitenfläche nicht beantworten lassen, sondern eine weitergehende Interpretation der Elemente als zeichenhafte Einheiten voraussetzen. 3.2 Mikroeinheiten: Cluster – am Beispiel von Text-Bild-Zusammenstellungen Zusammenstellungen von Textteilen und gegenständlichen Bildern sind wahrscheinlich der bestuntersuchte Fall von multimodalen Clustern, verstanden als intern komplex aufgebauten Einheiten, die einen spezifischen Beitrag zum Sinn eines Kommunikationsangebots leisten oder in dessen Rahmen eine bestimmte Teil-Funktion übernehmen. Im Mittelpunkt der bisherigen Untersuchungen stand allerdings zumeist die Typologisierung der semantischen Relationen zwischen den Elementen eines Clusters. Neben der nur negativ bestimmbaren Diskrepanz, dem fehlenden semantischen Zusammenhang von Text und Bild trotz räumlicher Nähe, und den Relationen der Redundanz sowie der Kontradiktion bildet die Komplementarität den interessantesten Fall, in dem Bild und Text Unterschiedliches und Spezifisches zu einer übergeordneten Gesamtbedeutung beitragen (vgl. Nöth 2000:483f.). Dieser Fall ist dann auch weiter differenziert worden, etwa nach der Art, in der die Gesamtbedeutung zustande kommt – eher durch Ergänzung (supplementary), durch Bereitstellen eines Hintergrunds (stage-setting) oder durch eine Spannung, die durch eine Synthetisierung gelöst wird (juxtapositional,
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vgl. Schriver 1997). Die „textuellen Gebrauchsmuster von SpracheBild-Bezügen“, die Hartmut Stöckl (2004, Kap. 5) für den Bereich der massenmedialen Kommunikation eher induktiv herausgearbeitet hat, stützen sich zusätzlich auf Relationen aus dem Bereich der Rhetorik, wie Metonymie und Metapher, um die Fälle der Komplementarität von Text und Bild genauer zu fassen. Vergleichbare Vorschläge mit systemfunktionalem Hintergrund orientieren sich an Hallidays Typen von Relationen zwischen Sätzen: der Projektion als Aussage oder Idee und der Expansion durch Konkretisierung (elaboration), durch Ergänzung (extension), oder durch Situierung (enhancement) (Martinec & Salway 2005). Alle diese global-semantischen Typologien setzen allerdings eine unabhängige Interpretation der beiden Relata voraus, denn erst auf ihrer Basis kann festgestellt werden, dass die jeweilige Relation besteht. Das ist aus rezeptionsbezogener Perspektive problematisch, weil in multimodalen Clustern das Verständnis der einzelnen Elemente gerade in einem wechselseitigen Interpretationsprozess erreicht wird (vgl. zu diesem und weiteren Einwänden Bucher 2010:129ff.). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Roland Barthes (1964/1990) in seiner frühen Arbeit zu Text-Bild-Relationen neben der Komplementarität die Relation der ancrage als prototypischen Fall herausgestellt hat, bei dem ein ‚fluktierender‘ Bildsinn durch den Text ‚verankert‘ und dadurch ‚vereindeutigt‘ wird – etwa indem mit Hilfe des Textes einzelne Gegenstände, die auf einem Bild erkennbar sind, benannt, hervorgehoben und in einen bestimmten, propositionalen oder narrativen Zusammenhang gebracht werden. An diesem Fall, der nicht zufällig an die Grundkonstellation der Transkriptivitätstheorie (s. o. 2.3) erinnert, wird nämlich deutlich, dass zwar beide Modalitäten zum Sinn des Clusters beitragen, aber eben nicht auf die gleiche Weise. Es sind diese Ungleichheiten der semiotischen Ressourcen, die in der Rezeption eine wechselseitige Erschließung des Sinns notwendig machen und die die Herausbildung spezifisch multimodaler kommunikativer Handlungsmuster – in diesem Fall: (Mit dem Text) VEREINDEUTIGEN – motivieren. Problematisch an den Typen semantischer Relationen ist also nicht so sehr eine unterstellte unabhängige Zeichenhaftigkeit und damit Interpretierbarkeit der einzelnen Modi, sondern eine implizite Gleichstellung der Clusterelemente, die mediale Besonderheiten gerade ausblendet (vgl. Lemke 1998:110). Bilder als zeichenhafte Einheiten mit einer relativ stabilen Bedeutung aufzufassen ist aber aus pragmatischer Perspektive trotz der Kritik nicht völlig unplausibel, sondern verweist erneut auf eine Ebene der kommunikativen Musterbildung, die der individuellen Rezeption ebenso zugrundeliegt, wie die phänomenalen Eigenschaften der jeweils betrachteten Fläche. Die Rezeption eines Bildes ist nämlich in doppelter Hinsicht vor-
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aussetzungsvoll: Sie stützt sich zunächst auf solche Schemata, die auch in der außerbildlichen visuellen Wahrnehmung relevant sind. Sie erlauben es, auf einem Foto unwillkürlich ein Haus, Auto, ein Gesicht oder einen Menschen (wieder-)zuerkennen. Neben einer solchen ‚wahrnehmungsnahen‘ Interpretation dessen, was ein Bild zeigt, um deren Fundierung in einer Relation der Ähnlichkeit innerhalb der philosophischen Bildtheorie heftig gestritten wird (vgl. Sachs-Hombach 2003, insb. Kap. 5), können Rezipienten sich aber ebenso auf verschiedene Gestalt-Schemata stützen, die sie im kommunikativen Umgang mit Bildern und Text-Bild-Clustern aufgebaut haben. Solche Schemata liegen der Zuordnung von Bildern zu ‚technischen‘ Bildtypen wie Gemälde, Zeichnung, Fotografie etc. (den ‚Medien‘ der Kunstgeschichte) ebenso zugrunde wie den domänenspezifischen und sowohl formal als auch inhaltlich weitergehend bestimmten Motiv- bzw. Darstellungstypen – wie Porträt, Landschaft, Historie, Stilleben (die klassischen ‚Gattungen‘ der Kunstgeschichte), Katalogbilder, Karikaturen, Urlaubs- oder Bewerbungsfotos, bestimmte journalistische Motive etc. Die Vielzahl dieser kommunikativ relevanten Bildtypen ist wie diejenige der Texttypen wohl nur domänenspezifisch und in Form einer mehrdimensionalen und prototypisch strukturierten Matrix von Bildeigenschaften zu rekonstruieren (vgl. Stöckl 2004:122–145). Hinzu kommen schließlich noch solche Varianten einzelner bildlicher Darstellungstypen, die innerhalb von thematisch bestimmten Diskurszusammenhängen relevante Ereignisse indizierbar und Teil-(Be-)Deutungen in kompakter Form artikulierbar machen (vgl. Steinseifer i. Ersch. für Bilder von Tatorten, Tätern, und Opfern im Terrorismus-Diskurs).
Abb. 9: Stern, 23/1972, S. 154 (Ausschnitt)
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Betrachtet man die bildliche Ausdrucksform, dann lassen sich Motive als typische Anordnungen von bestimmten wahrnehmungsnah interpretierbaren Elementen im Rahmen der Bildfläche auffassen. Bei der prototypischen bildlichen Darstellung des Tatorts eines terroristischen Anschlags sind z. B. im Zentrum der Bildfläche Gegenstände mit deutlichen Spuren des Gewaltgeschehens zu erkennen und die weiteren Bildelemente ermöglichen in ihrer Anordnung eine räumliche Situierung (Abb. 9). Hinzu kommen häufig Polizeibeamte oder andere Figuren, deren Blick auf einzelne Zerstörungsspuren gerichtet ist, womit eine zusätzliche Orientierung des Betrachters vom Bild her nahegelegt wird. Das oben bereits erwähnte Foto auf der Titelseite der BildZeitung (Abb. 8) erscheint zwar an der Stelle eines Tatort-Bildes, entspricht aber nicht dem gerade skizzierten prototypischen Aufbau. Auch aus diesem Grund ist daher die klärende Bildunterschrift notwendig und wirkt zugleich umständlich. Wenn umgekehrt Bilder, die einen vergleichbaren Aufbau aufweisen, auch ohne weiteren Kontext als Tatortbilder interpretiert werden können, hat das allerdings auch nicht allein mit der sichtbaren Anordnung zu tun, sondern ebenso mit wiederholten sprachlichen Zuschreibungen eines entsprechenden Darstellungssinns, etwa durch Bildunterschriften, in vergleichbaren Verwendungszusammenhängen. Die Stabilisierung einer Motiv- bzw. Darstellungsbedeutung, erfolgt in Form von diskursiv eingebundenen Text-Bild-Clustern, und ist entsprechend anhand von Reihen solcher Cluster analytisch zu rekonstruieren. Sie führt aber schließlich dazu, dass ein kompetenter Rezipient in einem Cluster, wie es Abb. 9 präsentiert, eine partielle semantische Redundanz von Text- und Bildbedeutung feststellen kann. Die naheliegende Frage, worin der kommunikative Mehrwert solcher Redundanzen liegt, verweist dann allerdings sogleich wieder auf die Begrenztheit des global-semantischen Zugriffs und auf die Notwendigkeit, diesen durch eine Analyse der modalitätsspezifischen Wirkungsweisen zu ergänzen: Denn der kommunikative Mehrwert der Zusammenstellung von Text und Bild ist nicht allein in zusätzlichen Bedeutungsaspekten zu suchen, die das Bild bietet, sondern in einer besonderen Überzeugungskraft bzw. Evidenz, die es durch seine sichtbare Gestalt dem zugeschriebenen und erschlossenen (Sinn-)Gehalt verleiht (vgl. Steinseifer 2010). Eine Untersuchung dieser intermodalen Wirkungsweise von Bildern kann an Konzepte der Kunstgeschichte wie etwa die ‚Ikonik‘ Max Imdahls (1994) oder die Bildtheorie Gottfried Boehms (2007) anschließen, bei denen Bilder nicht nur ikonographisch gedeutet, sondern als ‚Sichtbarkeitsgebilde‘ analysiert werden. Die Frage der Effektivität bestimmter Formen kommt aber erst in den Blick, wenn sich die Beschäftigung mit ihnen nicht auf eine Rekonstruktion der zugrundeliegenden Handlungsmuster und der relativ stabilen Be-
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deutungen beschränkt, sondern sich für eine Phänomenologie der Ausdrucksformen (vgl. Hausendorf & Kesselheim 2008:18) öffnet. 4. Schluss In der Diskussion verschiedener Ansätze wurde deutlich, dass ein pragmatisches Multimodalitätskonzept die spezifischen materialbezogenen (An-)Ordnungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Wahrnehmungsanforderungen konsequent mit den Formen ihrer zeichenhaften Indienstnahme im Rahmen kommunikativer Prozesse vermitteln muss. Denn nur in der kommunikativen Konstellation haben wahrnehmbare Formen einen Sinn, der ausgehend von ihrer medialen Gestalt und gestützt auf sozial etablierte Gebrauchsmuster erschlossen werden muss. Sowohl die individuellen Rezeptionsprozesse wie die analytische Rekonstruktion von mehr oder weniger stabilen ZeichenBedeutungen setzen daher Schematisierungen auf mehreren Ebenen voraus. Das Verständnis dieser Schematisierungen und die Rekonstruktion derjenigen Typen multimodaler Kommunikationsangebote bzw. Dokumente, die für bestimmte kommunikative Handlungszusammenhänge oder Domänen zu bestimmten Zeiten von zentraler Bedeutung sind, sowie ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Entwicklung, stehen noch am Anfang. Gleiches gilt für den Aufbau der für quantifizierende Untersuchungen notwendigen Korpora und die Entwicklung von Annotationssystemen, die der relativen Unabhängigkeit und der funktionalen Motivation der Ausdrucksformen verschiedener Modi Rechnung tragen. Mit dem Einbeziehen der medialen Gestalt erweist sich allerdings das Ziel einer einheitlichen und umfassenden Typologie von kommunikativen ‚Sorten‘ oder ‚Genres‘, in der Form-, Funktions-, Thema-, und Situationsaspekte konvergieren, endgültig als das, was es schon immer war – als produktive Fiktion der Wissenschaft. 5. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten: „Syntax und Textgliederung. Hypotaktischer Stil, Nominalstil und graphischer Stil.“ In: Der Gebrauch der Sprache. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 60. Geburtstag. Hg. v. Götz Hindelang. Münster 1995, 15–42. Adamzik, Kirsten: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Narr 2004. Adamzik, Kirsten: „Textsorten und ihre Beschreibung.“ In: Textlinguistik. 15 Einführungen. Hg. v. Nina Janich. Tübingen 2008, 145–176.
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6. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9:
Vossische Zeitung, 22.03.1848, S. 1 (Ausschnitt) BILD-Zeitung, 28.02.1975, S. 1 (Ausschnitt) Quelle-Katalog. Herbst/Winter 2009/2010, S. 866 (Ausschnitt) Wikipedia-Startseite, URL: (Stand: 12.01.2010) (Ausschnitt) Karl Bühler: Sprachtheorie. Fischer, Jena 1934. Nachdruck Stuttgart, New York 1982, S. XXXI (Ausschnitt) Nasivin. Dosiertropfer für Babys. Gebrauchsinformation. 2008 (Ausschnitt) Beipackzettel Nasivin, s. Abb. 6 (Ausschnitt) BILD-Zeitung, 28.02.1975, S. 1 (Ausschnitt) Stern, 23/1972, S. 154 (Ausschnitt)
Fachtextsorten und Wissenstransfer Jan Engberg (Aarhus) 1.
2. 3. 4. 4.1 4.2 5.
Problemaufriss/Beispiel Wissenschaftshistorische Hintergründe Begriffshintergründe und Fokuspunkte Erörterung, kritische Würdigung, weiterführende Überlegungen Zu starres Korsett Unspezifische Relation zwischen Situation und Sprache Literaturverzeichnis
1. Problemaufriss/Beispiel Für den Bereich der Erforschung der Fachkommunikation, zu welchem Bereich ich die beiden im Titel dieses Beitrags genannten Begriffe rechne, ist Typologisierung ein grundlegender Interessenschwerpunkt: Wer Kommunikation in fachlichen Zusammenhängen studiert, interessiert sich dafür, wie sich diese Art der Kommunikation in Abhängigkeit der zentralen Merkmale von Fach von Kommunikation in anderen Zusammenhängen unterscheidet und welche typologischen Schlüsse daraus zu ziehen sind (Aitken 2002:94; Hundt 1998; Kalverkämper 1998a:4). Dabei ist der für solche Typologisierungen zentrale Begriff des Fachlichen schillernd und auch in der wissenschaftlichen Diskussion auf dem Gebiet lediglich annähernd festgelegt (Kalverkämper 1998a:1). Betrachten wir dieses Problem anhand eines einschlägigen Beispiels für Fachkommunikation, und zwar der Kommunikation über finanzielle Anlagen in der Form der Anlageberatung. Die Frage ist, welche Kommunikationskonstellationen als Fachkommunikation gesehen werden. Dabei ist die Kommunikation von angestellten Investitionsberatern in einer Bank in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit mit Sicherheit relevant, sowohl wenn ein Bankangestellter mit anderen Bankangestellten über den Bereich des Investierens im institutionellen Rahmen kommuniziert (fachintern), als auch wenn ein Bankangestellter als Berater mit Kunden über ihre Investitionspläne diskutiert (fachextern). Über diese prototypischen Situationen hinaus könnten auch weitere Situationen relevant sein, etwa (1) wenn im informellen Gespräch in der Mittagspause in der Bank ein dort angestellter Berater mit anderen Beratern über Investitionsberatung kommuniziert;
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(2) wenn im privaten Tischgespräch bei einer Geburtstagsfeier ein Berater um Rat in Investitionsfragen gebeten wird oder (3) wenn der sehr erfahrene, aber weder formal ausgebildete noch beruflich einschlägig angestellte Amateur im Investitionsbereich mit anderen Amateuren oder mit Freunden über Investitionsberatung kommuniziert. Wie unten zu sehen sein wird, werden traditionell entweder soziologisch-funktionale oder wissensorientierte Kriterien eingesetzt, wenn versucht wird, die Grenzen der fachlichen Kommunikation aufzuzeichnen. Wenn der soziologische Aspekt des (beruflichen) Experten als Hauptkriterium gewählt wird, so scheidet auf jeden Fall die unter (3) genannte Situation aus, wogegen die erste Situation typischerweise wegen des institutionellen Rahmens als fachlich gesehen wird. Die unter (2) genannte Situation stellt einen Grenzfall dar, würde aber tendenziell nicht als fachlich gesehen werden, da der institutionelle Rahmen fehlt. Unter diesem Hauptkriterium sind Fachtextsorten zentral als Kategorien zur Beschreibung der sozial-funktionalen Regelmäßigkeiten.1 Steht dagegen der Aspekt des Wissens im Mittelpunkt, sind alle drei Situationen fachlich, wenn auch in unterschiedlichem Grade.2 Zwar handelt es sich in zwei Fällen (2 und 3) um ein Handeln außerhalb der Institution der Investitionsberatung, aber in allen Fällen wird mit Bezug auf ein Expertenwissen auf Seiten des Senders kommuniziert. Mit anderen Worten findet in allen Fällen ein Wissenstransfer statt. Unter diesem Hauptkriterium ist im Blick auf Fachtextsorten insbesondere interessant, wie sich die Wahl von textuellen Mustern in Abhängigkeit des Wissensgrads bei den Kommunikationsteilnehmern unterscheidet. Die Erforschung von Fachtextsorten steht also immer grundsätzlich vor der Herausforderung, zuerst den Rahmen seines Untersuchungsgegenstandes abstecken zu müssen, wohlwissend dass dieses Rahmenabstecken gleichzeitig Bedeutung für die Konstituierung des Gegenstandes hat. Im Folgenden wollen wir uns zuerst in Abschnitt 2 die Entwicklung der deutschsprachigen Fachkommunikationsforschung und die Rolle des Begriffs der Fachtextsorten in diesem Zusammenhang anschauen. In Abschnitt 3 werden dann unterschiedliche Aspekte des Begriffs der Fachtextsorte erläutert. Auch hier liegt das Hauptaugenmerk auf den deutschsprachigen Ansätzen, aber mit einem kurzen Blick auf den sehr einflussreichen Ansatz der Genre Analysis von Bhatia und Swales. Die Konzentration auf die deutschsprachige Forschung hängt damit zusammen, dass die theoretische Verbindung von ————— 1 2
Kalverkämper (1998b:34) spricht aus dieser Sicht von Fachsprachen, zu denen die Textsorten gehören, als funktionalen Soziolekten oder sozial gebundenen Funktiolekten. Zum Begriff der abgestuften Fachlichkeit, siehe Kalverkämper (1990).
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Fachtextsorten und Fachkommunikation fast ausschließlich in diesem Zusammenhang diskutiert worden ist. In Abschnitt 4 werden dann einige der grundlegenden Kritikpunkte gegen den bisherigen Stellenwert von Fachtextsorten als Beschreibungsinstrumente in der Fachkommunikationsbeschreibung und einige aktuelle Entwicklungstendenzen vorgestellt. 2. Wissenschaftshistorische Hintergründe Als zentraler Kristallisationspunkt früherer Forschung und Ausgangspunkt für die Entwicklung der modernen deutschsprachigen Fachkommunikationsforschung soll die zentrale Definition von Hoffmann zur Fachsprache hier angeführt werden: Fachsprache – das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten (Hoffmann 1985:53).
Der Fokus liegt hier auf dem Aspekt der Sprache in fachlichen Kommunikationszusammenhängen. Die grundlegende Annahme ist die, dass die fachlichen Bedingungen zur Herausbildung einer besonderen Subsprache oder Varietät führen, die sich von den Ausdrucksweisen in anderen, alltäglicheren Zusammenhängen unterscheidet und die gemeinsam ein eigenes sprachliches Subsystem bildet. Diese Subsprachen werden horizontal eingeteilt nach dem Fach, innerhalb dessen sie verwendet werden. Dadurch entstehen Subsprachen wie Physik, Philosophie, Medizin oder Chemie (Hoffmann 1985:51). Die fachlich-inhaltlich definierten Subsprachen werden weiter jeweils nach Abstraktionsstufe, Natürlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, Milieu (Wissenschaft vs. Konsumtion) und Grad an Expertise bei den Kommunikationsteilnehmern vertikal eingeteilt, woraus wiederum fünf mögliche Schichtungen hervorgehen. Verkürzt kann man sagen, dass die horizontale Schichtung nach inhaltlichen Kriterien, die vertikale Schichtung nach Grad an Spezialisierung erfolgt. Daraus ist eine Dominanz des soziologischen Aspekts bei der Typologisierung fachlicher Kommunikation ersichtlich: Es wird angenommen, dass die sprachlichen Mittel je nach Thema und Grad unterschiedlich ausgewählt werden. Es handelt sich dabei primär um Merkmale, die Bedeutung für die Bestimmung der Gruppe von Menschen haben, die in dem jeweiligen Kommunikationsbereich tätig sind. Spezifische Funktionen werden dann aus der Beobachtung dieser unterschiedlichen Kommunikationsbereiche erschlossen. Textsorten als spezifische Muster spielen bei dem Ansatz nur eine untergeordnete Rolle. Hoffmann erwähnt sie als letzten Punkt seiner
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Darstellung spezifischer Merkmale von Fachsprachen, widmet dem Begriff jedoch lediglich drei Seiten (Hoffmann 1985:240–242). Sie scheinen für ihn primär eine Rolle als alternatives Sammelbecken für die Ergebnisse einer kumulativen Analyse von Fachtexten zu spielen. Eine vergleichbare, wenn auch geringfügig zentralere Rolle spielen Textsorten in der Arbeit von Baumann (1992). Er bezieht sich in den grundlegenden Überlegungen seines Buches darauf, dass Fachtexte und damit Fachkommunikation eine zentrale Rolle in der Erforschung kommunikativer Tätigkeit im Fach erhalten haben (Baumann 1992:3). Daraus erwächst auch eine zentrale Rolle für die Perspektive der Textsorten als „Gruppen [von Texten] […], die über eine Anzahl von außerund innersprachlichen Gemeinsamkeiten verfügen bzw. in ähnlichen Konstellationen von Kommunikationspartnern vorkommen“ (Baumann 1992:13). Fachtextsorten fungieren somit hier wiederum als Sammelbecken für die Ergebnisse aus den durchgeführten Untersuchungen auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachbeschreibung (Semantik, Stilistik, Makrostrukturierung, sprachliche Handlungen, Fachdenken, Soziolinguistik). Das Hauptgewicht liegt aber auf den Untersuchungsebenen und ihrer integrativen Beschreibung, nicht auf den Textsorten an sich. Und die Textsorten werden eher als Klassifikationsgrößen und weniger als Kommunikationsmuster behandelt. Mit der von Baumann notierten Hinwendung zum Fachtext als zentraler Betrachtungsgröße geht in der Folgezeit auch eine Änderung des zentralen Forschungsgegenstandes einher, von der Fachsprache zur Fachkommunikation. Als Beispiel dieser Fokusverschiebung soll die folgende Definition angeführt werden: Fachkommunikation läßt sich somit zusammenfassend charakterisieren als institutionell-berufliche, verbindliche Kommunikation einer Fachperson im Rahmen des übergeordneten Handlungsinteresses einer Institution (Kvam 1998:31).
Zentral ist somit jetzt das Handeln mit Sprache, weniger die Sprache und ihre Ausprägung an sich. Auch nach dieser Verschiebung interessiert man sich weiterhin für das Zusammenwirken von pragmatischen Bedingungen und sprachlichen Formen. Es hat sich lediglich ein Perspektivwechsel vollzogen. Aber dieser Wechsel hat insofern Bedeutung für die Typologisierung der Kommunikation, als mit der Verschiebung der Perspektive ein anderer Typ der Kommunikationstypologie relevant wird. Jetzt sind nicht mehr lediglich die genannten Subsprachen als Großgruppen fachlich-kommunikativer Tätigkeit relevant. Vielmehr stehen jetzt die Textsorten mit ihrem direkten Bezug zu Kommunikationstypen im Mittelpunkt. Der Perspektivenwechsel induziert also einen Wechsel der Typologisierungsebene.
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Ein frühes Beispiel für die Konsequenzen dieser Verschiebung sehen wir bei Weber (1989). Sein Ansatz nimmt seinen Ausgangspunkt nicht in der Subsprache, sondern in den fachlichen Kommunikationszielen und den Sprachhandlungstypen, die zur Erreichung fachlicher Kommunikationsziele eingesetzt werden (Weber 1989:13–14). Zentrale Typologisierungsgröße ist somit der Sprachhandlungstyp. Von hier ist es nur ein kurzer Sprung, die Textsorte als zweite Größe einzubeziehen. Denn Weber geht davon aus, dass es sich bei Textsorten um Muster handelt, die aus spezifischen Anforderungskonstellationen hervorgehen, die zu bestimmten fachspezifischen Kombinationen von Kommunikationszielen gehören (Weber 1989:29–31). Wir werden unten näher auf die Idee eingehen, Textsorten hätten Mustercharakter. Diese Idee der Textsorte als Muster eher denn als klassifikatorische Sammelstelle für Merkmale ist generell nicht nur in der deutschsprachigen Fachkommunikationsforschung besonders der 1990er Jahre aufgegriffen worden.3 Als zentrale Publikation für diesen Entwicklungsstrang kann der Sammelband von Kalverkämper und Baumann (1996) angeführt werden. Wir werden unten auf einige konkrete Beispiele eingehen. Mit der neueren Entwicklung der Fachkommunikationsforschung ist eine dritte Perspektive zu den beiden vorhandenen gekommen, und zwar die des Wissens bzw. der Kognition. Roelcke (1999:26) spricht dabei von der Dominanz eines kognitionslinguistischen Funktionsmodells.4 Hier stehen nicht mehr die Handlungen der Parteien in und mit ihren Texten, sondern die gedanklichen Strukturen der Teilnehmer und ihre Reflektion in den sprachlichen und textuellen Strukturen im Mittelpunkt des Interesses. Mehr als fachspezifische kognitive Operationen spielen dabei Besonderheiten bei der Strukturierung von Wissen im Fach und beim Aufbau solcher Strukturen im Rahmen des Erwerbs fachlicher Qualifikationen eine Rolle für die Untersuchungen. Es wird unterschieden zwischen Fachinhaltswissen und Fachkommunikationswissen, eine Aufteilung, die einen besonderen Platz für die Erfassung des kognitiven Charakters der sprachlichen Muster lässt, denen in der Fachkommunikation gefolgt wird (z. B. Kalverkämper 1998a:14). Und die Rolle fachkommunikativer sprachlicher Mittel (und des Wissens um ihre konventionelle Verwendung) bei der Erschließung und Vermittlung fachspezifischer Konzepte kommt in den Mittelpunkt des Interesses (Schmidt 2001:88, 93). Diese Aufteilung des Wissens ermöglicht somit einen Anschluss an die Erkenntnisse aus der handlungs————— 3 4
Siehe z. B. Berkenkotter & Huckin (1995); Bhatia (1993) und Swales (1990). Die beiden anderen Perspektiven bauen nach seiner Auffassung auf einem systemlinguistischen Inventarmodell bzw. einem pragmalinguistischen Funktionsmodell (Roelcke 1999:17, 21) auf.
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orientierten Beschreibung von Fachkommunikation. Der Anknüpfungspunkt ist die Auffassung von Fachtextsorten als Muster und als Schnittstelle zwischen Handeln, Sprechen und Denken.5 Diese dritte Perspektive induziert somit einen dritten Entwicklungsschritt der Fachkommunikationsforschung, der auch Bedeutung für die Kommunikationstypologie hat. Durch die Ausrichtung des Augenmerks auf das Wissen, über das Fachleute verfügen, gerät der potentielle Unterschied zwischen erfahrungsbasiertem Regelmäßigkeitswissen und faktischer Realisierung von Texten in konkreten Kommunikationskonstellationen ins Visier. Die Musterhaftigkeit wird somit wesentlicher. Darüber hinaus bedeutet der Fokus auf Wissen der Fachleute, dass Interesse für die aktuelle Strukturierung des Wissens entsteht. Dabei löst sich z. T. die soziologisch orientierte Sichtweise auf, die den Kommunikationstyp als den übergeordneten Rahmen annimmt (z. B. ‚Gerichtsurteil‘ gekoppelt an ‚Gerichtsverfahren‘ oder ‚wissenschaftlicher Artikel‘ gekoppelt an ‚Situation der öffentlichen Wissensgenerierung und Dokumentation von gewonnenem Wissen‘). Stattdessen wird es eher möglich, generellere Muster der Schriftlichkeit, des öffentlichen Schreibens, des Argumentierens, etc. zu isolieren und in ihrem spezifischen Zusammenwirken zu beschreiben, obwohl natürlich immer auch besondere Muster möglich und häufig sind, u. a. in der Form von besonderen Formulierungsmustern (Sandig 1997). Mit dieser dreifachen Bestimmung des Gegenstandes einer Fachkommunikationsforschung haben wir gleichzeitig auch die Entwicklung der Rolle des Begriffs der Textsorte in der Fachkommunikationsforschung beschrieben. Damit ist der Untersuchungsgegenstand recht gut abgedeckt, und wir können uns im Folgenden Details des Begriffs der Textsorte im Rahmen der Fachkommunikationsforschung anschauen. 3. Begriffshintergründe und Fokuspunkte Auf dem Gebiet der Fachtextsortenforschung gibt es eine Reihe von unterschiedlichen Traditionen, die zu unterschiedlichen Schwerpunkten führen. Die Erforschung von Kommunikationstypen auf dem Gebiet der Fach- und Wissenskommunikation hat im angelsächsischen Bereich z. T. einen anderen Weg genommen als im deutschsprachigen Kontext, obwohl der praktische Motor für die Entwicklung der Forschung ein ähnlicher war. Hoffmann (1985) führt an, dass Fachsprachenforschung ————— 5
Für eine gründliche Erörterung des Konzepts des Fachs und der Fachsprache aus kognitiver Perspektive, jedoch ohne besondere Berücksichtigung von Textsorten, siehe Schmatzer (1995).
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im Endeffekt zum Ziel hat, Ergebnisse für einen effizienten Unterricht in Fachfremdsprachen zu liefern. Ein didaktischer Zweck steckt auch hinter der Entwicklung der angelsächsischen Genre Analysis insbesondere auf dem Gebiet der Unternehmenskommunikation, sowie der akademischen, rechtlichen und technischen Kommunikation (z. B. Bhatia 1993; Swales 1990). Dabei liegt das Hauptgewicht auf dem Textproduktionsunterricht. Die Konsequenzen, die aus dem Ausgangspunkt gezogen wurden, waren aber unterschiedliche: Die Genre Analysis konzentrierte sich auf die Ermittlung von einzelnen Mustern von Fachtextsorten, die besondere Relevanz für Weiterbildungskurse im Beruf oder für fremdsprachliche Begleitkurse zur beruflichen Ausbildung hatten, und hat sich dafür kaum für den Aspekt der Typologisierung von Fachtextsorten interessiert.6 In der deutschen Tradition gibt es stattdessen neben den auf Ermittlung von Einzelmustern ausgerichteten Arbeiten, die wie oben gesehen tendenziell erst in einem zweiten Entwicklungsschritt verfolgt wurden, eine starke Strömung an Arbeiten, in denen der Aspekt der Typologisierung und die Aufstellung von Typologien als zentral aufgefasst werden. Adamzik (1995a:31) spricht dabei von einem Unterschied zwischen einem „Interesse an der Einzelsprachbeschreibung“ gegenüber einem „Interesse an (universeller) Klassifikation von Texten“. Sie sieht hier zwei unterschiedliche Arten der Erforschung von Textsorten, und zwar Textsortenforschung bzw. Texttypologie (Adamzik 1995a:30). Als erstes Beispiel einer vorwiegend texttypologisch ausgerichteten Arbeit auf dem Gebiet der Fachkommunikationsforschung soll die Arbeit von Gläser (1990) angeführt werden. Diese Arbeit baut auf Analysen von etwa 30 Fachtextsorten des Englischen aus dem akademischen Bereich im weitesten Sinne (fachinterne wie didaktisierende, popularisierende und verhaltenssteuernde Texte) auf, durchgeführt von der Verfasserin und ihren Mitarbeitern. Der Beschreibung der einzelnen Textsorten ist eine Typologie vorangestellt, die als Rahmen und Kriterien-Geber der Beschreibung der jeweiligen Textsorten fungiert (Gläser 1990:50–51). Das abschließende Kapitel des Buches greift wiederum die Typologisierungsfrage auf und erörtert, inwiefern die verwendeten Analysekriterien tatsächlich für eine Aufteilung der untersuchten Textsorten relevant sind (Gläser 1990:298–303). Ein anderes Beispiel einer Arbeit, die Wert auf die Aufstellung eines Textsortensystems legt, stellt Frilling (1995) dar. Sie untersucht und typologisiert die Textsorten, die in der „Neuen Juristischen Wochenschrift“, verstanden als Textkosmos, auftreten. Sie cha————— 6
Jedoch spricht Bhatia (2004:57) von genre sets, systems of genre und genre colonies und geht damit jedenfalls auf den Aspekt der Verwandtheit unterschiedlicher Fachtextsorten ein, ohne jedoch eine eigentliche stringente Typologie aufstellen zu wollen.
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rakterisiert so die Fachzeitschrift auf der Grundlage der unterschiedlichen Arten von (pragmatisch-textextern definierten) Textsorten, die hier vorkommen. Demgegenüber beschäftigt sich z. B. Swales (1990) als Beispiel der angelsächsischen Genre Analysis zwar mit mehreren Textsorten aus dem akademischen und wissenschaftlichen Bereich (vgl. Aplevich, in diesem Band). Nach einem Versuch der Aufstellung einer Typologie der behandelten Textsorten sucht man aber vergeblich. Es dominiert der Wunsch, Einzeltextsortenuntersuchungen mit Relevanz für den fachlichen Sprachunterricht durchzuführen. In den Worten von Adamzik geht es darum, Textsortenforschung und nicht Texttypologie zu betreiben. Ein weiterer Unterschied zwischen der deutschen und der angelsächsischen Tradition besteht darin, dass die deutschen Arbeiten in höherem Maße eine interkulturelle Orientierung haben (vgl. Zhao, in diesem Band). Dies war besonders ausgeprägt in den 1990er Jahren (z. B. Baumann & Kalverkämper 1992; Peotta 1998; Sachtleber 1993; Trumpp 1998) und spiegelt die oben genannte Tatsache wider, dass Textsorten am ehesten als Instrument für den Textproduktionsunterricht, darunter die Ausbildung von Fachübersetzern, gesehen wurden. Eine Arbeit, die diese beiden Aspekte der deutschen Tradition (Typologisierung und interkultureller Vergleich) vereint, ist Göpferich (1995a). Für den Bereich der Naturwissenschaften und der Technik stellt sie zuerst auf der Grundlage von Kriterien, die in einschlägigen Vorgängerarbeiten verwendet und diskutiert worden sind, deduktiv ein Typologisierungsraster auf, nach dem die Textsorten nach drei Kriterienclustern in Großgruppen eingeteilt werden können (Göpferich 1995a:124). Aus dem Gebiet der Kraftfahrzeugtechnik ist ein Korpus von Texten aus etwa zehn Textsorten zusammengestellt worden, und diese Textsorten werden zuerst nach textexternen Kriterien analysiert, so dass belegt wird, dass jede Textsorte eine eigene Kombination von textexternen Merkmalen aufweist. Dahinter liegt wiederum die Annahme, dass Fachtextsorten pragmatische Kategorien sind, deren pragmatische (= textexterne) Merkmale sich in einer spezifischen Auswahl und Kombination textinterner Merkmale niederschlagen (Göpferich 1995a:60, 189). Deshalb erfolgt nach der Charakterisierung der untersuchten Textsorten aus textexterner Perspektive eine Analyse ausgewählter textinterner Merkmale, so genannter Textsortenkonventionen. Es handelt sich dabei um solche, von denen angenommen wird, dass sie einen Zusammenhang mit den textexternen Kriterien haben könnten (in casu Makrostruktur, Sprechakttypen, Personen-Einbezug, metakommunikative Elemente, sowie syntaktische Besonderheiten wie Passiv, Nominalisierung und Komplexität). Die Analyse zeigt, dass die textextern charakterisierten Fachtextsorten, die hier untersucht werden, tatsächlich auch durch eine be-
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sondere Kombination textinterner Merkmale gekennzeichnet sind. Somit werden sozusagen die anhand von Intuition und Ableitung aus theoretischen Grundlagen und textexternen Merkmalen ermittelten Fachtextsorten durch die textinternen Analysen bestätigt. Dabei ist aber diese Arbeit auch in der Hinsicht ein prototypischer Vertreter für die deutsche Tradition, dass die Herangehensweise eindeutig vom Textexternen zum Textinternen geht.7 Hier ist wahrscheinlich die Wurzel der Fachkommunikationsforschung in der Soziologie sichtbar, denn die Einteilung der Fachkommunikation nach fachlich-soziologischen Kriterien wird sozusagen als gegeben vorausgesetzt.8 Es liegt im Bereich der interkulturellen Untersuchung von Fachtextsorten viel Gewicht auf der Ermittlung von kulturbedingten formalen Unterschieden bei der Realisierung von ähnlichen oder (angenommen) identischen Funktionen in unterschiedlichen Kulturen. Dies ist schon in der vorgestellten Arbeit von Göpferich ersichtlich, die deduktiv ein Raster von Textsorten aufstellt, in dem sowohl deutsche als auch englische Textsorten hineinpassen, wonach interkulturelle Unterschiede auf dem textinternen Gebiet ermittelt werden. Als weiteres Beispiel kann hier Engberg (1997) angeführt werden. Die Arbeit untersucht die sprachliche Signalisierung von Sprachhandlungstypen in deutschen und dänischen Landgerichtsurteilen. Dabei werden die Sprachhandlungstypen auch deshalb als Vergleichsgrundlage gewählt, weil die konventionalisierten Makrostrukturen in den beiden Kulturen unterschiedlich, die Sprachhandlungstypen als Typen von Bestandteilen dieser Makrostrukturen dagegen stärker vergleichbar sind. Es wird also das Gemeinsame gesucht und das Unterschiedliche heruntergespielt. Diese Herangehensweise ist zweckrational aus der Sicht der direkten Verwendbarkeit im genannten Unterricht, denn sie erlaubt es, die Ergebnisse recht direkt beim Übersetzen einzusetzen. Diese Ausgangsposition führt dann auch z. B. bei Göpferich (1995b) zur Aufstellung von computerbasierten Nachschlagewerken, in denen die Entsprechungen von textsortenorientierten Mitteln aus unterschiedlichen Kulturen verzeichnet sind. Die oben referierte Arbeit von Engberg (1997) ist ein Beispiel für eine Arbeit aus der deutschen Tradition, die aber kein dominierendes Typologie-Interesse hat, sondern sich auf die Beschreibung einer einzelnen Textsorte konzentriert.9 In diesem Zusammenhang erhält die ————— 7 8 9
Siehe z. B. auch Busse (2000). Ähnliches gilt auch für die angelsächsische Tradition nach Swales und Bhatia. Stärker orientiert nach induktiven Herangehensweisen und Korpusanalysen, aber immer noch mit interkulturellem Ausgangspunkt arbeitet z. B. Neumann (2003). Zu einem gelungenen Versuch einer übergeordneten und konsistenten Typologie juristischer Textsorten, siehe Busse (2000).
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Ermittlung von Textmustern als kommunikative Routinen (Adamzik 1995a:28; Feilke 2003; Sandig 1997) eine zentrale Rolle. Methodisch wird in dieser Arbeit so vorgegangen, dass in einem Korpus von 30 deutschen und 26 dänischen Landgerichtsurteilen die Variationsbreite der Realisierungen von fachlich relevanten Sprachhandlungsmustern und ihren Bestandteilen untersucht wird. Konkret wird auf der Grundlage einer Analyse des Handlungskontexts eine Einteilung der Landgerichtsurteile in vier übergeordneten Teiltexten vorgenommen, die funktional unterschiedlich sind (Engberg 1997:96–101): x Ein Teiltext, in dem der institutionelle Rahmen gesetzt wird (deutsch: Rubrum); x Ein Teiltext, in dem die Streitfrage entschieden wird (deutsch: Tenor); x Ein Teiltext, in dem der Fall und die Streitfrage beschrieben wird (deutsch: Tatbestand); x Ein Teiltext, in dem die Gründe der Entscheidung vorgestellt werden (deutsch: Entscheidungsgründe). Diese Einteilung ist relevant für die Beschreibung von sowohl deutschen als auch dänischen Urteilen, wenn auch die Reihenfolge der Teiltexte unterschiedlich ist. Innerhalb jeden Teiltextes werden charakteristische Sprachhandlungstypen gefunden und die Variationsbreite ihrer sprachlichen Realisierung manuell ermittelt. Auf dieser Grundlage ist es möglich empirisch zu belegen, welche Realisierungsmuster vorhanden sind, wie umfassend die Muster sind (= wieviele Elemente der Realisierung des Sprachhandlungstyps konventionalisiert sind), und wie hoch der Konventionalisierungs- oder Kodierungsgrad bei den einzelnen sprachlichen Elementen ist (Engberg 1997:268–69). Als Beispiel wird in der Arbeit ermittelt, wie in den beiden untersuchten Textsorten das Element des Beurteilenden in Verbindung mit Beurteilungen im begründenden Teiltext ausgedrückt wird, wie viele Formulierungsmöglichkeiten im Korpus vorkommen, und inwiefern die Musterhaftigkeit der Formulierungsmöglichkeit und damit der Stellenwert der jeweiligen Formulierungen ähnlich sind. Im Konkreten stellt sich heraus, dass zum Ausdruck dieses Elements im Dänischen eine starke Konventionalisierung eines Verbs in passivischer Form erfolgt ist (findes), wogegen es keine ähnliche Konventionalisierung im Deutschen gibt, obwohl das Element ausgedrückt werden kann. Eine Explizitierung erfolgt aber weniger häufig als im Dänischen.10 Verglichen mit der oben angeführten Arbeit von Göpferich liegt hier mehr Gewicht auf der Ermittlung ————— 10 Siehe dazu auch Engberg (2001:80ff.), wo auch die zugrunde liegende Textmusterkonzeption erklärt wird.
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der Muster, und damit ist auch eine größere Nähe zum faktischen Wissen von Sprachbenutzern auf dem jeweiligen Gebiet ersichtlich. 4. Erörterung, kritische Würdigung, weiterführende Überlegungen Fachtextsorten sowohl in ihrer Eigenschaft als Bestandteile von Typologien als auch in ihrer Eigenschaft als konventionalisierte Muster sprachlicher Tätigkeit spielen nach wie vor eine herausragende Rolle als Rahmen für die Beschreibung fachlicher Kommunikation. Und besonders für die didaktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Fachkommunikation ist ihre dominante Stellung ungebrochen. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Textsortenbegriff unmittelbar eingängig und für Lerner der Sprache eines neuen Fachgebiets einleuchtend ist. Der Erfolg fußt u. a. darauf, dass hinter dem Konzept der Fachtextsorten die wahre, aber doch etwas vage grundlegende Annahme liegt, dass es einen konventionalisierten Zusammenhang zwischen wiederkehrenden Elementen einer Situation und den sprachlichen Mitteln gibt, die in dieser Situation eingesetzt werden. Die Vagheit des Begriffs ist daraus ersichtlich, dass man normalerweise keine genaueren theoretisch fundierten Angaben dazu findet, aus welchen Elementen eine Situation besteht, was genau als deren relevante Faktoren angesehen werden kann, wie die Relation zwischen Situationselementen und sprachlichen Mitteln theoretisch aussieht, warum sie eigentlich entsteht, etc. Hieraus können zwei Hauptrichtungen der gegenwärtigen Kritik am Konzept der Fachtextsorten erschlossen werden: x die Konzentration auf Typen, Muster und ihre Regelmäßigkeit führt zu einer zu starren Auffassung davon, woraus eine fachliche kommunikative Tätigkeit besteht und was für eine Fachtextsortenbeschreibung relevant ist; x die Relation zwischen situationellen und sprachlichen Faktoren ist im Fachtextsortenbegriff zu unspezifisch. Im Folgenden möchte ich zum Ausklang des Beitrags kurz auf diese Kritikpunkte eingehen. 4.1 Zu starres Korsett Diese Kritik hängt insbesondere mit der Tatsache zusammen, dass die musterorientierte Fachtextsortenforschung besonders auf die Ermittlung von standardisierten Mustern nach einem einheitlichen Beschreibungssystem ausgerichtet gewesen ist, wie wir oben anhand der Arbeiten von Engberg (1997) und Göpferich (1995b) gesehen haben. Diese Ausrich-
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tung führt zu einer starken Betonung von Ähnlichkeiten zwischen Texten und Textsorten, auch im interkulturellen Vergleich, und dafür zu einer fehlenden Aufmerksamkeit auf individuelle oder kulturelle Besonderheiten bestimmter Textsorten oder auf weniger standardisierte Textsorten (Adamzik 2001:21–22). Ein Beispiel einer alternativen Herangehensweise ist die Untersuchung von Adamzik (1995b), in der sie französische und deutsche Fachwörterbücher der Linguistik vergleicht. Die Textsorte wird anhand von Funktion (Zugänglichmachung von andernorts erarbeitetem Wissen), Thematik (grundlegendes Wissen innerhalb eines bestimmten Fachgebietes) und Makrostruktur (eine große Menge hierarchisch gleichgeordneter Teiltexte) (Adamzik 1995b:1) festgelegt. Auf der Grundlage eines Vergleichs von Makrostruktur, Intertextualität und formaler Gestaltung bei einschlägigen deutschen und französischen Fachwörterbüchern kommt sie zu dem Schluss, dass „die französischen Lexika […] ‚normalen‘ Texten ähnlicher als die deutschen [sind] und […] von dem Bemühen, eine kohärente und kohäsive, in sich abgeschlossene und lesbare Darstellung zu liefern [zeugen]“ (Adamzik 1995b:4). Dadurch, dass also das Augenmerk nicht auf Ähnlichkeiten oder auf situationalen Merkmalen als tertium comparationis liegt, sondern die Eigenheiten der untersuchten Textsorten und ihre Spezifika im Mittelpunkt stehen, kann Interessanteres über die beiden Textsorten gesagt werden. Darüber hinaus führt die Konzentration auf die interkulturell einheitlichen Teile der Muster zu einer zu engen Sicht darauf, woraus die Fachkommunikation als Tätigkeit besteht. Es wird zu viel Wert auf das Erlernen von Musterelementen gelegt, was nur bei vereinzelten Textsorten hohen Standardisierungsgrades tatsächlich eine relevante Strategie ist. Bei den allermeisten fachkommunikativen Tätigkeiten spielt neben dem Wissen um standardisierte Elemente auch die Fähigkeit eine große Rolle, in der aktuellen Situation kreativ und angemessen agieren zu können. In diesem Zusammenhang bietet sich der Begriff der Sprachkultur nach Janich (2004) als Erweiterung der Methodenpalette an. Engberg und Janich (2007) zeigen, welche zusätzlichen Kompetenzen (z. B. Kontextualisierungskompetenz und metakommunikative Kompetenz) ins Visier geraten können, wenn man den engeren Textsorten- und Textmusterbegriff durch diesen Ansatz erweitert. Und schließlich kann die Konzentration auf das situational-funktional gebundene Textmuster zu einer zu engen Sicht auf die relevanten Kommunikationsroutinen führen (Feilke 2003). Diese Konzentration versperrt potentiell den Blick auf übergreifende Regelmäßigkeiten. Z. B. liegt es im Rahmen einer fachtextsortenorientierten Herangehensweise nicht auf der Hand, textsortenübergreifende Ähnlichkeiten von zivilrechtlichen Klagen, Scheidungsanträgen und strafrechtlichen Anklage-
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schriften zu untersuchen, zumal sie aus unterschiedlichen Situationsund Funktionskonstellationen entstanden sind (Engberg 2003:67–69). Die textsortenorientierte Sichtweise kann auch den Blick auf interdiskursive Relationen zwischen Texten versperren, d. h. auf Relationen zwischen der Kommunikation in unterschiedlichen Diskurstypen (Candlin 2006). So kann die kommunikative Aktivität des Entscheidens in unterschiedlichen Diskurstypen auftreten, und wenn die Aktivität an unterschiedlicher Stelle durch dieselbe Person ausgeführt wird (wie z. B. wenn Juristen sowohl in Gerichtsverhandlungen als auch in Formen der alternativen Streitbeilegung tätig sind), tendieren die Akteure dazu, ähnliche Textualisierungsformen in unterschiedlichen Kontexten zu verwenden. Solche interdiskursiven Relationen werden eher sichtbar, wenn die Textsorte nicht als privilegierter Ort kommunikativer Routinen aufgefasst wird, sondern die Routinen an sich als das zentrale Merkmal gesehen wird (Feilke 1994; Janich 2004:121–122). 4.2 Unspezifische Relation zwischen Situation und Sprache Der Kern dieser Kritik liegt in der Beobachtung, dass die Fachtextsortenbeschreibung der frühen pragmatischen Wende verhaftet ist, insofern sie einen Zusammenhang zwischen Situation/Funktion und Sprache annehmen, ohne diese Relation genauer auszuführen (z. B. Roelcke 1999:25). Mindestens zwei Konsequenzen aus dieser Kritik werden in der aktuellen Debatte diskutiert. Der eine Weg besteht darin, als Bindeglied zwischen Situation/Funktion (= individuenexterne Faktoren) und sprachlichen Text (= individueninterne Faktoren) die kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu setzen (z. B. Roelcke 1995). Die Kognition wird dann zur Erklärungsgrundlage für den Zusammenhang gemacht, entweder durch Beschreibung der Rolle bestimmter kognitiver Mechanismen für die Verbindung (z. B. Engberg 2009) oder durch Beschreibung der unterschiedlichen Wissensstrukturen oder Wissensrahmen bei Fachleuten und Nicht-Fachleuten (z. B. Engberg 2007; Felder 2003; Jakob 1991; Wichter 1994). Der zweite Ausweg besteht darin, die beiden zentralen Aspekte der Textsorte (Situation/Funktion und sprachliche Mittel) in einen größeren, soziologisch orientierten theoretischen Rahmen einzubauen und hierdurch die einzelnen Relationen durch einen stärkeren theoretischen Überbau herauszuarbeiten. Ein Beispiel für diesen Lösungsansatz ist die Herangehensweise der Funktionalen Pragmatik von Ehlich und Rehbein (vgl. Ehlich, in diesem Band), in der seit Mitte der 1970er Jahre mit größeren theoretischen Einheiten gearbeitet wird: Handlungsmuster (die ganze Handlungssituationen umfassen und nicht auf sprachliche Elemente beschränkt sind, wie die Textsortenmuster), Prozeduren, Aktanten etc. In diesem Ansatz kommen alle Elemente vor,
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die durch den Fachtextsortenbegriff aufgefangen werden, sie gehören aber z. T. zu unterschiedlichen Teilen einer umfassenden Theorie. Aus Platzgründen soll hier auf eine genauere Darlegung dieses Ansatzes verzichtet werden, aber es kann auf Rehbein (1998) verwiesen werden, wo grundlegende Merkmale der interdisziplinären Kommunikation in den Termini der Funktionalen Pragmatik erörtert und dargelegt werden. Trotz der hier dargelegten Kritikpunkte ist die zentrale Rolle der Textsorte für die Erforschung fachlicher Kommunikation weiterhin ungebrochen. Der Begriff bedarf zwar einiger Justierungen, Verfeinerungen und Vertiefungen. Diese werden aber auf der Grundlage der gegenwärtigen Diskussion mit Sicherheit möglich sein.
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Organisationale Kommunikationstypen Christine Domke (Chemnitz) 1. 2.
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3.1 3.2 4. 5.
Einleitung Organisationsforschung und angewandte Sprachwissenschaft Von klassischer Organisationsforschung zur ‚begrenzten Rationalität‘ Organisationstheorie und Sprachwissenschaft: wechselseitige Impulse Bewährte Zugänge und neue Perspektiven Zu Aufgaben, Funktionen und Einteilungen von Kommunikationstypen Organisation, Hierarchie und Macht Neue Rahmenbedingungen für den Prozess des Organisierens Funktionen der Mitarbeiterzeitung Fazit und Ausblick Literaturverzeichnis
1. Einleitung Das Wort Organisation ist ein Substantiv, und es ist außerdem ein Mythos. Wenn sie nach einer Organisation suchen, werden sie sie nicht finden. Was sie finden werden, ist, dass miteinander verbundene Ereignisse vorliegen, die durch Betonwände hindurchsickern. Weick (1985:129)
Ein Zitat wie dieses an den Anfang eines Textes zu stellen, der aus soziopragmatischer (siehe die Einleitung dieses Handbuches) Perspektive über Kommunikationstypen, Kommunikationskonzepte und Kommunikationsanalyse in Organisationen informieren soll, vermag begründungswürdig erscheinen: Weder wird der hier verhandelte Gegenstand, Kommunikation, explizit erwähnt, noch wird der nachfolgend zu umreißende Bereich der Gesellschaft, die Organisation, seriös eingeführt. Dennoch ist diese Formulierung des Organisationsforschers Karl Weick besser als viele (andere) Definitionen geeignet, den Lesenden auf zentrale Merkmale der Organisation hinzuweisen und ihn einzustimmen auf Sichtweisen, die gerade neuere der in diesem Beitrag vorzustellenden Arbeiten prägen – Organisationen sind nicht durch rationale, objektive Faktoren gekennzeichnet und als starre, abgrenzbare Gebilde mit vorgesehenen Arbeitsabläufen erkennbar, sondern vielmehr als Prozesse und Vorgänge zu verstehen, die sich wechselseitig beeinflussen, eigene Logiken hervorbringen und nicht (immer) planbare Verlaufszeiten haben. In den Fokus rückt so statt des Organisierten das Organisieren selbst – und ganz selbstverständlich Kommunikation als Teil der ablau-
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fenden Handlungen, die die Organisation als solche jeden Tag wahrnehmbar machen und zugleich hervorbringen. Das allgemeine Ziel von sprachwissenschaftlich fundierten Untersuchungen zu Organisationen – Weicks mit gängigen Vorstellungen aufräumende Perspektive einnehmend – kann also darin gesehen werden, das Unsichtbare sichtbar zu machen und somit kommunikative Prozesse als Bestandteil des Organisierens herauszuarbeiten und in ihrer Relevanz zu verorten. Welche Fragen sich aus der Analyse von Kommunikation in Organisation ergeben können, sei hier zur einleitenden Vorstellung aktueller Forschungsfragen am Beispiel von Call-Center-Gesprächen skizziert. Mit diesem Gesprächstypus liegt ein Untersuchungsbereich vor, der die Bedeutung von Kommunikation für moderne Arbeitskontexte leicht fassbar macht: Sie ist in vielen Bereichen zur Haupt-Arbeit geworden, zu einer eigenständigen Tätigkeit, und wird sowohl im Berufsalltag als auch aus analytischer Perspektive nicht (mehr) allein als Instrument der Informationsvermittlung angesehen oder als Mittel der Arbeitsmotivation. Dieser Wandel des Stellenwertes von Kommunikation schlägt sich auch in wissenschaftlichen Ansätzen nieder (Abschnitt 2) – in der Angewandten Sprachwissenschaft gerade in den vergangenen 20 Jahren sowie in der Organisationsforschung, in der der klassische Strukturalismus zunehmend zugunsten anderer, auch konstruktivistischer Ansätze überwunden wurde (hierzu Kieser 2001a: Kap. 2.). Damit rückt die Herstellung organisationaler Wirklichkeit durch den Vollzug von (sprachlichen) Handlungen in den Fokus. Call-Center-Gespräche prägen als Serviceangebot von Organisationen deren Außenwirkung maßgeblich und fungieren oftmals als einzige Kontaktstelle für Kunden; als Gegenstand ermöglichen sie verschiedene Untersuchungsschwerpunkte und analytische Zugänge. Das Telefongespräch als Spezialfall von Interaktion ist bereits früh in den Fokus konversationsanalytischer Studien (siehe Abschnitt 2.3) geraten, in denen jedoch weniger nach den medialen Besonderheiten und damit verbundenen, notwendigerweise sprachlichen Kompetenzen des Telefonierenden gefragt wurde, sondern u. a. strukturelle Aspekte und Verfahren zu Gesprächsaufbau und Gesprächsbeendigung herausgearbeitet wurden (hierzu Schegloff 1968; Schegloff & Sacks 1973). An diesem monomodal (weil allein hörbaren) vorliegenden empirischen Datum ließ sich die Generierung von Ordnung im Gespräch durch die Analyse der einzelnen Turns gut nachzeichnen, so dass heutige Arbeiten zur Call-Center-Kommunikation gut an diese grundsätzlich notwendigen turn-by-turn erfolgenden Ordnungsverfahren anknüpfen können. Unterschiede zu ‚normalen‘, telefonischen Gesprächseröffnungen zeigt beispielsweise Bendel (2006) auf und analysiert Call-Center-Gespräche von Schweizer Banken in Bezug auf den Einsatz von EDV-gestützten
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Kundenidentifikationssystemen: Im Zeitalter der zunehmenden Verlagerung von Gesprächen unter Anwesenden zum weniger geschätzten Austausch mit Automaten liegt, so Bendel, eine kundengerechte Lösung darin, den Einsatz der automatisierten Identifikationstechnik mit dem persönlichen Telefongespräch eines „Agenten aus Fleisch und Blut“ (Bendel 2006:135) zu verbinden. Die Analyse dieser Gespräche unter Abwesenden kann zudem erwartbare und konstitutive Ablaufschritte und damit Aufgaben eines bestimmten Kommunikationstyps (wie bei Reklamationsgesprächen) herausarbeiten und dadurch Besonderheiten und problematische Stellen, auch für die Umsetzung in der Berufspraxis, an konkreten empirischen Daten verdeutlichen (siehe Brünner 2000; Bendel 2007; Schnieders 2005). Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus dem spezifischen Kommunikationsstil der einzelnen Call-Center-Agenten, die in Relation zu ihrem Arbeitsstil gesetzt werden können. Durch Zusammenführung arbeitssoziologischer und gesprächsanalytischer Methoden ist diese Verbindung beispielsweise untersucht und damit ein Rahmen entwickelt worden, der die Frage aufwirft, was Schulungen für Call-Center-Agenten eigentlich zu umfassen haben und welche Kompetenzen für einen derartig zeitdruck- und sprachgeprägten Beruf als unverzichtbar gelten können (siehe Haase et al. 2003). Aus dem Stil des Agenten ergibt sich zudem unweigerlich die Frage, wie viel Individualität für Call-CenterGespräche seitens der Organisationen eigentlich vorgesehen ist (hierzu auch Cameron 2000). Die Standardisierung möglicher Gesprächsschritte gerät so in den Fokus und damit auch die Diskrepanz zwischen organisationalen Vorgaben und Vorformulierungen einerseits und der konkreten interaktiven, teilweise emotionalen Gesprächssituation andererseits. Die Trainings für kommunikative Kompetenzen und die grundlegende Frage, ob sich mündliche Abläufe ‚vorplanen‘ und Gesprächsfähigkeiten überhaupt schulen lassen, gewinnen daher an Bedeutung für die angewandte Sprachwissenschaft (hierzu Becker-Mrotzek & Brünner 2004). Eine relevante Erweiterung erfahren bisher herausgearbeitete Erkenntnisse über Sprache und Struktur dieser Gespräche durch die kritische Analyse der Monotonie dieses Berufsfeldes, die nach der Rationalisierung und Routinisierung von Kommunikation fragt und damit den extrem belastenden Arbeitstag der Call-Center-Mitarbeiter in das Zentrum rückt. Mit Rekurs auf soziologische Ansätze wird in diesem Zusammenhang die „Industrialisierung der Kommunikationsarbeit“ diskutiert (Matuschek & Kleemann 2006:96) und die Unvereinbarkeit zwischen der Organisation von Call-Center-Gesprächen als „taylorisierter“ bzw. „mc-donaldisierter“ Fließbandarbeit und Kommunikation als interaktivem Prozess verdeutlicht (Cameron 2000:123).
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Die gerade umrissenen Untersuchungsbereiche zu Call-CenterGesprächen verweisen auf die Bandbreite organisationaler Kommunikation und ihrer Analyse. Um die relevanten analytischen Zugänge zu diesem Feld vorzustellen, erfolgt nachfolgend ein Überblick über klassische Arbeiten und bisherige und aktuelle Forschungsbereiche der Angewandten Sprachwissenschaft. In Abschnitt 3 werden mit ‚Organisation‘ und ‚Macht‘ zwei zentrale Begriffe unter derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen skizziert und in diesem Kontext exemplarisch die Mitarbeiterzeitung als ein schriftlicher organisationaler Kommunikationstyp mit Steuerungsfunktion vorgestellt. Ein kurzes Fazit führt zentrale Entwicklungen zusammen und gibt einen Ausblick, so dass mit diesem Beitrag im Gesamt der ‚kommunikative Haushalt‘ von Organisationen, dem Stand der Forschung entsprechend, vorgestellt sowie mögliche Perspektiven für seine interdisziplinäre Analyse skizziert werden. 2. Organisationsforschung und angewandte Sprachwissenschaft 2.1 Von klassischer Organisationsforschung zur ‚begrenzten Rationalität‘ Eine intensivere Beschäftigung mit Kommunikation in Wirtschaftsunternehmen oder in Verwaltungen führt zu zentralen Etappen in der Erforschung von Betrieben oder Ämtern als gesellschaftlichen Ordnungsgrößen. Diese können mit Luhmann als spezifische, mittlere Ebene der Systembildung (neben Interaktion und Gesellschaft) verstanden werden (Luhmann 1997b:826ff., 2000) und von Institutionen als gesellschaftlich bindenden Einrichtungen bzw. habitualisierten Handlungsmustern (Berger & Luckmann 1998:58ff.) abgegrenzt werden (hierzu Habscheid 2008). Aus Sicht der Linguistik ist dieser – nach anfänglichen Kontaktschwierigkeiten nun zunehmend eingenommene – Blick in die Theorie von Organisationen zunächst mit der Frage verbunden, welche Ansätze und Kommunikationsauffassungen in der Organisationsforschung von Relevanz waren bzw. sind und so gegebenenfalls anschlussfähig sind für eine ‚ganzheitliche‘ Untersuchung organisationaler Kommunikation. Zu den ersten und lange richtungsweisenden Ansätzen zählen die des so genannten Klassischen Strukturalismus (hierzu u. a. Theis 1994), für die das Scientific Management von Frederick Taylor (2004) von besonderer Relevanz war. Taylor entwickelte, korrespondierend mit seiner grundsätzlichen Neigung zu exakten Methoden zum Beispiel beim Waldlauf oder Ballspiel, für Fabrikarbeiten auf der Basis von Experimenten jeweils die optimalen Arbeitsschritte, die die Auswahl von Werkzeug und einzelne Bewegungen umfassten (hierzu Kieser
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2001c:75ff.). Mit diesem neuen Ansatz zur Berechnung und Vereinheitlichung von Arbeitsabläufen wurden einflussreiche Verfahren der Produktivitätssteigerung in die Arbeitsorganisation eingeführt, die gleichzeitig zu viel Kritik u. a. an dem permanenten, gesundheitsschädigenden Druck auf Arbeiter als ‚exakt berechenbaren Ausführenden‘ führten (Kieser 2001c:92ff.). Auch der Bürokratieansatz des Soziologen Max Weber (1980) zählt als erster wissenschaftlicher Ansatz zu den klassischen Organisationstheorien (hierzu Habscheid 2003:70ff.; Kieser 2001b), aus deren Perspektive Organisationen letztlich als hierarchisch strukturierte und strukturierbare Gebilde erscheinen und Kommunikation allein als mechanistisch einsetzbares Instrument der Ablaufsicherung. Dass derartig eindimensionale Perspektiven auf Kommunikation auch heute noch eingenommen werden, stellt Cameron (2000) in ihren Analysen zu Gesprächsvorgaben und Anforderungen in Call-Centern heraus und zieht die Verbindungslinie zwischen Taylors Bemühungen um Produktivitätssteigerung und heutigen Call-Center-Managern, die „may set out to determine exactly what sequence of interactional moves is needed to accomplish a given transaction efficiently“ (Cameron 2000:95). Auch Leidner (1993) hat mit ihrer Studie zur Kommunikation eines Fast Food-Unternehmens aktuelle Formen der Regulierung von Kommunikation vorgestellt und dabei u. a. als negative Folge der Vereinheitlichung betont, dass Kunden es gar nicht schätzten und als Beleidigung und ‚Entmenschlichung‘ empfänden, wenn sie bemerkten, dass ein Mitarbeiter einen vorgegebenen Text aufsage und alle exakt gleich behandelt würden. So kann auch das im US-amerikanischen Sprachraum nach Serviceinteraktionen übliche „have a nice day“ oft als leere, automatische Phrase verstanden werden und als offensichtliche Schönfärberei des Verhältnisses zu den Kunden (Leidner 1993:29). Die Human-Relations-Bewegung seit den 1920er Jahren (hierzu u. a. Kieser 2001d; Theis 1994), als deren Beginn die so genannten Hawthorne-Experimente zur Überprüfung des Einflusses der Arbeitsbeleuchtung auf die Arbeitsleistung gelten, wird oftmals als erster Gegenentwurf zu den klassischen Ansätzen verstanden; es wird hervorgehoben, dass nun die Relevanz von informeller Kommunikation und Motivation gesehen wurde. Eine Relativierung erfährt diese positive Anerkennung der Human-Relations-Bewegung durch den Hinweis darauf, dass damit allein ein veränderter Umgang mit den Arbeitern bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der „tayloristischen Prinzipien“ verbunden gewesen sei (Kieser 2001d:113) sowie eine immer noch unrealistische Sichtweise auf organisationale Kommunikation, die nun quasi als „Allheilmittel“ für auftretende Probleme angesehen worden sei (Menz 2000:13).
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Konträr zu diesen Ansätzen wird für relevante neuere Konzeptionen von Organisationen (siehe auch Abschnitt 3) als charakteristisch festgehalten, dass statt starrer Strukturen nun Prozesse und damit auch die Nicht-Planbarkeit bzw. Nicht-Rationalität bestimmter Handlungen in den Fokus rücken (hierzu u. a. Habscheid 2003:76ff.; Wetzel 2005:161ff.); wie Organisationen trotz ihrer komplexen und sich ändernden Umwelten den eigenen Fortbestand sichern können und Unsicherheit abwehren können, gehört zu den wichtigen, neuen und für die Linguistik anschlussfähigen Überlegungen, in denen Kommunikation einen zentralen, weil konstitutiven Bestandteil des Organisierens einnimmt (hierzu March & Simon 1993; Weick 1985; Luhmann 2000). Als diesbezügliche Wegbereiter gelten die Vertreter der so genannten Verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, in deren Arbeiten Entscheidungen als zentrale Ankerpunkte in das Zentrum des Organisierens rückten. Bereits in den 1930er Jahren konzipierte Chester Barnard in seiner Arbeit The Functions of the Executive (1971) Organisationen als aus Handlungen bestehend und durch dynamische Entscheidungsprozesse geprägt; Personen sind für die Organisationen nur in ihrer Funktion als Organisationsmitglied von Relevanz und somit als private Person nicht Teil der Organisation, sondern ihrer Umwelt (siehe auch Luhmann 2000). Barnards Schüler Herbert Simon erweiterte diese Sichtweise um das Konzept der begrenzten Rationalität (bounded rationality): Rationalität gilt hier u. a. als begrenzt, weil die an Entscheidungen Beteiligten nicht über alles relevante Wissen verfügen können und Alternativen nicht in beliebiger Anzahl verfügbar sind (Simon 1981). Gemeinsam mit James March hat Simon diese Überlegungen zu Problemlösungsprozessen in Organisationen weiterentwickelt (March & Simon 1993), was auch zu dem so genannten Mülleimer-(Garbage-Can)Modell führte, in dem durch Computer-Simulation versucht wurde, die Komplexität von Entscheidungen im Organisationsalltag zu erfassen (hierzu March 1990): Der Mülleimer oder Papierkorb besteht aus einer ‚hineingeworfenen‘ Ansammlung von Entscheidungen, Problemen, Lösungen und Entscheidern, die nicht rational, sondern eher zufällig miteinander verknüpft werden (hierzu Cohen, March & Olsen 1990). Das Zufällige an Entscheidungen wird nun also akzeptiert, Kommunikation jedoch noch nicht als zentraler Bestandteil des Entscheidungsprozesses berücksichtigt (hierzu Menz 2000:14; Domke 2006:85f.). 2.2 Organisationstheorie und Sprachwissenschaft: wechselseitige Impulse Mit der begrenzten Rationalität und Entscheidungen als Kernhandlung in Organisationen sind forschungshistorisch nun zentrale Standpunkte gegeben, die mit Bezug auf Kommunikation weiter bearbeitet werden.
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Welche Rolle Kommunikation für den Fortbestand der Organisation spielt und wie prägend Sprache für die Abläufe in der komplexen Organisation sein kann, ist seit diesen ersten Arbeiten zunehmend gefragt worden, so dass mit der organisationstheoretischen Relevantsetzung der Prozesshaftigkeit zunehmend theoretische Anknüpfungspunkte für die Sprachwissenschaft entstanden. Der bereits erwähnte Organisationsforscher Karl Weick hat in dem Prozess des Organisierens (1985) in origineller Weise den ‚Mythos‘ der rationalen, zweckorientierten Organisation (weiter) entzaubert und die Bedeutung der miteinander verbundenen Handlungen der Individuen und die Überlegung der Sinngebung im Nachhinein, also einer rückbezüglichen Zielerklärung herausgearbeitet (Weick 1985:33ff.). Das Organisieren umfasst nach Weick die drei Schritte Gestalten, Auswählen und Festhalten von möglichen Bezügen in der komplexen Umwelt, wodurch dann eine spezifische Umwelt der jeweiligen Organisation als Produkt dieser Prozesse entsteht (Weick 1985:68, 190ff.). Entscheidungen bilden den Kern des Auswahl- bzw. Selektionsprozesses und sorgen als sinnhafte Interpretationen für die Reduktion von Mehrdeutigkeit. Weicks Überlegungen über die konstitutive Unordnung, Vielfalt, Unsicherheit und Dynamik in Organisationen gelten als wegweisend für qualitative Methoden in der Organisationsforschung (Walter-Busch 1996:298). Diese Annahmen über die Konstruktion von Wirklichkeit und Umwelt der Organisation (Weick 1985:237ff., 276ff.) lassen sich in der Linguistik gut mit (anderen) konstruktivistischen Ansätzen verbinden, so dass nun nach dem kommunikativen Vollzug der Organisation, nach Organisieren als kommunikativem Prozess gefragt werden kann. Dies hat Boden (1994) mit ihrer konversationsanalytischen Studie über verschiedene Interaktionsformen in Organisationen durch den Rekurs auf u. a. Weick und Giddens (s. u.) gezeigt. Auch Menz (2000) verbindet durch Rekurs auf die Kritische Diskursanalyse nach Fairclough (s. u.) und auf die Organisationstheorie Weicks mit seiner empirisch fundierten Studie über den permanenten „doppelten Balanceakt“ von Unternehmen zwischen „Stabilität und Flexibilität“ (Menz 2000:91, 105ff.) Ansätze aus der Linguistik und der Organisationsforschung und demonstriert so wechselseitige Ergänzungen und erweiterte Analysemöglichkeiten. Als zentrale Aufgabe von Organisationen arbeitet er aus dieser Perspektive heraus, Mehrdeutigkeit für weitere Arbeitsschritte sowohl zu reduzieren als auch für die Generierung von Alternativvorschlägen und -wegen zu erhalten (Menz 2000:218ff.) und diese scheinbar widersprüchlichen Aufgaben zwischen „Chaos und Ordnung“ zu balancieren bzw. gleichermaßen zu bewältigen (siehe auch Menz 2002, 2008). Die eher kleinschrittigen Transkriptanalysen, die das methodologische Fundament für Arbeiten der ethnomethodologischen Konversa-
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tionsanalyse (vgl. Bergmann 1981) und der Gesprächsanalyse (vgl. Deppermann 1999) sowie eine Grundlage für die Kritische Diskursanalyse bilden (Chouliaraki & Fairclough 2004), können durch Bezug auf derartige selbstreferentielle, prozessorientierte Organisationstheorien in einem weiteren Rahmen interpretiert und an die organisationale Ordnung rückgebunden werden (vgl. Habscheid 2003:68ff.; Domke 2006:49ff.; Müller 2008). So führt Habscheid (2003) den aus der Ethnomethodologie Garfinkels stammenden Gedanken der ‚Vollzugswirklichkeit‘ (Garfinkel 1967), gesprächsanalytische und handlungstheoretische Analyseinstrumentarien und Überlegungen aus Anthony Giddens‘ Strukturationstheorie (1997) zusammen und untersucht Gespräche aus dem Kontext der systemischen Organisationsberatung. Als nachhaltiges Problem zwischen Berater und Klienten arbeitet Habscheid am Datenmaterial Formen einer (beratungskonstitutiven) Perspektivendivergenz zwischen den Beteiligten heraus (Habscheid 2003:175ff.), die sich sprachlich manifestieren und neben neuartigen Reflexionsansätzen für die Praxis zu gravierenden Kommunikationsproblemen im Beratungsgespräch selbst (u. a. Habscheid 2003:234ff.) führen können. Für die Praxis ergibt sich vor dem Hintergrund dieser Analysen die Frage, was von dem relevanten Bereich der Organisationsberatung sinnvollerweise erwartet werden kann (Habscheid 2003:291f.). Deutlich wird durch anwendungsbezogene Fragestellungen wie diese, wie relevant die empirisch fundierten Studien und Methoden der Linguistik sein können: für die Berufspraxis, wo oft statische Kommunikationsvorstellungen vorherrschen, aber selten ‚reale‘ Kommunikation zum Anlass für Schulungen oder Konzepte wird, und für die Organisationstheorie und Betriebswirtschaftslehre (hierzu Henk 2008), wo Kommunikation oftmals abstrakt verortet und zum Gegenstand wird, ohne bestimmte Überlegungen wirklich empirisch, an ‚realer‘ Kommunikation herausgearbeitet zu haben. Derartige Verbindungen zwischen Theorie und empirisch orientierter Kommunikationsanalyse sind trotz des hohen Abstraktionsgrades auch mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns (1997a u. b, 2000) möglich, die Organisationen als spezifische Systemebene der Gesellschaft versteht und Entscheidungen zum Fluchtpunkt des Organisierens macht. Die System-Umwelt-Differenz auf Organisationen beziehend, konzipiert Luhmann auch hier Kommunikation als systemkonstitutive (und damit auch umweltkonstitutive) Operation und Entscheidungen als Letztelemente der Kommunikation, die Unsicherheiten abfedern, den Fortbestand der Organisation sichern und als bestehende Anknüpfungspunkte (in Form von entschiedenen Programmen, Stellen z. B., Luhmann 1997b:842, 2000:316ff.) Kontingenz handhabbar machen. Diese radikal auf Kommunikation bezogene Perspektive der Systembildung
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verbindet Domke (2006) mit dem konversationsanalytischen Zugang und untersucht innerbetriebliche Besprechungen als Teil der organisationalen Entscheidungskommunikation. Der spezifische Bedarf des Interaktionssystems Besprechung an Besprechenswertem wird aus diesem Blickwinkel sukzessive herausgearbeitet und der jeweils interaktiv angezeigte „Bearbeitungsmodus bzw. -zustand“ nachgezeichnet, der differenziert werden kann in Information (über getroffene Entscheidungen), Klärung (von Entscheidungsbedarf) und Festlegung (neuer Entscheidungen) (auch Domke 2008). Dass in der Systemtheorie Luhmanns fruchtbare Anknüpfungspunkte für gesprächsanalytische Studien zu Organisationskommunikation liegen, diskutiert auch Hausendorf (2008) mit dem Schwerpunkt auf Mitgliedschaft als Voraussetzung für Zugehörigkeit zu einer Organisation, als Ergebnis von Entscheidungen und als kommunikativ fortwährend wiederherstellbares Merkmal. Auch in den Untersuchungen von Weiss & Wodak (2001, 1998) zur Beschäftigungspolitik und organisationellen Veränderungen der EU werden Meetings bzw. Committees (Weiss 1999) mit Rekurs auf Luhmanns Organisationstheorie analysiert und analytisch die von Wodak wesentlich mitgeprägte Kritische Diskursanalyse (hierzu Wodak 2001) und die Systemtheorie verbunden. 2.3 Bewährte Zugänge und neue Perspektiven Die in der amerikanischen Soziologie entstandene ethnomethodologische Konversationsanalyse (siehe Sacks 1992; auch Bergmann 2004) und die daraus entstandene, breiter gefasste Gesprächsanalyse (hierzu Deppermann 1999) mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen (hierzu Hausendorf 2001) können als etablierte methodologische Zugänge zur Untersuchung von Organisationskommunikation auf der Basis authentischer Ton- und zunehmend auch Video-Daten angesehen werden (siehe die Studien Boden 1994; Meier 1997; Müller 1997; Dannerer 1999; Schmitt & Heidtmann 2002 und Schmitt 2001 sowie die Beiträge in Drew & Heritage 1992; Becker-Mrotzek & Fiehler 2002; Müller & Kieser 2003; Menz & Müller 2008). Zu den klassischen Ansätzen, die in der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Organisationen herangezogen werden, zählt auch die Ethnographie mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung, die durch das Heranziehen von Kontextwissen andere analytische Schwerpunkte setzen kann, wie es Müller (2000, 2006) mit seiner Studie zur kommunikativen Infrastruktur eines Unternehmens (vgl. dazu auch Hartung, in diesem Band) oder SpranzFogasy (2002a u. b) es mit seinen Untersuchungen zum Alltag von Führungskräften vorgestellt haben. Unmittelbar aus der Ethnomethodolgie Garfinkels hervorgegangen sind die so genannten Studies of work (hierzu Garfinkel 1986), die die
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Untersuchung der konkreten Arbeitsabläufe fokussieren (zum Beispiel des Jazzspielens auf dem Piano (Sudnow 1999) oder des Chemieunterrichts (Garfinkel 2002)). Den Schwerpunkt dieser Arbeiten bildet, den ethnomethodologischen Grundannahmen über die Vollzugswirklichkeit folgend, die Untersuchung der Frage, wie eine Arbeit in ihrer spezifischen Ordnung lokal durch einzelne Handlungen hervorgebracht wird und dadurch erst als bestimmte Arbeit erkennbar, accountable wird (Garfinkel 1967; siehe auch Bergmann 2005). Daraus entstanden sind die so genannten Workplace studies (siehe Luff, Hindmarsch & Heath 2000), die die Relation ‚Soziales und Technik‘ (Knoblauch & Heath 1999) in das Zentrum ihrer Untersuchungen stellen und in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Studien über die teilweise negativen Folgen einer unzureichend empirisch gestützten Technisierung für Arbeitsalltag und berufliche Kommunikation (z. B. in Nachrichtenredaktionen, in Notrufzentralen, in der Arzt-Patienten-Kommunikation) vorgelegt haben (u. a. Heath & Luff 2000; Heath, Koblauch & Luff 2004). Aus methodologischer Perspektive interessant ist dabei u. a. die Arbeit mit Videos, die korrespondierend mit einer ähnlichen Entwicklung in der Konversationsanalyse eine Ausweitung klassischer konversationsanalytischer Untersuchungsschwerpunkte (z. B. des turn-taking) auf multimodale Aspekte zur Folge haben (siehe Schmitt 2005) und auch zu Diskussionen und Erweiterungen bisheriger methodischer Zugänge und Untersuchungsgegenstände geführt haben (hierzu auch Goodwin 2000; Ayaß 2004; Schmitt 2007; Kissmann 2009). In einer anderen Tradition stehen die o. a. Untersuchungen aus dem Kontext der Kritischen Diskursanalyse, die mit ihren Studien (konträr zum Beispiel zu Luhmanns analysierendem Blick auf die konstitutiven Systeme einer Gesellschaft) von vornherein auf „emanzipatorische Aufklärung“ zielen (Keller 2004:26), d. h. durch empirisch fundierte Arbeiten verschiedener Texte (Gespräche, Medientexte u. a.), von sprachlich manifestierten Machtstrukturen dezidiert eine Veränderung der sozialen Praxis anstreben (u. a. Wodak 2001; Chouliaraki & Fairclough 2004). Neben der Analyse von (gesellschafts)politischen Diskursen (hierzu u. a. Caldas-Coulthard & Coulthard 1996; Jäger & Paul 2001) sind es gerade Bedingungen der ‚modernen‘ Arbeitswelt, die mit den Methoden der Kritischen Diskursanalyse untersucht werden. Dazu zählen neben den bereits erwähnten Studien gerade auch die Untersuchungen von Fairclough, einem der prominentesten Vertreter der Kritischen Diskursanalyse, zu veränderten sozialen Identitäten von Berufstätigen in der „post-fordistischen“ Produktion, in der Kommunikation zur Schlüsselkompetenz geworden ist (Fairclough 1994). Aus dieser Perspektive sind auch die so genannten Genres of governance in den Fokus geraten und zum Untersuchungsgegenstand geworden. Sie werden als
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in der derzeitigen ‚neu-kapitalistischen‘ Gesellschaft relevante Verfahren der Steuerung und Inbesitznahme sozialer Praktiken verstanden, die in andere Kontexte übertragen, rekontextualisiert (lokale in globale, akademische in wirtschaftliche z. B.) und so zum im Diskurs geltenden Argument, letztlich Leitbild für bestimmte Vorgaben über Handlungen werden (Fairclough 2003). 2.4 Zu Aufgaben, Funktionen und Einteilungen von Kommunikationstypen Die bisherigen Abschnitte verdeutlichten die Bandbreite möglicher analytischer Zugänge zu dem breiten Feld der organisationalen Kommunikationstypen. Eine erste Typologisierung dieser Formen besteht mit dem Rekurs auf die jeweilige mediale Realisierungsweise und damit mit der gängigen analytischen Differenzierung in einerseits Gesprächstypen und andererseits Textsorten. Mit einer solchen Einteilung in mündliche und schriftliche Formen geht die Wahl spezifischer Untersuchungsmethoden für die Analyse authentischer Daten einher, die beispielsweise gerade für die bis dato intensive Erforschung mündlicher Kommunikation auch immer mit dem Problem der Aufnahmegenehmigungen verbunden sind, für die Organisationen (gerade für neuerdings übliche Videoaufnahmen) oft in langwierigen Prozessen gewonnen werden müssen (siehe Brünner 2000:23ff.; Müller 1997:6, 13ff.). Zu den bisher umfassend untersuchten Gesprächstypen, die nach ihrem Gegenstand bzw. ihrer Funktion klassifiziert, entsprechend etablierter Alltagbezeichnungen benannt und oftmals in einzelnen Studien untersucht werden, zählen Verkaufsgespräche in verschiedenen Branchen (u. a. Brünner 2000:47ff.; Firth 1995; Pothmann 1997), die zur betriebsexternen Kommunikation mit dem Kunden (je nach Branche auch Laien) gehören und sehr alltäglich sind. Ebenfalls gut und auch in Bezug auf bestimmte Musterpositionen und damit erwartbare, typische Sequenzen erforscht sind Reklamationsgespräche, die oft telefonisch erfolgen und durch das Problem der unterschiedlichen (auch emotionalen) Erwartungen und Perspektiven der Beteiligten charakterisiert sind (hierzu Brünner 2000:101ff.; Schnieders 2005). Die Untersuchungen in diesem Kontext verdeutlichen anhand des empirischen Materials, das für alle genannten Arbeiten grundlegend ist, wie vermeintlich alltägliche Gespräche ablaufen, welche Verfahren (wie Begrüßen, Problemschilderungen) für Gespräche konstitutiv sind und an welchen Stellen Schwierigkeiten auftauchen. Dies gilt auch für die intensiv untersuchten Besprechungen, deren einheitliche Bezeichnung als Untersuchungsgegenstand konträr zu der Vielfalt an Bezeichnungen im Berufsalltag (Redaktionskonferenz, Jour fixe, Meeting u. a.) steht: Im Zentrum einzelner Studien standen die Herstellung der Besprechung als
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Interaktionsform bzw. Interaktionssystem, das (oft wenig geschätzt im Arbeitsalltag) als sehr komplex gilt und konträr zu anderen Interaktionsformen in Organisationen klar abgrenzbar ist und bestimmte Themen bearbeitet (siehe Meier 1997; Dannerer 1999; Domke 2006). Gerade in dieser dichten Interaktionsform mit oft mehr als zehn Beteiligten werden verschiedene Aspekte der Organisation – wie Hierarchien, Entscheidungsfindung, Arbeitsverteilung – relevant, die analytisch verbunden werden können mit anderen Formen der Kommunikation in der jeweiligen Organisation und somit interaktionsübergreifende Fragestellungen beispielsweise zu Führungsstilen sowie Machstrukturen und Kommunikationsauffassungen ermöglichen (siehe Schmitt & Heidtmann 2002; Müller 1997; Menz 1997). Zu den relevanten schriftlichen Formen der Organisationskommunikation zählt der Geschäftsbericht, der sich vor allem an die unternehmensexternen Leser richtet. Mit Keller (2006) kann er als wesentliche Einflussgröße des Aktienwertes eines Unternehmens verstanden werden und gehört sicher zu den kostspieligsten und aufwendigsten Kommunikationsformen. Geschäftsberichte umfassen vor allem die Bilanz, den Lagebericht, einen Brief des Vorstandes an die Aktionäre und einen Ausblick (Keller 2006:16) und damit letztlich verschiedene Textsorten mit unterschiedlichen Funktionen. Wie diese sprachlich gut und überzeugend gestaltet werden können, hat Keller auf der Basis empirischer Analysen in praktischen Ratschlägen formuliert (2006). Ebert beschreibt den Geschäftsbericht als „komplexe Textsorte“ und „linguistische Herausforderung“, die er praxisorientiert in Bezug auf ihre Struktur und ihre Funktion (u. a. ein positives Image aufzubauen) an konkreten Beispielen entwickelt (Ebert 2007). Zudem hat er mit seiner Studie über Textstrukturen von organisationalen Führungsgrundsätzen herausgearbeitet, welche Textsorten von besonderer Relevanz für die Realisierung der Unternehmenspolitik sind (Ebert 1997). Im Zusammenhang mit normativ-orientierenden Textsorten, die konträr zu normativ-regulierenden weniger explizit regulieren, sondern eher fordern und empfehlen (Ebert 1997:139ff.), hat er „Verhaltensleitsätze“ als eine der häufigsten Textsorten identifiziert, somit solche Texte, die den Adressaten nicht „zwingen“ können, aber „mobilisieren“ sollen und am Übergang zu „Idealbeschreibungen“ stehen: Formulierungen wie „die Führungspersönlichkeit ist in jeder Hinsicht Vorbild“, „setzt sich für jede Aufgabe voll ein“, werden auch als „Selbstverpflichtungen“ verstanden (Ebert 1997:147f.) und können mit dem derzeit (kritisch) diskutierten Wandel zu ‚neuen‘ Organisationen verbunden werden, die nicht mehr über feste Hierarchiestrukturen, sondern eher über diskursiv generierte Ideale (geltende) Leitbilder generiert und veränderte Formen der Steuerung verfügt (siehe Abschnitt 3).
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Erkennbar liegen mit den gerade angeführten Führungsgrundsätzen oder o. a. Führungsstilen thematisch orientierte Perspektiven auf organisationale Kommunikationstypen vor, die differenzierte Typologisierungen des Gegenstandsbereiches und das Heranziehen mündlicher und schriftlicher Texte ermöglichen. Korrespondierend mit solchen Bereichen können auch Differenzierungen in interne (Besprechungen) und externe Kommunikation (Geschäftsbericht) vorgenommen werden (hierzu auch Brünner 2000:7ff.). Systematisierungsmöglichkeiten ergeben sich auch aus den Aufgaben, die bestimmte Interaktionsformen oder Textsorten für die Organisation erfüllen. Es kann gefragt werden, welche bewährte und verfestigte Lösung (hierzu Luckmann 1986) und damit auch Sprachstruktur sich beispielsweise mit Bewerbungsgesprächen für die Aufgabe der Wahl eines geeigneten Kandidaten entwickelt hat: So arbeitet Kern (2000) die Unterschiede in Bewerbungsgesprächen mit Ost- und Westdeutschen kurz nach dem Fall der Mauer heraus und führt dies u. a. auf die unterschiedliche Kenntnis der kommunikativen Gattung Bewerbungsgespräch zurück. Deutlich wird zudem, dass spezifische sprachliche Handlungen und Verfahren rückgebunden werden können an bestimmte Gesprächstypen und Textsorten: die Information über sowie Bearbeitung und Festlegung von Entscheidungen wird so zu einer zentralen Aufgabe der Besprechung (Domke 2006), die Verwendung von nationalen Stereotypen in internationalen Verhandlungen kann – fernab von negativen Bewertungen – so zu einem wichtigen Bestandteil der Beziehungsarbeit werden (Asmuß 2002), der Prozess des Bietens während einer Auktion ist so Bestandteil einer verfestigten, ritualisierten Lösung, die in besonderer Weise immer wieder (re-)inszeniert wird und den Handel zwischen Anbietern und Käufern ermöglicht (Heath & Luff 2009). Die Relevanz der genannten Kommunikationstypen als Forschungsgegenstand kann ebenso wie bei den eingangs angeführten CallCenter-Gesprächen mit ihrer Häufigkeit und ihrer Verankerung als etablierte Form im (Berufs-)Alltag erklärt werden. Dies lässt auch fragen, welche organisationalen Rationalisierungs- und Standardisierungsbestrebungen mit den beobachtbaren Mustern und Praktiken einhergehen, ihnen zugrunde liegen oder folgen (vgl. dazu auch Schmidt, in diesem Band). Mit Rekurs auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und die o. a. Entwicklung der bürokratischen Organisation hin zu einer postfordistischen Organisation (Hartz 2009), die eher mit den Begriffen Netzwerk, Team und Leitbild denn mit Führung und Strukturmodell zu beschreiben ist (hierzu auch Fairclough 2003), gerät in den Fokus, welche Funktionen bestimmte Standardisierungen und symbolischen Inszenierungen denn für die Organisationen über die
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Generierung einer – unter den neuen, auch globalen Bedingungen neu erforderlichen – organisationalen Identität hinaus haben. In Habscheid & Knobloch (2009) finden sich verschiedene Analysen zur sprachlichsymbolischen Herstellung von Einigkeit in Organisationen und Massenmedien. Mit Rekurs auf Verwaltungen und Unternehmen, auf Interaktionen, Werbekampagnen und Mitarbeiterzeitungen (s. u.) wird untersucht, wie symbolisch Konsens und an der (sprachlichen) Oberfläche die Möglichkeit zur Partizipation an Gestaltungsprozessen hergestellt wird, dadurch zugleich jedoch eine spezifische Identität als gesetzte etabliert wird und letztlich Machtverhältnisse (re-)produziert werden. Erkennbar leistet hier das gesellschaftlich relevante Leitbild Einigkeit die Zusammenführung der teilweise auch methodologisch unterschiedlichen Arbeiten. Der Nutzen und die Folgen der Rationalisierung von Kommunikation werden auch für den Bereich der internen, schriftlichen Kommunikation diskutiert und hier verschiedene Stile und Standardisierungsvorgaben betrachtet. Wie individuell beispielsweise E-Mails im Servicebereich sein können bzw. sein sollen, diskutiert Habscheid (2006) und untersucht damit die immer relevanter werdenden Neuen Medien im Arbeitsalltag bzw. den computergestützten Arbeitsalltag (hierzu auch Thimm 2002). Analog zu dem aus der Unternehmenspolitik stammenden Schwerpunkt Führung liegt auch mit der Entscheidung ein organisational relevanter (siehe Abschnitt 2.1–2.2) Untersuchungsschwerpunkt vor, der verschiedene Kommunikationstypen zusammenführt und weiterführen könnte. Dazu gehören auch Gespräche im Cockpit von Flugzeugen, wie Bergmann et al. (2008) in ihrer zu den o. a. Studies of work zählenden Studie über Entscheidungskommunikation der Flugzeug-Crew nach Zwischenfällen herausgearbeitet haben. Auch die Frage nach Hierarchien und Machtstrukturen lässt sich anhand verschiedener Kommunikationsformen bearbeiten (siehe Abschnitt 3). Die Beschäftigung mit Organisationskommunikation führt offensichtlich zum Eintritt in ein sehr breites Untersuchungsfeld. Dieses kann, wie gerade nachgezeichnet, in Bezug auf analytische Zugänge, einzelne Schwerpunkte des Systems Organisation und bestimmte Aufgaben systematisiert werden. Als aktuelle Tendenzen der linguistisch fundierten Forschung kann neben theoretisch erweiterten Analyseperspektiven die Notwendigkeit des Bezugs auf Technik angeführt werden, die einerseits vermehrt sowohl zu dem Arbeitsalltag in den Organisationen als auch zu dem der sie Erforschenden gehört und andererseits die methodologischen Zugänge hinsichtlich ihrer Reichweite fordert und bereichert.
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3. Organisation, Hierarchie und Macht 3.1 Neue Rahmenbedingungen für den Prozess des Organisierens Die Frage nach zentralen Begriffen im Kontext der Organisationskommunikation lässt sich hier allenfalls umreißen, da mit den verschiedenen skizzierten, analytischen Zugängen sehr unterschiedliche (Sprach-)Traditionen einhergehen, die – neben den geteilten (sozial)konstruktivistischen Grundannahmen über die Herstellung von Organisationen durch (sprachliche) Handlungen (siehe Abschnitt 2.2) – teilweise wenig Gemeinsamkeiten aufweisen (siehe zum Beispiel die Begrifflichkeiten der Systemtheorie Luhmannscher Prägung und der Kritischen Diskursanalyse). Dennoch seien hier mit der Organisation selbst und dem Bereich Hierarchie/Macht exemplarisch Begriffe diskutiert, die in allen der vorgestellten Arbeiten verortet sind und je nach analytischer Perspektive spezifische Ausprägungen erfahren. Unter Organisationen werden, wie bereits erwähnt, bestimmte Ordnungsgrößen der Gesellschaft verstanden, die keine zufällige Teilhabe von Personen ermöglichen, sondern auf Mitgliedschaft basieren. Dieser Gedanke ist prominent entwickelt in Luhmanns bereits erwähnter Theorie(teil) zur Organisation (siehe Luhmann 2000, auch 1997a u. b). In der modernen Gesellschaft erlangt die Systemform der Organisation für die verschiedenen Funktionsbereiche (wie Bildung, Wirtschaft) besondere Relevanz und sichert deren Funktionsfähigkeit und Ausdifferenzierung (mit Schulen, Verwaltungen, Unternehmen, Krankenhäusern). Die Organisation wird hier als selbstreferentielles System verstanden, das durch die ablaufenden Kommunikationen regelt, was zu ihr gehört und was Umwelt ist. Die Kommunikation von Entscheidungen sichert aus dieser Perspektive das Fortbestehen der Organisation, sie gelten als Letztelement, an das angeschlossen werden kann und das Kontingenz reduziert. Entscheidungsprämissen sorgen dafür, dass nicht permanent alles neu entschieden werden muss, sondern zum Beispiel bestimmte Programme mit Stellen und Kommunikationswege als entschieden gelten (hierzu Luhmann 2000:222). Diese prozessorientierte Perspektive auf die Entstehung der Organisation, die sich – freilich in geringerer Systematik und ohne vergleichbares Theoriegebäude auch bei Weick (1985, s. o.) findet – umfasst jedoch nicht, was mit neueren Arbeiten in den Fokus rückt: die Folgen und Herausforderungen der Organisation durch die Globalisierung und Entbürokratisierung (hierzu u. a. Hartz 2009). Die bei Luhmann mit Rekurs auf March & Simon (1993) (siehe Abschnitt 2.1) diskutierte Notwendigkeit der Organisation, Unsicherheit zu absorbieren, wird unter den Bedingungen derzeitiger Märkte und Konkurrenz der Unternehmen zu einer Aufgabe, die mehr umfasst als die Organisation
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selbst. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Gesellschaftsbereiche (wie Wirtschaft, Bildung) fordert zunehmend von den einzelnen Organisationen, dass sie auch in Relation zu anderen wahrnehmbar sind, eine eigene Identität und Kultur besitzen (siehe Habscheid & Knobloch 2009). Sie müssen sich zudem mit anderen Organisationen koordinieren und im Zuge der nationalen und globalen Entgrenzung der Funktionssysteme Kooperationen eingehen, für die die o. a. Entscheidungsprämissen (über Kommunikationswege, Stellen und Verantwortlichkeiten) erst entwickelt werden müssen: Es bedarf hierfür auch in der Organisationstheorie neuer Ansätze, die gerade die Kommunikation zwischen den Organisationen berücksichtigen (hierzu Grossmann, Lobning & Scala 2007:38ff.). Erkennbar erlangen nun neben der systemgenerierenden Kommunikation in der Organisation vor allem die immer wichtiger werdenden Netzwerke in den und zwischen den einzelnen Funktionssystemen Bedeutung, die zu einem prägenden Merkmal der modernen Gesellschaft geworden sind. Diesen Wandel der Organisation zu einem offenen Netzwerk beschreibt der Systemtheoretiker Dirk Baecker als „Revolution“ (1997:249), die im Wechsel von der Arbeit als Produktion zur Arbeit als Kommunikation liege. Zur neuen Devise wird nach Baecker „Wer arbeitet, der kommuniziert“ (Baecker 1997:260); Kommunikation rückt damit in bis dato unbekannter Form in das Zentrum des Arbeitens – und in die Theorie und Analyse der Organisation. Mit der Revolution der Organisation gehen unweigerlich veränderte Machtstrukturen einher, die nach Struktur und Ordnung der Netzwerke fragen lassen. Dies unternehmen derzeit sehr produktive Vertreter der Kritischen Diskursanalyse und beleuchten verschiedene Ebenen, auf denen sich die für die moderne Gesellschaft relevanten Machtstrukturen manifestieren. Der Blick auf die Generierung der ‚neuen‘ Organisation zielt zunächst auf die Netzwerke und den Zugang zu diesen konstitutiven und machtvollen Prozessen (Chouliaraki & Fairclough 2004): Wer über Ressourcen verfügen kann, besitzt Macht und wer Einfluss auf die Gestaltung der kommunikativen Abläufe hat, gestaltet sie zweifelsohne (mit) (hierzu van Dijk 1996). Dabei ist die Ausdifferenzierung des Arbeitsmarktes und der Stellen zu bedenken: Nur eine kleine Minderheit, eine Elite, kann als symbolic-analytic workers angesehen werden konträr zu den großen Gruppen der „workers für routine production“ und in „in-person services“ (Chouliaraki & Fairclough 2004:129). Die sprachsymbolische Gestaltung, zum Beispiel der Kultur eines Unternehmens, gewinnt jedoch zunehmend an Bedeutung, so dass Macht und Einfluss auch zu etwas werden, was nicht nur durch manifestierte (Stellen-)Strukturen greifbar wird, sondern vor allem erst durch diskursiv hergestellte Leitbilder und die daran Beteiligten.
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Insofern also die sprachlich-symbolische Generierung einer Identität der Organisation (durch Unternehmensleitsätze, siehe Ebert 1997, oder durch Mitarbeiterzeitungen, s. u.) eine Lösung für ihr gegenwärtiges Problem der Abgrenzung zu anderen darstellt, gehen damit neue Machtstrukturen und Verfahren der Steuerung einher, die auch als Genres of governance diskutiert (Fairclough 2003) werden. Wie mit Rekurs auf die symbolische Inszenierung von Einigkeit angesprochen (hierzu Habscheid & Knobloch 2009), gerät so in den Fokus, wie diskursiv (durch Fernsehsendungen, Werbekampagnen, Zeitungsberichte) Leitorientierungen entstehen. Dazu zählen zum Beispiel Begriffe wie Team, Kommunikationsfähigkeiten, Verantwortung, die diskursiv verankert – in kaum einer Stellenbeschreibung fehlen – zum Idealbild des Mitarbeiters oder Managers werden, an dem sich der einzelne dann zu orientieren hat (hierzu Chouliaraki & Fairclough 2004; Ebert 1997). Es zeigen sich also neue und weniger direkte Ebenen der Steuerung und Macht, die die Analyse verschiedener Kommunikationstypen befördern und umfassende Fragestellungen ermöglichen. So können beispielsweise einzelne konversationsanalytische Arbeiten zur Generierung von Hierarchie in Besprechungen (Schmitt & Heidtmann 2002) rückgebunden werden an allgemeine Führungsgrundsätze (Ebert 1997) und in Relation zu anderen Textsorten der Organisation gesetzt werden. Die jeweilige Organisationskultur gelangt damit in das Zentrum der Analyse und mit ihr die allgemeine Frage, mit Hilfe welcher symbolischer Verfahren sich die Organisation von anderen Organisationen abgrenzt bzw. die notwendige System-Umwelt-Grenzziehung vollzieht und welche Formen des Regulierens und der Steuerung von u. a. Leitbildern, Corporate Design und Corporate Wording herausgearbeitet werden können. 3.2 Funktionen der Mitarbeiterzeitung Mit der Mitarbeiterzeitung soll in diesem Überblick abschließend ein schriftlicher Kommunikationstyp mit seinen zentralen Aufgaben für die Organisation und daraus resultierenden Fragestellungen vorgestellt werden. Dass diese komplexe Text(sorten)sammlung – trotz ihrer Bedeutung für die interne Organisationskommunikation – erst seit einigen Jahren verstärkt zum Untersuchungsgegenstand geworden ist, lässt sich auf zweierlei Weise begründen. Zum einen konzentrierte sich die angewandte Sprachwissenschaft (bisher), was der o. a. Forschungsüberblick verdeutlicht haben mag, zu einem Großteil auf die Untersuchung von mündlichen Kommunikationstypen, die bis dato eher in Relation zur Theorie einer prozessorientierten, sich im Vollzug sprachlicher Handlungen generierenden Organisation gesetzt wurden (vgl. aber zum Forschungsfeld der Unternehmens- und Wirtschaftskommunikation Nielsen, in diesem Band). Zum anderen entstehen erst seit einigen Jah-
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ren Ansätze, die die Funktion verschiedener Textsorten aus einer breiteren theoretischen Perspektive betrachten, so dass die Bedeutung der Mitarbeiterzeitung für die strategische Inszenierung der organisationalen Identität erst jetzt richtig erkannt wird. Zunächst kann die Mitarbeiterzeitung mit Bischl als das relevante Medium der internen Public Relations verstanden werden (Bischl 2000:13). In ihrer pragmalinguistischen Arbeit arbeitet Bischl die konstitutiven Bestandteile dieser Textsorte heraus und beschreibt als ihre Hauptfunktion, das Unternehmen positiv darzustellen (Bischl 2000:98). Dies erfolgt zum Beispiel über Berichte des sozialen Engagements der jeweiligen Organisation oder über den Einsatz zur Sicherung von Arbeitsplätzen. Ein grundlegendes Problem kann als Fazit dieser Untersuchung gefasst werden: Mitarbeiterzeitungen werden von Agenturen, somit extern produziert, die nicht adressatengerecht formulierten. Der fiktive Adressat dieser Redakteure sei eben nicht der Hauptleser, ergo der Mitarbeiter, sondern die Unternehmensleitung (Bischl 2000:233ff.). Zudem erscheine die Textsorte in der Form einer Zeitung, enthalte jedoch nicht wie diese Informationstexte, sondern diene der Publikation von Selbstdarstellungstexten. Bischl attestiert der Mitarbeiterzeitung im Gesamt also ein „kommunikatives Dilemma“ (Bischl 2000:23f.), das auch aus falschen Erwartungen über das Dialog- und Problemlösungspotential resultiere. Negative Bewertungen werden auch in Praxisanleitungen vorgenommen – die formulierte Forderung „Mitarbeiterzeitungen müssen glaubwürdiger werden“ (Mänken 2009:11) verweist in diesem Kontext jedoch eher auf die Verfahren, mit deren Hilfe diese positiven Attribute inszeniert werden können. In den Analysen von Hartz (2009) und Habscheid & Hartz (2007) tritt an die Stelle des Problems der Textsorte ihr Potential zur Lösung eines Problems der Organisation: Mit Rekurs auf die Kritische Diskursanalyse wird in den Analysen herausgearbeitet, dass die Mitarbeiterzeitung als ein wichtiges Mittel der Führung angesehen werden kann. Wie bereits in Abschnitt 3.1 angesprochen, ‚ringt‘ die Organisation der Gegenwart mit der Komplexität der Gesellschaft und des Marktes und um eine eigene Identität. Die sprachlich-symbolische Inszenierung von Einigkeit und Konsens (siehe Habscheid & Knobloch 2009) und einer organisationalen (Leit-)Kultur wird unter diesen Bedingungen somit zunehmend relevant: zur Ausbildung einer Identität, zur Verschleierung von Konflikten und Dissens sowie zur Stabilisierung und Legitimierung von Macht. Analog zur o. a. Bedeutung von Diskursen als genres of governance, in denen Leitbilder generiert und damit gesellschaftlich verankert werden, wird in diesen Untersuchungen herausgestellt, dass mit der Mitarbeiterzeitung durch sprachliche Verfahren – trotz der eigentlich möglichen Perspektivendivergenzen
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von Mitarbeiter und Führung – Konsens u. a. in der Sicht auf zukünftige Leistungen und Einstellungen zur Arbeit hergestellt (siehe Hartz 2009) und damit eine wir-Perspektive generiert wird, die letztlich zum Maßstab für den Einzelnen wird. Aus diesem Blickwinkel ist die komplexe Textsorte Mitarbeiterzeitung ein Instrument der Unternehmensleitung, das in Relation zu anderen Textsorten mit Steuerungsfunktion gesetzt werden kann. 4. Fazit und Ausblick Mit diesem Beitrag sollten relevante Kommunikationstypen der Organisation und Möglichkeiten ihrer systematischen Analyse vorgestellt werden. Die skizzierte Entwicklung der sprachwissenschaftlich fundierten Erforschung der Organisationskommunikation in den vergangenen 20 Jahren spiegelt die Relevanz des Untersuchungsbereiches wider und die Vielfalt und Anwendungsmöglichkeit linguistischer Methoden. Als erfreulich kann angesehen werden, dass die Angewandte Sprachwissenschaft ihre anfängliche ‚Scheu‘ in Bezug auf Organisationstheorien offensichtlich überwunden hat. An die Stelle von ‚mono-methodischen‘ Zugängen treten zunehmend analytisch ausdifferenzierte Perspektiven, die die Fruchtbarkeit der eigenen empirischen Methoden gerade mit Bezug auf theoretische Impulse beweisen kann. Dieser veränderte Blickwinkel lässt erwarten, dass einige Desiderate zukünftig bearbeitet werden. So ist die Zusammenführung auch methodologisch verschiedener Arbeiten zu spezifischen Schwerpunkten bisher nur in Ansätzen erfolgt; denkbar wäre eine empirische Diskussion der theoretisch prominent verankerten Entscheidung (s. o.) in ihrer Rolle für verschiedene Kommunikationstypen sowie eine Systematisierung aktueller Textsorten, die Teil der Identitätsausbildung der Organisation sind. Zudem lassen sich Führungsstile auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Methoden untersuchen – dies zu verbinden, würde die Charakteristik neuer Formen von Hierarchien erfassen lassen. Von Relevanz wären auch stärkere Bündelungen der sprachlichen Entwicklungen, wie sie bereits im Kontext von diskursiv generierten Leitbildern wie Team angesprochen wurden: Hier den Wandel in der Verwaltungsund Unternehmenskommunikation zu beschreiben und in Relation zu den Bedingungen heutigen Organisierens zu setzen, wäre weiter aufschlussreich. Allgemein kann zudem die Erforschung von computergestützten Arbeitsvorgängen als eine relevante Entwicklung der Angewandten Sprachwissenschaft angesehen werden, die mit Verbindungen verschiedener methodischer und theoretischer Zugänge und oftmals beteiligter
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WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen einhergeht und fragen kann, wie sich der Berufsalltag durch die so genannten Neuen Medien ändert (hierzu u. a. Keitel, Boehnke & Wenz 2003; Voß, Boehnke & Holly 2000). In diesen analytischen Erweiterungen kann sicher auch die Hauptaufgabe und der Hauptnutzen der Angewandten Sprachwissenschaft gesehen werden, deren Potential und ausdifferenziertes methodisches Instrumentarium (etwa Konversations- und Gesprächsanalyse, Ethnographie, Kritische Diskursanalyse, Text- und Stilanalyse) in Relation zu anderen Disziplinen und analytischen Zugängen überzeugend bzw. erst richtig zur Geltung kommen kann. 5. Literaturverzeichnis Asmuß, Birte: „Nationale Stereotype in internationalen Verhandlungen.“ In: Unternehmenskommunikation. Hg. v. Michael Becker-Mrotzek u. Reinhard Fiehler. Tübingen 2002, 59–88. Ayaß, Ruth: „Konversationsanalytische Medienforschung.“ In: Medien und Kommunikationswissenschaft (2004), Jg. 52, H. 1, 5–29. Baecker, Dirk: „Durch diesen schönen Fehler mit sich selbst bekannt gemacht. Das Experiment der Organisation.“ In: Riskante Strategien. Beiträge zur Soziologie des Risikos. Opladen 1997, 249–271. Barnard, Chester I.: The Functions of the Executive. Cambridge/Massachusetts 197121 [1938]. Becker-Mrotzek, Michael u. Reinhard Fiehler (Hg.): Unternehmenskommunikation. Tübingen 2002. Becker-Mrotzek, Michael u. Gisela Brünner (Hg.): Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz. Frankfurt/Main 2004. (Stand: 01.12.2010). Bendel, Sylvia: „Zwischen Automation und Dialog: Kunden identifizieren im Bank Call Center.“ In: Innovative Wirtschaftskommunikation. Hg. v. Andréa Belliger, Michael Boenigk, Christoph Hug u. David Krieger. Wiesbaden 2006, 129–141. Bendel, Sylvia: Sprachliche Individualität in der Institution. Telefongespräche in der Bank und ihre individuelle Gestaltung. Tübingen 2007. Berger, Peter L. u. Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1998 [1966]. Bergmann, Jörg R.: „Ethnomethodologische Konversationsanalyse.“ In: Dialogforschung. Hg. v. Peter Schröder u. Hugo Steger. Düsseldorf 1981, 9–53. Bergmann, Jörg R.: „Konversationsanalyse.“ In: Qualitative Forschung. Hg. v. Uwe Flick, Ernst von Kardoff u. Ines Steinke. Hamburg 2004, 524–537. Bergmann, Jörg R.: „Studies of Work.“ In: Handbuch Berufsbildungsforschung. Hg. v. Felix Rauner. Bielefeld 2005, 639–646. Bergmann, Jörg R., Detlef Dolscius, Holger Finke u. Kirsten Nazarkiewicz: „‚Das gefällt mir gar nicht‘ – Trouble Marking als professionelle Kommunikationsleistung im Cockpit beim Auftreten technischer Zwischenfälle.“ In: LuftSchichten. Arbeit, Organisation und Technik im Luftverkehr. Hg. v. Ingo Matuschek. Berlin 2008, 93–117.
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Der Erwerb kommunikativer Praktiken und Formen – Am Beispiel des Erzählens und Erklärens Friederike Kern (Potsdam) 1. 2. 2.1 2.1.1 2.2 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 4. 4.1 5. 5.1 5.2 5.3 6.
Einführung in die Thematik: Forschungstraditionen zum Erwerb kommunikativer Fähigkeiten Wissenschaftshistorische Hintergründe Begriffshintergründe und Definitionen Kommunikative Kompetenz Ein Modell des Erwerbs von Diskurskompetenz Diskurserwerb: Forschungsstand Der Erwerb komplexer Diskursfähigkeiten I: Erzählen Die linguistische Erzählforschung Der Erwerb des Erzählens Der Erwerb komplexer Diskursfähigkeiten II: Instruktionen Linguistische Forschung zum Instruieren Der Erwerb des Instruierens Beispielanalyse Zusammenfassung Fazit, Desiderate und Ausblick Ein genreübergreifendes Erwerbsmodell komplexer kommunikativer Praktiken Der Erwerb schriftlicher Praktiken Erweiterung der linguistischen Beschreibungsebenen Literaturverzeichnis
1. Einführung in die Thematik: Forschungstraditionen zum Erwerb kommunikativer Fähigkeiten Ein wesentlicher Teil des Forschungsinteresses im Bereich der Spracherwerbstheorie ist bis heute eher formbezogen und richtet sich auf den Erwerb grammatikalischer Fähigkeiten. Ergänzend haben sich seit den 1970er Jahren Forschungsaktivitäten entfaltet, die sich der Tatsache besinnen, dass Kinder mehr lernen als die Grammatik einer Einzelsprache und ihren Blick deshalb auf den Erwerb des Wissens über kommunikative Praktiken als typische Handlungsmuster richten (vgl. z. B. Keenan 1974; Shatz & Gelman 1973 sowie Mueller et al. 1977). Kommunikative Praktiken umfassen dabei zum einen rein organisatorische Aspekte wie Sprecherwechsel und die Fähigkeit, eigene Redebeiträge an denen vorhergehender auszurichten, sowie zum anderen die Fertigkeit, komplexere kommunikative Einheiten wie Erzählungen, Instruktionen o. ä. zu produzieren. Während Kinder schon bald Kom-
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petenzen im ersten Bereich zeigen, d. h. bereits in frühem Alter sprachlich kohärente und interaktionspartnerbezogene Texte herstellen können, scheint die Fähigkeit, komplexere Diskurseinheiten zu gestalten, sich eher in der späten Kindheit zu entwickeln (vgl. Klann-Delius 2008; Hausendorf & Quasthoff 1996, 2005; Quasthoff 2009). In diesem Beitrag sollen Aspekte des Erwerbs komplexer kommunikativer Praktiken und Formen am Beispiel von Erzählungen und Instruktionen erläutert werden. Im Blickpunkt steht hier also die sich entwickelnde Fähigkeit von Kindern, komplexe kommunikative Einheiten verständlich und informativ, d. h. im Hinblick auf das (Vor-)Wissen und die Erwartungen der Interaktionspartner adäquat sowie situativ passend zu produzieren und genrespezifisch zu gestalten. Dafür ist es zunächst notwendig zu klären, was unter komplexen kommunikativen Praktiken zu verstehen ist. Je nach Forschungstradition werden diese in Studien zum Spracherwerb entweder als satzübergreifende Diskurseinheiten (Hausendorf & Quasthoff 1996; Quasthoff 2009) oder als Textsorten (Boueke et al. 1995; Becker 2001; Augst et al. 2006) bezeichnet. Die jeweiligen Forschungstraditionen bestimmen den Fokus der Analysen, auch und gerade im Hinblick auf spracherwerbstheoretische Fragestellungen: Während konversationsanalytische Studien die Aufmerksamkeit primär auf die von den Interaktionspartner/innen gemeinsam durchgeführte Herstellung der komplexen Diskurseinheiten richten und dabei auch die den Entwicklungsverlauf unterstützenden Aktivitäten der erwachsenen Gesprächspartner/innen in den Blick nehmen, interessieren sich textlinguistisch inspirierte Untersuchungen vor allem für deren textsortenspezifische, strukturelle Merkmale. In diesen verschiedenen Perspektiven manifestiert sich ein relevanter Unterschied zwischen konversations- bzw. diskursanalytisch geprägten Spracherwerbsstudien einerseits und textlinguistischen Studien andererseits: Erstere berücksichtigen konsequent, dass jegliche kommunikativen Handlungen in einem situativen und sprachlichen Kontext unter Bedingungen von Kopräsenz gemeinsam mit einem oder mehreren Kommunikationspartner/in vollzogen werden, während letztere diesen Aspekt häufig absichtsvoll außer Acht lassen und dies auch an der Art ihrer Datenerhebung verdeutlichen. 1 Ihr Ziel ist es stattdessen, mündliche Texte von Kindern primär auf Mittel der Textkohärenz sowie – am Beispiel von Erzählungen – auf die realisierten strukturellen narrativen Positionen, wie sie von Labov & Waletzky (1967) entwickelt worden sind (s. u.), zu untersuchen, um darauf auf die Entwicklung eines zugrunde liegenden kognitiven Schemas zu schließen. ————— 1
Für einen Überblick über die Datenerhebungen einiger der weiter unten genannten Studien (Meng 1991; Boueke et al. 1995; Hausendorf & Quasthoff 1996) vgl. Knapp (2001).
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Weitere Forschungstraditionen, die sich mit dem kindlichen Spracherwerb am Beispiel des Erzählens beschäftigt haben, haben weniger den Erwerb sprachlicher Strategien im Auge als vielmehr die Entwicklung basaler kognitiver und sozial-kognitiver Fähigkeiten, die als fortschreitende Mentalisierungsprozesse konzeptualisiert werden. Nelson (1996) z. B. benennt drei Stadien der Entwicklung: Im episodischen Stadium (0; 1–16 Jahre) werden erste mentale Ereignisrepräsentationen entwickelt; im mimetischen Stadium (1; 6–4 Jahre) werden mentale Ereignisrepräsentationen mit Wörtern, Spielen und sozialen Ritualen verbunden, ohne dass Sprache durchgehend als Repräsentationsmedium, sondern vorwiegend pragmatisch, d. h. im konkreten Handlungszusammenhang gebraucht wird. Im dritten, narrativen Stadium schließlich (4–10 Jahre) dient Sprache zunehmend als Symbolsystem, durch das eigene und fremde Repräsentationen in der Interaktion und situationsbezogen vermittelt und zugänglich gemacht werden. Da dieser Beitrag auf Erwerbstheorien fokussiert, die im Rahmen pragmalinguistischer, insbesondere an die ethnomethodologische Konversationsanalyse angelegter Theorien entwickelt wurden, werden psycholinguistische bzw. kognitivistischer Erklärungsmodelle, die eng an eine „Theorie des Geistes“ (theory of mind) anknüpfen, hier nicht weiter verfolgt; für eine Übersicht vgl. stattdessen Klann-Delius (2005) oder (2008). 2. Wissenschaftshistorische Hintergründe 2.1 Begriffshintergründe und Definitionen 2.1.1 Kommunikative Kompetenz Ein Schlüsselbegriff kommunikativ ausgerichteter Ansätze in der Linguistik ist die kommunikative Kompetenz. Das Konzept der kommunikativen Kompetenz geht auf Hymes (1971, 1987) zurück und versteht sich als kritische Erweiterung des von Chomsky geprägten, engen Kompetenz-Begriffs, mit dem die Fähigkeit, linguistisches – d. h. grammatisches – Wissen fehlerfrei satzbezogen anzuwenden, gemeint ist. Hymes dagegen versteht die rein sprachlichen Fähigkeiten nur als Teilfähigkeiten; zusätzlich müssen Sprecher/innen dazu in der Lage sein, das sprachliche Wissen situativ angemessen und im Hinblick auf die Zuhörerschaft adäquat zu verwenden. Hymes nimmt im Gegensatz zu Chomsky, dessen sprachliche Analysen auf den Einzelsatz beschränkt waren, im Rahmen einer „Ethnografie des Sprechens“ sprachliche Handlungen in den Blick und versucht diese, im Hinblick auf ihre sprachlichen, sozialen und kulturellen Aspekte zu beschreiben. Damit bezieht Hymes die grundlegenden sozialen Funktionen von Sprache, die auch z. B. in ethnomethodolo-
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gisch bzw. konversationsanalytisch geprägten Untersuchungen im Vordergrund stehen, in seine Analysen mit ein. Der Begriff der Kompetenz im Zusammenhang mit den sozialen Dimensionen von Sprachgebrauch wird in jüngster Zeit, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen, wieder aufgegriffen. Als kommunikative Kompetenz wird hier vor allem „Gesprächskompetenz“ bezeichnet, die sich auf die sequenziell rekonstruierbaren Organisationsprinzipien mündlicher dialogischer Rede bezieht und die im Sinne einer konversationsanalytisch geprägten Interaktionstheorie empirisch fundierbar ist (Deppermann 2004; Quasthoff 2009). Konkreter und auf spracherwerbstheoretische Fragestellungen beziehbar sind damit die Fähigkeiten gemeint, konditionelle Relevanzen (Levinson 2000) bzw. Zugzwänge (Hausendorf & Quasthoff 1996) im Gespräch zu erkennen und sinnstiftend zu bearbeiten. Für die Formulierung eines Kompetenzmodells im Sprach- bzw. Diskurserwerb ist dabei die Unterscheidung zwischen lokalen und globalen Zugzwängen wesentlich: Lokale Zugzwänge operieren auf einer turn-to-turn-Basis, wie es in der Konversationsanalyse beispielsweise für die sog. Nachbarschaftspaare (adjacency pairs, s. Levinson 2000) beschrieben wurde. Globale Zugzwänge dagegen, die weniger im Fokus konversationsanalytischer Forschung standen, verlangen den Anschluss einer komplexeren Diskurseinheit, wie z. B. einer Erzählung oder einer Instruktion, durch die zeitweilig der turn-by-turn-talk, also der ständige Wechsel der Sprecher/in- und Hörer/in-Rolle, außer Kraft gesetzt wird und die stattdessen die Etablierung einer primären Sprecher/in erfordert (Wald 1978; Hausendorf & Quasthoff 1996). Neben der Fähigkeit, globale Zugzwänge zu erkennen und ggfs. zu bedienen, müssen die Produzent/innen komplexer Diskurseinheiten die einzelnen Text- und Handlungsmuster beherrschen, die für die jeweiligen Diskurseinheiten konstitutiv sind, und diese situations- und rezipientenorientiert anwenden. 2.2 Ein Modell des Erwerbs von Diskurskompetenz Basierend auf den eben genannten Aspekten von Gesprächskompetenz und weiteren Ergebnissen aus Untersuchungen zum Diskurserwerb formuliert Quasthoff (2009) ein genreübergreifendes Modell von Diskurskompetenz, mit dem die verschiedenen Teilfähigkeiten, die für die Durchführung und Gestaltung komplexer Diskurseinheiten relevant sind, empirisch begründbar und theoriegestützt beschrieben werden können (vgl. auch Katz-Bernstein & Quasthoff 2006; Ohlhus 2005a sowie Quasthoff et al. in Vorb). Diese Teilfähigkeiten lassen sich auf die Bearbeitung von Aufgaben der Kontextualisierung, Vertextung und Markierung beziehen. Im Folgenden werden diese Teilfähigkeiten sowie ihre
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Entwicklungsverläufe grob beschrieben und, der Forschungslage entsprechend, im Hinblick auf Erzählungen erläutert; eine genauere Darstellung bezogen auf die jeweiligen Studien erfolgt dann in Abschnitt 3. (1) Kontextualisierung Die Aufgabe der Kontextualisierung bezieht sich darauf, globale Zugzwänge im Gespräch zu erkennen und zu bedienen. Weiterhin ist damit die Fähigkeit gemeint, größere Diskurseinheiten, wie z. B. Erzählungen oder Erklärungen, rezipientenorientiert in die laufende Interaktion einzubetten. So muss eine längere Diskurseinheit von einem Sprecher/einer Sprecherin thematisch und organisatorisch vorbereitet werden: Die Sprechenden müssen einen thematischen Anschluss an das vorhergehende Gespräch herstellen sowie die Erlaubnis einholen, sich selbst als primären Sprecher zu etablieren. Die Fähigkeit, globale Zugzwänge wie beispielsweise Aufforderungen zum Erzählen zu erkennen, ist bei Vorschulkindern kaum vorhanden, nimmt aber ab dem Alter von sechs Jahren kontinuierlich zu (vgl. Hausendorf & Quasthoff 1996). Allerdings zeigen Studien auch, dass noch Schulanfänger die thematische Anschlussfähigkeit eigener Erzählungen an vorhergehende eher zu eng auslegen und die wahrgenommene fehlerhafte Passung auch zum Ausdruck bringen (vgl. Kern & Quasthoff 2005). Am Ende der Entwicklung schließlich stehen die Fähigkeiten, innerhalb eines Gesprächs eigene komplexe Diskurseinheiten interaktiv vorzubereiten und kontextbezogen zu platzieren sowie nach deren Ende eigenständig zum turn-by-turn-talk überzuleiten. (2) Vertextung Mit Vertextung ist die Fähigkeit gemeint, einen lokal und global kohärenten Text gemäß den Anforderungen der jeweiligen Diskurseinheit zu produzieren. Diese sind der Ausbau der Erzählung, Instruktion o. ä. und die Art der Verknüpfung ihrer einzelnen Elemente (wie Hintergrundinformationen, Ereignis- und Höhepunktdarstellung, Bewertung) zu einem einheitlichen Ganzen. Im Bereich von Sprach- bzw. Diskurserwerb haben sich die meisten pragmatisch orientierten Studien bislang vor allem der Entwicklung von Vertextungskompetenz in Erzählungen gewidmet (Boueke et al. 1995; Hausendorf & Quasthoff 1996; Becker 2001; Augst et al. 2006). Für Erzählungen wurde von Boueke et al. (1995) ein inzwischen weit verbreitetes mehrstufiges Erwerbsmodell entwickelt, das in Abschnitt 3.1.2 dargestellt wird. (3) Markierung Die Markierungsfähigkeit bezieht sich auf die Verwendungen sprachlicher Formulierungen zur Markierung der verschiedenen Strukturteile
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einer Erzählung und damit zur Herstellung globaler (Text-)Kohärenz. In Studien zum Diskurserwerb werden die Markierungsfähigkeiten meist in Zusammenhang mit den Vertextungsfähigkeiten beschrieben. Dennoch stellen sie, wie Ohlhus (im Druck) und Quasthoff (2009) betonen, einen gesonderten Kompetenzaspekt dar, der gesonderte Betrachtung verdient, weil die kindliche Entdeckung sprachlicher Formen einen Einfluss auf den Erwerbsprozess hat. So orientieren sich Kinder an sprachlichen Formeln, die sie für die Lösung globalstruktureller Aufgaben (Herstellung von Textkohärenz, Darstellung des Planbruchs) besonders geeignet halten. Bei Fantasierzählungen verwenden Kinder als Abschluss beispielsweise häufig formelhafte Wendungen, die ihnen durch Märchen bekannt sind („und wenn sie nicht gestorben sind …“) (vgl. Becker 2001 sowie Ohlhus 2005b zur Verwendung von Phraseologismen zur Markierung des Endes einer Erzählung). Insgesamt lässt sich eine Entwicklung von einer impliziten zu einer expliziten Markierung globaler Strukturen in den sprachlichen Formen nachzeichnen (vgl. Hausendorf & Quasthoff 1996; Quasthoff 2009; Ohlhus 2005a). Während bei Vorschulkindern häufig keine sprachlichen Markierungsmittel verwendet werden, treten später typischerweise Formulierungen dazu, mit denen zeitliche Reihungen angezeigt werden („und dann“ etc.). Schließlich finden sich explizite Markierungen, beispielsweise von ungewöhnlichen Ereignissen (bzw. des Planbruchs) wie „plötzlich“ oder „auf einmal“. Auch den Verfahren zur Dramatisierung (s. u.) kommt eine wichtige Funktion der Markierung wichtiger Ereignisse und Ereignisketten zu. 3. Diskurserwerb: Forschungsstand 3.1 Der Erwerb komplexer Diskursfähigkeiten I: Erzählen Als grundlegende Studien zum Erzählerwerb sind neben Peterson & McCabe 1983, Bamberg 1987 und Berman & Slobin 1987 und 1994 für den deutschsprachigen Raum vor allem Boueke et al. 1995, Hausendorf & Quasthoff 1996, Becker 2001 und Augst et al. 2006 zu nennen. Da diese Studien sich auf linguistische Arbeiten zur Struktur von Erzählungen stützen, sollen diese zunächst sehr kurz dargestellt werden (für eine ausführliche Darstellung siehe z. B. Quasthoff 2001). 3.1.1 Die linguistische Erzählforschung In Erzählungen werden einzelne, in der Vergangenheit liegende Erlebnisse aus der Perspektive der Sprechenden rekapituliert und bewertet (vgl. u. a. Labov & Waletsky 1967; Quasthoff 1980a; Tannen 1989; Kotthoff, in diesem Band). Das zurückliegende Ereignis wird dabei in
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eine Abfolge kleinerer Ereignisse zerlegt und mit spezifischen sprachlichen Mitteln reproduziert. Ein für die weitere Forschung grundlegendes Modell haben Labov & Waletsky (1967) formuliert. Aus der Analyse der Textoberfläche entwickeln die Autoren Erzählkategorien, die sich im Text als syntaktisch und semantisch separate Struktursegmente niederschlagen, die spezifische sprachliche Merkmale (z. B. hinsichtlich des Tempusgebrauchs) aufweisen und die in einer relativ geordneten Reihenfolge auftreten. Erzählungen beginnen im allgemeinen mit einer Orientierungsphase, in der Angaben zu Raum, Zeit, Situation und Personen gemacht werden, durch die Erzähler/innen einen Vorstellungsraum etablieren, in den sich Sprechende und Hörende gemeinsam hineinversetzen, nachdem sie das Hic et Nunc der Gesprächssituation verlassen haben (vgl. auch Rehbein 1984). Daran schließt sich eine Sequenz von Ereignissen, die im Normalfall auf die Komplikation (oder auch Planbruch, vgl. Quasthoff 1980a) zusteuert und nach einer Evaluation mit der Lösung abgeschlossen wird. Die Evaluation vervollständigt die Erzählung, weil sie den point der Erzählung vermittelt bzw. ihre „Erzählwürdigkeit“ (reportability, vgl. Labov & Waletsky 1967) etabliert. Abschließend wird in einer Coda die Erzählwelt wieder verlassen und an das Hier und Jetzt der Gesprächssituation angeknüpft. Neben dem Forschungsstrang, der die Aufmerksamkeit auf die strukturellen Eigenschaften von Erzählungen richtet, hat sich als weiterer Strang die interaktionstheoretisch orientierte Erzählforschung herausgebildet. Diese beschäftigt sich mit der Einbettung von Erzählungen in sprachliche Kontexte und wie Erzählungen von den Interaktionsbeteiligten gemeinsam hergestellt werden. Zwar werden häufig Erzählungen als monologisierende Formen mündlicher Interaktion bezeichnet (vgl. u. a. Rath 1980), aber auch die Rezipient/innen erfüllen spezifische Aufgaben. So müssen sie signalisieren, dass sie den Erzähler/innen den Raum für eine Erzählung zugestehen (vgl. u. a. Sacks 1992); mit begleitenden continuers zeigen sie, dass sie der Erzählung folgen und die Informationen problemlos verarbeiten können (vgl. Quasthoff 1980b). Durch expressive und evaluative Formulierungen (ach du meine Güte) oder Lachen können sie den Erzählenden bedeuten, wie sie die Erzählung verstanden haben, und ihnen zu verstehen geben, dass sie ihre Bewertungen und Einschätzungen teilen (vgl. Quasthoff 1980b). So können auch die Rezipient/innen dazu beitragen, die Erzählbarkeit einer Erzählung zu etablieren (vgl. Gülich & Quasthoff 1986). Auch Solidarisierungsstrategien tragen wesentlich zur Beziehungsgestaltung zwischen Sprecher und Hörer bei (vgl. Günthner 2000), wenn letztere ihre emotionale Anteilnahme zeigen. In der interaktionstheoretisch ausgerichteten Erwerbsforschung ist die Erkenntnis, dass auch satzübergreifende Diskurseinheiten gemein-
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sam hergestellt werden, insofern wesentlich, als dass der analytische Blick nicht nur auf die Redebeiträge der Kinder gerichtet wird, sondern auch auf die Reaktionen der Erwachsenen und deren Rolle für den Erwerbsprozess beleuchtet wird (vgl. z. B. Hausendorf & Quasthoff 1996; Kern & Quasthoff 2005). 3.1.2 Der Erwerb des Erzählens Die eben genannten Vorarbeiten und Überlegungen flossen auch in die nun dargestellten Studien zur Entwicklung der Erzählfähigkeit ein. Boueke et al. (1995) legen ihrer Untersuchung, in der es vor allem um Fragen nach der Entwicklung der Fähigkeit geht, eine Erzählung globalstrukturell zu gliedern, die Definition von Quasthoff (1980a) zu Grunde, nach der sich eine Erzählung dadurch auszeichnet, dass ein „normal course of events“ durch ein Ereignis unterbrochen wird, das gewisse Minimalbedingungen an Ungewöhnlichkeit erfüllen muss. Neben der Darstellung dieses „Planbruchs“ (Quasthoff 1980a) gehört die Erwirkung der emotionalen Beteiligung der Zuhörer/innen zu den zentralen Funktionen von Erzählungen.2 Das von den Autoren entwickelte ontogenetische Vierstufenmodell, das auf der Grundlage von mündlich-monologischen Erzählungen von 96 Kindern in drei Altersstufen (5, 7 und 9 Jahre) entwickelt wurde, basiert auf dem Modell einer prototypischen Geschichte, die folgende Eigenschaften aufweist (vgl. Boueke et al. 1995): x alle für die Darstellung relevanten Ereignisse kommen vor; x eine Linearisierung dieser Ereignisse zu kohärenten Ereignisfolgen ist erkennbar; x die Etablierung eines die Erzählwürdigkeit begründenden (Plan-) Bruchs ist erkennbar; x die Ereignisfolgen werden emotional qualifiziert. Aus dem Vergleich der kindlichen Erzählungen aus verschiedenen Altersstufen mit dieser prototypischen Geschichte leiten Boueke et al. (1995) vier Erwerbsstufen ab. Als Anfangsstadium gilt die Darstellung isolierter Ereignisse bei Vorschulkindern, wenn zwischen den geschilderten Ereignissen keine Verbindung erkennbar ist. In der nachfolgenden Stufe, der sog. linearen Ereignisdarstellung, werden die Ereignisse vor allem durch additive oder temporale Konnektoren miteinander verbunden. In dem nächsten Stadium der strukturierten Ereignisdarstellung weisen die geschilderten Ereignisse eine hierarchische Strukturierung im ————— 2
Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass in ihrer Untersuchung konversationelle Fähigkeiten, wie eine Erzählung in einen größeren Interaktionszusammenhang zu platzieren, nicht berücksichtigt werden.
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Sinne einer spürbaren Orientierung auf den Höhepunkt hin auf, der nun sprachlich markiert ist. Hier zeigen die Kinder, dass sie sich nun auch an gattungstypischen Strukturierungsmustern orientieren. Als letzte Stufe gilt die narrativ strukturierte Ereignisdarstellung, in der die Ereignisse außerdem affektiv markiert werden, um eine Involvierung der Hörer/innen zu ermöglichen. Kritik an diesem Modell formulieren u. a. Knapp (2001) und Becker (2001). So müsse hinsichtlich der vierten Erwerbsstufe zwischen lokaler und globaler Involvierung unterschieden werden; die Autor/innen weisen in diesem Zusammenhang auf den funktionalen Unterschied hin zwischen ausschmückenden Adjektiven, die eher lokal wirken, und Ausdrücken wie „plötzlich“ oder „auf einmal“, die nicht nur eine affektive Wirkung auf die Zuhörenden, sondern auch strukturelle Funktion im Hinblick auf die Signalisierung des Planbruchs haben. Nach Augst et al. (2006) stellen die ersten beiden Boueke’schen Stufen, die Aspekte der Textkohärenz in den Blick nehmen, keine spezifischen Eigenschaften des Erzählens dar, sondern gelten für schriftliche und mündliche Texte allgemein. Ein weiteres Problem wird in der Stellung des Planbruchs für die Kompetenzentwicklung gesehen. Augst et al. (2006) schlagen vor, zwischen Planbruch und Pointe zu trennen, da sich das Überraschende und Erzählenswerte einer Geschichte nicht allein aus dem Planbruch (also dem unerwarteten Ereignis oder Höhepunkt der Erzählung), sondern aus der daran angeschlossenen Pointe konstituiert, die eine überraschende Lösung für die Rückführung zur Normalität, zum „normal course of events“ darstellt. Entsprechend reformulieren Augst et al. (2006) die Boueke’schen Entwicklungsstufen so, dass die erste Stufe weder sprachlichen Planbruch noch Pointe aufweist. Auf der zweiten Stufe ist dann kohärentes, an der Chronologie der Ereignisse orientiertes Erzählen zu erkennen, das z. T. inhaltliche Planbrüche, wenn auch seltener Pointen, enthält. Auf der 3. Stufe wird der Planbruch im Gegensatz zu den Pointen sprachlich klar herausgearbeitet. Die Texte enthalten oft eine Einleitung, allerdings nur gelegentlich einen Schluss oder eine Coda. Auf der 4. Stufe schließlich finden sich ein deutlicher Aufbau von Spannung innerhalb der Erzählung und eine sprachlich herausgearbeitete Pointe. Anders als Boueke et al. (1995) trennen Augst et al. (2006) also zwischen inhaltlichen und sprachlichen Aspekten der Erzähldarstellung.3 Für die Markierung des Affekts nehmen sie darüber hinaus einen getrennten Entwicklungsverlauf an. Diese nimmt ihrer Studie zufolge, die allerdings den Erwerb schriftlicher Erzählfähigkeit in den Blick ————— 3
Diese Teilung findet sich auch in der Trennung zwischen Vertextungs- und Markierungskompetenz im oben dargestellten Kompetenzmodell.
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nimmt, einen U-förmigen Verlauf: Nach einer lokalen emotionalen Involviertheit (1. Stufe) folgt eine Versachlichungstendenz (2. Stufe); erst danach kann von einer emotionalen Involvierung die Rede sein, die textstrukturell angemessen und rezipientenorientiert versprachlicht wird (3. und 4. Stufe). Beckers (2001, 2005) Untersuchung zur Entwicklung unterschiedlicher Erzählgenres reiht sich ebenfalls in das Paradigma textlinguistischer Forschung ein, wobei sie zusätzlich interaktionsrelevante Phänomene mit berücksichtigt. Becker vergleicht vier mündlich produzierte Erzählformen (Fantasie-, Erlebnis-, Bilder- und Nacherzählung) von Kindern aus drei Altersgruppen (5, 7 und 9 Jahre) hinsichtlich ihrer Länge, Kohäsion, narrativen Struktur und interaktiven Konstituierung miteinander. Die Länge aller Erzählungen nimmt über die Jahre hinweg zu, wobei die Nacherzählungen insgesamt am längsten, die Erlebniserzählungen am kürzesten waren. Hinsichtlich der Verwendung von Mitteln zur Herstellung von Koreferenz stellt Becker fest, dass es Kindern offensichtlich am leichtesten in Erlebniserzählungen und am schwersten in Bildergeschichten fällt, Textkohäsionsmittel adäquat zu verwenden. Dennoch kann festgehalten werden, dass in allen Genres die Kohäsion mit dem Alter zunimmt. Bei der Analyse der narrativen Struktur lehnt sich Becker an Bouekes Vierstufenmodell an; dabei stellt sie ebenfalls relevante Unterschiede zwischen den einzelnen Erzählformen fest: Während die Bildergeschichten zunächst am wenigsten strukturiert sind, weisen die Erlebniserzählungen am ehesten narrative Strukturelemente auf. Im Entwicklungsverlauf ändert sich das Bild allerdings: Die narrative Strukturierung nimmt vor allem für Fantasie- und Nacherzählungen sprunghaft zu, während die Bildgeschichten auch in der dritten Altersstufe zum Teil noch lineare Formen aufweisen. Becker weist noch auf weitere Unterschiede zwischen den Genres hin: So stellt sie fest, dass die Erlebniserzählungen häufig keine Pointe bzw. Auflösung des Geschehens sowie keine Rückführung zum „normal course of events“ aufweisen bzw. dass diese Positionen nur nach Nachfrage des/der Zuhörer/in geliefert wird; bei den Fantasiegeschichten gelingt den Kindern eine Auflösung bereits sehr viel früher. Dagegen richten Hausendorf & Quasthoff (1996) in ihrer zwischen Spracherwerbsforschung und theoretisch ausgerichteter Interaktionsforschung angesiedelten Untersuchung das Augenmerk auf Aspekte der gemeinsamen Hervorbringung von Diskurseinheiten im kontextuellen Zusammenhang. Dabei verpflichten sie sich einer konversationsanalytisch geprägten Vorgehensweise, indem sie den sprachlichen und sequenziellen Kontext systematisch bei der Beschreibung von Kompetenz berücksichtigen. Auf der Grundlage reichhaltigen empirischen Materials entwickeln die Autoren ein Modell GLOBE („Globalität und Lokalität
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in der Organisation beidseitig-konstruierter Einheiten“, vgl. ausführlich Hausendorf & Quasthoff 2005; Quasthoff 2001), das die Beschreibung von Diskurskompetenz mit der Beschreibung interaktiver Verfahren der Gesprächsführung und -gestaltung verbindet. GLOBE ermöglicht u. a. zu erfassen, wie Anteile an einer entstehenden Erzählung auf Kind und erwachsenen Gesprächspartner verteilt sind und wie Erwachsene durch spezifische Verfahren die globalen Anforderungen, die das Genre stellt, an das antizipierte Kompetenzniveau des Kindes anpassen, damit die Erzählung gelingt. Damit können die unterstützenden Handlungen der Erwachsenen, die einen wesentlichen Anteil an der Weiterentwicklung der kindlichen narrativen Kompetenz haben, als Erwerbsmechanismen in das Modell integriert werden. Die Studie hat gezeigt, dass sich Erwerbsprogression besonders deutlich hinsichtlich der Bearbeitung der vom Interaktionspartner globalen Zugzwänge zeigt: Während Vorschulkinder häufig auch globale Zugzwänge noch lokal bearbeiten (Bamberg 1987), entwickeln Kinder ab dem Alter von etwa sechs Jahren die Fähigkeit, globale Zugzwänge im Gespräch zu erkennen und zu bedienen (Hausendorf & Quasthoff 1996). Weiterhin rekonstruieren Hausendorf & Quasthoff (1996) zwei narrative Muster, mit denen ein Ereignis entfaltet werden kann: Beim Elaborieren wird ein Ereignis aus der Rückschau verbalisiert, dagegen konstituiert das Dramatisieren eine zusätzliche, affektive Qualität, mit der der Aspekt der Erzählbarkeit besonders verdeutlicht wird. Auch hier zeigt sich ein klarer Entwicklungsverlauf: Während Fünfjährige kaum Mittel der Dramatisierung, wie z. B. die Verwendung direkter Rede, benutzen, und auch die Siebenjährigen diese noch nicht systematisch gebrauchen, zeigt sich bei den Zehnjährigen schon ein differenzierter Einsatz der Mittel, der bei den Vierzehnjährigen noch weiter ausgebaut ist (vgl. Hausendorf & Quasthoff 1996:165f.). Eine neuere Untersuchung förderte zusätzliche interessante Ergebnisse zutage, die sich z. T. mit den Ergebnissen Beckers decken: Zwar verwenden Kinder schon im ersten Schuljahr mehr oder weniger durchgängig Mittel der Dramatisierung; die Art der Mittel, die eingesetzt werden, variiert jedoch erheblich in Relation zu dem jeweiligen Genre. Während Kinder in konversationellen Erlebniserzählungen vornehmlich prosodische und gestische Ressourcen verwenden, benutzen sie in Fantasieerzählungen häufiger schon die direkte Rede als szenisches Mittel der sprachlichen Gestaltung von Erzählungen (vgl. Kern & Quasthoff 2002). Abschließend sei auf eine Studie hingewiesen, die neben der Entwicklung der Erzählfähigkeit auch den Erwerb angemessenen Rezeptionsverhaltens fokussiert. Meng (1991, 1994) untersuchte u. a. das Re-
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zeptionsverhalten von Kindern und stellte fest, dass sich Dreijährige noch nicht ihrer Rolle als Zuhörer/in gemäß verhalten, während Sechsjährige dazu schon durchaus in der Lage sind. Untersuchungen, die systematisch die Entwicklung des kindlichen Rezeptionsverhaltens und dafür geeignete Lernkontexte und Lehrmechanismen in den Blick nehmen, stehen allerdings noch aus (zur Kritik an Mengs Studie vgl. Becker 2001). 3.2 Der Erwerb komplexer Diskursfähigkeiten II: Instruktionen 3.2.1 Linguistische Forschung zum Instruieren Während die Aufgabe bei Erzählungen im Wesentlichen darin besteht, einen kohärenten (mündlichen oder schriftlichen) Text herzustellen, der zusätzlich – unter anderem über die strukturellen Positionen Planbruch und Pointe sowie durch die globale Verwendung expressiver Lexeme – eine affektive Komponente zur Unterhaltung und Involvierung der Zuhörer/innen beinhaltet, gilt es, bei Instruktionen ein etwas anders gelagertes Problem zu lösen. Instruktionen stellen einen asymmetrischen Interaktionsprozess dar, der primär der Wissensübermittlung dient (Kern 2007; Kotthoff 2009). Im Alltag werden eine Vielzahl von Handlungen als Erklärungen bezeichnet (vom Anleiten bis zum Erzählen); in einem engeren Sinne jedoch werden Erklärungen als Instruktionen verstanden, als deren gemeinsames Merkmal die Vermittlung von Wissen über Zusammenhänge und Abläufe bezeichnet wird (Kotthoff 2009).4 Eine Verbindung zwischen kognitiven und sprachlichen Anforderungen ist bei Instruktionen insofern offensichtlich, als dass Sachverhalte oder Ereignisse mental zunächst in ihre Bestandteile bzw. Abläufe zerlegt werden müssen, bevor sie dann versprachlicht werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Instruktionen ist, dass sich die Wissenden in die Lage der Nicht-Wissenden versetzen müssen, um eine verständliche Instruktion produzieren zu können. Es kann festgehalten werden, dass die linguistische Forschung zum Instruieren sehr viel mehr Lücken aufweist als zum Erzählen (für einen Überblick vgl. aber Kotthoff 2009). Dennoch liegen einige Studien zum Erwerb des Instruierens vor, die im Folgenden dargestellt werden. 3.2.2 Der Erwerb des Instruierens Im Vergleich zu Erwerbsstudien zum Erzählen sind Studien, die sich mit dem Erwerb von Instruktionen beschäftigen, wesentlich rarer. Ähnlich wie bei den Erzählungen lässt sich die Forschung in zwei Hauptrich————— 4
Als typische Erklärung gilt nach Becker-Mrotzek (1997) die Bedienungsanleitung, die jedoch eine genuin schriftliche Textsorte ist und von ihm entsprechend unter Fragestellungen der Schreibentwicklung untersucht wurde.
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tungen aufteilen: Während bei vielen Untersuchungen die sprachlichen und kognitiven Entwicklungen im Vordergrund standen (vgl. z. B. Weber 1975 und 1982; Klann-Delius et al. 1985), nehmen andere, interaktionstheoretisch ausgerichtete Studien eher die sprachlichen Muster der kommunikativen Praxis in den Blick und berücksichtigen bei der Beschreibung der kindlichen Kompetenz systematisch die Rolle, die die Zuhörer/innen spielen (vgl. Hausendorf 1995; Kern 2003; Stude 2005 und 2006). Weissenborns (1985) Studie zu Wegbeschreibungen stellt drei Entwicklungsstufen fest. Danach beschränken sich Wegbeschreibungen von Vierjährigen auf die Angabe des Zielpunkts, ohne dass dieser mit dem Ausgangspunkt verbunden wird. Sechs- bis Achtjährige dagegen begeben sich schon auf eine „imaginäre Wanderung“ und nennen wichtige Fixpunkte zwischen Ausgangsort und Zielort; allerdings sind sie noch nicht dazu in der Lage, eine Wegbeschreibung für die Hörer/innen verständlich sprachlich zu produzieren. Auf der dritten Stufe der Acht- bis Elfjährigen schließlich zeigt sich die entwickelte Kompetenz: die Kinder können mit Hilfe von Lokalausdrücken („links“, „rechts“) die Position und Perspektiven des imaginären Wanderers genau beschreiben. Weber (1982) untersucht die Instruktionsfähigkeit von Kindern zwischen 10 und 16 Jahren, wobei sie auf Ergebnisse einer älteren Studie mit jüngeren Kindern ab vier Jahren zurückgreift (Weber 1975). Sie unterscheidet dabei zwischen der kognitiven Anforderung, die Prozedur in einzelne Schritte zu unterteilen und zu strukturieren, sowie der sprachlich-kommunikativen, diese einzelnen Schritte zu kommunizieren. Dabei stellt sie in ihrer älteren Studie fest, dass die Kompetenzerweiterungen nicht in beiden Bereichen parallel verlaufen, sondern sich abwechseln. Dieses Ergebnis wird auch durch die jüngere Studie unterstützt: Die „kognitiv-verbalen“ Leistungen nehmen zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr insgesamt zu, wobei die Steigerungsrate zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr höher ist als zwischen dem 13. und 16. Lebensjahr. Dagegen unterscheiden sich die Leistungen im sprachlich-kommunikativen Bereich in allen drei Altersgruppen nicht wesentlich voneinander. Daneben haben Studien zur Entwicklung von Instruktionsfähigkeit vor allem das Genre „Spielerklärung“ untersucht. Die wichtigsten werden im Folgenden einzeln vorgestellt. Eine frühe entwicklungstheoretisch orientierte Studie von Shatz & Gelman (1973) untersuchte Spielerklärungen von Vierjährigen mit Rezipienten unterschiedlichen Alters (Zweijährige, Vierjährige und Erwachsene). Hier zeigte sich, dass die Äußerungen der Kinder hinsicht-
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lich ihrer Länge und syntaktischen Komplexität je nach Altersgruppe der Rezipienten variieren, was aber, wie auch die o. g. Studien zum Erzählen zeigen, nicht genrespezifisch ist. Klann-Delius et al. (1985) Studie zum Erwerb von Spielerklärungen fokussiert die unterschiedlichen Strategien der Kinder, das relevante Wissen zu präsentieren, sowie das Zusammenspiel kognitiver und sprachlicher Entwicklung im Prozess der Interaktion. Klann-Delius et al. (1985) untersuchten die Entwicklung des Ausdrucks internen Wissens durch sprachliche Mittel und Gesten. Dazu wurden Strukturen von Spielerklärungen mit Material (d. h. das Spielmaterial lag vor den Versuchspersonen auf einem Tisch) mit solchen ohne Material (das Spielmaterial war den Versuchspersonen nicht zugänglich) verglichen. Zwei Vertextungsmuster wurden gefunden: Während Zeigen in den praktischen Kontext des Spiels eingebettet ist, wird Sagen davon unabhängig konstruiert. Dabei zeigte sich allerdings, dass Zeigen gerade auch in Situationen ohne Spielmaterial verwendet wird. Die Autoren erklären dies mit dem offensichtlichen Bestreben der Versuchspersonen, Erklärungen so konkret wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig sind Spielerklärungen mit Material deutlich informativer als solche ohne (vgl. auch Klann-Delius 1987). Diese Vertextungsmuster wurden später weiter differenziert: Kern (2003) zeigte im Anschluss an Hausendorf (1995), dass sich Demonstrieren (statt Zeigen) und Explizieren (statt Sagen) hinsichtlich ihrer lexiko-semantischen und syntaktischen Mittel unterscheiden und eine unterschiedliche Anwendung nonverbaler Mittel aufweisen. Demonstrieren, das sich stark am konkreten Ablauf der einzelnen Spielhandlungen orientiert, kombiniert parallele syntaktische Strukturen, die zu Beginn häufig Temporaladverbien aufweisen („und dann“), mit ikonischen Gesten (Schegloff 1994). Es bleibt also am zeitlichen Ablauf des Spiels orientiert. Beim Explizieren, bei dem es sich um ein von den einzelnen Handlungsabläufen abstrahiertes Vertextungsmuster handelt, werden hingegen häufig Konditionalkonstruktionen verwendet, mit deren Hilfe die einzelnen Spielregeln in Form generischer Aussagen formuliert werden. Im Entwicklungsverlauf zeigt sich, dass zu Schuleintritt Demonstrieren noch von annähernd der Hälfte der Kinder bevorzugt wird; im zweiten Schuljahr dagegen nimmt die Anzahl der Kinder, die Explizieren verwenden, deutlich zu. Dieser Trend setzt sich in schriftlichen Spielerklärungen fort (Stude 2005). Spielerklärungen enthalten empirischen Studien zufolge die Struktursegmente Materialeinführung, Nennen des Spielgedankens, Erläuterung der einzelnen Spielhandlungen, Nennen des Spielziels (KlannDelius et al. 1985; Hausendorf 1995; Kern 2003; Stude 2006). Für Ana-
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lysezwecke können diese Strukturelemente je nach Spiel in Abhängigkeit von der Materialvielfalt und der Anzahl der verschiedenen Spielzüge in mehrere Positionen unterteilt werden, um Erkenntnisse hinsichtlich der zunehmenden Strukturierungsleistung der Kinder zu gewinnen. In Stude (2005) werden im Rahmen eines interaktionstheoretischen Zugangs auch konsequent die Redebeiträge der Gesprächspartner/innen berücksichtigt. Dabei zeigt sich, dass im Vergleich schon bei Kindern des ersten und zweiten Schuljahres eine deutliche Kompetenzerweiterung sichtbar ist: Am Beispiel von Memory-Spielerklärungen zeigt Stude, dass Erstklässler durchschnittlich drei von sieben Positionen initiativ (d. h. ohne Nachfrage der erwachsenen Gesprächspartner/innen) realisieren, während Zweitklässler bereits vier Positionen initiativ produzieren. Es zeigt sich also, dass sich ein Aspekt des sprachlich-kommunikativen Erwerbsprozesses im unterschiedlichen Gebrauch verschiedener Muster des Instruierens äußert, während ein zweiter Aspekt die kognitiven Strukturierungsleistungen berücksichtigt, die sich in der Verbalisierung spezifischer Struktursegmente äußert. Hinsichtlich der kognitiven Fähigkeit der Perspektivübernahme wird davon ausgegangen, dass Kinder im Alter von 8–9 Jahren dazu in der Lage sind, die Perspektive des nicht-wissenden Zuhörers zu übernehmen und entsprechend verständliche Instruktionen zu produzieren (vgl. Kotthoff 2009). Dies wird u. a. durch die o. g. Studie Studes bestätigt: Die Zunahme an initiativ produzierten Spielpositionen mit steigendem Alter kann als Indikator für die steigende Fähigkeit angesehen werden, die Perspektive des Nicht-Wissenden zu berücksichtigen. 4. Beispielanalyse Im Folgenden sei eine integrierte Struktur- und Interaktionsanalyse hinsichtlich der oben genannten Aufgabenbereiche der Kontextualisierung, Vertextung und Markierung anhand einer kindlichen Erzählung beispielhaft vorgeführt. Dabei wird auch auf non- und paraverbale Aspekte eingegangen. Die folgende Erzählung stammt von Michael, der zum Zeitpunkt der Erzählung 6;9 Jahre alt ist.5 ————— 5
Das Beispiel stammt aus einem Korpus von Erzählungen von Kindern im Alter von 6–8 Jahren, die im Rahmen eines DFG-Projekts in Dortmund in den Jahren 2000 bis 2003 erhoben wurden. In einem quasi-experimentellen Setting wurde zwei Erstklässlern von einer Erwachsenen eine Geschichte vorgelesen, die auf ein ungewöhnliches Ereignis (d. h. den sog. Planbruch, vgl. Quasthoff 1980a) hinführte. Im Anschluss wurden die Kinder gefragt, ob sie schon einmal „etwas Ähnliches“ erlebt hatten. Das Setting wurde mit anderen Geschichten am Anfang des zweiten und dritten Schuljahres wiederholt.
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Beispiel (1)6 01 ER [ist dir AUCH mal was pass02 Mi [und 03 Mi JA. 04 bei MIR (-) ges (.) Übergestern; (.) |______ |________| | | guckt zur Seite schüttelt kurz den Kopf 05 HATT ich’ .hhh |______ | guckt E an 06 als ich REINgekommen bin zu ihr; (-) 07 hat=n hund mich GANZ doll ANgebellt; (-) |_______| | E guckt erstaunt 08 da hat (.) der sich aber an mich geWÖHNT?= 09 =dann hab ich ihn an die LEIne genommen?= 10 =.h und plÖtzlich wurde der so DICK, |____________________| | zeigt einen dicken Bauch mit beiden Händen 11 ER ((macht nickende Bewegung mit dem Kopf)) 12 MI und DANN, (-) 13 (.) 14 = 15 =wollt ich DEN (-) 16 so an’ (.) am BAND nehmen, |________________________| | guckt in die Kamera, re Arm wird re am Körper hochgehalten, Finger der re Hand zeigen nach unten und machen eine Greifbewegung 17 isser’ (-) 18 hatter’ (-) 19 wollte der (.) mich BEIßen?= 20 =aber zum glÜck bin ich zuRÜCKgesprungen. 21 ER a^HA:; |__| | richtet sich auf 22 da war das aber kein NEtter hund;= [ne, 23 Mi [‚hm=’hm; (-) 24 ja. (.) 25 ER ja; (---)
Im Folgenden werden die drei Ebenen der Kommunikationskompetenz (vgl. Abschnitt 2.2) beispielhaft analysiert. ————— 6
Die Transkription erfolgt nach GAT (vgl. Selting et al. 1998).
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(1) Kontextualisierung Der globale Zugzwang wird von der Erwachsenen als Frage formuliert (Z. 1: ist dir AUCH mal was pass-), wobei AUCH als Verweis auf den Gesprächskontext fungiert, an den die Einheit angeschlossen wird. Anschlussfähig an diese Frage ist nicht nur eine einfache Antwort, sondern eine Erzählung, die in einem thematischen Zusammenhang mit der vorgelesenen Geschichte steht. Dass Michael den globalen Zugzwang erkennt, zeigt er daran, dass er ihn folgerichtig und ohne zu zögern bedient: nach einer kurzen Bejahung beginnt er mit seiner Erzählung. (2) Vertextung Eine Orientierung an einer globalen narrativen Struktur ist bei Michael deutlich erkennbar. Nach einer sehr kurzen Orientierung (Z. 4–7) erzählt Michael im weiteren Verlauf von drei Ereignissen, die potenziell als Planbrüche fungieren (Z. 7, 10 und 19). Das letzte Ereignis schließlich (Z. 19: wollte der (.) mich BEIßen) wird von einer Auflösung oder Pointe gefolgt, nach der eine Rückkehr zum „normal course of events“ wieder möglich ist (Z. 20: aber zum glÜck bin ich zuRÜCKgesprungen).7 Eine abschließende Bewertung der Erzählung erfolgt durch die Gesprächspartnerin. Auf verbaler Ebene ist Michaels Erzählung vorrangig nach dem Aspekt der Zeitlichkeit aufgebaut und kann damit typisch für die Stufe der linearen Verknüpfung gelten (2. Entwicklungsstufe). (3) Markierung In Michaels Erzählung zeigen sich alterstypische Markierungen narrativer Strukturen. Der lineare Aufbau der Erzählung wird auf der sprachlichen Oberfläche durch die Verwendung von temporaladverbialer Konstruktionen wie und dann, dann und da etc. markiert. Mehrere Ereignisse werden so markiert, dass sie als potenzielle Planbrüche gelten können. Hier finden sich lexikalisch-prosodische (GANZ doll) und lexikalisch-gestische (plötzlich, koordiniert mit einer ikonischen Geste, die das Dicksein verdeutlicht) Markierungen. Auffällig ist jedoch, dass das letzte Ereignis (wollte der (.) mich BEIßen) im Vergleich zu den beiden vorherigen weder verbal noch nonverbal als besonders ungewöhnlich hervorgehoben wird. Hier zeigt sich, dass noch lokale Markierungen überwiegen, die z. T. implizit, d. h. mit Hilfe prosodischer und gestischer Mittel, realisiert werden. Gleichzeitig erfüllen Prosodie und Gestik offenbar wichtige Aufgaben bei der Markierung von emotionaler Involviertheit: einzelne ————— 7
Dass diese Rückkehr nicht mehr Teil der Geschichte ist, ist vermutlich auf die spezifische Erzählsituation zurückzuführen (s. FN 5 sowie Kern & Quasthoff 2005).
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Ereignisse werden durch Akzentuierungen und ikonisch-deskriptiven Gesten hervorgehoben, ohne dass diese Hervorhebungen zur eindeutigen Bildung narrativer Struktursegmente (wie z. B. Markierung eines Ereignisses als Planbruch) genutzt werden. Dennoch ist zu bemerken, dass diese para- und nonverbalen Mittel virtuos als Ressourcen genutzt werden, um eine zusätzliche affektive Qualität der Ereignisse herzustellen. Im weiteren Entwicklungsverlauf scheint sich jedoch zu zeigen, dass die Mittel später durchaus dazu verwendet werden, um narrative Struktursegmente und damit globale Merkmale einer Erzählung zu kennzeichnen (vgl. Kern 2009). Weitere Forschung, die die Funktionalität nicht-verbaler Ressourcen im Entwicklungsverlauf des Diskurserwerbs in den Blick nimmt, steht allerdings noch aus. 4.1 Zusammenfassung Die Beispielanalyse demonstriert zum einen die Gültigkeit der oben dargestellten Entwicklungsstufen: Michaels Erzählung weist eine Reihe von Charakteristika auf, die typisch für die 2. Entwicklungsstufe nach Boueke et al. (1995) sind. Zum anderen zeigt sich, dass das Kompetenzmodell die eher textlinguistische Beschreibung der Entwicklungsstufen sinnvoll ergänzt, indem es die einzelnen Teilfähigkeiten der Kontextualisierung, Vertextung und Markierung unabhängig voneinander erfassen kann, um so weiterführend Entwicklungspotenzial in den jeweiligen Kompetenzbereichen aufzudecken. Schließlich wird aber auch deutlich, dass der analytische Blick sich nicht allein auf die verbalen Mittel von Kindern richten darf, sondern auch der Gebrauch prosodischer und gestischer Mittel als Ressourcen zur Gestaltung komplexer kommunikativer Praktiken stärker berücksichtigt werden muss. Dieser Punkt wird im abschließenden Abschnitt noch einmal aufgegriffen. 5. Fazit, Desiderate und Ausblick 5.1 Ein genreübergreifendes Erwerbsmodell komplexer kommunikativer Praktiken Das o. g. Modell zur Beschreibung von Diskursfähigkeiten (vgl. Abschnitt 2.2) dient als Grundlage für ein ressourcenbasiertes Erwerbsmodell, in dem zwischen internen und externen Ressourcen der Kinder unterschieden wird. Interne Ressourcen beschreiben die kognitiven Fertigkeiten der Kinder als Strukturierungsleistungen, die sich als Teilfähigkeiten in den Bereichen Kontextualisierung, Vertextung und Markierung manifestieren. Typische externe Ressourcen sind zum einen die alltäglichen bzw. familiären Interaktionen zwischen Erwachsenen und
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Kindern sowie zum anderen die unterrichtlichen Interaktionen in der Klasse. Dieses Modell liefert eine Grundlage für die Erklärung (und im Folgenden auch sprachdidaktische Nutzung) hinsichtlich der Unterschiedlichkeit von Erwerbsprozessen. Auch wenn die familiären externen Ressourcen für einzelne Kinder sicher sehr unterschiedlich sind, zeigt sich doch, dass unterrichtliche Instruktionen als externe Ressource teilweise nur dann genutzt werden können, wenn bereits interne Ressourcen, wie beispielsweise die Fähigkeit zu strukturieren, vorhanden sind. Daraus folgt, dass nicht allein die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Erwerbskontexte ausschlaggebend für individuell verlaufende Erwerbsprozesse sind, sondern auch, wie die Kinder interne und externe Ressourcen integriert nutzen (Quasthoff 2009, Quasthoff et al. in Vorb.). Für daran anknüpfende sprachdidaktische Fragestellungen ist dieses Modell zur Rekonstruktion individueller Erwerbsverläufe hoch interessant. 5.2 Der Erwerb schriftlicher Praktiken Im Vergleich mit dem Erwerb mündlicher kommunikativer Praktiken wird seit den 1990er Jahren zunehmend der Erwerb schriftlicher Genres als Praktiken in den Blick genommen (vgl. z. B. Augst et al. 2006 für schriftliche Erzählungen und Becker-Mrotzek 1997 für Instruktionen). Die oben dargestellten Modellierungen von Kompetenz wurden dabei in einigen Studien weitgehend übernommen, wobei hier der Aspekt der Kontextualisierung eine geringe Rolle spielt. Vergleichsstudien zeigten, dass mündliche Erzählungen von Kindern häufig zwar länger und besser strukturiert, dafür aber häufig weniger stark affektiv markiert sind (vgl. z. B. Becker 2002). Die Umsetzung dieser entwicklungstheoretischen Erkenntnisse in eine Didaktik des – mündlichen wie schriftlichen – Diskurserwerbs, die vor allem in der Schule ihre Anwendung findet, stellt allerdings noch weitgehend ein Desiderat dar (vgl. jedoch Stude & Ohlhus 2005). Das für mündliche Genres entwickelte Kompetenzmodell schafft die Möglichkeit, auch im Schriftlichen die verschiedenen Teilfähigkeiten, die zur Herstellung komplexer Genres notwendig sind, isoliert zu betrachten und entsprechende Möglichkeiten der Förderung daran anzuknüpfen. Die Entwicklung didaktischer Modelle, die auf eine altersgerechte Ausbildung jeweiligen Teilfähigkeiten zugeschnitten sind, stellt also eine wichtige zukünftige Forschungsaufgabe dar. 5.3 Erweiterung der linguistischen Beschreibungsebenen In Abschnitt 4.1 wurde darauf hingewiesen, dass ein Desiderat hinsichtlich der Beschreibung mündlicher kommunikativer Praktiken und Formen in einem Erwerbsmodell die systematische Beschreibung von anderen als verbalen Mitteln zur Erfassung kindlicher Sprachkompetenz
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darstellt. Zur Bewältigung der Aufgaben, die die Durchführung spezifischer kommunikativer Praktiken an den/die Sprechenden stellt, können in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht nicht nur verbale, sondern auch prosodische und gestische Ressourcen genutzt werden, wie die obige Beispielanalyse gezeigt hat. Para- und nonverbale Ressourcen systematisch in ein Kompetenzmodell zu integrieren ist entsprechend eine weitere Aufgabe, der sich die Forschung zum Erwerb kommunikativer Praktiken in Zukunft stellen sollte. 6. Literaturverzeichnis Augst, Gerhard, Karin Disselhoff, Alexandra Henrich, Thorsten Pohl u. Paul Ludwig Völzing: Text-Sorten-Kompetenz. Eine echte Longitudinalstudie zur Entwicklung der Textkompetenz im Grundschulalter. Frankfurt/Main 2006. Bamberg, Michael: The aquisition of narratives. Learning to use a language. Berlin 1987. Becker, Tabea: Kinder lernen erzählen. Baltmannsweiler 2001. Becker, Tabea: „Mündliches und schriftliches Erzählen. Ein Vergleich unter entwicklungstheoretischen Gesichtspunkten.“ In: Didaktik Deutsch 12 (2002), 23–38. Becker, Tabea: „Mündliche Erzählentwicklung: Die Einflüsse textsortenspezifischer Faktoren und literarischer Erfahrungen mit ihren didaktischen Konsequenzen.“ In: Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Hg. v. Petra Wieler. Freiburg 2005, 29–47. Becker-Mrotzek, Michael: Schreibentwicklung und Textproduktion. Wiesbaden 1997. Berman, Ruth Aronson u. Dan Isaac Slobin: Five ways of learning how to talk about events. A crosslinguistic study of children’s narratives. Berkeley 1987. Berman, Ruth Aronson u. Dan Isaac Slobin: Relating events in narrative. A Crosslinguistic Developmental study. Hillsday/New Jersey 1994. Boueke, Dietrich, Frieder Schülein u. Hartmut Büscher: Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München 1995. Deppermann, Arnulf: „‚Gesprächskompetenz‘ – Probleme und Herausforderungen eines möglichen Begriffs.“ In: Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz. Hg. v. Michael Becker-Mrotzek u. Gisela Brünner. Frankfurt/Main 2004, 15–27. Gülich, Elisabeth u. Uta Quasthoff: „Story-Telling in Conversation. Cognitive and Interactive Aspects.“ In: Poetics 15 (1986), 217–241. Günthner, Susanne: Vorwurfsaktivitäten in der Alltagsinteraktion. Tübingen 2000. Hausendorf, Heiko: „Deixis and Orality: Explaining Games in Face-to-Face Interaction.“ In: Aspects of Oral Communication. Hg. v. Uta Quasthoff. Berlin 1995, 181–197. Hausendorf, Heiko u. Uta Quasthoff: Sprachentwicklung und Interaktion: Eine linguistische Studie zum Erwerb von Diskursfähigkeiten. Opladen 1996.
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II.
Basiskonzepte, Theorien, Methoden
Textlinguistische Typologisierungsansätze Margot Heinemann (Leipzig) 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 4. 5. 6.
Problemaufriss und Problemvorgaben Problemaufriss Problemvorgaben Eindimensionale Texttypologien Textklassenbildung auf der Grundlage gemeinsamer formaler Merkmale Thematisch-inhaltliche Modelle Situativ geprägte Text-Klassifizierungen Funktionsmodelle Kritische Anmerkungen Mehrdimensionale Klassifizierungsansätze Pragmatische Textklassifizierungsmodelle Ausblick Literaturverzeichnis
1. Problemaufriss und Problemvorgaben 1.1 Problemaufriss Alles und überall ist Text, was bedeuten soll, dass wir von einem Netz von Texten umgeben, wenn nicht sogar darin gefangen sind, denn jeder Text ist in einer unüberschaubaren wie auch heterogenen Menge von Texten ein Unikat. Trotzdem sind wir – um im Bild zu bleiben – in diesem Netz nicht ganz orientierungs- und hilflos, sondern haben uns Mittel und Wege erarbeitet, um in dieser unüberschaubaren Textvielfalt einen Überblick zu behalten. Eine der einfachsten Möglichkeiten zeigt uns das folgende Beispiel, in dem ein Kind befragt wird, ob ihm Geschichten erzählt werden (nach Margaret Millar, Die Feindin, Diogenes, 1976:211): Mir erzählt sie auch manchmal welche. Glaubst du, was sie dir erzählt? Ja. Nur wenn’s Märchen sind, nicht. Woher weißt du denn so genau, ob es Märchen sind? Sie fangen mit ‚Es war einmal‘ an. Immer? Das müssen sie doch. Daran erkennt man sie ja.
Im Umkehrschluss heißt das: Wenn die Einführungsfloskel fehlt, dann ist es eben kein Märchen! Was ist es aber dann? Dann sind es eben irgendwelche Geschichten (also typologisch gesehen eine höhere Textebene betreffend), denen das „Defizit“ der Unglaubwürdigkeit fehlt.
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Margot Heinemann
Unser Alltagsverständnis geht erst einmal von äußeren Merkmalen aus, von sprachlichen Signalen, Floskeln, Materialien, allerdings auch von Situationen (Orten, Räumen, Personen) und beinhaltet noch ungenaue, vorsichtige, im Leben erworbene Differenzierungsmechanismen. Damit ist eine adäquate Textrezeption noch nicht gewährleistet, aber bestimmte Rahmenstrukturen für eine erfolgreiche Kommunikation sind vorgegeben. Wenn ein Text die Einleiteformel „Es war einmal …“ vorweist, dann ist es ein Märchen, zumindest vorerst. Aus diesem Verständnis heraus ist die Grobeinteilung von Textsorten des Alltags, der Institutionen, der Religion und der Poetik relativ leicht nachzuvollziehen. Das kann aber nicht ausreichen, denn derartige Signale können fehlen, können falsch oder bewusst in anderem Zusammenhang benutzt werden und somit anderen Textbündelungen, etwa einer Satire oder Parodie, zugeordnet werden. Mit dem sich entwickelnden Industriezeitalter sind viele Textsortenbenennungen erhalten geblieben, nur – ihre Benennungen stimmen nicht mehr mit dem vorgefundenen Inventar überein. Das Inventar an Texten und Textsorten hat sich innerhalb kürzester Zeit mehrfach gewandelt, es sind neue hinzugekommen und alte verschwunden, gewohnte Formen und Strukturen haben sich so verändert, dass sie neu erlernt werden müssen. Derartige Veränderungen gehen nicht nur mit dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen einher, sondern sie geschehen – in gemäßigter Form – zu jeder Zeit, was sich an älteren Publikationen zu Texten und Textsorten ganz gut ablesen lässt. Es genügt nicht, die eher zufällig erhobenen Daten zu Texten, Textsorten und Textklassen zu sammeln und zu archivieren, sondern die wissenschaftliche, historisch-systematische Aufarbeitung und Weiterführung linguistischer Texttypologie ist eine der drängenden Aufgaben der Textlinguistik. 1.2 Problemvorgaben Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, Mengen zu verwalten, zu ordnen, zu benennen und ihnen damit einen Wiedererkennungswert zu geben, der für die Entwicklung jedweder Sache von außerordentlicher Bedeutung ist. Das gilt besonders für mehr oder weniger statische Ordnungsformen wie der biologischen Systematik, der diagnostischen Medizin, der Kategorisierung von Texten in realen oder virtuellen Bibliotheken oder der Indexierung nach Schlagwörtern, um nur einige zu nennen. Der Vorteil derartiger Klassifizierungen besteht in dem relativ hohen Abstraktionsgrad an der Spitze und einer breiten, für den Laien kaum nachvoll-
Textlinguistische Typologisierungsansätze
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ziehbaren Ausfächerung auf der Ebene. Allerdings sind diese Ordnungen in den Objekten selbst, in deren Inhalten angelegt, diese Klassen schließen sich aus und überlappen sich nicht. Für texttypologische Klassifizierungen sind diese Sortierungen wenig geeignet, denn „letztlich ist das Ziel jeder Textsortendarstellung nicht irgendeine Typologisierung, sondern die Beschreibung spezieller Routinen“ (Heinemann & Heinemann 2002:159f.). Die klassische poetologische Ordnung der Texte in epische, dramatische und lyrische Texte hat sich bis heute als stabil erwiesen, weil sie eine klare Differenzierung in der Form aufweist. Bei der Textproduktion handelt es sich eindeutig um Schrifttexte, die in der Reproduktion vorzüglich als Sprechtexte geeignet sind, zum Beispiel als „Zitier- und Reproduziertextsorten“ (Fix 2009). Dass sich die Formstrenge in der Entwicklung ein wenig gelockert hat und gegenwärtig unter dem Einfluss neuer Medien deutlich verändert, macht die Diskussion um ein gemeinsames textlinguistisches Modell von Gebrauchstextsorten und Gattungen/Genres noch dringlicher, besonders auch mit Blick auf „praktizierende“ Textwissenschaften wie Medienwissenschaft, Didaktik, Translation u. a. Für die historische Text(sorten)klassifikation stellt Hertel (2008:27) fest, dass man nicht mehr genau feststellen könne: „Schrieben die Autoren nach einem oder mehreren Mustern bzw. Mustertexten oder schufen sie mit ihren Texten erst einmal Vorbildhaftes, Muster, prototypische Texte, an denen sich die Nachfahren orientierten?“ Man kann wohl davon ausgehen, dass gegenwärtig in der medialen Unterhaltungslandschaft derartige Entwicklungen zu beobachten sind, gerade weil nicht in jedem Einzelfall mit einer „Orientierung der Nachfahren“ gerechnet werden kann. Zumindest müsste für Klassifikationen der Gedanke des Nebeneinanders von tradierten Textmustern bzw. Texttypen neben neu entstehenden Mustertexten zu überlegen sein. Meier & Ziegler (2004:131) merken dazu an, dass Textsorten „für den Einzelnen kognitive Schemata“, für die Sprechergemeinschaft aber „kollektives Wissen“ darstellen und fordern unter diesem Aspekt eine „pragmatisch orientierte Textsortengeschichte“. Damit sei ein weiteres Problemfeld aufgezeigt. Die so überaus zutreffende Bemerkung zu Textsorten, sie hätten etwas „intuitiv ungemein Einleuchtendes“ (Sitta 1973:64) führt auch zu Begrenzung und Beschränkung der Textsortenforschung, da Textsortenbenennungen in der Kommunikationspraxis oft mehrdeutig, ungenau und komplex sind, was einhergeht mit Mehrfachzuordnungen durch Mehrdeutigkeit (z. B. Beitrag, Brief, Plan, Zettel). Die im Alltag entstandenen und verbreiteten Textsorten haben ihre Benennung im und aus dem Alltag erhalten,
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weil die Kommunikationsteilnehmer aufgrund bestimmter sprachlicher oder anderer Signale die Textsortenzuordnung intuitiv vorgenommen haben. So kann es in der gegenwärtigen Forschungslage durchaus akzeptabel sein, erst einmal eine politische Rede dem Kommunikationsbereich Politik zuzuordnen, sie aber durch Einflussnahme und Entscheidungen von Organisationen oder Institutionen in angepasster Form im Kommunikationsbereich Recht wieder zu finden, etwa als Textsorte Satzung (dazu auch Busse 2000). Die Einbeziehung der Kommunikationsbereiche in Klassifikationsmodelle deckt auch solche angenommenen Selbstverständlichkeiten wie Gleichwertigkeit von Produktion/Produzent und Rezeption/Rezipient bzw. Adressat eines Textes und damit die Zuordnung zu einer Textsorte als nicht immer haltbar auf. Diese einleitenden Bemerkungen verweisen darauf, dass die Tradition der Beschäftigung mit Textproduktion und -rezeption – und der damit verbundenen Klassifikationsproblematik – bis ins 20. Jahrhundert in Einzeldisziplinen, auf deren Kenntnisstand und unter Berücksichtigung des entsprechenden Fachinteresses entwickelt wurde. Mit der Etablierung der Textlinguistik zu einer eigenständigen wissenschaftstheoretischen Fachdisziplin in den 1970er Jahren wurden neben den traditionellen Texten und Textsorten auch neue Kommunikationsformen der Medien wie auch der vereinfachten kommunikativen Vernetzung in den Blick genommen, sodass für deren theoretische Einordnung, Beschreibung und Klassifikation neue Ordnungskriterien und neue Konzepte erforderlich wurden. Seit dieser Zeit kann man auch von detaillierten und umfassenden Bemühungen um die Klassifikation von Texten sprechen. Dabei ging es um eine genauere Charakterisierung der Einzeltexte, um ihre Abgrenzung von anderen Texten, um Klassenbildungen und die Einordnung solcher Textmengen in größere Zusammenhänge, um nur einige der damit in Verbindung stehenden Aufgaben zu nennen. Erwartet wurde also von der Wissenschaft die Erarbeitung einer eindeutigen theoretischen Texttypologie. Jede Typologisierung setzt sich das Ziel, die unendliche Vielfalt realer Texte auf eine überschaubare Menge von Grundtypen zu reduzieren, um auf diese Weise die kommunikative Praxis und letztlich auch gesellschaftliche Beziehungen und Strukturen durchschaubar zu machen (Heinemann & Viehweger 1991:145).
Denn kommunikative Ordnungen „hängen unmittelbar mit der Existenz einer Gesellschaft zusammen. Sie ergeben sich aus und sind notwendig zu der Interaktion“ (Große 1974:254). Im Folgenden sollen einige dieser texttypologischen Ansätze vorgestellt werden.
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2. Eindimensionale Texttypologien 2.1 Textklassenbildung auf der Grundlage gemeinsamer formaler Merkmale Angesichts der Dominanz grammatisch orientierter Theorieansätze in den 1970er Jahren war es fast folgerichtig, an Oberflächenstrukturen Markierungen für Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Texten zu untersuchen. Dazu gehörten unter anderem: x sprachliche Formeln und lexikalische Isotopien mit Signalcharakter; x pronominale Verkettungen als Grundlage für eine Grobdifferenzierung von emischen (strukturell geprägten) und ethischen Texten, für die auch sprachexterne Faktoren relevant sind (Harweg 1968); x das Kookurrieren bestimmter Tempus-Morpheme, das die Abhebung ‚erzählender‘ Texte von ‚besprechenden‘ Texten erlaubt (Weinrich 1969); x die Gesamtheit grammatischer und lexikalischer Oberflächensignale und ihre Frequenzen als Basis für eine Typologie (Mistrik 1973; auch Isenberg 1978). Diese sogenannten ‚Signal-Ansätze‘ (Franke 1991:164) gehen von unterschiedlichen, aber doch zumeist grammatischen Ansätzen aus, um einzelne grammatische Strukturen als charakteristisch für Klassen von Texten hervorzuheben. Nicht berücksichtigt wird dabei das Verhältnis der sprachlichen Merkmale von Textklassen zum jeweiligen Handlungs- und Situationskontext. Auch die Beziehungen der Merkmalskomplexe untereinander oder zu anderen Merkmalen bleiben weitgehend unberücksichtigt. Damit konnte keine übergreifende systemhafte Kennzeichnung von Textmengen erreicht werden, sie sollten aber als Vorformen von Typologien durchaus Beachtung finden (dazu W. Heinemann 2000b:525–528). Das Modell von Barbara Sandig (1972) ist davon abzuheben, da es einerseits noch zu den Signal-Ansätzen zu rechnen ist, andererseits geht es doch weit über die Erfassung und Aufzeichnung von formalen Kriterien hinaus. Ausgehend von der Komponentialitätsthese erstellt sie eine Matrix von 20 elementaren Merkmalen (z. B. gesprochen, spontan, räumlicher, zeitlicher und/oder akustischer Kontakt) und 18 schriftlichen und mündlichen Textsorten (z. B. Interview, Wetterbericht, Reklame). Hervorzuheben ist, dass hier textexterne und textinterne Merkmale in einer Matrix gemischt werden und damit offensichtlich eine Taxonomie von Textsorten mitbestimmen können, womit Sandig einen Ansatz für pragmatisch orientierte Typologien aufzeigt. Trotz der andauernden und in Teilen berechtigten Kritik zu den eher willkürlich
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ausgewählten Merkmalen und Textsorten (dazu Adamzik 2008) ist dieses Modell bevorzugt in der Lehre eingesetzt worden. Es ist „im Grunde nur ein methodisches Modell“ (W. Heinemann 2000b:528), aber darin könnte gerade seine Stärke gelegen haben. 2.2 Thematisch-inhaltliche Modelle Als Grundlage für diese weiterführenden Modelle dienen komplexe Textstrukturen in aktuellen Situationen, die Werlich „kontextueller Fokus“ benennt (1975:39f.). Er entwickelt auf dieser Grundlage fünf Texttypen: deskriptiv, narrativ, expositorisch, argumentativ, instruktiv. Diese können mit der aktuellen textlinguistischen Forschung als ‚Vertextungsmuster‘ verstanden werden. Diese Darstellung zeigt zumindest im Ansatz eine relativ homogene Ordnung. Wenn auch die fünf Texttypen eine idealisierte Form der Textrealität darstellen, werden sie gern als Ausgangsmodell für weitere Differenzierungen genutzt. So von van Dijk (1980), der eine propositionale Zuordnung von Textsorten als „globale Strukturen“ aufgrund von Textinhalten bevorzugt, die als Makrostrukturen die „globale Ordnung eines Textes festlegen“ (van Dijk 1980:131). Genauer untersucht werden bei van Dijk narrative und argumentative Strukturen, darüber hinaus benennt er nur „andere Texttypen“, sodass kein Gesamtmodell auf dieser Grundlage entwickelt werden konnte. 2.3 Situativ geprägte Text-Klassifizierungen Unter dem Einfluss der „pragmatischen Wende“ entstehen sogenannte Situationsmodelle, bei denen die äußeren Kommunikationsbedingungen, also die Situation und die daraus resultierende Hauptfunktion, im Mittelpunkt stehen. „Die Faktoren der kommunikativen Situation bestimmen die Textsorte“ (Diewald 1991:278). Sitta (1973) hatte allerdings angemahnt, dass ohne die Vorgabe eines Situationsmodells durch die Soziologie eine situationsadäquate Beschreibung einer Textsorte nicht zu bewerkstelligen sei. Die fünf „Grundtextsorten mit den Endpunkten Dialog und schriftlicher Monolog“ versucht Diewald (1991:298) über Deiktika zu differenzieren. Vorbild dafür sind die Arbeiten von Gülich & Raible (besonders 1975), die über Gemeinsamkeiten oder Unterschiede von Location und Tempus Situationstypen wie „Face-to-face-Kommunikation“ über „Tele-Kommunikation“ und „Aufzeichnungs-Kommunikation“ (1975:153) ermitteln (vgl. dazu auch Holly, in diesem Band). Allerdings hat sich diese Differenzierung höchstens als sekundäre Unterscheidungskomponente erwiesen, denn Intention und Funktion steuern primär die Kommunikation. Von Hempfer (1977) wurde eines der wenigen Situationsmodelle aus linguistischer Sicht auf der Grundlage der Sprechakttheorie entwickelt, das durch Ermert (1979) mit der „Kommunikations-
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form Brief“ eine Zusammenführung zwischen situativen und Funktionsmodellen bildet. 2.4 Funktionsmodelle Funktionsmodelle orientieren sich am kommunikativen „zielorientierten“ Funktionieren von Textklassen, gewöhnlich direkt oder indirekt angepasst an die Sprechakttheorie und ihre Prämissen. „Funktion“ wird damit nicht linguistisch syntaktisch-semantisch verstanden, sondern als kommunikative Realität, die sich in primäre, sekundäre und weitere Unterfunktionen untergliedern lässt. Auf diesem Wege entstehen teilweise recht umfangreiche Funktionshierarchien für alle denkbaren Texte. Allerdings kritisiert Adamzik (2008:362), dieser Ansatz erzwinge „geradezu die Beschränkung auf (verhältnismäßig einfache und eindeutige) Gebrauchstexte“. Das lässt sich auch an dem Schema von E. U. Große ablesen, in dem er acht Textklassen acht Textfunktionen gegenüber stellte: Textklasse
Textfunktion
Beispiele
1.
sachinformierende Texte
Informationstransfer
Nachricht, wiss. Texte
2.
auffordernde Texte
Aufforderungen
Gesuch, Werbung
3.
selbstdarstellende Texte
Kundgabe
Tagebuch, Biographie
4.
Kontakt-Texte
Kontakt-Funktion
Glückwunsch
5.
normative Texte
normative Funktion
Gesetze, Verträge
6.
gruppenindizierende Texte
gruppenindizierende Funktion
Gruppenlieder
7.
poetische Texte
poetische Funktion
Roman, Komödie
8.
Übergangsklasse
Doppel-Funktion
Gesetze (normative und inform. F.)
Abb. 1: Textfunktionen nach E. U. Große (1976:28)
Von Interesse ist dabei die ‚Übergangsklasse‘, für die gleichzeitig Aufforderung und Informationstransfer als dominierende Funktionen wirken können. Damit wird das Modell für Mehrfachzuordnungen eines Textes oder sogar einer Textsorte geöffnet, ein Aspekt, der in der aktuellen textlinguistischen Diskussion wieder aufgenommen wurde. In Anlehnung an E. U. Große entstehen hierarchische Funktionsmodelle einzelner Textsorten in Kommunikationsbereichen der Publizistik/Presse (Hundsnurscher 1984), Dialoge (Franke 1990) oder Gebrauchstextsorten, die vielfältiges anwendungsbereites Material bieten (z. B. Rolf 1993):
Abb. 2: Gebrauchstextsorten nach Rolf (1993:260) vorhabensbezogene rechtsquellenkonstituierende
verwaltungsaktbezogene verwaltungsaktbezogene transaktionsbezogene
reaktive
DIR5 DIR6
DIR7 DIR8 DIR9
DIR10
Gebrauchsanweisung
Datenschutzgesetzt
Runderlaß Haftbefehl
Börsenauftrag
Arztrechnung
Korrekturvorschriften
Gaststättengesetz
Verfügung
Vorladung
Kassenanweisung
Telefonrechnung
insistente
verfahrensbezogene
DIR4
Promotionsordnung
Zivilprozeßordnung
DIR11
verhaltensbezogene
DIR3
Anstandsregel
Sprachregel
Mahnschreiben
verhaltensbereichsbezogene
DIR2
Gefängnisordnung
Hallenordnung
Zahlungserinnerung
fallbezogene
DIR1
Einfuhrverbot Demonstrationsverbot
bei Zahlungspflicht auf seiten von R
bei Exekutionspflicht auf seiten von R
bei Legislationsgewalt auf seiten von P
bei Kontrollgewalt auf seiten von P
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Direktive Textsorten (= 2)
bindende (= 2.1) (2.2)
Textlinguistische Typologisierungsansätze
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2.5 Kritische Anmerkungen Die bisher in Auswahl vorgestellten Modellansätze sind noch deutlich einem innersprachlichen Vorgehen verhaftet, auch wenn Funktionen von Texten bzw. Textklassen und Kommunikationssituationen breiteren Raum einnehmen. Es sollten aber Modelle auf wissenschaftlichtheoretischer Basis mit einheitlichen Kriterien entwickelt werden, die für alle aktuellen und potentiellen Texte einen Zuordnungsrahmen bilden können. Am konsequentesten vertritt das Postulat einer theoretischen Fundierung einer Text-Typologie mit universell anwendbaren Kriterien Isenberg (1978). Er geht davon aus, dass eine konsequente Typologie auch konsequent alle potentiellen Texte und Textsorten (auf diesen Terminus beginnt man sich in der Literatur zu einigen) einbeziehen muss (Prinzip der Exhaustivität). Eine Typologisierung müsse unter einem einheitlichen Kriterium erfolgen (Prinzip der Homogenität), mit eindeutiger Zuordnung zur Vermeidung von Mehrfachzuordnung (Prinzip der Monotypie) und zum Ausschluss ambiguer Texte innerhalb eines Texttyps (Prinzip der Striktheit). Mit der zugrunde liegenden Auffassung der grundsätzlichen Prototypik von Texten ist dieses theoretische Modell nicht geeignet für eine praktikable Erfassung aller potentiellen Texte, obwohl Isenberg selbst darauf verweist, dass die Kriterien nicht gleichzeitig und gleichwertig zu erfüllen sind. Isenberg stellt das Prinzip der Homogenität in seinem Modell von 1983 selbst infrage und hält für eine umfassende Klassifikation von Texten mehrere Typologieansätze für möglich und sogar für sinnvoll. So kritisch Isenbergs Modelle in ihrer Praktikabilität auch zu sehen sind, haben sie die Diskussion um Texttypologien wesentlich beeinflusst und beeinflussen sie noch. 3. Mehrdimensionale Klassifizierungsansätze Auf der Grundlage der Kritik an den eindimensionalen Ansätzen gehen Heinemann & Viehweger (1991) „von der Annahme aus, daß das Textmusterwissen durch multidimensionale Zuordnungen von prototypischen Repräsentationen auf unterschiedlichen Ebenen (Schichten) zustandekommt“ (1991:147) und entwickeln auf dieser Grundlage ihr Mehr-Ebenen-Modell (siehe Abb. 3). Eine annähernd zureichende Kennzeichnung von Texten wird erst durch die Erfassung von spezifischen Merkmalen auf allen Typologisierungsebenen möglich. Textsorten sind demnach Bündelungen von Merkmalen auf verschiedenen Ebenen, die es zu erforschen und zu definieren gilt. Den einzelnen Ebenen kann bei der Charakterisierung
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Text-Typologisierungsebenen I
Funktionstypen
II
Situationstypen
III
Verfahrenstypen
IV
Text-Strukturierungstypen
V
prototypische Formulierungsmuster
Abb. 3: Text-Typologisierungsebenen nach Heinemann & Viehweger (1991:147)
von Textexemplaren einer Textsorte unterschiedliches Gewicht zukommen, bei einer Bitte dominiert sicher der funktionale Aspekt, allerdings sind die Merkmale der anderen Ebenen immer mitgesetzt und nicht wegzulassen. Das gilt in hohem Maße für die Situationstypen, andererseits sind Verfahrens- und Strukturierungstypen in komplexen Texten für die Verstehenssicherung oft entscheidend. Das heißt, Texte unterliegen einer Mehrfachklassifizierung als Situationstypen, Funktionstypen, Textthemenentfaltungstypen, mediale Typen (nach Adamzik 1995:34). Gleichfalls eine mehrdimensionale Text-Klassifikation stellen Gansel & Jürgens (2007) zusammen. Sie unterscheiden zunächst strikt zwischen einer horizontalen Typologisierung und einer hierarchisch abgestuften vertikalen Textklassifikation (Gansel & Jürgens 2007:68). Texttypen definieren sie als „Zusammenfassungen von Texten, die quer zu Textsorten in verschiedenen Kommunikationsbereichen verlaufen“, z. B. Narration, Deskription, Argumentation, die ausschließlich mit Hilfe linguistischer Kriterien beschrieben werden können, werden
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so abgehoben von der eigentlichen Textklassifikation (Gansel & Jürgens 2007:69). Die Autoren gehen davon aus, dass Kommunikationsbereiche wie Alltag, Rechtswesen, Schule u. a. m. als Dominanten fungieren, an denen „sich eine Hierarchie von Texten ausrichtet“ (Gansel & Jürgens 2007:70). In Anlehnung an die biologische Systematik (Reich, Abteilung/Unterabteilung, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art) konstituieren sie eine analoge Texthierarchie, die von Textklassen über Textordnungen, Textfamilien, Textsorten und Textarten (als Textsortenvarianten) reicht. Als das eigentliche Zentrum der Texthierarchie betrachten sie die Textsorten, die in diesem Modell im Sinne „einer systemtheoretischen Reformulierung“ untergliedert werden in „Kerntextsorten“ – das sind funktional ausdifferenzierte gesellschaftliche Teilsysteme wie z. B. Gesetze. Dazu kommen „Textsorten der Anschlusskommunikation“, „die die Reaktion auf das Kommunikationsangebot des eigenen Systems bedeuten und diese erfordern“ (2007:78), zu denen z. B. Gutachten im universitären Bereich gerechnet werden. Und schließlich werden „Textsorten der strukturellen Kopplung“ differenziert, die der Konstitution fester Beziehungen zwischen (Teil-)Systemen dienen, etwa zwischen Schule und Familie oder in der Verwaltungskommunikation. Diese stark differenzierte hierarchische Klassifikation ziele nicht auf eine vollständige Erfassung aller Textsorten der unterschiedlichsten Kommunikationsbereiche, sondern diene als Modell dem Erkenntniszuwachs im Hinblick auf die Ausdifferenzierung von Textsorten. Kritisch muss dazu angemerkt werden, dass solche starren hierarchischen Ordnungen nicht den realen Gegebenheiten von Textklassifikationen in der kommunikativen Praxis entsprechen (vgl. dazu Abschnitt 4). Kommunikationsbereiche können zwar im Sinne Luhmanns (1988) als soziale Teilsysteme angesehen werden (fraglich ist allerdings, ob sie tatsächlich „operieren“), sie stellen aber nur den Rahmen, z. T. sicher auch bestimmte Bedingungsgefüge, dar für das kommunikative Handeln der Individuen. Das gilt aber kaum für Textklassifikationen, die – im Sinne der Systemtheorie – zu den kognitiven Phänomenen mit allen ihren Vagheiten und Unschärfen zu rechnen wären. „Biologische Systeme können daher kein Vorbild sein“ für Textdifferenzierungen (Adamzik 2008:162). 4. Pragmatische Textklassifizierungsmodelle Im Gegensatz zu den Funktionsmodellen, die sich vorrangig auf das Funktionieren von Einzeltexten in der Interaktion beziehen, steht der Terminus pragmatisch hier für das praktische Herstellen von Text-
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Klassifikationen durch Klassifikatoren. Es geht vordergründig um die Frage, wann, unter welchen Voraussetzungen, zu welchen Zwecken überhaupt Textklassifikationen eines bestimmen Typs generiert werden. Die kommunikative Praxis zeigt, dass Typologien immer nur aus konkreten Anlässen und für bestimmte Zwecke aufgestellt werden, um den Kommunizierenden Orientierungshilfen zu geben für die Lösung praktischer kommunikativer Aufgaben in einem bestimmten Bereich. Denn Text-Klassifikationen sind „für unsere kommunikative Praxis und für die Strukturierungen des sozialen Lebens von zentraler Bedeutung“ (Kallmeyer 1986:7). Aufgabe solcher Teil-Typologien kann daher nicht (oder nur in Ausnahmefällen) die theoretische Explikation eines universellen Modells der Text-Typologie sein, sondern das Modellieren realer Gegebenheiten des Kommunizierens. In der kommunikativen Praxis wird ein in sich geschlossenes, exhaustives und widerspruchsfreies System der Text-Typologie nicht gebraucht, es wäre „weder praktisch noch theoretisch nützlich“ (Adamzik 1995:39). Basiselemente für pragmatische Text-Klassifikationen sind Textsorten. Sie stellen eine von denkbar vielen Textklassen dar, wobei der Terminus Textklasse allgemein und unspezifisch verstanden wird als Gesamtheit von potentiellen Textmengen unterschiedlicher Art, wozu auch spielerisch-unsinnige Zusammenstellungen wie „alle Texte mit A am Anfang“ oder „alle Texte auf rotem Papier“ usw. zu rechnen sind. Textsorten sind nur eine spezifische Klasse, gekennzeichnet durch eine Vielzahl konkreter Merkmale mit niedriger Abstraktionsstufe im Rahmen eines relativ begrenzten Geltungsbereichs. Den Gegenpol in einer hierarchischen Ordnung von Textklassen bilden Texttypen. Sie weisen nur wenige Merkmale auf, gelten aber für relativ umfangreiche kommunikative Bereiche und stehen an der Spitze der jeweiligen Klassifikationshierarchie (z. B. politische Texte, didaktische Texte, Texte des Alltags usw.). Zwischen beiden Polen einer abstrakten Textklassenhierarchie ergeben sich in der Praxis noch verschiedene Zwischenstufen für den Geltungsbereich wie auch für die Anzahl der Gemeinsamkeiten (z. B. naturwissenschaftliche Texte mit Bezug auf den Texttyp Schrifttext). Für diese Zwischenstufen unterschiedlichen Grades verwenden Heinemann & Heinemann (2002:143) den Terminus Textsortenklasse (siehe Abb. 4). Dieses einfache Schema einer pragmatisch hierarchisch geordneten Klassifikation ist kein Absolutum, es variiert von Typologie zu Typologie, bedingt durch den konkreten Zweck, den der Klassifikator anstrebt. Texttyp und Textsortenklassen ändern sich, nur die Textsorte erweist sich als relative Konstante.
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Text-Typ
informierender Text
Schrift-Text
Textsortenklasse 2
Schrift-Text
Rechts-Text
Textsortenklasse 1
Zeitungs-Text
Text der Rechtsfestlegung
TEXTSORTE
Wetterbericht
Verordnung
Textsortenvariante
Reisewetterbericht
Straßenverkehrs-Ordnung
Abb. 4: Textsortenklassen nach Heinemann & Heinemann (2002:143)
Wie beim Bücher-Sortieren kann man Texte also in unterschiedlicher Weise bündeln und ordnen, immer in Abhängigkeit davon, was der jeweils Ordnende für zweckmäßig und notwendig hält. Dabei ist wichtig, dass eine Textsorte auch mehreren Großklassen zugeordnet werden kann, z. B. die Textsorte Wetterbericht als Schrifttext, als Fachtext, als Pressetext usw. Es ist also durchaus möglich, eine anerkannt juristische Textsorte wie das Testament (M. Heinemann 2000:604–614) in der Alltagskommunikation zu verorten, solange man nur darüber spricht, sich Notizen macht, einen Entwurf immer wieder korrigiert oder sogar einen fertigen Text als Privatperson bei sich behält. Erst wenn der Text gefunden, von Dritten gelesen, beim Gericht hinterlegt oder als Kopie mit entsprechender Überschrift und entsprechenden Formulierungsmustern an Nachfolger weitergegeben wird, bekommt der Text juristische Dimension zugesprochen, da das Testament seine „wesentliche Funktion ausschließlich im Kontext der Institution Recht entfaltet“ (Busse 2000:664). Ob der Text dann tatsächlich den Anforderungen an die juristische Textsorte Testament genügt, entscheiden wiederum Angehörige des Rechtswesens. Damit soll noch einmal betont werden, dass Kommunikationsteilnehmer Textsorten benutzen und damit für ihre kommunikativen Zwecke variieren können. Das setzt allerdings voraus, dass ein bestimmtes Grundwissen über Textsorten und entsprechende Formulierungsmuster bei den Kommunizierenden vorhanden sein müssen.
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In der kommunikativen Praxis treten statt Hierarchien eher Paarungen, Reihungen und Gruppierungen auf (Heinemann & Heinemann 2002:161f.), damit lassen sich Klassenspezifika für Kommunikationsbereiche gut herausarbeiten (vgl. auch Adamzik, in diesem Band). Sie existieren sowohl in der Alltagskommunikation wie auch in der offiziell-institutionellen Kommunikation und sind ein Hilfsmittel, um die umgebende Textwelt transparenter und damit verständlicher zu machen. An ihnen kann man Textorganisationsprinzipien ablesen, die sich durch das Mit- und Nacheinander bestimmter Textsorten ergeben: Bewerbung – Lebenslauf, Antrag – Bewilligung bzw. Ablehnung, Buchpublikation – Rezension. Eine derartige Kombinationsmöglichkeit bieten vor allem gut strukturierte Kommunikationsbereiche wie Politik, Recht und Verwaltung, Naturwissenschaft und Technik, Erziehung und Bildung. Man kann auch von ganzen Textsortenreihen ausgehen, wie es bei der Verabschiedung eines Gesetzes auf Parlamentsebene üblich ist (Klein 2000). Derartige additive Reihungen sind auch in der mündlichen Kommunikation nicht ausgeschlossen: Frage – Antwort – Widerspruch – Erklärung – Bestätigung usw., wobei allerdings eingeschränkt werden muss, dass es sich hier eher um Teil-Textsorten handelt, die sich aber je nach Kommunikationsbereich (familiär – kollegial – öffentlich) zu komplexeren Textsorten ausweiten können. Kommunikationsbereiche sind kein Raster und nur bedingt musterhaft, in einer Klassifikation sind sie auf verschiedenen Hierarchiestufen anzusiedeln und in Bezug auf Textklassen auf verschiedenen Ebenen zu unterscheiden, weil der Einfluss des kommunikativen Umfelds in Form von Kommunikationsbereichen unterschiedlich wirkt und bei disparaten Bereichen wie Alltag – Wissenschaft anders einzuschätzen ist als in Bereichen wie Rechtswesen – Verwaltung. Es wäre nun verfehlt, Kommunikationsbereiche als typologisches, als systemisches Klassifikationsmerkmal (z. B. Rolf 1993) einzuführen; dazu sind die Erkenntnisse über die notwendige Flexibilität von Klassifikationsbemühungen zu nachhaltig (u. a. Adamzik 2008), aber sie entsprechen der gesellschaftlichen Realität, es wäre wenig überzeugend, auf die Einbindung des gesellschaftlichen Umfelds bei Text-Fragen zu verzichten. Vor diesem Hintergrund kann auch die soziale Rolle der Sprachhandelnden besser eingeschätzt werden, da sie einerseits von unterschiedlichen Individuen realisiert wird und damit individuellen Unterschieden unterliegt, andererseits im Alltagswissen – wenn teilweise auch lückenhaft – ein entsprechendes Musterwissen verankert ist, das sich situativ entwickeln oder auch reaktiviert werden kann. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass sich bei stark wechselnden Situationsbedingungen auch das soziale Rollenverhalten ändert, etwa unter Einfluss von Angst, Schmerzen, Freude die kommunikative Fähigkeit
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eingeschränkt wird und damit zu Fehlverhalten tendieren kann. Die Forderung nach einer „Beschreibungskategorie“ als „Kriterium der Einbettung von Textsorten in umfassendere kommunikative Strukturen und ihre Vernetztheit miteinander“ (Adamzik 2000:109) kann nicht modellhaft geregelt werden, sondern muss immer von neuem erarbeitet werden. Es muss hier angemerkt werden, dass Kommunikationsbereiche im Sinne von ‚Kommunikationssituationen‘ zu verstehen sind, also nicht mit den bekannten fünf funktionalstilistischen „Stilen der öffentlichen Rede, der Wissenschaft, der Presse und Publizistik, der Alltagsrede und der schönen Literatur“ zu verwechseln sind (kritisch dazu Adamzik 2004:69f.). Die stärkere Einbeziehung des situativen Kontextes durch die Ebene der Kommunikationsbereiche könnte auch den Weg zu den Nachbardisziplinen, den Textwissenschaften wie Literaturwissenschaft, Religion, Altertumswissenschaften erleichtern. Ebenso wäre eine Einbeziehung von Übersetzungswissenschaft und Didaktik sinnvoll, da mit der Einbindung der Kommunikationsbereiche die Zweckbestimmtheit von Texten und Textsorten nicht erst im Nachgang festgestellt werden muss, sondern auch als Voraussetzung für eine angemessene Textproduktion von Bedeutung ist. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass nur eine geringe Auswahl von Texten als Diktat, Prüfungs- oder Übersetzungstext ohne Bearbeitung geeignet erscheint. Die Anmerkungen zur Einbindung von Kommunikationsbereichen in pragmatische Klassifikationsmodelle wie auch Textsortenpaarungen bzw. -reihungen lassen sich gut in Mehrebenenmodelle einbinden, allerdings nicht statisch festgelegt auf einer Ebene, sondern als weitere Textsortenklasse: Text-Typ Textsortenklasse 3 Textsortenklasse 2 Textsortenklasse 1
Informationstext Schrift-Text/Rede-Bild-Text/Ikons Printmedien/Fernsehen/Internet Wetterbericht/Wettervorhersage
Pragmatisch orientierte Mehrebenenmodelle sind nur ein Weg zu praktikablen Textklassifikationen, die aber Möglichkeiten eröffnen für die Erfassung der realen Textwelten. 5. Ausblick Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine umfassend homogene, monotypische, strikte und exhaustive Texttypologie aus heutiger Sicht nicht zweckorientiert realisierbar ist. Der erhoffte Nutzen für die Entwicklung überzeugender Klassifikationsmodelle hat sich bisher
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nicht ergeben, was nicht ausschließt, dass für kleinere kommunikativsoziale Bereiche ein weiterer Versuch mit diesem Modell gemacht wird, denn die darin enthaltene theoretische Konsequenz hat auch etwas Beeindruckendes. Wir gehen davon aus, dass alle in der Praxis vorkommenden Textklassifikationen zweckorientiert sind: Man will (oder muss aus bestimmten Gründen) einen Überblick über Textproduktionsund Textrezeptionshandlungen gewinnen, die variabel kommunizierbar sind, aber auch nicht statisch allen Anforderungen gerecht werden müssen. Textklassifikationen können nie vollständig im Sinne eines strikt geordneten hierarchischen Systems sein und auf Dauer existieren. Als Teil des kommunikativen Wandels unterliegen auch sie diesem Wandel, wie uns neue Textklassen unter dem Einfluss der „neuen Medien“ eindrucksvoll bewiesen haben. Textklassen, einschließlich der Textsorten, sind als kognitive Merkmalbündel von Individuen konstituiert und damit nicht absolut und exakt beschreibbar. Vagheiten und Unschärfen aller kognitiven Einheiten müssen daher als relevante Merkmale gelten. Textsorten sind „wegen der Vagheit und Variabilität der durch sie repräsentierten kommunikativen Muster/Textmuster nach Anzahl und Umfang nicht exakt festlegbar“ (W. Heinemann 2000b:541). 6. Literaturverzeichnis Adamzik, Kirsten (Hg.): Textsorten – Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster 1995. Adamzik, Kirsten: „Was ist pragmatisch orientierte Textsortenforschung?“ In: Textsorten. Reflexionen und Analysen. Hg. v. Kirsten Adamzik. Tübingen 2000, 91–112. Adamzik, Kirsten: Textlinguistik – Eine einführende Darstellung. Tübingen 2004. Adamzik, Kirsten: „Textsorten und ihre Beschreibung.“ In: Textlinguistik. 15 Einführungen. Hg. v. Nina Janich. Tübingen 2008, 145–175. Busse, Dietrich: „Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz.“ In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Textlinguistik Halbb. 2. Hg. v. Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u. Sven Frederik Sager. Berlin, New York 2000, 658–675. Diewald, Gabriele Maria: Deixis und Textsorten im Deutschen. Tübingen 1991. van Dijk, Teun A.: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen, München 1980. Ermert, Karl: Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen 1979. Fix, Ulla: „Interdisziplinäre Bezüge der Textsortenlinguistik.“ In: Schriftliche und mündliche Kommunikation. Begriffe – Methoden – Analysen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Brinker. Hg. v. Jörg Hagemann u. Sven F. Sager. Tübingen 2003, 89–100.
Textlinguistische Typologisierungsansätze
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Kommunikative Gattungen, mediale Gattungen Ruth Ayaß (Klagenfurt) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wissenschaftshistorischer Hintergrund Gattungen als Lösung kommunikativer Probleme Zur Analyse kommunikativer Gattungen Mediale Gattungen Ausblick Literaturverzeichnis
1. Wissenschaftshistorischer Hintergrund Der Kontext, in welchem der Ansatz der kommunikativen Gattungen entstanden ist, ist präzise eingrenzt – und datierbar: In dem von Jörg Bergmann und Thomas Luckmann geleiteten DFG-Projekt „Rekonstruktive Gattungen“1 wurde der Begriff der kommunikativen Gattungen systematisch entwickelt und in empirischen Analysen begründet. Der Begriff der kommunikativen Gattungen ist damit ein theoretisches Konzept, das von Beginn an in einer empirischen Fragestellung wurzelte. Zwei Publikationen können als Ausgangstexte bestimmt werden: Luckmanns theoretische Begründung des Begriffs (1986) sowie Bergmanns empirische Untersuchung von Klatsch als einer kommunikativen Gattung (1987). Für die Entwicklung des Ansatzes spielten Auseinandersetzungen mit der Linguistik, der Anthropologie, der Literaturwissenschaft und der Volkskunde sowie der Ethnographie (des Sprechens) eine entscheidende Rolle. Von ihnen erhält die entstehende Theorie kommunikativer Gattungen wesentliche Impulse, zugleich grenzt sie sich von ihnen ab. Der Gattungsbegriff steht in enger Verbindung mit der Textsortenlinguistik, mit der die Gattungsanalyse den Gegenstand teilt (verfestigte Formen der Kommunikation), von der sich die Gattungsanalyse aber abgrenzt. An der Textsortenlinguistik (der 1960er und 1970er Jahre) wurde vor allem ein (zu) enges Textverständnis kritisiert, das zu wenig auf Formen der mündlichen Realisierung und konkreten Durchführung achtete. Hier ging die Kritik Hand in Hand mit prominenten Vertretern ————— 1
DFG-Projekt „Strukturen und Funktionen von rekonstruktiven Gattungen der alltäglichen Kommunikation“. Leitung: Jörg Bergmann, Thomas Luckmann. Universität Konstanz. 1984–1989. An diesem Projekt waren Angela Keppler, Hubert Knoblauch und Bernd Ulmer beteiligt.
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der Soziolinguistik, z. B. von Elisabeth Gülich (1986), die an der zumeist praktizierten, positivistischen Form der Textsortenanalyse eine fehlende Orientierung an der „kommunikativen Praxis“ der Teilnehmer bemängelt (1986:19). Gülich betont, dass „Textsorten für die Kommunikationsteilnehmer nicht starr vorgegebene Orientierungsrahmen sind, sondern interaktiv etabliert werden“ (1986:39). Sehr eng war auch die Anknüpfung an die linguistische Erzählforschung (zum Beispiel Ehlich 1980; Labov & Waletzky 1973; Quasthoff 1980), in der die Strukturen mündlicher Erzählungen untersucht wurden. Anders als etwa in der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie spielten in der linguistischen Erzählforschung schon früh Verlaufsstrukturen und Verfestigungen mündlicher Kommunikation eine Rolle. Hingegen setzt sich der Ansatz von der Sprechakttheorie deutlich ab. Die Sprechakttheorie weist einzelnen Äußerungen Funktionen zu, ohne diese in ihren Kontext einzubetten. Für die Analyse kommunikativer Gattungen war hingegen von Beginn an die situative Einbettung der kommunikativen Form sowie die interaktive Generierung von Gattungen wichtig. Zwei weitere Traditionen, an die die Gattungsforschung anknüpft, sind die deutsche Volkskunde und die amerikanische Anthropologie. In beiden Disziplinen spielten – bei unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden – mündliche Gattungen eine bedeutende Rolle. Ein prominenter Vertreter für die Forschungen der deutschen Volkskunde ist Jolles. Jolles (1968) untersuchte zum Beispiel das Märchen, den Witz, die Legende, das Rätsel etc. als Formen mündlicher Kommunikation. Jeder dieser „einfachen Formen“ ordnete er eine eigene Geistesbeschäftigung zu, dem Rätsel etwa das Wissen und dem Spruch die Erfahrung. Für Jolles und andere Vertreter der klassischen Volkskunde ist noch eine sehr klassifikatorische Herangehensweise an mündliche Formen typisch. Dies ändert sich in der amerikanischen linguistischen Anthropologie. Hier entstand in den 1960er Jahren eine neue Disziplin, die so genannte Ethnographie des Sprechens. Die Ethnographie des Sprechens widmete sich ausführlich den empirischen Formen mündlicher Kommunikation in fremden Kulturen. Dell Hymes, auf den die Disziplin zurückgeht, prägte dafür den Begriff des ‚Sprechereignisses‘, des „speech event“. Die Ethnographie des Sprechens brachte zahlreiche Untersuchungen hervor, in denen solche Sprechereignisse beschrieben wurden (vgl. die Untersuchungen in Gumperz & Hymes 1964 und 1972; Bauman & Sherzer 1974; Ben-Amos 1976). Hier wurden zum Beispiel Begrüßungsrituale bei den Wolof beschrieben (Irvine 1974), zeremonielle Sprechereignisse bei den Cuna in Panama (Sherzer 1974) oder weibliche und männliche Sprechweisen auf Madagaskar (Keenan 1974). Hymes’ Ziel war eine Beschreibung der kommunikativen Repertoires („speech economy“) von Gesellschaften,
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in denen sich die einzelnen kommunikativen Formen zu einem Gesamt zusammenfügen (Hymes 1979). Für die Ausrichtung des Projekts war auch die Literaturwissenschaft von Bedeutung (insbesondere die Konstanzer Rezeptionsästhetik und dort v. a. Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß), insofern als in der Rezeptionsästhetik das Zusammentreffen von Leser und Text eine entscheidende Rolle spielt und von den Leserrollen gesprochen wird, die der literarische Text im impliziten Leser dem Rezipienten bereitstellt (Iser 1984:61ff.). Darüber hinaus war natürlich auch eine Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Perspektive auf literarische Gattungen relevant, zum Beispiel mit Jauß’ Text „Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters“ (1972). Weitere literaturwissenschaftliche Anregungen und Impulse stammen aus dem Werk des russischen Literaturwissenschaftlers Mikhail Bakhtin. Seine Ausführungen zu „speech genres“ sind deswegen so bedeutsam, weil er sich – neben seinen Auseinandersetzungen mit den Texten Dostojewskis und Rabelais’ zum Beispiel, mit literarischer Fiktion also – schon in den 1950er Jahren mit Gattungen mündlicher Kommunikation befasste: Speech genres organize our speech in almost the same way as grammatical (syntactical) forms do. We learn to cast our speech in generic forms and, when hearing others’ speech, we guess its genre from the very first words; we predict a certain length […] and a certain compositional structure; we foresee the end; that is, from the very beginning we have a sense of the speech whole […]. (Bakhtin 1986:78f.)
Die mündliche Überlieferung von Vergangenheit in fest gefügten Formen war schon früh Gegenstand der Volkskunde und Ethnologie, etwa bei Milman Parrys Analysen der formulaischen Strukturen der homerischen Metrik (Parry 1928) oder Albert B. Lords Analysen der epischen Strukturen in den Gesängen der Ilias und Odyssee (1960). Die Analyse der kommunikativen Gattungen baut auf all diesen Ansätzen auf, entwickelt den Gattungsbegriff aber weiter. Unter Gattungen werden zunächst verfestigte Formen mündlicher Kommunikation verstanden. Ziel des Ansatzes ist die Beschreibung der Gattung – ihrer wiederkehrenden internen Merkmale, ihrer konstitutiven und variablen Elemente, ihres sequentiellen Verlaufs, ihrer (äußeren) Merkmale wie z. B. Teilnehmerstruktur, ihrer situativen Einbettung in den interaktiven Kontext. Gattungen werden dabei nicht um ihrer selbst Willen beschrieben. Ein bloß deskriptiver Zugriff ist nicht das Ziel. Es geht zusätzlich darum aufzuzeigen, welche Funktion kommunikative Gattungen für ihre Gesellschaften haben. Die Methode, die hierfür verwendet wird, ist die ethnomethodologische Konversationsanalyse. Im Folgenden werden diese Punkte erläutert und diskutiert. Zunächst erfolgt eine Darstellung der Funktion kommunikativer Gattun-
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gen (Abschnitt 2). Es schließt sich eine ausführliche Diskussion an, in der auch Beispiele aus empirischen Einzeluntersuchungen gegeben werden (Abschnitt 3). Der vierte Abschnitt widmet sich der Weiterentwicklung des Ansatzes hin zu einer Theorie medialer Gattungen. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Diskussion und kritischen Würdigung. 2. Gattungen als Lösung kommunikativer Probleme Was ist nun die Funktion solcher Gattungen? Wieso verwenden sozial Handelnde kommunikative Gattungen? Wenn Menschen bestimmte Dinge regelmäßig tun – ob nun freiwillig oder aus bestimmten Notwendigkeiten heraus – so ‚erfinden‘ sie ihre Wege, dies zu tun, nicht jedes Mal neu, sondern sie greifen auf Verfestigungen oder Muster zurück, die sich dafür bewährt haben. Solche Muster haben mehrere Vorteile: Sie bieten zum einen eine Lösung für das zu Bewältigende, die sich schon (mindestens) einmal bewährt hat, das heißt, sie bieten eine realistische Chance, dass das zu Bewältigende auch tatsächlich bewältigt werden kann. Zum anderen stabilisieren solche wiederkehrenden Muster soziale Situationen: Man muss nicht jedes Mal mühsam von vorne überlegen und entscheiden, was zu tun ist, sondern greift auf eben jenes bewährte Muster zurück. Muster entlasten die Akteure von Entscheidungsdruck. Aber auch für die anderen an der sozialen Situation Beteiligten gilt, dass sie sich somit an Erprobtem orientieren und sich darauf einstellen können. Das Zurückgreifen auf Muster bietet den Akteuren Verhaltenssicherheit. Ein einfaches Beispiel: Interagierende wissen, was eine Begrüßung ist, sie wissen auch, wann man sie durchführt, wann sie erwartet wird und wie man wen grüßt. Sie wissen ebenso, dass ein Gruß eine Reaktion erwartbar macht, auch wenn sie den Begriff der Reziprozität nicht kennen. Und sie wissen, dass ein Ausbleiben einer Begrüßung oder das Ignorieren eines Grußes als schlechtes Benehmen gilt und als arrogantes oder unhöfliches Verhalten interpretiert werden kann. Muster und Verfestigungen können verschiedene Grade an Verbindlichkeit annehmen, und sie können sich auf verschiedene Bereiche des sozialen Lebens beziehen. Sie werden normalerweise als Routinen, als Regeln oder als Rituale beschrieben. Solche Verfestigungen finden sich in allen Gesellschaften, zu allen Zeiten. Sie strukturieren das soziale Leben, und sie bilden die Grundlage für Prozesse der Institutionalisierung (siehe hierzu ausführlicher Berger & Luckmann 1986:49–98). Vor diesem Hintergrund werden die Funktionen von kommunikativen Gattungen deutlich: Kommunikative Gattungen sind verfestigte Formen kommunikativen Handelns, auf die Interagierende zurückgrei-
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fen können, um wiederkehrende soziale Situationen zu bewältigen. Die Analogie zu Institutionen darf aber nicht überstrapaziert werden: Tatsächlich können kommunikative Gattungen in einer für Soziologen naheliegenden Weise in Analogie zu gesellschaftlichen Institutionen verstanden werden – solange man einen wesentlichen Unterschied nicht vergißt. Gesellschaftliche Institutionen sind mehr oder minder wirksame und verbindliche ‚Lösungen‘ für ‚Probleme‘ gesellschaftlichen Lebens. Kommunikative Gattungen sind dagegen mehr oder minder wirksame und verbindliche ‚Lösungen‘ von spezifisch kommunikativen ‚Problemen‘. (Luckmann 1986:202)
Gattungen stellen also verfestigte Lösungen von wiederkehrenden kommunikativen Problemen dar. In Luckmanns Ausführungen wird immer wieder deutlich, dass die Analyse kommunikativer Gattungen eine wissenssoziologische Fragestellung enthält, sie kann also nicht nur einen ‚einfachen‘ sprachsoziologischen Zweck haben. Vielmehr stellt sich die – wissenssoziologische – Frage „nach der allgemeinen Struktur der kommunikativen Vorgänge […], in denen Wissensbestände verschiedenen Explizitheitsgrades vermittelt werden“ (1986:194). Es geht mithin um nichts Anderes als die kommunikativen Vorgänge, in denen soziale Wirklichkeit erzeugt und vermittelt wird. Kommunikative Gattungen sind „verfestigte Formen ihrer Vermittlung“ (1986:196). Im Konzept der kommunikativen Gattungen kommt zur festen Verlaufsstruktur und einer bestimmten Teilnehmerkonstellation aber auch immer hinzu, dass die Gattung ein bestimmtes, partikulares kommunikatives Problem löst. In Begrüßungen wird zum einen eine wechselseitige Wahrnehmung erzeugt und demonstriert, zum anderen wird in der Begrüßung die soziale Relation der Teilnehmer untereinander wieder hergestellt und bestätigt. Man begrüßt den Vorgesetzten anders als den Briefträger an der Haustür, man begrüßt aber auch ein und dasselbe Familienmitglied anders, wenn man es abends zum Essen wieder sieht, als wenn ein Jahr seit der letzten Begegnung vergangen ist oder einer von beiden eine gefährliche Reise gemacht hat etc. Wer wann wen wie grüßt, ist ein alltagspraktisches Wissen, über das die Interagierenden selbst verfügen. Es ist ein Wissen, das im Wissensvorrat alltäglich Interagierender verankert ist. 3. Zur Analyse kommunikativer Gattungen Die Analyse kommunikativer Gattungen versteht sich also nicht als eine einfache Formbeschreibung kommunikativer Verlaufsstrukturen. Immer muss die Frage danach gestellt werden, welches Problem die jeweilige Gattung löst. Ein Beispiel aus einer empirischen Untersuchung über die kommunikative Gattung Klatsch: Bergmann (1987)
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beschreibt die Teilnehmerstruktur als „Klatschtriade“. Es gehören mindestens zwei Interagierende zur sozialen Situation – alleine kann man nicht klatschen. Aber es muss immer auch eine dritte Person eine Rolle spielen: das Klatschopfer. Dieses ist abwesend, aber Teil der Triade. Neben dieser typischen Teilnehmerstruktur beschreibt Bergmann des Weiteren, welchen typischen Verlauf Klatschgespräche nehmen: Das Klatschopfer muss zum Beispiel vorsichtig eingeführt und als Thema etabliert werden, dies geschieht in der Regel durch das Thematisieren unverfänglicher Details (‚Die Theissens sind ausgezogen, ne?‘; siehe Bergmann 1987:118). Die Klatschakteure verwenden aber auch ein typisches „Inventar“. Zu diesem Inventar gehört zum Beispiel die Wiedergabe ganzer Dialoge, in denen das moralisch fragwürdige Verhalten des Klatschopfers detailliert ausgebreitet und bewertet wird. Dazu gehört aber auch, dass sich die Teilnehmer als nur ‚unschuldige‘ Zeugen darstellen, die ohne ihr Zutun zu diesem Wissen, das sie gerade wiedergeben, gelangt sind (‚Und Sonntag früh sitz‘ ich auf der Toilette. Mit einem Mal hör ich die da oben wieder …‘; siehe Bergmann 1987:143). Im Klatsch lösen die Teilnehmer das kommunikative Problem der Indiskretion. Es ist schließlich durchaus riskant, schlecht über eine abwesende Person zu sprechen. In jeder Gesellschaft stellt sich das elementare Problem, wie Ereignisse, Sachverhalte, Wissensinhalte und Erfahrungen in intersubjektiv verbindlicher Weise unter verschiedenen Sinnkriterien thematisiert, vermittelt, bewältigt und tradiert werden können. Für diese Probleme muss es […] organisierte, d. h. nicht-zufällige Lösungen geben. (Bergmann 1987:39)
Luckmann schlägt für die Gattungsforschung zwei Ebenen der Analyse vor: die Binnen- und die Außenstruktur (1986:203ff.). Die Binnenstruktur bildet quasi die materiale Basis für kommunikative Gattungen. Zu ihr zählen jene kommunikativen Elemente, die zur Realisierung der Gattung seitens der Akteure benutzt werden: rhetorische Mittel, Stilmittel, aber auch Lautmelodien und andere prosodische Elemente, Wortwahl, Register usf. Gattungen unterscheiden sich auch danach, welche binnenstrukturellen Elemente verwendet werden können oder müssen, wie verbindlich diese sind und welche Position sie im Verlauf der Gattung innehaben. Die Binnenstruktur setzt sich also aus verschiedenen Elementen zusammen, deren Verbindlichkeitsgrad sich durch die Gattung ergibt. Zur Binnenstruktur des Klatsches zählt zum Beispiel das Nachspielen oder Nachäffen des Klatschopfers in Dialogzitaten. Zur Außenstruktur zählen jene Elemente, welche die Gattung quasi von außen bestimmen – die soziale Situation, die Teilnehmerkonstellation und das kommunikative Milieu. Die Außenstruktur ist die Ebene, auf der sozialstrukturelle Merkmale von Gesellschaft in die kommuni-
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kativen Gattungen hineinwirken. Beide Ebenen gemeinsam bestimmen die Struktur einer kommunikativen Gattung. Günthner & Knoblauch (1994) haben die beiden Ebenen um eine Zwischenebene ergänzt, welche sie als „situative Realisierungsebene“ bezeichnen. Sie enthält in erster Linie konkrete Realisierungen von Gattungen wie zum Beispiel Redezugbestimmungen und Beteiligungsformate sowie weitere Elemente, die zur sequentiellen Erzeugung von Gattungen gehören. Diese Ebene der situativen Realisierung ist für die Analyse kommunikativer Gattungen deswegen so zentral, als in ihr die Bedeutung der interaktiven Realisierung von Gattungen betont wird. Ein besonderes Merkmal der Analyse kommunikativer Gattungen ist nicht nur, dass sie eine soziologische Fragestellung enthält, sondern auch, dass sie mit einem klar erkennbaren methodischen Programm verbunden ist: der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Die Fokussierung auf Gattungen der mündlichen Kommunikation soll nicht mit einer allgemeinen Fragestellung erfolgen, welche zu eher inventarisierenden Darstellungen von kommunikativen Formen führt, wie dies etwa in der Volkskunde, bei Jolles (1968) zum Beispiel, der Fall war. Das methodische Programm der kommunikativen Gattungen ist vielmehr mit einer strengen empirischen Ausrichtung verbunden, die sich nicht nur für die äußere und die innere Form einer Gattung interessiert, sondern auch und vor allem für ihre Durchführung. Diese Durchführungen sind selten bloße ‚Rezitationen‘ vorgegebener Schablonen, sondern meist individuelle Variationen über ein Muster. Mit dieser Ausrichtung geraten also die konkreten Realisierungsformen von kommunikativen Gattungen ins Zentrum der Analyse. Für die Konversationsanalyse ist Gespräch keine bloße Abfolge von Sprechhandlungen, die auf verschiedene Sprecher verteilt sind, sondern eine interaktive Angelegenheit. Die Konversationsanalyse geht davon aus, dass Redezüge interaktiv bestimmt sind. Gattungen sind entsprechend interaktive Hervorbringungen. Für die konversationsanalytisch orientierte Gattungsforschung ist dabei wichtig, dass die Interagierenden sich nicht nur an einer Verfestigung orientieren und diese erfüllen, sondern dass sie die kommunikative Form im Gespräch gemeinsam erzeugen. Dies ist eine zunächst triviale Feststellung: Schließlich kann ich nicht alleine klatschen, mir selbst Geschichten oder einen Witz erzählen etc. Interagierende füllen aber nicht einfach eine Form oder Schablone aus, sondern generieren diese Form in ihren Interaktionen immer wieder neu. Dabei haben sie Realisierungsspielräume: Eine unverfängliche Äußerung über andere, der typische Beginn von Klatsch, kann auf viele verschiedene Weisen geäußert werden. Nicht jedoch beliebig viele: Kommunikative Gattungen legen den
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Interagierenden auch Strukturzwänge auf. Es gibt nicht beliebig viele Arten, einen Witz zu erzählen oder zu klatschen. Und es gibt nicht beliebig viele Arten, auf die Initiierung eines Witzes oder eine Klatschgeschichte zu reagieren. Die Konversationsanalyse ist als Methode für die Analyse kommunikativer Gattungen deswegen so geeignet, weil sie nicht mit Befragungen und nicht mit Beobachtungen, sondern mit audiovisuellen Aufzeichnungen von natürlichen Interaktionssituationen arbeitet. Die grundlegenden Annahmen und Verfahrensweisen der Konversationsanalyse sind vielfach beschrieben worden (vgl. Bergmann 2000; Deppermann 1999; Hutchby & Wooffitt 1998; ten Have 1999) und brauchen hier nicht en détail wiederholt werden. Auch die Unterschiede zwischen linguistischer Gesprächsanalyse und ethnomethodologischer Konversationsanalyse müssen nicht diskutiert werden (siehe hierzu Ayaß 2004:9–11). Die Analyse kommunikativer Gattungen sucht nach den Regelhaftigkeiten im kommunikativen Repertoire und im interaktiven Verlauf: wiederkehrende Teilnehmerkonstellationen, Sprechweisen, Stile, Verlaufsformen, also verfestigte Elemente auf den Ebenen der Binnen-, Zwischen- und Außenstruktur. Dabei gilt, gemäß den Prämissen qualitativer Methodologie, dass nicht mit Vorab-Hypothesen gearbeitet wird, sondern das Datenmaterial in einem offenen, für neue Erkenntnisse zugänglichen Verfahren auf seine Regelmäßigkeiten hin untersucht wird. Dazu gehört, dass zunächst Einzelfälle in Fallanalysen untersucht werden, um in einem weiteren Schritt mit der Sammlung und Analyse von vergleichbaren Fällen zu einer Strukturhypothese zu gelangen. Dieser zirkuläre Prozess bedeutet auch eine Abkehr von normativen Vorstellungen von Kommunikation und ein hohes Maß an Bereitschaft, sich auf neue und unerwartete Einsichten einzulassen, etwa, dass zum festen Repertoire von Umweltgruppen das gemeinsame Jammern gehört und auch das Sich-Mokieren über andere (vgl. Christmann 1999a u. 1999b). Zur Beschreibung einer kommunikativen Gattung genügt es demnach in keiner Weise, allein das isolierte Gattungsmuster zu erfassen. Zu seiner Bestimmung gehören wesentlich auch die Prinzipien und Regeln, mittels derer ein kommunikatives Muster unter jeweils spezifischen Umständen realisiert und damit zu einem individuellen kommunikativen Ereignis wird. (Bergmann 1987:57)
Die Analyse kommunikativer Gattungen ergänzt die Konversationsanalyse in einem entscheidenden Punkt: Sie zielt auf die Untersuchung größerer kommunikativer Einheiten als es im Programm der Konversationsanalyse ursprünglich angelegt war. Während die Konversationsanalyse ein ausgesprochenes Faible für kleine und kleinste Formen der Interaktion hat – man denke nur an Schegloffs Aufsatz über „Some uses
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of ‚uh huh‘ and other things that come between sentences“ (1982) oder Jeffersons Analyse „What’s in a ‚nyem‘?“ (1978) –, untersucht die Gattungsanalyse gezielt größere Einheiten der Interaktion und geht über die Analyse der Organisation des Gesprächs in Redezüge und Sequenzen weit hinaus. Während die Konversationsanalyse, zu Beginn zumindest, mehr an so genannten Paarsequenzen vom Typ Frage/Antwort, Einladung/Erwiderung interessiert war, beschäftigte sich die Analyse kommunikativer Gattungen von vornherein mit kommunikativen Formen, die darüber hinausgingen wie etwa Erzählungen, Klatschgeschichten, Diskussionen. Dabei sucht sie natürlich zum einen nach Form und Funktion einzelner Gattungen. Sie sucht zum anderen aber auch danach, wie sich einzelne Gattungen zu ihrer Umgebung verhalten. Diese Analyse von „Gattungsaggregationen“ (Bergmann) fragt nach der ‚Lagerung‘ von Gattungen in ihrem Kontext: Welche Gattungen ‚vertragen‘ sich als nebeneinander gelagerte Nachbarn? Welche tun dies nicht und schließen eine Nachbarschaft aus? Gattungen können relativ selbstständig sein und für sich stehen. Häufig sind sie aber Teil einer sozialen Veranstaltung, der sie angehören und welche wiederum die Gattungen rahmt. Gattungen können, wenn sie sich zu typischen Aggregationen zusammenlagern, in einer erwartbaren Reihenfolge stehen. Die Frage nach den Aggregationen, die Gattungen eingehen können, mündet schließlich in einer Beschreibung der „sozialen Veranstaltung“. Unter „sozialen Veranstaltungen“ werden kommunikative Einheiten verstanden, die relativ klar definierte zeitliche und räumliche Grenzen haben und typische Teilnehmerrollen aufweisen. Ein Tischgespräch ist zum Beispiel eine soziale Veranstaltung (Keppler 1994), eine Kaffeefahrt (Knoblauch 1988), ein Gottesdienst (Ayaß 1997). In diesen Veranstaltungen haben Gattungen nun ihren festen Ort. Veranstaltungen sind aber nicht als fixe Abfolge von Gattungen zu begreifen. Letztere sind ein Teil dieser sozialen Veranstaltungen, sie werden (auch) durch diese konstituiert. In solchen Veranstaltungen sind manche Gattungen konstitutiv für die Veranstaltung selbst. Ein gemeinsames Gebet zum Beispiel ist für die Durchführung eines Gottesdienstes konstitutiv, für ein Tischgespräch möglich und nicht unerwartet, aber nicht zwingend, auf einer Kaffeefahrt hingegen würde ein Gebet eher Irritationen hervorrufen. Hier wird auch deutlich, dass Gattungen, wie Redezüge im Gespräch, in einer sequentiellen Ordnung stehen können, deren Verlauf für die Interagierenden erwartbar ist und an der sie sich orientieren. Das Gesamt aller verfestigten kommunikativen Formen bildet, gemeinsam mit den freien und spontanen Formen der Kommunikation, den „kommunikativen Haushalt“ einer Gesellschaft (Luckmann 1986).
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Und da die kommunikativen Gattungen die vorherrschenden ‚Lösungen‘ spezifisch kommunikativer Probleme einer Gesellschaft darstellen, wäre ihre Analyse sowohl für Schätzungen des kommunikativen ‚Gesamthaushalts‘ nützlich wie für mittelbare Aufschlüsse über das Relevanzsystem einer Gesellschaft. Was in einer Gesellschaft in einer Epoche allgemein und spezifisch kommunikativ wichtig und problematisch ist, muß in einer anderen Gesellschaft oder in einer anderen Epoche nicht ebenso wichtig und in ähnlicher Weise problematisch sein. Trotz elementarer Gemeinsamkeiten menschlichen Lebens über Kulturen und Epochen hinweg ist es daher keineswegs überraschend, daß verschiedene Gesellschaften auch recht verschiedene Bestände an kommunikativen Gattungen haben […]. (1986:206)
Die Kultur- und Epochenspezifik von kommunikativen Haushalten werden durch historische Untersuchungen und Kulturvergleiche deutlich (vgl. auch Zhao, in diesem Band). Insbesondere in den Untersuchungen, die die Ethnographie des Sprechens hervorbringt, wird offensichtlich, wie verschieden die kommunikativen Gattungen in unterschiedlichen Kulturen sind. Die Relevanzsysteme anderer Gesellschaften oder früherer Epochen unserer eigenen Gesellschaft lassen sich auch daran aufzeigen, wie sie, ihre Gattungen betreffend, kommunikativ ‚verfasst‘ sind – welche Gattungen in ihnen prominent und populär sind und welche verpönt und veraltet. Als Beispiel für die Kulturspezifik von kommunikativen Haushalten lassen sich Susanne Günthners Untersuchungen über chinesische Sprechweisen anführen, in denen die besondere Bedeutung formelhaften Sprechens deutlich wird (Günthner 1993). In unserer eigenen Gesellschaft hingegen wird auf formelhaftes Sprechen eher weniger Wert gelegt. So ließ sich anhand einer fast klassischen kommunikativen Gattung, dem Sprichwort, aufzeigen, wie in unserer Gesellschaft spruchweisheitliches Wissen seinen Stellenwert verlor (Ayaß 1994 u. 1996) und durch welche anderen Formen formelhaften Sprechens es heute vermittelt wird. An einer anderen Gattung, dem Kompliment, konnte aufgezeigt werden, welche Bedeutung es in der höfischen Gesellschaft innehatte und wie sich seine Form und seine Funktion in der gegenwärtigen Gesellschaft verändert haben (Ayaß 1999). Der kommunikative Haushalt ist somit nichts fest Gefügtes, sondern ist einem fortwährenden Wandel unterworfen, im Laufe dessen einige Gattungen obsolet werden, andere hingegen an Bedeutung gewinnen, vor allem aber manche Gattungen ihre Funktionen verändern und andere Aufgaben übernehmen. Da der Ansatz Gattungen als Lösungen von kommunikativen Problemen versteht, bedeutet ein Wandel im kommunikativen Haushalt, dass sich mit den kommunikativen Formen auch die Lösungen der kommunikativen Probleme und mit ihnen die kommunikativen Probleme selbst geändert haben. Am Beispiel der Komplimente wurde dies deutlich: Ein höfisches, unterwürfiges Komplimentieren, das den Komplimentempfänger
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auf einen Sockel stellt (und damit auch über den Komplimentproduzenten), ist in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr angebracht. Wertschätzende Kommunikation muss daher anders vermittelt werden (vgl. hierzu ausführlicher Ayaß 1999). Die Analyse von moralischer Kommunikation ist ein Beispiel dafür, wie das Konzept der kommunikativen Gattungen erweitert wurde. Prinzipiell lassen sich Gattungen nicht nur danach gruppieren, in welchen Aggregationen sie auftreten, sondern auch dahingehend, ob sie ähnliche Probleme lösen und darüber miteinander verwandt sind. Bergmann spricht hier von „Gattungsfamilien“. Es bestehen vielerlei Möglichkeiten, das Konzept der kommunikativen Gattung weiterzuentwickeln. (1) Zum einen in der Analyse und dem Vergleich von Gattungen, die ähnliche Aufgaben bewältigen. So wurde in einem weiteren Forschungsprojekt2 die Frage gestellt, mit welchen kommunikativen Mitteln Interagierende über andere Personen sprechen, und zwar genauer, wie sie über diese anderen Personen Achtung oder Missachtung kommunizieren. In diesem Kontext wurden sowohl ‚kleine Formen‘ wie Sprichworte, Komplimente, Vorwürfe etc. untersucht als auch größere Gattungen wie Beschwerdegeschichten, Entrüstungen, Stereotypenkommunikation und Lamentationen. Auch soziale Veranstaltungen wie Beratungsgespräche oder Fernsehpredigten waren Gegenstand der Analyse (vergleiche die Beiträge in Bergmann & Luckmann 1999b). Die Frage des Projektes zielte darauf, welche kommunikativen Gattungen Interagierenden insgesamt zur Verfügung stehen, um über andere Menschen mit negativen (oder positiven) Vorzeichen zu sprechen und welche die wesentlichen Merkmale dieser Gattungen sind. Ein zentrales Resultat der Analysen war hier zum Beispiel, dass in unserer Gesellschaft Moralkommunikation im Wesentlichen den Kriterien der Indirektheit folgt. Sie minimiert damit das Risiko, das mit Moralkommunikation für die Akteure einher geht (z. B. als Klatschmaul zu gelten, als streitsüchtig, als patzig, als intrigant etc.). Ob etwa eine Moralisierung offen oder verdeckt erfolgt, scheint nicht unwesentlich vom Risikokalkül der Handelnden bestimmt zu sein. Ganz allgemein gilt für moralische Kommunikation, daß sie sich häufig durch ein hohes Maß
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DFG-Projekt „Formen der kommunikativen Konstruktion von Moral. Gattungsfamilien der moralischen Kommunikation in informellen, institutionellen und massenmedialen Kontexten“. Leitung: Jörg Bergmann, Thomas Luckmann. Universitäten Gießen und Konstanz. 1992–1997. An diesem Projekt waren als Mitarbeiterinnen Ruth Ayaß, Verena Blöcher, Gabriela B. Christmann, Michaela Goll, Susanne Günthner und Kirsten Nazarkiewicz beteiligt. Sigrid Baringhorst, Angela Keppler, Hubert Knoblauch und Helga Kotthoff waren in unterschiedlichem Ausmaß assoziiert und haben empirische Analysen beigesteuert (siehe die Beiträge in Bergmann & Luckmann 1999b).
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an Indirektheit auszeichnet, also etwa das moralische Urteil nur andeutet und ‚durch die Blume‘ zu verstehen gibt oder den Umweg über Dritte nimmt. (Bergmann & Luckmann 1999a:31)
(2) Eine andere Möglichkeit der Weiterentwicklung liegt in der Fokussierung und präzisen Analyse einzelner Ebenen. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Günthner zu nennen, die aufzeigen konnte, welche enorme Rolle zum Beispiel die Prosodie für die Konstitution kommunikativer Gattungen spielt (Günthner 2000). Günthner zeigt dies unter anderem an den Intonationskonturen der kommunikativen Gattung Vorwurf. Typisch für den Vorwurf ist ein hoher Ansatz im Tonhöhenverlauf, der mit einer fallenden Intonation in der weiteren Äußerung verbunden ist. Günthner zeigt, wie durch diese Intonation aus einer syntaktisch unverfänglichen Frage (‚Warum lässt Du den Kühlschrank offen?‘) das Format des Vorwurfs werden kann (‚ĹĻ WARUM lässt Du den Kühlschrank offen!‘). In ihren neueren Arbeiten wird weiter deutlich, wie sehr auch die Grammatik an der Konstitution von Gattungen beteiligt ist (2006). Günthner macht dies zum Beispiel an so genannten Was-Konstruktionen sichtbar (siehe hierzu ausführlich Günthner, in diesem Band). Günthners Arbeiten zeigen, dass syntaktische Konstruktionen und prosodische Muster – Elemente der Binnenstruktur also – konventionalisierte Formen darstellen, die in bestimmten Gattungen systematisch verwendet werden und zum Gattungscharakter der Form entscheidend beitragen. (3) Eine dritte Form der Erweiterung des Ansatzes besteht darin, das Konzept der kommunikativen Gattungen auch auf mediale Kommunikation anzuwenden. Diese Erweiterung soll im Folgenden ausführlicher diskutiert werden. 4. Mediale Gattungen Das Konzept der kommunikativen Gattungen wurde relativ zügig auf mediale Formen der Kommunikation angewendet (zum Beispiel auf Fernsehpredigten: Ayaß 1997; auf filmische Genres: Keppler & Seel 2002; auf Werbespots: Ayaß 2002 und Knoblauch & Raab 2002). Im Unterschied zur klassischen Analyse filmischer Genres unternimmt die Gattungsanalyse weniger eine strukturelle oder ästhetische Beschreibung von Genreelementen (z. B. Wulff 2006), sondern betont weiterhin die soziologische Rahmung. Verglichen mit einer Filmanalyse verschiebt sich mit dem Begriff der „Gattung“ zum einen die Fragestellung, zum anderen verschieben sich die Grenzen des Gegenstands. Die Fragestellung einer Analyse medialer Gattungen zielt, wie die Analyse mündlicher Gattungen der Face-to-face-Kommunikation, auf die Antwort auf die Frage, wofür diese Gattung eine Lösung ist. So
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wie mündliche Gattungen Lösungen für kommunikative Probleme stellen, so sind auch mediale Gattungen „Antworten“ auf kommunikative „Fragen“. Und auch im Gegenstand unterscheidet sich eine Analyse medialer Gattungen von der klassischen Analyse filmischer Genres. Zu den Genres zählen in der Filmgenreanalyse z. B. der Western, Science Fiction, Horror- oder Gangsterfilme, also jeweils eine bestimmte Art von Filmen, die hinsichtlich ihrer Erzählstruktur Gemeinsamkeiten aufweisen oder die sich in Thema oder geschichtlicher Einbettung ähneln. Der Western zum Beispiel thematisiert die Verschiebung der „frontier“ zwischen unbekannter Wildnis („‚Wilder‘ Westen“) und Zivilisation, die Landnahme durch die weißen Siedler; er hat ein bestimmtes Inventar an Protagonisten (Siedler, Sheriffs, ‚Indianer‘ und ‚Häuptlinge‘, ‚Cowboys‘, aber auch Pferde etc.); er kennt bestimmte Handlungsorte (z. B. die staubige Kleinstadt und ihr Saloon) und eine bestimmte historische Zeit (die Landnahme des 19. Jahrhunderts); er endet typischerweise im so genannten „shoot out“, in dem Protagonist und Antagonist auf ein Duell zusteuern, und dem Sieg der Guten über die Bösen. Dass ein Science Fiction oder ein Horrorfilm sich in ihren Genreelementen von einem solchen Western unterscheiden, ist auf Anhieb offensichtlich. Von einer solchen Filmgenreanalyse unterscheidet sich die Analyse medialer Gattungen auch und vor allem dahingehend, dass filmische Genres zunächst nur einen besonderen Typ unter zahllosen anderen medialen Gattungen bilden. Zu diesen zählen zum Beispiel: das politische Plakat, der Werbespot in Hörfunk und Fernsehen, das Flugblatt, das Graffito usf., also jegliche Formen medialer Kommunikation – allerdings nur, sofern sich in der Analyse erweist, dass ihre verfestigten Formen Lösungen für kommunikative Probleme stellen. Ob eine mediale Form tatsächlich auch eine eigenständige mediale Gattung ist oder bloß ein Format, kann nur auf der Basis empirischer Analysen bestimmt werden. Ein ähnliches Argument gilt hinsichtlich der linguistischen Textsortenanalyse: Die Untersuchungsgegenstände der Textsortenlinguistik – Flugblätter, Reiseführer, Zeitungskommentare etc. – zählen auch für die Analyse medialer Gattungen zunächst zum Gegenstandsbereich. Für die Gattungsanalyse geht die Textsortenlinguistik aber zu ‚texttypologisch‘ vor. Auch stehen in der Gattungsanalyse von vornherein die situativen Realisierungsformen im Zentrum der Analyse. Sie bemüht sich, die Binnen-, Zwischen- und Außenstrukturen medialer Gattungen zu bestimmen, während eine Textsortenlinguistik sich sehr viel mehr auf das Inventar von Textsorten, ihre binnenstrukturellen Elemente also, konzentriert (vgl. aber schon Gülich 1986, die das Alltagswissen von Interagierenden über Textsorten in die Analyse miteinbezieht).
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Für eine Analyse medialer Gattungen sind zunächst alle medialen Formen von Interesse. Manche dieser Formen mögen zu einer eigenständigen medialen Gattung verfestigt sein, dies gilt vermutlich schon für so vermeintlich unscheinbare Formen wie Wetterbericht oder Programm-Ansage. Andere Formen wiederum setzen sich aus verschiedenen Elementen zusammen und bilden eine mediale Veranstaltung: Sportübertragungen etwa, die aus Livebericht, Interview und WerbeElementen bestehen. Mediale Gattungen bilden in ihrer Gesamtheit den medialen Haushalt einer Gesellschaft. Die oben erwähnte Kultur- und Epochenspezifik von kommunikativen Haushalten gilt für mediale Haushalte, die einen Bereich des gesellschaftlichen Gesamthaushaltes stellen, gleichermaßen. Zum medialen Haushalt des 19. Jahrhunderts mag das Buch gehört haben, aber nicht das Radio und nicht der Personal Computer oder das Mobiltelefon und die medialen Gattungen, die sie hervorbringen (zur Epochenspezifik medialer Formen vgl. Ayaß 2010). Auch innerhalb einzelner Medien lassen sich bestimmte Entwicklungen beschreiben. Neue Medien beleihen ‚alte‘ hinsichtlich ihrer Gattungen. So erbte das Fernsehen den Livebericht vom Radio. Innerhalb einzelner Medien geraten Gattungen in und außer Mode. Den gegenwärtig sehr populären Casting-Sendungen liegt ein Ausscheidungsprinzip zugrunde, das auf fast jede Art von Performanz angewendet werden kann, die eine gewisse Kürze hat und mit den Darbietungen anderer Akteure verglichen werden kann: auf Gesungenes, Aufgeführtes, Posiertes, Gekochtes (resp. ihre Sänger und Künstler, ‚Models‘, Köche). Die Grundstruktur dieser Ausscheidungswettbewerbe ist keineswegs so neu, wie die heftige Kritik, die an ihnen laut wird, vermuten ließe. Schon „Einer wird gewinnen“, eine Sendung, die seit 1964 sehr populär war, kannte das Prinzip des Ausscheidungswettbewerbs. Andere mediale Gattungen haben sich hingegen seit ihrer Einführung nur an der Oberfläche geändert, etwa die seit 1953 gesendete „Tagesschau“ (die ihrerseits ein generisches Derivat aus einem anderen Medium ist, der „Wochenschau“ aus den Kinos nämlich) oder das seit 1954 gesendete „Wort zum Sonntag“. Diese Beispiele machen auch deutlich, dass mediale Gattungen vielfach von mündlichen Gattungen der Face-to-face-Kommunikation abgeleitet sind. Politische Diskussionen sind ja keine Erfindung des Fernsehens. Sie wurden jedoch innerhalb des medialen Formats Politische Fernsehdiskussionen ungemein populär. Holly, Püschel & Kühn (1985) haben aber auch aufgezeigt, dass sich mit dem Wechsel des Mediums die Gattung selbst kategorial verändert. Die mediale Übertragung sei nicht etwas, was zur bisherigen kommunikativen Gattung bloß hinzukäme, sie verändere vielmehr die Gattung grundlegend. Was dabei entstehe, ähnele einer Diskussion im Alltag nur noch entfernt:
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„Fernsehdiskussionen sind nicht einfach Diskussionen im Fernsehen“ (1985:240). Mediale Gattungen entwickeln also eine bestimmte Eigenständigkeit gegenüber Gattungen der mündlichen (Face-to-face-)Kommunikation, so dass sie alltäglichen Formen nur noch bedingt ähneln. Der Kontext des Mediums bringt immer auch eigene Gestaltungs- und Realisierungsmöglichkeiten mit sich. Diese verschiedenen Realisierungsoptionen sind von den Bedingungen des Mediums abhängig – seiner Reichweite, seinen Partizipationsoptionen, seinen technischen Möglichkeiten, seinen ästhetischen Ausdrucksformen. Ein Fernsehwerbespot kennt das Gestaltungselement der Zeitlupe, ein binnenstrukturelles Element, das in Fernsehwerbung sehr häufig vorkommt, welches aber Hörfunk- und Zeitschriftenwerbung nicht zur Verfügung steht. Die binnen-, zwischen- und außenstrukturellen Besonderheiten einer medialen Gattung kommen immer auch unter den Bedingungen des Mediums an sich zustande. Eine Predigt kennt wohl eindringliche Worte, den Zeitlupenzoom kennt aber nur das „Wort zum Sonntag“, nicht die Predigt. Visuelle Medien wie Plakat, Film und Fernsehen etc. können auf visuelle Gestaltungselemente zurückgreifen, die anderen Medien, dem Radio etwa, nicht zur Verfügung stehen, auditive Medien wie das Radio hingegen auf akustische Elemente, die wiederum in gedruckten Medien nicht verfügbar sind etc. (die dies aber, im Comic zum Beispiel, durch graphostilistische Mittel oder Lautwörterkombinationen wie „schmatz“, „peng“ o. ä. ersetzen können). Auch Phänomene wie Einstellungsgröße, Schnittfolgen, Mise-en-Scène etc. kommen auf der binnenstrukturellen Ebene hinzu, wenn sich eine Gattung in ein audiovisuelles Medium, das Fernsehen zum Beispiel, begibt. Entsprechend muss das methodische Instrumentarium erweitert und verfeinert werden. Die Analyse kommunikativer Gattungen entstand ja ursprünglich als Analyse mündlicher Gattungen der Face-to-face-Kommunikation: Klatsch, Konversionserzählungen, Belehrungen, Vorwürfe, Sprichwörter etc. Für diesen Gegenstand war die ethnomethodologische Konversationsanalyse die geeignete Methode, da mit ihr aufgezeigt werden kann, wie die Interagierenden selbst in ihren und durch ihre Äußerungen soziale Interaktionen als geordnete Wirklichkeit hervorbringen. Je nach Art des Mediums, das zur Analyse steht, muss entsprechend die Konversationsanalyse erweitert, ergänzt und verfeinert werden (siehe auch Keppler 2006:306ff.). Dass sie erfolgreich auf schriftliches bzw. schriftsprachlich konstituiertes und filmisches Material angewendet werden kann, zeigen etwa Ayaß (1997), Mulkay (1984), Wolff (1995) sowie Wolff & Knauth (1991). Je nach Art des Mediums liegen Anschlüsse an konkrete andere Methoden nahe: an die Textanalyse (Wolff 2006) oder die (qualitative) Inhaltsanalyse (Christmann 2006) für die
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Analyse schriftlicher Texte oder an die Filmanalyse (Wulff 2006) für eine Analyse bewegter Bilder. 5. Ausblick Ziel einer Analyse kommunikativer Gattungen ist, sie im Kontext des kommunikativen Haushalts einer Gesellschaft zu verorten. Die Strukturen und Funktionen kommunikativer Gattungen geben Aufschluss über die Verfasstheit einer Gesellschaft. So zeigte das Projekt über moralische Kommunikation, dass Achtung und Achtungsentzug in unserer Gesellschaft zunehmend indirekt, angedeutet oder über Umwege vermittelt werden (s. o.). Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Gegenwartsdiagnose. Von einer Analyse des gesamten kommunikativen Haushaltes ist man damit jedoch weit entfernt. Es zeichnen sich allerdings mehrere Entwicklungsmöglichkeiten inhaltlicher und methodischer Art ab: (1) Fokussierung auf Gattungsfamilien: Zunächst ist eine viel versprechende Herangehensweise, kommunikative Formen zu untersuchen, die ähnliche Aufgaben bewältigen (so wie es das Projekt über moralische Kommunikation unternahm). Mit einer solchen Fragestellung wird das Spektrum der kommunikativen Handlungsformen deutlich, auf die Interagierende zur Bewältigung von kommunikativen Aufgaben zurückgreifen können (etwa ein böser Vorwurf im Unterschied zu einer spaßigen Frotzelei). Man kann mit einer solchen systematischen Analyse der Funktionen von kommunikativen Gattungen auch zu Aussagen über die historische Entwicklung dieser Gattungen gelangen (z. B. den Verlust des Sprichworts, siehe Ayaß 1994). Veränderungen in den kommunikativen Lösungen weisen dabei auf einen Wandel der kommunikativen Probleme hin. (2) Neben einer solchen Beobachtung von diachronischen Entwicklungen spielen des Weiteren auch auf die Gegenwart bezogene Beobachtungen von Hybridisierungen eine Rolle: Gattungsanalyse verfährt nicht klassifikatorisch in dem Sinn, dass sie auf Exklusivität der beschriebenen Muster und Systematik der Formen zielt. Gattungsanalyse strebt keine Linné’sche Typologie an, die klar getrennte Typen und Untertypen unterscheidet. Für Gattungsanalysen sind neben den ‚reinen‘ Formen, die sich empirisch auffinden lassen, immer auch die Modulationen interessant. Von besonderem Interesse sind hierbei Hybridisierungen, die Elemente verschiedener Gattungen verwenden und Diener zweier Herren sind. Ein solches Phänomen ließ sich zum Beispiel bei der Analyse moralischer
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Kommunikation in den Spaßmodulationen beobachten. Eine ähnliche Fragestellung verfolgte das sich ebenfalls explizit auf die Gattungsanalyse berufende Projekt „Konventionen der Weltwahrnehmung“, in welchem das widersprüchliche Wechselspiel zwischen authentisierenden und fiktionalisierenden Darstellungsformen im gegenwärtigen Realitätsfernsehen untersucht wurde.3 (3) Zwar trennt man in der Begriffsbildung zunächst klar zwischen kommunikativen und medialen Gattungen. Diese begriffliche Differenzierung suggeriert, dass mediale und kommunikative Gattungen etwas kategorial Verschiedenes wären. Dies ist nicht der Fall. Zunächst ist jede mündliche Gattung der Face-to-face-Kommunikation allein deswegen eine mediale Gattung, weil sie sich des Mediums der Sprache bedient. Und jede mediale Gattung ist zugleich notwendig eine kommunikative Gattung, weil sie sich sprachlicher und visueller Formen der Kommunikation bedient. Dennoch macht es Sinn, die Unterscheidung aufrecht zu erhalten, dies vor allem dann, wenn man das Zusammenwirken von kommunikativen und medialen Gattungen beobachtet. Zunächst werden viele mediale Gattungen im Alltag verarbeitet, bearbeitet und integriert. Dies betrifft Formen wie Medienrekonstruktionen oder Nachspielungen (vgl. hierzu Ayaß 2001a u. 2001b; Ulmer & Bergmann 1993), also die Aufbereitungen von Gelesenem, Gehörtem oder Gesehenem im alltäglichen Gespräch, aber auch die konkreten kommunikativen Aneignungen medialer Gattungen während der Rezeption (vgl. hierzu die Beiträge in Holly, Püschel & Bergmann 2001). Das Zusammenspiel von medialen Gattungen und Gattungen der alltäglichen Kommunikation wird vor allem deswegen künftig von Bedeutung sein, da sich Medien, alte wie neue, nicht mehr an festen Orten und geschlossenen Enklaven aufhalten, sondern in nahezu allen Kontexten finden lassen, am Arbeitsplatz ebenso wie zu Hause. Die Entgrenzung der Medien bedeutet auch eine Entgrenzung ihrer Nutzung. Entsprechend werden sich Spuren von Medien und ihren Gattungen sehr viel stärker im Alltag und in alltäglicher Kommunikation wieder finden lassen, als dies bisher der Fall war. Im Gegenzug entstehen mit neuen Medien neue soziale Gebrauchsweisen von Medien, die sich wiederum zu Gattungen alltäglicher Kommunikation verfestigen können.
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Konstruktionen in der gesprochenen Sprache1 Susanne Günthner (Münster) 1. Musterhaftigkeit in alltäglichen Interaktionen: Von grammatischen Konstruk2. 3. 4. 5.
tionen zu kommunikativen Gattungen was-Konstruktionen im Gebrauch Schlussfolgerungen Transkriptionskonventionen Literaturverzeichnis
1. Musterhaftigkeit in alltäglichen Interaktionen: Von grammatischen Konstruktionen zu kommunikativen Gattungen Sprachsoziologische, anthropologische und linguistische Analysen von Alltagsgesprächen zeigen immer wieder, dass mündliche Kommunikation keineswegs unstrukturiert und formlos ist. Vielmehr existieren in allen Sprechgemeinschaften verfestigte kommunikative Muster, auf die Interagierende bei der Ausführung sprachlicher Aktivitäten zurückgreifen. Solche verfestigten Muster können unterschiedliche Grade der Komplexität und Verfestigung aufweisen; sie reichen von phraseologischen Ausdrücken im engeren Sinne bis zu großformatigen kommunikativen Gattungen.2 Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf musterhaft verfestigte Strukturen im Bereich der Syntax und zwar auf „grammatische Konstruktionen“. Das vorliegende Konzept von Konstruktionen lehnt sich an das der Construction Grammar(s)3 an, auch wenn es in mehrfacher Hinsicht über ein statisches Modell der 1:1-Form-Funktions-Paarung hinausgeht.4 Konstruktionen stellen hierbei keineswegs rein formale Repräsentationen sprachlichen Wissens dar, sondern sie werden als aus dem Interaktionsprozess entstandene, sedimentierte Muster konzeptualisiert, die Interagierenden zur Durchführung sprachlicher Handlungen ————— 1 2 3 4
Ich danke Lars Wegner für seine hilfreichen Kommentare. Hierzu ausführlich Günthner (2006a). Hierzu u. a. Fillmore, Kay & O’Connor (1988), Goldberg (1995), Croft (2001), Fischer & Stefanowitsch (2007), Stefanowitsch & Fischer (2008). Hierzu ausführlicher Günthner (2009b). Siehe auch Fischer & Stefanowitsch (2007), Imo (2007a, b, 2008), Birkner (2008), Deppermann & Elstermann (2008), Stefanowitsch & Fischer (2008).
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zur Verfügung stehen und folglich auch in authentischen Handlungszusammenhängen zu beschreiben sind.5 Aktuelle Studien zur Grammatik im Gebrauch sowie Analysen zur Syntax gesprochener Sprache verdeutlichen immer wieder, dass gerade mündliche Kommunikation, die unter erheblichem Zeit- und Handlungsdruck abläuft, u. a. deshalb relativ problemlos funktioniert, da SprecherInnen grammatische Strukturen nicht etwa anhand abstrakter Regeln stets neu aufbauen, sondern über ein Repertoire an rekurrenten sprachlichen Mustern verfügen, die zur Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben eingesetzt werden (Auer 2005a, b; Günthner 2006a). Solche Muster, die sich im Verlauf einer langen Kette vergangener Interaktionssituationen verfestigt haben und zur Lösung kommunikativer Aufgaben im Wissensvorrat der Mitglieder von Sprechgemeinschaften abgespeichert sind,6 bieten erhebliche kognitive und interaktive Vorteile für die Produktion, Prozessierung und Interpretation kommunikativer Vorgänge: Die Sprecherin muss sich bestimmte syntaktische und lexiko-semantische Kombinationen, Abfolgen von Äußerungen und deren Anwendungsmöglichkeiten etc. nicht ständig „neu ausdenken“, und dem Rezipienten wird aufgrund tradierter und konventionalisierter Gestaltungsverfahren der Interpretationsvorgang erleichtert. Wie gerade auch Arbeiten der Sprach- und Wissenssoziologie sowie der Anthropologischen Linguistik verdeutlichen, die sich mit Musterbildung in Zusammenhang von größeren kommunikativen Formaten und Gattungen befassen, stellt die relative Stabilität vorgefertigter Muster eine wichtige Grundlage für das Gelingen sprachlicher Interaktion dar (Luckmann 1986, 1988, 1992; Bergmann 1987; Günthner & Knoblauch 1994, 1995, 1997; Hanks 2000; Luckmann 2002; Günthner 2006a, i. Dr.).7 Was Bachtin (1976/86) in Zusammenhang mit Genres schreibt, trifft ebenso auf andere verfestigte sprachliche Gestalten zu: We know our native language – its lexical composition and grammatical structure – not from dictionaries and grammars but from concrete utterances that we hear and that we ourselves reproduce in live speech communication with people around us. […] If speech genres did not exist and we had not mastered
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Hierzu u. a. Günthner & Imo (2006), Deppermann (2007), Imo (2008), Günthner & Bücker (2009). Zum Sedimentierungsprozess sprachlicher Muster siehe Luckmann (1992), Günthner & Knoblauch (1994, 1995, 1997), Günthner & Luckmann (2001) sowie Günthner (i. Dr.), vgl. auch Ayaß, in diesem Band. So betont auch Tomasello (2006:21): „Wenn Menschen wiederholt ‚ähnliche‘ Dinge in ‚ähnlichen‘ Situationen sagen, entwickelt sich daraus mit der Zeit ein sprachliches Verwendungsmuster, das in den Köpfen der Benutzer als neue Kategorie oder Konstruktion schematisiert wird – mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden.“
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them, if we had to originate them during speech process and construct each utterance at will for the first time, speech communication would be almost impossible. (Bachtin 1976/86:78f.)
Der Prozess der Sedimentierung ist allerdings – wie auch Bachtin (1976/86) mit seinem Dialogizitätskonzept betont – nicht losgelöst vom Gebrauch zu betrachten: Sedimentierung findet im Prozess einer langen Verkettung kommunikativer Situationen statt. Die Spannung zwischen Emergenz und Sedimentierung, zwischen Reproduktion und Modifikation ist nicht nur zentral für soziale Handlungen im Allgemeinen und für sprachliches Handeln im Besonderen (Luckmann 1992; Hanks 2000; Günthner i. Dr.), sondern für jede Form sprachlicher Musterbildung (seien dies Routineformeln, grammatische Konstruktionen oder komplexe kommunikative Gattungen). D. h., auch wenn Interagierende auf im Wissensvorrat abgespeicherte Muster zurückgreifen, findet deren Aktualisierung (und Modifikation) stets im konkreten Interaktionsvorgang statt. Jede Aktualisierung steht insofern in einem „Dialog“ mit der Mustervorgabe, als diese den lokalen Gegebenheiten im Hier-und-Jetzt der Interaktionssituation angepasst und rekontextualisiert wird.8 Geht man also davon aus, dass grammatische Muster aus der mündlichen Kommunikation heraus entstehen (vgl. Haspelmaths (2002:270) vielzitierte These „Grammatik ist geronnener Diskurs“ bzw. Bybee (2007:6): „grammar as arising from the patterns of language use in actual discourse“), so legt dies nahe, funktionale und formale Aspekte der Grammatik nicht ohne, sondern im Gegenteil durch den Rückgriff auf das Verständnis der Funktionsweisen der Interaktion, in die sie eingebettet sind, zu erklären (Ono & Thompson 1995; Günthner & Imo 2006; Günthner 2007, 2008). Hierzu gehört einerseits, dass grammatische Strukturen im konkreten sequenziellen Kontext und damit als dialogische, interaktive Verfahren zu analysieren sind: Grammatische Konstruktionen treten in der Face-to-face-Kommunikation nicht „autark“ und losgelöst aus ihrem sequenziellen Umfeld auf, sondern sie stellen „InterActs“ (Linell 2009) dar; d. h. sie werden in Anlehnung an vorausgehende Äußerungen produziert, sie werden in ständiger Rückkoppelung mit dem Gegenüber aufgebaut, expandiert und korrigiert, und sie haben Implikationen für die Folgeäußerungen. In der Face-to-faceKommunikation werden sie nicht etwa als fertige Produkte bereitgestellt, sondern sie entfalten sich dialogisch im „echt“-zeitlichen Verlauf der Interaktion (Günthner & Hopper 2010). Zum anderen sind grammatische Konstruktionen in Aktivitäten, Handlungsmuster bzw. Gattungen eingebettet und konstituieren diese mit (Günthner 2000, 2006a): So wird ————— 8
Hierzu ausführlicher Günthner (i. Dr.).
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die Verbspitzenstellung im Deutschen (Auer 1993) u. a. zur Kontextualisierung von Witzanfängen („Kommt Fritzchen nach Hause …“ oder „Treffen sich zwei alte Freunde. Fragt der eine …“) oder von Kinderversen („Geht ein Männlein d’Treppe hoch …“) verwendet;9 Inflektivkonstruktionen wie „*dich ganzdollknuddel*“ repräsentieren charakteristische Merkmale von informellen Chats (Schlobinski 2001), und Infinitkonstruktionen („ich (-) nichts wie weg“; „wir (.) raus ausm Auto“) finden sich vor allem in Alltagserzählungen (Günthner 2006b, 2009a).10 Kommunikative Gattungen (wie Witze, Chats, Vorwürfe, Alltagserzählungen, Argumentationen etc.) werden also über die Aktualisierung spezifischer syntaktischer Konstruktionen mit erzeugt. Zugleich bilden spezifische syntaktische Konstruktionen wiederum konventionalisierte Muster, die präferenziell in bestimmten Gattungen bzw. zur Durchführung spezifischer kommunikativer Aufgaben verwendet werden. Grammatische Muster sind also eng mit sprachlichem Handeln verknüpft.11 Diese Verwobenheit zwischen grammatischen Konstruktionen und kommunikativen Aktivitäten bzw. Gattungen soll im Folgenden anhand der Analyse von „kausalen“ was-Konstruktionen näher beleuchtet werden. 2. was-Konstruktionen im Gebrauch Was gehst Du denn mit denen Du weißt doch was dir blüht! (Wolf Biermann 1968: Drei Kugeln auf Rudi Dutschke)
Eine verfestigte syntaktische Gestalt, die in Alltagsinteraktionen in Zusammenhang mit der Ausführung bestimmter kommunikativer Gattungen12 immer wieder verwendet wird, stellen was-Konstruktionen (vom Typ „Was gehst Du denn mit denen“) dar. Im folgenden Gesprächsausschnitt unterhalten sich drei Studenten über ihre sportlichen Aktivitäten. Fredi jammert über den Stress, den er momentan hat, da er an mehreren Marathonläufen in unterschiedlichen ————— 9 10 11 12
Zum Konzept der „Kontextualisierung“ siehe Gumperz (1982). Siehe auch Redder (2006) zu „nicht-sententialen Äußerungsformen“. Hierzu detailliert Ehlich (2006). In der Gattungsanalyse verwendet man in der Regel den Begriff der „kommunikativen Gattung“ für großformatige, komplexe sprachliche Gestalten (z. B. Vorlesungen, Predigten, Klatschgeschichten etc.), während der Begriff des „Musters“ für kleinere Formate (Minimal- bzw. Kleinstgattungen) verwendet wird. Hierzu Günthner & Knoblauch (1994, 1995, 1997).
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Regionen Deutschlands mitmacht und nebenbei auch für sein Examen lernen muss: MARATHON (DUISBURG 2003-4-4761) 132 Fredi: FIEser STRESS(.)] 133 Uwe: [was] nLÄUFST du (auch) immer so weit WECH. 134 [(…) kannst] doch nen MArathon inner NÄH:e 135 Arne: [(hm a- ehm)] 136 Fredi: 137 Fredi: (hm) wenn dat ma so EINfach [wär.] 138 Arne: [bald]
[machen.] [NE:]
Auf Fredis stark affektiv aufgeladene Aussage (kontextualisiert durch dichte Akzentuierung, erhöhte Lautstärke und hyperbolische Ausdrücke) zu seinem Stress (Z.132) reagiert Uwe mit einer was-Konstruktion: „was nLÄUFST du (auch) immer so weit WECH.“ (Z.133). Prosodisch kontextualisiert Uwe durch die fallende Tonhöhenbewegung, den hohen Ansatz und den Verum-Fokus – d. h., der Hauptakzent liegt auf dem Verb – auf „nLÄUFST“ eine vorwurfsvolle Stimme.13 Mit der was-Äußerung fragt er nicht etwa nach einem ihm unbekannten Sachverhalt, sondern er führt Fredis Verhalten (dass dieser stets in entfernten Regionen an Marathonläufen teilnimmt) als inadäquat vor und formuliert im Anschluss die seiner Meinung nach adäquate Alternative: „[(…) kannst] doch nen MArathon inner NÄH:e [machen.]“ (Z.134). Fredis Reaktion in Zeile 137 verdeutlicht dessen Interpretation der was-Äußerung als Vorwurf; er liefert nun eine Erklärung zu dem ihm vorgeworfenen Fehlverhalten bzw. zu der scheinbar adäquaten Alternative: „wenn dat ma so EINfach [wär.]“ (Z.137). Auffällig am vorliegenden Gebrauch des Interrogativpronomens was ist, dass es nicht etwa unbekannte Sachverhaltskomponenten (im Sinne von „Was machst du?“) erfragt, sondern zunächst einmal (an der Oberfläche) den Grund für eine bestimmte Handlung – im Sinne von „Warum läufst du immer so weit weg?“. Im Gegensatz zu einer konventionellen was-Frage sind bei der vorliegenden Konstruktion („was nLÄUFST du (auch) immer so weit WECH.“; Z.133) sämtliche Argumentstellen des Verbs schon besetzt. Folglich kommt dieser wasKonstruktion eine andere Funktion zu als die einer Aufforderung zur Bekanntgabe einer Information und somit einer Nachfrage bzgl. eines unbekannten Sachverhalts. ————— 13 Zur prosodischen Markierung einer vorwurfsvollen Stimme siehe Günthner (1996, 2000).
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Die vorliegende was-Konstruktion findet allerdings nur in wenigen Grammatiken Erwähnung. Behaghel (1923:366) geht auf die „kausale“ Verwendung von was ein und führt aus, dass was in „rhetorischen Fragen mit negativer Bedeutung“ auch im Sinne von warum verwendet werden kann. Erben (1972:231) thematisiert ebenfalls den sogenannten kausalen Gebrauch von was und schreibt, dass das Interrogativpronomen was „umgangssprachlich sogar über Grund (= warum) und Zweck (= wozu)“ Auskunft erfordert. Auch die Duden Grammatik (2005:314) weist darauf hin, dass was in der Umgangssprache „in der Bedeutung ,warum‘“ gebraucht wird („Was bleibst du denn sitzen“). Sowohl Erben als auch die Duden Grammatik stellen den kausalen Gebrauch des Interrogativpronomens was jedoch so dar, als sei dieser in der Umgangssprache uneingeschränkt möglich. Auf die spezifischen Funktionen dieser Verwendung in Zusammenhang mit bestimmten kommunikativen Aktivitäten bzw. Gattungen wird nicht eingegangen. Schaut man sich jedoch authentische Daten auf den Gebrauch dieser „kausalen“ was-Konstruktionen hin an, so trifft es keineswegs zu, dass SprecherInnen was-Konstruktionen in der Umgangssprache generell „in der Bedeutung ,warum‘“ gebrauchen. Sie verwenden diese primär in Zusammenhang mit bestimmten Aktivitäten bzw. kommunikativen Mustern/Gattungen, in denen sie eine negative, ablehnende Bewertung des präsentierten Verhaltens bzw. der thematisierten Handlung zum Ausdruck bringen, nämlich in Zusammenhang mit Vorwürfen (und Beschwerden): „Was gehst Du denn mit denen Du weißt doch was dir blüht!“. Unter Vorwürfen fasse ich kommunikative Aktivitäten, in denen ein/e SprecherIn eine (vergangene oder gegenwärtige) Handlung (oder Einstellung) des Gegenübers als Fehlhandlung kritisiert (Günthner 1999a, 2000). Vorwürfe, die ich aufgrund ihrer Kleinformatigkeit als „kommunikative Muster“ (und nicht als komplexe Gattungen) bezeichne, machen bestimmte Reaktionen wie Rechtfertigungen, Entschuldigungen oder Gegenvorwürfe als Folgereaktion konditionell erwartbar (Günthner 2000:70ff.). Goffman (1971/82:138ff.) spricht in diesem Zusammenhang von einem „korrektiven Austausch“.14 Im vorliegenden Ausschnitt MARATHON macht Uwe seinem Gegenüber Fredi einen Vorwurf, indem er dessen Verhalten kritisiert und ihm zugleich die Verantwortung dafür zuweist: „was nLÄUFST du (auch) immer so weit WECH.“ (Z.133). ————— 14 Der „korrektive Austausch“ bei Goffman (1971/82) ist sehr weit gefasst und schließt sämtliche Handlungen in Verbindung mit Verletzungen des Territoriums des Gegenüber ein (z. B. Beschwerden, Anschuldigungen, Bitten etc.), die eine Korrektur erwartbar machen.
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In Vorwürfen (wie auch Beschwerden)15 wird von Seiten der SprecherInnen eine (vergangene oder gegenwärtige) Handlung oder Einstellung einer anwesenden (oder abwesenden) Person als Fehlhandlung vorgeführt. Im folgenden Transkriptsegment, das einem Familientischgespräch entstammt, wird ebenfalls eine „kausale“ was-Konstruktion produziert, und auch hier tritt diese in Zusammenhang mit dem kommunikativen Muster des Vorwurfs auf. Die Anwesenden (die Mutter (M), der Vater (V) und die Kinder (Ernst und Ulfa)) unterhalten sich über „Gewohnheitstrinker“. Die Mutter äußert in den Zeilen 10-11 einen Vorwurf an den Vater: ALKI (OBERSCHWABEN) 1M: 2Ulfa:
da trinkt ma- säuft ma doch nimmer für der DUr [scht.] [Also] ga [nz] 3M: [] 4V: [.] 5Ulfa: =