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German Pages [446] Year 2013
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Kommunikation im Fokus – Arbeiten zur Angewandten Linguistik
Band 1
Herausgegeben von Florian Menz, Rudolf de Cillia und Helmut Gruber
Wissenschaftlicher Beirat: Gerd Antos, Christiane Dalton-Puffer, Ursula Doleschal, Reinhard Fiehler, Elisabeth Gülich, Heiko Hausendorf, Manfred Kienpointner, Eva Vetter und Ruth Wodak Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
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Florian Menz (Hg.)
Migration und medizinische Kommunikation Linguistische Verfahren der Patientenbeteiligung und Verständnissicherung in ärztlichen Gesprächen mit MigrantInnen
Mit zahlreichen Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-940-6 Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhaltsverzeichnis
Florian Menz Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Menz, Martin Reisigl & Marlene Sator Migration, Interkulturalität und gemittelte Kommunikation im medizinischen Gespräch – einige Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Marlene Sator Familiendolmetschung vs. professionelle Dolmetschung I: Eine Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Marlene Sator & Elisabeth Gülich Familiendolmetschung vs. professionelle Dolmetschung II: Eine Systematisierung von Formen der Patientenbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . 147 Florian Menz Zum Vergleich von ärztlichen Konsultationen zu Kopfschmerzen bei gedolmetschten und nicht gedolmetschten Gesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Johanna Lalouschek Anliegensklärung im ärztlichen Gespräch – Patientenbeteiligung und neue Formen medizinischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Anhang: Transkriptionskonventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Florian Menz
Einleitung
Die in diesem Band versammelten Beiträge sind auf das FWF-Projekt »Schmerzund Krankheitsdarstellung II« zurückzuführen.1 Im Anschluss an ein Vorgängerprojekt, in dem es um monolinguale Schmerzkommunikation ging (Menz, Lalouschek, Sator, & Wetschanow, 2010), wurde nun der Fokus auf den Aspekt interkultureller Kommunikation gelegt, der aus mehreren Gründen als komplex und gesellschaftlich sowie medizinisch hochrelevant einzustufen ist. Denn zum einen thematisieren Ärzte und Ärztinnen in informellen Gesprächen immer wieder die besonderen Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, wenn sie Gespräche mit PatientInnen führen, deren Kompetenz in der Arztsprache gering oder gar nicht vorhanden ist, zum anderen zeigen zahlreiche Studien die systematische Benachteiligung von MigrantInnen im Gesundheitswesen (und daraus resultierend auch einen schlechteren Gesundheitszustand) auf (vgl. Baldaszti, 2003). Auf der hochspezialisierten Kopfschmerzambulanz der Wiener Universitätsklinik für Neurologie, mit der wir wie bereits im Vorgängerprojekt kooperierten, werden sehr ausführliche Anamnesegespräche, die mindestens eine halbe, aber auch bis zu einer ganzen Stunde dauern können, geführt, da die Schmerzbeschreibungen von PatientInnen ein wesentliches Diagnosekriterium sind. Dadurch erlangt das ärztliche Gespräch eine besondere Bedeutung, sodass sprachliche Verständigungsschwierigkeiten nicht nur die Kommunikation erschweren, sondern auch Diagnose und Therapie gefährden können. Daher sind die Gespräche auf dieser Ambulanz besonders geeignet, um vielfältige Kommunikationsprobleme mit PatientInnen mit Migrationshintergrund aufzuzeigen. Ein besonderer Fokus ist dabei den sprachlichen Verfahren und Strategien gewidmet, die es PatientInnen ermöglichen oder erschweren, am Gespräch (aktiv) teilzunehmen, ein Phänomen, das unter dem Begriff der PatientInnenbeteiligung auch in der medizinischen Forschung bereits in den Blickpunkt gerückt ist. Dass eine exkludierende Gesprächsabwicklung nicht nur auf mangelnde Sprachkenntnisse zurückzuführen ist, wird durch Johanna Lalouscheks Beitrag am Beispiel deutsch-erstsprachlicher 1 FWF-Projekt Nr. P20283-G03: Schmerz- und Krankheitsdarstellung II: Zur Rolle von Patientenbeteiligung und Transkulturalität. Laufzeit: 1.3.2008–31.12.2010. Leitung: Florian Menz; MitarbeiterInnen: Marlene Sator, Martin Reisigl, Johanna Lalouschek. Projektwebsite: http://www.univie.ac.at/linguistics/schmerzprojekt2/index.htm.
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Arzt-Patient-Gespräche deutlich vor Augen geführt. Damit wird ein zentraler Befund unseres Projekts deutlich: Gespräche mit PatientInnen mit unzureichenden Sprachkenntnissen unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern lediglich graduell von muttersprachlichen Gesprächen, da lediglich die Intensität bzw. die Frequenz der untersuchten Phänomene, nicht jedoch der Typus sich unterscheiden. Die methodologischen Ansätze, die allen Beiträgen zugrunde liegen, teilen wesentliche Kriterien des Wiener Ansatzes der Diskursanalyse, die sich im Rahmen der kritischen Diskursanalyse und in der philosophischen Tradition der Kritischen Theorie (Horkheimer & Adorno 1991, Habermas 1996, 1998) sieht und sich bereits sehr früh dem Studium medizinischer Kommunikation zugewandt hat (Hein, Hoffmann-Richter, Lalouschek, Nowak, & Wodak, 1985; Lalouschek, Menz, & Wodak, 1990; Menz, 1991; Wodak, 1996). Zentrale Grundlage, die sie mit (beinahe allen) anderen diskursanalytischen Ansätzen teilt, ist die Beschäftigung mit und Analyse von authentischer, natürlicher Kommunikation. Damit ist sie mit zentralen Grundannahmen der Gesprächsanalyse kompatibel (vgl. Sator i.d.Bd., v.a. Kap. 1.3). Darüber hinaus nimmt die Kritische Diskursanalyse und mit ihr der Wiener Ansatz eine dialektische Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und spezifischen Diskursen in dem Sinn an, dass die sozialen Strukturen einerseits die Form und den Inhalt der Diskurse wesentlich prägen, aber auf der anderen Seite auch die Diskurse sich auf die sozialen Strukturen (in bestätigender oder verändernder Weise) auswirken (vgl. Fairclough & Wodak, 1997; Menz, 2000; Reisigl & Wodak, 2001). In diesem Sinne werden in Form von Triangulierungen (s.u.) gezielt ethnographische Kontextinformationen mit einbezogen. Aus dem wechselseitigen Einflussverhältnis ergibt sich auch der emanzipatorische Anspruch kritischer Ansätze, herrschende Verhältnisse, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen systematisch benachteiligen, kritisch aufzudecken und zu ihrer Veränderung beizutragen. In den Empfehlungen zur Veränderung der Kommunikationssituationen, mit denen sich MigrantInnen im (österreichischen) Gesundheitswesen konfrontiert sehen, schlägt sich dieser Anspruch nieder. Die Validität der Aussagen und Ergebnisse wird durch das Prinzip der Triangulierung (Cicourel, 1970) und die Verbindung von qualitativen und quantitativen Methoden (Menz, 1984; Menz & Al-Roubaie, 2008; Wodak, 1981) erhöht.2 Das Prinzip der Triangulierung besteht darin, unterschiedliche Datenquellen als Analysegrundlage heranzuziehen, unterschiedliche Methoden anzuwenden, unterschiedliche Theorien gegenstandsbezogen miteinander zu verbinden und das Beobachtungsvermögen unterschiedlicher ForscherInnen zu nutzen. Im vorliegenden Projekt waren dies neben den ärztlichen Gesprächen auch Feldnotizen 2 Der Wiener Ansatz hat schon sehr früh vgl. (z.B. Hein et al. 1984, Lalouschek, Menz, & Wodak 1990) ethnographische und Kontextinformationen in ihre diskursanalytischen Untersuchungen einbezogen, um so die Aussagekraft der Daten zu erhöhen und zu verdichten. Seit einiger Zeit wird diese Kontextualisierung auch in der (deutschsprachigen) Konversationsanalyse – allerdings meist ohne Kontextbezug auf diese früheren Studien – postuliert (Deppermann, 2000).
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durch die BeobachterInnen sowie ExpertInneninterviews mit DolmetscherInnen und ÄrztInnen (vgl. auch Sator i.d.Bd). Der Grund, Triangulierungen vorzunehmen, liegt in unserem Verständnis von Kontext, der als vielschichtig gesehen werden muss: als unmittelbarer »synsemantischer« Ko-Text (v. Bühler 1934), aber auch als institutioneller Kontext, in dem die Gespräche stattfinden und der einen starken Einfluss auf die Aktualisierung der Gespräche ausübt. Schließlich ist auch der intertextuelle Kontext (de Beaugrande & Dressler 1981, Fairclough 1992) gerade bei den longitudinalen Fragestellungen (Sator i.d.Bd.) von herausragender Bedeutung, weil Vieles ohne die Berücksichtigung interdiskursiver Bezugnahmen unerklärbar bliebe. Die Kombination von qualitativen und quantifizierenden statistischen Methoden ist mittlerweile auch in andere Bereiche etwa der klassischen Konversationsanalyse (Stivers, 2005) vorgedrungen und ermöglicht einerseits weitergehende, verallgemeinernde Schlussfolgerungen, andererseits den Anschluss an die Forschungstraditionen und Paradigmata in der Medizin und Medizinsoziologie (Menz, 2011; Menz, Nowak, Rappl, & Nezhiba, 2008), ein Aspekt, der für die Verankerung und Anerkennung diskuranalytisch fundierter Forschung in deren Anwendungsbereichen unabdingbar wird. Das Projekt ist durch seine Themenstellung am Schnittpunkt zwischen medizinischer Kommunikation und Forschung zu Migration und Mehrsprachigkeit angesiedelt. Zu beiden Bereichen existieren am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien seit vielen Jahren Forschungsschwerpunkte. Insbesondere der interdisziplinär mit PolitikwissenschaftlerInnen, SoziologInnen, JuristInnen und PädagogInnen beschickte Arbeitskreis Migrationsforschung unter der Leitung von Rudolf de Cillia und Brigitta Busch war ein fruchtbares Forum des Austauschs, von dessen Expertise unser Projekt sehr profitieren konnte. Insbesondere soziolinguistische und migrationspolitische Aspekte konnten so ebenfalls in die Analysen und vor allem die gesellschaftlich relevanten Schlussfolgerungen einfließen. Das Konzept der interkulturellen Kommunikation bedarf vorab einiger Klärungen, um es sinnvoll verwenden zu können. Damit nicht jedem kommunikativen Problem vorschnell und unreflektiert »kulturelle« Unterschiede als (mono-)kausaler Faktor zugeschrieben werden, sind einige Monita und Caveats angebracht, von denen die folgenden hervorstechen (Reisigl, 2011, Menz, Reisigl & Sator i.d.Bd): – Kommunikationsprobleme würden – so Reisigl (2011: 102) – unter anderem daraus resultieren können, dass Schmerzen zunächst immer individuell erfahren und erlebt würden, weshalb Mitteilungen über sie auch in Interaktionen zwischen Teilnehmenden mit ähnlichem kulturellen Hintergrund die »Hürde der Subjektivität« nehmen müssten (vgl. dazu Engel & Hoffmann 2003, S. 18, aber auch Strempel 1981), – »Kultur«, »Transkulturalität« und »Interkulturalität« stellen laut Reisigl (2011: 102) sehr weit gefasste analytische Konzepte dar, die historisch variabel seien und sehr vielfältige Momente umfassen würden.
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– »Kulturelle Kategorisierung«, »kulturelle Identität« und »kulturelle Mitgliedschaft« seien keine fixen und kommunikativ vorgängigen Größen, sondern würden maßgeblich erst in Interaktionen von den GesprächsteilnehmerInnen hervorgebracht, reproduziert, transformiert und relevant gesetzt bzw. hinterfragt. – Eine kommunikative Schwierigkeit zwischen einer Ärztin und einem Patienten, die auf Differenz beruhe, sei zumeist nicht lediglich durch einen Faktor determiniert, sondern könne häufig multifaktoriell bedingt sein; neben kulturellen Aspekten würden also viele weitere Faktoren einen Einfluss auf das aktuelle Kommunikationsgeschehen ausüben, darunter das Persönlichkeitsprofil, die Tagesverfassung, konkrete Kommunikationsbedingungen, die Krankenvorgeschichte usw. – Schließlich könne ein beobachteter Unterschied auch ein Charakteristikum sein, das weniger eine aus dem Herkunftsland von MigrantInnen »mitgebrachte« kulturelle Eigenheit als vielmehr eine neue Verhaltensweise darstelle, die erst in der neuen Umgebung entwickelt wurde – beispielsweise auf der Grundlage teilweiser kultureller Angleichung und des Vergessens früherer traditioneller Verhaltensmuster (Reisigl 2011: 102; siehe dazu Engel & Hoffmann 2003, 20). Ein besonderes Charakteristikum der vorliegenden Arbeiten ist ihr spezifisches Untersuchungsdesign. Durch eine Reihe von Zufällen und einige Notwendigkeiten ergab sich die Chance, ein bisher einmaliges Design einer komplexen und vernetzten Datenerhebung zu entwickeln. Da das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien zugleich auch Universitätsklinik und daher vertraut mit wissenschaftlicher Forschung ist und diesbezüglich zudem auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf Seiten der PatientInnen vorhanden ist, konnten wir die Gespräche sowohl als Video- als auch als Audioaufnahmen3 dokumentieren. Damit ist es uns gelungen, das bisher größte transkribierte Videokorpus im deutschsprachigen Raum zur Arzt-Patient-Kommunikation mit PatientInnen mit multikulturellem Hintergrund aufzuzeichnen. Da das Aufnahmeteam aus zwei Personen bestand, konnte sich eine jeweils den technischen Aufgaben zuwenden, während die andere als teilnehmende Beobachterin Feldnotizen machen konnte. Auf Grund der engen Zusammenarbeit mit dem Ambulanzteam war es möglich, PatientInnen nicht nur bei ihrem Erstbesuch der Ambulanz zu kontaktieren und um ihre Mitarbeit zu bitten, sondern sie auch über einen längeren Zeitraum hinweg zu »begleiten« und die sogenannten Kontrollen, also Folgegespräche, eben3 Wegen der besseren akustischen Qualität wurde zusätzlich zum Mikrophon der Kamera ein digitales Aufnahmegerät auf dem Schreibtisch der ÄrztInnen platziert, so dass wir bei den Transkriptionen auf ausgezeichnete Aufnahmen zurückgreifen konnten. Insgesamt wurden im Rahmen des Projekts 56 Erst- und Kontrollgespräche zwischen ÄrztInnen und PatientInnen mit Migrationshintergrund und geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen (Muttersprachen hauptsächlich Türkisch oder BKS) auf der Kopfschmerzambulanz des Wiener Allgemeinen Krankenhauses auf Video aufgezeichnet. In 20 dieser Gespräche vermitteln jeweils Familienangehörige oder eine professionelle Dolmetscherin.
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falls zu dokumentieren. So konnten mehrere PatientInnen über einen Zeitraum von beinahe zwei Jahren in zum Teil auch größeren Abständen von mehreren Monaten aufgenommen und deren Gesprächsverhalten sowie das der beteiligten ÄrztInnen dokumentiert werden.4 Die Analyse von Wirkungsweisen bestimmter kommunikativer Verhaltensweisen und Kommunikationsprobleme, die erst nach einem längeren Zeitraum in Nachfolgegesprächen zutage traten (vgl. insbesondere Sator i.d.Bd., die ein folgenschweres Missverständnis in einem Erstgespräch detailliert analysiert), rückte erst durch die Einbeziehung von interdiskursiven und intertextuellen Kontextfaktoren in den Bereich des Möglichen. Darüber hinaus konnte auf Grund der langen Abstände zwischen den einzelnen Terminen und der damit verbundenen Planbarkeit eine professionelle Krankenhausdolmetscherin für Türkisch gewonnen werden, manche der Gespräche zu dolmetschen, so dass wir von einigen PatientInnen Gespräche mit unterschiedlicher dolmetschender Vermittlung zur Verfügung hatten.5 Dadurch konnten wir ein sehr differenziertes Bild von Formen ärztlichen sprachlichen Handelns mit PatientInnen, deren Deutschkenntnisse gering sind, gewinnen. Neben den professionell gedolmetschten Gesprächen sind in unserem Korpus auch zahlreiche Gespräche mit Sprachmittlungen durch (erwachsene) Familienangehörige oder FreundInnen sowie Gespräche, die ohne Mittlung durch Dritte stattfanden, dokumentiert. In allen Fällen sind alle Gesprächsbeteiligten vor je spezielle kommunikative Aufgaben gestellt, deren Lösung in den hier versammelten Beiträgen ausführlich analysiert und diskutiert wird. Der vorliegende Band ist daher mehr als ein herkömmlicher Sammelband. Er vereinigt Beiträge, die alle mit denselben Gesprächsdaten und verwandten Forschungsfragen arbeiten und die durch zahlreiche gemeinsame Datensitzungen, gemeinsam organisierte Workshops und Methodendiskussionen in Bielefeld und Wien miteinander verknüpft wurden. Dies schlägt sich dementsprechend in einer dichten Verwobenheit und starken Kohärenz der einzelnen Texte sowie in unterschiedlichen Kombinationen gemeinsamer AutorInnenschaft nieder. Die starke Vernetzung der Analysen des gemeinsamen Datenmaterials macht – um allzu große Redundanzen zu vermeiden – ein die relevante Literatur zusammenfassendes Kapitel am Beginn sinnvoll, auf das sich die weiteren Analysen 4 Das Projekt wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien und des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien-AKH freigegeben (EK Nr. 137/2008). Alle handelnden Personen haben der Teilnahme an der Studie schriftlich und mündlich zugestimmt. Sämtliche personenbezogenen Daten wurden in den Beiträgen in nur indirekt personenbezogener Form dargestellt, d.h. alle enthaltenen Namen, Adressen und Geburtsdaten wurden durch Pseudonyme ersetzt und die Gesichter in den Abbildungen unkenntlich gemacht. 5 Bei der in einigen Gesprächen hinzugezogenen professionellen Dolmetscherin handelt es sich um eine sogenannte »muttersprachliche Beraterin« des AKH Wien. Dieser Dienst wurde in Wien 1989 eingerichtet und er umfasst im AKH Wien derzeit zwei angestellte türkischmuttersprachliche Dolmetscherinnen, deren formales Einsatzgebiet auf die Frauen- und Kinderklinik beschränkt ist, jedoch werden die Beraterinnen bisweilen auch von anderen Kliniken genutzt. Die in unseren Daten hinzugezogene Dolmetscherin hat Teile eines akademischen Dolmetschstudiums sowie zahlreiche Weiterbildungen absolviert und ist seit Jahrzehnten als muttersprachliche Beraterin tätig.
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beziehen. In diesem Überblick ging es Martin Reisigl, Florian Menz und Marlene Sator nicht um eine umfassende Zusammenschau der Literatur zu interkultureller Kommunikation – dazu sind in den letzten Jahren eine Reihe von Sammelbänden, Anthologien und Nachschlagewerken erschienen (vgl. z.B. Kotthoff, 2009; Peintinger, 2011) –, sondern um die Diskussion einiger Aspekte, die für das Schnittfeld zwischen Forschung zu Migration und medizinischer Kommunikation zentral sind. Neben der Vergegenwärtigung von möglichen argumentativen Fallen im Zusammenhang mit dem Konzept der interkulturellen Kommunikation geht es vor allem um interaktive Beteiligungsrollen und -möglichkeiten von Menschen, deren Sprach- und Institutionskenntnisse so gering sind, dass sie systematische Benachteiligungen zu gewärtigen haben. Marlene Sator konnte aufgrund des speziellen Datenmaterials in einer umfangreichen Fallstudie der Frage nachgehen, wie sich das Sprachmittlungsverhalten von Familienangehörigen von dem professioneller DolmetscherInnen unterscheidet, wobei die untersuchte Patientin in einer Longitudinalstudie über beinahe zwei Jahre bei allen Gesprächen auf der Kopfschmerzambulanz aufgenommen wurde. Anhand des ausführlichen Fallbeispiels werden einige zentrale Phänomene und Problembereiche in gedolmetschten ärztlichen Gesprächen, die sich im gesamten Datenmaterial als relevant erwiesen haben, im Kontext aufgezeigt, in dem sie auftauchen. In den Folgekapiteln werden einige davon, wie z.B. Beteiligungsrahmen, Interaktionsmodi, die Gesprächsorganisation, die Verständnisförderung, die propositionale Ebene, die Handlungsebene der Dolmetschung, die Entscheidungsfindung, Initiativen der Patientin und deren interaktive Behandlung ausführlich und systematisch behandelt. Insgesamt wird in der Analyse deutlich, dass die Interaktionsbeteiligung das Ergebnis eines multimodalen Zusammenspiels aller drei InteraktantInnen ist, in dem nonverbale Verfahren wie Blickrichtung und Kopfwendungen entscheidend beteiligt sind. Die Fallstudie in Form einer ausführlichen Sequenzanalyse von Marlene Sator zeigt, dass die türkischsprachige Patientin durch die Beteiligung von Familienangehörigen vermehrt aus dem Gespräch ausgegrenzt wird. Patientenbeteiligung wird jedoch als zunehmend wichtig in der Arzt-Patient-Beziehung erkannt. In ihrem auf dieser Fallstudie aufbauenden Beitrag vergleichen Marlene Sator & Elisabeth Gülich Interaktionsmodi und Beteiligungsformen von PatientInnen in Settings mit unterschiedlichen Dolmetschformen. Dabei zeigen sie, dass die Komplexität der Arzt-Patient-Interaktion durch die Hinzuziehung einer dritten Person stark anwächst. Insgesamt fünfzehn unterschiedliche Beteiligungsformen konnten sie in den Gesprächen mit Sprachmittlung identifizieren und dabei deutliche Unterschiede zwischen der professionellen Dolmetscherin und den FamiliendolmetscherInnen feststellen. Während die professionelle Dolmetscherin fast ausschließlich »dolmetschend als « (also in der 1. Person Singular) in beide Richtungen übersetzt, kann das sprachmittelnde Verhalten der Familienangehörigen als LaiendolmetscherInnen als »dolmetschend über«, also in der dritten Person gekennzeichnet werden. Noch häufiger kommen aber nicht-dolmetschende Äußerungen
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und die Form »nicht-dolmetschend an Stelle von « vor, wo die Familienangehörigen statt der Patientinnen den Turn übernehmen. Darüber hinaus zeigen sie auf, dass die Exklusion von PatientInnen graduell über zunächst sehr kleine, manchmal kaum wahrnehmbare Handlungen initiiert wird, die sich im Laufe einer Sequenz oder des gesamten Gesprächs zu drastischen Konsequenzen und Entscheidungen über die PatientInnen hinweg entwickeln können. Der Beitrag von Florian Menz stellt in zweierlei Hinsicht einen Schnittpunkt dar: einerseits weil er für die quantitative Auswertung auch auf das Korpus aus dem Vorgängerprojekt zurückgreift und dadurch mit einer Samplegröße von 75 Gesprächen, die kodiert werden konnten, arbeiten kann. Diese Größe ist auch für die Zuverlässigkeit statistischer Aussagen ausreichend und erlaubt es daher, in einigen Aspekten statistisch relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Neben einer deskriptiven, graphisch unterstützten Aufbereitung der Stichprobe wurden einige quantitative Variablen wie Länge der Gesamtgespräche und Dauer der Gesprächsbeiträge der einzelnen InteraktantInnen sowie einige stärker linguistisch motivierte Parameter wie der Typus der Eröffnungsfrage und der Zeitpunkt der ersten redestrukturierenden Unterbrechung durch den Arzt/die Ärztin erfasst und zu einigen personen- sowie gesprächsbezogenen Variablen in Beziehung gesetzt. Dabei zeigte sich erwartungsgemäß, dass die Sprachkompetenz der PatientInnen einen Einfluss auf die Gesprächsstrategien der ÄrztInnen hatte, indem diese weniger komplex fragten und stärker strukturierend eingriffen. Überraschend hingegen waren die Ergebnisse bezüglich der Länge der Gespräche: Gedolmetschte Gespräche dauerten im Schnitt nicht länger als nicht gedolmetschte, und die Redebeiträge der DolmetscherInnen gingen eindeutig zu Lasten der PatientInnen, deren Gesprächsanteile in gedolmetschten Gesprächen deutlich geringer wurden, während diejenigen der ÄrztInnen keine signifikanten Änderungen zeigten. Zum anderen unterstützen die quantifizierenden Auswertungen die Aussagen, die in den qualitativen Untersuchungen von Sator und Gülich in großer Detailliertheit und Genauigkeit ausgearbeitet wurden, und sie liefern zusätzliche Argumentationshilfen für die Forderung nach Änderungen im bestehenden System. Dass Interaktionsbeteiligung von PatientInnen nicht nur ein Problem bei ungenügenden Kenntnissen der Arztsprache ist, zeigt in einem abschließenden Beitrag Johanna Lalouschek. In insgesamt fünf exemplarischen Fallstudien untersucht sie unterschiedliche Formen der Anliegensformulierung durch PatientInnen und das mehr oder minder starke Eingehen der ÄrztInnen darauf. So kann es dazu kommen, dass durch unvorhergesehene Unterbrechungen zu Beginn des Gesprächs die eigentlichen Anliegen gar nicht geäußert werden oder dass sie umgelenkt oder ausgeblendet werden (vgl. dazu auch Sator, 2011). Nur in speziellen Fällen (etwa wenn die PatientInnen sehr große Erfahrung haben), gelingt die Formulierung und Durchsetzung von Anliegen. Lalouschek kommt zu dem Schluss, dass zwischen die bekannten Phasen der Eröffnung und Beschwerdenschilderung auch ein eigener Schritt der »initialen Klärung des Anliegens« in das ärztliche Gespräch explizit eingeführt werden müsste.
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Weder die Studie noch die Publikation wären ohne die Unterstützung und Mitarbeit von Anderen möglich gewesen. An erster Stelle möchte ich den Patientinnen und Patienten des AKH Wien danken, die an dieser Studie teilgenommen haben und durch ihre Kooperation es ermöglichten, die Gespräche aufzuzeichnen und auszuwerten. Auch wenn sie anonym bleiben, ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, bei vertraulichen Gesprächen neben den MedizinerInnen die Anwesenheit eines linguistischen Teams samt Videokamera zu akzeptieren. Mutatis mutandis gilt das natürlich auch für die gesprächsführenden ÄrztInnen, die dem zusätzlichen Druck der Aufnahme und dem Wissen um die anschließende Analyse standzuhalten hatten. Dass ihr Interesse an Fortbildung und ihr Verständnis von wissenschaftlicher Forschung dies möglich gemacht hat, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Insbesondere der Leiter der Abteilung, Univ.-Prof. Dr. Christian Wöber, hat unser Projekt auch gegen zeitweilige institutionelle Widerstände durchgehend und mit Verve unterstützt. Sein Engagement und Einsatz nicht nur als nomineller Kooperationspartner waren eine Voraussetzung für die Durchführbarkeit einer derartigen Longitudinalstudie, die eine erhebliche Belastung für die Organisationseinheit bedeutete. Dafür möchte ich ihm meinen ganz besonderen Dank aussprechen. Dass die Untersuchung in der vorliegenden Weise durchgeführt werden konnte, ist auch der Bereitschaft der professionellen Dolmetscherin zu verdanken, außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitsstelle freiwillige Mehr- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn trotz der offensichtlichen Vorteile und Entlastung der MedizinerInnen stehen der Hinzuziehung professioneller SprachmittlerInnen nach wie vor Bedenken gegenüber. Ohne den Einsatz und die Mitarbeit von fortgeschrittenen Studierenden der Sprachwissenschaft wäre die aufwändige Erhebung und Aufbereitung der Daten nicht zu bewältigen gewesen. Allen voran sei Elke Brandner und Ina Pick für die umsichtige Unterstützung bei den Aufnahmen und die Korrektur der Transkriptionen gedankt. Für Erstellung der Transkripte in EXMARALDA, das spezieller Kenntnisse bedarf, damit sie auch quantifizierend auswertbar sind, möchte ich ebenfalls Elke Brandner, Ina Pick und Lisa Blasch herzlich danken. Für die türkischen Passagen konnten wir auf die linguistische und sprachliche Expertise von Melissa Akin zurückgreifen. Sie hat auch bei den gemeinsamen Datensitzungen des Forschungsteams durch ihre Kenntnis beider Sprachen viel Erhellendes beigetragen. Ihr gilt mein spezieller Dank. Konrad Ehlich, Jochen Rehbein, Werner Kallmeyer, Reinhard Fiehler und Stephan Habscheid ließen uns während längerer Aufenthalte am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien in mehrtägigen gemeinsamen Datensitzungen an ihrem umfassenden Expertenwissen teilhaben und haben für das Projekt wesentliche Diskussionsbeiträge geliefert. Kristin Bührig, Bernd Meyer, Ortrun Kliche und Birte Pawlack haben die ProjektmitarbeiterInnen zu überaus fruchtbaren gemeinsamen Datensitzungen und Workshops nach Hamburg eingeladen. Ihnen allen gilt unser ganz besonderer Dank. Es versteht sich von selbst, dass die vor-
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handenen Unzulänglichkeiten zu Lasten der AutorInnen gehen. Elisabeth Gülich schließlich war ursprünglich als Kooperationspartnerin des Projekts vorgesehen, doch ihre langen Aufenthalte in Wien, ihre Begeisterung für die Gespräche und ihr fortdauerndes Interesse an gemeinsamen Datensitzungen und -analysen machten sie nicht nur zu einer Mitarbeiterin, sondern zu einer Mitautorin. Darüber freuen wir uns ganz besonders. Zuletzt möchte ich mich auch für die Unterstützung durch den Verlag bei der Erstellung des Manuskripts, die durch die zahlreichen Transkripte, Bilder und Tabellen, nicht immer einfach war, herzlich bedanken. Nur dadurch ist es möglich, dass dieser Band in der vorliegenden Form erscheinen konnte. Wien, im Dezember 2012
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Migration, Interkulturalität und gemittelte Kommunikation im medizinischen Gespräch – einige Überlegungen
1.
Einleitung
Obwohl Mehrsprachigkeit aufgrund von Migration durch die Globalisierungswellen der letzten Jahrzehnte zunehmend zum Alltagsfaktor in den großen Städten geworden ist, spiegelt sie sich in der Forschung zur medizinischen Kommunikation noch unzureichend wider, und auch im täglichen Umgang in der ärztlichen Praxis wird diesem Umstand bislang nicht ausreichend Rechnung getragen. Erst in den letzten Jahren macht sich das Bewusstsein breit, dass auch Krankheit und Kranksein unter kulturellen Aspekten relevant wird. Allerdings ist auch zu konstatieren, dass bisher viele Aussagen nicht über anekdotische Berichte und »mehr oder weniger klischeeartig vorgetragene Kulturunterschiede« (Meyer, 2003: 164) hinausreichen. Diverse Institutionen wie z.B. die »Amsterdam Charta of Migrant Friendly Hospitals« weisen auf die Gefahr hin, dass in Bezug auf kulturelle Unterschiede möglicherweise eher Stereotype reproduziert werden, als dass erhellende Ursachen aufgezeigt werden (www.mfh-eu.net, Punkt 3), und dass nicht jedes Missverständnis mit nicht-deutschen MuttersprachlerInnen kulturell bedingt ist (vgl. z.B. auch das Interview mit dem Ethnomediziner Ekkehard Schröder im Standard vom 25.11.2009). Mittlerweile wird erkannt, dass eine gewisse »Fremdheit« (z.B. bezüglich der Institutionen des Gesundheitswesens), aber auch ein eingeschränkter Zugang zu relevanten Informationen Hauptfaktoren für ungleiche bzw. benachteiligende Zuwendungen sind. »Fremdheit« ist jedoch nicht auf eine andere Sprachzugehörigkeit oder »Kultur« beschränkt, sondern ist auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft oder eines Staates ein Faktum und z.B. durch soziale Milieus oder auch Geschlecht gegeben (Bührig & Meyer, 1998, Blasch, Menz & Wetschanow, 2010, Menz & Lalouschek, 2005). Und schließlich kann auch das Medizinsystem selbst mit den darin aufeinandertreffenden unterschiedlichen professionellen und lebensweltlichen Perspektiven (vgl. Mishler 1984) als »a cultural system« (Kleinman 1988) angesehen werden, das von kulturellen Unterschieden zwischen AgentInnen und KlientInnen geprägt ist, sodass auch monolinguale ÄrztInnen-PatientInnen-Gespräche als »inter-kulturell« definierbar sind (vgl. Roberts 2007/2009: 244).
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Daher ist eine Präzisierung des von uns verwendeten Kulturbegriffs aus wissenschaftstheoretischer Perspektive angebracht, was im folgenden Abschnitt in drei metareflexiven Anmerkungen gemacht werden soll (vgl. auch Reisigl 2011).
2.
Einige Monita zum Kulturbegriff
Die erste kritische Anmerkung betrifft allgemeine Monita zum Umgang mit kulturellen Zuschreibungen in Studien zu interkultureller Kommunikation. Bedenklich wäre es, kulturelle Zugehörigkeit als direkten und (mono)kausalen Faktor für verschiedenste Phänomene und Schwierigkeiten der Verständigung zwischen deutschsprachigen ÄrztInnen und PatientInnen verantwortlich machen zu wollen. Vielmehr gilt es erstens zu beachten, dass Kommunikationsprobleme daraus resultieren können, dass Schmerzen zunächst immer individuell erfahren und erlebt werden, weshalb Mitteilungen über sie auch in Interaktionen zwischen Teilnehmenden mit ähnlichem kulturellen Hintergrund und gleicher Erstsprache die »Hürde der Subjektivität« nehmen müssen (vgl. dazu Engel & Hoffmann 2003, 18, aber auch Strempel 1981). Zweitens sind »Kultur«, »Transkulturalität« und »Interkulturalität« sehr weit gefasste und historisch variable analytische Konzepte, die mannigfaltige Momente umfassen. Drittens sind kulturbezogene Kategorien wie »kulturelle Identität« und »kulturelle Mitgliedschaft« keine fixen und kommunikativ vorgängigen Größen, sondern sie werden maßgeblich erst in Interaktionen von den GesprächsteilnehmerInnen hervorgebracht, reproduziert, transformiert und relevant gesetzt oder hinterfragt. Viertens ist eine kommunikative Schwierigkeit zwischen einer Ärztin und einem Patienten, die auf Differenz beruht, zumeist nicht monofaktoriell determiniert, sondern sie kann häufig vielfältig verursacht sein. Neben einem oder verschiedenen kulturellen Aspekten (Stichworte: »multiple« Identität“, und »kulturelle Mehrfachmitgliedschaft«) üben also viele weitere Faktoren einen Einfluss auf das aktuelle Kommunikationsgeschehen aus, darunter z.B. das Persönlichkeitsprofil (Extrovertiertheit, Introvertiertheit usw.), die Tagesverfassung der Interagierenden, die konkreten pragmatischen Kommunikationsbedingungen (Zeitdruck, räumliche Bedingungen), die Krankenvorgeschichte usw. Als fünftes Monitum sei festhalten, dass eine festgestellte Differenz auch ein Charakteristikum sein kann, das weniger eine aus dem Herkunftsland von MigrantInnen »mitgebrachte« kulturelle Eigenheit als vielmehr eine neue Verhaltensweise darstellt, die in der neuen Umgebung entwickelt wurde – etwa auf der Grundlage teilweiser kultureller Angleichung und des Vergessens früherer traditioneller Verhaltensmuster (Engel & Hoffmann 2003, 20). Die zweite Feststellung bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen »transkultureller« und »interkultureller« Analyse von interkultureller Kommunikation. Diese an der unterschiedlichen Semantik der lateinischen Präpositionen »trans« (im Sinne von »über . . . hinaus«) und »inter« (im Sinne von »zwischen, inmitten«) orientierte begriffliche Unterscheidung soll im gegebenen Zusammenhang
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eine grundlegende Differenz in der Annäherung an den Untersuchungsgegenstand explizieren helfen: Eine »transkulturelle Untersuchung« von interkultureller Kommunikation beruht unserer Auffassung nach auf einem analytischen Zugang, bei dem die Kultur der Forschenden als Hintergrund bzw. Ankerpunkt präsupponiert ist und die Forschenden über diese Kultur hinausgehen, um die andere und die eigene Kultur analytisch in den Blick zu nehmen: Eine »interkulturelle Untersuchung« von interkultureller Kommunikation beruht dagegen auf einem Zugang, der von einer mehr oder weniger äquidistanten Warte auf die in die untersuchte Kommunikation involvierten Kulturen blickt, bei der die Analyse also inmitten der Kulturen vorgenommen wird, die untersucht werden sollen. Die Studie, um die es im vorliegenden Beitrag geht, erfolgt aus einer transkulturellen Perspektive, weil wir als ForscherInnen im konkreten Fall der Kultur der Ärzte und ÄrztInnen näher stehen als den Kulturen der PatientInnen. Um den ethnozentrischen und transkulturellen Bias etwas abzuschwächen, bitten wir bei der Analyse von türkisch gedolmetschten Gesprächen auch die Transkribentin der türkischen Gesprächsausschnitte um ihre Interpretation bestimmter Gesprächsausschnitte. Die dritte Feststellung erfolgt aus einer argumentationstheoretischen Perspektive und bezieht sich auf den Kulturbegriff als explikatives und argumentatives Konzept: Der Kulturbegriff dient oft dazu, eine Gruppe oder »Gemeinschaft« von Menschen auf der Basis von Generalisierung, Homogenisierung, Assimilation und Dissimilation zu typisieren. Argumentationstheoretisch gesprochen bedeutet dies, dass wir als Forschende, aber auch die GesprächsteilnehmerInnen, die wir analysieren, immer wieder die kulturbezogenen Argumentationsmuster des Gleichheits-, Differenz- und Konsequenztopos bemühen (Kienpointner 1996, 103–116, 129–157) oder aber die mit diesen drei Topoi inhaltlich korrelierenden Trugschlüsse. (1) Der kulturbezogene Gleichheitstopos verwendet den Kulturbegriff auf eine Art, die überindividuelle Gleichheit und Homogenität behauptet und dabei leicht Gefahr läuft, sich des Trugschlusses der voreiligen Generalisierung (als Trugschluss der Gleichheit) schuldig zu machen. Eine Variante dieses Argumentationsmusters beruht auf illustrativer Beispielargumentation (Kienpointner 1996, 157 ff.). Sie lässt sich formal mit der folgenden konditionalen Formel repräsentieren: Da Person A mit der geographischen Herkunft H / mit der Muttersprache M die Eigenschaft X aufweist, und da Person B mit der geographischen Herkunft H / mit der Muttersprache M die Eigenschaft X aufweist, und da Person C mit der geographischen Herkunft H / mit der Muttersprache M die Eigenschaft X aufweist, weisen (vermutlich) viele / alle Personen mit der geographischen Herkunft H / mit der Muttersprache M die Eigenschaft X auf.
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Eine andere Version dieses Gleichheitstopos oder Trugschlusses lautet: Da die Personen A und B hinsichtlich der Eigenschaft X ähnlich oder gleich sind, sind sie ähnlich oder gleich zu bewerten bzw. zu behandeln.
(2) Der kulturbezogene Topos oder Trugschluss der Differenz ist ein Argumentationsschema, bei dem der Kulturbegriff der Grenzziehung bzw. Abgrenzung dient. Er lässt sich unter anderem auf die folgende abstrakte Formel bringen: Da die Personen A und B kulturell different sind, kommt es zu Verhalten / Problem X.
(3) Das eben erwähnte Argumentationsmuster ist gleichzeitig oft auch ein Konsequenztopos oder ein trugschlüssiges Argumentum ad consequentiam in dem Sinne, dass die, die sich auf den Kulturbegriff berufen, die Behauptung aufstellen, dass etwas aus kulturellen Gründen so sei, wie es sei. Drei Varianten dieses Argumentationsmusters können wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Da die Kultur einer spezifischen Gruppe so und so ist, ergibt sich daraus etwas ganz Bestimmtes / führt dies zu etwas ganz Bestimmtem. Die Zugehörigkeit zu Kultur K führt zu Verhalten X / führt zu Problem X. Die kulturelle Verschiedenheit zwischen A und B führt zu Problem X / zum Kommunikationsproblem X, zu Konflikt X, etc.)
Als ForscherInnen über interkulturelle Kommunikation müssen wir uns fragen, ob in unseren Interpretationen von Gesprächsdaten, in denen wir Gesprächsphänomene mit kulturellen Faktoren in Zusammenhang bringen, diese Phänomene tatsächlich mit der kulturellen Zugehörigkeit der GesprächsteilnehmerInnen zu tun haben oder durch andere Faktoren wie etwa den sozioökonomischen Status und Bildungsstand mitbedingt sind, für die wir nicht so ohne weiteres oder unmittelbar die (zum Beispiel ethnisch aufgefassten) Kulturen der SprecherInnen verantwortlich machen können. Wir müssen uns davor hüten, einfache, von Stereotypizität geprägte Erklärungen anbieten zu wollen, die ein spezifisches Problem, das wir in einem Gespräch oder in einigen wenigen Gesprächen beobachten, gleich einer ganzen Kultur zuschreiben.
3.
Migration und Soziodemographie
Neben kulturellen Zuschreibungen geben soziodemographische Faktoren und Aspekte einen weiteren zu berücksichtigenden Hintergrund für die Einordnung und Interpretation von migrationspolitischen Aspekten des Gesundheitswesens ab. So weist der »National Report Austria« zur »Soziale[n] Exklusion und Gesundheit von MigrantInnen in Österreich« darauf hin, dass insbesondere die soziale Schichtzugehörigkeit für die unterschiedliche Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen verantwortlich zeichnet und dass Sprachbarrieren und Informationsmangel die größten Hindernisse auf einem Weg der Partizipation sind (Baldaszti, 2003: 41). Der Bericht macht deutlich, dass Personen aus der
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Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich zu österreichischen PatientInnen ohne Migrationshintergrund unter einer insgesamt höheren Gesundheitsbelastung leiden. Die 2006 und 2007 in Österreich erneut durchgeführte Gesundheitsbefragung kam diesbezüglich zu folgendem Schluss: »Personen türkischer oder ex-jugoslawischer Herkunft nehmen im Vergleich zu Personen österreichischer Herkunft eher kurative als präventive Gesundheitsangebote in Anspruch. Vor allem stationäre Aufenthalte und die Inanspruchnahme praktischer Ärztinnen und Ärzte sind bei Personen ausländischer Herkunft häufiger. Zum anderen werden jedoch zahnärztliche und augenärztliche Leistungen von dieser Bevölkerungsgruppe seltener in Anspruch genommen – bei beiden Leistungen können hohe Selbstbehalte anfallen. Zudem nehmen Frauen ausländischer Herkunft weniger häufig als Österreicherinnen regelmäßige gynäkologische Untersuchungen in Anspruch. [. . . ] Hinweise auf eine stärkere Gesundheitsbelastung von Personen aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien zeigten sich bei allen im Rahmen der Österreichischen Gesundheitsbefragung 2006/07 erfassten chronischen Krankheiten. Besonders über chronische Wirbelsäulenbeschwerden klagten Personen ausländischer Herkunft häufiger als Österreicher/-innen (37 % vs. 30 %). Aber auch von Migräne bzw. häufigen Kopfschmerzen und von chronischer Angst und Depression zeigten sich Personen ausländischer Herkunft stärker betroffen. Hingegen berichteten Personen aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien, deutlich seltener von Allergien betroffen zu sein als Österreicher/-innen (10 % vs. 17 %).« (Statistik Austria 2010, S. 64, zit. nach Reisigl 2011, 106 f.)).
Betrachtet man die betreffenden Statistiken in der Publikation zur »Österreichischen Gesundheitsbefragung 2006/07« genauer (Statistik Austria 2007, S. 96–97, 102–105, 257–261), zeigt sich im Einzelnen Folgendes. In der Gruppe jener Befragten, die während der letzten 12 Monate Schmerzen hatten, waren deutlich mehr Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (23,7 %) als Personen mit österreichischer Staatsangehörigkeit (16,6 %), die angaben, Kopfschmerzen gehabt zu haben. Unter denen, die aussagten, dass sie während der letzten 12 Monate unter Migräne oder starken Kopfschmerzen gelitten hätten, gab es 74,7 % ausländische StaatsbürgerInnen, die auch während der letzten sieben Tage mit diesen Schmerzen konfrontiert gewesen waren, während im Vergleich dazu nur 58,8 % der österreichischen StaatsbürgerInnen, die im letzten Jahr Kopfschmerzen oder Migräne hatten, behaupteten, während der letzten Woche mit dem Problem konfrontiert gewesen zu sein. Ob dieser erhebliche Unterschied unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass ausländische StaatsbürgerInnen weniger erfolgreich gegen ihre Kopfschmerzen vorgehen und ärztlich behandelt werden als österreichische StaatsbürgerInnen, müsste in einer eigenen Studie erforscht werden. In der Gruppe jener Befragten, die aussagten, schon einmal an Migräne oder häufigen Kopfschmerzen gelitten zu haben, sagten die in Österreich lebenden ausländischen StaatsbürgerInnen häufiger als die österreichischen StaatsbürgerInnen von sich, dass ihnen Migräne oder häufige Kopfschmerzen in den letzten 12 Monaten Beschwerden bereitet hätten (83,3 % versus 79,8 %) und dass sie in den letzten 12 Monaten gegen diese Schmerzen Medikamente eingenommen hätten (66,7 %
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versus 61,7 %). Andererseits sagten in der Gruppe der von Migräne und häufigem Kopfschmerz Geplagten ausländische StaatsbürgerInnen weniger oft als österreichische StaatsbürgerInnen aus, dass sie dieses Gesundheitsproblem in den letzten 12 Monaten von einem Arzt oder einer Ärztin diagnostiziert bekommen hätten (58,2 % versus 65,3 %). Dass diese Diskrepanz darauf zurückzuführen sein könnte, dass PatientInnen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft häufiger als österreichische StaatsbürgerInnen rezeptfreie Medikamente gegen Kopfschmerzen einnehmen und in dieser Angelegenheit weniger oft ärztlichen Rat suchen, ist zu mutmaßen, müsste allerdings überprüft werden. In ihrer Auswertung der 2006 und 2007 durchgeführten Gesundheitsbefragung kommen Klimont, Ihle, Baldaszti und Kytir, die vier StudienautorInnen von Statistik Austria (2008), hinsichtlich der Frage nach soziodemographischen und sozioökonomischen Determinanten von Gesundheit und Krankheit zum Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, an Kopfschmerzen zu erkranken, bei Menschen mit niedrigerem Einkommen insgesamt höher ist als bei Menschen mit höherem Einkommen (Statistik Austria 2008, S. 24), dass das Risiko, an Kopfschmerzen einschließlich Migräne zu erkranken, bei arbeitslosen Menschen höher ist als bei erwerbstätigen Personen (wobei hier das Risiko für arbeitslose Frauen höher ist als für arbeitslose Männer; Statistik Austria 2008, 71, 73), dass Frauen mit niedriger Schulbildung (Pflichtschulbildung) häufiger an Migräne und anderen Kopfschmerzen erkranken als Frauen mit höherem Bildungsstand (Statistik Austria 2008, S., 42) und dass sowohl Männer als auch Frauen mit Migrationshintergrund mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit unter Migräne und häufigen Kopfschmerzen leiden als Menschen ohne Migrationshintergrund, wobei Frauen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Frauen ohne Migrationshintergrund doppelt so oft Gefahr laufen, an Migräne und anderen Kopfschmerzen zu erkranken (Statistik Austria 2008, S. 85 f.). Diese statistischen Daten lassen klar erkennen, dass direkte und monokausale Attributionen, die eine bestimmte Kultur für die Häufigkeit des Auftretens einer Krankheit wie Kopfschmerzen alleinverantwortlich machen würden, fehl am Platz sind, dass migrationsbedingte Einflüsse bei der Kodetermination von Kopfschmerzen und des Umgangs mit ihnen aber nicht zu leugnen sind.
4.
Migration – Medizin – Linguistik
4.1.
Sprachbarrieren und interkulturelle Kompetenz
Erfahrene PraktikerInnen im Gesundheitswesen bestätigen, dass nicht so sehr kulturelle Unterschiede als vielmehr mangelnde Zeit für Gespräche das größte Problem für MigrantInnen auf einem Weg der Partizipation sei1 . Doch darin unter1 Vgl. z.B. Yvonne Schaffler von der Medizinischen Universität Wien, Institut für Geschichte der Medzin, »Unit Ethnomedicine and International Health« (http://www.meduniwien.ac.at/ histmed/ethnomed.htm) im Gespräch mit »Der Standard« vom 25.11.2009.
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scheiden sich Gespräche mit PatientInnen mit geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen nicht von jenen mit deutscher Muttersprache. Es scheint daher sinnvoll, sich zunächst die Sprachbarrieren in der medizinischen Kommunikation näher anzusehen, ohne (vorschnell) kulturelle Verhaltensmuster und Besonderheiten als Erklärungsmodelle heranzuziehen. Untersuchungen zeigen (vgl. z.B. Roberts et al., 2005), dass bei geringen Kenntnissen der Sprache des Arztes spezifische Formen von Missverständnissen auf allen Ebenen des Sprachsystems, der Interaktion und der Kontextualisierung auftreten können. Dies betrifft: – Aussprache und Wortbetonung, – Intonation und Redewiedergabe, – Grammatik, Wortschatz und Kontextinformationen. – Vor allem aber der Stil, in dem PatienInnen mit einer anderen Muttersprache als der des Arztes oder der Ärztin ihre Beschwerden und Symptome präsentieren, zeigt folgenschwere Unterschiede zu jenem von PatientInnen mit derselben Muttersprache. Der Präsentationsstil hat einen entscheidenden Einfluss auf Missverständnisse, da er die Erwartungshaltung der Ärzte unterlaufen und dadurch Verständnisschwierigkeiten verursachen kann (Meeuwesen et al., 2010). So sind viele PatientInnen, die mit den westlichen Gesundheitssystemen nicht vertraut sind, von deren Symptomorientiertheit überrascht, die den von ihnen erlernten Mustern der Kontaktherstellung und Beziehungsgestaltung durch Formen des »small talk« zu Beginn eines Gesprächs zuwiderläuft. Derartige unterschiedliche Formen der Selbstdarstellung im ärztlichen Gespräch sind viel häufiger für kommunikative Probleme verantwortlich als etwa kulturspezifisch unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit und Gesundung (Roberts et al., 2005). Vor allem jedoch widersprechen die in westlichen Gesellschaften zunehmend geforderten patientInnenorientierten Gesprächsstrategien sehr häufig den Erwartungen von PatientInnen mit anderem kulturellen Hintergrund hinsichtlich der Beziehung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen. Ein Mehr an Orientierungen und Informationen über den Ablauf (Roberts, 2006: 190) erschwert in solchen Fällen die Kommunikation tendenziell, statt sie zu erleichtern. Entscheidend für eine Verbesserung sind daher verstärkte Sensibilisierung und Erhöhung der Achtsamkeit für derartige Präsentationsstrategien durch entsprechende Trainings. Herkömmliche Kommunikationstrainings auf der Basis monolingualer SprecherInnen sind unbrauchbar, weil sie genau diese Probleme unterschiedlicher Selbstdarstellungen und Erwartungen an bzw. Annahmen über Gespräche nicht lösen. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass sich Rollenerwartungen und kommunikative Aufgaben der ÄrztInnen in der Kommunikation mit nicht-deutschen MuttersprachlerInnen ändern, etwa hin zu stärker nicht-medizinischen Fragen und einem höheren Anteil an verwaltungsspezifischen als medizinischen Problemen (Valero-Garcés, 2002). Ebenso gewichtig sind strukturelle Widersprüche,
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die auf die bürokratische (administrative) Organisation des Gesundheitswesens zurückzuführen sind (Roberts, 2006), etwa die zunehmende Notwendigkeit der Dokumentation und die Verwendung der dafür vorgegebenen computerisierten Muster und Abfolgen. Sie orientieren sich an monolingualen SprecherInnen und benachteiligen ebenfalls PatientInnen mit eingeschränkten Kenntnissen der Behandlungssprache.
4.2.
Sprachmittlung
Ein gänzlich anderes Setting zur Lösung der interaktiven Probleme in multilingualen und multikulturellen Begegnungen ist die Hinzuziehung von DolmetscherInnen. Eine Krankenhausumfrage von Pöchhacker hat bereits 1996 gezeigt, wie sehr das Krankenhauspersonal verschiedener Wiener Krankenhäuser Sprachbarrieren in der Kommunikation mit PatientInnen mit Migrationshintergrund als relevant und problematisch einschätzt: Von den über 500 Befragten an 71 Abteilungen in 12 Krankenhäusern gaben 95 % der Befragten an, dass sie PatientInnen mit geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen versorgen müssten. Insgesamt 67 % der Befragten gaben an, dass bei der Verständigung ohne die Hilfe Dritter »häufig« oder »fast immer« Probleme auftreten, und insgesamt 79 % der Befragten äußerten, dass die Vermittlung durch Begleitpersonen zu Kommunikationsproblemen führen würde. Die Vermittlerrolle übernahmen in den meisten Fällen Begleitpersonen (v.a. Kinder), Krankenhauspersonal (Reinigungs- und Pflegepersonal) und nur selten sogenannte »muttersprachliche Beraterinnen« (Pöchhacker 1996: 11). Angesichts der umfangreichen Literatur soll hier auf jene Untersuchungen fokussiert werden, die linguistisch orientierte Ansätze verfolgen, eine Forschungsrichtung innerhalb der Dolmetschstudien, die zunehmend an Gewicht und Aufmerksamkeit gewinnt (Pöchhacker & Shlesinger, 2005: 157, vgl. auch Bolden, 2000, Pöchhacker & Shlesinger, 2007, Bührig, 2001, Bührig & Meyer, 2004; für einen Überblick über das gesamte Spektrum an Disziplinen und Ansätzen der Erforschung von Dolmetschen im Gesundheitswesen vgl. Pöchhacker 2006). Das sogenannte Kommunaldolmetschen (community interpreting)2 lässt sich grob in zwei große Bereiche unterteilen, nämlich in professionelles Dolmetschen einerseits (zu dem hier auch die Tätigkeit von DolmetscherInnen gezählt wird, die in einer Gesundheitseinrichtung angestellt sind und bezahlt werden, jedoch über keinen
2 Sonja Pöllabauer (2002: 197) beschreibt diese Form des Dolmetschens wie folgt: »Community Interpreters ermöglichen Menschen, deren Mutter- und Bildungssprachenicht die des Gastlandes ist, den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen des Gastlandes (z. B. Krankenhaus, Gerichte, Polizeistationen, Sozialeinrichtungen, Schulen etc.). Sie helfen zwei oder mehr Gesprächsparteien, die einander nicht gleichgestellt sind und über unterschiedliches soziokulturelles Vorwissen verfügen, zu ihrer gegenseitigen Zufriedenheit zu kommunizieren. Community Interpreters tragen demnach zum Abbau sprachlicher und kultureller Barrieren bei.«
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Abschluss einer entsprechenden akademischen Ausbildung verfügen) und Laiendolmetschen andererseits. 4.2.1. Professionelles Dolmetschen Diskursanalytisch orientierte Studien zu professionellem Dolmetschen stehen an der Schnittstelle zwischen einem normativen Paradigma und einem angewandten linguistischen Paradigma. Das normative Paradigma ist von professionellen Normen des Dolmetschens geprägt, die regeln, inwieweit nur gedolmetscht, alles gedolmetscht, adäquat gedolmetscht werden soll und inwiefern der oder die DomletscherIn neutral zu sein hat (vgl. Wadensjö 1995). Das angewandte linguistische Paradigma, das insbesondere durch die Arbeiten von Celia Wadensjö (1992, 1995, 1998) etabliert wurde, plädiert für einen interaktionistischen, nichtnormativen, dialogischen Zugang, der die Gesprächsbedürfnisse der Beteiligten in den Vordergrund stellt (vgl. auch Pöchhacker 2004). Die Widersprüche, die sich zwischen rollenspezifischen Postulaten und ethischen Richtlinien von Dolmetschverbänden auf der einen Seite und den tatsächlichen interaktiven Handlungen auf der anderen Seite ergeben, führen nicht selten zu Interaktionsdilemmata (Angelelli, 2004). So wird in Ausbildungseinrichtungen nach wie vor verlangt, dass DolmetscherInnen nicht als eigenständige Persönlichkeiten in der gedolmetschten Situation hervortreten dürften, sondern »unsichtbar« zu bleiben hätten. Angelellis Analyse von beinahe 400 gedolmetschten kommunikativen Ereignissen (davon die überwiegende Anzahl in Form von Telefonkontakten; die DolmetscherInnen sind Angestellte eines krankenhausinternen Dolmetschdienstes, haben jedoch keine akademische Dolmetschausbildung) zeigt jedoch auf, dass eine Reihe von sprachlichen Handlungen auf eine Sichtbarkeit der DolmetscherInnen hinweist, vor allem die folgenden: – DolmetscherInnen stellen sich als am gedolmetschten Interaktionsereignis teilnehmendes Mitglied vor; sie verbalisieren Interaktionsregeln (z.B. Turnübernahmeregeln); – sie paraphrasieren (Fach-)Ausdrücke oder Konzepte; – sie ändern Register nach oben oder unten (z.B. übersetzen sie in einem informelleren Register als dem der ursprünglichen Äußerung); – sie filtern Informationen; – sie übernehmen Perspektiven einer Partei. Über die Ebene der einzelnen sprachlichen Äußerung hinaus ist die interaktive Teilnahme der DolmetscherInnen auch von ihrem Verständnis des Zwecks des Gesprächs und nicht nur vom Ziel des Übersetzens geprägt (Bolden, 2000; Davidson 2000). Die Studie von Bolden (2000; es handelt sich ebenfalls um einen im Krankenhaus angestellten Dolmetscher mit einschlägigen Schulungen, jedoch ohne akademische Dolmetschausbildung) macht deutlich, dass DolmetscherInnen nicht passive TeilnehmerInnen am Interaktionsgeschehen sind, sondern ihre Übersetzungen stark von der ärztlichen Perspektive geprägt sind:
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Sie teilen die normative Orientierung der Ärzte und Ärztinnen an möglichst objektiv formulierten biomedizinisch relevanten Informationen. Diese Orientierung äußert sich nicht nur in einer Hochstufung von Informationen, die sie für relevant halten (z.B. eine möglichst vollständige Erhebung von Symptomen), sondern auch in einer Unterdrückung von subjektiv orientierten PatientInneninformationen zu soziopsychologischen Fragenkomplexen. Davidson (2000) zeigt, dass DolmetscherInnen (in seiner Studie bezahlte Angestellte des Krankenhauses, aber ohne Abschluss einer entsprechenden akademischen Ausbildung) weniger FürsprecherInnen oder Vertretung der PatientInnen sind, sondern vielmehr als institutionelle Insider fungieren, die sich mit der Institution verbünden und als informelle »gatekeeper« tätig werden, »who keep the interview ›on track‹ and the physician on schedule« (Davidson 2000, 400, vgl. auch Wadensjö, 1998). Während Bolden (2000) also bei der Beteiligung von DolmetscherInnen im Sinne Mishlers (1984) eine Verstärkung der »Stimme der Medizin« feststellt, stellen Merlini & Favaron (2005) in ihrer Untersuchung von allerdings nur drei gedolmetschten Gesprächen fest, dass die (in ihrer Studie offiziell akkreditierten und angestellten) Dolmetscherinnen eine eigenständige Position einnehmen, in der sie zwischen den ärztlichen und den Sichtweisen der PatientInnen mitteln. Die Analyse einiger sprachlicher Besonderheiten (prosodische Merkmale wie Intonation und Emphase, Redeübernahme, Unterbrechungen etc.) arbeitet das starke Engagement der Dolmetschenden in der Interaktion als Charakteristikum dieser Mittlerposition heraus – ein Engagement, bei dem allerdings die PatientInnen stark einbezogen werden. Gleichwohl weisen Sator & Gülich (i.d.Bd.) nach, dass weitere Differenzierungen nötig sind, um dem komplexen System triadischer Kommunikation einigermaßen gerecht zu werden. Untersuchungen zeigen auch, dass MigrantInnen in Befragungen den Einsatz professioneller DolmetscherInnen als sehr wichtig einschätzen (Borde & David, 2005; Valero Garcés, 2005). Allerdings kommen professionelle DolmetscherInnen bislang, wenn überhaupt, eher im Krankenhaus als in der niedergelassenen Praxis zum Einsatz. Eine Sonderform des professionellen Dolmetschens ist die schriftliche Information (Wesselmann et al., 2004: 45 ff.). Manche Inhalte eignen sich dafür besonders gut, weil sie standardisierte Informationen enthalten. Insbesondere organisatorische Informationen über den Ablauf in der Praxis, die Auflistung von Organisationen und Institutionen, die unterstützend tätig sind und von denen es mittlerweile eine beträchtliche Anzahl gibt, gehören zu den schriftlich vermittelten Angaben. Auch der Einsatz von Piktogrammen kann hier hilfreich sein (Parmakerli, 2010: 162). 4.2.2. Laiendolmetschen Gespräche mit dolmetschenden »Laien« sind vor gravierende Kommunikationsprobleme gestellt. Unter dem Begriff »LaiendolmetscherInnen« sind SprachmittlerInnen zu verstehen, die keine Ausbildung als DolmetscherInnen haben und
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zu Kommunikationszwecken eingesetzt werden, ohne dass sie in einer Gesundheitseinrichtung für diese Zwecke angestellt wären. Sie dürften im medizinischen Bereich weitaus häufiger sein, als gemeinhin angenommen wird (vgl. Pöchhacker & Kadric, 1999). Im Wesentlichen umfassen LaiendolmetscherInnen zwei Gruppen von Personen, die sich in Bezug auf ihre Kompetenzen unterscheiden. Die wohl größte Gruppe sind Familienangehörige oder befreundete Personen der PatientInnen, die zur Konsultation mitgenommen werden und als DolmetscherInnen fungieren sollen. Wenn es sich dabei um (minderjährige) Kinder handelt, können solche Dreiparteien-Konstellationen nicht zuletzt große ethische Probleme aufwerfen, abgesehen davon, dass bei Kindern neben der emotionalen Betroffenheit häufig auch die kognitiven Fertigkeiten noch nicht genügend ausgebildet sind, um verlässliche Dienste absolvieren zu können. Die zweite Gruppe sind Angehörige von medizinischen und Gesundheitsberufen, die eine multilinguale Kompetenz haben und als DolmetscherInnen eingesetzt werden (z.B. Pflegekräfte oder Reinigungspersonal im Krankenhaus, aber auch Ordinationsassistentinnen etc.). Diese Gruppe wird in manchen Pilotprojekten geschult, um sprachmittelnde Aufgaben kompetent wahrnehmen zu können (Meyer, 2003, Wesselmann et al., 2004). Denn während zumindest das medizinische Personal gegenüber Familienangehörigen oder FreundInnen der PatientInnen den Vorteil aufweist, dass es meistens mit den institutionellen Abläufen vertraut ist und eine medizinische Vorbildung hat, ist – wie die zitierten Untersuchungen zeigen – die Beherrschung von zwei oder mehreren Sprachen allein noch keine Garantie für zufriedenstellendes Dolmetschen. Die Probleme, die sich ergeben, wenn »Laien« die Aufgabe der dolmetschenden Sprachmittlung übernehmen, sind vielfältig: Mit dem Problem der oft mangelhaften semantischen Akkuratheit von gedolmetschten Äußerungen im Vergleich zu den jeweiligen Ausgangsäußerungen beschäftigten sich viele frühere, dem normativen Paradigma verpflichtete Arbeiten schwerpunktmäßig (vgl. dazu Pöchhacker & Shlesinger, 2005). Aber auch im Rahmen des interaktionistischen, nicht-normativen, dialogischen Zugangs seit Wadensjö’s Arbeiten waren abweichende Übertragungen immer wieder Gegenstand von Untersuchungen. Wadensjö selbst (1998) entwickelte eine entsprechende Taxonomie von Dolmetschäußerungen, in der sie u.a. zwischen den Kategorien close rendition, expanded rendition, reduced rendition, substituted rendition, summarized rendition und non-rendition differenzierte. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass 1:1-Dolmetschungen von einer Sprache in die andere aufgrund von Bedeutungsunterschieden und sozialen sowie historischen Kontextdifferenzen prinzipiell nicht möglich sind (Davidson, 2002). Die Übersetzung von medizinischen Fachausdrücken macht Familienangehörigen bei der Wissensvermittlung in diagnostischen Aufklärungsgesprächen häufig Probleme, die durch bestimmte Prozeduren wie die Wiederholung des Wortes in der Ausgangssprache (also z.B. des deutschen Fachausdrucks im Portugiesischen) oder die Ersetzung durch Umschreibungen kompensiert werden (Meyer, 2004). Auch Zeigegesten auf betroffene Stellen am Körper oder im Informationsfolder
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sowie Wort-für-Wort-Übersetzungen in die Zielsprache werden als Hilfsstrategien angewandt. Letztere führen häufig zu Problemen beim Verstehen, so dass die gedolmetschten Aufklärungsgespräche für die Zustimmung zu Eingriffen an Qualität zu wünschen übrig lassen und die Informationen weniger genau und vollständig sind als in monolingualen Gesprächen (Bührig & Meyer, 2004, Meyer, 2004). Als problematisch im Hinblick auf die Gesprächsqualität erweist sich in Gesprächen mit »LaiendolmetscherInnen« auch deren Umgang mit Fragen: So zeigt Valero Garcés (2005, 2002), dass von professionellen DolmetscherInnen alle ärztlichen Fragen übersetzt und kaum neue hinzugefügt werden, von den nichtprofessionellen Dolmetschenden jedoch nur ca. 14 % der Fragen übersetzt, hingegen durchschnittlich 50 % der Fragen direkt von der Dolmetscherin oder vom Dolmetscher (etwa dem Ehemann) beantwortet und auch deutlich mehr neue Fragen eingebracht werden. Weiterhin sind von Laien gedolmetschte Gespräche aufgrund der relativ geringen linguistischen Kompetenz des Dolmetschers oder der Dolmetscherin einem hohen Risiko des Missverständnisses ausgesetzt (Sator & Gülich i.d.Bd., Abschn. 4.3.3). Das Dilemma liegt dann darin, dass keine der beteiligten Seiten über angemessene linguistische Ressourcen verfügt, um das Missverständnis zu »reparieren« (Roberts, 2007/2009: 251). Auch der Umgang mit den in gedolmetschten Diskursen veränderten Kommunikationskonventionen wie dem Kooperationsprinzip stellt für LaiendolmetscherInnen häufig ein großes Problem dar (vgl. dazu Bührig, Meyer, Kliche & Pawlack, 2012). Als typisch für »LaiendolmetscherInnen« stellt sich schließlich der von ihnen häufig vollzogene Perspektivenwechsel heraus: Während akademisch ausgebildete ÜbersetzerInnen lernen, in der 1. Person zu dolmetschen, benutzen »LaiendolmetscherInnen«, jedoch auch nicht akademisch ausgebildete, aber professionell arbeitende DolmetscherInnen (vgl. Bot, 2005), meistens die 3. Person, häufig in Verbindung mit Berichtsverben (»sie sagt«) (vgl. auch Dubslaff/Martinsen, 2005). Bot (2005) sieht darin jedoch kein so großes Problem, wie häufig in der Literatur angenommen wird, sondern interpretiert den Perspektivenwechsel vielmehr als eine Adaption an die interaktive Realität. Der Beitrag von Sator & Gülich (i.d.Bd.) zeigt jedoch anhand von prozessorientierten Analysen, dass derartige Perspektivenwechsel systematische interaktive Konsequenzen haben, die zu einem nachhaltigen Ausschluss der PatientInnen aus der Interaktion führen können. Wie vielfach konstatiert, hinkt die Forschung zum Dolmetschen im Gesundheitswesen insgesamt, aber vor allem auch im Bereich angewandter Linguistik bzw. Soziolinguistik, anderen Forschungsgebieten hinterher (vgl. u.a. Pöchhacker & Shlesinger, 2005, Pöchhacker, 2006, Roberts, 2007/2009). Viele Studien arbeiten mit sehr kleinen Korpora, sodass ihre Ergebnisse nur als explorativ eingeschätzt werden können und weiterer Überprüfungen bedürfen. Die folgenden Beiträge dieses Bandes schließen einige der Forschungslücken zum Vergleich zwischen professionellem und »Laiendolmetschen« und geben Hinweise zu Maßnahmen, die
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gesetzt werden können, um die Benachteiligung von PatientInnen, die die Sprache der Medizin ungenügend beherrschen (Schouten & Meeuwesen, 2006), etwas zu mildern.
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Marlene Sator
Familiendolmetschung vs. professionelle Dolmetschung I: Eine Fallstudie1
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Datenmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zielsetzung und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gesprächsanalytisches Vorgehen und Aufbau der Fallstudie . . . . . . . 2 Analyse der einzelnen Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Erstgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen 2.1.2 Analyse ausgewählter Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kontrollgespräch 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen 2.2.2 Analyse ausgewählter Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kontrollgespräch 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen 2.3.2 Analyse ausgewählter Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 34 35 37 40 40 40 42 42 51 56 60 78 82 82 84 84 90 91 91 93 93 102 108
1 Ich danke Martin Reisigl, Florian Menz, Elisabeth Gülich, Elke Brandner, Ina Pick, Melissa Akin, der Hamburger Forschungsgruppe Kristin Bührig, Bernd Meyer, Ortrun Kliche sowie Birte Pawlack, den TeilnehmerInnen der Datensitzung im Rahmen des Verbal-Workshops anlässlich der Österreichischen Linguistiktagung (ÖLT) vom 6.–8.12.2008 in Wien und Franz Pöchhacker sehr herzlich für wertvolle Diskussionen und wichtigen Input.
34
Marlene Sator
2.4
Kontrollgespräch 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen 2.4.2 Analyse ausgewählter Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kontrollgespräch 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen 2.5.2 Analyse ausgewählter Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sequenzanalyse 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.
Einleitung
1.1.
Datenmaterial
110 110 112 112 127 128 129 131 131 137 141 142 143
Die folgende Studie dokumentiert den Fall einer türkischsprachigen Patientin, die aufgrund ihrer Beschwerden an die Kopfschmerzambulanz weiterverwiesen wurde.2 Die Patientin kommt ursprünglich aus der Türkei und lebt seit über 30 Jahren in Österreich. Ihre Muttersprache ist Türkisch und ihre Deutschkenntnisse sind als gering einzustufen. Die Patientin leidet seit fast 20 Jahren unter Kopfschmerzen, ist seit vielen Jahren bei einem niedergelassenen Neurologen in Behandlung und kommt das erste Mal auf die Kopfschmerzspezialambulanz des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Während des Erhebungszeitraums leidet sie unter täglichen Kopfschmerzen und zunehmender Niedergeschlagenheit und Angstzuständen. Auf der Kopfschmerzambulanz werden bei ihr zunächst die Diagnosen einer Migräne ohne Aura3 sowie eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch4 , ein Zustand nach Medikamentenabusus und Hypertonie gestellt, die im Laufe des
2 Die Patientin hat sich mündlich und schriftlich zur Aufzeichnung und wissenschaftlichen Verwendung der Gespräche einverstanden erklärt. 3 Die klassische Form einer Migräne. Siehe http://ihs-classification.org/de/02_klassifikation/ 02_teil1/01.01.00_migraine.html. 4 Ein Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch entsteht häufig bei PatientInnen mit primären Kopfschmerzerkrankungen wie einer Migräne oder einem Kopfschmerz vom Spannungstyp, wenn die PatientInnen zu häufig Schmerzmittel einnehmen. Der Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch überlagert dann den primären Kopfschmerz in Form eines meist täglichen Dauerkopfschmerzes. Bevor der primäre Kopfschmerz behandelt werden kann, muss der Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch durch einen Schmerzmittelentzug therapiert werden. Dieser Entzug kann entweder stationär oder ambulant erfolgen. Siehe http://ihs-classification.org/de/ 02_klassifikation/03_teil2/08.02.00_substance.html.
Familiendolmetschung vs. professionelle Dolmetschung I
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Erhebungszeitraums um die Diagnosen einer Depression und einer Angststörung ergänzt werden. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden das Erstgespräch dieser Patientin auf der Kopfschmerzambulanz sowie die vier folgenden Kontrollgespräche auf Video aufgezeichnet. Es waren jeweils eine oder zwei Projektmitarbeiterin(nen) bei den Gesprächen anwesend und führten eine teilnehmende Beobachtung durch (Sie werden daher im Folgenden als »Beobachterin(nen)« bezeichnet). Alle Gespräche außer das zweite Kontrollgespräch wurden vom selben Arzt geführt, das zweite Kontrollgespräch von einer Ärztin. Beim Erstgespräch und beim dritten Kontrollgespräch übernahm jeweils die Tochter der Patientin die dolmetschende Vermittlung, beim ersten Kontrollgespräch die Schwiegertochter und beim zweiten und vierten Kontrollgespräch eine professionelle Dolmetscherin (siehe auch das Einleitungskapitel von Menz i.d.Bd.). Nachdem beim Erstgespräch festgestellt wurde, dass die Patientin übermäßig viele Medikamente einnimmt und unter einem Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch leidet, wurde vereinbart, dass sie für einen Schmerzmittelentzug stationär aufgenommen werden sollte. Beim ersten Kontrollgespräch stellte sich dann aber heraus, dass die Patientin den Aufnahmetermin nicht wahrgenommen hat, sie wäre »spontan in die Türkei gefahren«. Es handelt sich also um einen klassischen Fall von Non-Compliance, d.h. einem Nicht-Befolgen von verordneten therapeutischen Maßnahmen. Der Arzt zeigte sich gegenüber den Beobachterinnen ob des als unkooperativ gedeuteten Verhaltens der Patientin hochgradig verärgert und unzufrieden. Ausgehend von diesem manifesten Kommunikationsproblem stellten wir uns die Frage, warum denn die Patientin non-compliant war und machten uns auf die Suche nach möglichen Erklärungen, indem wir die Entscheidungsfindungssequenzen im Erstgespräch unter die Lupe nahmen.
1.2.
Zielsetzung und Fragestellungen
Über die Aufdeckung des dargestellten manifesten Kommunikationsproblems hinaus ist das Ziel dieser Fallstudie, einige zentrale Phänomene und Problembereiche in gedolmetschten ärztlichen Gesprächen, die sich im gesamten Datenmaterial als relevant erwiesen haben, und die z.T. in den Folgekapiteln ausführlich und systematisch behandelt werden sollen, anhand eines Fallbeispiels im Kontext, in dem sie auftauchen, aufzuzeigen und damit ins Buch einführen. Die folgenden Phänomene und Problembereiche werden näher in den Blick genommen: Beteiligungsrahmen: Wie beteiligen sich PatientInnen mit geringen Deutschkenntnissen an gedolmetschter Interaktion und wie werden sie beteiligt? Welcher Beteiligungsrahmen wird interaktiv hergestellt und wie verändert sich dieser im Gesprächsverlauf?
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Marlene Sator
Interaktionsmodi: Welche Interaktionsmodi finden sich in den gedolmetschten Gesprächen und wann und wie finden Wechsel des Interaktionsmodus statt? Gesprächsorganisation: Wie organisieren die Beteiligten das bilinguale triadische Gespräch? Verständnisförderung: Welche Verfahren setzen die gesprächsführenden ÄrztInnen ein, um das Verständnis zu fördern bzw. sicherzustellen? Propositionale Ebene und Handlungsebene der Dolmetschung: Wird gedolmetscht? Was wird gedolmetscht? Wie wird gedolmetscht? Wird nur gedolmetscht? Entscheidungsfindung: Wie werden medizinische Entscheidungen in der Interaktion getroffen? Initiativen der Patientin und deren interaktive Behandlung: Welche thematische Initiativen setzt die Patientin und wie tut sie dies? Wie werden ihre Initiativen interaktiv behandelt? Die Themenkomplexe Beteiligungsrahmen, Interaktionsmodi und Gesprächsorganisation werden im Beitrag von Sator/Gülich (i.d.B.) aufgegriffen und in Form von Fallkollektionen anhand des gesamten gedolmetschten Datenmaterials ausführlich behandelt. Auf die Einarbeitung relevanter Literatur wurde in dieser Fallstudie bewusst verzichtet, da dies im einführenden Kapitel von Menz/Reisigl/Sator (i.d.Bd.) und im Rahmen der systematischen Behandlung der einzelnen Themenkomplexe (Sator/Gülich i.d.Bd.) erfolgt. Die vorliegende Fallstudie erlaubt zwar keinen systematischen Vergleich zwischen den interaktiven Leistungen von nicht zum Dolmetschen ausgebildeten Familienangehörigen und jenen einer professionellen Dolmetscherin, zumal die Bedingungen der fünf Gespräche – entsprechend des weitgehend natürlich gehaltenen Designs der Datenerhebung – nach verschiedenen Parametern variieren: gesprächsführende(r) Ärztin/Arzt, Begleitpersonen, Krankheitsverlauf und therapeutische Interventionen, institutionelle Rahmenbedingungen (dem Gespräch vorausgehende Nachtdienste des gesprächsführenden Arztes), etc. Die Analysen der fünf aufeinander folgenden Gespräche einer Patientin mit wechselnder dolmetschender Vermittlung vermag aber einen Einblick zu geben in interaktive Verfahren und Dynamiken, die u.a. mit der Art der dolmetschenden Vermittlung in Zusammenhang stehen. Damit können die Analysen erstens bisherige Befunde aus der einschlägigen Literatur weiter untermauern (siehe dazu das Kapitel von Menz/Reisigl/Sator i.d.Bd. und Sator/Gülich i.d.Bd.). Zweitens können
Familiendolmetschung vs. professionelle Dolmetschung I
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sie eine empirisch-qualitativ abgesicherte Grundlage für stärker kategorisierend, kontrolliert-prüfend und quantifizierend vorgehende Vergleichsstudien liefern. Ein erster Schritt in Richtung einer Kategorienbildung wird in Bezug auf die Bereiche ›Beteiligungsrahmen‹ und ›Gesprächsorganisation‹ im auf dieser Fallstudie aufbauenden Beitrag von Sator/Gülich (i.d.Bd.) geleistet. Der spezifische Wert eines solchen Designs und Vorgehens liegt m.E. darin, interessierende Phänomene und Problembereiche herauszuarbeiten und darzustellen, und dabei die in weitgehend natürlichen Interaktionen vorhandene Komplexität durch das Forschungsdesign gerade nicht zu reduzieren, sondern weitgehend zu erhalten (komplexitätserhaltende anstelle einer komplexitätsreduzierenden Herangehensweise).
1.3.
Gesprächsanalytisches Vorgehen und Aufbau der Fallstudie
In methodischer Hinsicht folgt die vorliegende Fallstudie dem Vorgehen einer ethnographischen linguistischen Gesprächsanalyse (Deppermann 2000)5. Wenn in diesem Rahmen eine ausführliche Darstellung der Methode auch nicht geleistet werden kann, so soll dennoch auf einige Grundannahmen und zentrale methodologische Orientierungen dieser Fallstudie hingewiesen werden. Das Vorgehen der Fallstudie ist ein datengeleitetes, induktives und abduktives, d.h. Ziel ist es, von den Daten zu Kategorien zu gelangen, und nicht umgekehrt bereits vorgegebene Kategorien auf das Datenmaterial anzulegen. Aus Gründen der Leserfreundlichkeit wurden die Phänomene und Problembereiche, die sich in der Datenanalyse als relevant herauskristallisiert haben, jedoch bereits vorab in Abschn. 1.2 dargestellt. Die Studie geht u.a. von den folgenden Grundannahmen aus: »Vollzugswirklichkeit« (Bergmann 1994): Wirklichkeit wird »von den Interagierenden ›lokal‹ hervorgebracht und intersubjektiv ratifiziert« (ebd.: 6). Im Sinne einer solchen »dialogisch-konstruktivistischen Sichtweise« (ebd.: 4) wird »erst in und mit Interaktion [. . . ] schrittweise soziale Realität geschaffen, die von den Interagierenden jedoch meist als vorgegeben erlebt wird« (ebd.). Dabei zeigen die Interagierenden einander ständig auf, wie sie ihre Äußerungen gegenseitig interpretieren (»Display-These«, vgl. z.B. Schegloff 1997). Kommunikation als zweckorientiertes, komplexes soziales Handeln (Holly 1992, Deppermann 2001a): Durch Sprechen werden Handlungen vollzogen und interaktive Aufgaben6 oder Probleme gelöst, die zumeist den Status von »unproblematischen Problemen« 5 Der Terminus »Ethnographische Gesprächsanalyse« stammt ursprünglich von Schwitalla (1986). 6 Vgl. zum Konzept der Gesprächsaufgabe auch Kallmeyer/Schütze (1976) sowie Kallmeyer/ Schütze (1977); Kallmeyer (1977), Kallmeyer (1985) und Schegloff (1996).
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(Bergmann 1981: 22) haben. So muss in den untersuchten Gesprächen z.B. der Sprecherwechsel organisiert werden, und die Beteiligten stehen vor der Aufgabe zu organisieren, welcher Sprache sie sich bedienen und wie Verständigung sichergestellt wird. Methodische Lösungen interaktiver Aufgaben (Schegloff 1996, Deppermann 2001a): Jeder Beitrag einer/s Gesprächsbeteiligten wird als eine methodische Lösung für ein gegebenes Problem angesehen. In der Analyse gilt es zu rekonstruieren, für welches Problem der produzierte Beitrag eine Lösung bzw. einen Lösungsversuch darstellt (vgl. auch Deppermann 2001a: 80 f.). Gespräch als sequentiell organisierter Prozess (Schegloff 1984, Deppermann 2001a): Das Gespräch konstituiert sich Schritt für Schritt (vgl. Deppermann 2001a: 75) und die Beiträge einer/s Beteiligten sind abhängig von allem vorausgehenden kommunikativen Handeln im Gespräch (Schegloff 1984). Aus diesen Grundannahmen ergeben sich für die vorliegende Fallstudie einige zentrale methodologische Orientierungen: 1. Analyse der Interaktion »from within« (Garfinkel, vgl. Bergmann 1994): Es gilt, nicht von außen an das Gespräch angelegte Kategorien zu untersuchen, sondern jene Kategorien, die für die Interagierenden selbst relevant sind und die sie sich im Gespräch gegenseitig fortlaufend anzeigen, herauszufinden. 2. Funktionsanalyse und nicht Intentionsanalyse (Deppermann 2001a: 83): Es geht nicht darum zu rekonstruieren, was die Beteiligten mit ihrem kommunikativen Handeln bewusst oder unbewusst intendiert haben, sondern welche Funktionen mit dem kommunikativen Handeln in und mit Interaktion erfüllt und welche übergeordneten Aufgaben bearbeitet werden. 3. »Order at all points« (Sacks 1984, Bergmann 1994): Gemäß der »Order at all points«-Maxime fungiert jedes Detail als Beitrag zur Herstellung von sozialer Ordnung. Für die Analyse bedeutet dies, dass kein Detail des Interaktionsgeschehens von vornherein als zufällig abgetan werden darf. 4. Sequentielle Rekonstruktion: Die Herstellung von Bedeutung soll durch Sequenzanalysen schrittweise, d.h. Redebeitrag nach Redebeitrag (turn-by-turn) rekonstruiert werden. Dabei soll vermieden werden, im Transkript vor- und zurückzuspringen und Früheres durch Späteres zu erklären, da das Interaktionsgeschehen ja aus der Perspektive der InteraktantInnen entfaltet werden soll (Deppermann 2001a: 54).
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5. Multimodale Analyse von Interaktion: Besonderer Wert wird auf die multimodale Analyse, d.h. auf das Zusammenwirken verschiedener Modi der »face to face«-Kommunikation, gelegt, denn es zeigt sich, dass die analytische Reduktion auf die verbalen Anteile der Kommunikation nicht einfach nur ein weniger umfassendes, sondern ein qualitativ anderes Verständnis dessen, was die InteraktantInnen miteinander tun, hervorbringt. Die Analyse lenkt also den Blick auf »[the] simultaneous use of structurally different kinds of semiotic practices [. . . ] in different media which mutually elaborate each other to create a whole that is different from, and greater than, any of its constituent parts« (Goodwin 2007: 55). 6. Gezielter Miteinbezug ethnographischer Kontextinformationen (Moerman 1988; Schmitt 1992; Deppermann 2000; 2001a und 2001b): Gemäß des Forschungsdesigns des Projekts, das sich im methodologischen Rahmen der Wiener Schule der Kritischen Diskursanalyse verortet (siehe das Einleitungskapitel von Menz i.d.Bd.) werden auch in dieser Fallstudie ethnographische Kontextinformationen, wie sie z.B. durch die gezielte Erhebung der Sozialdaten der Patientin, die Krankenakte oder durch die informellen Nachgespräche der BeobachterInnen mit den gesprächsführenden ÄrztInnen gewonnen wurden, gezielt mit einbezogen. Die Fallstudie ist folgendermaßen aufgebaut: Die fünf Gespräche werden der Reihe nach analysiert, wobei jeweils zunächst das gesamte Gespräch in Bezug auf seine Makrostruktur, zentrale Inhalte und Handlungen beschrieben wird. Für die Analyse der Makrostruktur wird auf das Konzept des »Handlungsschema« zurückgegriffen. Ein Handlungsschema enthält nach Spranz-Fogasy (2005) Wissen über obligatorische und fakultative Komponenten, deren typische Abfolge sowie über die von den TeilnehmerInnen zu bearbeitenden Aufgaben im Rahmen dieser Komponenten (ebd.: 20).7 Spranz-Fogasy (2005: 21) macht anhand seiner Untersuchung von ärztlichen Erstgesprächen in der Praxis niedergelassener Ärzte fünf zentrale Komponenten des Handlungsschemas aus: Begrüßung und Gesprächseröffnung, Beschwerdeschilderung und -exploration, Diagnosestellung, Therapieplanung und -entwicklung, Gesprächsbeendigung und Verabschiedung. Nowak (2010) zählt zu diesem Handlungsschema als eigene Komponente noch die körperliche Untersuchung hinzu.8 Dieses Handlungssche7 »Unter einem Handlungsschema wird ein kulturell verbreiteter und von den Gesellschaftsmitgliedern gewusster Vorstellungszusammenhang verstanden, der Angaben über konstitutive Bestandteile der komplexen Handlung enthält (›was dazu gehört‹), Angaben über die logische Struktur der Handlungsentwicklung (›was wann kommt‹) und Angaben über unerlässlicheBeteiligungsvoraussetzungen der Beteiligten (›was man dazu braucht‹) (Nothdurft (1984)). Die konstitutiven Bestandteile werden auch als ›Schemakomponenten‹ bezeichnet, die logische Struktur als ›Abfolge-Struktur‹.« (Nothdurft/Spranz-Fogasy 1991: 223). 8 Vgl. auch Lalouschek (i.d.Bd.), die dafür plädiert, die Klärung der Anliegen der PatientInnen als eigenständige Komponente zu werten.
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ma liegt auch dem hier analysierten Erstgespräch zugrunde, die Kontrollgespräche folgen einem nur leicht abweichenden Schema, das über die Komponenten des Erstgesprächs hinaus eine Verlaufskontrolle enthält, dafür die Komponenten Beschwerdeschilderung und -exploration, Diagnosestellung sowie Therapieplanung und -entwicklung in reduzierter Form und keine körperliche Untersuchung. Im Anschluss an die Beschreibung der Makrostruktur, der zentralen Inhalte und Handlungen werden Sequenzanalysen ausgewählter Ausschnitte präsentiert. Die Auswahlstrategie war dabei phänomen- und problemorientiert: Es wurden weniger inhaltlich, als vielmehr strukturell interessante Stellen ausgesucht, für deren Verständnis eine hochauflösende gesprächsanalytische Beschreibung einen deutlichen Erkenntnisgewinn bringt. Einschränkend muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die sequenzanalytische Arbeit an den Übersetzungen türkischsprachiger Passagen methodisch nicht optimal ist. Im Idealfall müssten diese Passagen im Original von einem türkischsprachigen Gesprächsanalytiker bearbeitet werden. Diesem methodischen Dilemma wurde im Projekt damit begegnet, dass fallweise die türkischsprachige Transkribentin für analytische Fragen hinzugezogen wurde.9 Nach der makro- und mikroanalytischen Untersuchung der einzelnen Gespräche erfolgt jeweils eine Auswertung in Hinblick auf die wesentlichen erhaltenen Ergebnisse. Der Beitrag endet mit einem abschließenden Fazit.
2.
Analyse der einzelnen Gespräche
2.1.
Erstgespräch
Zum Erstgespräch kommt die Patientin in Begleitung ihrer hochschwangeren Tochter, die die dolmetschende Vermittlung übernimmt. Das Gespräch führt ein Arzt und die Gesamtdauer beträgt ca. 35 Minuten. 2.1.1. Beschreibung von Makrostruktur, Inhalten und Handlungen Begrüßung und Gesprächseröffnung Der Arzt begrüßt Patientin und Tochter im Wartebereich und holt sie in das Sprechzimmer. Die Einwilligung zur Aufzeichnung des Gesprächs wird von den wissenschaftlichen Beobachterinnen eingeholt und die Aufnahmetechnik vorbereitet. Dann eröffnet der Arzt das ärztliche Gespräch. Beschwerdeschilderung und -exploration Im Frage-Antwort-Muster werden nun die Beschwerden der Patientin erhoben: Zunächst wird der Schmerz nach Zeit, Qualität und Lokalisation spezifiziert und dann werden die Begleitsymptome besprochen (vgl. zu den Dimensionen der Schmerzbeschreibung Blasch/Menz/Wetschanow 2010). Die Patientin führt hier 9 Ich danke Melissa Akin für diesen wertvollen Beitrag zur vorliegenden Fallanalyse.
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Lichtempfindlichkeit und Gereiztheit an und verweist auf einen Zusammenhang mit ihren »Nerven«: Ich/ ich hab so viel Nerven, wann • • • meine Kopfschmerzen. Weiters werden Strategien, die die Patientin zur Schmerzlinderung einsetzt, rekonstruiert. Sich hinzulegen und eine Reihe von Medikamenten reduzieren laut Angaben der Patientin den Schmerz. Gemeinsam rekonstruieren Patientin, Tochter und Arzt die von der Patientin eingenommenen Medikamente und erstellen eine Liste. Nach einer externen Unterbrechung durch einen Funkruf und ein anschließendes Telefonat mit einer anderen Patientin10 geht es darum, welche Untersuchungen bei der Patientin bisher durchgeführt worden sind und welche Medikation sie bislang bekommen hat. Anschließend erfragt der Arzt sonstige Erkrankungen der Patientin und geht schließlich zur Sozialanamnese über, bei der er den Familienstand und die berufliche Situation der Patientin erhebt. In diesem Zusammenhang verweist die Patientin neuerlich auf ihre »Nerven«: Ich soviel Nerven. Diagnosestellung Nun fasst der Arzt das bisher Besprochene zusammen und transformiert es in eine Diagnose: Er diagnostiziert zum einen eine Migräne, die im Laufe der Zeit immer häufiger geworden ist, und zum anderen einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz, der durch übermäßigen Medikamentengebrauch entstanden ist. Therapieplanung und -entwicklung Der Arzt stellt nun die indizierte Therapie, einen Medikamentenentzug, dar. Er beschreibt zwei Möglichkeiten, den Entzug durchzuführen, einerseits eine ambulante Variante und andererseits eine stationäre. Es folgt eine interaktive Aushandlung in Bezug auf diese therapeutischen Möglichkeiten und schließlich wird vereinbart, dass die Patientin für einen stationären Entzug im Krankenhaus aufgenommen werden soll. Der Arzt reserviert für die Patientin telefonisch ein Bett auf der Station. Es folgt eine Phase der Dokumentation des weiteren Procederes. Danach stellt der Arzt nochmals Ablauf und Ziel des stationären Entzugs dar. Körperliche Untersuchung Schließlich erfolgt eine körperliche neurologische Untersuchung der Patientin, in deren Verlauf der Arzt den Schlaf der Patientin thematisiert. Gesprächsbeendigung und Verabschiedung Die Beendigungsphase des Gesprächs wird damit eingeleitet, dass der Arzt der Patientin diverse Überweisungen (für eine Computertomographie des Kopfes und für den stationären Entzug) übergibt und abschießend die weitere Vorgangsweise mit ihr bespricht. Auf Initiative der Patientin kommt dann noch das Thema Prognose zur Sprache, wobei die Patientin die Befürchtung äußert: Meine Kopfschmerzen nie aufhören, glaub. Danach verabschieden sich die Gesprächsbeteiligten. 10 Zur Häufigkeit derartiger Störungen vgl. den Beitrag von Menz (i.d.Bd.).
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2.1.2. Analyse ausgewählter Sequenzen Sequenzanalyse 1 Die folgende Analyse des Gesprächsanfangs (Komponenten ›Begrüßung und Gesprächseröffnung‹ und ›Beschwerdeschilderung und -exploration‹) soll die initiale Konstitution des Beteiligungsrahmens, die Interaktionsmodi und die Strategien des Arztes zur Verständnisförderung nachzeichnen.11 [1]
0 [0.]
B1 [v]
1
2
V .OHLQHQ0RPHQWEUDXFKLFKQRFKELWWH bereitet
B1 [k]
[2]
..
3
A [v]
4
B1 [v] B1 [k]
[3]
10 [11.1]
11
A [k] P [k] [KO]
[6]
13
14
15 [16.6]
schaut zu P
ವವ-Rɨ 16
17
18
schaut zu FD
.. 20 [22.2] leicht auf Tisch fallen, schaut zu P schaut zu A, zögert: öffnet den Mund
schauen sich an 21
A [v]
[7] A [k] P [k]
22
%LWWH DD schaut und schließt ihn wieder, schließt Augen und öffnet sie wieder
..
A [v]
lasst Hand
P und FD
..
A [k] P [k]
19
ವ¾EHU,KUYRQ,KUHQ .RSIVFKPHU]HQ DD ವವವ
A [k] [KO]
[5]
12
ವವ*XDW DD HD ವ-Dɨ DD ವವವ(U]¦KOHQ6LHPD
..
A [v]
8
ವವ -MRRɩ ವವ
9
[4]
7
.¸QQHPD
Aufnahme vor o. Ä., 30s
A [v] A [k] B1 [v]
5 [5.5] 6
8QG"
23
24
V 9LHOOHLFKW ಹ abwechselnd zu P und FD, zeigt auf P, dann auf FD, weist dann mit ganzer schaut zu FD, weist parallel zu A ebenfalls auf
11 Die Transkriptionskonventionen finden sich im Anhang.
43
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[8] A [k] P [k] FD [v]
[9]
.. 25 [27.7] 26 Hand abwechselnd in Richtung P und FD FD
ವವವ 6LHKDW ವವVW¦QGLJ 27
28
A [v]
V
FD [v]
GLHJDQ]H=HLWವವ.RSIVFKPHU]HQ
FD [k]
streckt li Bein unter dem Tisch aus, schweift mit Blick entlang
[10]
..
A [v]
[11]
30 [33.3] 31
32
+PKPɴ ವವವ 6W¦Q GLJKHL¡WGDVGDVVHVGDQQವವವMHGHQ 33
A [v]
34
35 [38.8]
36
37
38
7DJ NRPPW"
39
40 [44.4] 41
HD 8QGVHLW ZDQQವLV
-
-
P [v]
-HGHQ 7DJ
P [k] FD [v]
leise
[12]
29
+PKPɴ -HGHQ 7DJ ..
A [v]
[13]
HVVFKRQVRGDVV6LHವವವMHGHQ7DJ.RSIVFKPHU]HQ ..
A [v]
[14]
42
47
48
49
50 [55.5]
V 6FKRQವವವGUHL]HKQRGHUI¾QI]HKQ -DK UH ..
A [v] P [v]
46
0RQDWH"
P [v]
[15]
44 45 [50.0]
KDEHQ" ವವ :LHODQ JHVFKRQ" :LHYLHOHವವ-DKUH:RFKHQ ..
A [v]
43
51
52
53
+PKPɴ
54
55 [61.1]
56
+PKPɴ ವವHD 8XQG¦KKPವವ
YLHOOHLFKW 8QG QRFK ವವ O¦QJHU -
leise
P [k]
[16]
..
A [v]
[17]
58
59
VHLWZDQQKDEHQ6LH ¾EHU KDXSW.RSIVFKPHU]HQ" ವವವ:DQQ ..
A [v]
57
60 [66.6]
61
KDWWHQ6LHGDVHUVWH0DO.RSIVFKPHU]HQ" V *DQG
44
Marlene Sator
[18]
..
A [v]
[19]
62
63
64
65 [72.2]
66
67
JDQ] MXQJ VFKRQDOVDOVವ .LQG DOV-XJHQGOLFKH" HD ..
68 69
70 [77.7]71 72
A [v]
73
.HL QH.RSIVFKPHU]HQ DD -
P [v]
[20]
-XJHQGOLFKH NHL QH.RSIVFKPH U]HQ ..74
A [v]
[21]
75 [83.3] 76
8QGವZLHDOWZDUHQ6LHDOV6LHGDQQ DD GDVHUVWH0DO ..
A [v]
77
78
.RSIVFKPHU]HQEHNRPPHQKDEHQ" DD
P [v]
V 8QJHI¦KUವ leise
P [k]
[22]
..
80 [88.8]
A [v] P [v]
81
82
'UHL¡LJ GUHL¡LJವRGHU ಹ
leise
85 [94.4] 86
ZDUHQGLHVH.RSIVFKPHU]HQ" V :DUHQGLHವವDP fasst sich mit beiden Händen
A [k]
[24]
..
87
88
89
A [v]
JDQ]HQ.RSI" ವವವ:D UHQ
A [k] P [v]
an den Kopf
[25]
84
HD ವವವ =X%HJLQQZLH
..
A [v]
83
ವ-D
P [k]
[23]
79
GLH ಹ
weist ansatzweise mit re Hand Richtung re Kopfseite
HD
-DJUDG ವವNR
90 [100.0]
91
92
P [v]
PPWವವ
GDD XQQGವವವYLHOKLHU
P [k]
zeigt mit beiden Händen in den Nacken zeigt mit beiden Händen an die
-
[26]
..
A [v]
93
94
95 [105.5]96
97
ವ+PKPɴ
P [v]
98
99
ವವವ+PKPɴ V ವವವ 8QG $XJ HQXQGಹ -
P [k]
[27]
Schläfen
100 [111.1]101
A [v]
HD 8QGSIIವZLHZ¾UGHQ6LHGHQQRFKEHVFKUHLEHQGHQ
45
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[28]
..
A [v]
[29]
102
6FKPHU]" ವವವ+PKPವವವZDVZ¾UGHQ6LHGHPI¾UHLQ ..
A [v]
103
104
:RUWJHEHQ" ವವ'U¾FNHQGವವವ SRFKHQG symbolisiert "pochend" mit einer
A [k] P [k]
[30]
hebt Augenbrauen leicht, suchende
..
105 [116.6]106
A [v] A [k] P [k]
[31]
V Hand durch Öffnen und Schließen leichte Blickbewegungen im Raum, unruhige Augenbewegungen schaut zu
..
A [v]
VWHFKHQG"
A [k] P [k]
FD, dann wieder zu A
[32]
symbolisiert "stechend" mit einer Hand durch Bewegung vor und zurück
107
108
109
A [v]
ವವವ2GHU¦K¦KHLQDQGHUHV:RUW DD VFKDXW]X)'
P [v]
VFKDXW]X)'
[33]
..
A [k] P [v]
110 [122.2]111 112113 114 115 [127.7] schreibt, schaut dazwischen manchmal auf zu P und FD
V HD ವವ
V